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German Pages 330 Year 2014
Alexa Geisthövel Intelligenz und Rasse
Histoire | Band 51
Alexa Geisthövel (Dr. phil.) arbeitet in der ERC-Forschergruppe »Papertechnology: How physicians know, 1550-1950« am Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin.
Alexa Geisthövel
Intelligenz und Rasse Franz Boas’ psychologischer Antirassismus zwischen Amerika und Deutschland, 1920-1942
Gedruckt mit Unterstütztung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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Inhalt
1. Einführung | 7
Mitten am Rand | 9 Eine amerikanische Karriere zwischen Rasse, Kultur und Psyche | 11 Rassismus und Antirassismus transatlantisch | 20 2. America’s Got Talent: Race Psychology in der Zwischenkriegszeit | 25
In der Glocke: Psychometrie der Rassen | 25 Unschärfen: Selective migration, Rassenmischung und asiatische Intelligenz | 34 »What the tests test«: die fachinterne Ernüchterung des mental testing | 41 3. Black America, Too: Die boasianische Intelligenzforschung | 51
Widerworte: Publizistische Interventionen | 52 Beweise: »Racial and Social Differences in Mental Ability« | 55 Auf der Suche nach dem fairen Intelligenztest | 62 Wanderungsauslese auf dem Prüfstand | 71 Intelligenztests als Objektivierung mentaler Plastizität | 79 4. Ein Quantum Differenz: Boasianische Psychometrie und moderater racialism | 85
Im Zweifel für die Soziologie | 85 Otto Klinebergs Psychometrie in der Diskussion | 95 5. »Drüben«: Franz Boas’ deutsche Kreise in den langen 1920er Jahren | 107
Reisen und spenden | 107 Publizieren und gelesen werden | 118 6. Persönlichkeit und Wesensschau: Deutsche Gegenentwürfe zur Psychometrie | 129
Intelligenzmessung in Weimar | 131 Intelligenz jenseits von Rasse und Kultur | 143 Charakterologie und »schauende« Rassenpsychologie | 149
7. Aussichten auf Rasse: Biowissenschaftliche Erbpsychologie | 159
Anthropologen entdecken die Psyche | 159 Bei den »Madison Grants of Germany« | 169 Franz Boas und Eugen Fischer | 179 Schnittstellen: Psychologische Erbforschung um 1930 | 185 8. Unwahrscheinliche Verbindungen: Entflechtung, Beharrung und Resonanzen 1933-1942 | 197
Nach 1933: Nischen der Präsenz | 197 Wissenschaftliches Gegengift | 208 Ferne Echos: Deutscher Kulturalismus und amerikanische Psychometriekritik | 225 9. Ergebnisse | 239 Abkürzungen | 255 Quellen und Literatur | 257 Personenverzeichnis | 321 Dank | 327
1. Einführung
Braucht die scientific community ein weiteres Buch über Franz Boas? In den USA ist er, mit wechselnden Konjunkturen, über etwa 100 Jahre eine öffentliche, kontrovers diskutierte Person gewesen. Die einen erinnern ihn als Vordenker des Antirassismus, Anwalt »primitiver« Kulturen und politischen Aktivisten für eine humane Gesellschaft. Als Negativ dieser Erfolgsgeschichte zirkuliert seit den 1960er Jahren das Narrativ einer »Boasian conspiracy«, einer jüdisch-kommunistischen Verschwörung zur Entmachtung des weißen Amerika.1 Schon in den 1930er Jahren erschien »Papa Franz« als Patriarch einer nach Hegemonie strebenden Familie, die eine neue, kulturalistische Orthodoxie etablierte. Nachdem sich in den 1950er und 1960er Jahren massive Kritik gegen die Theorieverweigerung des Altmeisters gerichtete hatte2, begann in den späten 1960er Jahren mit den Arbeiten George W. Stockings Boas’ Historisierung und Rehabilitierung, die der Kulturanthropologie zu einer neoboasianischen Richtung verhalf. Aus diesen Spannungen ist in den letzten 40 Jahren eine facettenreiche Literatur hervorgegangen, die die boasianische Anthropologie bis in manchen Winkel gut ausgeleuchtet hat.3 Hierzulande war Boas trotz einer nicht unbeträchtlichen deutschen
1
Vgl. Winston: Boas conspiracy; Tucker: Science and Politics, S. 149-165; ders.: Funding of Scientific Racism, S. 104-108.
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Vgl. Wax: Limitations of Boas’s Anthropology; White: Ethnography and Ethnology of Franz Boas; abwägend Harris: Rise of Anthropological Theory, Kap. 9, bes. S. 286289, 298-300.
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Vgl. etwa Stocking: Race, Culture, and Evolution; ders. (Hg.): Franz Boas Reader; ders.: Anthropology as Kulturkampf; ders. (Hg.): Volksgeist as Method and Ethic; Rohner (Hg.): Ethnography of Franz Boas; Hinsley/Holm: Cannibal in the National Museum; Hinsley: Savages and scientists; Hyatt: Franz Boas; Cole: Value of a Person; ders.: Franz Boas (1994); ders.: Franz Boas (1999); Jacknis: Franz Boas and Photo-
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Wirkungsgeschichte außerhalb ethnologischer Fachkreise und der Mindener Lokalhistorie bis vor kurzem zwar nahezu vergessen. Doch im Gefolge des cultural turn, der mit Clifford Geertz einen Erben der boasianischen Tradition als kanonischen Autor etablierte, ist auch in Deutschland eine transdisziplinäre Wiederentdeckung in Gang gekommen.4 Was also lässt sich dem hinzufügen? Wer sich mit Boas’ wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt, steht früher oder später vor dem Problem, dass man es in einer Person mit mehreren Disziplinen zu tun hat, denn an menschliche Diversität trat er mit sehr unterschiedlichen Verfahren heran. Als Biometriker nahm er Maß an menschlichen Körpern und verarbeitete diese Daten statistisch weiter. Als Ethnologe und Linguist widmete er sich analysierend und deutend den Strukturen menschlicher Äußerungen und Handlungen. Es gibt ein bislang wenig beackertes Feld boasianischer Empirie, in dem diese heterogenen Arbeitsgebiete zusammenfanden: die experimentelle Sozialpsychologie, die ihn seit Mitte der 1920er Jahre bis unmittelbar zu seinem Tod 1942 intensiv beschäftigte. Boas und seine Mitarbeiter orientierten sich dabei an exakt quantifizierenden Ansätzen, die in den USA stark ausgeprägt waren. In der boasianischen Psychometrie sollte kulturelle Verschiedenheit über das
graphy; ders.: Franz Boas and Exhibits; ders.: Ethnographic Object; Darnell: And Along Came Boas; dies.: Invisible Genealogies; Degler: Search of Human Nature; Krook: Analysis of Franz Boas’ Achievements; Baker: Location of Franz Boas in the African-American Struggle; Jonaitis (Hg.): Wealth of Thought; Williams: Franz Uri Boas’s Paradox; Liss: German Culture and German Science; Berman: »The Culture as It Appears to the Indian Himself«; Bunzl: Franz Boas and the Humboldtian Tradition; ders.: Boas, Foucault, and the »Native Anthropologist«; Hymes: Boas on the Threshold; Krupnik/Fitzhugh (Hg.): Gateways; Kendall/Krupnik (Hg.): Constructing Cultures Then and Now; Boas: Franz Boas 1858-1942; Hart: Franz Boas as German, American, and Jew. 4
Vgl. Duden: Rereading Boas; Dürr/Kasten/Renner (Hg.): Franz Boas; Knötsch: Franz Boas; Rodekamp (Hg.): Franz Boas 1858-1942; Geulen: Blonde bevorzugt; ders.: Wahlverwandte, S. 302-306; Girtler: Burschenschafter und Schwiegersohn; Kaufmann: »Rasse und Kultur«; Schüttpelz: Moderne im Spiegel des Primitiven; Holtzer: Linguistische Anthropologie; Weiler: Ordnung des Fortschritts; Hirte: »To See is to Know«; Maupeu: Kunstgeschichte und Kunstethnologie; Bender-Wittmann/Langenkämper: Franz Boas; Müller-Wille/Gieseking (Hg.): Bei Inuit und Walfängern; Kronfeldner: »If there is nothing beyond the organic«; Schmuhl (Hg.): Kulturrelativismus und Antirassismus; Pöhl/Tilg (Hg.): Franz Boas. Die Ethnologin Michi Knecht (Bremen/Berlin) bereitet derzeit ein Forschungsprojekt zur deutschen Boas-Rezeption nach 1945 vor.
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kognitive, emotionale oder motorische Verhalten von Versuchspersonen indirekt messbar werden. Für Boas’ Antirassismus war dieser Ansatz im amerikanischen Kontext von herausragender strategischer Bedeutung, da hier das experimentalpsychologische mental testing den vielleicht wichtigsten Schauplatz des wissenschaftlichen Rassismus bildete. Aber auch in der deutschen Rassenanthropologie, die Boas mindestens ebenso engagiert bekämpfte, wurde die Psyche in den 1920er Jahren – wenngleich oftmals unterschwellig – zu einem zentralen Referenzpunkt menschlicher Differenz. Es dient daher nicht primär der Vollständigkeit, Boas’ deutsche Wirkungskreise in die Untersuchung seiner psychometrischen Arbeiten einzubeziehen. Als Antirassist und bekennender Germanophiler entlockte Boas seinen deutschen Kollegen ambivalente Reaktionen, die für Historiker aufschlussreich sein können. Seine Verbindungen zu deutschen Psychologen und Biowissenschaftlern, die sich deutlich anders mit Intelligenz und Rasse beschäftigten als die Amerikaner, wirken als Kontrastmittel, das in der allgemeinen Rede von Rasse und Kultur nationale und fachliche Besonderheiten, aber auch Gemeinsamkeiten von Rassisten und Antirassisten besser sichtbar macht.
Mitten am Rand Von Chicago aus hätte man den New Yorker Anthropologen Franz Boas als marginal man bezeichnen können. Diesen Begriff prägte Robert Ezra Park, Kopf der Chicago School of Sociology, für den Sozialtypus des kulturellen Grenzgängers. 1928 definierte er ihn als »a man living and sharing intimately in the cultural life and traditions of two distinct peoples«.5 Park beschäftigte sich mit den Folgen massenhafter Migration und hatte bei dem deutschen Soziologen Georg Simmel das Problem der Modernität aufgegriffen. Was passiert mit den Individuen, wenn Kontakte mit fremden Anderen Alltag werden? Welche Rolle spielen solche Begegnungen für die Entwicklung der Gesellschaft? Für Park verkörperte der kulturelle Hybrid moderne Erfahrung schlechthin; im besten Fall werde er zu einem Akteur, der Innovationen vorantreibe. Auf dieser Fährte ist der marginal man im späteren 20. Jahrhundert zu einer Schlüsselfigur der Kultursoziologie geworden: Unter modernen Bedingungen, der Erosion stabiler Zugehörigkeiten, rücke der marginal man vom Rand in die Mitte, werde zu einer »Zentrumsgestalt« der Gesellschaft, die sich in den funktional und räumlich differenzierten, multiethnischen Großstädten paradigmatisch zeige.6 Park, mit einem Bein im 5
Park: Human migration and the marginal man, S. 892.
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Vgl. Makropoulos: Robert Ezra Park, S. 55.
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zeitgenössischen Rassediskurs stehend, nannte drei Typen, auf die diese Diagnose in besonderer Weise zutreffe: den assimilierten Juden, den Einwanderer und den Rassenmischling. Franz Boas war ein deutsch-jüdischer Immigrant, der sich 1888 in den Vereinigten Staaten niederließ, um hier sein berufliches Glück zu machen. 1858 im westfälischen Minden geboren, hatte er das Bildungssystem des Deutschen Kaiserreichs bis zur Habilitation durchlaufen. Von 1899 bis zu seiner Emeritierung 1936 besetzte Boas an der Columbia University den ersten Lehrstuhl für anthropology. Er wurde zum Gründervater der akademischen Anthropologie in den USA und einer der drei großen ethnologischen Schulen des 20. Jahrhunderts. Gegenüber dem britischen Strukturfunktionalismus und dem französischen Strukturalismus betonte die amerikanische cultural anthropology, dabei an deutsche Traditionen anknüpfend, die historisch gewachsene Singularität verschiedener Kulturen und ihren jeweiligen Eigensinn. Zugleich zeugt Boas’ umfangreicher Nachlass von vielfältigen Kontakten nach Deutschland. Als er 1942 mit 84 Jahren starb, hinterließ er neben einem multidisziplinären Werk auch zahlreiche Spuren kultureller Mittlertätigkeit. Als transnationaler Wissenschaftler stand er 7 in zwei »Wissenschaftskulturen, die sich in ihm und durch ihn verbinden«. Der marginal man, ergänzte Park später, habe als kultureller Grenzgänger fast zwangsläufig »the wider horizon, the keener intelligence, the more detached and rational viewpoint«.8 Dies trifft sich mit der Vermutung, Boas’ neuer, wegweisender Blick auf kulturelle Differenz habe sich nicht zuletzt eigenen Ausgrenzungserfahrungen in Deutschland wie in Amerika verdankt.9 Als cultural anthropologist10 erforschte er nicht nur die American Indians der pazifischen Nordwestküste, sondern setzte auch für die euroamerikanische Gesellschaft die Variablen »Rasse« und »Kultur« neu ins Verhältnis. Im Gegensatz zum Mainstream des Rassedenkens vollzog Boas eine klare Trennung zwischen somatischer und kultureller Entwicklung des Menschen und der Menschheit. Er betrachtete die bekannten Kulturen als historisch verschieden ausgeformte, aber gleichwertige Einheiten; die als »Rassen« bezeichneten menschlichen Gruppen seien im Großen und Ganzen zivilisatorisch gleich begabt. Er gilt daher als wichtigste Einzelstimme des wissenschaftlichen Antirassismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.11 7
Krauss: »Gedankenaustausch«, S. 246.
8
Park: Introduction, S. 376.
9
Vgl. etwa Gossett: Race, S. 449; Hyatt: Franz Boas, S. 61; Frank: Jews.
10 Die (cultural) anthropology entspricht der Ethnologie. Im deutschen Sprachgebrauch meint Anthropologie die Physische Anthropologie/Rassenkunde. 11 Vgl. Gossett: Race, S. 450.
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Trotz der suggestiven Parallelen taugt der »marginal man« in der vorliegenden Fragestellung aber nicht zum Analyseinstrument. Denn seine Schattenseite ist Park zufolge eine prekäre bis pathologische Persönlichkeit, die ihren Identitätskonflikt in die Gesellschaft trage, »because the man of mixed blood is one who lives in two worlds, in both of which he is more or less a stranger«.12 Parks Konzept war Teil genau jener historischen Kontroverse um menschliche Diversität, an der auch Boas mitwirkte. Den Wert eines Individuums, wie Park es tat, an seiner Intelligenz und Rationalität zu messen, seine soziale Sprengkraft in einem biologisch-kulturellen Zwiespalt zu vermuten, ist nicht geeignet, die Beobachtung zu schärfen. Das gilt auch, wenn Wissensvermittler wie Boas die neuen Zentralgestalten einer Verflechtungs- und Transfergeschichte sind, die es sich zur Aufgabe macht, eingespielte historische Narrative aufzubrechen und zu ergänzen.13 Im Folgenden soll es daher vermieden werden, ihn als kreativen Hybriden in Szene zu setzen. Statt dessen schlage ich vor, ihn als Akteur in unterschiedlichen, sich ver- und entflechtenden kommunikativen Zusammenhängen zu verstehen. Wir können diese als Deutschland oder Amerika, als Bioanthropologie oder Ethnologie, als Wissenschaft oder Politik ansprechen, weil sie sich über einen längeren Zeitraum anhand nationaler, disziplinärer oder systemischer Unterscheidungen selbst so beschrieben haben.
Eine amerikanische Karriere zwischen Rasse, Kultur und Psyche Die wissenschaftliche Kontroverse um menschliche Diversität, die in den 1920er und 1930er Jahren unter den Schlagwörtern »Rasse und Kultur«, »heredity and environment« oder »nature and nurture« geführt wurde, drängte auf eine Ent-
12 Park: Human migration and the marginal man, S. 893. 13 Zur Beziehungs- und Transfergeschichte hier relevanter Zusammenhängen vgl. etwa Kühl: Internationale der Rassisten; Ash/Söllner: Forced Migration and Scientific Change; Heideking/Depaepe/Herbst (Hg.): Mutual Influences on Education; Gemelli (Hg.): The unacceptables; Füssl: Deutsch-Amerikanischer Kulturaustausch; Löser/ Strupp: Universität der Gelehrten; Fleck: Transatlantische Bereicherungen; Roelcke/ Weindling/Westwood (Hg.): International Relations in Psychiatry; Müller: Krieger und Gelehrte; Bruns/ Hampf (Hg.): Wissen – Transfer – Differenz; allgemein zum wissenschaftlichen Transfer: Ash: Wissens- und Wissenschaftstransfer; Lipphardt/ Ludwig: Wissens- und Wissenschaftstransfer; zu Mittlerfiguren vgl. Espagne: Rolle der Mittler; exemplarisch Fangerau: Spinning the scientific web.
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scheidung. Die große Frage lautete: Prägten vor allem die erblichen, darunter die rassetypischen, Anlagen menschliches Verhalten oder physische Umweltbedingungen und kulturelle Sozialisation? Die Historiographie hat, wenn auch in kritischer Absicht, diese Dichotomie oft genug reproduziert und sich dabei merkwürdigerweise kaum mit der Psyche beschäftigt, jener Instanz, die den Zeitgenossen zufolge Biologie und Kultur verband. Das macht ein Blick auf die Rassentheorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts deutlich, die für Boas bis zu seinem Lebensende ein maßgeblicher Gegner blieben. Sie entwarfen ein ganzheitliches Bild des Menschen und der Menschheitsentwicklung, das heißt sie nahmen die zoologischen, taxonomischen Rassekonzepte des späten 18. Jahrhunderts auf, verbanden diese mit psychologischen Stereotypen, die »Völkern« bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen zuordneten, und setzten beides in Beziehung zur Geschichte menschlicher Kultur, woraus sich eine hierarchische Stufung der Rassen ergab: Ihre Wertigkeit sei eine Frage ihrer Kulturleistungen, die ihrerseits auf typische psychische Eigenschaften wie Intelligenz, Erfindungsreichtum, Selbstbeherrschung und Willensstärke zurückzuführen seien, deren Hauptvertreter wiederum der weiße bzw. der nordische Menschentypus sei. Der koloniale Hintergrund ist unverkennbar, denn zu den menschheitsgeschichtlich relevanten Kulturleistungen zählte neben technischen Innovationen, Kunst und Wissenschaft vor allem die Fähigkeit, Herrschaft zu etablieren und auszuüben. Die im späten 19. Jahrhundert einsetzende Rede vom »Rassentod« bezog sich letztlich auf die Frage, ob es dem bedrohten Kollektiv in Zukunft weiterhin möglich sein werde, hervorragende Kul14 turleistungen zu erbringen. Auch für Franz Boas’ Beschäftigung mit menschlicher Diversität waren psychische Prozesse grundlegend.15 Sein bekanntestes, 1911 erstmals erschienenes Buch trug den Titel The Mind of Primitive Man. Es handelte sich um einen Querschnitt durch 20 Jahre anthropometrische, linguistische und ethnologische Arbeiten, die ihn aus verschiedenen Perspektiven mit dem Problem des »primitiven Denkens« konfrontiert hatten. Ein Ausgangspunkt war das kulturevolutionistische Modell der Menschheitsentwicklung, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Großbritannien und den USA dominierte.16 Es verband ältere Modelle einer stufenförmigen Kulturentwicklung – von der Wildheit über die Barbarei zur Zivilisation – mit neuen Befunden aus der Geologie und Archäologie, die zeigten, dass die Menschheit sehr viel älter sein musste, als man bis14 Vgl. Grosse: Kolonialismus, S. 77. 15 Vgl. Stocking: Polarity and Plurality; Darnell: Invisible Genealogies, S. 40-47. 16 Vgl. zum Folgenden Petermann: Geschichte der Ethnologie, S. 465-497; Weiler: Ordnung des Fortschritts, S. 277-290.
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her angenommen hatte. Die Kulturevolutionisten gingen von einem weltweit gleichgerichteten, gesetzmäßigen Fortschreiten der menschlichen Kultur von den niedersten Anfängen bis zum Höhepunkt der modernen Zivilisation aus. Die »primitiven« Gruppen der Gegenwart galten demzufolge als dem geschichtlichen Wandel entzogene Überbleibsel früherer Entwicklungsstadien. Kulturevolutionisten waren in der Regel armchair scientists, die sich auf Informationen aus zweiter Hand stützten. Sie verwerteten, was Missionare, Händler und Abenteurer über verschiedene »Stämme« zu berichten wussten, und ordneten materielle Fundstücke schematisch bestimmten Kulturstufen zu, gleichgültig, welchen sozialen Zusammenhängen sie entnommen waren. Ein wichtiges Axiom des Kulturevolutionismus war die »psychische Einheit« der Menschheit (»psychic unity of mankind«). Es besagte, dass Menschen bei allen Unterschieden über eine gemeinsame mentale Grundausstattung und ein vergleichbares Entwicklungspotenzial verfügten. Es gab also keine zwingende Verknüpfung von Aussagen über primitive Denkformen mit Unterscheidungen nach morphologischen Rassetypen. Faktisch aber überlagerten sich diese beiden Deutungsmuster häufig. Die australischen Aborigines, die zu den ältesten Überbleibseln der Menschheitsgeschichte gerechnet wurden, schienen zu belegen, dass es einen Zusammenhang zwischen »primitiven« Schädelformen und einer nur rudimentär entwickelten Kultur gab. Die Psyche erschien zugleich als Antrieb und Produkt der Kulturentwicklung, die linear vom magischen, irrationalen zum rationalen, wissenschaftlichen Denken verlaufe. Religiöse Praktiken wie der viel diskutierte Totemismus konnten so nur als Ausdruck eines Weltverständnisses gedeutet werden, das von Angst und anderen archaischen Gefühlen beschränkt war. Auf den Kulturevolutionismus griff denn auch Sigmund Freud in einer Aufsatzserie zurück, die unter dem Obertitel Totem und Tabu bekannt ist. Hier vergesellschaftete Freud den Ödipuskomplex und führte die Entstehung von Religion auf den Vatermord einer Urhorde von Brüdern zurück, die aus Scham über die mörderische Tat den Vater zum verehrten Totem erhoben. Als Freud 1912/13 diese gewagte Kulturtheorie veröffentlichte, stand das deduktive Schema des Kulturevolutionismus schon seit einigen Jahren unter Beschuss. Ethnologen, die im Feld zu forschen begannen, fanden zahlreiche Tatsachen, die ihm widersprachen. Zu ihnen gehörte in vorderster Reihe Franz Boas. Als sich der Einwanderer einigermaßen im anthropologischen Feld der USA etabliert hatte, begann er das herrschende kulturevolutionistische Paradigma zu attackieren. Er setzte eine induktive Methode dagegen, die zunächst konkrete historische Entwicklungen aufklären sollte, bevor »laws of cultural growth« aufgestellt werden könnten. An der Stelle einer nach universalen Entwicklungsgesetzen fortschreitenden Menschheitskultur sah er eine Vielzahl verschiedener
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Kulturen, die sich unter dem Einfluss von natürlicher Umwelt und Kontakt mit anderen Kulturen zu jeweils partikularer Eigenart entwickelt hatten. Zudem kritisierte Boas die teleologische Ausrichtung des Kulturvergleichs auf die moderne Zivilisation. Er betonte dagegen die Eigenart und den Eigenwert einer jeglichen Kultur. Für die Praxis bedeutete dies, dass der Ethnologe, anstatt am Schreibtisch wahllos zusammengewürfelte ethnologische Fundstücke zu vergleichen, vor Ort in einer ausgewählten Region die einzelnen Kulturelemente in ihrem funktionalen Zusammenhang erforschen sollte.17 Darüber hinaus suchte Boas nach Ähnlichkeiten zwischen benachbarten oder auch entfernteren Kulturen, um die Diffusion, Entlehnung und Adaption einzelner Kulturelemente zu rekonstruieren. Der Schwerpunkt seiner eigenen Feldforschungen lag, nach Anfängen bei den Inuit in Nordostkanada, bei den American Indians der Northwestcoast, der Pazifikküste der kanadischen Provinz British Columbia. Hier lebte die Sprachgruppe der Kwakwaka'wakw, die seinerzeit als »Kwakiutl« bezeichnet wurden. Den Schlüssel zum Verständnis fremder Kulturen sah Boas in den Bedeutungssystemen der natives, wie sie in Mythen oder Kosmologien zum Ausdruck kamen. Ein wichtiger Bestandteil seiner ethnologischen Arbeit war es daher, Originaltexte zu sammeln und auf tausenden von Seiten zu edieren.18 Dagegen blieb die anvisierte Gesamtdarstellung The Kwakiutl Indians ebenso ungeschrieben wie ein Ende 1917 begonnenes textbook, während die von ihm herausgegebene General Anthropology erst nach seiner Emeritierung erschien.19 Dass er keine neue Großerzählung in die Welt setzte, gehörte zur Programmatik seines historischen Partikularismus. Generalisierende Aussagen über menschliche Kultur zu formulieren, die über allgemeine Prinzipien wie ihre Historizität, Variabilität und Diversität hinausgingen, hielt Boas angesichts des lückenhaften, ungesicherten Erkenntnisstands der relativ jungen Disziplin für verfrüht. In diese Lücke stießen die von ihm ausgebildeten Ethnologen, die ab 1901 sukzessive den Großteil der neuen anthropologischen Lehrstühle besetzten und nach 1910 maßgebliche Impulse für die disziplinäre Identitätsfindung der cultural anthropology gaben. Sie betrieben Begriffsbildung und Methodenreflexion, schrieben Einführungen, entwickelten aus den offenen Fragen neue Ansätze und sorgten für Kontakte in die aufstrebende Nachbardisziplin Soziologie. 17 Vgl. Stocking: Franz Boas and the Culture Concept, S. 209-212; eine Auflistung von Boas’ Feldforschungen bei Rohner (Hg.): Ethnography of Franz Boas, S. 309-313. 18 Vgl. Berman: »The Culture as It Appears to the Indian Himself«, S. 216. 19 Project 35: Continuation of studies in acculturation among the American Indians [1936?], CUA, CRSS, Ser. III, Box 8, Folder 3; Boas an Robert Lowie, 18. Februar 1918; Lowie an Boas, 2. März 1918, PCFB; Boas (Hg.): General Anthropology.
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Aus dem Perspektivenwechsel vom Kulturevolutionismus zur historisch gewachsenen Eigenart individueller Kulturen entwickelte Boas drei Einsichten, die in The Mind of Primitive Man bereits öffentlichkeitswirksam ausformuliert waren. Erstens: Die kognitiven, sittlichen und schöpferischen Fähigkeiten von primitiven und entwickelten Menschen unterscheiden sich nicht signifikant. Zweitens: Die unterscheidenden Merkmale Sprache, Kultur und physischer Rassetypus kommen nirgendwo zur Deckung. Drittens: Verhaltensdifferenzen sind in der Regel auf Umweltprägungen und nicht auf erbliche mentale Strukturen zurückzuführen. Eine Titelgeschichte des Magazins Time stellte ihn 1936 lakonisch als Environmentalist vor, um seine jahrzehntelange Kontroverse mit den hereditarians auf den Punkt zu bringen.20 Er war jedoch nicht der Einzige, der nach der Jahrhundertwende Vorstellungen von Umweltprägung, Kulturrelativismus und der ungefähren Gleichbegabtheit aller menschlichen Gruppen in Umlauf brachte. Ähnlich argumentierten in den USA etwa der Soziologe William I. Thomas, der Pädagoge John Dewey und der Folklorist und Sozialdarwinist William Graham Sumner oder in England der Anthropologe Charles S. Myers.21 Dass Boas zum herausragenden Wortführer dieser Position werden konnte, verdankte sich nicht zuletzt Ausdauer und diskursivem Talent. Die boasianische Ethnologie dynamisierte und weitete den Blick auf menschliche Differenz, wies aber auch einige blinde Flecken auf. So war sie auf »precontact cultures« fixiert, auf intakte Kulturzustände vor dem Einbruch westlicher Zivilisation im 19. Jahrhundert. Damit verband sich die Mission einer salvage ethnography, die die vor dem Verschwinden stehenden Kulturen Nordamerikas möglichst umfassend dokumentieren wollte. Anpassungsleistungen der überlebenden indigenen Gruppen nahm sie lange Zeit ausschließlich als Kulturverlust wahr. Diese Konzentration auf relativ homogene, stabile Einheiten fasste Verhalten als eine Art zweiter Natur auf, die in der frühen Kindheit erlernt werde – hier nahm Boas Konzepte des zeitgenössischen Behaviorismus und, bei allen sonstigen Vorbehalten, der freudianischen Psychoanalyse auf.22 Sein liberaler Normalismus ließ den primitive man geradezu als Äquivalent eines bürgerlichen Subjekts erscheinen, das seine Affekte kontrolliert und vorausschauend handelt, das eine komplexe Sprache, Moral und einen Sinn für Naturschönheiten hat, auch origineller Künstler und sogar Philosoph sein kann. Ebenso bestätigte er gewisse biopolitische Prämissen seiner Zeit, wenn er Vorbehalten gegen Rassenmischun20 O. A.: Environmentalist. 21 Myers: Permanence of racial mental differences; vgl. Stocking: Lamarckianism in American Social Science, S. 261-264; Fallace: John Dewey and the Savage Mind; ders.: Dewey and the Dilemma of Race. 22 Boas: Mind of Primitive Man, S. 121; ders.: Methods of Ethnology, S. 288.
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gen mit dem Befund entgegentrat, indianisch-weiße half-bloods seien größer gewachsen und fruchtbarer als ihre indianischen Vorfahren. 23 Angreifbar waren schließlich Aussagen über die psychische Anpassungsfähigkeit des Menschen, die er durch Analogieschlüsse von körperlichen Phänomenen erzielte. Scharfe Munition in der Kontroverse um das primitive Denken war daher auch sein Hauptwerk in der Physischen Anthropologie, die 1912 veröffentlichte Studie Changes in Bodily Form of Descendants of Immigrants. Ihr lag eine biometrische Reihenuntersuchung zugrunde, die Boas ab 1908 im Auftrag der U.S.-Einwanderungsbehörde an rund 18.000 hauptsächlich süditalienischen und ostjüdischen Immigranten und deren Kindern durchgeführt hatte. Politischer Hintergrund war die Auseinandersetzung um eine gesetzliche Beschränkung der Immigration. Die Zuwanderung von Millionen Süd- und Osteuropäern seit den 1890er Jahren mobilisierte Mischungs- und Degenerationsängste, die politisch ausgeschlachtet wurden. Die nativistische Bewegung, flankiert von einem eugenischen Interventionismus, unterstellte den Neuen Einwanderern physische und psychische Minderwertigkeit. Es bestehe die Gefahr, dass sie als Arme, Geisteskranke, Prostituierte oder Kriminelle der Allgemeinheit zur Last fallen würden. Noch folgenreicher stellte sich die Aussicht dar, dass sich die angelsächsisch-nordische Bevölkerung mit diesen Minderwertigen vermischen und in einer Abwärtsspirale der biologisch-psychischen Degeneration ihren führenden Platz unter den modernen Nationen einbüßen werde. Dieses Niedergangsszenario zeichnete der Weltanschauungsautor Madison Grant 1916 in seinem Buch The Passing of the Great Race, das auch eine Antwort auf Boas’ Mind of 24 Primitive Man war. In der Einwandererstudie setzte Boas bei den Körpermaßen an, vor allem denen des Schädels, der als stabilstes rassisches Typenmerkmal galt. Die Kraniometrie hatte Boas in Deutschland bei dem Mediziner Rudolf Virchow gelernt, einem führenden liberalen Anthropologen, der sich sowohl mit der statistischen Massenerfassung anthropometrischer Daten als auch mit methodischen Überlegungen zur Schädelmessung hervortat.25 Anwenden und verfeinern konnte Boas seine biometrischen Kenntnisse unter anderem auf einer Feldforschung an der pazifischen Nordwestküste im Auftrag der British Association for the Advancement of Science, als Leiter einer internationalen Expedition, die prähistorische Wanderungsbewegungen von Nordostasien nach Nordwestamerika nachwies, und 1904 auf der Weltausstellung in St. Louis.26 Diese Expertise bot Boas der 23 Boas: Mind of Primitive Man, S. 105-114; ders.: Half-Blood Indian, S. 762. 24 Vgl. Spiro: Defending the Master Race, S. 299-300, 304-308. 25 Vgl. Geulen: Blonde bevorzugt. 26 Vgl. Jantz/Spencer: Boas, Franz, S. 188-189; Jantz: Anthropometric legacy.
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Einwanderungsbehörde an, wobei er sich keine Illusionen darüber machte, dass »the American government would much rather have me show that immigrants are no good and could never become good Americans«.27 Er selbst hatte zumindest Zweifel an der Unveränderlichkeit des Schädelindex, dennoch zeigte er sich von der Deutlichkeit seiner Ergebnisse überrascht.28 Er interpretierte sie so, dass sich die jeweils typischen Kopfformen der Zuwanderer schon in der Kindergeneration hin zu einem rechnerischen Mittelwert veränderten. Die brachycephalen (rundköpfigen) polnischen Juden wurden schmalköpfiger, die dolichocephalen (langköpfigen) Süditaliener rundköpfiger. Dieser Trend sei um so ausgeprägter, je mehr Zeit zwischen der Ankunft der Mutter in den USA und der Geburt eines Kindes vergangen sei.29 Ohne über mögliche Kausalverbindungen zu spekulieren, schloss er daraus, nur die neue amerikanische Umwelt komme als Ursache dieser Veränderung in Frage, so dass gegen die Lehre von erblichen, unveränderlichen Rassenmerkmalen die »Plastizität« menschlicher Typen in wechselnder Umwelt bewiesen sei. Diverse Gegner unterstellten daraufhin, Boas sei ein Lamarckist, der die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften behaupte. Sein Argument kreiste aber um die Fiktion reiner, umweltstabiler Rassetypen und ihr Verhältnis zu den realen, messbaren Erscheinungsformen von Mitgliedern verschiedener »rassischer« Gruppen, die beträchtlich variierten. Die kanonisierten »reinen« Typen stellten Boas zufolge auch in relativ stabilen Gruppen gerade nicht den Häufungsschwerpunkt, sondern Extreme einer bestimmten Variationsbreite dar.30 Die Brücke zur Psyche schlug er über die organischen Grundlagen des Verhaltens, vor allem die Struktur des Nervensystems und physiologische Prozesse. Logische Konsequenz der körperlichen Veränderlichkeit sei die mentale: It follows […] directly, that if the bodily form undergoes far-reaching changes under a new environment, concomitant changes of the mind may be expected. […] I believe, therefore, that the American observations compel us to assume that the mental make-up of a certain type of man may be considerably influenced by his social and geographical environment.31
Es wird zu zeigen sein, dass es in den 1930er Jahren zu Boas’ zentralem Anliegen wurde, diese Plastizität des Verhaltens nun auch empirisch nachzuweisen. 27 Boas an P. de Biermont, 1. Juli 1914, PCFB. 28 Boas an Felix von Luschan, 3. April 1909, StBPK, HSA, NL von Luschan, Bl. 27-28. 29 Boas: Changes in Bodily Form; ders.: Veränderungen der Körperform 30 Boas: What is a Race, S. 23. 31 Boas: Instability of Human Types, S. 102-103.
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Zunächst ergaben sich neue Impulse für Boas’ Beschäftigung mit der Psyche aus der internationalen Primitivismus-Debatte um und nach 1910. Psychologen und Psychiater, Kunst-, Sprach- und Religionswissenschaftler, Pädagogen und Ethnologen, Kulturphilosophen und Künstler weiteten den Deutungshorizont in Bezug auf die kognitiven Fähigkeiten primitiver Völker, stellten Querverbindungen zwischen den »Seelenvorgängen« von Primitiven, Kindern und Geisteskranken her und begannen, das Primitive im zivilisierten Menschen aufzusuchen und anzurufen.32 Bekanntester Theoretiker dieser Debatte war der französische Philosoph Lucien Lévy-Bruhl, der kategorisch zwischen dem prälogischen Denken schriftloser Kulturen und dem logischen Denken der Moderne unterschied. Lévy-Bruhl räumte ein, das primitive Individuum handle in seinen alltäglichen Verrichtungen genauso zweckgerichtet wie der zivilisierte Mensch. Geprägt sei primitives Leben jedoch vom Kollektiv und dessen magischer Weltauffassung, die einigen Grundgesetzen der formalen Logik widerspreche, etwa der Unterscheidung von Ursache und Wirkung sowie Einem und Vielem. Im Gegensatz zum Kulturevolutionismus erschien Lévy-Bruhl primitive Mentalität als eine Denkform von eigenem Recht und nicht mehr nur als defizitäre Vorstufe der Rationalität. Gegen die psychische Einheit der Menschheit setzte er einen kognitiven Relativismus.33 Boas teilte Lévy-Bruhls Kritik an der kulturevolutionistischen Psychologie, nur wandte er ein, dass magisches und logisches Denken in unterschiedlicher Gewichtung sowohl in »primitiven« wie in »modernen« Gesellschaften vorkämen.34 Insgesamt forderte die Umbruchphase um 1910 mit dem Verfall des evolutionistischen Paradigmas die Boasianer dazu heraus, das Verhältnis der Kulturanthropologie zur Psychologie zu bestimmen.35 Vieles blieb bei der programmatischen Ankündigung, aber ein Forschungszweig, der über 35 Jahre wachsen sollte, widmete sich der Rolle von Individualität für den Wandel in den stabilen primitiven Kulturen. Einige Boasianer wandten sich vor allem dem künstlerischen und dem denkenden Individuum zu, so Paul Radin, der ab 1913 autobio-
32 Vgl. Kaufmann: »Primitivismus«; dies.: Genese der modernen Kulturwissenschaft. 33 Vgl. Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 161-164; Sinha: Critical study in concept formation. 34 Boas: Mind of Primitive Man, S. 120, 204-207; ders.: Primitive States of Mind: ders.: Mind of Primitive Man (1938), S. 135. 35 Etwa Boas: Psychological Problems in Anthropology; Lowie: Psychology and Sociology; Goldenweiser: History, Psychology, and Culture; Kroeber: Possibility of a Social Psychology; vgl. auch Kluckhohn: Influence of Psychiatry; ders.: Impact of Freud; Hallowell: Psychology and Anthropology.
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graphische Zeugnisse eines »Winnebago Indian« veröffentlichte und 1927 ein Buch unter dem Titel Primitive Man as Philosopher veröffentlichte.36 Ein weiterer, sehr einflussreicher Strang der boasianischen Mentalitätsforschung kam aus der romantischen Tradition der deutschen Völkerpsychologie. Auffallend ist die Parallele zwischen Boas’ Linguistik und Wilhelm von Humboldts sprachwissenschaftlichem Ansatz. Humboldt zufolge drückte die Sprache die »Geisteseigenthümlichkeit« eines Volkes aus, daher dürften die Sprachen primitiver Völker auch nicht mit den Kategorien der indo-europäischen Sprachwissenschaft untersucht werden, sondern müssten als Kulturleistungen von eigenen Recht aus ihrem »inneren Zusammenhange« verstanden werden. Humboldt sah Sprache als dialektischen Prozess zwischen unbewusster Prägung der Sprecher durch die Sprache und der Veränderung der Sprache durch die Sprecher.37 Dies trifft ziemlich genau die Prämissen von Boas’ linguistischer Forschung, die sich unter anderem in dem 12-bändigen Handbook of American Indian Languages niederschlug. Darin sollten sämtliche noch greifbaren indigenen Sprachen Nordamerikas porträtiert werden. In der Einleitung stellte Boas die Sprache als jene mentale Schicht heraus, die am wenigsten durch nachträgliche Rationalisierung verdeckt werde. Bräuche, Mythen oder Rechtsvorschriften würden die »primitives« selbst mit verzerrenden »secondary explanations« versehen, die die ursprünglichen psychischen Ursachen verdeckten. Dagegen komme es praktisch nicht vor, dass primitive Völker über ihre Sprache nachdächten. Da die Sprache zugleich das Denken strukturiere, habe der Ethnologe hier einen unverstellten Zugriff auf »the formation of the fundamental ethnic ideas«.38 Konkrete Psychogramme der Völker waren aber weder diesem Band noch Boas’ späteren Arbeiten zu entnehmen. Er beschränkte sich auf viel versprechende Formeln wie »prevailing pattern of thought« oder »a single controlling idea«, die es einer Kultur erlaubten, sich über lange Zeiträume und trotz Aufnahme fremder Elemente treu zu bleiben.39 Ernst mit dem Volksgeist machte erst die Culture-and-Personality-Ethnologie, vor allem Ruth Benedict und Margaret Mead, die kulturelle Kollektive mit den Mitteln der Tiefenpsychologie beobachteten. Dieser kulturhermeneutische Ansatz ist der vielleicht am besten erforschte Zweig der cultural anthropology – ihm verschrieben sich die prominenten Köpfe der boasianischen »super-intelligentsia« (Robert H. Lowie), die ihrem Verständnis nach eine vergleichende Wissenschaft von menschlicher Kultur mit 36 Kaufmann: Entdeckung der »primitiven Kunst«. 37 Vgl. Bunzl: Franz Boas and the Humboldtian Tradition; Espagne: Question des imbrications. 38 Boas: Introduction (1911), S. 70. 39 Boas: Anthropology and Modern Life, S. 151.
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unmittelbarer Relevanz für die amerikanische Gegenwart betrieben. So erschrieb sich Mead den Status einer Modernitätsikone und wurde in ihrer langen Karriere zur vielleicht einflussreichsten Sozialwissenschaftlerin des 20. Jahrhunderts, als dessen meist gelesenes ethnologisches Buch wiederum Benedicts Patterns of culture von 1934 gilt.40 Vermutlich ist die boasianische Psychometrie bisher weitgehend dem ethnologischen Kulturrelativismus zugeschlagen worden, weil sich Otto Klineberg, Boas’ wichtigster experimentalpsychologischer Mitarbeiter, im Bannkreis von Culture & Personality bewegte. Nach Boas’ Tod wunderte sich der Psychologe John P. Foley, dass keiner der zahlreichen Nachrufe diesen Interessenschwerpunkt als eigenständiges Arbeitsgebiet erwähnte.41 Immerhin beschäftigte ihn die Frage messbarer Intelligenz- und Persönlichkeitsunterschiede zwischen den Rassen seit Mitte der 1920er Jahre, als Reaktion auf die massive Psychologisierung des wissenschaftlichen Rassismus in den USA. Wieder ging es um »primitives Denken«, aber in diesem Fall nicht um vom Aussterben bedrohte Steinzeitwesen in entlegenen Weltgegenden, sondern um »Primitive«, die mitten in der amerikanischen Gesellschaft lebten: die Nachfahren der aus Afrika verschleppten Sklaven sowie Einwanderer aus Ost- und Südeuropa.42 Das racial testing zwang Boas, sein methodisches Repertoire um das psychologische Testexperiment zu erweitern. In den 1930er Jahren waren psychometrische und verhaltensanalytische Studien eine tragende Struktur seiner groß angelegten wissenschaftlichen Offensive gegen die nationalsozialistische Rassenpolitik und den Rassismus in den USA. Die Kapitel 2 bis 4 werden diese Entwicklung aufrollen: Sie fragen, mit welchen Argumenten, Verfahren und Effekten Boas und seine Mitarbeiter in die amerikanische Psychometrie-Debatte intervenierten.
Rassismus und Antirassismus transatlantisch Das ist aber nur ein Teil der Geschichte. Der zweite Teil des Buches widmet sich den Verbindungen der boasianischen Psychometrie zu wissenschaftlichen Debatten über Intelligenz, Rasse und Kultur in Deutschland. Kapitel 5 umreißt zunächst im Allgemeinen Boas’ deutsche Netzwerke, seine wissenschaftspoliti40 Vgl. etwa Modell: Ruth Benedict; Geertz: Us/Not-Us; Young: Ruth Benedict; Banner: Intertwined Lives; Janiewski/Banner (Hg.): Reading Benedict/Reading Mead; Molloy: Creating a Usable Culture; Lutkehaus: Margaret Mead; Stocking (Hg.): Malinowski, Rivers, Benedict and Others; LeVine: Culture and Personality Studies. 41 Foley: Franz Boas, Psychologist. 42 Vgl. Tucker: Science and Politics; Richards: »Race«, Racism, and Psychology.
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schen Aktivitäten sowie seine Publikationstätigkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die Kapitel 6 und 7 werden zeigen, dass die Diskussion um psychische Rassenunterschiede in Deutschland anders geführt wurde als in den USA. Die Unterschiede fangen damit an, dass man es hier nicht mit einer fachwissenschaftlichen Debatte zu tun hat, sondern mit drei sich teils überlagernden Wissensfeldern: Intelligenzforschung und -diagnostik in der pädagogischen Psychologie, einer Hermeneutik der »Rassenseele« und der biowissenschaftlichen Erbpsychologie. 43 Anhand dieser drei Felder soll deutlich gemacht werden, welche Anschlussstellen es für die boasianische Intelligenzforschung in Deutschland gab, ob daraus ein Transfer wurde oder welche Faktoren einen solchen möglicherweise verhinderten. Kapitel 8 beschäftigt sich mit Boas’ wissenschaftlichen Antworten auf die deutsche Rassenpsychologie und Rezeptionen der amerikanischen Psychometriekritik – einschließlich der boasianischen Intelligenzforschung – im nationalsozialistischen Deutschland. Dieser Ausblick liegt quer zu einer Erzählung, die Boas als transatlantischen Erben der liberalen deutschen Anthropologie des 19. Jahrhunderts sieht und davon ausgeht, dass mit dem Aufstieg von Rassenanthropologie und konservativer Diffusionsethnologie seine Beziehungen nach Deutschland Mitte der 1920er Jahre zum Erliegen gekommen seien.44 Tatsächlich waren seine deutschen Kontakte aber nie intensiver als um 1930. Diese unwahrscheinliche Nähe bietet Gelegenheit, nach den transatlantischen Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Verflechtungen von wissenschaftlichem Rassismus und Antirassismus zu fragen. Denn zwischen Boas und seinen deutschen Antipoden gab es mehr wissenschaftliche Berührungspunkte, als ihre politische Gegnerschaft vermuten lässt.45 Seine Anthropologie ist durchaus als »Gegenentwurf« zur Rassenforschung zu verstehen46, jedoch spielt diese Beziehungsgeschichte in dem gemeinsamen Bezugsrahmen von »Rasse und Kultur«, und eben diesen gilt es konsequent zu historisieren. Eine solche Perspektive ist möglich geworden durch die Kritik der Annahme, rassistisches Denken sei per se irrational und die Rasseforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei ideologisch kontaminierter Verrat an oder Missbrauch 43 Zur Frage nationaler Stilausprägungen in einzelnen Disziplinen vgl. Harwood: Styles of Scientific Thought, S. 9-17; ders.: National Differences in Academic Culture. 44 Vgl. Proctor: From Anthropologie; Smith: Politics and the Sciences of Culture, S. 113-114; Penny: Bastian’s Museum, S. 125; Joch: Deutsche Anti-Evolutionisten, S. 100. 45 Vgl. Barkan: Retreat, S. 108; Morris-Reich: Race, ideas, and ideals; Schmuhl: Feindbewegungen; Lipphardt: »Investigation of Biological Changes«. 46 Kaufmann: »Rasse und Kultur«.
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von Wissenschaft gewesen. Nicht nur populäre Geschichtserzählungen der Gegenwart verstehen Rassismus als Primitivismus und »Zivilisationsbruch« – und demzufolge nicht als einen möglichen Teilaspekt von Zivilisation. Diese normative Scheidung verstellt jedoch den Blick darauf, dass Geschichtserzählungen offen oder unterschwellig mit Vorstellungen psychischer Normalität operieren, die zumindest fragwürdig sind. Die ausgrenzenden Strategien der Pathologisierung, der Exotisierung, der Dämonisierung, die Rassisten gegen ihre vermeintlichen Gegner anwandten, verschoben postrassistische Deutungen seit den 1930er Jahren auf die Rassisten selbst. Demgegenüber haben insbesondere Studien zur Geschichte des deutschen Rassismus die Heterogenität und Unschärfe von Rassekonzepten sowie die Verquickung von administrativer, technischer und wissenschaftlicher Rationalität mit dem rassisch-völkischen Reinigungsprojekt des Nationalsozialismus herausgearbeitet.47 So wenig es hilft, Rasseforschung unter der Rubrik »Pseudowissenschaft« zu entsorgen, sollte es sich umgekehrt verbieten, Antirassismus unbesehen als »gute« Wissenschaft zu adeln, die sich einer Historisierung entzieht. Hier ist etwa amerikanischen Studien zur Antisegregationspolitik der 1950er Jahre zu folgen, die auf die ambivalente Rolle akademischer Psychologen hingewiesen haben. Diese nutzten ihre wissenschaftliche Autorität, um über Konzepte wie »psychological damage« schulische Rassentrennung auszuhebeln, allerdings mit dem Erfolg, dass das politische Anliegen Rechtsgleichheit zunehmend über individualpsychologische Befindlichkeiten verhandelt wurde. Ihr gegen den Rassismus gerichteter Einsatz legte nicht die gedachte Ordnung Rasse still, sondern bahnte im Gegenteil den Weg zu identity politics auf der Grundlage rassischer Zugehörigkeit.48 Es ist also zum einen davon auszugehen, dass auch die Boasianer Wissen mit Wahrheitsanspruch produzierten, das soziale Wirklichkeit erst konstituierte und seinerseits komplexe Zusammenhänge auf fragwürdige Weise vereinfachte. Zum anderen sind unvorhergesehene Effekte in Rechnung zu stellen, wenn man die Erfolgsgeschichte des boasianischen Antirassismus in einem größeren historischen Zusammenhang verortet. Als Schlussstein dieser Erfolgsgeschichte gilt das 1950/51 von der Unesco veröffentlichte Statement on Race, das die Absage an den Rassendeterminismus fixierte: »a triumph of Boasian anthropology on a 47 Vgl. etwa: Aly/Heim: Vordenker der Vernichtung; Herbert: Best; stellvertretend für die vielbändige Publikationsreihe zur »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus« vgl. Schmuhl: Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik, S. 22-35; Essner: »Irrgarten der Rassenlogik«; dies.: »Nürnberger Gesetze«; Lipphardt: Biologie der Juden. 48 Vgl. etwa Zimmerman: Brown-ing the American Textbook.
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world-historical scale«.49 Zweifellos trugen solche Konsensbildungen auf dem Höhenkamm internationaler Wissenschaftspolitik, zumal vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und Aggressionspolitik, dazu bei, die »harte« Rasseanthropologie als unwissenschaftlich zu delegitimieren. Jedoch beseitigte dieser »retreat of scientific racism« (Elazar Barkan) keineswegs den wissenschaftlichen Rassismus zugunsten einer menschenfreundlichen Lehre kultureller Differenzen. Angemessener scheint es, von Verschiebungen im diskursiven Apparat biologischer und kultureller Diversität auszugehen. So gab es fließende Übergänge zwischen biowissenschaftlichem Rassismus und Populationsgenetik, während Kulturrelativisten wie Franz Boas im späten 20. Jahrhundert malgré eux als Zeugen eines globalen Kulturkampfs aufgerufen wurden.50 Ziel dieser Perspektivierung ist es nicht, epistemologische und ethische Schwachstellen der boasianischen Anthropologie aufzudecken. Es ist bekannt, dass Boas auf seinen frühen Feldforschungen Grabraub betrieb, um in den Besitz von Sammlungsobjekten zu kommen.51 George W. Stocking hat frühzeitig darauf hingewiesen, dass er außerwissenschaftliche Annahmen in wissenschaftsförmige Aussagen übersetzte und dabei einen deterministischen Kulturalismus produzierte.52 Darüber hinaus konnte sich Boas’ Antirassismus nicht von rassischen Kategorien lösen, so dass er genau jene Unterscheidungen reproduzieren half, die er auszuhebeln versuchte. Beispielweise suchte er noch um 1930 für eine Studie zu menschlichen Wachstumsverläufen Untersuchungspersonen danach aus, ob sie »jüdische« Nachnamen hatten.53 Schließlich ist vielfach kritisiert worden, seine Aussagen in The Mind of Primitive Man über die geistigen Fähigkeiten der Afroamerikaner seien ambivalent gewesen. Dort hieß es, die meisten Angehörigen aller Rassen teilten die durchschnittlichen Fähigkeiten der Weißen und könnten daher weiße Zivilisation leben. Insbesondere die Schwarzen brächten aber offenbar nicht »as large a proportion of great men as our own race« her49 Proctor: From Anthropologie, S. 174. 50 Vgl. Lipphardt: »Schwarzes Schaf«; dies.: Isolates and Crosses; Taguieff: Metamorphosen des Rassismus, S. 228-229. 51 Vgl. Harper: Give Me my Father’s Body, S. 32-34, 91-99; Pöhl: Franz Boas – Feldforschung und Ethik. 52 Vgl. Stocking: Franz Boas and the Culture Concept; auch Harris: Rise of Anthropological Theory, S. 298; Geulen: »Race into Culture«, S. 134; Sinha: Critical Study in Concept Formation. Zum problematischen Umgang mit Informanten vgl. Berman: »Culture as It Appears to the Indian Himself«; polemisch: Maud: Transmission Difficulties; zu Kroeber vgl. Buckley: »Little History of Pitiful Events«. 53 Boas: Studies in Growth [I], S. 308; vgl. auch Schmuhl: Feindbewegungen; Lipphardt: »Investigation of Biological Changes«, S. 182.
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vor, also eine vergleichbare Anzahl kulturschöpferischer Höchstbegabter. Noch in der überarbeiteten dritten Auflage von 1938 blieb diese Passage erhalten.54 Solche Inkonsistenzen, Relativierungen und Einschränkungen seiner antirassistischen Position müssen benannt werden. Aus historischer Perspektive würde es aber zu kurz greifen, sich nur mit dem »geheimen Rassismus im Denken des Ethnologen Franz Boas« zu beschäftigen.55 Weiter kann es führen, die Mängel der boasianischen Anthropologie als Hinweis darauf zu nehmen, dass das Wissen vom Menschen – um mit Lucien Lévy-Bruhl zu sprechen – magische Qualitäten hat. Seit dem 18. Jahrhundert sind Fakten zusammengetragen und Theorien entworfen worden, die aufklären sollten, warum, in welchem Maß und mit welchen Folgen Menschen sich ähnlich oder verschieden, gleich oder ungleich seien. In diesem Spannungsfeld hat sich das Wissen vom Menschen vielleicht schon immer bewegt, doch erst in der historischen Konstellation, die wir Moderne nennen, wurde es zum Problem, weil diese nach systematischer Vereindeutigung strebt. Das Problem der mensch-menschlichen (Un)Ähnlichkeit sollte mit den Mitteln exakter Wissenschaft aufgelöst werden. Dass dies nicht gelang, dass keiner der beiden Pole, Ähnlichkeit oder Verschiedenheit, jemals effektiv ausgeschlossen werden konnte, schuf produktive Unruhe, führte zu atemberaubenden Gräueln, erzeugte Paradoxien, denen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weder Rassisten noch Antirassisten entkamen – ebenso wenig wie Historiker zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
54 Boas: Mind of Primitive Man (1911), S. 123; ders.: Mind of Primitive Man (1938), S. 268; vgl. Williams: Franz Uri Boas’s Paradox, S. 35; bereits Gossett: Race, S. xivxv. 55 Geulen: Blonde bevorzugt, S. 166; vgl. auch Williams: Franz Uri Boas’s Paradox, S. 4.
2. America’s Got Talent: Race Psychology in der Zwischenkriegszeit
Die boasianische Intelligenzforschung reagierte unmittelbar auf die psychometrische Bewegung, die in den USA zwischen 1910 und 1940 eine einzigartige Resonanz erzeugte. In keinem anderen Land widmeten sich Wissenschaftler und ihre Adepten in anderen gesellschaftlichen Institutionen in vergleichbarer Weise der mathematischen Objektivierung von psychischen Unterschieden, die sie nicht zuletzt auf ethnische und rassische Gruppen bezogen. Die Vereinigten Staaten konnten daher als »home of mental testing«1 gelten, obwohl die Blaupausen dieser Erfolgsgeschichte aus Europa kamen. Das folgende Kapitel skizziert die wichtigsten Stationen dieser bereits relativ gut erforschten Geschichte und arbeitet die Ansatzpunkte der boasianischen Psychometriekritik heraus.
In der Glocke: Psychometrie der Rassen Unverkennbar sind die Weichenstellungen, die Francis Galton vornahm, der englische Ahnherr des wissenschaftlichen Rassismus und der modernen Differentialpsychologie. In Hereditary Talent and Character (1865) und Hereditary Genius (1869) behauptete er, die geistigen Eigenschaften des Menschen seien in der gleichen Weise erblich bestimmt wie die körperlichen. Zugleich schlug er vor, die Vererbung positiver Eigenschaften nicht dem Lauf der Natur zu überlassen, sondern durch selektive Fortpflanzung gezielt zu fördern bzw. die Weitergabe negativer Eigenschaften zu verhindern. 2 Für diese Art des Interventionismus 1
Boswood Ballard: Special preface, S. i.
2
Zum Folgenden vgl. Fancher: Measurement of mind; Gillham: Life of Francis Galton; Stigler: Darwin, Galton and the Statistical Enlightenment.
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prägte er 1883 den Begriff Eugenik. In English Men of Science: Their Nature and Nurture (1874) formulierte er die idealtypische Opposition von Erblichkeit und Umweltprägungen, an der sich amerikanische Humanwissenschaftler maßgeblich orientieren sollten. Zwei Jahre später stellte er den Vergleich von einund zweieiigen Zwillingen als Methode vor, die jeweiligen Einflüsse von Erbe und Umwelt auseinanderzuhalten. Sein Interesse an mentalen Prozessen und ihre individuellen Ausprägungen übersetzte er in erste psychometrische Tests. Mithilfe von Fragebögen zur Selbstauskunft sammelte er größere Datenmengen zu Wortassoziationen und bildlicher Vorstellung. 1888 beschrieb er die Möglichkeit, durch die mathematische Korrelation verschiedener Messreihen (echte oder vermeintliche) Kausalbeziehungen zwischen diesen herzustellen. Bereits in Hereditary Genius hatte er die Beobachtung des belgischen Astronomen Adolphe Quetelet aufgegriffen, dass die Werte menschlicher Körpermaße innerhalb einer Population gemäß der Gaußschen Fehlernormalverteilungskurve streuten. Eine regelrechte Kurve findet sich in Hereditary Genius noch nicht, statt dessen visualisierte ein Punktediagramm ein Eigenschaftskontinuum mit einem gehäuften Durchschnitt in der Mitte und verstreuten Abweichungen nach oben und unten. Geistige Begabung, so Galton, müsse analog zu anatomischen Eigenschaften in Begriffen von Durchschnitt und Abweichungen »upwards towards genius, and downwards towards stupidity« gefasst werden. Zu Klassifikationszwecken könne das gesamte Spektrum in verschiedene Leistungsstufen mit willkürlich gezogenen Grenzen unterteilt werden.3 Diese Stufen tauchen prominent in dem Rassenvergleich am Ende von Hereditary Genius wieder auf. Gemessen am Verhältnis von Gesamtzahl und der Anzahl herausragender Männer zeige jede Rasse eine gewisse Streuungsbreite. Die Rassenspektren seien jedoch nicht deckungsgleich, so dass die beiden höchsten Leistungsstufen der amerikanischen negro race nur die dritte und vierte Stufe der anglo-saxons erreichten, die wiederum um zwei Stufen hinter dem antiken Athen zurückblieben.4 Was geschah mit diesem Galtonschen Urbild einer statistischen, klassifizierenden Rassenpsychologie in den USA? Eine erste anthropometrische Testbewegung etablierte sich durch den Experimentalpsychologen James McKeen Cattell, der nach seiner Promotion bei Wilhelm Wundt auch Galtons quantifizierenden und differenzierenden Ansatz aus erster Hand kennen gelernt hatte.5 1890 führte er den Begriff mental test ein, der sich auf sensorische und senso-motorische 3
Galton: Hereditary Genius, S. 24-30.
4
Ebd., S. 327-330.
5
Vgl. Sokal: James McKeen Cattell and the Failure; ders.: James McKeen Cattell and Mental Anthropometry; Carson: Measure of Merit, S. 172-177.
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Tatbestände wie Reaktionszeiten, Gedächtnis oder Schmerzempfinden bezog. Seine Tests standen ganz auf dem Boden des psychophysiologischen Experiments, das grundlegende mentale Funktionen isolieren und die individuelle Variationsbreite bei normaler körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit bestimmen wollte. 1894 ging Cattell einen ersten Schritt in Richtung Intelligenzprüfung, als er begann, Reaktionszeiten bei Studierenden der Columbia University zu testen. Er unterstellte eine positive Korrelation der Einzelergebnisse untereinander sowie mit den akademischen Leistungen seiner Testpersonen. Doch erst 1901 arbeitete Clark Wissler Cattells Daten statistisch auf: Die erwartete positive Korrelation bestätigte sich nicht.6 Nach diesem Rückschlag lag das mental testing an der weißen »Normalbevölkerung« einige Jahre brach. Währenddessen gab es um 1900 mehrere Versuche, die psychische Verfassung von »Primitiven« experimentell zu ergründen. Sie gingen von der Annahme aus, »Naturvölker« verfügten über eine schärfere Sinneswahrnehmung als entwickelte Menschen, was sie wiederum bei höheren Denkprozessen behindere. Die erste professionelle Studie psychologischer Rassenunterschiede fand 1898/99 im Rahmen einer englischen Expedition statt, die die Einwohner der Torres-Meerenge zwischen Australien und Papua Neuguinea zu Forschungsobjekten machte.7 Mit Labortechnik wurden »lower mental functions« wie Farbwahrnehmung, visuelle Einbildungskraft, Reaktionszeiten, Hör- und Geruchssinn oder Schmerzwahrnehmung geprüft. Ähnliche, um einfache Formerkennungstests erweiterte Experimente folgten 1904 auf der Weltausstellung in St. Louis.8 Der ColumbiaPsychologe Robert Woodworth testete hier rund 1100 Personen, allerdings nach sehr ungenauer »rassischer« Klassifikation. Und vergleichbar mit der TorresStrait-Expedition führte der österreichische Ethnologe Richard Thurnwald 1911/ 12 psychometrische Untersuchungen in Melanesien durch.9 Die Resultate der drei Studien bestätigten die Grundannahme nicht oder waren so widersprüchlich, dass man sich darauf einigte, die Frage als nicht weiterführend zu betrachten. Woodworth überbrachte die Botschaft 1909 in einer Rede vor der AAAS: Die individuelle Variabilität innerhalb einer Gruppe sei größer als die Differenzen zwischen den Gruppen – das deckte sich genau mit Boas’ Ansichten, der an einem Vorbereitungsgespräch zu dieser Rede teilgenommen hatte. Die Zukunft sah Woodworth in der Verbesserung von Intelligenztests,
6
Wissler: Correlation of Mental and Physical Tests.
7
Vgl. Richards: Getting a result; Nakata: Disciplining the Savages, S. 42-100.
8
Vgl. Richards: Getting a result; Parezo/Fowler: Anthropology Goes to the Fair,
9
Thurnwald: Einleitung; ders.: Ethno-psychologische Studien an Südseevölkern.
S. 313-316.
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um unterschiedliche individuelle Begabungsniveaus innerhalb aller Rassen zu erkennen.10 In diese Richtung wies in der Tat ein neues Verfahrens, das auf den französischen Psychologen Alfred Binet zurückging und »höhere« Denkprozesse testete.11 Verschiedene Aufgaben, die spezifische Fähigkeiten wie Abstraktionsvermögen, Lernfähigkeit oder die moralische Urteilsfähigkeit ansprachen, sollten das intellektuelle Gesamtbild einer Person geben. Im Auftrag des französischen Unterrichtsministeriums entwickelte Binet ein Instrumentarium, mit dem sich lernschwache und geistig zurückgebliebene Kinder erkennen lassen sollten. 1905 veröffentlichte er gemeinsam mit Théodore Simon eine erste Skala von Aufgaben mit steigendem Schwierigkeitsgrad, die sie Kindern unterschiedlicher Altersstufen vorgelegten. Eine Aufgabe, die 60 bis 90 Prozent aller Kinder einer bestimmten Altersstufe lösen konnten, galt als altersgemäß normaler Testwert. 1908 führte Binet das Konzept des »geistigen Alters« (mental age) ein. Damit war derjenige Schwierigkeitsgrad auf der Skala bezeichnet, den ein Kind gerade noch bewältigte. Die Differenz von Lebensalter und geistigem Alter bezeichnete das allgemeine Intelligenzniveau eines Kindes. 1912 schlug der deutsche Psychologe William Stern vor, statt der Differenz einen Intelligenzquotienten zu bestimmen (Lebensalter geteilt durch das geistige Alter), der das Verhältnis der Abweichungen vom Normalwert genauer abbilde.12 Zumindest der akademisch geprägte Flügel der Testpsychologie sollte sich immer als experimentelle Wissenschaft verstehen, obwohl sie auf praktische Anwendung zielte und sich von den Labors und komplexen Apparaten verabschiedete, die die Experimentalpsychologie des späten 19. Jahrhunderts ausgemacht hatten.13 Als Testlokal konnte jedes halbwegs ruhige Zimmer dienen, die Untersuchung von Anatomie und Physiologie des Körpers – Hirnvolumina und sensomotorische Reaktionen – machte der Beobachtung von Verhalten Platz. Der dafür benötigte Apparat – Stift und Papier, Stoppuhr, Schablone, Bauklötze, Stecktafeln und dergleichen – war relativ anspruchslos und kam im Koffer des Psychometrikers zu den Prüflingen. Der Testvorgang war alltagsnah und darin der künstlichen, bewusst entrückten Situation im Labor entgegengesetzt. Die experimentelle Abstraktion und Verfremdung fand im Vorfeld statt, bei der Konstruktion von Tests, die verborgene psychische Kapazitäten sicht- und greifbar 10 Woodworth: Racial Differences in Mental Traits, S. 179-180, 186; Boas an Aleš Hrdlička, 16. Dezember 1909, PCFB. 11 Zu Binet vgl. Carson: Measure of Merit, S. 133-157. 12 Stern: Psychologische Methoden der Intelligenzprüfung. 13 Vgl. Benetka: Denkstile der Psychologie; Winston/Blais: What Counts as an Experiment?
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machen sollten. Es galt, dem psychischen Inneren möglichst aussagekräftige Äußerungen zu entlocken und die Elemente des Testarrangements – vor allem das Probandensample und die Aufgaben – so zu manipulieren, dass aus den konkreten, spezifischen Testergebnissen einzelner Personen verallgemeinernde Schlüsse gezogen werden konnten. In die USA gelangte die Binetsche Skala um 1910 durch Henry H. Goddard, den Forschungsdirektor der Vineland Training School for Feeble-Minded Boys and Girls in New Jersey.14 Auch ihm ging es darum, unterdurchschnittliche und pathologisch niedrige Intelligenzen zu diagnostizieren. Doch während sich Binet zunächst gegen die Quantifizierung von Intelligenz aussprach und zudem empfahl, Minderbegabte verstärkt zu fördern, rezipierte Goddard Binet unter erbbiologischen und eugenischen Vorzeichen. Der Psychometrie-Kritiker Steven Jay Gould ist der Ansicht, dass US-Psychologen Binets Verfahren pervertierten, indem sie die vage Größe Intelligenz anhand von exakten Messwerten essentialisierten. Allerdings erschien bereits in den späteren Binetschen Skalen Intelligenz als eine messbare Entität, die bei verschiedenen Menschen in unterschiedlichem Maße vorhanden sei. Sie setzten normale Intelligenz mit der durchschnittlichen Leistung eines Samples »normaler« Kinder gleich und maßen sie an der Fähigkeit, die Welt im Einklang mit gesellschaftlich akzeptierten Normen und Wahrnehmungsweisen zu beobachten.15 Jedoch brachte die Amerikanisierung des Intelligenztests in den 1910er Jahren tatsächliche einige signifikante Veränderungen mit sich. Zum einen interpretierten US-Psychologen in Goddards Gefolge mindere Intelligenz als einen ererbten, unveränderlichen Mangel, dessen Träger es abzusondern und an der Fortpflanzung zu hindern gelte. Die amerikanischen Sterilisierungsprogramme, auf die sich deutsche Biopolitiker in den 1930er Jahren gern beriefen, standen in engem Zusammenhang mit der Intelligenzforschung.16 Zum anderen übertrugen sie die Beziehung zwischen Erblichkeit und Intelligenz von familiären Abstammungslinien auf Großgruppen wie Ethnien und Rassen, wobei eine Differenzierung der weißen Rasse in höher- und minderwertige Untergruppen zum Tragen kam, die dem Schema des amerikanischen Anthropologen William Ripley folgte, der Europa in eine nordische, eine alpine und eine mediterrane Unterrasse dreigeteilt hatte.17 Goddard prägte zudem einen Begriff, der für die Einwanderungs14 Vgl. Zenderland: Measuring Minds, S. 92-98. 15 Vgl. Gould: Falsch vermessene Mensch, S. 167-168; dagegen Carson: Measure of Merit, S. 144-145. 16 Vgl. exemplarisch: Lombardo: Three generations, no imbeciles. 17 Vgl. Jacobson: Whiteness of a Different Color; Lüthi: Invading Bodies, S. 210, 221223.
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debatte der frühen 1920er Jahren zentral werden sollte. Er entwickelte eine lineare Leistungsskala, die vom »Idioten« bis zum hochintelligenten Geistesarbeiter reichte. Als Verbindungsglied zwischen Schwachsinn und normaler Intelligenz setzte er den Debilen, den moron, dessen Fähigkeiten einem geistigen Alter zwischen acht und zwölf Jahren entsprachen. Der moron entwuchs der psychopathologischen Fachdiskussion, als vor und im Ersten Weltkrieg der Versuch unternommen wurde, das mental testing auf die Normalbevölkerung auszuweiten. Unter den konkurrierenden Ansätzen, die sich seit 1910 unter jüngeren Psychologen verbreiteten, war der des an der Stanford University tätigen Kinderpsychologen Lewis M. Terman auf längere Sicht am erfolgreichsten. Seine überarbeitete Stanford-Binet-Skala von 1916 popularisierte das Leistungsstufenkonzept samt IQ und bildete in den zwanziger Jahren die Referenzgröße für andere Intelligenztests. Terman empfahl Intelligenztests als umfassende Sozialtechnologie, die Kinder frühzeitig in verschiedene Bildungswege lenkte, um ungleiche Begabungen für die Allgemeinheit optimal produktiv zu machen.18 Die ersten massenhaften Tests wurden jedoch an Erwachsenen vorgenommen. Der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg am 6. April 1917 bot den aufstrebenden Testpsychologen die historische Gelegenheit, auf große Gruppen von Testpersonen zuzugreifen und die gesellschaftliche Relevanz ihrer Disziplin herauszustellen. Die Militärbehörden betrauten Robert M. Yerkes, Primatenforscher in Harvard und Vorsitzender des psychologischen Komitees beim 1916 gegründeten National Research Council, mit der Aufgabe, Intelligenztests durchzuführen, um Führungspersonal selektieren und geistig Untaugliche ausmustern zu können. Zu diesem Zweck kooperierte Yerkes mit seinem bisherigen Konkurrenten Terman und weiteren Experten wie Henry Goddard, Edward Thorndike und Guy Whipple, der 1914 William Sterns Darstellung des Intelligenzquotienten auf Englisch publiziert hatte.19 Gebraucht wurden unkomplizierte Massentests für Erwachsene, die sich schnell durchführen und auswerten ließen. Der Multiple-choice-Fragebogen, im Testerjargon Army Alpha genannt, schien diesem Bedürfnis zu entsprechen. Analphabeten und Personen, die kein Englisch sprachen oder im Alpha-Test scheiterten, wurden einem Army Beta genannten Bildertest unterzogen. Wer auch in diesem Test versagte, kam in die Einzelprüfung. Vom Frühjahr 1918 bis zum Januar 1919 durchliefen mehr als 1,7 Millionen Rekruten das Testprogramm. Der Untersuchungsbericht füllte 900 Druckseiten und gab die Intelligenz
18 Terman: Measurement of Intelligence, S. 16-21. 19 Stern: Psychological Methods. Zur Testentwicklung vgl. Zenderland: Measuring Minds, S. 281-287.
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von rund 116.000 Personen sowohl in der von Yerkes bevorzugten Punkteskala, als »geistiges Alter« nach Binet und Terman sowie in Noten von A bis E an.20 Dass schwarze Rekruten insgesamt schlechte Ergebnisse erzielten, hatten die Tester erwartet. Die ersten Intelligenztests, die seit 1913 das intellektuelle Potenzial rassischer Gruppen verglichen, hatten im Großen und Ganzen schon bestätigt, was der common sense wusste – schwarze und farbige Kinder schnitten deutlich schlechter ab als weiße, weil sie weniger intelligent seien. Das ArmeeScreening bescheinigte den Afroamerikanern ein durchschnittliches geistiges Alter von 10,41 Jahren. Den Testergebnissen zufolge lag jedoch auch das geistige Alter der weißen Männer im Schnitt bei 13,77 Jahren, nahe an der Grenze zu Goddards Debilität. Man hätte sich nun fragen können, ob der angenommene Normalwert nicht falsch sei, wenn der Durchschnitt der männlichen Erwachsenen ihn faktisch nicht erreichte. Man hätte sich fragen können, ob das Gros der Prüflinge wirklich mit der Ausstattung von Kegelbahnen und Tennisplätzen vertraut war, die es im Army Beta Test unter anderem zu vervollständigen galt. Die Bilder- wie auch die Sprachtests repräsentierten kein Allgemeinwissen, sondern waren zum Teil extrem voraussetzungsreich.21 Doch die von den Testpionieren vorgelegten Zahlen verfingen bei einer bereits alarmierten Öffentlichkeit. Als die Ergebnisse 1921/22 bekannt wurden, sah sich das gebildete Angloamerika mit Schrecken von einer »moron majority« umzingelt.22 Am unverblümtesten unter den Wissenschaftlern formulierte der in Princeton tätige Psychologe Carl Brigham 1923 in seiner Study of American Intelligence, wem diese Verschlechterung der Bevölkerungsqualität zu verdanken sei: den Immigranten aus Süd-, Südost- und Osteuropa. Brigham referierte die im Armeebericht aufgestellte Testhierarchie der Nationalitäten in absteigender Linie. Auf die Engländer, deren geistiges Alter bei knapp 15 Jahren lag, folgte ein »nordeuropäischer« Block von Schotten, Niederländern, Deutschen, Dänen und Kanadiern, dahinter etwas abgeschlagen Schweden, Norweger und Belgier, an der Spitze der zweiten Tabellenhälfte standen die Iren, dahinter Österreicher, Türken und Griechen, mit Abstand gefolgt von Russen, Italienern, Polen und den schwarzen Amerikanern als Schlusslicht.23 Dieses Ranking verknüpfte Brigham mit der »race hypothesis«, dass nur der jeweilige Anteil von nordischem, alpinem und mediterranem Rassenerbe in den
20 Yerkes (Hg.): Psychological Examining. 21 Damit fielen die Tester hinter die eigenen Standards der Vorkriegszeit zurück, vgl. Reed: Robert M. Yerkes, S. 81-82. 22 Zit. nach Zenderland: Measuring Minds, S. 312. 23 Brigham: Study of American Intelligence, S. 124-125.
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europäischen Nationen einen plausiblen Grund für diese Unterschiede liefere.24 Gruppiere man die Testergebnisse nach den national vorwiegenden drei europäischen Hauptrassen, zeige sich, dass sich die nordische Glockenkurve der Intelligenz deutlich von der alpinen und der mediterranen abhebe.25 Als dramatisch sei die Tatsache zu werten, dass seit 1890 der nordische Anteil der Immigration von rund 50 auf 20 bis 25 Prozent gefallen sei, während der alpine bei 50 und der mediterrane bei 20 bis 25 Prozent liege, mit steigender Tendenz.26 Brighams Ausführungen zeigen eindringlich die Verflechtung des wissenschaftlichen mental testing mit gesellschaftspolitischen Debatten um den Zustand und die Zukunft des Landes. In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre steigerten sich die Testpsychologie und die Rede von rassischen Wertigkeiten aneinander, so dass »racial differences in intelligence« in den Fokus der amerikanischen Selbstverständigung rückten. Hier äußerte sich das grundlegende Dilemma der meritokratischen Demokratie, ein universelles Gleichheitsversprechen mit dem Beharren auf Differenz in Deckung zu bringen. Viele Autoren deuteten das aufklärerische Gleichheitspostulat um in das Angebot gleicher Chancen zum sozialen Aufstieg, das aufgrund unterschiedlicher natürlicher Begabungen nicht von allen gleichermaßen ausgeschöpft werden könne. 27 Die Intelligenzpsychologie half, diesen Spagat abzusichern, zugleich war die Professionalisierung des Fachs eng mit dem mental testing verbunden.28 Das Armee-Screening transformierte Intelligenztests in »a means of objective judgements about individuals in a mass society«29, das in vergleichbarer Weise auch Emotionen, Charaktereigenschaften und motorische Fähigkeiten der Messung zugänglich machte. Der diagnostische Wert des mental testing hatte sich von der Devianz bestimmter Randgruppen auf Bildung, Berufswahl und Personalauslese bei Normalamerikanern geweitet. In seiner neuen Bedeutung als ein allumfassendes Instrument der gesellschaftlichen Steuerung wurde es für die Philanthropie interessant, am durchschlagendsten im expandierenden Bildungssektor. Unter dem gemeinsamen Dach von Rockefeller Foundation und National Research Council arbeiteten Yerkes, Terman und andere Army Tester die Armeetests zum National Intelligence Test (1919) um, der es erlauben sollte, Schüler in
24 Ebd., 157-159. 25 Ebd., figure 43, S. 170. 26 Ebd., S. 162. 27 Vgl. Carson: Measure of Merit, S. 246-248; so bereits Reed: Robert M. Yerkes, S. 77. 28 Samelson: Putting psychology on the map; Zenderland: Measuring Minds, S. 292. 29 Reed: Robert M. Yerkes, S. 76; zur Verbreitung des testing vgl. Carson: Measure of Merit, S. 253-258.
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homogene Begabungsgruppen zu sortieren. Bis in die dreißiger Jahre setzte sich dieses tracking system im amerikanischen Schulwesen durch.30 Ausgrenzung über niedrige Intelligenz richtete sich insbesondere gegen zwei ethnisch bzw. rassisch definierte Gruppen, die African Americans und die Neuen Immigranten aus Europa. Nach dem Weltkrieg beherrschte zunächst das Immigrationsthema die Szene. Im Sog der ausgreifenden Agitation von Immigrationsgegnern aus verschiedenen gesellschaftlichen Lagern verabschiedeten beide Häuser des Kongresses 1924 mit großer Mehrheit den Immigration Restriction Act. Nachdem der Emergency Quota Act von 1921 die Einwanderung pro Land bereits auf vorläufig maximal drei Prozent der in den USA bereits lebenden Nationalitäten begrenzte, setzte das Gesetz von 1924 den Anteil auf zwei Prozent herunter, veränderte aber vor allem die Referenzgröße dieser Quotierung. Hatte das Gesetz von 1921 noch den Zensus von 1910 zur Grundlage, der 20 Jahre New Immigration als fait accompli abbildete, stützte sich das Gesetz von 1924 auf den Zensus von 1890, also den Stand zu Beginn der neuen Einwanderungswelle. Obwohl im Vorfeld der Entscheidung viele Testpsychologen dringlich für eine Begrenzung der Quoten unerwünschter Nationen eintraten, bleibt es in der Forschung umstritten, ob die psychometrische Debatte die Verschärfung der Einwanderungsbeschränkung unmittelbar beeinflusste.31 Jedenfalls verschwand die Immigrationsfrage bis auf weiteres von der Agenda. Die Psychologen, die sich in den zwanziger Jahren auf das Rassethema spezialisierten, beschäftigten sich mit Gruppen, die anglo-weiße Bedrohungsrhetorik deutlich weniger mobilisierten, entweder weil sie vollständig marginalisiert lebten, gesetzlich an der Einwanderung gehindert oder noch nicht als »Problem« wahrgenommen wurden. Thomas Russell Garth forschte schwerpunktmäßig zu American Indians und mexikanischen Einwanderern, Stanley Porteus zu Ostasiaten und australischen Ureinwohnern. Nur der dritte führende race psychologist, Joseph Peterson in Nashville, beforschte den American Negro, der nach den europäischen Einwanderern wieder zu einem Schlüsselthema des wissenschaftlichen Rassismus wurde. Noch um 1910 lebten fast 90 Prozent der rund acht Millionen Schwarzen in den Südstaaten. Zwischen 1917 und 1920 wanderten 700.000 von ihnen in die städtischen 30 Vgl. Carson: Measure of Merit, S. 247-248; Chapman: Schools as Sorters. 31 Brigham: Study, S. 210. Für eine unmittelbare Wirkung etwa Gould: Falsch vermessene Mensch, S. 255-256; dagegen Samelson: Putting Psychology on the Map, S. 135; Degler: Search of Human Nature, S. 54-55. Zur Forschungsdiskussion Zenderland: Measuring Minds, S. 263, Anm. 6. Für eine individuelle Selektion nach Intelligenz sprach sich hingegen Pintner: Intelligence Testing, S. 361-362, aus.
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Zentren des Nordens, des mittleren Westen und des Westens, bis 1930 noch einmal 800.000. Im Zuge dieser Great Migration vervielfachte sich die Zahl schwarzer Einwohner in Städten wie Detroit, Chicago, New York oder Washington D.C.32 Schwarze wurden nun gerade da in der Stadtöffentlichkeit und in Institutionen sichtbar, wo Gesellschaftsdeuter aus Kultur und Wissenschaft selbst lebten. Im weißen Süden stellte die Minderwertigkeit der Schwarzen zu Beginn des Jahrhunderts tendenziell sicheres Alltagswissen dar, das keiner wissenschaftlichen Bestätigung bedurfte. Im Norden aber wuchs der Druck, die Diskrepanz zwischen Gleichheitspostulat und faktischer Diskriminierung zu objektivieren – dies auch angesichts einer wachsenden afroamerikanischen Bildungsschicht, die aktiv für ihre Bürgerrechte einzutreten begann. Vor dem Ersten Weltkrieg speiste sich die Debatte um rassische Intelligenz aus der Frage, ob Schwarze mit entsprechender Erziehung weiße Zivilisation lernen könnten oder aufgrund ihrer Rassenatur dazu nicht oder nur begrenzt in der Lage seien.33 Darüber legte sich nun ein Expertengespräch, das mit voraussetzungsreichen statistischen Größen wie Streuung, Zentralwert und wahrscheinlichem Fehler hantierte.
Unschärfen: Selective migration, Rassenmischung und asiatische Intelligenz Die anthropostatistischen Verfahren, die sich um 1900 durchsetzten, versprachen, die im Common Sense verankerten Rassenunterschiede an exakte Maße zurückzubinden. Rassen sollten aufgrund typischer Messwerte objektiviert, Individuen aufgrund gemessener Werte einer Rasse zugeordnet werden können. In der Praxis schuf die Anthropostatistik aber weniger Klarheit als eine Dialektik von Unschärfe und Vereindeutigung. In der mitteleuropäischen Anthropometrie etwa machte sie eine Diskrepanz sichtbar zwischen den rassischen Idealtypen und der empirischen Vielgestaltigkeit, der rassischen Ambiguität menschlicher Gruppen.34 In den USA, wo die physische Anthropologie eine untergeordnete Rolle spielte und es weniger um Feinbestimmungen als um prägnante, klar erkennbare Rassenunterschiede ging, war dieses Problem weniger präsent. Produktiv wurde jedoch auch in der amerikanischen Psychometrie die Uneindeutigkeit, die auf das ihr zugrunde liegende mathematische Modell der Normalverteilung zurückzuführen war.
32 Harris: Great Migration, S. 25; Trotter: U.S. Migration, S. 1141-1442. 33 Vgl. Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 77-87. 34 Zum Folgenden vgl. Hanke: Zwischen Auflösung und Fixierung; Lange: AfterMath.
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Seit Francis Galton galt die Prämisse, dass sich Intelligenz – analog etwa zur Körpergröße – in einer Bevölkerung nach den Regeln der Gaußschen Normalverteilung auffächere. Es ging um Häufungen und Streuungen des Merkmals Intelligenz, die graphisch dargestellt eine Glockenform ergaben. Die starke Häufung im Bereich der durchschnittlichen Intelligenz mit ihren Randbereichen füllte den Glockenbauch, die nach oben und nach unten hin immer seltener werdenden Extreme von Schwachsinn und Hochbegabung sorgten für die auslaufenden Glockenränder. Wie Christine Hanke im Anschluss an Jürgen Link gezeigt hat, bot die Normalverteilung der Anthropologie ein flexibles System, das in der Lage war, Einheitlichkeit und Heterogenität zusammenzudenken. Im Gegensatz zur Typen-Taxonomie schloss das Konzept der Normalität Variabilität, Abweichungen, Spielräume des Typischen ein. Demnach war es geradezu notwendig, dass einige Schweden klein und einzelne Schwarze hochbegabt waren.35 Die Streuungsbreite gab jedoch keinen Aufschluss darüber, in welcher Zone des Glockenquerschnitts das Normale, Einheitliche aufhörte und die Abweichung begann, in welchem Wertbereich sich etwa der »normale« IQ einer Bevölkerung bewege. Die Normalverteilung brachte diese Uneindeutigkeit selbst hervor, da es innerhalb der Glocke keine scharfen Grenzen, sondern nur graduelle Übergänge gab. Die Evidenzerzeugung qua Normalverteilungskurve setzte daher wiederum Anstrengungen zur Vereindeutigung in Gang und hielt die Wissensproduktion in Bewegung.36 Statistisch hervorgebrachte Uneindeutigkeit ließ sich zum Teil mit Statistik kontern: So war es üblich, den Durchschnittswert (average), in dem extreme Einzelwerte für Verzerrung sorgen können, mit dem Zentralwert (median) abzugleichen, der den Häufungsschwerpunkt abbildet. Der Zentralwert wiederum konnte keine Auskunft über die Frage geben, ob eine Bevölkerung über jene »genialen« Solitäre und Familien verfüge, die entscheidend für den Kulturfortschritt seien. Ein anderes mathematisches Vereindeutigungsinstrument war die Korrelationsstatistik. Ein Intelligenztest galt als um so zuverlässiger, je stärker seine Ergebnisse mit denen anderer Tests korrelierten. Zudem wurde eine Übereinstimmung mit dem praktischen Alltagswissen verlangt. So mussten sich die Ergebnisse von Intelligenztests bei Schulkindern mit dem »subjective judgement of reliable judges« – in der Regel des Lehrpersonals – in etwa decken, um als gültig angesehen zu werden, obwohl sie andererseits ihre Legitimation gerade daraus bezogen, Korrektiv der subjektiven Lehrermeinung zu sein.37 Doch weder die immanenten 35 Etwa East: Heredity and Human Affairs, S. 259-261. 36 Hanke: Zwischen Auflösung und Fixierung, bes. S. 52-54, 62, 180; Link: Versuch, S. 197-200, 202-267. 37 Pintner: Intelligence testing, S. 64.
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Unschärfen und Setzungen der Normalverteilung noch die Widersprüche der Validierung wurden in der Methodendebatte als Problem verhandelt.38 Sekundäre Unschärfen, die auf dem Fundament der Statistik ruhten, ließen sich jedoch nicht auf diese Weise stillstellen. Der offizielle Armeebericht war insofern nur gedämpft tendenziös, als er Befunde präsentierte, die das Bild eindeutiger rassischer Intelligenzunterschiede irritieren konnten, ohne dafür definitive Erklärungen zu liefern. Neben insgesamt schlechten Durchschnittswerten für African Americans hatte das Screening auch erbracht, dass schwarze Amerikaner, die in den Städten des Nordens lebten, in der Regel besser abschnitten als die schwarzen Landbewohner des Südens und dass viele von ihnen sogar die ungebildeten weißen Südstaatler übertrafen. Es gab eine weiße und eine schwarze Glocke, die nicht deckungsgleich waren, sich aber überlappten – so hatte bereits Galton argumentiert.39 Diese Überlappung war deutungsbedürftig, wie stellvertretend an Carl Brighams Kommentar zum Armeebericht abzulesen ist. Brigham führte die Diskrepanz zwischen nördlichen und südlichen negroes auf drei Faktoren zurück: Erstens auf bessere Bildungsangebote im Norden, die in einem gewissen Maß das Abschneiden in Tests beeinflussten, zweitens auf die größere Beimischung von weißem »Blut« bei den dortigen Schwarzen und drittens auf die allgemein besseren Lebenschancen im Norden, »tending to draw the more intelligent negro to the North«.40 In den Punkten zwei und drei bezog sich Brigham auf die beiden zentralen Interpretamente der hereditarians, die so genannte Mulattenhypothese sowie die Annahme, bei Migrationsprozessen greife die natürliche Selektion. »Mulatto hyopthesis« und »selective migration« gaben das konkrete Material vor, an dem sich die boasianische Intelligenzforschung abarbeiten sollte.41 Zunächst half jedoch das Konzept der Normalverteilung dabei, die festgestellte Differenz zwischen »southern« und »northern negroes« mit der allgemeinen Rassenhierarchie in Einklang zu bringen. Das Gros der Rassepsychologen folgerte, es sei das begabtere Segment der schwarzen Bevölkerungsgruppe, das, einem inneren Drang nach anspruchsvoller Betätigung folgend, in die Städte des Nordens abwandere. Darin zeige sich ein allgemeiner, rassenübergreifender Selektionsmechanismus, der stets die Begabteren vom Land in die Stadt ziehe. Das bessere Abschneiden sei also nur zu einem geringen Teil den urbanen Lebens38 Carson: Measure of Merit, S. 258-260. 39 Yerkes (Hg.): Psychological Examining, S. 721-734; Galton: Hereditary Genius, S. 327 40 Brigham: Study of American Intelligence, S. 192. 41 Herskovits: Critical Discussion of the »Mulatto Hypothesis«; Klineberg: Negro Intelligence.
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umständen samt besseren Bildungschancen, in erster Linie aber der ererbten Veranlagung zuzurechnen. Ihrer Ansicht nach migrierte also vor allem der überdurchschnittlich intelligente rechte Ausläufer der schwarzen Glocke, bei dem es auch nicht verwunderte, wenn er besser IQs erzielte als weiße Analphabeten in Alabama – die »normale« Variationsbreite der beiden Gruppen machte es möglich.42 Diese Erklärung fügte sich in einen Deutungsrahmen ein, der »Umwelt« prinzipiell als Ergebnis und nicht als Ursache verschiedener Intelligenzmaße ansah. Schon 1916 hatte Lewis Terman klargestellt, dass der soziale Status einer Testperson als Effekt der familiären Geistesanlagen zu deuten sei und nicht etwa als eine zu kontrollierende Variable der Intelligenzmessung.43 In diesem Geist initiierte er 1921 eine bis heute andauernde Langzeitstudie zur Entwicklung hochbegabter kalifornischer Kinder unter dem Titel »Genetic studies of genius«.44 An Terman anschließend folgerte Carl Brigham, es sei unfair gegen die weißen Rasse, arme Schwarze mit armen Weißen zu vergleichen, da den weißen Amerikaner gerade die Fähigkeit zum Lebenserfolg auszeichne, Mitglieder der weißen Unterschicht somit nicht als repräsentativ gelten könnten.45 Der white trash war für ihn keine empirische Facette, sondern eine Verfallserscheinung der weißen Rasse. Neben den Nord-Süd-Unterschieden der schwarzen test performance hielt der Armee-Report auch fest, dass bei den Immigranten ein längerer Aufenthalt in den USA positiv zu Buche schlage.46 Aber während der Report noch offen ließ, ob dies auf echte Intelligenzunterschiede oder das Testdesign zurückzuführen sei, spitzte Brigham diesen Befund wiederum zu: »It is sometimes stated that the examining methods stressed too much the hurry-up attitude frequently called typically American. The adjustment to test conditions is a part of the intelligence test. […] Inability to respond to a ›typically American‹ situation is obviously an undesirable trait.«47 Nebenbei unterlief Brigham an dieser Stelle die Verpflichtung der Testpsychologie auf Wissenschaftlichkeit, die es erlauben sollte, angeborene Intelligenz objektiv zu bestimmen. Er bekannte sich offensiv zum kulturellen bias und erklärte ihn gleichsam zu einem erwünschten Auslesemechanismus, der Anpassungsfähigkeit an die überlegene angloamerikanische Kultur 42 Vgl. Tucker: Science and Politics, S. 81 43 Terman: Measurement, S. 115. 44 Terman: Mental and physical traits; vgl. auch die angeschlossene galtoneske Studie von Cox: Early mental traits. 45 Brigham: Study of American Intelligence, S. 188-189. 46 Vgl. Cravens: Triumph, S. 228; Yerkes (Hg.): Psychological Examining, S. 701-704. 47 Brigham: Study of American Intelligence, S. 96.
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sichtbar mache. An diesem Panzer prallte auch der Einwand ungleicher Bildungschancen ab: Das Schulsystem sei nun einmal »part of our own race heritage«, in dem schwarze Kinder natürlich weniger erfolgreich seien als weiße.48 Etwas anders waren die Herausforderungen bei der »mulatto hypothesis« akzentuiert. Die vermuteten negativen Effekte der Rassenmischung lagen am Ursprung der Rassentheorie seit Gobineau.49 Von der Präpotenzlehre der Rassentheoretiker, die annahm, dass der Rassenmischling die jeweils schlechten Eigenschaften der Stammrassen erbte, hatte man sich im 20. Jahrhundert verabschiedet. Es herrschte Konsens, dass auch bei der Rassenmischung das »weiße« Erbe wirksam werde. So konnte die »mulatto hypothesis« in Umlauf kommen. Sie besagte, dass schwarz-weiße mixed-bloods, die sozial weiterhin als schwarz galten, aufgrund ihrer »weißen« Erbanlagen im Schnitt intelligenter seien als der fullblood negro. Sie bildeten gewissermaßen den rechten Teil der schwarzen Glockenkurve. Die Annahme, der IQ von Mischlingen liege in der Regel zwischen den IQs ihrer Stammrassen, übertrugen Testpsychologen auf andere rassische Kombinationen, etwa indianisch-weiße half-bloods.50 Seit den frühen zwanziger Jahren verglichen Testpsychologen Mischlinge und reine Vertreter verschiedener Rassen, um den Nachweis der überwiegenden Erblichkeit von Intelligenz anzutreten. Diese Studien krankten jedoch unter anderem daran, dass sie »Rassenanteile« an äußeren Körpermerkmalen abschätzten, ohne den verwandtschaftlichen Hintergrund der Testpersonen, also den konkreten Pool ihrer Erbanlagen, aufzuklären. Hier setzte der Boasianer Melville Herskovits an, der Anthropometrie mit genealogischen Erhebungen verband und zu dem Ergebnis kam, dass ein erheblicher Teil der vermeintlichen full-blood negroes in den USA indianische und weiße Vorfahren habe.51 Wen dieses Ergebnis überzeugte, der musste die Ergebnisse zahlreicher schwarz-weißer Vergleichsstudien aufgrund falscher Samples für obsolet halten. Theoretisch handelten sich die Rassepsychologen mit der »Mulattenhypothese« das Problem ein, dass eine verstärkte Rassenmischung das durchschnittliche Intelligenzniveau gehoben hätte. Praktisch war es ihr Anliegen, den rassischen Hybriden als psychosozialen Sprengstoff auszuweisen, der die Stabilität der Gesellschaft gefährde. Gerne gestanden sie ein, dass die Mischung ähnlicher und verwandter Rassen kulturell produktiv und notwendig für die Menschheitsentwicklung sei, während sich extrem unähnliche Rassen wie Schwarze und 48 Ebd., S. 194. 49 Vgl. Geulen: Rassismus, S. 72. 50 Vgl. Hunter/Sommermeir: Relation of degree of Indian blood, S. 277. 51 Herskovits: American Negro; zur boasianischen Kritik an rassischen samples vgl. Mead: Methodology of Racial Testing, S. 659-661.
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Weiße stets zum Nachteil mischten.52 Doch solche weltgeschichtlichen Betrachtungen genügten nicht, es brauchte wissenschaftliche Beweise, und da sich Intelligenz im Fall der mulattoes nicht zum Stigma eignete, wichen die Rassepsychologen auf die Messung von »personality« und »temperament« aus. Ein einschlägiger Fall ist die bekannte Studie Race Crossing in Jamaica, die der New Yorker Genetiker Charles Davenport 1926/27 leitete. Auf Jamaica, so nahm er an, lebten Schwarze, Mulatten und Weiße unter gleichen Umweltbedingungen, psychische Verschiedenheiten zwischen diesen Gruppen könnten also sicher der rassischen Erbanlage zugerechnet werden. Auftraggeber der Untersuchung war die Carnegie Corporation, anonymer Financier der rassistische Philanthrop Wickliffe Draper. 53 Der psychometrische Teil der Studie sollte den Nachweis von »constitutional differences in the intellectual and sensory spheres« erbringen.54 Obwohl auch viel Mühe auf die Erhebung anatomischer und physiologischer Daten verwendet wurde, hielt Davenport seinen Mitarbeiter vor Ort ausdrücklich dazu an, besondere Sorgfalt auf die psychologischen Tests zu verwenden. Sie allein könnten klären, in welchem Ausmaß Schwarze und Mischlinge über Eigenschaften wie Aufrichtigkeit, Haushaltssinn und Voraussicht verfügten, auf denen die weiße Zivilisation beruhe.55 Davenport hatte schon 1917 behauptet, »physical, mental and instinct disharmonies in hybrids« nachweisen zu können.56 Sein Psychogramm des Mischlings stand fest, bevor er sich in die karibische Empirie begab. Es basierte nicht auf biologischen oder psychologischen, sondern auf einem ästhetischen Begriff, der Harmonie. Der harmonische Eindruck, den das menschliche Erscheinungsbild im Auge des Betrachters erzeugte, war der Schlüssel zur Einordnung und Bewertung.57 Auf dem unwegsamen Terrain der Rasse verquickte auch Davenport exakte Messung und »synthetisierende[n] Augenschein«.58 Eine markante physisch-mentale Disharmonie der Mischlinge konnte Davenport aber nur feststellen, indem er einzelne Ergebnisse stark überzeichnete und 52 Vgl. Tucker: »Inharmoniously Adapted to Each Other«; Barkan: Retreat, S. 147. 53 Tucker: Funding of Scientific Racism, S. 30-31, vgl. auch Barkan: Retreat, S. 163165. 54 Davenport/Staggerda: Race Crossing, S. 299; durchgeführte Tests S. 33-43; Einzelergebnisse S. 299-370; Resümee S. 468-472. 55 Nach Tucker: Funding of Scientific Racism, S. 31. 56 Davenport: Effect of Race Intermingling, S. 367. 57 Vgl. Tucker: Science and Politics, S. 65; Teo: Historical Problematization of »Mixed Race«, S. 88. 58 Für die deutsche Rassenanthropologie: Hanke: Zwischen Auflösung und Fixierung, S. 155-156; vgl. auch Lange: AfterMath, S. 334.
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das uneinheitliche Gesamtbild der Messungen und Tests in seiner Schlussfolgerung beiseite schob. Die Mischlinge hätten bei höherer Intelligenz, so Davenport vage, eine Tendenz zur Verworrenheit gezeigt: »The Blacks may have low intelligence, but they generally can use what they have in fairly effective fashion; but among the Browns there appear to be an extra 5 per cent who seem not to be able to use their native endowment.«59 Im Dunkeln blieb auch, welche der behaupteten nachteiligen sozialen Effekte die psychische Disharmonie der Mischlinge mit sich bringe. Die mit viel Aufwand betriebene exakte Untersuchung hatte keine Klärung des Uneindeutigen in die gewünschte Richtung erbracht. Andererseits gelang es Davenport auch nicht, aus der Unschärfe ein weiteres Klärungsversprechen abzuleiten. Messung und Augenschein fielen zu sehr auseinander. In dürren Worten behauptete er einfach die Lösung aller offenen Fragen. Als die Studie 1929 veröffentlicht wurde, war die Ablehnung in der Fachwelt deshalb fast einhellig. Sogar die Auftraggeber distanzierten sich und sechs Jahre später revidierte sein Feldforscher Morris Staggerda die Ergebnisse.60 Zu diesem Zeitpunkt beschränkten sich Davenports Zitierkreise schon weitgehend auf deutsche Rasseforscher. Ähnlich wie Davenport verfuhr der race psychologist Stanley Porteus, der klinische Psychologie an der University of Hawaii in Honolulu lehrte und sich dem »Problem« ostasiatischer Einwanderer widmete. Diese Spielart der Xenophobie war insbesondere an der Westküste ein Thema, schnitten doch die Nachkömmlinge der »mongolischen Rasse« in Intelligenztests beängstigend gut ab. Porteus wandte sich gegen die Prämisse, dass Intelligenzmessungen den künftigen Lebenserfolg einer Testperson prognostizierten. Ausschlaggebend für die »social efficiency« eines Individuums sei nicht in erster Linie seine Intelligenzanlage, sondern die Fähigkeit, sie zweckmäßig und zielstrebig einzusetzen. Er nannte dies »psychosynergy«, eine Kombination aus Gefühls-, Temperamentsund Willenskräften.61 In diesem Sinne untersuchte Porteus mit seinen selbst entwickelten Maze Tests auf Hawaii lebende Kinder verschiedener »rassischer« (ethnischer) Abstammung. In der Art und Weise, wie seine Probanden ihren Weg durch die Labyrinthe fanden, offenbarte sich ihm unter anderem, dass hawaiianische Japaner »adaptable, but not suggestible« seien, das hieß: sie passten sich der amerikanischen Umgebung optimal an, ohne ihre »rassische« Identität 59 Davenport/Staggerda: Race Crossing, S. 472. 60 Vgl. Gossett: Race, S. 420; Tucker: Funding of Scientific Racism, S. 30-31; Barkan: Retreat, S. 166-167, S. 204; Curti/Marshall/Staggerda/Henderson: Gesell Schedules, S. 126. 61 Babcock/Porteus: Temperament, S. 272. Zu Porteus vgl. Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 94-101.
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aufzugeben.62 Porteus verfuhr bei seiner Temperamentmessung also exakt wie die von ihm kritisierten Intelligenztester, denn er schloss von einem spezifischen beobachtbaren Verhalten einer Anzahl von Testpersonen auf die typischen Lebensantriebe ganzer Gruppen. Aus dieser an sich schon dubiosen Schlussfolgerung deduzierte er ohne weitere Zwischenschritte einen welthistorischen Konflikt, in dem Nordamerika und Australien der »racial suicide« drohe, wenn nicht der »Japanese penetration« Einhalt geboten werde.63 Wo Intelligenztests nicht die unterstellte Kausalbeziehung von hoher Intelligenz und rassischer Überlegenheit abbildeten, standen subsidiäre mentale Kategorien wie Temperament, Persönlichkeit oder »emotional make-up« bereit, um Evidenzlücken zu schließen. Im rassischen Profil des negro konnte sich der Verweis auf mangelndes Führertalent und Sprunghaftigkeit mit dem Befund niedriger Intelligenz verstärken, in anderen Zusammenhängen ließ sich das nun positiv gedeutete fröhlich-naive Naturell des full-blood negro aber gegen die disharmonische Persönlichkeit des »intelligenteren« Mischlings ausspielen. Ebenso taktisch wurde das Umwelt-Argument eingesetzt, wenn Testergebnisse gegen das vorausgesetzte Rassen-Ranking sprachen. Ein Beispiel ist eine Vergleichsstudie zwischen weißen, schwarzen und indianischen Kindern, die ein Schüler von Joseph Peterson um 1930 durchführte. Unter anderem stand der Mare-andFoal-Test zur Aufgabe: Bei diesem Bildertest mussten die Teile eines Pferdeensembles zusammengesetzt werden. Es zeigte sich, dass in diesem einen Test die indianischen Kinder am besten abschnitten, obwohl die indianische Intelligenz eigentlich zwischen schwarzer und weißer rangieren musste. Nur diese Anomalie veranlasste den Tester, sich mit der Erfahrungswelt der Testgruppen, ihrer Vertrautheit oder Nichtvertrautheit mit Pferden, zu beschäftigen. Für ihre Vertrautheit mit den anderen Prüfungsinhalten interessierte er sich dagegen nicht, sondern folgerte, dass Bildertests offenbar relativ umweltabhängig seien, sprich: weniger geeignet für objektive Rassenvergleiche. 64
»What the tests test«: die fachinterne Ernüchterung des mental testing Die entschlossenen Aussagen der Army Tester und der militanten Rasseschriftsteller, die sich daran anschlossen, blieben in der Öffentlichkeit nicht unwider-
62 Ebd., S. 321. 63 Ebd., S. 336. 64 Telford: Test performance, S. 132-133.
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sprochen.65 Stellvertretend sei hier eine Artikelserie des New Yorker Journalisten Walter Lippmann zitiert, in der er Ende 1922 die Ergebnisse und die Interpretationen des Army Tests äußerst scharfsinnig auseinandernahm. Nur als alternatives Bewertungssystem innerhalb der Schule, so Lippmann, seien die Tests brauchbar. Alle anderen, weit reichenden Schlussfolgerungen, die die Tester aus ihrem unzulänglichen Material ziehen zu können behaupteten, seien Anmaßungen. Detailliert analysierte er die konzeptionellen Konstruktionsfehler der Tests, die zu dem absurden Resultat führten, dass ein Durchschnitt der erwachsenen Bevölkerung unterdurchschnittlich abgeschnitten habe. Die Tester gäben vor, mithilfe spezifischer Aufgaben die allgemeine Größe Intelligenz quantifizieren zu können, die in ihrer Unschärfe und Komplexität so nicht messbar sei: [The intelligence test] simply arranges a group of people in a series from best to worst by balancing their capacity to do certain arbitrarily selected puzzles, against the capacity of all others. The intelligence test, in other words, is fundamentally an instrument for classifying a group of people.66
Weder das behauptete Ausmaß der Erblichkeit noch die Unveränderlichkeit der mentalen Fähigkeiten seien bisher ansatzweise nachgewiesen, denn die abgefragten Daten repräsentierten »an unanalyzed mixture of native capacity, acquired habits and stored-up knowledge, and no tester knows at any moment which factor he is testing.«67 Den Testern müsse daher eine elitäre gesellschaftspolitische Agenda unterstellt werden, die sie mit »subtle statistical illusions« kaschierten.68 Lippmann meinte, Intelligenztests würden wie andere »Babu sciences« – Phrenologie oder Charakterologie – bald in Vergessenheit geraten. Diese Voraussage erfüllte sich auch deshalb nicht, weil seine und ähnliche Einwände einen Prozess der fachlichen Selbstkritik in Gang setzten, der auf Jahre hinaus immer neue, mehr oder weniger verfeinerte Intelligenzstudien hervorbrachte. Das mental testing war weit davon entfernt, als Pseudowissenschaft zu gelten. Doch die meisten akademischen Psychometriker der zwanziger Jahre äußerten sich über methodische Schwächen rückhaltloser als Testpioniere wie Terman, Yerkes und Thorndike, die sich selbst anderen Arbeitsgebieten zuwandten und die race psychology nur noch indirekt förderten.69 1923 rückte Edwin Boring, einer der jün65 Vgl. Cravens: Thriumph of Evolution, S. 230-234; Zenderland: Measuring Minds, S. 312-315. 66 Lippmann: Mystery of the »A« Men, S. 11. 67 Ebd., S. 28-29. 68 Ebd., S. 27-28. 69 Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 68-70.
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geren Army Tester, die gewagten Ausdeutungen des Armeeberichts zurecht, indem er erklärte, »that intelligence as a measurable capacity must at the start be defined as the capacity to do well in an intelligence test. Intelligence is what the tests test. This is a narrow definition, but it is the only point of departure for a rigorous discussion of the tests.«70 Die Psychologen, die um 1920 ihre akademischen Karrieren begannen, sahen die Probleme auf allen Gebieten der experimentellen Anordnung und ihrer statistischen Aufarbeitung und Ausdeutung. Zudem artikulierten sich nun wieder stärker Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten, die in der ersten Testergeneration durch das gemeinsame Projekt des army testing in den Hintergrund gerückt waren. Das betraf unter anderem die grundlegende Frage, ob es eine »general intelligence« (Charles Spearman) gebe, ob sie sich in verschiedene Felder wie abstrakte, mechanische und soziale Intelligenz (Edward Thorndike) einteilen lasse oder ob in Tests nur isolierte Fähigkeiten situativ abgefragt würden. Bis Anfang der dreißiger Jahre einseitig isoliert von dieser Diskussion blieb die Psychometriekritik afro- und asioamerikanischer Psychologen und Sozialwissenschaftler, die zunächst Kritik an der Validität und den Schlussfolgerungen der Tests übten, dann aber auch eigene Testreihen angingen.71 Mehr oder weniger ausgeprägt war das Bewusstsein für das Rauschen der Tests aufgrund kultureller Voraussetzungen. Doch wie ließen sich diese neutralisieren? Ein gravierendes Problem beim Auseinanderdividieren von »Erbe« und »Umwelt« ist, dass »Umwelt« alle möglichen, zum Teil interagierende Effekte umfassen kann, von der vorgeburtlichen Prägung des Fötus über Geschwisterkonstellationen, Ernährung und Klima bis zu Gewalterfahrungen und kulturell divergierenden Wahrnehmungsmustern. Wie sich die gesamten Umwelteinflüsse auf eine Testperson in ihrem Verhalten niederschlagen, lässt sich im Experiment nicht kontrollieren. Kritik und Verbesserungsversuche konzentrierten sich denn auch auf einige allgemeine, grob vergleichbare Parameter. Schon früh wiesen einzelne Tester darauf hin, dass der soziale Status und damit einhergehende Bildungschancen die Testleistung beeinflussten. 72 Auch mangelnde Englischkenntnisse wirkten sich offensichtlich deutlich negativ aus, so dass ergänzend oder alternativ zum Stanford Binet und anderen Sprachtests mit nonverbalen Tests gearbeitet wurde. Diese waren zum Teil vor oder im Ersten Weltkrieg entstanden, häufig um Kinder mit Sprachdefiziten oder Gehörlose 70 Boring: Intelligence as the Tests Test It, S. 35. 71 Vgl. Thomas: Black Intellectuals’ Critique; Franklin: Black Social Scientists; Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 131-133; Degler: Search of Human Nature, S. 200. 72 Arlitt: On the Need for Caution.
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diagnostizieren zu können. Dies galt etwa für die von Stanley Porteus entwickelten Maze Tests, bei denen die Testperson auf dem Papier den Weg durch ein Labyrinth finden musste. Sehr verbreitet war die Testserie von Rudolf Pintner und seinem Mitarbeiter Donald Paterson. Ein zentraler Aufgabentypus bestand darin, unterschiedlich geschnittene Formblöcke richtig in die geometrisch ausgestanzten Felder eines Bretts einzusetzen. Ähnlich funktionierte die Bildvervollständigung: eine Pferdeszene, ein Dampfer, eine Kleiderpuppe und ein menschliches Profil gewannen aus Einzelteilen Gestalt. In weiteren Aufgaben musste der Prüfling Bewegungen des Testers nachvollziehen. Die Bewertung richtete sich nach der Zeit und/oder der Anzahl von Handgriffen, die benötigt wurden, sowie den dabei gemachten Fehlern.73 Rudolf Pintner hatte 1913 bei Wilhelm Wundt promoviert und lehrte in den 1920er Jahren am Teachers College der Columbia University. Er unterzog die internationale Literatur zu Intelligenztests einer jährlichen Umschau im Psychological Bulletin und verfasste eines der Standardwerke über die Methoden des mental testing.74 Pintner gehörte zu jenen mental testers, die den bias bestimmter Testmethoden erkannten und benannten, ohne die Generallinie erblicher Rassenunterschiede je zu revidieren. So bestätigte er, dass Einwanderergruppen in nonverbalen Tests nicht schlechter abschnitten als lange ansässige Amerikaner, jedoch hielt er daran fest, dass die Differenz in Sprachtests die mangelnde Anpassungsfähigkeit der Einwanderergruppen indiziere.75 Ähnlich argumentierte die Kinderpsychologin Florence Goodenough, eine Mitarbeiterin Termans bei den »Genetic studies of genius«, die 1926 eine der markantesten Neuerungen vorstellte, den bald sehr verbreiteten Draw-a-ManTest. Die Aufgabe lautete, einen Mann möglichst genau zu zeichnen. Nach einem Punktesystem wurde die Vollständigkeit anatomischer Details von Körperteilen und Kleidung sowie Proportionen beurteilt und schließlich in IQs übersetzt.76 Etwas später gab es Versuche, Kultur auszuschließen, indem man sich auf vermeintlich noch ungeprägte Kinder im ersten Lebensjahr konzentrierte. Amerikanische Psychologen übernahmen dabei entsprechende baby tests von Hildegard Hetzer und Käthe Wolf aus dem Umfeld der Wiener Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler.77
73 Pintner/Paterson: Scale of Performance Tests. 74 Vgl. Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 106-107. 75 Pintner: Comparison of American and Foreign Children. 76 Goodenough: Racial differences in intelligence; vgl. ebenso Hirsch: Study of NatioRacial Mental Differences. 77 McGraw: Comparative Study of a Group of Southern White and Negro Infants.
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Vereinzelt gab es Debattenbeiträge, die schon vor der boasianischen Psychometriekritik den fundamentalen Einfluss des kulturellen Hintergrunds auf das Testverhalten aufzeigten. 1926 veröffentlichten zwei Lehrer aus Springfield, South Dakota, einen Aufsatz, in dem sie sich unter diesem Gesichtspunkt einige der verbreitetesten Intelligenztests vornahmen. Beispielweise beinhaltete eine Aufgabe des National Intelligence Test, einen Begriff durch die Zuordnung zweier Attribute allgemeingültig zu charakterisieren. Für den Begriff »crowd« standen »closeness, danger, dust, excitement, number« zur Auswahl. Die beiden Autoren argumentierten, dass es für indianische Kinder, die häufig Prärieversammlungen erlebten, sinnvoller sei, die Erfahrungswerte »dust« und »excitement« anzukreuzen, statt mit »closeness« und »number« richtig zu antworten.78 Dieser Aufsatz erschien im Journal of Comparative Psychology, das unter anderen von Robert Yerkes herausgegeben wurde und sicherlich kein Forum des Kulturrelativismus war. Solche kulturalistischen Stimmen avant Boas wurden zugelassen, verpufften jedoch in der Masse erborientierter Arbeiten. Wie weit die Selbstkritik des racial testing gehen konnte, ist an den Arbeiten Thomas Garths nachzuverfolgen, einem der führenden race psychologists in den 1920er Jahren. Er hatte an der Columbia University bei Robert Woodworth promoviert und war ab 1922 Professor of Education an der University of Denver in Texas.79 Da er sich als Südstaatler ein Vorurteil gegen Schwarze unterstellte, spezialisierte er sich auf die Arbeit mit indianischen und mexikanischen Kindern.80 Neben Intelligenz testete er musikalische Begabung, Ermüdung, Farbwahrnehmung und Persönlichkeitsmerkmale. Im Unterschied zu manchem Kollegen führte Garth seine Tests vor Ort durch, das heißt er hatte eine Vorstellung von den Lebensumständen seiner Testpersonen, die häufig Schüler der staatlichen Indian Schools im Südwesten, in Oklahoma und North Dakota waren. 1921 skizzierte Garth die Grundanordnung des rassenpsychologischen Experiments in einer Weise, die auch Boasianer ohne Abstriche zitieren konnten: The elements in a study of racial mental similarities or differences must be these: (1) two so-called races R1 and R2; (2) an equal amount of educational opportunity, E, which should include social pressure and racial patterns of thought; and (3) psychological tests, D, within the grasp of both racial groups. We should have as a result of our experiment R1ED equal to, greater than, or less than R2ED. In this experiment the only unknown elements should be R1 and R2.81 78 Fitzgerald/Ludeman: Intelligence of Indian Children. 79 Grundlegend: Richards: Reconceptualizing; Cravens: Triumph, S. 239-249. 80 Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 93. 81 Garth: Problem of Race Psychology, S. 21; zit. Klineberg: Experimental study, S. 1.
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An anderer Stelle betonte er, aufgrund seiner völlig anderen Lebenserfahrung könne der American Indian nicht in den Intelligenztests des weißen Mannes bestehen.82 Seine Aussagen umgab Garth stets mit disclaimern, da das »E« in seiner Formel in der Praxis nicht zu kontrollieren sei. Seit Mitte der 1920er Jahre verglich er nicht mehr nur full-blood und half-blood Indians, sondern auch Sesshafte und Nomaden, beschäftigte sich also mit der Auswirkung kultureller Differenzen innerhalb desselben »racial stock«.83 Für Carl Brigham repräsentierte er einen radikal umweltorientierten Standpunkt.84 Doch auch Garth bestätigte bei allen Zwischentönen im Detail immer wieder die grobe, aber eindeutige Botschaft: Weiße sind besser als Indianer und Schwarze. Er kennzeichnete solche Schlussfolgerungen als Vermutungen und Annahmen, setzte sie aber nichtsdestotrotz in die Welt, so dass andere mit diesen wissenschaftsförmigen Aussagen hantieren konnten. Da die Übereinstimmung von Intelligenztests als Beweis ihrer Gültigkeit galt, baute auch der Skeptiker Garth mit an dem Material, das die Annahme rassischer Intelligenzunterschiede gegen Aushöhlung stabilisierte. Die meisten Rassenpsychologen der mittleren zwanziger Jahre kombinierten das Eingeständnis der Beweisschwäche mühelos mit apodiktischen Aussagen über rassische Unterschiede und Wertigkeiten. Es sei üblich, so Stanley Porteus 1926, »to concede very readily the fact that the tests do not measure intelligence as psychologists themselves define it, and then to proceed to make deductions from test results and to advocate national and educational policies as if they were really satisfactory measures of intelligence.«85 Diese Beobachtung verliert nicht dadurch an Richtigkeit, dass sie von einem Wissenschaftler stammte, der von Rassenunterschieden überzeugt war und in seinen Persönlichkeitstests genauso unsachgemäß verfuhr, wie er es den Intelligenztestern vorhielt. Einen anderen Weg, der für den Vergleich mit Deutschland wichtig ist, ging die genetische Psychologie. Die wiederum auf Galton zurückgehende Zwillingsforschung machte sich eine Konstellation zunutze, in der die Variable »Erbe« konstant zu sein schien, so dass die »Variable« Umwelt messbar wurde. Zunächst unterschieden Zwillingsforscher nicht zwischen ein- und zweieiigen Paaren, obwohl nur erstere erbgleich im genetischen Sinn sind. In den 1920er Jahren machten Forscher einzelne eineiige Zwillingspaare ausfindig, die getrennt aufgewachsen waren und mit gemeinsam aufgewachsenen Paaren verglichen werden
82 Garth: Intelligence of Full Blood Indians, S. 384. 83 Garth: Comparison of Mental Abilities of Nomadic and Sedentary Indians. 84 Brigham: Study of American Intelligence, S. 193-194. 85 Babcock/Porteus: Temperament and Race, S. 265.
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konnten.86 Zunächst kamen aber auch Kritiker des Intelligenzrassismus wie der Genetiker Hermann J. Muller zu dem Ergebnis, dass getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge sich in der Intelligenz stärker ähnelten als in ihrer Persönlichkeit, das Merkmal Intelligenz also vermutlich stark erblich bedingt sei.87 Adoptiv- und Waisenkinder boten wiederum Gelegenheit, die Entwicklung von Erbanlagen außerhalb ihrer »natürlichen« Familienumwelt zu studieren. Hier tat sich besonders Barbara Burks hervor, die 1924 bis 1929 Assistentin bei Termans »Genetic studies of genius« war und Aufmerksamkeit mit ihrer Dissertation zu kalifornischen Pflegefamilien erregte, in der sie die Ähnlichkeit von Intelligenzleistungen bei Eltern und biologischen bzw. angenommenen Kindern verglich. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Variabilität der Intelligenz zu etwa 17 Prozent auf die häusliche Umwelt zurückzuführen sei, die den IQ in extremen Fällen bis zu 20 Punkte nach oben oder unten treibe. Ausschlaggebend sei demnach aber dennoch die Erbanlage.88 Prozentuale Gewichtung bot eine Möglichkeit, Umweltfaktoren zu berücksichtigen, ohne die Dominanz des Erbes in Frage zu stellen. In den zwanziger Jahren differenzierte die wissenschaftliche Testpsychologie in zahlreichen Studien ihr Repertoire an Testverfahren und Versuchsanordnungen aus. Diese Nachbesserungen zielten darauf ab, rassische Intelligenzunterschiede, die man für gegeben hielt, irgendwann stichhaltig nachweisen zu können. Gegen Ende des Jahrzehnts schwand jedoch die Zuversicht, jemals eine methodisch robuste race psychology etablieren zu können. Einwände und Zweifel erreichten ein kritisches Maß, das eine Neubewertung erforderlich machte. »The race superiority enthusiasts appear to be on the defensive«, hieß es 1928 in einer Sammelrezension, »and they seem to be striving furiously to amass more of the usual evidence to support their thesis, at the same time ignoring the fact that it is rather the quality than the quantity of evidence which is under fire«.89 1930 distanzierte sich Carl Brigham in einer führenden Fachzeitschrift von seinen früheren Aussagen und bezeichnete die bisherige Intelligenzmessung als Etikettenschwindel.90 Thomas Garth kam 1931 in einem buchdicken Resümee zu dem Schluss, die rassenpsychologische Forschung habe erblich bedingte rassische Intelligenzunterschiede nicht beweisen können, solche Unterschiede ließen sich vielmehr in der Regel aus Umweltfaktoren erklären. Die vermeintlich objek86 Zu den ersten Studien gehörten Popenoe: Twins Reared Apart und Merriman: Intellectual resemblance of twins. 87 Muller: Mental Traits. 88 Burks: Relative Influence of Nature and Nurture, S. 223. 89 Yoder: Present Status, S. 463. 90 Brigham: Intelligence Tests.
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tiv gerechtfertigte Benachteiligung der schwarzen und indianischen Bevölkerungsgruppen in den USA müsse als »rationalization on account of race prejudice« verstanden werden.91 Als in den 1970er Jahren Psychologen erneut die Rassenerblichkeit intelligenten Verhaltens in die Diskussion brachte, wandten sich Historiker verstärkt der ersten mental-testing-Bewegung zu. Sie beschrieben den diskursiven Umbruch, der dazu führte, dass Unterscheidungen zwischen Menschen, die einmal den Begriffen der biologischen Rasse folgten, um 1930 in ein Paradigma der soziokulturellen Diversität wechselten. Sie haben diesen Prozess als schrittweisen Rückzug des wissenschaftlichen Rassismus erzählt, wobei die beharrliche Kritik von Antirassisten wie Boas erst durch den Nationalsozialismus die entscheidende Wucht erlangt habe, um einen Umschwung herbeizuführen. Damit verlagerte sich das Interesse von der Rassenpsyche auf die Psychologie des Rassismus, der nun seinerseits als »primitives« oder pathologisches Denken markiert werden konnte.92 Hamilton Cravens und Graham Richards betonen in diesem Zusammenhang, in der Psychologie seien die entscheidenden Impulse für die Zurückweisung des Rassismus aus der innerfachlichen Diskussion hervorgegangen.93 Weitgehend einig war man sich, dass die race psychology als wissenschaftliches Projekt kollabierte und nach 1945 die Erforschung der Rassen, in ihrer biologischen wie in ihrer psychischen Dimension, nachhaltig diskreditiert gewesen sei. Dagegen geht neuerdings Carson davon aus, dass die Einhegung des mental testing letztlich dazu führte, rassische Unterscheidungen zu konsolidieren. Auch nach 1940 habe die Mehrheit der Wissenschaftler Intelligenz als eine erblich veranlagte, von Umweltfaktoren nur modifizierte messbare Größe aufgefasst, die bei der Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen mitentschied. Vorübergehend eingebüßt habe der Intelligenzdiskurs lediglich das polarisierende Erregungspotenzial der Zwischenkriegszeit.94 Wie nun verhielt sich Franz Boas, dem die Literatur große Bedeutung für die Überwindung psychorassistischer Positionen beimisst, zur race psychology? Die beiden folgenden Kapitel werden erörtern, wie sich die boasianische Anthropologie das Problem rassischer Intelligenz zu Eigen machte und wie amerikanische 91 Garth: Race Psychology, S. 85. 92 Samelson: From »race psychology«; Barkan: Retreat; Jackson: Social Scientists for Social Justice, S. 23-34; zuvor schon Gossett: Race: S. 416; Degler: Search of Human Nature, Kapitel 6 bis 8. 93 Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 123, 130; ders.: Reconceptualizing, S. 26; Zenderland: Measuring Minds, S. 316-317. 94 Carson: Measure of Merit, S. 262-270; so auch Winston/Butzer/Ferris: Constructing Difference.
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Wissenschaftler diese Problembearbeitung wiederum aufnahmen. Im Anschluss an Carson stellt sich dabei auch die Frage, ob mit Hilfe der Boasianer die Vernunft über den wissenschaftlichen Rassismus siegte oder ob man es eher mit einer Transformation, Verfeinerung und Flexibilisierung des Rassedenkens zu tun hat, die sich möglicherweise gegen die Intention der Boasianer als anpassungsfähiger und langlebiger erweisen sollte als der grob gestrickte Intelligenzrassismus der frühen 1920er Jahre.
3. Black America, Too: Die boasianische Intelligenzforschung
1925 veröffentlichte der Psychologe Jacob Kantor von der Univserität Indiana im American Anthropologist einen Aufsatz über das Verhältnis von Anthropologie und Psychologie, der als Dekonstruktion der race psychology gelesen werden kann. Kantor schrieb aus der Perspektive eines philosophischen Behaviorismus, der von der organischen »Natur« ganz absehen wollte und die Psyche als ein System autonomer Operationen verstand, die als solche beobachtbar seien. Er unterlief die rassenpsychologische Diskussion, indem er naturwissenschaftliches Denken ideengeschichtlich relativierte und die moderne Suche nach den biologischen Gesetzen der Psyche in die abendländische Tradition der religiösen Weltdeutung stellte: with respect to the problem of psychological racial endowment the assumptions involved are traceable directly to the domination of western (European) thought by animistic cosmology rather than by observable phenomena. It is certainly plausible to connect the conception of mentality which underlies the doctrine of racial mental endowment with general Oriento-Christian ideology of spirit and matter or spirit and flesh.1
Die Mentalität der Rassenpsychologie, so Kantor, lasse sich analog zur primitiven Magie verstehen: »The anthropologist may well ask in what way transforming a biological fact into a psychological one is different from endowing a bone with divinatory power.«2 Er schlug vor, naturwissenschaftliche Deutungen konsequent zu ethnologisieren: »It is of especial importance to notice that the
1
Kantor: Anthropology, S. 282.
2
Ebd., S. 277.
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matter of cultural tradition has more serious consequence for scientific interpretation than personal emotional bias or errors in individual judgement.«3 Franz Boas wählte einen anderen Weg, um die race psychology zu entzaubern. Er begab sich nicht wie Kantor auf eine Beobachtungsebene dritter Ordnung, von der aus sich die Annahme der Vererbbarkeit psychischer Anlagen als Metaphysik beiläufig lächerlich machen ließ. Boas entschied sich dafür, die Rassenpsychologie ernst zu nehmen und auf Augenhöhe gegen sie anzutreten.
Widerworte: Publizistische Interventionen Die um 1920 florierende race psychology forderte Franz Boas doppelt heraus, zum einen inhaltlich, zum anderen methodisch. Seit 1894 waren Zweifel an der mentalen Inferiorität der »Primitiven« die Begleitmusik zu seinen biometrischen Arbeiten gewesen. In The Mind of Primitive Man hatte er mit Nachdruck seine Überzeugung zusammengefasst, die bekannten menschlichen Gruppen seien im Wesentlichen gleich begabt zur Kulturschöpfung und zur Mitwirkung an der Menschheitsentwicklung. Überdies hatte er sich eine solide professionelle Autorität erarbeitet, die seinem Einspruch gegen die Annahme effektiver rassischer Differenzen Gewicht verlieh. Für Boas reihte sich der wissenschaftliche »Nachweis« erblicher psychischer Rassenunterschiede ein in die unwissenschaftliche, von Vorurteilen getriebene Behauptung weißer Superiorität. Allerdings hatte die Psychometrie innerhalb weniger Jahre einen enormen Professionalisierungsschub in der Psychologie bewirkt, während zugleich die Psyche zum zentralen Sujet des wissenschaftlichen Rassismus wurde. Die Debatte um das »primitive Denken« hatte Boas noch aus laufenden Forschungen bestreiten können. Empirie der Marke Boas sowie seine linguistische und kulturwissenschaftliche Expertise hatten ausgereicht, um den Kulturtheoretikern entgegenzutreten. Dem racial testing stand er nun mit weitgehend leeren Händen gegenüber. Während er sich in politische Auseinandersetzungen verstrickte und durch Hilfsaktionen für die deutsche Wissenschaft extrem beansprucht war, überholte ihn die disziplinäre Eigendynamik der Testpsychologie. Binnen kurzem war ein neues psychometrisches Wissen über Rasse entstanden, das die Diskussion beherrschte und Boas zu einem fachfremden Beobachter machte.4 3
Ebd., S. 283.
4
Als Doktorand der Physik hatte er sich mit der Wahrnehmung des Wassers beschäftigt, doch diese Arbeit hatte noch im Zeichen der experimentellen Psychophysiologie gestanden. Vgl. Boas: Beiträge zur Erkenntnis der Farbe; Cole: Franz Boas (1999), S. 52-53.
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Zudem hatte sich die wissenschaftspolitische Situation gegen ihn gewendet. Bis zum Ersten Weltkrieg war er als erfolgreicher Herausforderer des staatsnahen Kulturevolutionismus samt eines dilettierenden Lokalgelehrtentums aufgetreten. Nun spielte seinen Widersachern in die Hände, dass sich Boas durch seine Kritik am Kriegseintritt der USA angreifbar gemacht hatte. Es war, wie es George W. Stocking formulierte, eine Mischung aus persönlichen Feindschaften – die von beiden Seiten gepflegt wurden – und institutionellen Antagonismen am Werk.5 Nach erbittertem Hin und Her sah es Ende 1919 so aus, als könne sich Boas als unumgängliche Kapazität in die entscheidenden Gremien hineinzwingen und den anthropologischen Arm der neu geschaffene Division of Anthropology and Psychology im National Resaerch Council unter die Kontrolle der American Anthropological Association bringen. In der Gründungssitzung der neuen Division diskutierten die Teilnehmer vor allem über die strategische Frage, ob es besser sei, schnell mit einem praktischen Problemlösungserfolg die Effizienz der Division zu beweisen oder zweckfreie Grundlagenforschung zu betreiben. Als mögliches Projekt schlug Edward Thorndike »measurements of the mental and moral qualities of ten racial groups in our population« vor. 6 Über diese Gremienarbeit hätte Boas frühzeitig in die psychometrische Debatte einsteigen können, zumal neben Thorndike weitere tonangebende mental tester in der Division aktiv waren, unter ihnen Lewis Terman. Doch er schied nach dieser ersten Sitzung aus, denn im Zuge der »Scientists as Spies«-Affäre kippten die Mehrheitsverhältnisse in der American Anthropological Association. Boas wurde aus ihrer Führung ausgeschlossen und trat folglich auch als Repräsentant der AAA im National Research Council zurück.7 Hier repräsentierte nun Clark Wissler maßgeblich die Anthropologie. Der promovierte Psychologe hatte einige Jahre unter Boas am American Museum of Natural History gearbeitet und wurde sein Nachfolger, als Boas kündigte. Wissler war der einzige Kulturanthropologe, der ab 1919 zum inneren Kreis der eugenischen, erklärtermaßen antiboasianischen Galton Society gehörte.8 5
Stocking: Scientific Reaction; Spiro: Defending the Master Race, S. 314-315.
6
Clark Wissler: National Research Council. Division of Anthropology and Psychology.
7
Boas hatte mehrere Wissenschaftler bezichtigt, in Mexiko unter dem Deckmantel von
Minutes of Meeting for Organisation, 20. Oktober 1919, PCFB. Forschungsarbeiten für die US-Regierung zu spionieren. Boas an den Vorsitzenden der American Anthropological Association, 29. Dezember 1919; W. V. Bingham an Boas, 13. Januar 1920, PCFB. Vgl. Stocking: Scientific Reaction; Price: Anthropological Intelligence, S. 9-14. 8
Zu Wissler vgl. Cole: Franz Boas (1999), S. 251-253; Barkan: Retreat, S. 108-110; Spiro: Defending the Master Race, S. 307.
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Nach seinem erzwungenen Rückzug aus dem National Research Council hatte Boas auch keinen Einfluss auf das üppig finanzierte Forschungsprogramm »Scientific Problems of Human Migration«, das 1922 unter der Gesamtleitung von Robert Yerkes seine Arbeit aufnahm.9 Von den zwölf Hauptprojekten beschäftigten sich sieben mit verschiedenen Facetten des mental testing, weitere Themen waren Rassenpathologie, das Verhältnis von Migration und Arbeitsmarkt sowie die physische Dimension der Rassenmischung. Das Leitungspersonal, darunter mehrere aktive Eugeniker, sowie die allgemeine Zielsetzung und der gesellschaftspolitische Kontext des Programms legen den Schluss nahe, dass es sich hierbei um »a de facto research arm of the immigration restriction movement« handelte.10 Die heiße Phase der psychometrischen Debatte fiel für Boas also mit einer Durststrecke der institutionellen Ausgrenzung zusammen, die erst ab Mitte der zwanziger Jahre aufbrach. Was blieb, waren publizistische Interventionen und ein wenig Agitation. Im Vorfeld der Verabschiedung des Immigrations Restriction Act versorgte Boas einen der schärfsten kongressinternen Gegner des Gesetzes, den New Yorker Abgeordneten Emanuel Celler, mit wissenschaftlicher Munition.11 In Vorträgen und Artikeln für Kulturzeitschriften ließ er mehr oder weniger prononcierte Kritik an der rassischen Psychometrie einfließen, sie ging jedoch nicht über seine bekannte Position hinaus, die vom Körper her die Unhaltbarkeit von Rassenunterschieden entwickelte und sich über die Psyche meist in Form von Analogieschlüssen äußerte. Auch seinem Vorwurf an die Tester, ihre Ergebnisse verrieten vor allem die Egozentrik der modernen, weißen Zivilisation, fehlte noch der erklärende Zugriff der späteren sozialpsychologischen Vorurteilsforschung.12 Zu Hilfe kamen ihm die Boasianer, die in diesen Jahren in die weitere Öffentlichkeit traten. Alfred Kroeber widmete gut 20 Seiten seiner 1923 erschienenen Anthropology dem Armeetest. Robert Lowie, Melville Herskovits, Alexander Goldenweiser und Wilson Wallis griffen in wissenschaftlichen und Publikumszeitschriften an.13 Auch sie schrieben jedoch wie Rezensenten, die einem
9
Vgl. [Wissler]: Final Report; Barkan: Retreat, S. 111-113; Fisher: Fundamental Development, S. 37-42; Spiro: Defending the Master Race, S. 319.
10 Vgl. Stocking: Philanthropoids, S. 185. 11 Cravens: Triumph, S. 234. 12 Boas: Negro in America; ders.: Question of Racial Purity; ders.: What is a Race?; ders.: Fallacies of Racial Inferiority. 13 Kroeber: Anthropology, S. 75-81; vgl. die entsprechende Stelle des Boas-Intimus Alfred Tozzer: Social Origins and Social Continuities, S. 62-84; Lowie: Psychology, Anthropology, and Race; ders.: Races and Psychological Tests; Herskovits: What is a
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Kollegen ein fehlerhaftes Untersuchungsdesign und logische Inkonsistenz nachwiesen, ohne selbst im fraglichen Bereich geforscht zu haben. Völlig zu Recht hakten sie bei den groben Fehlern und zahlreichen Unstimmigkeiten des Army Screening und seiner Ausdeutung ein. Nur: Dass es unzulässig sei, Italiener und Polen mit bestimmten Rassen zu identifizieren, war auch anderen aufgefallen. Im Vergleich etwa zu Walter Lippmanns geschliffenem Verriss wirken die boasianischen Einwände ein wenig lahm. Häufig waren die Intelligenzmessungen nur Aufhänger, um in die Details der physischen Anthropologie einzusteigen. Das war sachlich vielleicht angemessen, verlieh der boasianischen Rede aber etwas Abschweifendes. Weder war sie entschieden polemisch noch argumentierte sie entschieden psychologisch. Halb versuchte sie, den Gegner wissenschaftlich ernst zu nehmen, halb schüttelte sie den Kopf über nordische Verstiegenheiten. Die Boasianer formulierten ihre Kritik von einer Sprecherposition aus, die zwar Fachwissen über Rasse und Kultur einbrachte, aber nicht testpsychologisch versiert war. Wenn etwa Robert Lowie feixte, das mental testing habe im Hinblick auf rassische Unterschiede nur »absurd and worthless results« hervorgebracht, dann konnten die Testpsychologen und ihr Anhang entgegnen, die Kritiker stützten ihr Argument auf Ausnahmen und seien den experimentell abgesicherten Gegenbeweis bislang schuldig geblieben.14 In wissenschaftlichen Verfahren gewonnene Statistiken ließen sich mit Besserwissen, Spott und anekdotischer Beweisführung nicht aushebeln, solange die scientific community rassische Unterschiede als plausible Arbeitshypothese akzeptierte.
Beweise: »Racial and Social Differences in Mental Ability« Diesen wunden Punkt begannen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zwei jüngere Boasianer mit eigenen Intelligenzstudien zu bearbeiten. Margaret Mead untersuchte 1924 in ihrer psychologischen Masters-Arbeit Englisch sprechende Kinder italienischer Abstammung in New Jersey und stellte fest, dass diejenigen Kinder besser abschnitten, die auch in der Familie Englisch sprachen. 15 Melville Herskovits, der sich zu dieser Zeit mit der physischen Anthropologie der AfroRace?; ders.: Brains and the Immigrant; Goldenweiser: Race and Culture in the Modern World; Wallis: Race and Culture. 14 Lowie: Psychology, Anthropology, and Race, S. 300; ders.: Race and Psychologial Tests, S. 342; etwa McDougall: Is America Safe, S. 52-53; so noch East: Heredity and Human Affairs, S. 160-161; vgl. auch Gossett: Race, S. 414. 15 Mead: Intelligence Test of Italian and American Children; dies.: Group Intelligence Tests and Linguistic Disability; dies.: Methodology of Racial Testing.
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amerikaner befasste, arbeitete daneben auch zu mentalen Differenzen. Über die physische Anthropologie gelang es sogar, Widerspruch in das Committee on Human Migration einzuschmuggeln. Anfang 1925 bewilligte der National Research Council ein Sonderstipendium, um die Beziehung von Physis und intellektueller Leistung bei Afroamerikanern zu untersuchen. Schauplatz der Untersuchung war die Howard University in Washington, die führende schwarze Bildungseinrichtung an der Ostküste. Herskovits korrelierte die Ergebnisse der universitätsinternen Eignungstests mit anthropometrischen und genealogischen Daten der Studierenden, die er selbst erhob. Dies zielte auf die Feststellung »negroider« und »europider« Erbmasse. Herskovits kam zu dem Ergebnis, der in der mulatto hypothesis behauptete Zusammenhang zwischen »negroiden Zügen« und schwächerer Intelligenzleistung sei nicht nachweisbar.16 Da sich Psychologen ab Mitte der 1920er Jahre zunehmend für anthropologisches Wissen zu interessieren begannen, wurden Meads und Herskovits’ Intelligenzarbeiten in der Fachöffentlichkeit durchaus wahrgenommen und zustimmend zitiert.17 Boas hatte nun hausgemachtes empirisches Material, mit dem er sich gegen Brigham und Gleichgesinnte wenden konnte.18 Allerdings etablierten diese frühen Ausflüge in die Intelligenzmessung noch kein neues Standbein in der boasianischen Anthropologie. In der Studie Coming of Age in Samoa, die sie 1928 schlagartig berühmt machte, setzte Mead zwar noch Intelligenztests ein. Für ihren kultursoziologischen Ansatz waren sie aber unbedeutend. Bei ihren anschließenden Feldforschungen arbeitete Mead weiterhin intensiv mit psychologischen Tests, darunter eigenen Adaptionen von Goodenoughs Draw-a-Man, »cross-cultural Rorschachs« und einem »test for animistic thinking«. Diese dienten der qualitativen, typisierenden Erfassung von Persönlichkeit. Durch Meads Hinwendung zu »culture and personality« blieb die psychometriekritische Intelli16 Das Projekt hatte den Titel: Anthropometric Measurements of Negro Men at Howard University, Washington D.C., vgl. Wissler: Final Report, S. 10; Herskovits: On the Relation between Negro-White Mixture; zur problembeladenen Durchführung vgl. Gershenhorn: Melville J. Herskovits, S. 33-35. 17 Der an der Clark University lehrende Rassenpsychologe Walter S. Hunter schlug Herskovits’ Howard-Studie zur Veröffentlichung vor: Vgl. Herskovits: Relation between Negro-White Mixture, S. 30. Bezugnahmen: Garrett/Schneck: Psychological Tests, Part Two, S. 23-24, Yoder: Present Status, S. 469-470; Shimberg: Investigation, S. 64; Blackwood: Study of Mental Testing; Witty/Lehman: Racial Differences; Garth: Review of Race Psychology; ders.: Race Psychology. 1929 gehörte Herskovits im Social Science Research Council sogar einem Komitee zu »tests on race intelligence« an, Joseph Peterson an Boas, 7. Februar 1929, PCFB. 18 Boas: Nordic Nonsense; ders.: Anthropology and Modern Life, S. 57.
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genzmessung Episode. Den Kampf gegen die Normalverteilungsobsession, die sich auf die Benotung von Studierenden erstreckte, trug Mead hinter den Kulissen aus.19 Für Melville Herskovits, der sich auf die physische Anthropologie konzentrieren musste, konnte die Psyche ohnehin nur ein Nebenschauplatz sein. Das Resultat seiner Studie, die kontrovers diskutierte Monographie The American Negro (1928), ließ die Psychologie ganz außen vor. Auch er verfolgte die Frage rassischer Intelligenzen nicht weiter, seine anschließende Forschung zu den Spuren afrikanischer Kultur in der Neuen Welt war kulturwissenschaftlich angelegt. Der entscheidende Schritt im Kampf um die Deutungshoheit hieß für Boas daher, selbst einschlägig zu forschen und im Rahmen seiner Beschäftigung mit »heredity and environment« erstmals eine prononciert psychologische Fragestellung anzugehen. Boas professionalisierte seine Psychometriekritik, und etwa gleichzeitig fand die boasianische Anthropologie in den großen wissenschaftlichen Entscheidungsgremien wieder Anschluss. Dies hing nicht zuletzt mit dem Aufschwung der Sozialwissenschaften zusammen, die vom National Research Council und dessen philanthropischen Geldgebern erstmals offensiv gefördert wurden. Auch Boas profitierte davon, dass die Columbia University nun regelmäßig Zuwendungen des Laura Spelman Rockefeller Memorial erhielt.20 Im Frühjahr 1926 skizzierte Boas sein neues Vorhaben so: For the psychological investigation I want to prepare an entirely new set of tests. These are to be based upon the particular experience of children in various communities, as for instance, the poor Italians, well-to-do Americans in cities and children from farming countries. The plan is to make a combined test of all these and to investigate the returns, classified according to the groups selected and to their group experience.21
Boas ging in seiner Kritik der Rassenpsychologie so vor wie bei der Rassenanthropologie: Er griff ihre Fragstellungen und Verfahren auf, um zu beweisen, dass ihre Annahmen nicht beweisbar waren. Hier ging es darum, die kulturelle Wandelbarkeit von Intelligenzleistungen darzustellen, gewissermaßen die Plastizität von mentalen Eigenschaften zu beweisen. Zudem hatte er sicherlich ein handfestes Interesse daran, sich sowohl finanzielle Ressourcen als auch wissen-
19 Mead: Coming of Age, S. 289-292; dies.: Margaret Mead, S. 311-313. 20 Vgl. Stocking: Philanthropoids; ders.: Scientific Reaction, S. 296; Jones-Kern: Franz Boas, Margaret Mead and J. D. Rockefeller; Fisher: Fundamental Developments, S. 61 und passim.; Spiro: Defending the Master Race, S. 323-324. 21 Boas an Wesley C. Mitchell, 27. Mai 1926, PCFB.
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schaftliche Öffentlichkeit zu sichern, die über das Thema racial testing mobilisierbar waren.22 Anderthalb Jahre später war das Projekt ausgereift. Ende Januar 1928 reichte Boas gemeinsam mit den Psychologen Albert Poffenberger und Robert Woodworth einen Antrag zu »Racial and Social Differences in Mental Ability« ein, den der universitäre Social Science Research Council bewilligte. Das Projekt war zunächst eigenständig, wurde 1929 aber auf Boas’ Wunsch mit seinem Langzeitprojekt Nr. 26 »Heredity and Environment« zusammengelegt. 23 Zur Untersuchung waren vier Gruppen vorgesehen, die sich vom angenommenen weißen Durchschnitt unterschieden und in Intelligenztests schlechter abschnitten: »1. Rural Negroes; 2. Mountaineers in Tennessee; 3. Dakota Indians; 4. Pueblo Indians«, also je eine schwarze und eine weiße Gruppe von Nichtstädtern und zwei verschiedene Indianerkulturen, sesshafte Pueblo und Plains-Nomaden. Das Arbeitsprogramm bestand aus drei Stufen: Zunächst sollte ein Anthropologe ein Jahr die Kultur der jeweiligen Gruppe studieren, um den Psychologen anleiten zu können und mit ihm gemeinsam einen der untersuchten Kultur angemessenen Intelligenztest zu erarbeiten. Der Psychologe sollte den Test dann durchführen und auswerten. Abschließend sollte »our city population« den so erarbeiteten Tests unterzogen werden.24 Von den vorgesehenen vier Teilstudien wurden zwei durchgeführt. Zur schwarzen Landbevölkerung West Virginias schickte Boas im Sommer 1928 Louis E. King, einen afrokaribischen Howard-Absolventen, der vor Ort gelebt und sich bereits mehrfach als Datensammler bewährt hatte.25 Für die Untersuchung bei einer Gruppe von Dakota (Sioux) im Bundesstaat South Dakota konnte er Ella Deloria gewinnen, die aus einer christianisierten Dakota-Häuptlingsfamilie stammte, in einem Reservat aufgewachsen war und 1915 ihren Abschluss am Teachers College der Columbia University gemacht hatte.26 Die zuerst bewil22 Zur Prägung von Forschungsthemen durch Drittmittelpolitiken vgl. Gershenhorn: Herskovits, S. 28. 23 Memorandum of Professor Boas’ allotment, CUA, CRSS, Ser. III, Box 7, Folder 6; Minutes of Dec 16, 1930, CUA, CRSS, Ser. II, Box 5, Folder 2. 24 Antrag: Racial and Social Differences in Mental Ability, CUA, CRSS, Ser. III, Box 7, Folder 6. 25 Vgl. Harrison: Louis Eugene King, S. 72-73, 76; Gershenhorn: Herskovits, S. 32; Boas: Projektbericht »Heredity and Environment«, 12. März 1926, CUA, CRSS, Ser. III, Box 5, Folder 11; Klineberg an Boas, 6. Juli 1927; Boas an Leonard Outhwaite, 22. November 1932, PCFB. 26 Boas und Klineberg, aber auch Deloria verwandten »Dakota« als Sammelbegriff für mehrere nah verwandte ethnolinguistische Gruppen, die heute unterschieden werden.
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ligte Studie bei den Pueblo wurde, da die vorgesehene Mitarbeiterin Ruth Bunzel anderweitig engagiert blieb, verschoben und später ad acta gelegt27, ebenso die Untersuchung in Tennessee. Poffenberger und Woodworth traten im weiteren Verlauf nicht Erscheinung. Die zentrale Figur beider Teilprojekte war der kanadische Psychologe Otto Klineberg, der sich später als »sixty percent a psychologist but also forty percent an anthropologist« bezeichnete.28 Er hatte Psychologie und Medizin studiert und war nach autobiographischer Aussage Mitte der zwanziger Jahre noch eugenisch orientiert und akademisch vor allem an der Psychopathologie interessiert. Seine Konversion zum Kulturrelativismus begann mit Edward Sapir, der 1925 einen summer course an der Columbia University abhielt, und verfestigte sich mit anthropologischen Kursen bei Boas und Benedict sowie bei Goldenweiser an der New School of Social Research. Im Sommer 1926 nutzte Klineberg die Gelegenheit, einen befreundeten Anthropologen auf seiner Reise in das Yakima-Reservat in Washington State zu begleiten.29 Auf Empfehlung von Robert Woodworth und Boas erhielt Klineberg dafür ein bescheidenes Reisestipendium aus dem Topf des Anthropologie-Projekts Nr. 19 für »Tests on American Indians«.30 Bereits die Ergebnisse dieser zufälligen Stichprobe dürften Boas in seinem Vorhaben bestärkt haben, die kulturellen Ursachen unterschiedlicher Testergebnisse dingfest zu machen. Klineberg unterzog eine Gruppe von Yakima-Kindern und eine weiße Vergleichsgruppe aus der Reservatsstadt Toppenish einer Auswahl der Pintner-Paterson-Serie. Zu seiner Überraschung stellte er dabei eine große Differenz zwischen beiden Gruppen fest, die aber nicht als Überlegenheit der einen oder der anderen gedeutet werden könne. Während die weißen Kinder Wert auf Tempo legten und dabei viele Fehler machten, lösten die indianischen Kinder die Aufgaben deutlich langsamer, aber überlegter, so dass ihre Fehlerzahl geringer war. Mit diesem Ergebnis ließ sich kritisieren, dass Geschwindigkeit in vielen Tests als ein wesentliches Leistungsmerkmal verankert war, ohne sie beispielsweise gegen die Variable Genauigkeit abzuwägen und ohne Rücksicht auf
Vermutlich handelte es sich bei der untersuchten Gruppe um Lakota des Standing Rock Indian Reservation. Zu Deloria vgl. Medicine: Ella Deloria. Sie war eine Yankton Dakota, konnte aber das Lakota der westlichen Sioux (Teton) verstehen. 27 Boas an Wesley C. Mitchell, 18. Mai 1928, PCFB. 28 Klineberg: Reminiscences, CUA, OHRO, S. 55. Vgl. Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 127-130. 29 Klineberg: Reflections, S. 41; ders.: Otto Klineberg, S. 166-167. 30 Vgl. Boas und Robert Woodworth an Carlton J. H. Hayes, 22. bzw. 28. April 1926; Hayes an Boas, 29. April 1926, CUA, CRSS, Ser. III, Box 6, Folder 15.
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all jene Bevölkerungsteile, die nicht das schnelle, kompetitive »modern American life« verinnerlicht hätten.31 In seiner von Robert Woodworth betreuten Dissertation vertiefte Klineberg diese Fragestellung und konstruierte zwei Kontrastfälle, die es erlaubten, die Mitglieder »rassisch« homogener Gruppen in verschiedenen Umwelten zu beobachten. Wieder setzte er die Pintner-Paterson-Serie ein, um vor allem Schnelligkeit und Genauigkeit abzufragen. Die Yakima verglich er mit Schülern und Schülerinnen des Haskell Institute in Lawrence (Kansas), dem führenden staatlichen Indianer-Internat, »perhaps the most urban environment in which a considerable group of Indians can be found«.32 Einer Gruppe von Schwarzen, die im ländlichen West Virginia lebten, stellte er die Stadtjugend von Harlem, NYC, gegenüber. Zudem zog er die Ergebnisse dreier weißer Vergleichsgruppen heran, untersuchte die Leistungen von mixed-bloods sowie die Lernfähigkeit verschiedenen rassischer Gruppen und ließ die »negroiden« Merkmale schwarzer Kinder bestimmen, um sie mit ihren intellektuellen Fähigkeiten zu korrelieren. Aus der Summe dieser Einzelexperimente kam er zu dem Schluss, dass in der Frage nature or nurture die Beweislast umzukehren sei: [T]o explain observed differences on the basis of race and heredity does not seem […] to clarify the problem. Environmental factors, – custom, culture, tradition, education, contact and relationships with other peoples, – are much more tangible and definitive than the factor of race, psychologically speaking. Other things being equal, therefore, an environmental explanation is to be preferred. Only when that fails should the racial factor be invoked.33
Nach der Promotion führte Klineberg eine weitere Intelligenzstudie in Frankreich, Deutschland und Italien durch, die der National Research Council mit Rockefeller-Geldern finanzierte. Die Studie setzte bei der Kritik an den Army Tests und der darauf basierenden Studie von Brigham an. Um festzustellen, ob die getesteten Einwanderer repräsentativ für ihre europäischen Herkunftsgruppen seien, untersuchte Klineberg erstmals »parent European groups in Europe«.34 Zum zweiten galt es Brighams Verknüpfung von Rasse, Nation und Intelligenz zu überprüfen. Klineberg wählte sein Sample in jedem der drei Länder nach den dort vorkommenden europäischen »Hauptrassen« (nordisch, alpin, mediterran) 31 Klineberg: Racial Differences in Speed and Accuracy; vgl. auch: Kevles: Name of Eugenics, S. 136; Klineberg: Personal Perspective, S. 42. 32 Klineberg: Experimental Study of Speed, S. 92-93. 33 Ebd. S. 97. 34 Klineberg: Study of Psychological Differences, S. 7-8.
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aus. In Deutschland etwa untersuchte er Jungen verschiedener rassischer Typen in Hamburg, nordische Jungen im hannoveraner Land und alpine Jungen im ländlichen Baden. Der Studie lag wiederum die Pintner-Paterson-Serie zugrunde. Die Tests ergaben, dass nur Stadt-Land-Unterschiede statistisch verlässlich seien, während sich rassische bzw. nationale Faktoren zu geringfügig oder nicht zuverlässig auswirkten, um sie als Ursache für das Abschneiden im Test einzubeziehen oder auszuschließen. Im Rahmen dieser Studie hielt sich Klineberg von November 1927 bis April 1929 in Europa auf, davon fünf Monate in Deutschland.35 Im Februar und März 1928 arbeitete er vom Psychologischen Laboratorium der Universität Hamburg aus, unterstützt von dessen Leiter William Stern. Im Sommer folgte ein Aufenthalt in Marburg bei dem Psychiater Ernst Kretschmer. Als Boas Klineberg für sein Intelligenzprojekt anwarb, war dieser also bereits ein gestandener racial tester mit internationaler Erfahrung und ansehnlicher Drittmittelbilanz. Dass er die Verfahren und die Rhetorik der amerikanischen Psychometrie beherrschte und sie zugleich gegen das Axiom rassischer Unterschiede zu wenden wusste, machte ihn für Boas zum idealen Mitarbeiter. Zeitweilig erwog Boas, einen weiteren Psychologen in das Projekt einzubeziehen. Im Gespräch war Nathaniel Hirsch, auf den Boas vielleicht aufmerksam wurde, weil er 1928 eine Intelligenzstudie mit Bewohnern einer Bergregion im Osten Kentuckys veröffentlichte.36 Er hätte sich also als Mitarbeiter für das Teilprojekt »Tennessee mountaineers« angeboten. Ansonsten überrascht diese Personalie, denn Hirsch verkörperte geradezu den Widerpart der boasianischen Position. Mit einem Stipendium des National Research Council hatte er bei William McDougall promoviert. In seiner Dissertation plädierte er zwar dafür, die grob fahrlässige Gleichsetzung von Nationalitäten mit Rassen in der Testpsychologie durch ein Sampling nach historisch gewachsenen »natio-racial groups« zu überwinden. In der Konsequenz teilte er jedoch den Glauben an die überwiegende Erblichkeit der Intelligenz, die geistige und moralische Minderwertigkeit der neuen Einwanderergruppen und die Notwendigkeit eugenischer Intervention.37 Er forderte die Verlängerung und Verschärfung des Immigration Restriction Act von 1924, die von McDougall vorgeschlagene Gründung eines separaten »Negro State« auf dem Territorium der USA sowie Geburtenkontrolle bei »Geisteskranken« und »Schwachsinnigen«.38
35 Rockefeller Foundation, Fellowship Recorder Cards, Otto Klineberg. 36 Hirsch: Experimental Study of East Kentucky Mountaineers. 37 Hirsch: Study of Natio-Racial Mental Differences. 38 Ebd., S. 395, 399-400.
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Es verwundert nicht, dass Klineberg Hirschs Dissertation analytisch unbefriedigend fand. Er sah jedoch auch kein grundsätzliches Hindernis, dass sich Hirsch den »spirit« des Boas-Projekts zu Eigen machen könnte. Ihn hinzuzuziehen habe sogar den Vorteil, die Kritik der orthodoxen Intelligenztester in die Untersuchung zu integrieren.39 Diese Haltung charakterisiert Klinebergs nüchternen Stil, seinen Verzicht auf Polemik oder Gesten der Entlarvung. Auf die Probe wurde seine Toleranz in diesem Fall jedoch nicht gestellt, da Hirsch nicht in das Projekt eintrat.
Auf der Suche nach dem fairen Intelligenztest Das zentrale Erkenntnisziel von Boas’ Intelligenzprojekt war es, die Kulturabhängigkeit gebräuchlicher Tests, ihrer Aufgaben, Prozeduren und Ausdeutungen, sichtbar zu machen. Darüber hinaus benannte der Antrag die Entwicklung von Intelligenztests, die von den kulturellen Verzerrungen ihrer Vorgänger frei sein sollten: The objects of the project are: […] to inquire whether any tests can be devised that are applicable to all cultures and may be applied everywhere. It is hoped that on the basis of this inquiry tests may be constructed by which the distribution of intelligence and its variability in any racial or cultural group can be determined.40
Handelte es sich hier um Antragsrhetorik oder rechnete Boas wirklich mit der Möglichkeit, auf der Grundlage von kulturanthropologischem Wissen einen weltweit anwendbaren Intelligenztest zu konstruieren? Dieses Problem stellte sich Anfang 1928 jedenfalls nicht zum ersten Mal. Ein bemerkenswertes Dokument sind die Empfehlungen einer Kommission, die 1920 unter dem Dach des National Research Council getagt hattee, um über ein groß angelegtes Forschungsprojekt in Polynesien zu beraten. Das wachsende strategische Interesse am Pazifik sollte durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauert werden. An den Diskussionen waren neben Lewis Terman und Clark Wissler, der den Vorsitz führte, auch die Boasianer Alfred Kroeber, Robert Lowie und Alfred Tozzer beteiligt. In Boas’ Nachlass befindet sich eine Kopie des Protokolls – ob es in irgendeiner Weise in seine spätere Projektidee einfloss, ist ungewiss. Jedenfalls enthielt es auch die Empfehlung, kulturneutrale Tests zu 39 Klineberg an Boas, 16. Februar 1929, PCFB. 40 Projektantrag »Racial and Social Differences in Mental Ability« [1928], CUA, CRSS, Ser. III., Box 7, Folder 6.
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entwickeln, die die methodischen Schwächen des bisherigen mental testing überwinden sollten. Diese testpsychologischen Ausführungen gingen auf gemeinsame Überlegungen von Terman und Kroeber zurück. Wie massiv ihre Kritik an den bisherigen Testmethoden ausfiel, überrascht umso mehr, wenn man George W. Stocking folgt, der Kroebers Beschäftigung mit racial testing als Konzession an die Gegner der cultural anthropology deutet.41 Allein ein Jahr veranschlagte der Bericht für die Erarbeitung solcher Tests, die nach dem exemplarischen Fall Polynesien auch auf andere »races« angewandt werden könnten. Zu diesem Zweck sollten »experimental psychologists« und »field-trained anthropologists« kooperieren, »who […] have developed a ›feel‹ and power of instinctive recognition of what is of cultural origin«.42 Im Bericht hieß es, die zu entwerfenden Tests müssten völlig sprachunabhängig sein und der Lebenserfahrung der Testpersonen entsprechen. Aus diesem Grund seien auch alle Aufgabenstellungen unbrauchbar, die auf Bildern, geometrischen Elementen und Labyrinthen basierten.43 In dieser internen Gesprächsrunde wurden also gerade auch jene Verfahren in Frage gestellt, die in der psychologischen Fachdiskussion der folgenden Jahre immer wieder als Überwindung der kulturell voreingenommenen Sprachtests angepriesen wurden. Das Polynesien-Projekt blieb im Entwurf stecken, die Diskussion um das kulturelle Rauschen der Intelligenztests ging weiter. Als eine mögliche Lösung boten sich kulturspezifische Tests an, die allen Angehörigen einer bestimmten Kultur gerecht werden sollten. Die Modifikationen von Binets Skala für die USA, Deutschland oder Schweden stellten im Grunde nichts anderes als solche kulturspezifischen Adaptionen dar, die allerdings nicht so benannt wurden, da es um sehr feine Unterschiede ging.44 Seit Ende der 1910er Jahren gab es zudem Versuche, kulturelle Unterschiede im Weltmaßstab zu überbrücken und Intelligenztests beispielsweise für Südafrika, Indien und China zu standardisieren.45 In der Regel bedeutete das lediglich, neben der Testsprache Fragen zur materiellen 41 Vgl. Stocking: Scientific Reaction, S. 298-301. 42 Recommendations for Anthropological Research in Polynesia, August 1920, PCFB, S. 23-24. 43 Ebd., S. 24-25. 44 Terman: Measurement of Intelligence; Bobertag: Über Intelligenzprüfungen; Jaederholm: Undersökningar. 45 Vgl. etwa Loades/Rich: Binet Tests on South African Natives; Herrick: Comparison of Brahman and Panchama children; Rice: Hindustanee Binet-Performance Point Scale; Menzel: Tentative Standardization; ders.: Goodenough Intelligence Test; Liu: Non-verbal Intelligence Tests for use in China; McCall: Scientific Measurement, S. 187-189; Luh/Wu: Comparative Study.
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Kultur oder zum Allgemeinwissen dem jeweiligen Land anzupassen. Das galt auch für einen survey, der 1930 bis 1932 im Auftrag des US-Erziehungsministeriums über 1000 Kinder der »native races« von Alaska – im Übrigen ohne Beteiligung des Regionalexperten Boas – dem Stanford Binet und Goodenoughs Draw-a-man-Test unterzog.46 Trotz der geringen Veränderungen hatte der tendenziell pluralisierende Ansatz aus Sicht der psychologischen Komparatistik den entscheidenden Nachteil, dass seine Ergebnisse keine direkten Vergleiche zwischen verschiedenen »Kulturen«, Rassen und Nationalitäten mehr zuließen, da in der Ausdifferenzierung die gemeinsame Referenzgröße abhanden kam. Dieses Problem sollte hingegen der kulturneutrale Test umgehen, der gleichsam vom Weltwissen – verstanden als kleinstem gemeinsamen Nenner aller menschlichen Gruppen – ausging. Hier wurden zunächst wiederum Forscher aktiv, die nicht im Verdacht standen, »sentimental humanists« zu sein. Carl Brigham, der sich in seiner Study of American Intelligence noch zur notwendigen Parteilichkeit »amerikanischer« Testaufgaben bekannt hatte, leitete 1923 bis 1926 den Forschungsschwerpunkt »Internationalizing or Universalizing Mental Measurements« im Human-MigrationKomitee des National Research Council. Erklärtes Ziel war es, eine Technik der Intelligenzmessung zu finden, »in which all linguistic and social factors were to be reduced to a minimum«.47 Dieser Schwerpunkt produzierte zwei PrincetonDissertationen, die den Intelligenztest in ein interkulturelles Format zu übersetzen versuchten, um ihn weltweit »from primitive to civilized; from feebleminded, or children, to superior adults« anwenden zu können.48 So beschrieb der Soziologe Stuart Carter Dodd die Adressaten des von ihm entwickelten Gruppentests, der aus einer Reihe von Bildaufgaben bestand. Die Einweisung erfolgte pantomimisch, erprobt wurden zwei verschiedene Testversionen. Bei der »pencil and paper edition« wurde die Lösung eingezeichnet, bei der »rotator edition« ließen sich Drehelemente auf die richtige Antwort stellen, ohne vielleicht unvertraute Schreibwerkzeuge benutzen zu müssen. Um dem kulturellen Hintergrund primitiver Gruppen gerecht zu werden, so Dodd, »the investigator should live for many years in a primitive environment, and build tests from their point of view«.49 Da dies im Rahmen der vorhandenen Ressourcen nicht möglich war, variierte ein Großteil der Aufgaben einfach bekannte performance tests oder verbildlichte verbale Tests: Die Probanden sollte eine Anzahl 46 Eells: Mental Ability of the Native Races, S. 424, Anm. 3; Anderson/Eells: Alaska Natives, S. 298-370. 47 Wissler: Final Report, S. 9, 12. 48 Dodd: International Group Mental Tests, S. 11. 49 Ebd., S. 12.
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von Würfeln aus ihrer perspektivischen Darstellung erschließen, Ähnlichkeiten, Analogien und Rhythmen erkennen, den Weg durch ein Labyrinth finden. Neu entworfen hatte Dodd die Aufgabe, ähnliche Gesichtsausdrücke einander zuzuordnen. Er ging offenbar davon aus, dass Gefühlsmimik weltweit verständlich sei (auch wenn sie ausschließlich durch weiße Gesichter repräsentiert wurde). Da Dodd die Testaufgaben in einem deduktiven Verfahren konstruiert hatte, überprüfte er ihre Allgemeingültigkeit in Stichproben bei »extremen« Gruppen: Insassen der Vineland Training School mit einem geistigen Alter von vier Jahren gegenüber Princeton-Studierenden, sodann Waisen des New Yorker Hebrew Orphan Asylum (in dem auch Franz Boas ein- und ausging) sowie an indischen Kindern, die ein erfahrener Tester in Lahore dem Hindu Binet und dem International Test unterzog.50 Die Abweichungen der letzteren Gruppe nach unten wollte Dodd ausdrücklich nicht als Beleg für rassische Unterschiede werten, da die Effekte der indischen Umwelt noch völlig unklar seien.51 Analog zu Dodd erarbeitete der Musikpsychologe Paul Squires einen individuellen performance test. Auch er versuchte vorhandene Testaufgaben in eine global verständliche Dingwelt zu übersetzen. Zudem konstruierte er alle Aufgaben nach dem Prinzip der Einsicht, das der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler in seinen Versuchen mit Menschaffen angewandt hatte und das dem trial-and-error-Verfahren entgegengesetzt war. Squires’ Probanden sollten alle Problemstellungen, mit denen er sie konfrontierte, verstehend lösen.52 Während die beiden Nachwuchswissenschaftler an der praktischen Verbesserung vorhandener Tests arbeiteten, erörterte eine weitere Studie unter dem Dach des Human Migration Committee grundsätzliche Probleme und mögliche Techniken des interkulturellen Testens. Sie stammte von der Britin Beatrice Blackwood, die physische Anthropologin war und sich von einem psychologisierten Rassebegriff distanzierte. 53 Blackwood verbrachte neun Monate im Feld bei verschiedenen sesshaften wie nomadischen tribes des Südwestens und untersuchte zum Vergleich Spanish Americans und Indians in staatlichen Boarding Schools.54 Sie arbeitete dabei sowohl mit eingeführten Verbal- und Bildtests als auch mit vorläufigen Versionen von Dodds Gruppentest. In ihrer 1927 erschienenen Monographie äußerte sich Blackwood nicht nur insgesamt skeptisch über die Beweisbarkeit erblicher Gruppenunterschiede der Intelligenz, sie präsentierte auch im Detail Einwände, die Otto Klineberg gleichzeitig oder kurze Zeit später 50 Ebd., S. 12, 31, 35, 85, 99. 51 Ebd., S. 87. 52 Squires: Universal Scale, S. 11. 53 Blackwood: Study of Mental Testing, S. 5. 54 Ebd., S. 82-86.
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vorbrachte: Da Zeit in primitiven Kulturen eine völlig andere Rolle spiele als in der modernen Gesellschaft, kämen nur Tests in Frage, bei denen Geschwindigkeit kein Leistungsmerkmal darstelle; da es Indians nicht behage, wenn ihnen Leistungen individuell zugerechnet würden, seien Gruppentests zu bevorzugen, obwohl Psychologen Einzeltests für aussagekräftiger hielten.55 Inhaltlich deutet kaum etwas auf den institutionellen Kontext solcher Aussagen hin. Personell und forschungspolitisch gilt das Human-Migrations-Komitee als Festung der traditionellen Rassentypologie und der Mainstream-Eugenik, die das boasianische Projekt einer liberalen Anthropologie über Jahre erfolgreich ausbremste.56 Sicherlich blockierten seine Protagonisten bewusst Boas als Spieler im wissenschaftlichen Feld, den sie zu Recht als einen ihren Hauptkontrahenten ansahen und der einigen von ihnen als Jude, Immigrant, Deutscher, Liberaler und Pazifist persönlich verhasst war. Auch war die generelle Themensetzung mit einer klaren gesellschaftspolitischen Agenda verknüpft, die kategorisch zwischen hoch- und minderwertigen, erwünschten und unerwünschten Bevölkerungsgruppen unterschied. Dennoch produzierten einige der zwölf Hauptprojekte Zweifel am oder Gegenpositionen zum Axiom messbarer Rassenunterschiede bzw. zur Objektivität konventioneller Tests. Ersteres gilt für das von Joseph Peterson geleitete Projekt Nr. 12 »Comparative Psychological Study of Negroes and Whites«, zweiteres für Brighams Internationalisierung und einen Mitarbeiter von Clark Wissler, der einen Intelligenztest für die Zuni-Pueblo zu entwerfen versuchte.57 Man muss konstatieren, dass die Arbeit des Komitees eine vermutlich unintendierte Dynamik entfaltete, die im Einzelfall auch Wissen produzierte, das sich von der boasianischen Anthropologie kaum oder gar nicht unterschied. Es fällt daher auf, dass sich Boas überhaupt nicht und Klineberg höchst selektiv auf die Resultate von Brighams Schwerpunkt bezogen. Boas’ Antrag vom Januar 1928 erwähnt die NRC-Konkurrenz mit keinem Wort, obwohl das Scheitern der Psychologen, am Reißbrett kulturneutrale Tests zu fabrizieren, eine perfekte Vorlage für seine Alternative kulturspezifischer Tests aus dem Feld heraus gewesen wäre. Vor allem Blackwood hätte er als Bestätigung reklamieren können, die ihrerseits auf Boas, Margaret Mead, Edward Sapir und Wilson Wallis verwies.58 Auch in Klinebergs Schriften gibt es weder auf das Gesamtprojekt noch auf die Testserien von Dodd und Squires einen erkennbaren Bezug. Black-
55 Ebd., S. 40-42; vgl. dito Klineberg: Racial Differences in Speed and Accuracy; ders.: Race Differences, S. 155. 56 Vgl. Gossett: Race, S. 418; Barkan: Retreat, S. 273; Spiro: Defending, S. 319. 57 Clements: Notes on the Construction, S. 543. 58 Blackwood: Study of Mental Testing, S. 22, 23, Anm.1, 29, 45.
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wood erwähnte er in späteren Publikationen, aber so summarisch oder beiläufig, dass die starken Parallelen zu seinen eigenen Arbeiten nicht sichtbar werden.59 Erst 1935 erschien mit Rose Nadler Franzblaus psychologischer Dissertation eine Anwendung von Dodds Testserie im boasianischen Dunstkreis. Franzblau verglich die Testleistungen dänischer und italienischer Mädchen in den Ursprungsländern und in den USA – noch immer im Hinblick auf die nordische Deutung des Army Screening, jedoch mit Unterstützung des inzwischen bekehrten Carl Brigham, der die Testbögen zur Verfügung stellte. Sie befand, Dodds Tests seien »admirably suited for use«.60 Ende der zwanziger Jahre war die Situation hingegen noch ungeklärt und verlangte aus Sicht der Boasianer offenbar nach klärenden Fronten. Otto Klineberg berichtete retrospektiv, wie sich Enttäuschung in seine Genugtuung mischte, als er 1929 von Brighams Widerruf erfuhr.61 Die boasianische Sache wandte sich an eine prononcierte Gegenposition, und dazu eignete sich die Konfrontation mit psychometrischen Hardlinern besser als Umarmungen mit Beatrice Blackwood. Insgesamt scheint die Resonanz auf Brighams Internationalisierungsansatz relativ schwach gewesen zu sein. Joseph Peterson und Lyle Lanier arbeiteten in ihrer großen kumulativen Studie zu Schwarz-Weiß-Unterschieden mit Dodds Gruppentest, doch hier könnte auch die Verpflichtung zur wechselseitigen Nutzung NRC-finanzierter Ressourcen eine Rolle gespielt haben.62 Ein Fachkollege meinte, die internationalen Tests könnten zu Forschungszwecken, nicht aber in der angewandten Laufbahnprognostik eingesetzt werden, andere Autoren erwähnten oder benutzten sie schlicht als neue Varianten nonverbaler Test und blendeten die interkulturelle Dimension aus, so Freeman, Holzinger und Mitchell in ihrer Studie zur Intelligenzentwicklung bei Adoptivkindern und die darauf fußende Studie von Newman, Freeman und Holzinger zu getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen.63 Eine 1933 erschienene Bibliographie zum mental testing nannte neben den beiden Princeton-Arbeiten nur einen weiteren Versuch 59 Klineberg: Cultural Factors, S. 478; ders.: Tests of Negro Intelligence, S. 68, 70-71. 60 Franzblau: Race Differences, S. 6. Woodworth und Boas betreuten die Arbeit, Klineberg und seine Schwester Nettye, die ebenfalls Psychologin war, berieten sie, S. v, 8; zu Brigham S. 5, Anm. 2. 61 Klineberg: Otto Klineberg, S. 168. 62 Peterson/Lanier: Studies in the Comparative Abilities, S. vi. Sie arbeiteten auch mit anthropometrischen Instrumenten, die Melville Herskovits aus seinem NRC-Projekt zur Verfügung stellte. 63 Garrett/Schneck: Psychological Tests, Teil 2, S. 99; Freeman/Holzinger/Mitchell: Influence, S. 109-110; Newman/Freeman/Holzinger: Twins, S. 31; vgl. auch Pintner: Intelligence Tests, S. 394; Garrett/Schneck: Psychological Tests, Teil 1, S. 80.
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der »internationalen« Standardisierung.64 Charles Davenport unternahm als Vorsitzender der International Federation of Eugenic Organizations einen vergeblichen Anlauf, einen länderübergreifenden psychometrischen Standard zu erarbeiten.65 Auch einem 1935/36 auf Hawaii erarbeiteten »internationalen« Test blieb die Anerkennung versagt.66 1933 konstatierte die Reformeugenikerin Gladys Schwesinger in ihrem umfassenden Literaturbericht einen Trend in die entgegen gesetzte Richtung, also zu kulturspezifischen Tests: »More and more is being recognized that each homogenous group should develop its own standardizations, and that an individual’s rating obtained on any standardized instrument should be compared against ratings of his own group.«67 In diesem Sinne arbeiteten in den 1930er Jahren etwa R. A. C. Oliver und William Mumford in Afrika und Cecil W. Mann auf Fiji. Ihr Ziel war es, mit Hilfe von Anthropologen oder natives kulturspezifische Tests zu entwickeln, die der individuellen Auslese dienen sollten, für einen Rassenvergleich aber nicht in Frage kamen.68 Auch die einzige ethnopsychologische Studie, die die internationalen Tests im Sinne des ursprünglichen Problems benutzte, konstatierte ihr Scheitern. Es handelt sich um die Untersuchungen von Stanley Porteus bei verschiedenen Gruppen von australischen Ureinwohnern, die er im Auftrag des Australian National Council mit Geldern der Rockefeller Foundation ab Frühjahr 1929 durchführte. Verglichen mit anderen racial testern legte Porteus eine außerordentliche Einsicht in die kulturelle Fremdheit der gängigen Tests und der Testsituation für seine Untersuchungsgruppe an den Tag.69 Zudem stellte er der psychologischen Untersuchung eine ausführliche ethnologische Bestandaufnahme voran und dokumentierte die Testdurchführung fotografisch. Porteus kritisierte insbesondere die von Squires entwickelte Testserie, der nicht verstanden habe, »how primitive the primitive man really is«. Alle Tests, die Zählen im zweistelligen Bereich und Addition erforderten, seien für die verschiedenen Gruppen von Aborigines völlig unbrauchbar, weil deren Zahlenwelten maximal bis zur Fünf reichten. Ebenso verhalte es sich mit Bildertests, die 64 Hildreth: Bibliography, S. 37. 65 Vgl. Kühn: Internationale, S. 76-77, 97-98; Hogan: Anne Anastasi, S. 266. 66 Leiter: Leiter international performance scale; vgl. Porteus: Primitive Intelligence and Environment, S. 305; Mann: Mental Measurement, S. 383. 67 Schwesinger: Heredity and Environment, S. 20-21; zu Schwesinger vgl. Barkan: Retreat, S. 274. 68 Oliver: Mental Tests, S. 43-45; Mumford/Smith: Racial Comparison and Intelligence, S. 57; Mann: Test of General Ability, S. 451. 69 Porteus: Psychology, S. 301-315.
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vermeintlich universale Kulturgüter »primitiver« Völker darstellten: Einfache Pflüge, Holzlöffel und Ohrringe kämen in Australien gar nicht vor.70 Porteus setzte nur zwei von Squires’ Tests ein, kombinierte diese mit weiteren bekannten und selbst entwickelten Aufgabenstellungen, die etwa das Geschick seiner Probanden im Spurenlesen aufgriffen. Dabei kam er zu ähnlichen Ergebnissen wie Otto Klineberg bei den Yakima. Porteus arbeitet zum einen heraus, dass schon die Testsituation die Mitglieder der aboriginalen Kulturen überfordere. Da sie Probleme ausschließlich kollektiv und kooperativ lösten, habe sie das individualisierte und kompetitive Testverfahren extrem befremdet. Zweitens sei ihre vollständige Indifferenz gegenüber dem Zeitfaktor aufgefallen. Bei insgesamt uneindeutigen Testergebnissen kam Porteus zu dem Schluss, dass jede Rasse als intelligent gelten müsse, die es wie die australischen Ureinwohner schaffe, sich extremen Umweltbedingungen anzupassen – aber: »at the same time they are certainly unadaptable to a civilized environment«.71 Anders als Klineberg unterschied Porteus also weiterhin zwischen der überhistorischen, rassenbildenden und der zeitgenössischen fremden Umwelt, an der die Aborigines scheitern würden. Porteus’ Befund einer unflexiblen Intelligenz stützte einen exkludierenden Kulturrelativismus, der in seiner germanischen Variante in späteren Kapiteln wieder auftauchen wird. 1926/27 befanden sich die unter Brigham erarbeiteten internationalen Test offiziell in einer weltweiten Erprobungsphase.72 Als sich Brigham und Klineberg im September 1929 auf dem Internationalen Psychologenkongress in New Haven begegneten, äußerte sich Brigham Klineberg zufolge jedoch schon vollständig resigniert über die unter seiner Leitung entwickelten Tests. Er habe sie gleichsam zum kulturalistischen Abschuss freigegeben: »Well, you could use my test, find out what kind of errors people make, and understand in that way what cultural differences there are.« In other words, he now wanted his test to be used, no longer as a test of native intelligence, but as a measure of cultural differences in what psychologists may call intelligent behavior.73
Zur gleichen Zeit reichte Brigham seinen Widerruf bei der Psychological Review ein.
70 Ebd., S. 306-307. 71 Ebd., S. 376. 72 Vgl. Dodd: International group mental test, S. 35; Blackwood: Study of Mental Testing, S. 108. 73 Klineberg: Reminiscences, CUA, OHRO, S. 59.
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Ein halbes Jahr später brach Klineberg nach Mobridge/South Dakota auf. Wie vorgesehen entwickelte er gemeinsam mit Ella Deloria einen »indianischen« performance test, bei dem ein Perlengewebe herzustellen war. Die so genannte Beadwork-Technik hatte sich im 19. Jahrhundert, als im Gefolge der weißen Siedler Glasperlen verfügbar wurden, stark unter den Dakota verbreitet und war ein von Frauen ausgeführtes, in der ganzen Gruppe hoch angesehenes Kunsthandwerk gewesen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war diese Technik schon fast in Vergessenheit geraten, nur einige alte Frauen übten das Handwerk noch aus. Jedoch waren im Alltag viele Glasperlen-Objekte vorhanden. Klineberg und Deloria entschieden daher, nicht bei der Technik, sondern bei den Mustern anzusetzen, die den indianischen Kindern vertraut waren.74 Alle vier Untersuchungsgruppen – je eine Jungen- und Mädchengruppe von Dakotas und Weißen – wurden zunächst in der Webtechnik unterrichtet. Dann wurde ihnen vier Minuten lang ein einfaches Muster vorgelegt, das Deloria entworfen hatte. Schließlich sollten die Probanden das Muster aus dem Gedächtnis nachweben. Am besten schnitten, wie erwartet, die Dakota-Mädchen ab, allerdings stellten sich als zweitbeste Gruppe die weißen Mädchen heraus und nicht die Dakota-Jungen, die wie die weißen Jungen weit hinter den Leistungen beider Mädchengruppen lagen.75 Zusätzlich ließ Klineberg die Kinder einen Zeichentest nach Florence Goodenough und einen nicht näher bezeichneten sprachlichen Test machen. Es ist aber unklar, ob diese Teile des Experiments waren oder vielleicht dazu dienten, die Ergebnisse des Beadwork-Tests an konventionellen Intelligenzmessungen zu validieren.76 Es ist möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass es Boas während der Antragstellung 1927/28 noch denkbar erschien, nach der Kritik der eingeführten Testmethoden in einem zweiten Schritt einen kulturneutralen Test zu entwickeln. Durch das Scheitern des NRC-Projekts 1929 hatte eine solche Perspektive aber schon an Dringlichkeit verloren, bevor Klineberg mit seiner Arbeit richtig begonnen hatte. 1931 erklärte Boas öffentlich, es sei ausgeschlossen, einen Test zu konstruieren, der die unterschiedlichen Erfahrungen von Probanden neutralisiere.77 Doch auch die Versuche mit kulturspezifischen Tests verliefen im Sand. 78 Die Ergebnisse des Dakota-Teilprojekts blieben unpubliziert, 74 Klineberg an Boas, 16. April 1930, PCFB. 75 Klineberg an Boas, 24. Mai 1930; Klineberg an Boas, 15. Juli 1931, PCFB. 76 Klineberg erwähnt eine gewisse Korrelation zwischen Einschätzung der »Schulintelligenz« und dem Beadwork-Test, an Boas, 24. Mai 1930, PCFB. 77 Boas: Race and Progress, S. 6; auch ders.: Evidence on the Nature of Intelligence, S. 145. 78 Klineberg an Boas, 15. Juli 1931, PCFB.
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sieht man von einer halben Seite in Klinebergs Synthese Race Differences von 1935 ab. Darin ist nur noch von zwei weiblichen Testgruppen die Rede. Klineberg ließ also den Geschlechtsunterschied stillschweigend fallen, der irritierenderweise quer zur kulturellen Differenz gelegen hatte.79 Insgesamt scheint er in alternativen Tests kein Potenzial mehr gesehen zu haben, denn nach anfänglichen Versuchen, neue Tests für den schwarzen Süden zu entwickeln, arbeitete er in seinen stark rezipierten Untersuchungen zur Intelligenz schwarzer Migranten ausschließlich mit dem bekannten Standardmaterial. Franz Boas erwähnte die Dakota-Ergebnisse nur beiläufig, am deutlichsten an einer aus amerikanischer Sicht abseitigen Stelle – in der Rede, die er 1931 zum 50-jährigen Jubiläum seiner Promotion in Kiel hielt.80 Insgesamt scheint auch er kulturspezifische Tests ad acta gelegt zu haben, obwohl er hier seine linguistische Kompetenz hätte ausspielen können. Im Projektantrag hatte er betont, dass die in der Sprache vorgegebenen Wahrnehmungs- und Assoziationsstrukturen sich in Intelligenztests weitaus stärker auswirkten, als gemeinhin angenommen wurde: »The interpretation of questions asked in the test may depend upon the classifications of experience that are determined by culture and by language.«81 Über räumliche und zeitliche Muster äußerten sich diese Prägungen auch in nonverbalen Tests. Denkbar wäre das Experiment gewesen, Sprecher strukturell verschiedener Sprachen den gleichen Tests zu unterziehen, um zu zeigen, in welchem Ausmaß sprachlich geprägte Kognitionsschemata den Umgang mit Testaufgaben beeinflussten. 82 Obwohl dies ein beachtenswerter Beitrag zum Verhältnis von Test und Sprache gewesen wäre und Boas auch später ähnliche Hinweise einstreute83, verfolgte er diesen Ansatz aber nicht systematisch weiter.
Wanderungsauslese auf dem Prüfstand Als weitaus ergiebiger und öffentlichkeitswirksamer sollte sich die Teilstudie »rural Negroes« erweisen, die mit Neben- und Anschlussprojekten bis Mitte 1933 lief und sich darauf zuspitzte, die These von der selektiven Migration zu entkräften. Im Spätsommer 1929 reiste Otto Klineberg zu ersten Recherchen 79 Klineberg: Race Differences, S. 162. 80 Boas: Rasse und Kultur, S. 14; ders.: Race and Progress, S. 6; ders.: Mind of Primitive Man (1938), S. 122. 81 Racial and Social Differences in Mental Ability, CUA, CRSS, Ser. III, Box 7, Folder 6. 82 So skizziert in Boas: Anthropology and modern life, S. 53-54. 83 Boas: Evidence on the Nature of Intelligence, S. 147.
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nach West Virginia. Da er die Gegebenheiten dort nicht für günstig hielt, einen kulturspezifischen Test zu entwickeln84, verlagerte er seine Arbeit in den Süden. In New Orleans begab er sich auf eine breit angelegte Datensuche, die neben dem »racial make-up« der beiden dort lebenden schwarzen Gruppen (American Negroes und Kreolen) auch deren ethnischen und religiösen Hintergrund umfasste. Einen Schwerpunkt bildete dabei die stereotyp angenommene besondere Musikalität der Schwarzen.85 Das anvisierte Testprogramm sollte neben Intelligenz und Temperament auch psychopathologische Aspekte abfragen: »I shall also experiment with some new methods, and possibly include some physiological indications of emotional disturbances.«86 Dieses Vorgehen war mit Boas eng abgesprochen und nah an der ursprünglichen Projektbeschreibung. Dies erklärt auch, warum Klineberg West Virginia, wo er durch seine Dissertation schon gute Kontakte zu möglichen Testpersonen hatte, zugunsten einer viel aufwendigeren Recherche im Süden aufgab. Die Absicht, einen kulturspezifischen Test zu entwickeln, brauchte stärkere kulturelle Differenzen, als sie in West Virginia offenbar vorzufinden waren. Im Frühjahr 1930 begann Klineberg jedoch den Zuschnitt der Untersuchung zu verändern. Während er bei den Dakota an Glasperlentests feilte, beschäftigte ihn das große Thema, das er in einer in den Südstaaten angesiedelten Studie sah: Migration als ein Grundproblem der amerikanischen Gesellschaft. Dieses Thema, schrieb er an Boas, sei einerseits zu groß, andererseits zu wichtig, um es bloß ausschnitthaft anzugehen. Angemessen sei ein veritables Großprojekt: If a number of people could be turned loose collecting data of the kind we need, but collect from many different cities, and different racial groups, and with different types of tests, and different criteria of achievement, and in different economic and cultural settings, I think the results would be bound to be important.87
Fürs erste konnte er Boas davon überzeugen, die Frage nach der Migrationsdynamik schwarzer Landbewohner als eigenständiges Projekt auszukoppeln. Boas und Woodworth beantragten das Projekt, das zum Ziel hatte, to determine whether in migration, and particularly in migration from country to city, there is a tendency for the more intelligent elements of the population to move, and for the
84 Arbeitsbericht an Columbia University CRSS, 3. Oktober 1929, PCFB. 85 Boas an Zora Neale Hurston, 17. Mai 1929, PCFB. 86 Klineberg an Boas, 18. und 29. November 1929, PCFB. 87 Klineberg an Boas, 16. April 1930, PCFB.
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less intelligent to remain behind; or, in other words, whether there is a »selective migration« determined in any way by intelligence.88
Klineberg war verantwortlich, stimmte sich aber mit Boas ab, erstattete ihm mehr oder weniger laufend Bericht und fragte ihn bei methodischen Problemen um Rat. Unter diesen neuen Vorzeichen kam auch West Virginia wieder ins Spiel. Louis E. King untersuchte hier 1930/31 im Rahmen seiner Dissertation die Migrationsmotive von »rural negroes«89, eine Fragestellung, die zweifellos im Zusammenhang mit Klinebergs Studie entstand. Die Annahme, dass es sich bei Land-Stadt-Wanderung um einen Auslesevorgang handele, hatte eine deutsche Traditionslinie, die Boas vor dem Weltkrieg rezipierte. 1899 hatte Otto Ammon aufgrund anthropometrischer Untersuchungen an badischen Rekruten physische Unterschiede zwischen Land- und Stadtbewohnern konstatiert. Die Städter seien langköpfiger, höher gewachsen und hellhäutiger als die Landbewohner.90 Boas hielt Ammons Befund für wichtig, wandte sich aber gegen die Deutung, dieser Unterschied sei auf natürliche Selektion zurückzuführen, die die begabteren Langköpfe in eine Umwelt mit vorteilhaften Lebensbedingungen ziehe.91 Auch Otto Klineberg bezog sich auf Ammon, allerdings erst ab Mitte der dreißiger Jahre, als die Zurückweisung deutscher Rassentheorien auf die Agenda rückte.92 Für seine empirischen Untersuchungen um 1930 spielte Ammons mittlerweile antiquierter Ansatz, der einen direkten Zusammenhang zwischen Schädelform und Intelligenz sah, keine Rolle mehr. Klineberg schrieb gegen amerikanische Psychometriker wie Rudolf Pintner und Nathaniel Hirsch an, die sozialgeographische Differenzierungen von Testleistungen in einem gewissen Maß berücksichtigten, insgesamt aber an der Se88 Klineberg/Boas/Woodworth: The Problem of Selective Migration, 26. März 1931, CUA, CRSS, Ser. III, Box 9, Folder 2. 89 King: Negro Life. Vgl. auch Franz Boas: [Berichtsentwurf], Ende 1934, vgl. Boas an Howard McBain, 3. Dezember 1934, CUA, CRSS, Ser. III, Box 5, Folder 11. King versuchte vergeblich, eine Dozentenstelle an einem Negro College zu erhalten; ebenso zerschlug sich die Aussicht auf Feldforschungsarbeit für den deutschen Afrikanisten Dietrich Westermann. 1934 wurde er schließlich Führer im Gettysburg National Military Park. Vgl. King an Boas 1. Oktober und 21. November 1932, 23. Januar 1934, Boas an Leonard Outwaite 22. November 1932, an King, 21. Dezember 1933, PCFB. 90 Ammon: Zur Anthropologie, S. 642. 91 Boas: Instability of Human Types, S. 103; ders.: Mind of Primitive Man, S. 50, 52; ders.: Changes in the Bodily Form, S. 69-71. 92 Klineberg: Race Differences, S. 5-6; ders.: Intelligence of Migrants, S. 218; ders.: Social Psychology, S. 254-255.
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lektionsthese festhielten.93 Seine wichtigste Referenz war die schon erwähnte Studie von Joseph Peterson und Lyle Lanier, die unter dem Dach des Human Migration Committee schwarze Kinder in Nashville, Chicago und New York City getestet hatten. Ihre Daten deckten sich zum Teil mit denen Klinebergs. So fanden sie in großstädtischer Umgebung eine starke Annäherung schwarzer Testergebnisse an die weiße Norm, in New York sogar einen Gleichstand, zudem konnten sie keine Korrelation zwischen »negroiden« Körpermerkmalen und Intelligenz feststellen. Auch wenn sie urbane Bildungsvorteile zugestanden, erklärten sie schwarze IQs von 100 aber weiterhin als Auslesephänomen.94 Klineberg und Boas einigten sich darauf, das Problem von zwei Seiten anzugehen. Ein Ausgangspunkt war die Diskrepanz zwischen southern und northern negroes. Um festzustellen, ob tatsächlich die Leistungsfähigeren abwanderten, verglich Klineberg 1929/30 Migranten und Zurückgebliebene in drei Städten des Deep South, in Nashville (Tennessee), Birmingham (Alabama) und Charleston (South Carolina). Dafür zog er die Zeugnisse und die persönlichen Daten der Schüler heran, deren Familien in den letzten 15 Jahren weggezogen waren. Er arbeitete mit Schulzeugnissen, weil sich anders als im Norden regelmäßige Intelligenzmessungen in den Schulen noch nicht eingebürgert hatten. Dieses Archivmaterial ergänzte er durch mündliche Informationen über den Verbleib der ehemaligen Schüler. Aus den school records berechnete er die Positionen von rund 560 abgewanderten Schülern innerhalb der Leistungshierarchie ihrer alten Klassen und der Altersnorm. Zweiter Fluchtpunkt der Untersuchung war die Verweildauer in der Stadt. Damit nahm Klineberg ein Argument seiner Dissertation auf – mit der Länge des Aufenthalts in einer städtischen Umgebung verbesserten sich die Testleistungen, in diesem Fall die Schnelligkeit.95 1931/32 ließ er von Columbia graduate students knapp 3100 schwarze Kinder testen, die im Süden geboren waren und unterschiedlich lange in New York City lebten. Zur Anwendung kamen neun verschiedene Tests, darunter der National Intelligence Test, der Stanford Binet, die Otis Self-Administering Test, der Minnesota Mechanical Ability Test und die Pintner-Paterson Performance Scale.96 Die Ergebnisse staffelte Klineberg nach der Länge des Aufenthalts in der nördlichen Metropole. Als Kontrollgruppe fun93 Klineberg: Intelligence of Migrants, S. 218; ders.: Social Psychology, S. 255. 94 Peterson/Lanier: Studies in the Comparative Abilities; zit. bei Klineberg: Negro Intelligence, S. 12, 28-29, 44, 60; ders.: Race Differences, S. 183, 188, 220. 95 Klineberg: Experimental Study, S. 48-50. 96 Klineberg: Negro Intelligence, S. 24-49. Vgl. etwa Hand: Comparative study; Skladman: Study of the effect; Lapidus: Environmental effect; Traver: Effect of the New York environment.
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gierten bereits in New York geborene Mitschüler, zudem glich er die Ergebnisse mit den Testnormen ab, die an weißen Kindern geeicht worden waren. Carl Brigham hatte in seiner Study of American intelligence argumentiert, das bessere Abschneiden von Immigranten bei längerem Aufenthalt in den USA sei darauf zurückzuführen, dass sich die Qualität der Neuankömmlinge kontinuierlich verschlechtert habe.97 Klineberg übertrug dieses Argument auf die Binnenwanderung und führte ein diachrones Element in die Untersuchung ein. Im Abstand von einem Jahr ließ er einige Tests wiederholen, um die nächste Migrantenkohorte und mögliche Qualitätsunterschiede zu früheren Zuzüglern zu erfassen. Analog zu New York testete er zudem Schulkinder im Süden, die vom Land kamen und unterschiedlich lange in New Orleans, Atlanta oder Nashville lebten. Der zeitliche und finanzielle Rahmen seines Projekt erlaubte es nicht, Migrantenbiographien vom Süden in den Norden zu verfolgen und die Entwicklung individueller Testleistungen über viele Jahre hinweg zu beobachten.98 Klineberg musste sich damit begnügen, seine These kumulativ auf die Ergebnisse mehrerer Einzelstudien mit unterschiedlichen Schülersamples zu stützen. Andererseits kam ihm zugute, dass er seinen Antrag offen formuliert und nicht auf die Untersuchung afroamerikanischer Migration eingeschränkt hatte. Als 1932 die Verlängerung anstand, dehnte er die Studie auf zwei Vergleichsfälle aus. Beide fußten auf weißen Untersuchungsgruppen – in Zeiten der Depression, als das Elend weißer Südstaatenunterschichten im Norden vermehrt sichtbar wurde, erhielt die Selektionsthese ein neues Gesicht. Im ländlichen New Jersey ließ Klineberg nach dem im Süden erprobten System die Leistungsposition von rund 600 Kindern in ihren ehemaligen Klassenverbänden ermitteln, die mit ihren Eltern in urbane Zentren abgewandert waren. Neben Zeugnissen konnte er hier auf die flächendeckend eingeführten schulischen Intelligenztests zurückgreifen. 99 Die zweite Fallstudie war Deutschland, wobei sowohl die Binnenmigration als auch die Auswanderung in die USA Gegenstand sein sollte. Das Projekt, das später unter dem Titel »The Intelligence of Migrants« firmierte, wurde verlängert und voll bewilligt, obwohl sich das Columbia-Psychologie-Department dafür aussprach, zunächst den einheimischen Teil abzuschließen und den deutschen Teil nach dessen Fertigstellung eventuell anzuhängen.100 97
Klineberg: Negro Intelligence, S. 172.
98
Vgl. auch Boas an Leonard Outhwaite, 22. November 1932, PCFB.
99
Klineberg: Cultural Factors in Intelligence -Test Performance, S. 483; ders.: Intelligence of Migrants, S. 220-221.
100 Acting Secretary an Klineberg, 28. April 1932, CUA, CRSS, Ser. III., Box 9, Fold er 2; Stellungnahme von Hollingworth, Michaels, Poffenber ger, Thorndike, 12. April 1932, CUA, CRSS, Ser. II, Box 5, Folder 3.
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Dem Arbeitsplan gemäß hielt sich Klineberg im Sommer 1932 wieder in Deutschland auf, um die Verwertbarkeit der Schulunterlagen zu prüfen und zwei Untersuchungsregionen auszuwählen.101 Im Juli sondierte er in Mecklenburg, dann traf er Boas in Jena, der dort mit seinen Schwestern sommerfrischte. Offenbar reisten sie gemeinsam nach Bayern und brachten dort die zweite Fallstudie auf den Weg, die sich mit ländlicher Migration nach Nürnberg beschäftigen sollte.102 Im Spätsommer trafen sie in Hamburg mit William Stern zusammen, und Klineberg beauftragte sein Institut mit der technischen Durchführung der Studie, der Erhebung und Auswertung von Schulunterlagen in Mecklenburg und in Franken, die bis Mitte 1933 abgeschlossen werden sollten.103 Stern setzte zwei Mitarbeiter auf das Projekt an, Betti Katzenstein und Martin Scheerer, der bald darauf als Emigrant wieder Kontakt zu Boas aufnehmen sollte.104 Da sich die Volksschulunterlagen als nicht ergiebig erwiesen, sollten in Deutschland Berufsschüler – also anders als in den USA die Migranten selbst und nicht deren Kinder – untersucht werden. Dies kam auch Katzensteins Spezialisierung auf Arbeitspsychologie entgegen. Sie konnte jedoch nur 66 Berufsschüler untersuchen, da die Repressionen nach dem nationalsozialistischen Machtantritt die Arbeit des Instituts massiv erschwerten und das Gros der Mitarbeiter im Lauf des Jahres 1933 aus rassischen oder politischen Gründen entlassen wurde.105 Nachdem das Projekt im Mai 1933 ausgelaufen war, berichtete Klineberg erstmals 1934 im Journal of Negro Education von den Ergebnissen der Migrationsstudie.106 1935 lag die entsprechende Monographie vor: Negro Intelligence and Selective Migration stellte den Teilbereich »rural negroes« aus dem Projekt »Mental Differences« sowie die erste Projektphase von »Selective Migration« dar. Zudem griff Klineberg hier auf Ergebnisse seiner Dissertation zurück. Im selben Jahr veröffentlichte er die Franz Boas gewidmete Synthese Race Differences, die für ein breiteres Publikum den Forschungsstand aus biologischer, psychologischer und kulturalistischer Perspektive zusammenfasste. Auch hierin 101 Verlängerungsantrag [Anfang 1932], CUA, CRSS, Ser. III, Box 9, Folder 2. 102 Klineberg an Boas, 26. Juli 1932, PCFB; [Bericht ca. Oktober 1938], CUA, CRSS, Ser. III, Box 9, Folder 2; Franz Boas: [Berichtsentwurf Ende 1934], vgl. Boas an McBain, 3. Dezember 1934, beide CUA, CRSS, Ser. III, Box 5, Folder 11. 103 Klineberg an Boas, 26. Juli 1932, PCFB; Klineberg an Howard McBain, 2. November 1932; Verlängerungsantrag [Anfang 1932], CUA, CRSS, Ser. III, Box 9, Folder 2. 104 William Stern an Boas, 16. Oktober 1934, PCFB. 105 Vgl. Klineberg: Intelligence of Migrants, S. 221; Moser: Entwicklung der akademischen Psychologie, S. 496-500. 106 Klineberg: Cultural Factors.
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ging er ausführlich auf eigene Arbeiten ein.107 Erst 1938 erschien ein kurzer Aufsatz in der American Sociological Review, der die Ergebnisse der zweiten Projektphase von »Selective Migration« inklusive des deutschen Materials präsentierte. Die bereits 1934 angekündigte Monographie zur »Intelligence of Migrants«, die Klineberg zufolge 1938 fast fertig war, erschien jedoch nicht.108 Stattdessen arbeitete er an Gunnar Myrdals Großuntersuchung zur Lage der AfroAmerikaner mit, deren Ergebnisse 1944 unter dem Titel An American Dilemma erschienen. In Myrdals Auftrag gab Klineberg eine begleitende Publikation heraus, die das »negro problem« aus dem Blickwinkel der Psychologie zusammenfasste. Es selbst schrieb darin die Beiträge zu Intelligenz- und zu Persönlichkeitstests.109 Zuvor erschien 1940 seine Einführung Social Psychology, die wiederum viele seiner früheren Arbeiten aufgriff, so auch die Ergebnisse der deutschen Migrationsstudie.110 Doch welche neuen Einsichten konnte Klineberg präsentieren? Zum einen stellte er fest, dass es den behaupteten klaren Zusammenhang zwischen Migration und Intelligenz nicht gebe. Im Fall von Nashville, Birmingham und Charleston seien es mal die Leistungsfähigeren gewesen, die vom Land in die Stadt zögen, mal die Unterdurchschnittlichen, mal die Mittelmäßigen. Er verwies auch auf das Ergebnis von Louis E. King, dass Migranten von keinem besonderen Aufstiegswillen geprägt seien, sondern meistens abgewanderten Verwandten und Bekannten folgten.111 Es seien, so Klineberg, sozioökonomische Nachteile am Ausgangsort oder sozioökonomische Vorteile am Zielort in Betracht zu ziehen, aber auch die Persönlichkeit der Migranten und zufällige Faktoren.112 Wo die Anhänger der Selektionsthese einfache Gesetzmäßigkeiten gesehen hatten, fand Klineberg Komplexität und Kontingenz.
107 Später erklärte er, seine Ehefrau Selma hätte, ebenso wie bei dem Buch Social Psychology, eigentlich als Koautorin von Race Differences genannt werden müssen, Klineberg: Personal Perspective, S. 49. 108 Klineberg: Intelligence of Migrants; Monographie angekündigt als Otto Klineberg/ E. E. Edelman/H. Milt: The Intelligence of Rural-Urban Migrants, in: Klineberg: Cultural Factors, S. 483, Anm. 27; [Projektbericht ca. Oktober 1938], CUA, CRSS, Ser. III, Box 9, Folder 2. 109 Klineberg (Hg.): Characteristics of the American Negro, darin ders.: Tests of Negro Intelligence und Experimental Studies of Negro Personality. 110 Klineberg: Social Psychology, S. 257. 111 Klineberg: Negro Intelligence, S. 11-12. 112 Ebd., S. 61-62; ders.: Intelligence of Migrants, S. 223-224; ders.: Social Psychology, S. 257-258.
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Das zweite Ergebnis betraf die Effekte eines Umweltwechsels. Anhand der in New York durchgeführten Tests lasse sich nachweisen, dass ehemalige Bewohner des ländlichen Südens mit der Dauer ihres Aufenthalts in den urbanen Zentren des Nordens ihre Leistungen verbesserten. Zwar hätten die Einzelergebnisse dieser Stichprobe in der Summe kein statistisch verlässliches Bild ergeben, weil nur die verbalen Tests, nicht aber die performance tests eine positive Korrelation zwischen Verweildauer und Leistung zeigten. Auch die statistischen Unterschiede zwischen den beiden Zuwandererkohorten von 1931 und 1932 seien gering. Einheitlich sei aber die Tendenz der Einzelergebnisse, von denen keines auf eine Selektion der Intelligenteren hinweise. Greifbar sei, dass das Leben in der Stadt die Kluft zwischen schwarzen und weißen Testleistungen reduziere. Nach langem Aufenthalt in New York erreichten schwarze Kinder punktuell die weiße IQ-Norm. Dass sie im Durchschnitt aber immer noch etwas hinter weißen Kindern zurücklägen, sei darauf zurückzuführen, dass auch in der Stadt die Lebenschancen nicht völlig gleich seien: The final and crucial comparison could only be made in a society in which the Negro lived on terms of complete equality with the White, and where he suffered not the slightest social, economic, or educational handicap. It is doubtful whether such a society exists, but perhaps some approximation to it could be found in […] Brazil or Martinique. 113
Insgesamt bestätigte Klineberg die Entwicklungs- und Bildungsfähigkeit des Einzelnen unter günstigen äußeren Bedingungen. Die Evidenz psychischer Rassenunterschiede war mit seiner Hilfe zu einer nur mehr theoretischen Möglichkeit geschrumpft: there is no scientific proof of racial differences in mentality. This does not necessarily mean that there are no such differences. It may be that at some future time, and with the aid of techniques as yet undiscovered, differences may be demonstrated. In the present stage of our knowledge, however, we have no right to assume that they exist. 114
Klinebergs Monographien Negro Intelligence und Race Differences gelten zu Recht als Pionierleistungen der antirassistischen Psychologie. Sie als historische 113 Klineberg: Negro Intelligence, S. 59-60. 1942 erschien eine Studie zu indianischen Kindern in Oklahoma, die aufgrund von Ölfunden in ihrem Reservat einen »weißen« Lebensstandard hatten und der »weißen« Intelligenznorm entsprachen, vgl. Rohrer: Test Intelligence of Osage Indians. Klineberg kommentierte: »This is one of the studies I whish I had done myself.« (Personal Perspective, S. 41). 114 Klineberg: Race Differences, S. 345.
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Errungenschaft zu würdigen, darf aber nicht heißen, ihre Wahrheitsspiele unkommentiert als Wahrheit durchgehen zu lassen. Die hier skizzierte Mikrogeschichte des zentralen boasianischen Intelligenzprojekts sollte deutlich gemacht haben, dass sich Erkenntnisinteresse und Methodik im Verlauf der Arbeit signifikant verschoben. Boas’ ursprüngliche Projektidee – Kultur als aporetischen Faktor objektiver Tests aufzuzeigen – machte einem Testpositivismus Platz, der den Normalismus der Psychometrie akzeptierte, um ihre rassistischen Implikationen widerlegen zu können.
Intelligenztests als Objektivierung mentaler Plastizität Seine Schlussfolgerungen konnte Otto Klineberg so nur herausarbeiten, weil er sich auf die psychometrische Logik einließ. Statt die Kulturgebundenheit von Tests herauszustellen, handhabte er sie als Prozeduren, die sicheres Wissen erzeugten – Wissen über Leistungen, Auskunft über geistige Fähigkeiten (ob angeboren oder erworben). Er wusste natürlich um die Einwände gegen die Aussagekraft von Schulnoten und Intelligenzmessungen und rechtfertigte sich damit, dass er nur die Versuchsanordnungen der rassistischen Psychometrie nachstelle, um sie, mit leicht veränderten Variablen, der Haltlosigkeit zu überführen. Da Klineberg Intelligenztests als brauchbares Mittel der Leistungsprüfung anerkannte, musste ihm daran gelegen sein, sie möglichst störungsfrei durchzuführen. Grundlegend, so betonte er in Methodenausführungen immer wieder, sei unter anderem der »rapport« zwischen Testern und Probanden. Im Sinne einer sauberen Versuchsanordnung sollte sich die Prüfungssituation – etwa durch Wettbewerbsdruck oder die einschüchternde Präsenz einer weißen Autoritätsperson – nicht verfälschend auf das Leistungsvermögen der Testpersonen auswirken. In seinen Briefen betonte er mehrfach, wie wichtig es sei, das Vertrauen der Probanden zu gewinnen. Dazu bediente er sich nichtweißer Mittelsmänner und -frauen, die in Verbindung zu der jeweils untersuchten Gruppe standen. Diese Personen kamen zum Teil aus dem boasianischen Umfeld und waren als Projektmitarbeiter direkt eingebunden. Schon als er 1927 für seine Dissertation recherchierte, hob Klineberg Louis E. Kings zentrale Rolle hervor, der im Untersuchungsgebiet in West Virginia aufs College gegangen war und einige Jahre als Lehrer gearbeitet hatte. Seine persönliche Bekanntschaft mit einheimischen Familien verschaffte Klineberg Zugang zu Testpersonen und sorgte dafür, dass sie kooperierten: »Some of the people here seem to have the idea that in some obscure way we’re helping the Negro race, and that helps us, of course.«115 115 Klineberg an Boas, 6. Juli 1927, PCFB; vgl. Harrison: Lewis Eugene King, S. 72.
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1929/30 halfen Ella Deloria bei den Dakota und die Folkloristin Zora Neale Hurston in New Orleans in ähnlicher Weise als Türöffnerinnen aus.116 Im Süden sicherte sich Klineberg zudem die Unterstützung lokaler Ärzte, Lehrerinnen und College-Dozenten, die ihm Testpersonen zuführten, Informationen beschafften und Arbeitsräume zur Verfügung stellten.117 Anders als Melville Herskovits bezog er sich jedoch nicht auf die Psychometriekritik afroamerikanischer Psychologen und Intellektueller.118 Eine weitere Leerstelle seiner Arbeit ist die Segregation, die in seinen Publikationen nur am Rande vorkommt. So wie Klineberg vollständig auf ethnographische Informationen verzichtete, gibt es auch keine Frage nach den Bedingungen der Rassentrennung und ihren psychischen Effekten auf seine Testpersonen oder nach den Erfahrungen, die die Migration aus den Südstaaten in den Norden mit sich brachte. Er reduzierte die Komplexität des kulturellen Gegensatzes zwischen Ostküstenmetropole und Deep South auf ein uniformes Gefälle zwischen Stadt und Land, zwischen besseren und schlechteren Bildungschancen. Diese Vernachlässigung spezifischer Differenzen war insofern angezeigt, als es Klineberg darauf ankam, schwarze und weiße Amerikaner nicht verschiedenen Kulturen zuzuordnen. Von den beiden boasianischen Optionen: die Verschiedenheit der Kulturen oder die Gleichwertigkeit physischer Menschentypen zu betonen, wählte er die letztere. Stadt und Land stellten immer noch einen signifikanten Umweltunterschied dar, aber sie waren in Klinebergs Versuchsanordnung auf einer gemeinsamen Skala amerikanischer Kultur verortet. Er sprach von graduellen, durch Anpassung überwindbaren Unterschieden, nicht mehr vom nachhaltig konditionierten Anderssein der Dakota oder der Voodoogläubigen in New Orleans. Aus dieser Perspektive wäre es auch kontraproduktiv gewesen, einen auf die ländliche Lebenswelt zugeschnittenen Test zu entwickeln, der ein weiteres Mal auf die Baufehler der etablierten Prüfungsverfahren hingewiesen hätte.119 Um das Entwicklungspotenzial des durchschnittlichen schwarzen Amerikaners sichtbar zu machen, war es sinnvoll, auf eingeführte Intelligenztests zurückzugreifen, denn unter der Prämisse allgemein wirksamer Umwelteffekte bewährten sie sich als Objektivierungen mentaler Plastizität. Eine Kritik an den grundlegenden methodischen Problemen der Intelligenzmessung – der Konstruktion von Normalität oder dem Axiom der Normalverteilung – hätte ihre Beweis-
116 Klineberg an Boas, 16. April 1930, PCFB; vgl. auch Hemenway: Zora Neale Hurston, S. 128-129; Mikell: Feminism and Black Culture. 117 Klineberg an Boas, 29. November 1929, PCFB; ders.: Negro intelligence, S. 15. 118 Herskovits: On the Relation, S. 31. 119 Das hatte Shimberg: Investigation into the validity of norms, getan.
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kraft untergraben. Stattdessen nutzte Klineberg die Tricks graphischer Visualisierungen, um die Evidenz seines Arguments zu stärken.120 Auch Franz Boas scheint über die Jahre seinen Frieden mit Intelligenztests gemacht zu haben, vorausgesetzt sie wurden in kulturell »homogenen« Gruppen angewandt. In einem Brief an William Stern zählte er sie 1934 zu den »safe psychological tests«.121 In den 1880er Jahren hatte er ursprünglich über die Gaußsche Normalverteilung promovieren wollen, auch schätzte er grundsätzlich Galtons Ansatz.122 Seit Ende 1937 führte er im Rahmen seiner Forschungen zur Variation familiärer Merkmale bei Geschwistern mit Förderung der Carnegie Institution eine kleine Intelligenzstudie durch, die den Zusammenhang von körperlicher und geistiger Entwicklung untersuchte. Dabei kooperierte er mit Gertrude Hildreth, die Schulpsychologin an der Laborschule des Teachers College war und in den 1920er Jahren zur Geschwisterähnlichkeit von Intelligenz gearbeitet hatte.123 Sie verschaffte Boas Zugang zu den Testunterlagen der Schule, die dort für jeden Schüler archiviert waren, und erwirkte für ihn die Erlaubnis, bei den Schülern Röntgenaufnahmen der Handknochen durchzuführen und Körpermaße zu nehmen, um Wachstumsphasen zu bestimmen.124 Es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, in der Boas Hildreth als »exceedingly competent psychologist«125 schätzen lernte. Beteiligt war zudem die in Leipzig ausgebildete emigrierte Psychologin Dusja Trachtenberg, die auch einen Teil der statistischen Auswertung erledigte. Mit den anthropometrischen Arbeiten – dem Röntgen der Handknochen sowie Messungen von Schädel und Kör-
120 Vgl. Klineberg: Negro Intelligence, Diagramm 5 und 6, S. 26-27. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint sich Klinebergs Vertrauen in psychologische Tests noch verstärkt zu haben. 1950 schlug er vor, staatliches Führungspersonal und Teilnehmer internationaler Konferenzen obligatorischen Test zu unterwerfen, um nur psychisch stabile, konfliktfähige Individuen in die politische Weltarena zu schicken. Er wies darauf hin, dass die nationalsozialistische Führungsspitze durch eine solche Prozedur hätte ausgelesen werden können. Vgl. o. A.: Program of the Fifty-Eighth Annual Meeting, S. 309; o. A.: Psychological Tests for Leaders Urged; Klineberg: Role of the Psychologist, S. 13-14. 121 Boas an Stern, 30. Oktober 1934, PCFB. 122 Boas: Mind of Primitive Man, S. 115-116; vgl. Cole: Franz Boas (1999), S. 52. 123 Boas an Hildreth, 2. Dezember 1937, PCFB; Hildreth: Resemblance of Siblings in Intelligence. 124 Boas an Hildreth, 12. Mai 1938; Hildreth an Boas, 16. Mai und 20. Oktober 1938, PCFB. 125 Boas an Committee of Grants-in-aid des CRSS, 19. Januar 1940, PCFB.
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perhöhe – beauftragte Boas zwei Mediziner, seinen Schwiegersohn Nikolai Michelson und den emigrierten deutschen Gynäkologen Wilhelm Nußbaum.126 Als im Herbst 1940 statistische Ergebnisse für die Lincoln School vorlagen, war die Überraschung groß, denn sie zeigten eine deutliche Parallele zwischen Statur bzw. Reifungsstufe einerseits und Intelligenzfortschritt andererseits. Körperliches und geistiges Wachstum korrelierten individuell in so unerwartetem Ausmaß, dass Boas sich und seinen Mitarbeitern eine Nachprüfung des gesamten anthropometrischen Materials verordnete und Rat von Experten einholte.127 Das Problem sah er eindeutig nicht bei den IQ-Tests, deren wohl definierte Aussagekraft er in Science noch einmal unterstrich: »Although I am fully conscious of the limited significance of the intelligence quotient, it may be said that it is an expression of maturity and of intelligent use of experience, and in this sense significant in a group that has essentially the same range of experience.«128 Zugleich interpretierte er diese Irritation als Auftrag zu weiterer, umfassender Forschung, die mehrere Jahre in Anspruch nehmen würde. Es ging um nichts weniger als zu zeigen, »in how far there is any justification of proclaiming that every family line of a certain biological group must have the same mental characteristics. The evidence for this point can easily be obtained, but it takes time to get the data«.129 Diese Zeit bekam Boas aber nicht mehr, denn Ende 1940 stellte die Carnegie Institution ihre Förderung ein. Diese Episode am Ende seines Lebens verdeutlich noch einmal, dass biologische Universalien einschließlich der Vererbung in Boas’ Anthropologie einen festen Platz hatten. Seine Kritik an biologischen Determinismen ging nicht so weit wie die des Behavioristen John Watson, der menschliches Verhalten durch gezielte Stimulation für weitgehend modellierbar hielt. Watson sah schlichtweg »no sense to the question of the inheritance of talent«.130 Eine solch radikale 126 Daten wurden zudem in zwei weiteren Reformschulen, und, zum Vergleich der jüdischen Schüler, im Hebrew Orphan Asylum erhoben, das die körperliche, psychische und schulische Entwicklung ebenfalls minutiös dokumentierte. Boas an Hildreth, 13. Juni 1938; Hildreth an Boas, 24. Mai und 20. November 1939; Michelson an Boas, 31. Mai und 18. Juli 1939; Boas an Lionel J. Simmonds, 26. Oktober 1939, Boas an Philip M. Hayden, 4. März 1940, PCFB; Boas an Hayden, 16. Oktober 1939, CUA, CRSS, Ser. III, Box 6, Folder 15. 127 Boas an Frederick Keppel, 4. Oktober 1940, Michelson an Boas, 20. Oktober 1940; Boas an Nußbaum, 11. November 1940; Wilton M. Krogman an Boas, 13. November 1940, PCFB. 128 Boas: Relation Between Physical and Mental Development, S. 341. 129 Boas an Frederick Keppel, 4. Oktober 1940, PCFB. 130 Watson: Behaviorism, S. 78.
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Absage formulierte Boas nie und widersprach Watson an verschiedenen Stellen explizit: »The mental activities of a family of idiots will not, even under the most favorable conditions, equal those of a highly intelligent family.«131 Unter konsequenten Behavioristen war »psychology without heredity« 132 nicht nur denkbar, sondern Voraussetzung für gute Wissenschaft – es sei an Kantors einleitende Kritik der biologischen Metaphysik erinnert. Dagegen betonte Boas (und mit ihm Klineberg) immer wieder, dass er Erblichkeit für das psychische Profil von Individuen, Familien und sogar von isolierten »inbred groups« für relevant hielt und die organische Basis intelligenten Verhaltens anerkenne.133 In seiner presidential address von 1931 wandte er sich ausdrücklich gegen einen überzogenen Environtalismus: The claim that only social and other environmental conditions determine the reactions of the individual disregard the most elementary observations, like differences in heart beat, basal metabolism or gland development; and mental differences in their relation to extreme anatomical disturbances of the nervous system. There are organic reasons why individuals differ in their mental behavior.134
In solchen Bekenntnissen zur Biologie des Verhaltens kann man eine problematische Inkonsequenz der boasianischen Kulturlehre sehen oder ein taktisches Zugeständnis im Rahmen der »politics of coexistence« zwischen beiden Lagern.135 Man kann aber auch einem späten Hinweis Otto Klinebergs folgen, demzufolge die Biologie für das allgemein Menschliche steht, das Relativismus mit universalem Humanismus zusammenhält.136 Dann erklärt sich das Nebeneinander von Kulturrelativismus und erblicher Variation aus dem Paradox des gleichverschiedenen Menschen.
131 Boas: Anthropology and Modern Life, S. 48; vgl. ders.: Fallacies of Racial Inferiority, S. 682; dagegen Gillette: Eugenics and the Nature-Nurture Debate, S. 113-114. 132 Kuo: Net Result. 133 Boas: What is a Race?, S. 27; ders.: Race (1938), S. 119; ders.: Evidence on the Nature of Intelligence, S. 144-145; Klineberg: Race Differences, S. 154; ders.: Rez. Porteus: Primitive Intelligence and Environment, S. 282; ders.: Social Psychology, S. 303; ders.: Race Differences (1950), S. 465; vgl. Degler: Search of Human Nature, S. 185-186. 134 Boas: Race and Progress, S. 4. 135 Barkan: Retreat, S. 108. 136 Klineberg: Personal Perspective, S. 37-38.
4. Ein Quantum Differenz: Boasianische Psychometrie und moderater racialism
Die Erfolgsgeschichte des boasianischen Antirassismus ist in postrassistischer Lesart häufig als manichäischer Zweikampf zwischen humanistischer Vernunft und weißem Suprematismus erzählt worden. Die wissenschaftliche Literatur spiegelt die weltanschauliche Polarisierung der US-amerikanischen Gesellschaft dabei als personalisiertes Spektakel der akademischen Hassbeziehung zwischen Franz Boas und Madison Grant.1 Auf einer anderen Ebene bildet das weltpolitische Drama nationalsozialistischer Rassenpolitik den Hintergrund des »retreat of scientific racism« (Elazar Barkan), des paradigmatischen Umbruchs von der Rassenbiologie zur sozialwissenschaftlichen Kulturanalyse, der nach dem Zweiten Weltkrieg eine globale Neuordnung des Wissens vom Menschen ermöglichte und »Rasse« als Leitbegriff der life sciences delegitimierte. Beide Versionen machen wichtige Dynamiken deutlich, greifen aber insofern zu kurz, als sie den Erfolg des Antirassismus über die Demontage seiner spektakulären Gegner erzählen, ohne komplementär zu fragen, wie er sich im Alltag der kleinen, wiederholten Verknüpfungen von wissenschaftlichen Aussagen bewährte. Das folgende Kapitel wird der Wirkungsgeschichte der boasianischen Psychometrie auf der Ebene von Rezensionen und rhetorischen Manövern nachgehen, die das Fortbestehen eines entschärften Rassismus dokumentieren.
Im Zweifel für die Soziologie Hatte sich Franz Boas um 1920 an einem Tiefpunkt seines institutionellen Einflusses befunden, sah die Lage zehn Jahre später völlig anders aus. 1931 über1
Vgl. Gillette: Eugenics and the Nature-Nurture Debate, S. 112; Spiro: Defending the Master Race, S. 297-304.
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nahm sein Gefolgsmann Robert Lowie den Vorsitz der Division of Anthropology and Psychology im National Research Council, und Boas war in diesem Jahr Präsident der American Association for the Advancement of Science. Die presidential address, die er am 15. Juli 1931 in Pasadena vortrug, handelte von dem aktuellen Thema Rassenmischung und -antagonismus. Er nutzte die Prominenz des Augenblicks für eine Bilanz in der Frage der Rassenintelligenz. Auf der Habenseite der environmentalists referierte er die Hauptpunkte aus Klinebergs Europa-Arbeit und unpublizierte Zwischenergebnisse aus dessen laufender Studie zur Wanderungsauslese. Klineberg habe »defenite evidence« gegen die Selektionshypothese erbracht und damit die Behauptung schwarzer Minderwertigkeit untergraben. Auf der Sollseite der hereditarians führte Boas zwei Ehemalige an, die sich von früheren Aussagen distanziert hatten: Thomas Garth, der kurz zuvor sein Buch Race Psychology veröffentlicht hatte, und Carl Brigham.2 In Pasadena deutete sich ein Motiv der boasianischen Selbsterzählung an, das Otto Klineberg in den folgenden zwei Jahrzehnten zuspitzen und noch in autobiographischen Rückblicken wieder aufnehmen sollte: der prominente Widerrufer.3 Die beachtliche Zahl psychologischer Selbstkritiken hat sicherlich symptomatischen Wert für die konzentrierte Verschiebung wissenschaftlicher Wahrheiten über Intelligenz, aber Klineberg suggerierte durch retrospektive Vereinfachung eine kausale Beziehung zwischen den Gegenbeweisen der boasianischen Psychometrie und der Aufgabe hereditärer Positionen zugunsten eines progressiven Kulturalismus. Diesen Zusammenhang kann man in der Tat bei Thomas Garth sehen, dessen langsame Konversion zum environmentalism mit einer aktiven Hinwendung zur Kulturanthropologie und Aneignung boasianischen Wissens einherging. Er zitierte vielfach aus boasianischen Arbeiten und würdigte Boas 1936 als große Führungspersönlichkeit der Wissenschaft.4 Für Carl Brighams Widerruf spielten die Argumente der Anthropologen dagegen keine erkennbare Rolle. Interessanter liegt der Fall bei Howard Odum, der in den 1920er Jahren in Chapel Hill (North Carolina) das erste moderne Soziologie-Institut der Südstaaten aufbaute und neben Brigham Klinebergs zweiter Kronzeuge war.5 Wie 2
Boas: Race and Progress, S. 5-6.
3
Klineberg: Social Psychology, S. 298, S. 302-303 (Brigham, Odum); ders.: Race Differences (1950), S. 460-461 (Odum, Brigham, Goodenough); ders: Personal Perspective, S. 43.
4
Garth an Boas, 18. November, 3. und 23. Dezember 1931, PCFB; ders.: Review of Race Psychology; ders.: Race Psychology, S. 38-39, 79, Anm. 1, 87, 110-111; ders.: Study of the foster Indian child; vgl. auch Richards: Reconceptualizing S. 21, 23.
5
Vgl. Singal: War Within, S. 115-152; Brazil: Howard W. Odum.
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Thomas Garth war Odum einer jener Südstaatler, die im Norden ihre akademische Ausbildung erhielten. 1910 hatte er an der Columbia University zum Thema Social and Mental Traits of the Negro promoviert. Seine Dissertation kann als rassenpsychologischer Gründungstext gelten, obwohl sie noch nicht psychometrisch oder experimentell vorging, sondern sich auf unsystematische Beobachtungen des Autors und allgemeine Empfindungswerte der weißen Mittelklasse stützte, um bekannte Stereotype der schwarzen Psyche zu bestätigen.6 Unmittelbar darauf begann Odum seine Haltung aber zu revidieren, als er für die Kommunalverwaltung von Philadelphia Empfehlungen für die Beschulung afroamerikanischer Kinder erarbeitete. Unter Berufung auf Boas’ Mind of Primitive Man betonte er nun neben der biologischen auch die historisch-kulturelle Dimension schwarz-weißer Differenzen.7 Odum gehörte zu jenen Southern liberals, die eine Modernisierung der Südstaaten für unausweichlich hielten, sich aber gegen Belehrungen von Yankees verwahrten, die den Süden nicht zuletzt wegen seiner primitiv-gewalttätigen »race relations« pathologisierten und sozialtechnologische Entwicklungshilfe für nötig hielten.8 In den 1920er Jahren vertrat er gegen das klerikalkonservative Establishment die Auffassung, vermeintlich rassisch determiniertes Verhalten sei als Produkt sozialer Interaktionen zu verstehen. Seine Mitarbeiter forschten beispielsweise über Lynchjustiz und den Ku Klux Klan. Guy B. Johnson, der in Chicago bei Robert Park studiert hatte, spezialisierte sich als einer der ersten weißen Wissenschaftler im Süden auf das Thema Rassenbeziehungen.9 In der von Odum gegründeten Fachzeitschrift (Journal of) Social Forces publizierten anfänglich auch Boasianer wie Melville Herskovits und Alexander Goldenweiser, ohne dass Odums Werben um Boas auf Resonanz stieß. 10 Boas’ Reserviertheit erklärt sich vielleicht daraus, dass die Odumianer den Rassismus der Südstaaten als historisch gewachsene Kulturform, als sozialpsychologische Determinante deuteten, die zur Folklore der Region gehöre und nicht mechanisch – durch gesetzliche Gleichstellung –, sondern nur durch behutsame Entwicklung zu verändern sei.11 Man kann Odum daher als einen Reformer sehen, der das in seiner Macht Stehende tat, um die Südstaatengesellschaft zu 6
Vgl. Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 78-81.
7
Odum: Negro Children in the Public Schools, S. 206.
8
Vgl. Rose: Putting the South on the Psychological Map, S. 338; Jackson: Gunnar Myrdal, S. 237-238.
9
Vgl. Singal: War Within, S. 317-318.
10 Herskovits/Willey: Note on the Psychology of Servitude; Goldenweiser: Race and Culture; Odum an Boas, 11. Mai 1925; Boas an Odum, 15. Mai 1925, PCFB. 11 Vgl. Singal: War Within, S. 148; Brazil: Howard W. Odum, S. 501-504.
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kritisieren und Lebensbedingungen für Schwarze (und arme Weiße) zu verbessern, oder aber seine Soziologisierung der Rassenbeziehungen als einen Kniff verstehen, mit dem sich alte Unterscheidungen unter neuem Etikett aufrecht erhalten ließen.12 Diese Ambivalenz kennzeichnet auch ein Statement, das Klineberg dennoch geradlinig in die Tendenzwende um 1930 einordnete. 1937 erklärte Odum in seinem Artikel The Errors of Sociology, Rasse sei kein biologischer Tatbestand, sondern ein »product of long-developed folk-regional culture«.13 Man könnte dieses Dokument, anders als Klineberg es tat, auch als Bilanz eines seit den 1910er Jahren entwickelten antiegalitären, kulturkritischen Relativismus deuten14, der rassenbiologische Positionen aufgeben konnte, ohne die gesellschaftspolitische Vision der boasianischen Anthropologie zu teilen. Zwei Jahre vor Odums Errors of Sociology, 1935, distanzierte sich die Psychotesterin Florence Goodenough, eine weitere Referenz von Klineberg, von früheren Essentialisierungen. In einem Vortrag in der anthropologischen Sektion der AAAS sprach sie Intelligenz- und Persönlichkeitstests die Fähigkeit ab, verborgene innere Qualitäten zu messen, und unterstrich die Verschiebungen, die unterschiedliche kulturelle Voraussetzungen der Probanden erzeugten.15 Doch sowohl in diesem Vortrag als auch in einem Artikel von 1950, in dem sie kulturneutrale Tests als Illusion bezeichnete und sich für ihre frühere Naivität entschuldigte, schwieg sich Goodenough über den Anteil der Anthropologen an dieser Kehrtwende aus.16 Zudem betonte sie 1935, die Suche nach psychischen Rassenunterschieden sei trotz dieser Korrekturen nicht obsolet geworden. Man müsse sich auf faktisch Messbares, kulturell Ungetrübtes beschränken, etwa auf das Verhalten von Säuglingen oder auf Fragen der Empfindung und Wahrnehmung, die mit den sensomotorischen Forschungen um 1900 keineswegs erledigt seien.17 Für diese Aufwertung der »lower mental functions« steht auch Garth, der weiter zu Umwelteffekten forschte, sich zugleich aber verstärkt Phänomenen wie der Farbenblindheit zuwandte, bei der man Umwelteinflüsse weitgehend ausschließen könne.18 Ein weiterer, wenn auch weniger prominenter Kandidat für Klinebergs Liste der Widerrufer wäre Morris Staggerda gewesen, Charles Davenports Feldarbei12 Vgl. Singal: War Within, S. 315-317; Brazil: Howard W. Odum, S. 401-407, 447-448; Rose: Psychology and Selfhood, S. 106-108. 13 Odum: Errors of Sociology, S. 337. 14 Vgl. Gilkeson: Anthropologists, S. 60. 15 Goodenough: Measurement of Mental Functions, S. 7-9, 11. 16 Goodenough/Harris: Studies in the Psychology, S. 399. 17 Goodenough: Measurement of Mental Functions, S. 2, 9. 18 Garth: Color blindness and race.
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ter bei der Jamaica-Studie und sein Nachfolger in Cold Spring Harbor. Während sich Davenport nicht zuletzt durch seine Kontakte nach Nazi-Deutschland zunehmend isolierte19, wirkte Staggerda tatkräftig an der Revision des racial testing mit. In Kooperation mit dem Teachers College unterzog er 1935 die in Jamaica gesammelten Daten einer Neuinterpretation und kam zu dem Ergebnis, die Lebensumstände der nichtweißen Bevölkerung seien für ihr schlechteres Abschneiden in psychologischen Tests verantwortlich.20 In zwei andere Studien mit indianischen Kindern arbeitete er die kulturellen Grenzen solcher Tests heraus.21 Eine Untersuchung zur Reaktion auf den Bitterstoff PTC erbrachte, dass »races differ in their expressiveness toward the taste of PTC«. Unter Verweis auf Otto Klineberg deutete er die stärkere Reaktion weißer Probanden im Vergleich mit dem stoischen Weiterkauen der Navajo als kulturell geprägte Ausdruckskontrolle, die es unmöglich mache, die Schwelle der PTC-Wahrnehmung exakt zu bestimmen. Staggerda hielt daran fest, dass Rassenunterschiede existierten, aber er betonte nun »the difficulties of racial testing and the extreme delicacy of the effects of environment«.22 Goodenough, Garth und Staggerda repräsentieren einen Trend von überdeterminierten Stichproben auf »rassische« Merkmale hin zur Untersuchung von diskreten genetischen Markern in unterschiedlichen Populationen. Doch auch die Populationsgenetik operierte nicht mit »unschuldigen« Differenzen und orientierte sich mehr oder weniger subtil an rassischen Kategorien23, obwohl sie in der diskursiven Situation der 1930er Jahre dabei half, die Rede über biologische Humandiversität von Aussagen über »innere Werte« und Kulturfähigkeit zu entkoppeln. In den Sozialwissenschaften lässt sich eine ähnliche Modifikation, Verfeinerung und Entdramatisierung beobachten, die ebenso wenig als Verabschiedung von Rasse missverstanden werden sollte. Die aufstrebenden social sciences mussten ein Interesse daran haben, biologische Interpretationen von Rasse zu entwerten, und dafür lieferten die Boasianer Munition. Allerdings wurden nur wenige Soziologen konsequente Kulturalisten. Oft blieb es bei terminologischen Verschiebungen, etwa von »evolution« zu »change« oder »race« zu »culture«.24 19 Vgl. Barkan: Retreat, S. 166-167; Tucker: Funding of Scientific Racism, S. 31-32. 20 Curti/Marshall/Staggerda/Henderson: Gesell Schedules, S. 154-155. 21 Staggerda: McAdory Art Test; Curti/Staggerda: Preliminary Report. 22 Staggerda: Testing Races, S: 309-310; zu PTC als »racial marker« vgl. Kevles: In the Name, S. 196-197. 23 Vgl. Lipphardt: Isolates and crosses. 24 Vgl. Gilkeson: Anthropologists, S. 42. Zur Rezeption der boasianischen Kulturanthropologie bei Soziologen, in der New History und bei public intellectuals vgl. ebd., S. 39-60.
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Das Veränderungspotenzial solcher semantischen Konversionen ist zwar nicht zu unterschätzen, aber in der Tat blieb die sozialwissenschaftliche Kritik am Rassismus ihrerseits Determinismen verhaftet. Was exemplarisch in Hinblick auf Robert Park beschrieben worden ist, lässt sich auf die sozialwissenschaftliche Bearbeitung der race relations im Allgemeinen ausdehnen.25 Park hatte durchaus ein Verständnis von »Rasse« als sozial hergestelltem, dynamischem Phänomen, aber es war durchsetzt von essentialisierenden Annahmen, die Unterscheidungen als Unterschiede interpretierten. So kontingenzbewusst und analytisch er einerseits argumentierte, übernahm er andererseits die Behauptung eines jeweils typischen Rassegeruchs, der in antagonistischen Rassebeziehungen zum Marker werde. Er veranschaulichte dies an den Vorbehalten von Indern gegenüber Engländern, verortete »race prejudice« also ausgerechnet bei der unterlegenen Partei einer imperialistischen Konstellation.26 Park wie auch sein Schüler Edward B. Reuter charakterisierten den Typus des Rassenmischlings als »unadjusted person«, die aufgrund von Indentitätsunsicherheit und Anerkennungsdefiziten in der weißen Gesellschaft ständig von psychischer Instabilität bedroht sei.27 Über afroamerikanische Intellektuelle (die er zum Teil selbst ausgebildet hatte) wusste Park zu sagen, als Rassenmischlinge seien sie »keenly aware of the defects of the Negro, but because their status is so intimately bound up with his, they are not able to view these defects with the same objectivity and tolerance as the white man does«.28 Park brauchte keine Gene, um rassetypisches Verhalten zugunsten der weißen Deutungselite zu interpretieren, der er selbst angehörte. Man kann so weit gehen zu sagen, dass sich im Spannungsfeld zwischen hereditarians und environmentalists ein moderates juste milieu des Rassedenkens formierte, das sich von radikalen Theoretikern nordisch-arischer Superiorität und von radikalen Rassepraktikern wie dem Ku Klux Klan abgrenzte. Genauso extrem und falsch wie deren Übertreibungen sei aber die vollständige Leugnung erblicher Rasseunterschiede im Namen eines egalitären Humanismus. Mit der Grenzziehung zwischen wissenschaftlicher Sachlichkeit und politisch motivierter Behauptung entstand ein rhetorisches Manövriergelände, auf dem sich Abstand zu Madison Grant wie zu Franz Boas halten ließ. Das Muster hatte der Rassetheoretiker William McDougall vorgegeben, der seine eigene Position 1921 zwischen den Extremen der »race-dogmatists« und 25 Vgl. Williams: Robert Ezra Park; Teo: Historical Problematization of »Mixed Race«, S. 93. 26 Park: Bases of Race Prejudice, S. 17. 27 Reuter: Personality of the Mixed Bloods, S. 215-216. 28 Park: Mentality of Racial Hybrids, S. 545.
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der »race-slumpers« verortete.29 Als Rassendogmatismus kennzeichnete McDougall kurz nach dem Weltkrieg die auf Gobineau zurückgehende deutsche Rasseliteratur, namentlich Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Houston Stewart Chamberlain mit ihrem politischen Ziehsohn Wilhelm II. Ihr nordischer Dogmatismus habe zu kriegerischer Aggression und Antisemitismus geführt, dem Autoren wie Friedrich Hertz und Ignaz Zollschan »a temperate and successful defense of the racial value of the Jew« entgegengesetzt hätten. Madison Grants Position stellte er als »less extreme and more defensible form of this racetheory« vor.30 Auf der anderen Seite stehen bei McDougall die Leugner Jean Finot, John Oakesmith und John M. Robertson, allesamt keine Wissenschaftler, sondern politische Schriftsteller, die in vernünftigen rassischen Unterscheidungen immer nur Vorurteile am Werk sähen.31 Der Name Boas fiel bei McDougall noch nicht, aber er avancierte in den nächsten Jahren zum Statthalter der Rassenleugner. Stanley Porteus beanspruchte für sich 1926 den vernünftigen »middle ground« zwischen extremen Rassedogmatikern wie Gobineau oder Grant und dem aus seiner Sicht ebenso extremen Rasseleugner Franz Boas.32 1927 grenzte sich der Genetiker Edward East von »extreme advocates of racial determinism« wie Gobineau, Chamberlain und Grant ab, um die Arbeit von Forschern wie Galton, Pearson, Davenport, Conklin, Lenz und Ploetz hochhalten zu können. Nicht hilfreich seien politisch motivierte Interventionen von Kulturanthropologen wie Boas, die von Genetik keine Ahnung hätten.33 Ähnliches trifft auf den Soziologen Frank H. Hankins mit seinem 1926 erschienenen Buch The Racial Basis of Civilization zu, das den Nordismus eines Madison Grant scharf attackierte. Im selben Jahr zog sich Hankins aus der eugenischen Bewegung zurück, er gilt daher als ein wichtiger Rassismuskritiker dieser Zeit.34 Er hielt aber an der Annahme fest, es gebe angeborene intellektuelle und Temperamentsunterschiede zwischen den Rassen, aus denen sich verschiedene »cultural powers« ableiteten.35 Er kritisierte Boas dafür, dass dieser mit der Plastizität des Rassetypus jede Wertigkeit der Rassen über Bord werfe. 1932 29 McDougall: Is America Safe, S. 27-31. 30 Ebd., S. 25-28. 31 Ebd., S. 29; vgl. Gossett: Race, S. 412-415. 32 Porteus/Babcock: Temperament and Race, S. 306. 33 East: Heredity and Human Affairs, S. 160-161, zur Einwandererstudie S. 201-204; zu East vgl. Barkan: Retreat, S. 146-148. 34 Vgl. Spiro: Defending the Master Race, S. 332; dag. Degler: Search of Human Nature, S. 193-196. 35 Hankins: Racial Basis of Civilization, S. 322.
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rezensierte er lobend Porteus’ Psychology of a Primitive People, 1935 nahm er am zweiten Internationalen Bevölkerungskongress in Berlin teil, 1944 hielt er Otto Klineberg vor, die vollständige Leugnung psychischer Rassenunterschiede sei tendenziös.36 Trotzdem empfahl Boas The Racial Basis als grundlegende Literatur gegen rassistische Pseudowissenschaft.37 Hankins, der über Adolphe Quetelets statistische Methode promoviert hatte, propagierte einen quantifizierenden Rassebegriff, der die Gleichheit aller Menschen im Blick behielt: Since all men are human and all races possess all human traits, every comparison of races must be made on the basis of racial norms or averages and the range of variation thereabout. […] Racial differences are, consequently, those of relative quantitative frequency in a statistical distribution, rather than differences of kind. They are differences of degree only.38
Wie viele andere racial moderates um 1930 argumentierte Hankins aus einer Normalverteilungslogik heraus gegen absolute qualitative Rassendifferenzen – umgekehrt zur Rassenpsychologie in Deutschland, wie noch zu zeigen sein wird. In diesem Sinne äußerte sich auch der prominente Testpsychologe Rudolf Pintner 1934 im Journal of Negro Education: Die Diskrepanz zwischen schwarzen und weißen Leistungen sei in allen Tests so stabil, dass es zu simpel wäre, sie bloß den Umweltdifferenzen zuzurechnen. Verbesserte Bildungschancen könnten die Leistungen der Schwarzen verbessern, einholen könnten sie die Weißen aber nicht. Allerdings seien die vielen Individuen, die den weißen Durchschnitt erreichten oder übertrafen, als wertvolles Humankapital zu betrachten.39 Im selben Heft des Journal berichtete der Herausgeber Charles S. Thompson über die Ergebnisse einer Studie, die 1929/30 im Anschluss an den Internationalen Psychologenkongress stattgefunden hatte. Sie galt der Frage, ob neuere Untersuchungen die angeborenen mentalen Fähigkeiten von Schwarzen überzeugend nachgewiesen hätten. Es nahmen 77 Psychologen, 30 Erziehungswissenschaftler sowie 22 Soziologen und Anthropologen teil, darunter Carl Brigham, Thomas Garth, Nathaniel Hirsch, William McDougall, Joseph Peterson, Rudolf 36 Ebd., S. 323-325, 355-357; ders.: Rez. Porteus: Psychology of a Primitive People; ders.: Rez. Klineberg (Hg.): Characteristics, S. 254-255; vgl. Kühl: Internationale der Rassisten, S. 133. 37 Boas an Helen R. Bryan, 28. Juni 1933; an New School of Social Research, 10. September 1937, PCFB; vgl. auch Lowie: Rez. Hankins: Racial Basis. 38 Hankins: Racial Basis of Civilization, S. 301, auch S. 322. 39 Pintner: Intelligence Differences Between American Negroes and Whites, S. 517-518; vgl. bereits ders.: Intelligence Testing, S. 345.
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Pintner, Sidney Pressey, Lewis Terman, Robert Woodworth und Robert Yerkes bei den Psychologen sowie Charles Davenport, John Dewey, Franz Boas, Howard Odum, William Ogburn und Edward Reuter in den anderen Disziplinen. 62 Prozent der Befragten hielten die jüngeren Forschungsergebnisse für »inconclusive«, jeweils 19 Prozent sahen den Nachweis für Unterlegenheit bzw. Gleichheit erbracht, wobei die Gewichtung in der Gruppe der Soziologen und Anthropologen mit einem Verhältnis von 57:5:38 vom Durchschnitt deutlich zugunsten der Gleichheit abwich. Die anonymisierten Antworten zeigen zudem, dass auch manche hereditarians Zweifel am wissenschaftlichen Nachweis schwarzer Inferiorität hatten, während diese Skepsis insgesamt nicht dazu führte, die Erforschung von Rassenunterschieden per se zu verabschieden: »I do not believe there is any such thing as race superiority or inferiority in general, but there are undoubtedly a great many race differences, only a few of which have been adequately investigated.«40 Diese Ergebnisse zeigen vermutlich recht zuverlässig, dass Zweifel an der wissenschaftlichen Tragfähigkeit des racial testing konsensfähig wurden. Man konnte grundsätzlich an der Bedeutung rassischer Unterschiede festhalten und gleichzeitig zugestehen, dass erbliche Faktoren zu komplex seien, um sie mit Tests zu erfassen.41 Dabei konnte die boasianische Position weiterhin als überzogen marginalisiert werden. Thompsons Resümee lautete: »[T]wo small minorities representing extreme and opposing points of view conclude that the data show the American Negro to be ›inferior,‹ or ›equal‹, to the American white. In both instances these conclusions are the result of logical inference rather than definite experimental proof.«42 Ein Objektivismus, der den Beweis des nicht Beweisbaren einforderte, hielt im Mainstream des Skeptizismus die Tür zunächst offen für die weitere Beforschung rassischer Intelligenzunterschiede. Obwohl der Zweifel weniger rassische Differenzen an sich als deren Beweisbarkeit betraf, darf man sagen, dass die boasianische Psychometrie, direkt oder indirekt, mit Erfolg Unruhe in der Soziologie und der Psychologie stiftete. Eine weitere Verschiebung in der Nature-nurture-Debatte ging dagegen ohne erkennbares Zutun der Kulturanthropologen von der genetischen Zwillingsforschung aus. Zu nennen ist hier die Gruppe um den Chicagoer Zoologen Horatio H. Newman, die seit Mitte der 1920er Jahre gemeinsam und getrennt aufgewachsene Zwillingspartner untersuchte. Dass Boas ihn 1933 in einem Atemzug mit deutschen und amerikanischen Rassisten wie Hans F. K. Günther, Otto Reche, Walter Scheidt, Theodor Mollison, Theodore Lothrop Stoddard und Charles 40 Thompson: Conclusions of Scientists, S. 501. 41 Nissen/Machover/Kinder: Study of Performance Tests. 42 Thompson: Conclusions of Scientists, S. 512.
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Davenport nannte, war wohl seiner hereditär-eugenischen Reputation geschuldet, die zu Beginn der 1930er Jahre aber schon nicht mehr seinen wissenschaftlichen Output repräsentierte.43 Newman arbeitete mit dem Statistiker Karl J. Holzinger und dem educational psychologist Frank N. Freeman als Testexperten zusammen, der an den Zwillingspartnern Serien der gebräuchlichsten Intelligenz- und Persönlichkeitstests durchführte, aber auch Dodds neuen, »kulturneutralen« International Test. Freeman hatte bereits 1926 in einem Überblickswerk seine Skepsis gegen Brighams Deutung des Army Screening geäußert und Erziehung als wichtigen Faktor geistiger Leistungen hervorgehoben.44 1928 veröffentlichte er gemeinsam mit Holzinger und Blythe C. Mitchell eine breit rezipierte Studie zur intellektuellen Entwicklung von Adoptivkindern, die den prägenden Einfluss der Umwelt nun auch empirisch untermauerte.45 Die Ergebnisse der einzelnen Paarstudien veröffentlichte Newman ab 1929 im Journal of Heredity.46 1937 fassten die Gruppe ihre Ergebnisse in der Monographie Twins: A Study of Heredity and Environment zusammen, die sich sofort als Referenzwerk der Nature-nurture-Debatte etablierte. Darin hieß es: »It appears that educational and social changes in environment are effective in producing variations in such traits as intelligence and school achievement«, in geringerem Maß auch bei Persönlichkeitszügen.47 Der boasianischen Position entsprach nicht nur die Formbarkeit psychischer »Merkmale«, sondern auch die Vorsicht gegenüber definitiven Schlussfolgerungen oder der Möglichkeit, Anteile von Erblichkeit und Umwelt gewichten zu können. Otto Klineberg schätzte Freemans Arbeit und führte im Anschluss an ihn eine kleine empirische Studie an Kindern des New Yorker Hebrew Orphan Asylum durch, die den Zusammenhang von Lebensbedingungen und Intelligenzleistungen wiederum bestätigte.48 Es fällt daher auf, dass sich Franz Boas zwar zustimmend, aber nur distanzierend knapp auf Twins bezog und andere psychologische Zwillingsstudien als Referenz bevorzugte, etwa die von Lancelot Hogben, linker Soziobiologe an der London School of Economics, und der sow43 Boas an Felix Warburg 9. Oktober 1933, PCFB; vgl. Kevles: In the Name, S. 141. 44 Freeman: Mental Tests, S. 459-475. 45 Freeman/Holzinger/Mitchell: Influence of Environment; vgl. ders.: Evaluation of the evidence. 46 Newman: Mental and Physical Traits. 47 Newman/Freeman/Holzinger: Twins, S. 349; vgl.: Fancher: Intelligence Men, S. 162168. 48 Lithauer/Klineberg: Study in the Variation, S. 236; vgl. Kevles: In the Name, S. 140, S. 336, Anm. 27.
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jetischen Psychologin Anna Mirenova aus dem Umfeld von Aleksander Luria.49 Vielleicht war es ein Langzeiteffekt dieser Reserviertheit gegenüber Newmans Gruppe, dass in der neu aufgelegten Intelligenzkontroverse der 1970er und 1980er Jahre die boasianische Psychometrie, Otto Klinebergs Pionierstudien inklusive, für das environmentalistische Argument nur eine verschwindende Rolle spielte.50 Ende der 1930er Jahre sah das anders aus, und Boas konnte es sich leisten, auf eine solche Allianz zu verzichten.
Otto Klinebergs Psychometrie in der Diskussion In zwei autobiographischen Rückblicken zitierte Otto Klineberg einen nicht zu ermittelnden Rezensenten, der sein Buch Negro Intelligence als verstecktes Dynamit bezeichnet hatte. Klineberg spielte solche Aussagen gleich wieder herunter – vor ihm hätten schon andere Psychologen das racial testing hinterfragt, er sei lediglich einer der ersten gewesen, die diese Kritik auf eine empirische Basis stellten.51 Psychologie- und Wissenschaftshistoriker, die seit den 1990er Jahren an einer kritischen Geschichte der Rassenpsychologie schreiben, verorten die Wirkung seiner Texte ebenfalls in einer wissenssoziologischen Umbruchsituation. Sie stellen Klineberg affirmativ bis emphatisch als denjenigen vor, der mit seiner Forschungsarbeit dem psychologischen Rassismus den entscheidenden Schlag versetzt habe. Andererseits führen sie den Paradigmenwechsel um 1930 nicht in erster Linie auf neue empirische Befunde, sondern die linke Politisierung der Sozialwissenschaften durch Angehörige ethnischer Minderheiten zurück.52 Klinebergs antirassistische Psychometrie fand in einem größeren diskursiven
49 Boas: Heredity and environment, S. 90; ders.: Race (1938), S. 119; ders.: Mind of Primitive Man (1938), S. 128; skeptisch bereits in: Boas an Max Warburg, 9. Oktober 1930, PCFB. 50 Bei Leon Kamin und Stephen Jay Gould spielt er keine Rolle; erwähnt wird er in Block/Dworkin (Hg.): I.Q. Controversy, S. 236 (Beitrag David Layzer); Blum: Pseudoscience and Mental Ability, bezieht sich pauschal auf die Boasianer, S. 65, 102. 51 Klineberg: Otto Klineberg, S. 168, ders.: Reflections, S. 42; ders.: Personal Perspective, S. 39; ders. in: Kevles: In the Name, S. 138. 52 Vgl. Murphy: Gardner Murphy, S. 123; Degler: Search of Human Nature, S. 179-186, 200-201; Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 127-131; Jackson: Social Scientists, S. 20-23; Spiro: Defending the Master Race, S. 324; Carson: Measure of Merit, S. 261; zurückhaltend: Fancher: Intelligence Men, S. 130-131; Samelson: From »Race Pschology«, S. 271-273; Cravens: Triumph, S: 223 (»Klineburg«).
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Umschichtungsprozess statt. Erst die mehrjährige, vielstimmige Diskussion über die Probleme des racial testing53 hatte das Umfeld geschaffen, in dem seine Empirie eine neue Dynamik anstoßen konnte. Klineberg agierte, unter Boas’ unbedingter Rückendeckung, mit einer wohldosierten Mischung aus guter Arbeit und Wille zur Wirkung, als Nachwuchswissenschaftler die Chancen nutzend, originelle Forschungsergebnisse zu präsentieren54 und Kontakte zu knüpfen, später mit der nötigen Redundanz und ohne Scheu vor rhetorischer Zuspitzung. Um 1930 wurden seine ersten Arbeiten – Yakima-Aufsatz, Dissertation und Europa-Studie – von Wissenschaftlern mit Umweltorientierung wahrgenommen, konnten aber von hereditarians, die zum gleichen Thema forschten, noch ignoriert werden.55 Für die beiden 1935 erschienenen Monographien Negro Intelligence und Race Differences traf das nicht mehr zu. Sie erzeugten beträchtliche Resonanz bei Soziologen, Psychologen und Anthropologen, in Fachzeitschriften für sozialtherapeutische Praktiker, aber auch in der New York Times, etwas später vereinzelt in biowissenschaftlichen Fachzeitschriften.56 Ab Ende der 1930er Jahre avancierten sie zu Expertenwissen, das direkt in politische Zusammenhänge einfloss. Auf Race Differences stützte sich, neben einschlägige Werke von Thomas Garth, Frank Freeman und Anne Anastasi, 1938 ein offizieller Protest des Verbands amerikanischer Sozialpsychologen gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung.57 In den Schulprozessen der 53 Empirisch: Shimberg: Investigation into the validity; Jamieson/Sandiford: Mental Capacity of Southern Ontario Indians; programmatisch: Witty/Lehman: Racial Differences; Estabrooks: Enigma of Racial Intelligence; Yoder: Present Status. 54 Klineberg: Investigation of psychological differences; Rae: Says Women Rule Minds of Husbands. 55 Ignoriert etwa bei McFarland: Experimental Study; Telford: Test performance of full and mixed-blood North Dakota Indians, S. 144; Pressey/Pressey: Study of the Emotional Attitudes of Indians, S. 416. Zitiert in Garth: Review of Race Psychology; ders.: Race Psychology; Shimberg: Investigation, S. 64-65; Witty/Lehman: Racial Differences; Conrad: Measurement of Adult Intelligence; Cantril: Recent Trends, S. 197; Lorimer/Osborn: Dynamics of Population, Vorwort, S. 115-121, 220-221. 56 Vgl. etwa Rezensionen Negro Intelligence von Cottrell (Am J Soc), Garth (Ann Am Acad, Am Anthr und Am J Psych), Lanier (Psych Bull), Kiser (Milbank Mem), Price (J Negro Edu), Thompson: Selective Migration (Milbank Mem), o. A.: Environment Here Held Aid To Negro (NYT); Rezensionen Race Differences von Cable (J Appl Psych), Reuter (Am J Soc), Garth (Am Soc Rev), Lanier (Psych Bull), Lasker (Pacific Affairs), Park (Ann Am Acad), Malzberg (J Hered), o. A.: Qualities of Race (NYT). 57 Psychologists Protest Nazi Persecution of Jews, Abschrift Science Service, 19. Dezember 1938, PCFB.
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frühen 1950er Jahre sagte Klineberg als expert witness der National Association for the Advancement of Colored People aus und die Ergebnisse von Negro Intelligence wurden im Social Science Statement zitiert, das wiederum in die Urteilsbegründung des Supreme Court einging, als dieser am 17. Mai 1954 segregierte Schulbildung für verfassungswidrig erklärte.58 Dass Klineberg indirekt an diesem Initialereignis der Bürgerrechtsbewegung beteiligt war, lässt in Vergessenheit geraten, dass seine Ergebnisse nach ihrem Erscheinen weniger zwingend und evident erschienen als in der historischen Retrospektive. Den stärksten Widerspruch gab es, wenig überraschend, von orthodox rassistischen Positionen in der Psychologie. Einer der eifrigsten Rezipienten war Stanley Porteus, dessen kritische Diskussion der kulturellen Einflüsse auf Testleistungen Klineberg ausdrücklich würdigte.59 Porteus ließ es sich nicht nehmen, jede einzelne Erwähnung seiner Arbeiten in Race Differences zu kommentieren. Ein weiterer Widersacher, Henry Garrett, kam aus dem Columbia Psychologie-Department. Während er sich zu Beginn der 1930er Jahre, vermutlich unter Zutun seiner Mitarbeiterin Anne Anastasi, noch positiv über Klineberg äußerte, wurde er in den 1950er und 1960er Jahren zum wissenschaftlichen Hauptwortführer gegen die so genannte boasianische Verschwörung.60 Das Gegenteil, vorbehaltlose, enthusiastische Zustimmung, repräsentierte etwa die Rezension des Philosophen Alain Locke, der Negro Intelligence als unanfechtbaren wissenschaftlichen Nachweis für schwarze Gleichbegabtheit pries.61 Historisch aufschlussreich sind vor allem die Reaktionen aus dem moderaten Mainstream. Autoren verschiedener Couleur lobten die methodische Qualität und den Pioniercharakter der Selektionsstudie, die grundlegende Probleme bisheriger Forschung benenne.62 Aber auch wohlwollende Kritiker nahmen sie keineswegs als letztes Wort in der Frage psychischer Rassenunterschiede wahr. Die Reformeugeniker Frank Lorimer und Frederick Osborn gehörten 1934 zu den 58 Vgl. Jackson: Creating a Consensus; ders.: Social Scientists, S. 120, 155-161; Tucker: Science and Politics, S. 141-148. 59 Klineberg: Rez. Porteus: Psychology of a Primitive People; ders.: Cultural Factors, S. 478; ders.: Race Differences, S. 155-162; ders.: Rez. Porteus: Primitive Intelligence; ders.: Social psychology, S. 299, 302. 60 Garrett/Schenk: Psychological Tests, Part Two, S. v, 24, 198, 202, 206, 209-210; Garrett: »Facts« and »interpretations«; ders.: Negro-White Differences, S. 332-333; Klineberg: Reminiscences, CUA, OHRO, S. 50. Vgl. auch Richards: Reconceptualizing, S. 25; Winston: Science in the Service, S. 182-183, 185-186. 61 Locke: Swift Solar Plexus. 62 Kiser: Negro Intelligence and Selective Migration, S. 101; Thomas: Selective Migration, S. 406-407; Staggerda: Testing Races for the Threshold.
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ersten, die sich auf Grundlage von unveröffentlichtem Material, das Klineberg zur Verfügung stellte, seinem Fazit anschlossen, die Daten seien nicht ganz schlüssig, machten selektive Migration aber unwahrscheinlich. Sicherheit könne allerdings nur eine weitere, groß angelegte Studie bringen.63 Zwölf Jahre später befanden zwei Cornell-Psychologen in Science, Klineberg habe die Selektionsthese »largely invalidated«.64 Gegen überzogene Schlussfolgerungen, die den Faktor Auslese ganz ausschlossen, wandte sich auch Benjamin Malzberg, Chefstatistiker des New York State Department of Mental Hygiene, der zwischen 1935 und 1945 mit Boas und Klineberg mehrfach kooperierte.65 Thomas Garth, der Negro Intelligence in gleich drei großen Zeitschriften rezensierte, hielt das Buch für »one of the most conclusive [studies] yet made on negro intelligence«. In Race Differences vermisste er dagegen ein klares Bekenntnis zu experimenteller Sachlichkeit gegenüber der Rede von der Relativität der Werte.66 Enttäuscht von diesem Buch zeigte sich der Soziologe Edward B. Reuter, während dem Politikwissenschaftler Bruno Lasker, selbst ein Vorreiter der »race prejudice«-Forschung, Klinebergs Standpunkt nicht entschieden genug war. Seine Schlussfolgerungen, die Rassenunterschiede theoretisch nicht ausschließen wollten, seien, so Lasker, »noncommittal«.67 Der Kulturanthropologe Willard Z. Park fand Kultur in Race Differences unterbewertet, während der Psychologe Gordon Allport Klineberg Kulturdeterminismus vorwarf.68 63 Lorimer/Osborn: Dynamics of Population, Vorwort, S. 227-228. Sie bezogen sich auf die Masters-Arbeiten von Skladman: Study of the effect, Lapidus: Environmental effect, Traver: Effect of the New York environment, und Hand: Comparative study, sowie Klinebergs Aufsatz im Journal of Negro Education. Vgl. ähnlich Burks: Heredity and Mental Traits, S. 467. 64 Marcuse/Bitterman: Notes on the Results of Army Intelligence Testing, S. 231. 65 Malzberg: Race Differences in Intelligence, S. 192; vgl. auch Burks: Heredity and Mental Traits, S. 467. Malzberg, der selbst zur differentiellen Verbreitung von Geisteskrankheiten bei Migranten forschte, half Boas und Bruno Klopfer 1935/36 bei ihrer Psychopathie-Studie (vgl. Kap. 8), wurde 1935 von Boas für die AAAS vorgeschlagen (Malzberg an Boas, 18. November 1935, PCFB), beteiligte sich 1938 am PopulationAntrag (vgl. Kap. 8) und war Koautor des von Klineberg herausgegebenen Characteristics, Malzberg: Mental Disease. 66 Garth: Rez. Klineberg: Negro Intelligence (Am J Psych), S. 701; ders.: Rez. Klineberg: Race Differences. 67 Reuter: Rez. Klineberg: Race Differences; Lasker: Rez. Klineberg: Race Differences, S. 489. 68 Park: Rez. Klineberg: Race Differences; Allport: Rez. Klineberg: Social Psychology, S. 742.
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Exemplarisch treten die Reaktionen der skeptisch gewordenen Rassenpsychologie in Klinebergs Schlagabtausch mit den Psychologen Joseph Peterson und Lyle H. Lanier zutage, die beide in Nashville lehrten, einer der Bildungsmetropolen des Südens. Peterson lehrte am Peabody College for Teachers und hatte seit 1923 unter dem Dach des National Research Council zu schwarz-weißen Intelligenzunterschieden geforscht.69 Sein Mitarbeiter in dieser Studie, Lyle H. Lanier, war seit 1929 Professor an der Vanderbilt University und trat zudem als Autor der agrarromantischen Southern Renaissance hervor. Die Studie folgte keinem Masterplan, sondern ergab sich konsekutiv aus Forschungsgelegenheiten, die sich 1924/25 in Nashville und Chicago sowie 1926 bis 1928 in New York City boten. Erklärungsbedürftig waren vor allem die Befunde aus New York, die im Gegensatz zu Nashville keine statistisch verlässliche Differenz zwischen Schwarz und Weiß mehr zeigten. Peterson und Lanier wollten sich nicht festlegen, ob dafür die genetische Qualität der New Yorker Afroamerikaner oder die besseren Lebensbedingungen verantwortlich seien.70 In ihrem Fazit bekannten sie sich dann doch zur Selektionsthese, die durch andere Testergebnisse gestützt werde und sich aus den schärferen Auslesebedingungen bei relativ geringem schwarzen Bevölkerungsanteil erkläre: »there is apparently in New York, under the more severe struggle for existence a highly selected negro population which represents the best genes in the race«.71 Für Klineberg war die Studies in the Comparative Abilities eine maßgebliche Referenz, weil sie, neben zwei kleinen Lokalstudien aus Georgia und Los Angeles, schwarze Kinder unter besonderen Lebensbedingungen punktuell gleichauf mit weißen zeigten. Als Vorsitzender eines neuen Sub-Committee on Tests for Race Differences beim Social Science Research Council war Peterson Anfang 1929, auf Initiative des Soziologen William Ogburn, an Boas herangetreten, um die Erfahrungen der Columbia-Gruppe in die Empfehlungen seines Unterkomitees einfließen zu lassen.72 Boas wiegelte ab, aber Klineberg kontaktierte Peterson anderthalb Jahre später, als er in Nashville für das »Mental Differences«-Projekt recherchierte. Dieser stellte die »intelligence records« von 200 Kindern zu Verfügung, die Klineberg erneut testete. An Boas meldete er freundlichen Zuspruch von Peterson.73
69 Vgl. Cravens: Triumph, S. 236-237; Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 101-104; ders.: Reconceptualizing, S. 24. 70 Peterson/Lanier: Studies in the Comparative Abilities, S. 46-48. 71 Ebd., S. 96, 99; auch Lanier: Analysis of Thinking Reactions, S. 217. 72 Peterson an Boas, 7. Februar 1929, PCFB. 73 Boas an Peterson, 11. Februar 1929; Klineberg an Boas, 16. Oktober 1930, PCFB.
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Diese Zustimmung wäre nicht völlig unplausibel gewesen. Bereits in ihrer Monographie von 1929 sprachen Peterson und Lanier von »race« häufig nur noch in Anführungsstrichen, während Peterson Arbeiten wie Porteus’ und Babcocks Temperament and Race als unwissenschaftlich bezeichnete.74 Den Intelligenzvergleich von Schwarz und Weiß im Süden hielten sie angesichts auseinanderklaffender Bildungschancen für sinnlos. Peterson verfolgte die technokratische Vision einer Elite schwarzer Testpsychologen, die, zunächst unter weißer Führung, eine Praxis der rationalen Selbstkontrolle innerhalb ihrer community verbreiten sollten. In diesem Zusammenhang stellte er 1928 die aus orthodox segregationistischer Perspektive ungeheuerlichen Forderung, Afroamerikaner zum Studium an den Universitäten des Südens zuzulassen.75 Er und Lanier gestanden zu, dass Handlungstempo und Motivation kulturell geprägt seien und in Intelligenztests ebenso große Handicaps darstellten wie mangelnde Sprachkenntnisse. Zudem relativierten sie wie Boas die Differenz zwischen den Durchschnittswerten zweier Rassen mit der interindividuellen Variation innerhalb rassischer Gruppen.76 Bei der Gewichtung von »nature« und »nurture« endeten jedoch die Gemeinsamkeiten. Als Klineberg Peterson/Lanier 1931 im American Journal of Psychology rezensierte, warf er ihnen vor, ihre Befunde unzulässig zugunsten selektiver Migration zu interpretieren. Der Auslesedruck sei in New York geringer als in anderen Städten, denn ausschlaggebend sei nicht die Gesamteinwohnerschaft, sondern die Größe der »negro community«, die im Fall von New York über ein »well-developed and practically self-sufficient economic and social life« verfüge.77 Zudem ignorierten sie die selbst gesammelten Daten zu den Effekten von Aufenthaltsspannen, die gegen Selektion sprächen. Peterson warf seinerseits der boasianischen Psychometrie vor, Forschungsergebnisse politisch zu strapazieren. Dies richtete sich zunächst an Melville Herskovits, mit dem er unter dem Dach des NRC verschiedentlich zu tun hatte und auf dessen Kritik an Samplingmethoden sowie einfachen Korrelationen von körperlichen und psychischen Rassemerkmalen er sich positiv beziehen konnte.78 Als Otto Klinebergs Dissertation 74 Peterson/Lanier: Studies in the Comparative Abilities, z. B. S. 4, 54; Peterson: Rez. Porteus/Babcock: Temperament and Race, S. 641. 75 Peterson: Methods of Investigating Comparative Abilities, S. 184-185 76 Peterson/Lanier: Studies in the Comparative Abilities, S. 38, 99-100; Peterson: Basic Considerations, S. 407, 408 77 Klineberg: Rez. Peterson/Lanier: Studies in the Comparative Abilities, S. 536; ders.: Social Psychology, S. 300 78 Peterson/Lanier: Studies in the Comparative Abilities, S. vi, 88, 90; Peterson: Rez. Herskovits: American negro, S. 635; ders.: Basic Considerations, S. 407, 409-410;
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erschien, gingen die Studies in Comparative Abilities gerade in Druck. Peterson und Lanier verwahrten sich daher nur gegen zu viel Zustimmung von Klineberg, der ignoriere, dass auf Motivation angelegte Einzelprüfungen wie Petersons Rational Learning Tests durchaus in der Lage seien, kulturelle Prägungen zu transzendieren. 79 Ausführlicher widmete sich Lyle Lanier den methodischen Grobschlächtigkeiten in Klinebergs Arbeit. Die Variablen »Geschwindigkeit« und »Genauigkeit« seien viel zu vage, um das komplexe Verhältnis von Zeit, Reaktionen und Fehlern verschiedener Kategorien zu erfassen. Beim Vergleich seiner Untersuchungsgruppen habe Klineberg zudem grundlegende Testparameter wie das Alter nicht kontrolliert. Relativ unumwunden warf Lanier ihm vor, für Behauptungen keine empirischen Beweise vorzulegen oder Daten zu manipulieren, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen, und auf dieser dürftigen Grundlage überhebliche Generalisierungen zugunsten des Umwelt-Dogmas zu formulieren.80 Peterson und Lanier bespielten wiederum die Klaviatur der skeptischen Vernunft, um zwischen den Extremen eine moderate Position zu behaupten. Lanier grenzte sich von den statistischen Tricksereien der IQ-Doktrinäre wie vom sentimentalen Soziologisieren ab und reklamierte für sich die Rolle des Agnostikers, der psychische Rassenunterschiede weder bewiesen noch widerlegt finde.81 Welche Umweltfaktoren relevant und wie sie experimentell kontrollierbar seien, so Peterson, müsse sich erweisen – wissenschaftlich lösbar sei dieses Problem aber, genauso wie die Bekämpfung der Malaria.82 1934 formulierte er, ganz in der quantifizierenden Lesart der Rassenpsychologie, die Erwartung »that racial differences in psychological traits (if any are finally proved to exist) may turn out to be differences in emphasis only of various capacities common to both races compared«.83 Der verschärfte Ton hielt an, nachdem Peterson 1935 gestorben war und Lanier sich weitere Scharmützel mit dem boasianischen Lager lieferte. 84 An Negro Intelligence bemängelte er, weder die Untersuchungsverfahren noch das Peterson an Boas, 7. Februar 1929, PCFB; vgl. Gershenhorn: Melville J. Herskovits, S. 50. 79 Peterson/Lanier: Studies in the Comparative Abilities, S. 57, 80. 80 Lanier/Lambeth: Race Differences in Speed of Reaction, S. 257, 259-265, 292; ders.: Rez. Garth: Race Psychology, S. 186. 81 Lanier: Rez. Garth: Race Psychology. 82 Peterson: Basic Considerations, S. 407-408. 83 Ebd., S. 408. 84 Foley: Factors Conditioning Motor Speed, S. 362; Lanier: Note on Foley’s Review; Foley: Reply to Lanier’s Note; Foley an Boas, 17. April 1939, PCFB.
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Sampling seien angemessen und nicht einmal die Hälfte der Einzelresultate stützten Klinebergs Schlussfolgerung. Das Experiment müsse daher als »inconclusive« angesehen werden. Da das komplexe Phänomen Migration nur in einem langjährigen internationalen Großprojekt unter Einbeziehung Afrikas aussagekräftig erforscht werden könne, seien Mikrostudien wie die Klinebergs unbedeutend.85 Günstiger beurteilte er Race Differences, doch auch hier irritierte ihn das (unterstellte) Postulat der psychischen Gleichheit aller Rassen – »undoubtedly a tenable scientific hypothesis. But scientific proof of this hypothesis is definitely lacking«.86 Racial moderates wiesen vor allem das entschiedene Urteil zurück, das sie als triumphale Geste wahrnahmen. Ein weiteres Beispiel ist Howard Odums Mitarbeiter Guy B. Johnson, der in Social Forces die Literatur zu Rassethemen sichtete. Zur Psychometrie konnte er sich qualifiziert äußern, da er in seiner Dissertation testpsychologisch die Musikalität von schwarzen Schülern und Collegestudenten mit denen weißer Probanden verglichen und, gängigen Annahmen entgegen, keine signifikanten Unterschiede festgestellt hatte.87 Seine lobende Rezension von Race Differences ließ Sympathie für die Schlussfolgerung erkennen, beobachtbare psychische Differenzen zwischen den Rassen seien kulturell geprägt. Unangemessen fand er aber Klinebergs Insistieren auf Wissenschaftlichkeit: »Is the belief in any kind of racial difference becoming absolutely taboo? Is it impertinent to suggest that a hundred years from now some of our present literature which ›proves‹ the non-existence of racial differences may be exhibited in the museum case with the older curiosa on racial inequality?«88 Der Hinweis auf das Dilemma der Beweisbarkeit war nicht unberechtigt, auch wenn er von interessierter Seite kam. Es ist bemerkenswert, dass mit Joseph St. Clair Price ein afroamerikanischer Kritiker der race psychology Einwände von racial moderates teilte. Zwar sei Negro Intelligence ein markanter Beitrag zur environmentalistischen Position, doch sei die Schlussfolgerung überzogen, da die Testergebnisse nicht eindeutig und die Samples »very inadequate« seien.89 Price distanzierte sich von dem Versuch, angesichts von gegenläufigen Befunden die Frage der Erblichkeit als erledigt anzusehen. Nur weil Differenzen, die zuvor rassischer Veranlagung zugerechnet worden waren, sich als umweltlabil herausgestellt hätten, sei es nicht statthaft, verbleibende Differenzen nun pauschal der 85 Lanier: Rez. Klineberg: Negro Intelligence, S. 444-445. 86 Lanier: Rez. Klineberg: Race Differences, S. 132. 87 Die Dissertation blieb unveröffentlicht; vgl. Johnson: Musical Talent; Nathanson: Musical Ability of the Negro. 88 Johnson: Books on Race and Race Relations, S. 582. 89 Price: Migration and Negro Intelligence, S. 566.
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Umwelt zuzurechnen. »Scientific progress would consist, therefore, not in drawing conclusions, but in inventing techniques and discovering methods which will enable us to study and measure what effect upon intelligence an improvement in the various phases of the environment has.«90 Dass Klineberg sich in der Tat Blößen gab, macht eine Passage seiner Dissertation sichtbar, in der er eine geringe Schnelligkeitsdifferenz zwischen in New York geborenen Schwarzen und Weißen zu erklären hatte: It will perhaps be sufficient to point out here that the Harlem environment is certainly not identical with that of the rest of New York. To put one’s finger on the exact difference, however, is not such an easy matter. In fact, it is not even possible to state definitely that the environments differ with regard to the speed factor, although this is probable; it will perhaps suffice at this point to note that the environments do differ, and that therefore an observed difference (like that in speed) may be due to environmental, and not necessarily to racial and hereditary factors.91
Daran war nichts falsch, aber befriedigen konnte es auch nicht, der Frage nach den Effekten konkreter Differenzen auf diese Weise auszuweichen. Eine in der Sache zustimmende Reaktion auf Klinebergs Thesen lief darauf hinaus, die Umweltbedingungen geistiger Leistungen kleinteiliger, spezifischer zu untersuchen, als es ihm möglich gewesen oder sinnvoll erschienen war. Schon 1934 hatte Frank N. Freeman darauf hingewiesen, dass grobe Parameter wie der materielle oder soziale Status eines Probanden seine Leistungsvoraussetzungen nicht vollständig beschrieben, weil sie durch »weiche« Faktoren wie Schulalltag oder häusliches Klima stark moduliert werden könnten.92 Die Migrationssoziologin Dorothy Thomas vom Institute of Human Relations der Yale University stellte in einer Rezension so schlicht wie deutlich klar, Land und Stadt seien unterkomplexe Kategorien, wenn es um die differentielle Leistungsbestimmung gehe. Zudem müsse der Migrationsverlauf differenzierter untersucht werden: »Are migrants already differentiated from the parent population at the time of the migration; do they become differentiated in the process of migrating; or do they become differentiated in the process of assimilation or adjustment in a new environment?«93 Die Frage nach Umwelteffekten konnte die Frage nach Rassenunterschieden auch deshalb zurückdrängen, weil sie um 1930 interessanter, wissen-
90 Ebd., S. 565. 91 Klineberg: Experimental Study of Speed, S. 51. 92 Freeman: Interpretation of Test Results, S. 519. 93 Thomas: Selective Migration, S. 407.
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schaftlich die größere Herausforderung war94: Sie öffnete auf dem Gebiet der Humandiversität einen ganzen Horizont neuer Forschungsmöglichkeiten. Diese Öffnung des Problems als seine Lösung darzustellen, war vielleicht der größte Schwachpunkt der antirassistischen Psychologie boasianischer Prägung.95 Zwar behauptete Klineberg auch später nirgendwo, seine Untersuchungen hätten die Gleichbegabtheit der Rassen stichhaltig bewiesen. Er sprach von »our hypothesis of environmental determination« oder formulierte vorsichtig: »We may state with some degree of assurance that in all probability the range of inherited capacities in two different ethnic groups is just about identical«.96 Doch er stellte sich nie dem Problem, das racial moderates wie Lanier, Johnson oder Frank Hankins, aber auch ein afroamerikanischer Fachmann wie Price monierten: der Kollaps des Erblichkeits-Apriori war noch kein positiver Beweis für sein Gegenteil. 97 Es war eines, die vermeintlichen Beweise der race psychology zu demontieren und zu zeigen, dass Umweltfaktoren die Testleistungen beeinflussten. Es war aber unmöglich, die intellektuelle Gleichbegabtheit aller Rassen experimentell nachzuweisen – da es Rassen nicht gibt und vorausgesetzt, es gäbe sie, »Umwelt« zu komplex ist, um alle wirksamen Faktoren in einem übergreifenden experimentellen Arrangement zu berücksichtigen. Klineberg begnügte sich damit, die Beweislast den hereditarians zuzuschieben, statt die Grenzen der Beweisbarkeit zu erörtern und deutlich zu machen, dass »Rassengleichheit« am Ende politisch entschieden werde. In der Dekade zwischen 1934 und 1944 etablierte sich Klineberg als Experte auf dem gesellschaftspolitisch brisanten Gebiet der race relations an der Schnittstelle von staatlichen Entscheidungsinstanzen, Wissenschaft und kommunaler Praxis. Die große Publizität von Negro Intelligence verschaffte ihm zahlreiche Einladungen zu Vorträgen; er wurde zu einem gefragten Redner und Diskutanten.98 Als Multiplikatoren und Verstärker wirkten gleich gesinnte Psychologen, andere Boasianer und Boas selbst, der keine Gelegenheit ausließ, auf Klinebergs Intelligenzarbeiten hinzuweisen, die das Kernstück seiner antirassistischen Psy94 Vgl. Richards: Reconceptualizing, S. 26. 95 Vgl. auch Tucker: Science and Politics, S. 139-140. 96 Klineberg: Race Differences (1950), S. 463; ders.: Mental testing of racial and national groups, S. 184. 97 Lanier: Rez. Garth: Race Psychology, S. 186; Hankins: Rez. Klineberg (Hg.): Characteristics, S. 254. 98 Klineberg: Reflections, S. 42; ders.: Personal Perspective, S. 39; o. A.: Problems of South Discussed at Vassar; o. A.: Educators Discuss Racial Problems; Sendung auf WEVD-N.Y.U. Forum Diskussion zu »Approach to Race Conflict«, o. A.: Today on the Radio.
E IN Q UANTUM D IFFERENZ
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chologie bildeten.99 Zudem konvergierte der boasianische Antirassismus mit den Anliegen einer wachsenden Zahl von Initiativen zur Diskussion und Beseitigung rassischer Ungleichheit. Dazu gehörten die Quaker, die über das American Friends Service Committee ab 1933 eine jährliches Institute of Race Relations, einen Sommerkurs für Lehrer, Journalisten, Sozialarbeiter, Gewerkschafter, Arbeitgeber und community leaders, am Swarthmore College in Pennsylvania abhielten. Er hatte das Ziel, Praktiker mit Theoretikern und weiße mit schwarzen social scientists zusammenzubringen. Die Vorbereitung des ersten Institute fand unter Boas’ Führung in Räumen der Columbia University statt. Im Sommer 1933 hielt er selbst mehrere Vorträge und vermittelte in den folgenden Jahren immer wieder Referenten aus seinem Umfeld. Für 1935 übernahm Otto Klineberg die Leitung.100 Klineberg zählte auch zu den zahlreichen Wissenschaftlern, die dem schwedischen Ökonomen Gunnar Myrdal zuarbeiteten, als er 1938 im Auftrag der Carnegie Corporation eine Studie zu den Rechts- und Lebensverhältnissen der schwarzen Amerikaner aufnahm, die 1944 in das Jahrhundertbuch The American Dilemma mündete. Klineberg war aus der Masse der von Myrdal kontaktierten Experten insofern herausgehoben, als er eine der Begleitpublikationen herausgab, in der er selbst über Intelligenz- und Persönlichkeitsmessung schrieb.101 Der sozialtechnologische Ansatz Myrdals, der im Gegensatz zur Interventionsfeindschaft der Chicagoer Soziologen stand, kennzeichnete auch das Selbstverständnis der Society for the Psychological Study of Social Issues, der Klineberg ange-
99 Vgl. etwa Murphy: Historical Introduction, S. 369-370; ders./Murphy/Newcomb: Experimental Social Psychology, S. 54, 58-59, 64-65, 66-67; Anastasi: Differential Psychology; vgl. auch Murphy: Gardner Murphy, S. 122-124; Herskovits: Problem of Race; Benedict: Race – Science and Politics, S. 116-118; dies.: Race and Racism, S. 74-75; Ashley Montagu: Race – Pre- and Post-Genetic; ders.: Man’s Most Dangerous Myth, S. 58, 77, 140; Boas an Davenport, 3. April 1929, PCFB; ders.: Anthropology and Modern Life, S. 52; ders.: Race and Progress, S. 5-6; ders.: Mind of Primitive Man (1938), S. 121-123; ders.: Race (1938), S. 120. 100 Vgl. Chrystal Bird Fauset: Summary of the Minutes of the Organization Meeting of the Institute of Race Relations, Columbia University, March 25, 1933; Helen R. Bryan an Boas, 28. März 1933, Boas an Frederick P. Keppel, 5. Oktober 1933, Chrystal Bird Fauset an Boas, 17. August 1935, PCFB; The Institute of Race Relations July 1-27, 1935 (Programm), in: Library of Congress, Margaret Mead Papers, Box C3, Folder 7; vgl. auch Sanders: »Intelligent and Effective Direction«, S. 35-36. 101 Klineberg (Hg.): Characteristics of the American Negro; ders.: Tests of Negro Intelligence; ders.: Experimental Studies of Negro Personality.
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hörte und die ab Mitte der 1930er Jahre von links mit Nachdruck in die Politikberatung strebte.102 Aus diesem Kreis rekrutierten sich zahlreiche Psychologen, die, ebenso wie viele Kulturanthropologen, während des Zweiten Weltkriegs im Auftrag staatlicher Agenturen die Psyche der Gegner sowie das Stimmungsbild in der eigenen Gesellschaft untersuchten. Auch Klinebergs Forschungsthemen drehten sich nun um Nationalcharaktere und »Civilian Morale«.103 Nach Kriegsende setzte sich diese Arbeit auf internationaler Ebene mit friedenssichernder Perspektive fort. Klineberg hatte verschiedene Funktionen in der UNESCO inne, unter anderem leitete er 1948/49 das Projekt »Tensions Affecting International Understanding«. 1950 war er an der Formulierung des ersten, 1951 revidierten Statement on the Nature of Race and Racial Differences beteiligt, dessen Passage über rassische Intelligenzunterschiede »essential similarity in mental characters among all human groups« verkündete.104 1951 konnte Klinberg seinen Standpunkt in der Broschüre Race and Psychology in der UNESCO-Reihe The Race Question in Modern Science ausführen. Franz Boas erlebte diese späten Erfolge seines Antirassismus nicht mehr. Doch bereits der Verlauf der Intelligenzdebatte zwischen 1918 und Anfang der 1930er Jahre musste sich aus seiner Sicht als immenser kollektiver Erkenntnisfortschritt darstellen. Boas machte die Erfahrung, dass die Behauptung angeborener rassischer Unterschiede in Bezug auf geistige Fähigkeiten in einem Prozess der wissenschaftlichen (Selbst)Kritik kaltgestellt wurde und die unbeirrbaren hereditarians nach und nach zu Außenseitern wurden. So konnte er die Hoffnung haben, auch die weltberühmte deutsche Wissenschaftskultur werde zu ähnlicher Einsicht fähig sein.
102 Vgl. Jackson: Social Scientists, S. 40-41, 58-59. 103 Klineberg war zunächst für das Office of War Information, dann für den Foreign Broadcast Monitoring Service der CIA tätig, der die Kurzwellenpropaganda der Achsenmächte analysierte, anschließend beim U.S. Strategic Bombing Survey, der die psychologischen Effekte der Bombardierung Deutschlands und Japans untersuchte. Vgl. Klineberg: Morale and the Jewish Minority; ders.: Race Prejudice and the War; ders.: Science of National Character; vgl. Harris: Klineberg, Otto; Capshew: Psychologists on the March, S. 124-125; Jackson: Social Scientists, S. 45-47. 104 O. A.: Race Concept, S. 100. Zu der Kritik von Genetikern und der Reformulierung des Statements vgl. Weingart/Bayertz/Kroll: Rasse, Blut und Gene, S. 602-622.
5. »Drüben«: Franz Boas’ deutsche Kreise in den langen 1920er Jahren
Der folgende Einschub führt in die Kapitel ein, die den »deutschen« Teil dieser Untersuchung bilden. »Ich bin deutscher als viele Deutsche deutscher Abstammung«, hieß es 1933 in einem Brief, in dem Franz Boas sich gegen die Unterstellung wehrte, als Jude nicht über den nationalsozialistischen Machtwechsel urteilen zu können.1 Über seine Selbstwahrnehmung als Deutscher ist bereits einiges bekannt.2 Im Mittelpunkt steht hier daher die grobe Orientierung über seine Netzwerke, seine Aktivitäten in der Emergency Society for German and Austrian Science, Publikationstätigkeiten sowie Reaktionen auf seine deutsche Hauptveröffentlichung, Kultur und Rasse.
Reisen und spenden Ein Tableau Boas’ deutscher Kontakte benötigt die Vorbemerkung, dass er wissenschaftlich und wissenschaftspolitisch in internationalen Netzwerken agierte und sich darum bemühte, dieser weiter auszubauen.3 Schwerpunkte waren Europa inklusive der Sowjetunion sowie Mittel- und Südamerika. Aber die vielfältigsten und engsten Kontakte, familiäre, freundschaftliche wie berufliche, hatte er zu Deutschen. Neben Briefen, die auch die zweite Boas-Generation in Amerika auf Deutsch verfasste, sorgten vor allem die sommerlichen Besuche der Familie in Europa, sowie einige Gegenbesuche von Verwandten in den USA, für 1
Boas an Otto Aichel, 13. Mai 1933, PCFB.
2
Vgl. Liss: German Culture and German Science; Hart: Franz Boas as German, American, and Jew.
3
Vgl. etwa Kan: Lev Shternberg.
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Zusammenhalt. Einen wichtigen Knoten im familiär-beruflichen Netzwerk bildete seine Schwester Hedwig, die einen Studienfreund ihres Bruders, den Philosophen und Pädagogen Rudolf Lehmann, geheiratet hatte, der ab 1919 Honorarprofessor in Breslau war.4 Nach Rudolfs Tod zog Hedwig 1927 nach Berlin und nahm als Professorenwitwe an der wissenschaftlich-kulturellen Öffentlichkeit der Reichshauptstadt teil. Unter anderem besuchte sie die Sitzungen der Anthropologischen Gesellschaft, las die Zeitschrift für Ethnologie und hielt ihren Bruder über die bunten Nachrichten aus der Wissenschaft auf dem Laufenden.5 Verbunden blieb Boas zudem den »Bundesbrüdern« seiner Burschenschaft, der Bonner Alemannia, und seiner Heimatstadt Minden. 1923 und 1929 nahm er an Veranstaltungen der Alemannen teil, und 1929/1930 sammelte er unter ausgewanderten Mindenern 775 Dollar zum 400-jährigen Stiftungsfest des Ratsgymnasiums, an dem er 1877 das Abitur abgelegt hatte.6 Auf den ausgedehnten Sommerreisen nahm Boas auch zahlreiche berufliche Termine wahr. Er besuchte nationale und internationale Fachkongresse, hielt Vorträge, suchte den Kontakt zu Museumsdirektoren, zu Wissenschaftspolitikern, zu befreundeten und nicht befreundeten Kollegen aus verschiedenen Disziplinen – diese Begegnungen halfen beim Transfer von Informationen, Sammlungsobjekten und Technik. Besonders eng waren die Kontakte bis zum Ersten Weltkrieg zu dem »kleinen Berliner Kreise […], der seit meiner Jugend […] zusammengehalten hat«.7 Dazu gehörten unter anderen die Brasilien-Spezialisten Paul Ehrenreich (gest. 1914) und Karl von den Steinen (gest. 1929), der Mexikanist Eduard Seler (gest. 1922) und Felix von Luschan (gest. 1924), dessen Berliner Lehrstuhl sowohl die physische Anthropologie als auch die Völkerkunde abdeckte.8 Eine intensive Zusammenarbeit mit Seler ergab sich in der Vorkriegsjahren in der Escuela Internacional de Arqueología y Ethnología Americanas in Mexiko, die 1914 aufgrund der postrevolutionären Wirren aber schon nach wenigen Jahren ihre Arbeit einstellen musste.9
4
Vgl. Cole: Franz Boas (1999), S. 88.
5
Etwa Hedwig Lehmann an Boas, 13. Januar 1930, APS, FBP, FP, Box 17.
6
Alex Pflüger an Boas, 17. Juli 1923 und Boas an Ernst Boas, 3. August 1929, APS, FBP, FP, Box 16, Folder 1923 May-August und PP, Correspondence, Letters Marie and Franz Boas to Ernst Boas, Nr. 19, vgl. Rodekamp (Hg.): Franz Boas 1858-1942, S. 89-91; Girtler: Burschenschafter und Schwiegersohn.
7
Boas an Sophie Boas, 26. April 1914, APS, FBP, PP, Correspondence, 1914.
8
Vgl. Ruggendorfer/Szemethy (Hg.): Felix von Luschan; Laukötter: Von der »Kultur«.
9
Zusammenfassung: Boas an Nicholas Murray Butler, 26. September 1913, PCFB. Für die deutschen Verbindungen vgl. ebd. die Korrespondenz 1910-1914 mit Seler, Karl
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Während des Ersten Weltkriegs, insbesondere nach dem Kriegseintritt der USA, und in den ersten Nachkriegsjahren setzte sich Boas als erklärter Germanophiler heftigen politischen Anfeindungen aus. Er erlebte, wie politisch unliebsame Kollegen unter Vorwänden entlassen wurden, und verglich das geistige Klima in den USA auch noch 1919 mit der Reaktion der 1850er Jahre in Preußen, die seinen Onkel Abraham Jacobi zur Auswanderung genötigt hatte. Zudem zeigte er sich desillusioniert vom amerikanischen Wissenschaftssystem, das zu Lasten der Geisteswissenschaften auf praktische Anwendbarkeit ausgerichtet und von Trustees und allmächtigen Universitätspräsidenten gegängelt werde.10 Der Kriegsausbruch hatte ihm die Nähe Felix von Luschans beschert, der von einem Kongress in Australien nicht sofort nach Deutschland zurückreisen konnte, sondern bis 1915 in den USA blieb.11 Aber insgesamt kam der Briefkontakt nach Deutschland kriegsbedingt fast vollständig zum Erliegen. In dieser Zeit war er, wie er später schrieb, »innerlich mit Amerika für immer fertig« und dachte ernsthaft über eine Rückkehr an eine deutsche Hochschule nach. 12 Ende 1919, Anfang 1920 wurden über die ersten brieflichen Lebenszeichen von Freunden und Kollegen die katastrophalen Umstände deutscher Nachkriegswissenschaft nach und nach deutlich. Zudem häuften sich die Anfragen verzweifelter junger Männer, die Boas baten, ihnen in den USA beruflich auf die Sprünge zu helfen. Darunter war auch der später prominente Rasseforscher Egon von Eickstedt, der bei Felix von Luschan promovierte.13 Boas hielt es für nötig, einem brain drain entgegenzuwirken. Er verfasste einen offenen Brief, der im Juni 1920 in der Vossischen Zeitung erschien.14 Neben der klammen Haushaltslage amerikanischer Universitäten und den immer noch verbreiteten Ressentiments gegen Deutsche wies er die Auswanderungswilligen auf ihre Pflicht hin, allen Weule, Lucian Scherman und Franz Heger, sowie Godoy: Franz Boas, und Rutsch: Franz Boas und Ezequiel A. Chávez. 10 Boas an Theodor Wilhelm Danzel, 16. August 1919, PCFB. 11 Vgl. Smith: Felix von Luschan’s Trip to America. 12 Boas an Antonie Wohlauer, 8. Dezember 1930, in: Rohner (Hg.): Ethnography of Franz Boas, S. 294-296. 13 Vgl. etwa Wilhelm Theodor Danzel an Boas, 24. Juli und 27. Oktober 1919; Richard Thurnwald an Boas, 8. Februar 1920; Egon von Eickstedt an Boas, 11. April und 5. Juli 1920; Boas an Danzel, 16. August 1919; an Thurnwald, 16. April 1920; an Eickstedt, 7. Mai 1920, PCFB; Boas an Luschan, 28. April 1920, StBPK, HSA, NL Luschan, Bl. 74. 14 O. A.: Deutsche Akademiker nach Amerika?; vgl. Boas an Luschan, 28. April 1920, StBPK, HSA, NL Luschan, Bl. 74-75; ein ähnlicher Brief erschien in der AlemannenZeitung, vgl. Girtler: Burschenschafter und Schwiegersohn, S. 575.
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Entbehrungen zum Trotz auszuharren, und hob das besondere Potenzial deutscher Wissenschaft hervor: »It seems to my mind that under present conditions, everything should be done to preserve the interest in non-material subjects in Germany. […] You have certain ideals and methods which differ from those of other countries, and which are of value to the whole of humanity.«15 Weil er auf deutsche Wissenschaft nach wie vor große Stücke hielt, war ihm an einem akademischen Austausch des Nachwuchses sehr gelegen. Seine Schüler schickte er zu deutschen Forschern, Museen und Bibliotheken, darunter Ruth Bunzel, Melville Herskovits, Glayds Reichard und Margaret Mead.16 Vor 1933 kamen auch einige Doktoranden und Mitarbeiter aus Deutschland, so der spätere Afrikanist Günter Wagner, den Georg Thilenius, Direktor des Hamburger Völkerkundemuseums, empfahl, und der ungarische Musikethnologe George Herzog, ein Schüler von Boas’ Berliner Bekannten Erich von Hornborstel.17 1921 reiste Boas zum ersten Mal seit acht Jahren wieder nach Deutschland, dann in den Sommern 1923 bis 1925 und 1929 bis 1932 sowie im Winter 1927, als Rudolf Lehmann im Sterben lag. Seine Kongressbesuche in Europa hatten nun auch die Funktion, die gestörten Beziehungen zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern wieder in Ordnung zu bringen. In diesem Zeichen stand seine Teilnahme am 21. Internationalen Amerikanistentag von 1924, der in den »neutralen« Städten Den Haag und Göteborg stattfand. Damit 1928 möglichst viele europäische Fachleute den 23. Amerikanistentag in New York besuchen konnten, organisierte er über die Rockefeller Foundation und private Spender Reisezuschüsse. Zu den Empfängern gehörten die bekannten »kulturhistorischen« Eth15 Boas an Theodor Wilhelm Danzel, 16. August 1919, PCFB. 16 Melville Herskovits absolvierte 1924/25 einen Forschungsaufenthalt in Europa, u.a. in Deutschland, vgl. Plans for European study of M. J. Herskovits; Herskovits an Frank B. Lillie, 12. September 1924, beide RAC, International Education Board, Ser. I-3, Box 51, Folder 783; Boas an Frank B. Lillie, 17. Mai 1924; Herskovits an Boas, 20. Oktober 1924, beide PCFB; Gladys Reichard forschte 1926/27 als Postdoc am Hamburger Völkerkundemuseum über melanesische Kunst und besuchte 1930 ebendort den Internationalen Amerikanistentag; vgl. Reichard: Melanesian Design; Reichard an Boas, 9. und 28. Juli, 21. August, 25. Oktober, 4. November 1926, 13. Februar, 25. April, 5. Mai, 12. Juli 1927; Aby Warburg an Boas, 30. April 1927, Theodor Wilhelm Danzel an Boas, 9. August 1930, PCFB; Margaret Mead besuchte im Sommer 1927 verschiedene deutsche Völkerkundemuseen, vgl. Boas an Theodor Wilhelm Danzel, 7. Mai 1927, PCFB. 17 Vgl. Mischek: Leben und Werk Günter Wagners; Reed: Innovator and the Primitives; zu Thilenius vgl. Laukötter: Von der »Kultur«; zu Hornborstel Müller: Erich Moritz von Hornborstel.
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nologen Wilhelm Koppers und Martin Gusinde, der Geograph Franz Termer und der Hamburger Mexikanist Theodor Wilhelm Danzel, dem Boas zudem Gelder für eine anschließende Studienreise nach Mittelamerika vermittelte.18 Boas’ intensive Beziehungen nach Deutschland drücken sich auch in akademischen Ehrungen aus. Die Reihe begann Ende 1919, als die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte beschloss, ihrem langjährigen Mitglied Franz Boas als besondere Auszeichnung die Goldmedaille zu verleihen. Er erhielt die akademische Ehrenbürgerschaft der Universität Bonn, an der er 1877 bis 1879 studiert hatte, der Universität Graz und das Ehrenzeichen der Universität Wien. Seit 1920 bzw. 1924 war er korrespondierendes Mitglied der Preußischen und der Bayerischen Akademien der Wissenschaften, seit 1925 Senator der Deutschen Akademie in München, einer Vorläuferin des GoetheInstituts, seit 1927 Mitglied der Gelehrtenakademie Leopoldina. 1931 verlieh ihm die Universität Kiel anlässlich seines Doktorjubiläums die medizinische Ehrendoktorwürde. Darüber hinaus war er korrespondierendes oder Ehrenmitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften und Inhaber des Ehrenzeichens des Deutschen Roten Kreuzes.19 Diese Ehrungen galten dem Gelehrten von Weltruf, bezogen sich aber mindestens ebenso auf das Engagement, mit dem Boas der deutschen Wissenschaft nach dem Weltkrieg wieder auf die Beine helfen wollte. Ende März 1933 schrieb er an Reichspräsident Paul von Hindenburg einen offenen Brief, in dem es hieß: Als der Krieg für Deutschland verloren war, und der frivole Lloyd George und der rachsüchtige Clemenceau durch Aushungerung des deutschen Volkes einen für die Sieger schmachvollen Frieden erzwang, stand mir in schlaflosen Nächten die Not des alten Vaterlandes lebendig vor Augen. […] So kam es, dass ich Jahre meines Lebens der Hilfe für deutsche Kultur und Wissenschaft hingab. Die Schöpfung der Emergency Society und die Wiedererweckung der Germanistic Society als Mittel Deutschland zu helfen, waren mein Werk und wären ohne mich nicht zu Stande gekommen. Zu jener Zeit ermahnte ich junge Deutsche den Schwierigkeiten zu trotzen und daheim zu bleiben, weil Deutschland jeden tüchtigen Menschen brauchte.20 18 Financial Statement International Congress of Americanists XXIII Congress As of November 15, 1929, RAC, Laura Spelman Rockefeller Memorial, Ser. III-6, Box 55, Folder 586. 19 Aufgelistet in Boas an C. Schuchardt, 18. Januar 1939; vgl. auch Karl von den Steinen an Boas, 19. November und 5. Dezember 1919; Benno von Wiese (Deutsche Gesellschaft für Soziologie) an Boas, April 1924, PCFB. 20 Boas an Hindenburg, 27. März 1933, abgedr. in: Rodenkamp (Hg.): Franz Boas, S. 92-95, hier S. 92-93.
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Das fasste die Ereignisse treffend zusammen: In den schwierigen Jahren nach dem Weltkrieg entwickelte Boas unter persönlichen Opfern enorme Tatkraft, um wissenschaftliche Infrastrukturen in Deutschland aufrechtzuerhalten. 1919 begann er nach jahrelanger Kommunikationssperre, mit seinen deutschen Freunden wieder Kontakt aufzunehmen. Von Eduard Seler, Karl von den Steinen, Felix von Luschan und Alfred Penck, über seinen Schwager Rudolf Lehmann und Kollegen wie Rudolf Martin erfuhr er, dass die Geldentwertung nicht nur den einzelnen Akademiker um Vermögen und bürgerliche Sekurität gebracht hatte, dass sie hungerten und froren. Das Wissenschaftssystem insgesamt drohte zu kollabieren, wenn Personal und Gebäude, Forschungslabore, Lehrmittel und Veröffentlichungen nicht mehr zu finanzieren waren.21 Während wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften nur noch in vermindertem Umfang oder verzögert erschienen, war ausländische Literatur unerschwinglich geworden.22 Zu den finanziellen Sorgen kam die Ächtung der Deutschen und Österreicher in der internationalen scientific community. Bereits während des Krieges hatten deutsche Wissenschaftler – zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine internationale Macht in der Wissenschaft – diese für sie vollständig unerwartete Isolierung erfahren, vor allem nach dem militanten Bekenntnis einer großen Zahl namhafter Professoren zum deutsch-österreichischen Angriffskrieg.23 Diese Ausgrenzung verschärfte sich nach der Niederlage zu einer regelrechten Blockade, als der 1919 gegründete International Research Council per Satzung beschloss, Wissenschaftler der Mittelmächte auf absehbare Zeit von den Aktivitäten seiner Mitgliedorganisationen auszuschließen.24 Diese strafende und stigmatisierende Exklusionspolitik, die insbesondere in Frankreich und Belgien viele Befürworter fand, war zu Beginn der 1920er Jahre relativ erfolgreich. Deutsche und Österreicher wurden zur Mehrzahl der internationalen Kongresse nicht mehr eingeladen, Deutsch als vor allem in Nord- und Osteuropa verbreitete Wissenschaftssprache wurde bei solchen Begegnungen verbannt, länderübergreifende Fachverbände gründeten sich ohne deutsche Beteiligung. Auch Organisationen, die nicht dem IRC angehörten, folgten dieser Strategie, ganz zu schweigen von Zurückweisungen und wechselseitigen Schuldzuweisungen auf persönlicher Ebene. 21 Rudolf Martin an Boas, 28. November 1919, 28. Februar 1920; Max Frischeisen-Köhler an Rudolf Lehmann, 24. November 1919; Albrecht Penck an Boas, 6. Januar 1920, PCFB. 22 Vgl. Hammerstein: Deutsche Forschungsgemeinschaft, S. 31-32, für die Anthropologie vgl. Evans: Anthropology at war, Kap. 6. 23 Vgl. Hammerstein: Deutsche Forschungsgemeinschaft, S. 25-27. 24 Zum Folgenden Schroeder-Gudehus: Challenge; dies.: Internationale Wissenschaftsbeziehungen; Beispiele: Kühl: Internationale, S. 60-63; Drewek: Inertia, S. 241-242.
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Aus finanziellen und politischen Gründen befand sich Deutschland zu Beginn der 1920er Jahre daher auf dem Forschungsstand von 1913/14 und drohte, absehbar in die Provinzialität abzudriften. Es war nicht förderlich, dass die tief gekränkte Professorenschaft meinte, sich in ihrer Selbstviktimisierung verschanzen und auf den »Boykott« mit einem »Gegen-Boykott« antworten zu müssen. Erst ab Mitte der 1920er Jahre begannen die Fronten aufzuweichen, in erster Linie auf Betreiben der Kulturdiplomatie und in etwa parallel zur politischen Rehabilitierung der Kriegsverlierer auf bi- und multilateraler Ebene. An vielen Stellen suchten und fanden vor allem jüngere deutschsprachige Forscher wieder Anschluss an die internationale Gemeinde, ohne dass »deutsche Wissenschaft« je wieder an ihre dominante Vorkriegsstellung heranreichte. Dazu trug Franz Boas seinen Teil bei, auch weil er deutsche Wissenschaftler durch »Lüge und Verleumdung«25 um den Ertrag ihrer Arbeit gebracht sah. Wiederholt ging er öffentlich gegen den Versuch französischer Anthropologen vor, ihn als Amerikaner in ihren antideutschen Boykott einzubinden. In den USA lokalisierte er fortgesetzte Feindseligkeiten gegen deutsche Wissenschaftler vor allem beim Präsidenten des National Research Council, dem Astronomen George E. Hale.26 Am Jahreswechsel 1919/20 begann Boas, systematisch vorzugehen und Informationen über fehlende Literatur an höherer Stelle einzuholen. Er wandte sich an den Althistoriker Eduard Meyer, Rektor der Berliner Universität, den er aus Vorkriegszeiten kannte, und den Theologen Adolf von Harnack, Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek.27 Um zu helfen, griff Boas zunächst auf bestehende Ressourcen zurück, namentlich die 1904 gegründete Germanistic Society, die sich dem deutsch-amerikanischen Kulturaustausch gewidmet hatte, beim Kriegseintritt der USA aber – gegen Boas’ Stimme – die Arbeit offiziell eingestellt hatte.28 Nun, Anfang 1920, sollte sie wiederbelebt werden, um von unverbrauchten Mitgliedsbeiträgen und neuen Spenden die dringend benötigten amerikanische Zeitschriften und Bücher für deutsche Bibliotheken zu kaufen.29 Parallel dazu appellierte er an wissenschaftliche Institutionen in den USA, die Vorkriegsbeziehungen zu ihren deut25 Boas an Eduard Meyer, 19. Februar 1920, PCFB. 26 Boas an Henry Donaldson, 18. Dezember 1919, an Ross Harrison, 19. April 1920, PCFB. 27 Boas an Meyer, 23. Dezember 1919; Meyer an Boas, 17. Januar 1920; Boas an Harnack, 29. Januar und 13. Februar 1920; Harnack an Boas, 20. Februar und 10. März 1920, PCFB. 28 Vgl. Cole: Franz Boas (1994), S. 14. 29 Boas an Louis Guenzel, 30. Januar 1920; an Max Warburg, 16. November 1920, PCFB.
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schen Pendants wieder aufzunehmen und Publikationen zu tauschen.30 Zudem versuchte er vermögende (Deutsch)Amerikaner dafür zu gewinnen, Mitglieder deutscher und österreichischer wissenschaftlicher Vereinigungen zu werden und ihre Beiträge in Gold zu zahlen.31 Schließlich entwickelte er ausgefeilte, jedoch nicht realisierte Pläne für die Gründung eines unabhängigen, genossenschaftlichen Verlagshauses nebst Buchhandelsorganisation, das die Verbreitung wissenschaftlicher Publikationen gewährleisten sollte.32 Da diese Anstrengungen finanziell nicht ausreichten, gründete Boas Ende Mai 1920 eine weitere Organisation, die Emergency Society in Aid of European Science and Art, die im Juli lokale Zweigstellen auszubilden begann. Der Internationalist Boas visierte zunächst eine europaweite Kooperation an, die die ehemaligen Kriegsgegner dabei unterstützen sollte, wieder wissenschaftliche Beziehungen untereinander anzuknüpfen. Auf dieses Ansinnen reagierten jedoch nur die Verlierer Deutschland und Österreich, so dass im November 1920 das Geschäftsziel geändert und die Gesellschaft in Emergency Society for German and Austrian Science and Art umbenannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine formelle Zusammenarbeit mit der kurz zuvor konstituierten Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Vorläuferin der Deutschen Forschungsgemeinschaft.33 Boas hatte von Anfang an eine solche Anlaufstelle gesucht, um die Bedarfsbestimmung und Verteilung der Gelder zentral zu organisieren. Die Notgemeinschaft war ein vom Reich finanziertes Selbstverwaltungsorgan der Wissenschaft, dem Akademien, Hochschulen, außeruniversitäre Forschungsinstitute, Bibliotheken und wissenschaftliche Vereine angehörten. Ihr autokratisch regierender Präsident war der letzte preußische Kultusminister des Kaiserreichs, Friedrich Schmidt-Ott. Fachausschüsse begutachteten eingereichte Anträge und konnten selbst initiativ werden. In Wien war anfangs der Linguist Paul Kretschmer Boas’ Ansprechpartner, als Präsident des Arbeitsmittelbeschaffungsausschusses beim Verband geistiger Arbeiter Österreichs, der schon in der ersten Jahreshälfte 1920 gegründet worden war, um die
30 Boas an Schmidt-Ott, 25. Juli 1921, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 1. 31 Boas an Max Warburg, 16. November 1920, PCFB. 32 Paul Kretschmer an Boas, 24. Oktober 1920, PCFB; Boas an Bruno Hauff, 19. Juli 1921, APS, FBP, PP, Emergency Society, Folder 3; Boas: [Konzeptpapier zur Reorganisation des Buchhandels], ebd., Folder 7. 33 Hugo Lieber an Boas, 15. Oktober 1920, PCFB; Schmidt-Ott an Boas, 18. November 1920, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 5; zur Gründung und Organisation der Notgemeinschaft vgl. Marsch: Notgemeinschaft; Hammerstein: Deutsche Forschungsgemeinschaft, S. 33-65.
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Reorganisation der Wissenschaft zu koordinieren.34 Ab 1921 war Richard von Wettstein, Botaniker und Vize der Wiener Akademie der Wissenschaften, Vorsitzender der österreichischen Notgemeinschaft.35 Für die amerikanische Geberseite hatte diese Kooperation den Vorteil, dass die Empfänger einer Qualitätskontrolle unterlagen und Mehrfachzuwendungen unterblieben.36 Um ihre Arbeit zu professionalisieren, setzte die Emergency Society Fachsekretariate ein, die mit den entsprechenden Vertretern der Disziplinen direkt korrespondierten. Zudem versuchte sie, möglichst einzelne Geldgeber mit spezifischen Förderanlässen zusammenzubringen, so dass die Spender genau wussten, für welches konkrete Unterfangen sie ihre Dollars gaben.37 Die Filiale St. Louis beispielsweise spendete unter Führung des passionierten Altphilologen und Archäologen John Max Wuelfing direkt für den Thesaurus Linguae Latinae, die Deutsche Orientgesellschaft und das Deutsche Archäologische Institut in Rom.38 Funktionäre der Emergency Society waren in erster Linie deutschstämmige Geschäftsleute und Professoren, zum engeren Unterstützerkreis zählten zudem mehr oder weniger prominente angelsächsische Akademiker, die im Kulturaustausch aktiv waren, wichtige Geldgeber waren Mäzene wie der amerikanische Zweig der Warburg-Familie, Julius Rosenwald und James Loeb. Dazu kamen eine Vielzahl einzelner Spender, die, abgesehen von New York City, vor allem an der Ostküste und im Mittleren Westen lebten.39 In den folgenden Jahren verbrachte Boas viel Zeit damit, Listen anzulegen, anzufordern und abzugleichen.40 Mitglieder-, Einnahme- und Ausgabelisten, Lis-
34 Kretschmer an Boas, 25. Juni, 28. September und 24. Oktober 1920, PCFB. 35 Boas an Wettstein, 31. Juli 1921, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 1. 36 Boas an Paul Warburg, 10. Dezember 1920, PCFB; Schmidt-Ott an Boas, 16. Februar 1921, Frederick Heuser an Mitglieder der Emergency Society, Juni 1921, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 5 und 3. 37 Boas an an Eduard Uhlenhuth, 13. November 1920, an Max Warburg, 16. November 1920, PCFB; an Schmidt-Ott, 10. Dezember 1920, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 5. 38 Notes for Meeting of Emergency Society, 2. März 1923, PCFB. 39 Emergency Society for German and Austrian Science and Art. First Annual Report, März 1921, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 2. 1922 nutzte Boas einen Aufenthalt in Berkeley, um an der Westküste um Unterstützung der Emergency Society zu werben. Boas an Luschan, 16. April 1922, StPKB, HSA, NL Luschan, Bl. 101-102. 40 Boas an Max Warburg, 16. November 1920; an Friedrich Schmidt-Ott, 13. November 1922; Schmidt-Ott an Boas, 13. November 1922, PCFB; Boas an Schmidt-Ott,
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ten der von Bibliotheken, wissenschaftlichen Vereinen und Bekannten angefragten Hefte und Jahrgänge amerikanischer Fachzeitschriften, von Band 17 der Transactions of the American Mathematical Society bis zu Aufstellungen über die kompletten Vorkriegsabonnements deutschsprachiger Universitätsbibliotheken.41 Er verwaltete Beträge zwischen 15 Dollar und 85.500 Mark, mahnte fehlenden Spendenquittungen und ausgebliebenen Dankesschreiben an, beschwichtigte und drängte Spender. Die nachgelassene Korrespondenz zeugt von einer enormen Organisationsleistung, die auf Kosten seines wissenschaftlichen Outputs ging. Es war sicher nicht übertrieben, als er 1922 Felix von Luschan schrieb, »dass ich fast meine ganze Zeit dafür einsetze drüben zu helfen«.42 Anfang 1923 etwa erhielten das österreichische Bundesamt für Statistik, die Sternwarte in Babelsberg, der Nassauische Geschichtsverein, die Gesellschaft für Erdkunde, das Institut für Mikroskopie in Jena, die Zeitschrift für Kinderheilkunde, die Indo-Germanischen Forschungen, die Deutsche Literatur-Zeitung, die Zeitschrift für Französischen und Englischen Unterricht ebenso Zuwendungen wie einzelne Forscher für Instrumente.43 Boas korrespondierte mit Bibliotheksleitern, Institutsdirektoren und den Herausgebern von Zeitschriften. Als er in den Sommern 1921 und 1923 in Deutschland und Österreich war, folgte Termin auf Termin, um möglichst viele Entscheider zu treffen.44 Obwohl Boas versuchte, alle Disziplinen gleichermaßen zu berücksichtigen, kanalisierten bestehende Kontakte die Aufmerksamkeit. Dass beispielsweise die Kantgesellschaft, das Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht sowie die Universität Breslau früh größere Beträge erhielten, ging auf die Fürsprache Rudolf Lehmanns zurück.45 In gesteigertem Maße galt dies 21. Dezember 1920 und 25. Juli 1921, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 1 und 4. 41 Oskar Bolza an Boas, 31. Oktober 1923, APS, FBP, FP, Box 16, Folder 1923 MayAugust; Boas an Fritz Tillmann, 25. Juli 1921; S. Frankfurter an Boas, 30. Juli 1921, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 1 und 2. 42 Boas an Luschan, 16. April 1922, StBPK, HSA, NL Luschan, Bl. 101-102. 43 Emergency Society, Notes for Meeting of Board of Directors, 25. Januar 1923, Notes for Meeting of Emergency Society, 2. März 1923, PCFB. 44 Vgl. etwa Boas an Luschan, 3. Juli 1923, StBPK, HSA, NL Luschan, Bl. 111-112; Marie und Franz Boas an Helene Yampolsky, 5. Juni 1921, APS, FBP, FP, Box 16, Folder 1921 May-July; Marie Boas an Helene Yampolsky, 20. August 1923; Franz Boas an Helene Yampolsky und Gertrud Boas, 13. September 1923, beide APS, FBP, FP, Box 16, Folder 1923 May-August. 45 Zentralinstitut an Rudolf Lehmann, 17. Dezember 1920, APS, FBP, PP, Correspondence, Letters Marie und Franz Boas an Ernst Boas, Folder 14; A. Schiff an Boas,
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für Ethnologen und Anthropologen. Boas initiierte nicht nur private Sammlungen für Lebensmittelpakete und veranlasste amerikanische Kollegen, für deutsche Anthropologen Zeitschriften zu abonnieren.46 Es wurden zahlreiche Bitten um Druckkostenzuschüsse an ihn herangetragen. Er beteiligte sich an der Gründung und Finanzierung neuer Rezensionsjournale, des Anthropologischen und des Ethnologischen Anzeigers, unterstützte die Gründung einer eigenständigen Gesellschaft für Völkerkunde und intervenierte zugunsten einer Neubesetzung der Berliner Loubat-Professur für Amerikanistik.47 Die Emergency Society bestand bis 1927, als sie im Zuge der wirtschaftlichen Erholung aufgelöst wurde. Die Germanistic Society war erneut während der Weltwirtschaftskrise aktiv, als Boas zudem versuchte, bei amerikanischen Stiftungen Gelder für deutsche Bibliotheken zu mobilisieren.48 Aus den Unterlagen lässt sich nicht genau bestimmen, welche Beträge von beiden Vereinen an die Notgemeinschaft oder auch an andere Empfänger flossen. Bis 1926 verteilte die Emergency Society schätzungsweise knapp 90.000 Dollar.49 Boas war nicht der Einzige, dem »Intellectual Famine Relief« ein Anliegen war.50 Andere Organisationen, Netzwerke und Einzelpersonen versuchten ebenfalls, Deutschland mit Geldtransfers und Wissenschaftleraustausch international zu resozialisieren. Quantitativ verblassen die Grass-root-Spenden der Emergency Society neben den Zuwendungen der Rockefeller Foundation, die ab Mitte der 1920er Jahre groß angelegte Forschungsprojekte und den Bau ganzer Kaiser-Wilhelm-Insti-
18. Februar 1921, Boas an W. Volz, 27. Juli 1921, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 1. 46 James B. Clemens an Boas, 25. März 1920, PCFB. 47 Georg Thilenius an Boas, 21. Juli 1921; Eugen Fischer an Boas, 21. Juni und 30. Juli 1921, APS, FBP, BRC, Emergency society, Folder 1 und 2; Boas an Eugen Fischer, 6. August 1925; Wilhelm Gieseler an Boas, 13. August 1925; Theodor Mollison an Boas, 4. Januar 1928, Boas an Fritz Krause, 18. April 1929; Fritz Krause an Boas, 4. April und 20. August 1929, 11. Januar 1932; Martin Heydrich an Boas, 27. November 1927; Boas an Staatssekretär Becker, 2. Juli 1923; an Albrecht Penck, 4. September 1924, PCFB; an Ernst Boas, 12. Juli 1929, APS, FBP, PP, Correspondence, Folder 1929; vgl. Díaz de Arce: Plagiatsvorwurf und Denunziation, S. 123. 48 Frederick Heuser an Schmidt-Ott, 8. Dezember 1931; Boas an Schmidt-Ott, 18. Januar 1932, PCFB. 49 Vgl. Cole: Franz Boas (1994), S. 17; die Zuwendungen an die Universität Graz bei Weiler: Ordnung des Fortschritts, S. 401-410. 50 E. Skillings: Intellectual Famine Relief for Central Europe. Results of an Inquiry. Typoskript 1920, in: APS, FBP, PP, Correspondence, Skillings, E.
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tute finanzierte.51 Der symbolische Gewinn aus Boas’ Engagement war jedoch groß und verschaffte ihm beträchtliche Bekanntheit und Respekt. Sein Biograph Douglas Cole meint daher, seit seiner Auswanderung sei er der deutschen scientific community nie näher gewesen als in den 1920er Jahren.52 1928 gratulierten nicht nur Friedrich Schmidt-Ott und die liberale Vossische Zeitung, sondern auch Rasseforscher wie Eugen Fischer und Walter Scheidt zum 70. Geburtstag.53 Kein Konversationslexikon verzichtete darauf, Boas’ Verdienste um die Förderung der deutschen Wissenschaft hervorzuheben.54 Aus den Aktivitäten für die Emergency und die Germanistic Society ergaben sich unzählige Kontakte zu Gelehrten aller Disziplinen sowie hochrangigen Wissenschaftsmanagern. Sie traten an die Stelle der im späten 19. Jahrhundert entstandenen Netzwerke, die sich mit dem Tod seiner Freunde und dem Bedeutungsverlust der Berliner Anthropologie alter Prägung auflösten.
Publizieren und gelesen werden 1931 schrieb Hedwig Lehmann an ihren Bruder: »Nikolai’s Haaruntersuchungen unter Deiner Leitung sind hier in der Morgenpost (ein Blatt für kleine Leute) abgedruckt u. der Mann meiner Else schickte es mir.«55 Die genannten Untersuchungen, die Boas gemeinsam mit seinem Schwiegersohn Nikolai Michelson durchführte, waren Teil einer 1926 begonnenen, mehrjährigen Studie zu menschlichen Wachstums- und Reifungsprozessen. Dass es diese aktuellen Arbeiten in die Berliner Morgenpost, die bei weitem auflagenstärkste Tageszeitung der Weimarer Republik, schafften, wirft die Frage auf, ob Boas seine Präsenz und sein Ansehen in Deutschland nutzen konnte, um einen Wissenstransfer in Gang zu setzen. Wie wurde die »amerikanische Methode« der Ethnologie hier nach dem Weltkrieg rezipiert? Welchen Anklang fand Boas’ Leitsatz von der Veränderlichkeit menschlicher Typen unter wechselnden Umweltbedingungen?
51 Vgl. Weindling: Rockefeller Foundation; Düwell: Deutsch-amerikanische Wissenschaftsbeziehungen, S. 751-757; Richardson/Reulecke/Trommler: Weimars transatlantischer Mäzen. 52 Cole: Franz Boas (1994), S. 17. 53 Walter Scheidt an Boas, 21. Juni 1928; Eugen Fischer, Friedrich Schmidt-Ott an Boas, beide 9. Juli 1928, PCFB; Li.: Professor Franz Boas’ 70. Geburtstag. 54 Vgl. o. A.: Boas, Franz (Brockhaus); o. A.: Boas, Franz (Herder). 55 Hedwig Lehmann an Boas, 22. Februar 1931, APS, FBP, FP, Box 17; o. A.: Wann Männer grau werden.
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Seine Kontakte in die Völkerkunde hatten sich über Jahrzehnte aufgebaut. Er unterhielt Beziehungen zu Vertretern unterschiedlicher Schulen, den wichtigen Museumsleuten (die zum Teil diese Schulen repräsentierten), zu Spezialisten wie dem genannten Erich von Hornborstel und außerakademischen Gelehrten wie Aby Warburg.56 Nachdem er in den 1890er Jahren noch regelmäßig mit ethnologischen Themen in Deutschland und Österreich in die Fachöffentlichkeit getreten war, hatte er nach 1900 nur vereinzelte Beiträge aus diesem Arbeitsgebiet auf Deutsch publiziert.57 Doch schon 1921 veröffentlichte Boas seinen ersten Nachkriegstext in einem deutschen Fachblatt, einen kurzen Artikel über die südafrikanischen Vandau in der Zeitschrift für Ethnologie, die zu dieser Zeit sein langjähriger Freund Felix von Luschan redigierte. 1922 folgte ein weiterer Beitrag zu diesem Thema.58 Auf den ersten Blick spricht das für einen gelungenen Transfer unter optimalen Bedingungen. Betrachtet man die Umstände dieser Veröffentlichungen jedoch genauer, stellt sich heraus, dass Boas, der die Druckkosten privat bezahlte, damit die vor dem Kollaps stehende Zeitschrift stabilisieren wollte. In diesem Sinne vermittelte er auch einen selbst finanzierten Beitrag der Ethnologin und Mäzenin Elsie Clews Parsons, die seine Forschungen mit ihrem Vermögen über Jahre unterstützte.59 Diese Publikationen müssen deshalb nicht wirkungslos gewesen sein, aber sie zeugen auch nicht einfach von einer spontanen Nachfrage für Kulturanthropologie der Marke Boas. Bis 1933 publizierte er insgesamt nur drei ethnologische Abhandlungen auf Deutsch, davon zwei Festschriftenbeiträge für Rudolf Lehmann und den Linguisten Carl Meinhof. Am wichtigsten war vielleicht die Übersetzung des 1920 erschienenen Aufsatzes Methods of Ethnology, der 1924 unter dem Titel Moderne Ethnologie in der Deutschen Literaturzeitung abgedruckt wurde.60 Dass er womöglich stärker als felderprobter Fachmann für die Region Nordamerika denn als Programmatiker rezipiert wurde, zeigt exemplarisch seine Anwesenheit in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Im ersten Band bezog sich Cassirer ausdrücklich auf Boas als Experten für primitive Sprachen und zitierte häufig aus dem Handbook of American Indian Languages. Im 56 Zu Warburg vgl. Boas an Antonie Wohlauer, 13. September 1924, APS, FBP, PP, Correspondence, Folder 1924. 57 Vgl. Andrews u. a.: Bibliography of Franz Boas. 58 Boas: Seelenglaube der Vandau; ders.: Verwandtschaftssystem der Vandau. 59 Boas an Luschan, 16. Februar 1920, 2. Dezember 1921, 11. Mai 1922 und 12. Januar 1923; Luschan an Boas, 23. März 1922 und 9. Mai 1922, StBPK, HSA, NL Luschan, Bl. 62; Parsons: Flucht auf den Baum; vgl. Deacon: Elsie Clews Parsons. 60 Boas: Form in primitiver Literatur; ders.: Ausdrücke für einige religiöse Begriffe; ders.: Moderne Ethnologie; vgl. zudem ders.: Sprachmischung.
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zweiten Band jedoch, der unter anderem den Totemismus thematisierte, kamen Boas und die wichtigen Arbeiten Alexander Goldenweisers nicht vor, dafür zahlreiche Kulturevolutionisten.61 Rezensionen seiner ethnologischen Fachveröffentlichungen zeugen zudem von einem gewissen Befremden angesichts extensiver Materialsammlungen ohne rahmendes Narrativ. Der Berliner Mexikanist Konrad Theodor Preuss schrieb 1924 über die Ethnology of the Kwakiutl: Es ist so das eigenartigste Buch zustande gekommen, das je erschienen ist, namentlich in der Darstellung der Anfertigung von Geräten, wobei nicht von dem fertigen Produkte ausgegangen, sondern jede Phase des Entstehens breit erörtert wird, […] so dass es recht schwer halten wird, solche intimen Kenntnisse […] in dem Rahmen der Ziele einer Gesamtwissenschaft je zu verwerten.62
Es gab auf deutscher Seite aber zwei Multiplikatoren, die sich bemühten, den konzeptionellen Ansatz der cultural anthropology zu vermitteln: den sozialwissenschaftlich orientierten Ethnologen Richard Thurnwald und den katholischen Missionar Pater Wilhelm Schmidt, der die kulturhistorische »Wiener Schule« der Ethnologie begründete. Der Österreicher Richard Thurnwald war der einzige deutschsprachige Ethnologe dieser Zeit, der das intellektuelle Format und das internationale Standing besessen hätte, um eine Bronislaw Malinowski, Alfred Radcliffe-Brown oder Franz Boas vergleichbare Stellung auszufüllen.63 Er war nicht nur ein im Südwestpazifik und in Ostafrika ausgewiesener Feldforscher, sondern äußerte sich auch zu Methodenfragen und legte eine fünfbändige Großerzählung der Menschlichen Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen Grundlagen vor. Als »Funktionalist« stand er den britischen Ethnologen näher, anders als diese war er aber auch historisch orientiert, was ihn wiederum für die cultural anthropology anschlussfähig machte. Bis Thurnwald 1946 eine ordentliche Professur in Deutschland erhielt, führte ihn seine ungesicherte akademische Stellung 1931/32 und 1935/36 auf Einladung Alfred Kroebers und Edward Sapirs als Gastprofessor nach Berkeley und Yale, nachdem er 1915 bis 1917 bereits in Berkeley gearbeitet hatte.64 Er war ein Kenner der nordamerikanischen Sozialwissenschaften und veröffentlichte in renommierten Fachzeitschriften wie dem American Journal of 61 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. VIII, Bd. 2, S. 214-233, 266. 62 Preuß: Rez. Boas: Ethnology of the Kwakiutl. 63 Vgl. Melk-Koch: Suche nach der menschlichen Gesellschaft; Kaufmann: »Primitivismus«, S. 432-435; Petermann: Geschichte der Ethnologie, S. 766-777. 64 Vgl. Melk-Koch: Suche nach der menschlichen Gesellschaft, S. 268, 272.
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Sociology und dem American Anthropologist.65 Zu Boas hatte er, sofern ihre Korrespondenz davon zeugt, ein gutes, wenn auch nicht enges Verhältnis. Im Hinblick auf die Psychologie des »primitiven« Menschen teilten sie jedenfalls die Ablehnung des Kulturevolutionismus und die Kritik an Lucien Lévy-Bruhls »prälogischem« Denken.66 Schon 1909 hatte sich Thurnwald mit Robert Lowie angefreundet und 1936 steuerte er einen Beitrag zur Festschrift von Alfred Kroeber bei.67 In den 1920er Jahren rezensierte er die Einführungen von Kroeber, Goldenweiser, Lowie und Wilson D. Wallis sowie Radins Primitive Man as Philosopher.68 War Thurnwald ein Außenseiter, kam Schmidts Kulturhistorische Schule der Ethnologie aus dem in Deutschland einflussreichen Diffusionismus, der nach der Jahrhundertwende die klassische liberale Völkerkunde ablöste.69 Der klerikalkonservative Schmidt war nicht ihr Theoretiker, aber ihr erfolgreichster akademischer Vertreter. Da er zwar ein ausgesprochener Antisemit, aber auch strikter Antibiologist war, musste er nach dem nationalsozialistischen »Anschluss« Österreichs emigrieren.70 Seine linguistisch-ethnologischen Arbeiten sind durchaus als wissenschaftsförmig zu bezeichnen, die von ihm gegründete Zeitschrift Anthropos genoss international Anerkennung und er ermöglichte Feldforschungen, die Werner Petermann in seiner Geschichte der Ethnologie zu den großen ethnographischen Leistungen des 20. Jahrhunderts zählt.71 In der nordamerikanischen Ethnologie sah Schmidt eine Verbündete gegen den Evolutionismus, den er – ebenso wie die Psychoanalyse – bekämpfte, obgleich auch er mit universalen Kulturstufen operierte. 1911 wies er in einem Aufsatz zur Kulturhistorischen 65 Thurnwald: Psychology of Acculturation; ders.: Social Transformation in East Africa; ders.: Price of the White Man’s Peace. 66 Etwa: Thurnwald: Primitives Denken; ders.: Varianten und Frühformen des Denkens. 67 Thurnwald: Sozialpsychologische Abläufe im Völkerleben; Lowie: Richard Thurnwald; vgl. Melk-Koch: Suche nach der menschlichen Gesellschaft, S. 129, 276. Möglicherweise vermittelte er auch einen Aufsatz von Lowie an die Zeitschrift für Soziologie: Lowie: Theoretische Ethnologie in Amerika. 68 Thurnwald: Rez. Goldenweiser: Early Civilization; ders.: Rez. Kroeber, Anthropology, und Goldenweiser, Early Civilization; ders.: Rez. Radin: Primitive Man as Philosopher; ders.: Rez. Wallis: Introduction; ders.: Werden des Staates [= Rez. Robert Lowie: The Origin of the State. New York: Harcourt Brace 1927]. 69 Vgl. Gingrich: German-speaking countries; Petermann: Geschichte der Ethnologie, S. 598-610. 70 Vgl. Conte: Wilhelm Schmidt; Rivinius: Wilhelm Schmidt; Weiler: Ordnung des Fortschritts, Kap. III.B. 71 Vgl. Petermann: Geschichte der Ethnologie, S. 610.
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Methode in der Ethnologie erstmals auf den von Boas vertretenen Ansatz hin. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er in zwei weiteren größeren Artikeln die Entwicklung auf, 1925 rezensierte er Robert Lowies Primitive Religion, und noch in seinem 1937 erschienenen Handbuch der Methode der kulturhistorischen Ethnologie diskutierte er ausführlich unterschiedliche Positionen der amerikanischen Anthropologie.72 Schmidt zeichnete den Stand der amerikanischen Debatte relativ differenziert nach, kritisierte und vereinnahmte sie aber auch. Boas kooperierte, wenn es sinnvoll war, mit Schmidt, obwohl er starke Vorbehalte gegen dessen konservativ-theologische Ethnologie hatte.73 Beispielsweise bot Schmidt den Anthropos als Plattform der Totemismus-Debatte an, die sich gegen die kulturevolutionistische Deutung von Religion richtete und an der auch der Boasianer Alexander Goldenweiser teilnahm. 74 Die Boasianer Alfred Kroeber und Robert Lowie pflegten über Korrespondenz, Rezensionen und einige Veröffentlichungen einen recht intensiven Austausch mit der Gruppe um Schmidt. Insbesondere Lowie, der aus Wien stammte, würdigte deren Anliegen nicht unkritisch, aber wohlwollend als »grandiose attempt to see human culture as a whole«.75 Fachgeschicht72 Schmidt: Kulturhistorische Methode, S. 1018-1019; ders.: Anwendung der kulturhistorischen Methode; ders.: Kulturhistorische Methode und amerikanische Ethnologie; ders.: Abwendung vom Evolutionismus; ders.: Rez. Lowie: Primitive Religion; ders./ Koppers: Handbuch der Methode, S. 36-68. 73 Robert Lowie zufolge weigerte sich Boas, im Anthropos zu publizieren (Lowie: Robert H. Lowie, S. 134). Dagegen spricht ein Brief, in dem Boas einen deutschsprachigen Artikel für die Zeitschrift in Aussicht stellte (Boas an Schmidt, 21. Oktober 1919, PCFB). Später versuchte er, Manuskripte von Schülern unterzubringen: Boas an Wilhelm Koppers, 27. Mai und 6. Oktober 1930. Vgl. auch Schmidt an Boas, 26. November 1919, 21. Oktober 1924, 15. November 1925, ebd. Schmidt berichtete von einem persönlichen Gespräch bei Boas’ Europa-Reise 1921, vgl. Weiler: Ordnung des Fortschritts, S. 450, Anm. 88. Wilhelm Koppers besuchte 1928 den Amerikanistentag in New York, vgl. Ruth Benedict an Margaret Mead, 21. September 1928, in: Mead: Anthropologist at Work, S. 308. Im selben Jahr gehörte Boas zu den namentlich genannten Subskribenten für Schmidts Festschrift, vgl. Koppers (Hg.): Festschrift/Publication d’Hommage, Subskribentenliste. Vgl. allgemein Kudraß: Franz Boas. 74 Schmidt an Boas, 31. Mai und 27. Juli 1913, PCFB; Goldenweiser: Views of Andrew Lang. 75 Lowie: Rez. Schmidt/Koppers: Völker und Kulturen, S. 283. Vgl. weitere Rezensionen im American Anthropologist von Lowie: 22 (1920) 1, S. 72-74; 26 (1924), S. 404415; 28 (1926) 1, S. 283-285; 28 (1926), S. 298-299; 29 (1927) 4, S. 689-690; 30 (1928), S. 483-486; 32 (1930), S. 169-170; 36 (1934), S. 469; 40 (1938), S. 142-144;
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lich wäre über die Verbindungen der Boasianer zu deutschen Ethnologen und Volkskundlern sicher weitaus mehr zu sagen. Gesellschaftlich war der Status »primitiver« Kulturen allerdings deutlicher weniger brisant als Boas’ Thesen zur Plastizität der rassischen Typen. Wie diese sich unter Anthropobiologen und Genetikern behauptete, wird Kapitel 7 erörtern. Vorerst seien die Reaktionen in einer breiteren akademischen und intellektuellen Öffentlichkeit skizziert. Nach der Veröffentlichung von Changes in Bodily Form hatte Boas einiges getan, um Ergebnisse und Thesen in Deutschland bekannt zu machen. Er versandte Rezensionsexemplare, und als er in den Sommern 1912 und 1913 in Berlin war, hielt er Vorträge in der Berliner Gesellschaft für Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte, die immer noch ein wichtiger Umschlagplatz für anthropologisches Wissen war. Beide veröffentlichte er in der Zeitschrift für Ethnologie. 1912/13 entspann sich zudem eine längere Kontroverse im Archiv für Rasseund Gesellschaftsbiologie, an der sich mehrere namhafte Anthropologen beteiligten.76 Eine Popularisierung über engere Fachkreise hinaus scheint jedoch erst durch die deutsche Übertragung von The Mind of Primitive Man erfolgt zu sein. Freund und Schwager Rudolf Lehmann setzte sich gleich nach dem Erscheinen für eine deutsche Übersetzung ein und verhandelte in Boas’ Auftrag mit dem Verlag Veit & Co.77 Boas übersetzte das Buch selbst im Sommer 1913 während 40 (1938), S. 495-503, und Kroeber: 23 (1921) 2, S. 224-226; 30 (1928) 4, S. 693696; vgl. Lowie: Verbreitung der Flursagen; ders.: Individual Differences and Primitive Culture (Festschrift Schmidt); ders.: History of Ethnological Theory, S. 188-193; ders.: Robert H. Lowie, S. 129; Schmidt: Donner und Regenbogen (Festschrift Kroeber), sowie die Korrespondentenverzeichnisse in den Nachlässen von Kroeber und Lowie in der Bancroft Library der UC Berkeley (Guide to the Alfred L. Kroeber Papers, 1869-1972; Finding Aid to the Robert Harry Lowie Papers, 1872-1968). 76 Am 15. Juni 1912 hielt er einen Abendvortrag über »Änderungen in der Körperform der Einwanderer in New York«, vgl. Boas an Sophie Boas, 23. Mai 1912, APS, FBP, PP, Correspondence, Box 1912. Ein weiterer Vortrag folgte am 21. Juni 1913. Veröffentlichungen: Boas: Veränderungen der Körperform; ders.: Einfluß von Erblichkeit und Umwelt; Debatte im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie: Alsberg: Schädelform und Umwelt-Einflüsse; ders.: Gibt es eine durch Umwelt-Einflüsse; ten Kate: Nachtrag zu »Schädelform und Umwelt-Einflüsse«; ten Kate: Antwort; Auerbach: Zur Plastizität des Schädels; Schiff: Änderungen der Körperform; Boas: Erwiderung auf Dr. H. ten Kates Nachtrag; ders.: Analyse anthropometrischer Serien; ders. an Luschan, 9. November 1912, StBPK, HSA, NL Luschan, Bl. 36. 77 Hedwig Lehmann an Boas, 8. Dezember 1911, APS, FBP, FP, Box 12; Vertrag Veit & Co/Boas, 13. Juli 1912, PCFB; Veit & Co an Boas, 9. September 1913; Boas an Veit & Co, 18. September 1913, APS, FBP, PP, Correspondence.
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und nach seiner Deutschlandreise. Dabei überarbeitete er es zum Teil erheblich, ergänzte größerer Passagen und stellte um.78 Nachdem der ursprüngliche Erscheinungstermin im Herbst 1913 verstrichen war, erschien es unter dem Titel Kultur und Rasse im Herbst 1914 zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Anfang 1915 teilte der Verlag mit, wegen des Krieges werde das Buch nicht mehr beworben.79 Es gab nur wenige Rezensionen, allerdings nahm die ältere Generation physischer Anthropologen es geradezu euphorisch auf.80 Nach dem Krieg vereinbarte Boas mit dem Verlag Walther de Gruyter, die unverkauften Exemplare der ersten Auflage mit einer neuen Titelei und einem kurzen Vorwort als »zweite« Auflage herauszubringen, die 1922 erschien. 81 Nach dem Fehlstart von 1914 waren die Bedingungen nun günstiger, um die deutsche Öffentlichkeit mit den boasianischen Maximen bekannt zu machen. Kultur und Rasse – und darüber die Einwandererstudie – wurden nun auch außerhalb anthropologischer und ethnologischer Fachkreise wahrgenommen. Das lässt sich gut an verschiedenen Auflagen von Willy Hellpachs Geopsychischen Erscheinungen nachvollziehen, in denen der Psychiater den Einfluss von natürlichen Umweltfaktoren wie Klima, Wetter, Boden und Landschaft auf die Psyche erörterte. In den ersten beiden Auflagen von 1911 und 1917 findet sich im Unterkapitel »Boden und Volkstum« nur der Hinweis, das multirassische Einwanderungsland USA sei ein aussichtsreiches Versuchsfeld für die Modellierung des Seelenlebens durch die Landschaft.82 In der dritten Auflage von 1923 bezog sich Hellpach dann ausführlich auf Boas’ kraniometrische Arbeiten, die eine erste empirisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der populären Überzeugung darstellten, dass »Menschenrassen ein Produkt ihrer natürlichen Umwelt seien«.83 Er referierte Boas’ Schlussfolgerung der Plastizität und machte nur leise Kritik daran fest, dass dieser die wirksamen Umweltfaktoren nicht weiter spezifiziere, »er scheint im wesentlichen mittelbare (Ernährung, Lebensweise, Wohnung usw.) zu meinen«. Auch in späteren Arbeiten verwies Hellpach immer 78 Boas an Marie Boas, 29. Mai 1913, an Sophie Boas, 20. Juli und 19. August 1913, APS, FBP, PP, Correspondence, Box 1912. 79 Eugen Fischer an Boas, 25. November 1914; Veit & Co an Boas, 8. Januar 1915, PCFB. 80 Ranke: Rez. Boas: Kultur und Rasse; Birkner: Rez. Boas: Kultur und Rasse. 81 Verlag de Gruyter an Boas, 7. September 1921 und [September 1925] (Belegexemplare von Rezensionen), PCFB. Auf fehlende Überarbeitung wies hin: Fischer: Rez. Boas: Kultur und Rasse. 82 Hellpach: Geophysische Erscheinungen (1911), S. 313; ders.: Geophysische Erscheinungen (1917), S. 411. 83 Hellpach: Geophysische Erscheinungen (1923), S. 344-346.
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wieder auf Boas’ Einwandererstudie als umstrittene, aber bahnbrechende Pionierarbeit.84 In den 1920er Jahren fügte sich Boas’ Position in den Trend »einer immer grösseren Betonung des Wandelbaren gegenüber dem Wunsch statischer und wertbetonter Typencharakteristik« ein.85 1928 bezeichnete die Vossische Zeitung es als Boas’ wichtigste Erkenntnis, dass die Schädelform kein konstantes Rassemerkmal sei.86 Liest man stichprobenartig durch den Höhenkamm der Weimarer Republik, taucht Boas an unterschiedlichen Stellen auf, bei Ferdinand Tönnies und Robert Michels ebenso wie bei Carl Gustav Jung oder Ludwig Klages.87 Allerdings zeigt gerade das Beispiel der Kulturtheoretiker, wie leicht sich Boas’ Position in tellurische Mystik umbiegen ließ. So brachte Jung Boas’ anatomische Studie mit einer »merkwürdigen Indianisierung der amerikanischen Bevölkerung« in Verbindung.88 Und Oswald Spengler bewies im Untergang des Abendlandes, dass er sich Boas offenbar weniger über Lektüre als durch Stille Post angeeignet hatte: »Boas hat gezeigt, daß schon die in Amerika geborenen Kinder langköpfiger sizilischer und kurzköpfiger deutscher Juden dieselbe Kopfform haben.« Der »Indianerboden« habe seine Macht an den europäischen Einwanderern bewiesen.89 Selbst ein Wissenschaftler wie der Psychotechniker Fritz Giese paraphrasierte Boas dahingehend, dass sich aus allen Einwanderern ein neuer Typus bilde.90 Boas selbst hatte dagegen von Anfang an betont, Ausmaß und Dauerhaftigkeit der Veränderungen seien unbekannt und das rechnerische Mittel der Schädelindices repräsentiere keinen neuen empirischen »Yankeetypus«.91 Raum für weitere eigenwillige Rezeptionen bot die bunte Landschaft politwissenschaftlicher Tagesliteratur. Der Journalist und Volkskundler Karl Felix 84 Hellpach: Psychologie der Umwelt: S. 188; ders.: Anthropologische Grundlagen, S. 241. 85 Landsberg: Rassenideologie, S. 406, Boas S. 399, 405; vgl. auch Ullmann: Lebensdauer des Menschen, S. 956-958; Baron: Begabtenverteilung, S. 94; Kruse: Deutsche und ihre Nachbarvölker, S. 93-94; Voegelin: Rasse und Staat, S. 60-61. 86 Li.: Professor Franz Boas’; vgl. auch o. A.: Boas, Franz (Brockhaus). 87 Tönnies an Boas, 25. August 1927, PCFB; Michels: Patriotismus, S. 130-132; ders.: Einfluß des Milieus, S. 450-52; Klages: Geist als Widersacher der Seele, S. 1207. 88 Jung: Seele und Erde, S. 60-61; ders.: Komplikationen der amerikanischen Psychologie, S. 548. 89 Spengler: Untergang, S. 140. 90 Giese: Kosmische Einflüsse, S. 571, 621. Boas dagegen nicht erwähnt bei dem Lamarckisten Paul Kammerer: »Schmelztiegel« Amerika, S. 36-37. 91 Boas: Instability of Human Types, S. 102; ders.: New Evidence in Regard to Instability; Boas an P. de Biermont, 1. Juli 1914, PCFB.
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Wolff berief sich auf Boas’ Kritik am Rassenmerkmal Schädel, nur um eine eigene Rassensystematik zu entwickeln, die er mit dem Bekenntnis zu Menschenrechten und der Brüderlichkeit der Rassen kombinierte.92 Der Wiener SkandalBuchhändler Carl Wilhelm Stern, der unter dem Pseudonym Carl Helm schrieb, baute Boas in ein Weltbild ein, das antisozialistisch, sozialdarwinistisch, kulturevolutionistisch, antirassistisch und -nationalistisch war.93 Ein weiteres Beispiel ist eine Schrift des Münchner Hygienikers Ignaz Kaup von 1925, der das 150 Jahre alte Thema der Nord- und Süddeutschen variierte. Aus der Perspektive der alpinen Rundköpfe wies er die Behauptung nordisch-norddeutscher Rassenüberlegenheit zurück und stellte, mit einem Spenglerschen Begriff, die verbindende »faustische Lebensauffassung« des deutschen Volkes heraus. Er berief sich auf Boas’ Einwandererstudie, um fixe Körperformen als Rassenmerkmal zu entkräften. Gleichzeitig argumentierte er essentialistisch, da er die Deutschen vor allem über einen physiognomischen Kontrast zur »facies judaica« festmachte.94 Anfang der 1930er Jahre vermeldete Hedwig Lehmann, das Buch habe es mittlerweile zum universitären Prüfungsstoff gebracht. 95 Seine kommerzielle Reichweite blieb allerdings begrenzt. 1938 waren von der »zweiten« Auflage – das heißt von den 1914 gedruckten 2000 Exemplaren – noch 400 übrig.96 Dabei scheinen sich Boas’ Peers nicht allzu aktiv um eine Verbreitung bemüht zu haben. Unter anderem bat er Felix von Luschan um eine Rezension. Luschan kam dieser Bitte auch nach, aber da er Rudolf Lehmann für den Übersetzer hielt, teilte er offenherzig mit, er halte den deutschen Text für gänzlich missraten.97 Von Luschans Reaktion ist auch deshalb aufschlussreich, weil er ein Konkurrenzprodukt veröffentlichte, sein ebenfalls 1922 erschienenes Publikumsbuch Völker, Rassen, Sprachen. Darin erwähnte er Kultur und Rasse nicht. In einem Halbsatz nannte er Boas als wichtigen Ethnographen der indigenen Kulturen Nordamerikas, nicht jedoch als Referenz für das Verhältnis von Rasse und Kultur, obwohl er am Ende des Buches Merksätze formulierte, die genauso von Boas hätten stammen können:
92 Wolff: Rassentheorien, S. 26-27, 54, 172. 93 Helm: Arier, Wilde, Juden, S. 16-17, 26, 33. 94 Kaup: Süddeutsches Germanentum, S. 45, 30, 42, 45-47. 95 Hedwig Lehmann an Boas, 2. Mai 1932, APS, FBP, FP, Box 17. 96 De Gruyter an Boas, 10. Februar 1938, PCFB. 97 Luschan an Boas, 23. März 1922, StBPK, HSA, NL Luschan; Luschan: Rez. Boas. Schon in der Vorkriegskorrespondenz von Luschans mit deutschen Kollegen war Boas’ Einwandererstudie kein Thema.
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1. Die gesamte Menschheit besteht nur aus einer einzigen Spezies: Homo sapiens. 2. Es gibt keine »wilden« Völker, es gibt nur Völker mit einer anderen Kultur als die unsere […] 3. Die trennenden Eigenschaften der sog. »Rassen« sind im wesentlichen durch klimatische, soziale und andere Faktoren der Umwelt entstanden. 4. Es gibt keine an sich minderwertigen Rassen. […] 8. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Rassen ist, besonders was die moralischen Eigenschaften und die Intelligenz angeht, nicht entfernt so groß als der zwischen einzelnen Individuen ein und derselben Rasse.98
Luschan war denn auch eine wichtige Referenz für andere Autoren, die mit kulturrelativistischem Einwand gegen eine Werthierarchie der Rassen antraten.99 Boas musste sich in der deutschen Öffentlichkeit also nicht nur gegen Feindseligkeit und Desinteresse, sondern auch gegen Freunde durchsetzen, um seine Position sichtbar zu machen. Ob und wie ihm dies beim Thema rassischer Intelligenzunterschiede gelang, ist Gegenstand der beiden folgenden Kapitel.
98 Luschan: Völker, Rassen, Sprachen, S. 187-188, Verweis auf Boas: S. 23. 99 Etwa Helm: Wilde, Arier, Juden, etwa S. 35-36; Hertz: Rasse und Kultur (1925), S. 328-330.
6. Persönlichkeit und Wesensschau: Deutsche Gegenentwürfe zur Psychometrie
Dass Otto Klineberg in Deutschland mit William Stern kooperierte, scheint nahe liegend. Stern begründete um 1900 die differentielle Individualpsychologie und war ein internationaler Pionier der Intelligenzforschung, der 1912 das Konzept des Intelligenzquotienten vorgestellt hatte. Doch gerade weil US-Psychologen seinen IQ zu einem zentralen Objektivierungsinstrument machten, distanzierte er sich wiederholt von der amerikanischen Praxis, die geistige Leistungsfähigkeit von Schulkindern in rein metrischen Massenverfahren abzufragen und aus diesem isolierten Merkmal weit reichende Prognosen abzuleiten.1 Über die Kritik an der amerikanischen Psychometrie hinaus verband Klineberg mit Stern eine persönliche Beziehung. Einer späteren autobiographischen Stellungnahme zufolge habe er sich bei seinem ersten Aufenthalt in Hamburg in Sterns Umfeld sehr wohl gefühlt und sogar erwogen, in Deutschland zu bleiben. Dass dies ein Gedankenspiel blieb, kam den Sterns bei ihrer Emigration in die USA zugute. Klineberg hatte inzwischen eine Amerikanerin geheiratet und veranlasste seinen wohlhabenden Schwiegervater, für das Ehepaar Stern zu bürgen, während der Rassentheoretiker William McDougall dafür sorgte, dass Stern an der Duke University in Durham/North Carolina lehren konnte.2 Man könnte meinen, die Konstellation sei ungewöhnlich günstig gewesen für einen Wissenstransfer zwischen der liberalen Variante der deutschen Ganzheitspsychologie und der amerikanischen Kulturanthropologie. Doch der Name Stern taucht in Klinebergs Publikationen vor 1940 nicht auf. Während Ruth Benedict in ihren Patterns of culture auf Stern als Ganzheitsdenker verwies, dankte Klineberg nur für die technischen Hilfestellungen des Hamburger Instituts. Und auch in seiner Social Psychology von 1940 erscheint Stern nicht explizit als Intelli1
Vgl. etwa Stern: Vorrede, S. IV, VII.
2
Klineberg: Reminiscences, CUA, OHRO, S. 117-119.
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genzforscher.3 Umgekehrt schwiegen sich Stern und seine Mitarbeiter über die Arbeit von Klineberg und Boas aus. Otto Lipmann, der mit Stern die Zeitschrift für angewandte Psychologie herausgab, besprach gelegentlich amerikanische Publikationen, die sich kritisch zur gängigen race psychology verhielten; Klinebergs Arbeiten waren aber nicht darunter.4 In seinem letzten Arbeitsbericht, 1933 im Zeichen des erzwungenen Rückzugs aus dem Institut verfasst, verzichtete Stern darauf, die Forschungskooperation mit dem renommierten amerikanischen Anthropologen zu erwähnen; auch für ihn hatte sie offenbar nur den Stellenwert einer Dienstleistung, die sein Institut erbrachte, als es in der Finanz- und Wirtschaftskrise unter Druck stand.5 Die einzige öffentliche Bezugnahme auf die Kooperation mit Klineberg scheint ein Vortrag gewesen zu sein, den Betti Katzenstein im September 1934 auf dem 8. Internationalen Kongress für Psychotechnik in Prag hielt.6 Da auf dem Feld der Intelligenzpsychologie aufgrund kollegial-freundschaftlicher Kontakte, wissenschaftlicher Gemeinsamkeiten und politischer Nähe bis 1933 ausgesprochen gute Voraussetzungen für transatlantische Resonanzen bestanden, ist die Stille auf beiden Seiten umso bemerkenswerter. Sie wirft die Frage auf, warum trotz günstigster Umstände kein erkennbarer Wissenstransfer zustande kam. Die Antwort darauf muss zwar hypothetisch bleiben, wenn sie nach Ursachen in den sozialen und diskursiven Dynamiken von disziplinären und nationalen Wissenschaftskulturen sucht, die dann einzelnen Akteuren zugerechnet werden. Diese Herangehensweise hat aber den Vorteil, die spezialistischen Probleme der Wissenschaftsgeschichte als Teil einer »allgemeinen« Geschichte zu profilieren. Das folgende Kapitel argumentiert, dass – trotz vielfältiger Berührungen und Parallelen – das Verhältnis von menschlicher Intelligenz, Rasse und Kultur im deutschsprachigen Kontext der Wissenschaften markant anders verhandelt wurde als in den USA, so dass selbst Stern und Klineberg einander und übereinander nicht viel zu sagen hatten.
3
Benedict: Patterns of culture, S. 46; Klineberg: Intelligence of Migrants, S. 221; ders.: Social Psychology, S. 51, 220, 260, 344. Vgl. aber Boas an Max Warburg, 9. Oktober 1930, PCFB, wo das Projekt als echte transatlantische Forschungskooperation angesprochen wurde.
4
Lipman: Rez. Lasker; ders.: Abhängigkeit der Intelligenz.
5
Vgl. Stern: Aus den letzten Arbeiten; so auch in ders.: Institutsbericht; Moser: Zur Entwicklung, S. 493.
6
Stern an Franz Boas, 16. Oktober 1934, PCFB.
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Intelligenzmessung in Weimar 1926 diskutierte Adolph E. Meyer – Erziehungswissenschaftler an der New York University – im Lehrerfachblatt School and Society den Umgang deutscher Schulbehörden mit der angewandten Intelligenzdiagnostik. Kein anderes Land der Welt, so Meyer, unternehme derzeit größere Anstrengungen als Deutschland, um hochbegabte Kinder angemessen zu fördern.7 Er kontrastierte drei Modelle der Begabtenauslese, die er den Städten Kiel, Berlin und Hamburg zuordnete. Die Kieler unter Führung des konservativen Reformpädagogen Johannes Wittmann lehnten Intelligenztests aus Prinzip ab, weil statistische Massenvergleiche der einzigartigen Ganzheit des Individuums zuwiderliefen und somit keine Erkenntnisse hervorbringen könnten. In Berlin seien dagegen leicht anzuwendende Massenverfahren nach amerikanischem Vorbild eingeführt worden, um die Intelligenzprüfung möglichst flächendeckend einzusetzen. Hamburg stehe für einen behutsamen, individualisierenden Mittelweg, der intensiv geschulte Prüfer voraussetze. Wie Meyer zutreffend beobachtete, summierten sich Deutschlands Anstrengungen für seine Hochbegabten in erster Linie aus vielen lokalen Initiativen, bei denen Kommunalverwaltungen, Lehrerorganisationen und wissenschaftliche Institute kooperierten. Vorausgegangen war ein Prozess, in dem der außerwissenschaftliche, vielfältig aufgeladene Begriff der »Begabung« wissenschaftsfähig geworden war. Von der Psychopathologie war die Debatte über die pädagogische Lerntheorie in die Beschäftigung mit der »normalen« Psyche gewandert. Während des Ersten Weltkriegs verstärkten sich Ansätze, Hochbegabte gezielt zu identifizieren und zu fördern. Berlin und Hamburg richteten Sonderklassen ein, in denen Begabte getrennt von den übrigen Schülern unterrichtet werden sollten.8 Die Konjunktur der empirischen Begabungsforschung nach dem Weltkrieg zeugt von der wachsenden Bedeutung von Humankapital für moderne Regierungstechniken9, vielleicht auch von der besonderen Situation eines Kriegsverlierers, dessen verbliebener Aktivposten das geistige Potenzial seiner Bevölkerung zu sein schien. 1920 führte die Republik die vierjährige gemeinsame Grundschule für alle Kinder ein. Die bislang gesonderte Vorbereitung auf die höhere und mittlere Schule sollte per Gesetz bis 1925 wegfallen. Ab Mitte der 1920er 7
Meyer: Germany and the I.Q., S. 411.
8
Vgl. Drewek: Begabungstheorie, S. 393-396, 400-401; Ingenkamp: Pädagogische
9
Zur Begriffsbildung vgl. Fleischhacker: Menschen- und Güterökonomie; Bröckling:
Diagnostik; Peters: Einführung in die Pädagogik, S. 56. Menschenökonomie, S. 6-15.
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Jahre verlagerte sich die Intelligenzdiagnostik daher von der Begabtenauslese auf den Übergang der Grundschüler in das differenzierte weiterführende Schulsystem. Weitere wichtige Zentren der Begabungsprüfung und -forschung neben Berlin und Hamburg waren in dieser Zeit Lübeck, Frankfurt am Main, Bremen (seit 1911 Sitz des Instituts für Jugendkunde), das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger Lehrervereins, das Psychologische Institut der Universität Jena und Mannheim, wo 1922 erstmals ein Schulpsychologe seinen Dienst antrat.10 Die Sympathien des New Yorker Beobachters Meyer lagen klar beim Hamburger Modell, das auf William Sterns personalistischer Psychologie basierte. Das war nicht selbstverständlich, denn während im späten 19. Jahrhundert viele der amerikanischen Pioniere des Fachs eine experimentelle Ausbildung bei Wilhelm Wundt durchlaufen hatten, verlor die deutsche Psychologie danach ihren Professionalisierungsvorsprung. Anders als die Psychoanalyse und die Gestaltpsychologie wurde Sterns Personalistik in den USA, mit Ausnahme von Gordon Allport in Harvard, nicht nennenswert rezipiert, obgleich er selbst relativ bekannt war.11 Im breiten Strom des deutschen Ganzheitsdenkens angesiedelt, begriff die Sternsche Personalistik die individuelle Psyche als eine »unitas multiplex«. Deren Einzelfunktionen könnten zwar analytisch erfasst werden, der Forscher müsse sie sich aber stets als lebendige Einheit vergegenwärtigen. Stern grenzte sich von beiden Traditionslinien der deutschen Psychologie ab, von der metrisch-quantifizierenden wie von der geisteswissenschaftlichen Methode: Die menschliche Person, als Viel-Einheit, kann weder von der Vielheit der Elemente her zusammengesetzt, noch von der Einheit der Gesamtgestalt her deduziert werden. Es gilt vielmehr, die Mannigfaltigkeit der Einzelheiten als empirischer Tatsächlichkeiten so exakt wie möglich festzustellen – aber die personale Bedeutsamkeit der so erarbeiteten Befunde dadurch zu verstehen, dass man ihre Stelle und ihren Rang in der Gesamtstruktur der Persönlichkeit aufweist.12
Bezogen auf die Intelligenz hieß das, sie als spezifische Potenz zu erkennen, die im konkreten Verhalten einer Person stets mit anderen mentalen Faktoren wie Wille und Interesse interagiere. Stern unterschied außerdem Talente als isolierte Sonderbegabungen von der Intelligenz als »geistige Allgemeinbegabung, d. h. 10 Ingenkamp: Pädagogische Diagnostik, S. 190-204. 11 Vgl. Blumenthal: Wilhelm Wundt and Early American Psychology; Berenbaum/Winter: Personality, S. 186; Nicholson: Inventing personality; Ash: Gestalt Psychology; Schmidt: William Stern (1871-1938); Stern: Autobiography. 12 Stern: Vorrede, S. IV-V.
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die Fähigkeit, sich beliebigen Neuanforderungen des Lebens denkend anzupassen«.13 Vor diesem Hintergrund hielt er es auch für abwegig, dass ein Multiplechoice-Fragebogen Voraussagen über die schulische und berufliche Eignung oder die allgemeine Lebenstüchtigkeit zulasse. Der Intelligenztest sollte nur ein Element in der akademisch geschulten, interpretierenden Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit eines Kindes sein. Um ein vollständiges Bild zu gewinnen, müssten Ausdrucks- und Leistungsprüfungen, tiefendeutende und verhaltensdeskriptive Verfahren sowie die Analyse von Erb- und Umweltbedingungen zusammenkommen.14 Dieses letzte Kriterium, die zentrale Unterscheidung von Erbe und Umwelt, macht hellhörig. Auch sie war in Sterns Modell ganzheitlich zusammenzudenken: Begabung ist angeborene Disposition zu objektiv wertvollen Leistungen. Darin liegt erstens die Anerkenntnis, daß es Angeborenes in der Seele gebe, liegt somit eine Abwendung von jener »empiristischen« Psychologie, welche das ganze Seelenleben nur aus den von außen kommenden Einflüssen und Eindrücken zusammengeknetet sein läßt. Aber zugleich wird der »Nativismus« darin eingeschränkt, daß nicht irgend welche konkreten Bewußtseinsinhalte oder festdeterminierten Eigenschaften, sondern nur »Dispositionen« angeboren sein können, d. h. unabgeschlossene Fähigkeiten, Möglichkeiten der Leistung, ein Angelegtsein auf eine gewisse Entwicklungsrichtung hin.15
Erst unter den verschiedenen Einflüssen der Außenwelt konkretisieren sich diese Dispositionen zu psychischen Eigenschaften. Für diese Interaktion von erblicher Disposition und Einwirkungen von außen benutzte Stern den Begriff »Konvergenz«. Ein bezeichnender Unterschied zum amerikanischen Gebrauch von »environment« war nun, dass Stern die objektive Außenwelt wiederum von der subjektiven Umwelt absetzte – diese Unterscheidung ist zeitgenössisch vor allem aus der systemischen Umweltlehre des Zoologen Jakob von Uexküll bekannt.16 Konvergenz war laut Stern das »Zusammenwirken von Welt und personaler Zielstrebigkeit. […] Nur dasjenige Stück Außenwelt wird für die Person zur Umwelt, dem irgendeine innerlich angelegte Streberichtung der Person entgegenkommt oder
13 Stern: Jugendkunde, S. 286. 14 Stern: Aus den letzten Arbeiten, S. 403; zur Hamburger Begabungsforschung vgl. Ingenkamp: Pädagogische Diagnostik, S. 156-163. 15 Stern: Jugendkunde, S. 283-284. 16 Vgl. Harrington: Reenchated Science; Kleinefeld: Wiederentdeckung der Ganzheit.
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auch sich entgegensetzt«.17 Teil der erblichen Anlage ist demnach die Disponiertheit der Person für bestimmte Beziehungen zur Außenwelt. Sie öffnet sich manchen Effekten, verschließt sich anderen und verarbeitet sie auf je typische Weise zu Umwelt. Die Qualität der schulischen Außenwelt beispielsweise wird persönlich verschiedene Umwelten erzeugen. Der Empiriker Stern schloss nicht aus, dass in Testreihen abstrakt vergleichend über unterschiedliche Schulniveaus gesprochen werden könne. Aber zugleich konzipierte er Umwelt immer auch vom Individuum her, und das hieß in diesem Fall: idiosynkratisch und dynamisch. Sterns liberaler Holismus setzte einerseits auf die Eigendynamik und Pluralität von »Persönlichkeit«, andererseits war er stark an Effizienz und indirekter Steuerung sozialer Prozesse orientiert. Wie seine amerikanischen Kollegen ging er davon aus, dass die bisherigen »Massenuntersuchungen« die Normalverteilung von Intelligenz nachgewiesen hätten.18 Ebenso hielt er die »Mindersinnigen«, »psychisch Abnormen« und »Antisozialen«, das heißt so genannte verwahrloste, unsittliche und kriminelle Jugendliche nicht für fähig, »objektiv wertvolle Leistungen« zu erbringen.19 Die gesellschaftliche Diversität der Talente, der Intelligenzgrade und der Persönlichkeiten insgesamt stellte Stern als effizient zu verwaltende Ressource dar und forderte schon 1916, Schule müsse Teil der »vaterländische[n] Menschenökonomie« sein. 20 Sterns Intelligenzforschung stand im Zeichen einer optimistischen gesellschaftspolitischen Vision: In der funktional differenzierten, mit Sachkompetenz regierten Gesellschaft galt es zum einen, die unterschiedliche Talente je nach ihrer Begabungsstufe an die Stelle zu bringen, an der sie produktiv für die Gesellschaft sein würden, zum anderen die Funktionseliten unter den Hoch- und Höchstintelligenten zu rekrutieren. Wünschenswert war Stern zufolge eine langsame, sich über zwei bis drei Generationen vollziehende Umschichtung der Bevölkerung, wobei eine begrenzte Zahl höchstbegabter Aufsteiger die gebildete Oberschicht kontinuierlich auffrischen sollte.21 Die rationale Bewirtschaftung der Ressource Mensch stand für ihn nicht in Widerspruch zum Selbstentfaltungsrecht der Individuen. Vielmehr biete die Lenkung durch Schule und Berufsberatung den Individuen optimale Möglichkeiten der Selbstentwicklung und -verwertung.22 17 Stern: Personalistische Psychologie, S. 167. 18 Stern: Jugendkunde, S. 288; ders.: Intelligenz der Kinder und Jugendlichen (1920), S. 158-169. 19 Stern: Jugendkunde, S. 277. 20 Ebd., S. 278. 21 Ebd., S. 289, vgl. auch Drewek: Begabungstheorie, S. 402-404. 22 Ebd., S. 282, 293.
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Während die gesellschaftspolitischen Konzepte Sterns denen amerikanischer Psychometriker durchaus ähnelten, betonte er immer wieder die strukturellen Unterschiede zwischen deutscher und amerikanischer Psychologie, die sich auch auf dem Gebiet der Intelligenzforschung niederschlugen. Seine Reisen in die USA – 1909 zum Jubiläum der Clark University, 20 Jahre darauf zum Internationalen Psychologenkongress in New Haven – und seine spätere Emigration trugen nicht dazu bei, diese spezifische Form des psychologischen Antiamerikanismus abzumildern. Im Gegenteil scheinen sie die Wahrnehmung einer tiefen methodisch-weltanschaulichen Kluft zwischen der »amerikanischen« Psychologie und dem eigenen »deutschen« Ansatz verstärkt zu haben.23 Folglich griff Stern das Berliner Modell von Otto Bobertag und Erich Hylla scharf an, die 1925 die Gruppenprüfung mit Testheften nach amerikanischem Vorbild einführten.24 Otto Bobertag war ein ehemaliger Mitarbeiter Sterns und hatte 1911/12 auf dessen Anregung hin die maßgebliche deutsche Revision der Binet-Simon-Skala veröffentlicht, die 1930 noch einmal überarbeitet wurde.25 1913 wechselte Bobertag in das neu gegründete Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin. Während er vor dem Ersten Weltkrieg Massentests noch ablehnte, informierte er 1922 die deutsche Fachöffentlichkeit über das Army Screening. Es handele sich um »eine nach einheitlichen, sorgfältig ausgearbeiteten Methoden vorgenommene psychologische Untersuchung von über 1700000 Menschen, deren klassifikatorische Einordnung in bestimmte Intelligenzgruppen und die dadurch ermöglichte Anbahnung einer rationellen Verteilung und Verwendung dieser Menschen« auch für Deutschland relevant sei.26 Zudem übersetzte Bobertag Edward Thorndikes Educational Psychology ins Deutsche.27 Auch sein Koautor, der Pädagoge Erich Hylla, öffnete sich nach 1918 amerikanischen Debatten und Vorbildern. Der ehemalige Lehrer Hylla kannte Bobertag und Stern ebenfalls aus der Vorkriegszeit. Seit 1922 war er Ministerialrat in der Abteilung Volksschule des Preußischen Kultusministeriums und in diesem Rahmen auch für das Zentralinstitut zuständig. 1926/27 hielt er sich als visiting fellow am Teachers College der Columbia University auf und begann sich dort intensiv mit dem Ansatz John Deweys zu beschäftigen. In den folgenden Jahren 23 Vgl. Stern: Betrieb der reinen und angewandten Psychologie; ders.: Eindrücke von der amerikanischen Psychologie. 24 Vgl. Stern: Aus dreijähriger Arbeit, S. 294; ders.: Bemerkungen zu dem Aufsatz von Bobertag und Hylla. 25 Bobertag: Über Intelligenzprüfungen; Mitteilungen (Päd Zentralbl). 26 Bobertag: Psychologische Prüfungen, S. 191; vgl. Ingenkamp: Pädagogische Diagnostik, S. 120. 27 Thorndike: Psychologie der Erziehung.
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machte er es sich zur Aufgabe, Deweys demokratische Pädagogik in Deutschland bekannt zu machen – allerdings ohne allzu starke Resonanz –, und organisierte 1928 bis 1930 einen deutsch-amerikanischen Pädagogenaustausch.28 Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde Hylla aus politischen Gründen entlassen und war zwischen 1935 und 1938 Gastprofessor an der Columbia und der Cornell University.29 Der Anstoß für Bobertag und Hylla, amerikanische Testmethoden nach Deutschland zu übertragen, kam Anfang 1924 von einem Erlass des preußischen Kultusministeriums, der die Auswahl von Grundschülern für die höheren Schulen neu regelte. Er räumte den Auswahlgremien die Möglichkeit ein, ihr auf Noten, Lehrergutachten und Aufnahmeprüfung basierendes Urteil durch »experimentelle Prüfungsmethoden« zu ergänzen, vorausgesetzt dass »die beteiligten Lehrer diese Methoden wirklich beherrschen«.30 Anfang 1926 folgte ein zweites Heft zur Auslese der künftigen Aufbauschüler und Berufsberatung, das unmittelbar dem Otis Self Administering Test nachgebildet war.31 Bobertag und Hylla nannten als ein wichtiges Ziel ihrer Testhefte, die deutschen Lehrer für experimentelle Methoden zu interessieren und so überhaupt erst eine Datengrundlage zu schaffen, die es erlauben würde, den Wert dieses Verfahrens für die Schülerauslese wissenschaftlich zu beurteilen.32 Ihre Testmethode sei leicht zu erlernen und auszuwerten, erhebe aber wohlgemerkt nicht den Anspruch, »den ganzen Menschen zu erfassen«.33 Die Intelligenzprüfungen sollten zwar sofort in konkrete Schulempfehlungen eingehen und dadurch mittelfristig egalisierend wirken, waren aber zugleich auch ein Stück Forschung. Insgesamt wurde das orthodoxe mental testing in Deutschland nur wenig wahrgenommen und verarbeitet. 34 Zeitgenössisch wurden dafür verschiedene Gründe angegeben: politökonomische Rahmenbedingungen wie Inflation und internationale Isolierung, aber auch das Selbstgefühl, als Kernland der pädagogi28 Hilker: Pädagogische Amerikafahrt; o. A.: Studienreise amerikanischer Pädagogen; o. A.: Studienreise amerikanischer Pädagogen vom 22. Juni. 29 Vgl. Führ: Institutsgründung, S. 17-20; Drewek: Inertia, S. 242-243, 264; Bittner: Learning by Dewey, S. 78-82, 86-91, 96-98; Koinzer: Pädagogisches Amerika, S. 137-140. 30 Zit. nach Bobertag/Hylla: Begabungsprüfung für den Übergang, S. 4. 31 Ebd., S. 19; dies.: Begabungsprüfung für die letzten Volksschuljahre; Hylla: Testprüfungen der Intelligenz, S. 160. 32 Bobertag/Hylla: Begabungsprüfung für den Übergang, S. 5-6; Bobertag/Hylla: Zur Aufklärung, S. 506. 33 Bobertag/Hylla: Begabungsprüfung für den Übergang, S. 14. 34 Lipmann: Rekrutierung auf psychologischer Grundlage.
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schen Theorie keine Belehrungen von außen nötig zu haben, zumal wenn sie mit »Schematisierungen« des Seelischen einhergingen.35 Dennoch scheint, ab 1925, das eingedeutschte mental testing von Teilen der Lehrerschaft rezipiert worden zu sein, denn nach eigenen Angaben verkauften sich in wenigen Jahren weit über 100.000 Exemplare des ersten Testhefts von Bobertag/Hylla.36 In der wissenschaftlichen Debatte wurde die amerikanische Psychometrie ähnlich geradlinig vermutlich nur noch von dem Arbeitswissenschaftler und Kulturtheoretiker Fritz Giese rezipiert, der 1925 in seinem Handbuch psychotechnischer Eignungsprüfung die wichtigsten Original-Testformulare wiedergab.37 Der völkische Modernist Giese war offen für verschiedene Anregungen aus Amerika, unter anderem übersetzte er John Watsons Behaviorism. Seine berufsbezogene Eignungsdiagnostik unterschied sich aber nicht nur zweckmäßig von der allgemeinen Leistungsdiagnostik Bobertags und Hyllas. Ihm, der früh den Nationalsozialismus unterstützte, fehlte auch das politische Anliegen, Intelligenztests als Element einer demokratischen Umformung der Gesellschaft zu begreifen.38 Bobertags und Hyllas Abfall vom Sternschen Personalismus stand im Zeichen einer dezidiert linken Bevölkerungspolitik, die den Aufbau der »demokratisch eingerichtete[n] Volksgemeinschaft« im Blick hatte.39 Ihre Rezeption amerikanischer Intelligenztests richtete sich unmittelbar auf die Reform des deutschen Schulwesens, die gleichermaßen individuelle Teilhabechancen entfalten und eine kontrollierte Staatsbürgererziehung etablieren solle. Damit gehörte sie in das breitere Weimarer Feld progressiver Sozialtechnologien, die im Vertrauen auf Wissenschaftlichkeit planend und steuernd an der Verwirklichung einer massenpartizipatorischen, sozial durchlässigen Gesellschaft arbeiteten.40 Der Bezug auf Amerika hatte allerdings Grenzen. Keiner der Autoren, die dafür plädierten, über den einheimischen Tellerrand der philosophischen Psychologie zu schauen, wollte Intelligenzprüfungen als ausschlaggebende oder gar alleinige Grundlage der Auslese gelten lassen. Kritisch kommentierten sie die amerikanische Fokus35 Hylla: Testprüfungen der Intelligenz, S. 157; vgl. auch De Silva: Übersicht über amerikanische Testmethoden; Lietzmann: Unterschiede; ders.: Von der amerikanischen Testbewegung. 36 Vgl. Führ: Institutsgründung, nach einem autobiographischen Fragment Hyllas, S. 18; Bobertag spricht 1931 von rund 200.000 abgesetzten Exemplaren, in: Arbeiten, S. 276, Anm. 1. 37 Etwa Giese: Handbuch, Vordrucke 10 und 11. 38 Zu Giese vgl. Raehlmann: Interdisziplinäre Arbeitswissenschaft. 39 Hylla: Schule der Demokratie, S. 3; vgl. Hardtwig: Volksgemeinschaft im Übergang, S. 237-246. 40 Vgl. exemplarisch Schwartz: Sozialistische Eugenik.
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sierung auf Intelligenz und die schematische Anwendung der Tests, die andere psychische Parameter gänzlich außer Acht lasse.41 So argumentierte auch der österreichische Psychologe Wilhelm Peters, ein weiterer, heute vergessener Protagonist der deutschsprachigen Begabungsforschung. 1923 wurde er unter hochpolitisierten Bedingungen Leiter des neu gegründeten Psychologischen Instituts der Universität Jena. Die linke thüringische Landesregierung setzte ihn als Kampfkandidaten gegen das konservativ-völkische Establishment der Universität und deren Selbstverwaltungsrecht durch.42 Unter den Intelligenzdiagnostikern war Peters ein Solitär, denn anders als seine Fachkollegen beschäftigte er sich bereits seit den letzten Vorkriegsjahren systematisch und empirisch mit der Erblichkeit normaler psychischer Eigenschaften, jedoch ohne daran weit reichende bevölkerungspolitische Interventionen zu knüpfen, wie es wiederum deutsche Biowissenschaftler taten, die Ende der 1920er Jahre an psychologischen Fragestellungen zu arbeiten begannen. Peters war mit der einschlägigen internationalen Literatur außerordentlich gut vertraut und hielt große Stücke auf die amerikanische Begabungspsychologie. Als vorbildlich lobte er die Methodenwerke zur psychologischen Statistik von Thorndike und Davenport, das Prinzip der Feldforschung sowie den Einsatz von Schulpsychologen. Positiv bezog er sich auf verschiedene empirische Studien von Charles Davenport und Porteus/Babcock.43 Auch er äußerte Vorbehalte gegen die »schematische und an der Oberfläche bleibende Anwendungsweise« der Testmethode in den USA, nutzte in seinem Jenaer Institut neben Hamburger, Berliner und eigenem Testmaterial aber auch amerikanisches.44 Peters war ausgeprägt methodenbewusst und wies – ausdrücklich gegen William Stern – auf die impliziten Teleologien der Verteilungskurve und des Normalitätsbegriffes hin.45 Solange Intelligenz »nichts als Problem« im wissenschaftlichen Sinne sei, verböten sich Anwendungen jeglicher Art, die in das Leben von Menschen unter Umständen massiv eingriffen.46 41 Bobertag/Hylla: Begabungsprüfung für den Übergang, S. 44-45; dies.: Zur Aufklärung, S. 508; Bobertag: Arbeiten, S. 276, Anm. 1; Giese: Handbuch, S. 353; Giese: Rez. Bobertag/Hylla. 42 Vgl. Tilitzki: Universitätsphilosophie, S. 126-129; Eckardt: Wilhelm Peters. 43 Peters: Einführung in die Pädagogik, S. 19, 73; ders.: Intelligenzproblem, S. 4-5, 23; ders.: Vererbung und Persönlichkeit; ders.: Psychologische Anstalt, S. 59; ders.: Vererbung geistiger Eigenschaften, S. 34, 43, 54, 88-89, 130-137, 254; ders.: Rasse und Geist, passim. 44 Peters: Psychologische Anstalt, S. 58, 54. 45 Peters: Intelligenzproblem, S. 35. 46 Ebd., S. 37.
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Unter diesen Einschränkungen formulierte Peters allerdings klare Thesen. Da die Genetik noch keinen Zugriff auf die biologischen Prozesse psychischer Erblichkeit habe, setzte er bei den »Ähnlichkeiten zwischen den psychischen Leistungen von Verwandten« an.47 In einer 1915 in Unterfranken durchgeführten Studie kombinierte er massenstatistische Verfahren der Korrelation mit ausgewählten Experimenten. Zum einen verglich er die in den Volksschulzeugnissen dokumentierten Leistungen von 1162 Kindern mit denen ihrer Eltern und – so weit greifbar – auch der Großeltern; zum anderen prüfte er in Tests die Ähnlichkeit von Geschwistern. Er kam zu dem Befund, dass die Ähnlichkeit zwischen Verwandten statistisch größer sei als die zwischen nicht verwandten Menschen. Da Kinder überwiegend von den Müttern erzogen würden, ihre Leistungen aber nicht immer denen ihrer Mütter glichen, sondern ebenso den andersartigen Leistungen ihrer Väter und Großeltern, müsse gefolgert werden, dass nicht das mütterlich geprägte »Milieu«, sondern die Erbanlage den Ausschlag für die intellektuelle Leistungsfähigkeit gebe. Es liegt auf der Hand, dass dieses absurd undifferenzierte Verständnis von »Umwelt« Peters’ eigene Standards unterbot. Entscheidend ist hier jedoch seine Positionierung im Feld der Intelligenzforschung. Er teilte Sterns Grundannahmen im Hinblick auf die Ganzheit der Person, den Begabungsvorsprung der Erfolgreichen sowie die Konvergenz von Erbe und Umwelt. In der empirischen Arbeit machte er dagegen nur Aussagen über Familienerblichkeit, ohne daran differentielle Aussagen über die Begabtheit von Schichten oder Rassen zu knüpfen. Insofern wäre er ein potenzieller Ansprechpartner für Boas gewesen, zumal er ab Mitte der 1920er Jahre, unter dem Druck zunehmend offensiver rassenhygienischer Positionen, stärker die Umweltaspekte betonte. Während sich Rassenforscher vor und nach 1933 auf seine Erblichkeitsannahme beriefen48, wehrte sich Peters gegen eine solche Vereinnahmung seiner Arbeiten und widersprach dezidierte den Advokaten eines genetischen Determinismus wie Wilhelm Hartnacke und Fritz Lenz.49 Hartnacke, seit 1919 Stadtschulrat in Dresden, war ein Freund des populären Rasseschriftstellers Hans F. K. Günther und 1933/34 Minister für Volksbildung und Kultur in Sachsen, bevor er wegen eines zu elitären Kurses entlassen wurde. 47 Peters: Über die Vererbung psychischer Fähigkeiten, S. 369. 48 Lenz: Erblichkeit der geistigen Begabung (1921) S. 1921, (1923) S. 385, 396; ders.: Erblichkeit der geistigen Eigenschaften (1936), S. 777; Günther: Rassenkunde des deutschen Volkes (1924), S. 249 (1930, 1933, 1939), S. 251, 262; Günther: Rassenkunde Europas, 3. Aufl. 1929, S. 106; Just: Biologische Grundlagen der Begabung, S. 267-268. 49 Peters: Anlage und Umwelt.
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Seit 1915 hatte er sich, auf der Grundlage von Statistiken, als strikter Anhänger der Erblichkeit von Intelligenz in höheren Schichten präsentiert und gegen die Demokratisierung von Bildungschancen agitiert, die den naturgesetzlichen »Aufstieg der Tüchtigen« (und ihr Obenbleiben) unterlaufe. Er war gegen »verweichlichende« Förderprogramme für Hochbegabte, sprach sich andererseits gegen eine Aussonderung schwacher Schüler aus, wenn sie das wertvolle Charaktererbe einer bildungsbürgerlichen Familientradition mitbrachten.50 Lenz trat schon vor dem Ersten Weltkrieg als einer der ersten Biowissenschaftler explizit antisemitisch auf und erhielt 1923 in München den ersten Lehrstuhl für Rassenhygiene. Im Januar 1925 hielt er im Rahmen einer Fortbildung für Studienräte, die das sächsische Ministerium für Volksbildung veranstaltete, einen Vortrag Über die biologischen Grundlagen der Erziehung. Die gedruckte Version stieß auf große Resonanz und ging 1927 in die zweite Auflage. Lenz maß Erziehung und schulischer Bildung geringe Wirksamkeit bei. Da nicht nur intellektuelle Fähigkeiten, sondern auch die Erziehbarkeit selbst erblich veranlagt seien, müsse es Aufgabe der Schule sein, die natürliche Selektion in Oberund Unterschichten zu unterstützen und angesichts der dramatischen Bevölkerungsdynamik – hin zu einer überproportionalen Vermehrung der minderbegabten Unterschichten – die Höherbegabten möglichst schnell auszubilden, damit sie möglichst früh mit der Fortpflanzung beginnen könnten. Das war ein klares Statement gegen das Weimarer Modell der Einheitsschule und öffnete die Pädagogik für die Rezeption rassenhygienischer Ideen.51 Hatte die Kritik an Hartnacke Anfang der 1920er Jahre auch noch Stern gegolten52, polarisierte sich das Feld ab Mitte des Jahrzehnts stärker zugunsten einer gemeinsamen Kritik von Liberalen und Linken am rassenhygienisch informierten Determinismus von Lenz und Hartnacke.53 Im Paradigma der Differenz von Vererbung und Umwelt wurden nun Aspekte untersucht, die auch in Klinebergs Arbeiten eine Rolle spielten. Eine Dissertation, die in München auf
50 Vgl. Lutzhöft: Nordischer Gedanke, S. 37; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene, S. 178-179; Hartnacke: Problem der Auslese der Tüchtigen; ders.: Zur Verteilung der Schultüchtigen. 51 Zu Lenz vgl. Fangerau: Etablierung eines rassenhygienischen Standardwerks, S. 4244; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene, S. 8-10; Weingart/Kroll/Bayertz: Rasse, Blut und Gene; Schmuhl: Grenzüberschreitungen. 52 Karstädt: Bisherige Forschungen. 53 Stern: Intelligenz der Kinder und Jugendlichen (1928), S. 428-429; Baron: Begabtenverteilung; ders.: Begabung, Erziehung und Auslese, S. 655, 662-663; Peters: Anlage und Umwelt.
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Anregung von Gustav Kafka entstand, untersuchte den Zusammenhang von sozialer Schicht, Schnelligkeit und Fehlern bei der Lösung von Testaufgaben.54 Eine von William Stern betreute Dissertation widmete sich Stadt-Land-Unterschieden und merkte kulturkritisch an, die Intelligenzmessung erhebe die städtische Lebenswelt zum Maßstab des Normalen, was Landkinder benachteilige (obwohl sich ein »Kulturvolk« immer vom Land her erneuere).55 Neben Untersuchungen, die einzelne Umweltfaktoren problematisierten, formierte sich mit der Pädagogischen Milieukunde ein eigener Forschungsansatz zur systematischen Bearbeitung der Frage, wie sich die konkreten Lebensverhältnisse eines Kindes auf dessen schulische Leistungen und gegebenenfalls auf Testleistungen auswirkten. Wie Willy Hellpachs Geopsyche oder Jakob von Uexkülls Organismenumwelt bewegte sich auch die Pädagogische Milieukunde im Strom des Ganzheitlichen. Einer ihrer Hauptvertreter, Adolf Busemann, brachte sie in Stellung gegen »einseitigen Naturalismus, Soziologismus oder Idealismus«, also monokausale Erklärungen von Verhaltensdifferenzen durch Erblichkeit, Klassenlage oder Geist. Forschungsgegenstand sei vielmehr die Gesamtheit dessen, »was auf die Person wirkt oder von ihr erlebt wird«.56 Die Milieuforschung schaue »das Kind als Ganzes im Ganzen seines Milieus, mit diesem ein Ganzes bildend«57, dürfe sich mit entsprechender Abwägung aber auch auf Befunde stützen, die aus Abstraktion und Isolierung einzelner Parameter gewonnen würden, etwa Schulnoten als Ausdruck von Lernerfolgen. Busemann bearbeitete verschiedene Aspekte der Auswirkungen des familiären Milieus auf Schulleistungen, etwa Geschwisterfolge, Fehlen eines Elternteils und Wohnverhältnisse. 58 Die Weltwirtschaftskrise gab ihm Gelegenheit, durch Vorher-nachher-Vergleiche die Auswirkung von Arbeitslosigkeit auf Schulleistungen zu verfolgen: »Die Volkswirtschaft hat hier – leider! – ein Experiment durchgeführt, das den denkbar überzeugendsten Beweis für die starke Abhängigkeit der Schulzensuren vom wirtschaftlichen Milieu des Kinders liefert.«59 Auch Intelligenzmessungen hätten nicht den behaupteten Nachweis erblicher Bega-
54 Habricht: Geistige Leistungen und psychisches Milieu. 55 Sassenhagen: Ueber geistige Leistungen des Landkindes. 56 Busemann: Einführung in die Pädagogische Milieukunde, S. 15; ders.: Pädagogische Milieukunde, S. 6. 57 Busemann: Einführung in die Pädagogische Milieukunde, S. 6. 58 Busemann: Geschwisterschaft und Schultüchtigkeit; ders.: Schultüchtigkeit nichtvolleltriger Kinder. 59 Busemann/Bahr: Arbeitslosigkeit und Schulleistungen, S. 420; vgl. auch Busemann/ Harders: Wirkung väterlicher Erwerbslosigkeit.
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bungsunterschiede erbracht, so Busemann 1930, da sie vorerst nur Abstände »der im Prüfungsmoment aktualisierbaren Befähigung« registrierten.60 Milieukundler bezogen sich mehr oder weniger affirmativ auf Boas’ Plastizitätsthese, bekannten sich aber zugleich ausdrücklich zu Sterns »Konvergenz« von Erbe und Umwelt im menschlichen Phänotypus, was ihnen eine gewisse Präsenz in eugenischen Zeitschriften und biowissenschaftlichen Sammelwerken sicherte.61 Wenn Otto Klineberg von Umweltparametern wie »previous schooling; socio-economic level; degree of familiarity with the language used; experience with the kinds of problems which enter into the test; experience with tests in general; motivation, or desire to do well; rapport with the investigator; speed or tempo of activity; physical well-being« sprach, meinte er ausschließlich gruppenspezifische Differenzen.62 Die kindliche Umwelt der Milieukundler unterschied sich vom »environment« Otto Klinebergs durch die Einführung feinerer Unterschiede aus dem individuellen Mikrokosmos in die Analyse. Dieses Vorgehen war darauf angelegt, den Trugschluss auf Erblichkeit zu kontern, der sich aus Sicht der Milieukundler aus dem mangelnden Komplexitätsgehalt grober Statusunterscheidungen ergab. So stellte der Mediziner und Pädagoge Johannes Baron eine ganze Liste von leistungsrelevanten Faktoren in den Raum, die innerhalb aller sozialer Schichten und Schultypen unterschiedlich verteilt seien: Konstitution und körperliche Verfassung (Ernährung, Schlaf, Hygiene) des Kindes, das emotionale Familienklima, Erziehungskompetenz und Bildungsorientierung der Eltern, Geschwisterzahl, Unterrichtsmethode und Verhältnis zum Lehrpersonal.63 Die Psychologin Annelies Argelander, Wilhelm Peters’ Assistentin in Jena, zählte zum Milieu unter anderem die Anzahl der Betten pro Haushalt, die Stellung des Kindes in der Geschwisterfolge nach Alter und Geschlecht, Tagesrhythmus und Freizeitaktivitäten, den Tod nahe stehender Personen oder eine mögliche »Protesteinstellung« des Kindes. 64 Auch an die sprachliche Entwicklung knüpften sich Differenzierungen: Unterstützten die Bezugspersonen aktiv den Spracherwerb
60 Busemann: Psychische Entwicklung, S. 238. 61 Vgl. Argelander: Methoden und Ergebnisse der Intelligenzprüfung; Baron: Begabung, Erziehung und Auslese; Busemann: Psychische Entwicklung und Umwelt; Bezüge auf Boas: Baron: Begabtenverteilung, S. 94; Busemann: Pädagogische Milieukunde, S. 11; Argelander: Einfluß der Umwelt, S. 13. 62 Klineberg: Race differences (1950), S. 462. 63 Baron: Begabtenverteilung, S. 89. 64 Argelander: Einfluß der Umwelt, S. 25, 18. Zur Person vgl. Raehlmann: Arbeitswissenschaft, S. 67-68.
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eines Kindes, wurde es korrigiert oder bestärkt, lernte es vor allem von den Eltern oder von älteren Geschwistern?65 Gerade weil Boas, Mead und Klineberg das Thema Sprache stark machten, fallen die Unterschiede ins Auge. Die Kritik des racial testing beschäftigte sich mit der Frage, in welchem Maß eine Testperson die Landessprache beherrschte. Die Feinheiten individueller Ausdrucksfähigkeit konnten und sollten in der Versuchsanordnung keine Rolle spielen, um möglichst klare Aussagen über Gruppen zu erzielen. Ähnliches gilt für Faktoren wie Ernährung, Motivation oder »rapport«, die eine Schnittmenge mit der Pädagogischen Milieukunde bildeten, ohne Verbindungen zu stiften. Diese bildete, trotz der gemeinsamen Stärkung der Umwelt gegen die Erblichkeit, eher einen Resonanzraum für die beobachtenden child studies.
Intelligenz jenseits von Rasse und Kultur Die deutschsprachige Psychometrie zeigte sich weitgehend unempfindlich für Rassefragen. Aus Richard Thurnwalds sensomotorischen Tests an Bewohnern deutscher Südseekolonien war keine Tradition der experimentellen Untersuchung der »höheren geistigen Funktionen« im Vergleich von Rassen und Ethnien entstanden.66 Folgenlos blieb auch eine Studie über Die geistige Entwicklung der Negerkinder aus dem Umfeld des Kulturhistorikers Karl Lamprecht. 67 Sie erschien 1915, in Lamprechts Todesjahr, und beendete gleichsam dessen Projekt einer psychologisch vergleichenden Weltkulturgeschichte. Anhand von Kinderzeichnungen sollten Ursachen unterschiedlicher Kulturentwicklung herausgearbeitet werden. Diese Arbeit argumentierte nicht rassenanthropologisch, sondern kulturalistisch, jedoch im Sinne des Kulturevolutionismus. Sehr wohl gab es einige Arbeiten, die sich mit »jüdischen« Begabungsprofilen beschäftigten. Insgesamt erschienen zwischen 1916 und 1933 aber kaum ein halbes Dutzend testpsychologischer Texte zu diesem Thema. Sie partizipierten am Diskurs über Rasse und jüdisches Anderssein, brachten jedoch keine wissenschaftliche Debatte in Gang und begründeten keine rassische Psychometrie von »Normalen«.68 Die Frage der »jüdischen« Intelligenz blieb empirisch marginal und wurde in erster Linie unter dem Aspekt verhandelt, ob die gemessenen
65 Argelander: Einfluß der Umwelt, S. 18. 66 Thurnwald: Einleitung; ders.: Ethno-psychologische Studien an Südseevölkern. 67 Franke: Geistige Entwicklung; vgl. Chickering: Karl Lamprecht, S. 356-366. 68 Vgl. Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 176.
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Leistungsunterschiede zwischen Juden und Nichtjuden auf eine größere bzw. andere Intelligenzanlage der Juden oder lediglich auf die »geistige Frühreife« jüdischer Heranwachsender zurückzuführen sei. 69 Nur eine von Wilhelm Peters betreute Jenaer Dissertation führte diese Unterschiede auf soziokulturelle Ursachen, das jüdische Bildungswesen, zurück.70 In Nebensätzen und beiläufigen Bemerkungen reproduzierten verschiedene Autoren die These von der »intellektuellen Frühreife der jüdischen Rasse« oder die pauschale Vermutung, dass Rasse und Intelligenz irgendwie zusammenhingen – so wiederholt auch William Stern, der die in den USA erhobenen Befunde zu Rasseunterschieden referierte, ohne sich eindeutig über deren Tragfähigkeit zu äußern.71 Dagegen erklärte Erich Hylla entschieden, nach den vorhandenen Methoden seien Aussagen über veranlagte soziale, geschlechtliche oder rassische Intelligenzunterschiede nicht möglich.72 Ebenso argumentierte Wilhelm Peters, obwohl er sich auch positiv auf eine von ihm angeregte Studie bezog, die im Einklang mit charakterologischen Psychogrammen des »Jüdischen« stand.73 Seit Mitte der zwanziger Jahren betonte Peters aber zunehmend stärker, dass in diesem Forschungsgebiet vor allem offene Fragen zu verzeichnen seien.74 In seiner großen Monographie über Die Vererbung geistiger Eigenschaften widersprach er der Annahme rassischer Intelligenzunterschiede am Beispiel der USA mit einer kulturalistischen Deutung. Den race psychologists, die Umwelt auf Schulbildung reduzierten, hielt er die »total verschiedenen Milieufaktoren« entgegen, unter denen ein Kind einer Indianer- oder Negerfamilie aufwächst. Gegenüber solchen traditionell stark fixierten Milieubindungen dürfte der Einfluß der Schule kaum mehr bedeuten als einen Firnis, der auf Flächen von verschiedenem Material und verschiedener Struktur aufgetragen wird. Würde ein Neger ein den Bedürfnissen der Negerpsyche ent69 Němeček: Psychologie; Scheibner: Rez. Němeček; Deuchler: Rassenunterschiede; Rosenthal: Beginn der Pubertät, S. 68-69; manifest antisemitisch: Bykowski: Pädagogische Anthropologie in Polen; vgl. Gilman: Smart Jews. 70 Wolberg: Zur differentiellen Psychologie der Juden. 71 Stern: Anm. 1 zu Scheibner: Rez. Němeček, S. 335; ders.: Intelligenz der Kinder und Jugendlichen (1920), S. 165, 231-232; ders.: Intelligenz der Kinder und Jugendlichen (1928), S. 244-246, 419, 427-428, 459-462; ähnlich Karstädt: Bisherige Forschungen, S. 461-462; Giese: Handbuch, S. 374. 72 Hylla: Testprüfungen der Intelligenz, S. 195-200. 73 Es handelte sich um Němeček: Psychologie, dazu Peters: Einführung in die Pädagogik, S. 13; ders.: Rassenpsychologie, S. 39, 50. 74 Etwa Peters: Rassenpsychologie, S. 28, 57.
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sprechendes und an Negern geeichtes System der Intelligenzprüfung aufstellen, würden vielleicht die mit ihm geprüften weißen Menschen durchschnittlich weniger begabt erscheinen als die Neger. Die Bedürfnisse der Negerpsyche, auf die dieses System zugeschnitten wäre, hängen aber sicherlich aufs innigste mit den traditionell gebundenen Milieueinflüssen der Negerfamilie zusammen. Ob und inwieweit sie daneben auch von den Anlagen der Negerpsyche bestimmt werden, das zu entscheiden, ist ohne Erfahrungsgrundlagen nicht möglich.75
Schon 1925 war Peters in Äußerungen wie diesen der boasianischen Psychometriekritik sehr nahe, zumal er sich auch gegen die Annahme einer selektiven Migration vom Land in die Stadt wandte.76 Jedoch scheinen sich weder Boas noch Klineberg mit Peters’ skeptischer Position auseinandergesetzt zu haben, obwohl Anthropologen wie Otmar Freiherr von Verschuer oder Ida FrischeisenKöhler sich in ihren Arbeiten später auf Peters’ Erbpsychologie bezogen.77 Die einzige Verbindung von Boas zu Peters ist eine Episode um den Sammelband Rasse und Geist, der 1932 im Leipziger Verlag Ambrosius Barth erschienen war. Er umfasste vier Vorträge, die 1930/31 im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Senckenbergischen Gesellschaft in Frankfurt am Main gehalten worden waren, darunter einer von Wilhelm Peters zum Thema Rassenpsychologie. 1933/34 versuchte Boas über verschiedene Kanäle, den mittlerweile vom Markt genommenen Titel zu bekommen, und als das scheiterte, regte er, wiederum vergeblich, eine englische Übersetzung an. Sein Interesse galt aber vor allem dem Anthropologen Franz Weidenreich, der in diesem Band vertreten und mittlerweile in die USA emigriert war.78 Der erwähnte Vortrag enthält die einzige Stelle, an der sich Peters explizit auf Boas bezog, bezeichnenderweise in einem Abschnitt, der nach Art der racial moderates extreme Rassentheoretiker und rassenleugnende Sozialwissenschaftler einander gegenüberstellte: Vorsichtiger formuliert der Anthropolog Boas seine ablehnende Stellung, indem er auf die Geringfügigkeit der bisher nachgewiesenen psychischen Rassenunterschiede gegenüber 75 Peters: Vererbung geistiger Eigenschaften, S. 323-324. 76 Ebd., S. 324. 77 Verschuer: Erbpsychologische Untersuchungen, S. 280-281; Frischeisen-Köhler: Untersuchungen an Schulzeugnissen; dies: Persönliches Tempo. 78 Boas an Allen L. Daub, 17. August 1933; G. E Stechert & Co an Boas, 25. August 1933; Weidenreich an Boas, 16. August 1934; Boas an Jacob J. Weinstein, 14. September 1934, PCFB; zum Verhältnis Boas-Weidenreich vgl. Lipphardt: »Investigation of Biological Changes«.
146 | I NTELLIGENZ UND R ASSE den viel bedeutsameren somatischen Rassenunterschieden und den großen individuellen psychischen Unterschieden hinweist, die Möglichkeit des Bestehens von Richtungsunterschieden in der seelischen Struktur der Rasse aber offen läßt.79
Peters vertrat keine pointiert antirassistische Position, aber er darf als derjenige deutschsprachige Psychologe gelten, der thematisch und in seinen Schlussfolgerungen für die boasianische Intelligenzforschung am ehesten anschlussfähig war – auf seine Weise mehr als William Stern, den rassische Differenzen nicht interessierten. Warum Boas sich nicht um Peters bemühte, ist aus den vorhandenen Quellen leider nicht zu erklären. Dagegen fallen die Gemeinsamkeiten auf, die Stern mit Boas’ psychometrischem Kontrahenten Lewis Terman verbanden. Wilfred Schmidt hat zu Recht die Unterschiede zwischen Termans und Sterns Auffassungen zu Intelligenztests betont.80 Daneben gibt es aber einige bemerkenswerte Parallelen und Querverbindungen zwischen den beiden. 1916, als Terman in The Measurement of Intelligence den natürlichen Begabungsvorsprung der Oberschichten darlegte, veröffentliche Stern in einem programmatischen Aufsatz eine ganz ähnlich lautende Passage, die so auch in seinen späteren Standardwerken zu finden ist: Die Anlage zur Intelligenz dürfte […] durchschnittlich bei den Kindern der sozialen Oberschicht höher sein, denn diese sind ja nichts anderes als die Nachkommen derjenigen, die sich eben durch besondere Tüchtigkeit und Befähigung aus den unteren Schichten heraufgearbeitet haben; sie sind also bereits das Erblichkeitsergebnis einer scharfen intellektuellen Auslese.81
Obwohl Stern deutlich stärker als Terman die Bedeutung von Umwelteinflüssen und die individuelle Entwicklungsfähigkeit betonte, teilte er im Grundsatz dessen meritokratischen Biologismus, der soziale Lage als Ausdruck der Intelligenzanlage interpretierte. Bei aller Kritik an der amerikanischen Testpraxis sprach Stern immer wieder anerkennend über Terman, insbesondere die Hochbegabtenstudien und seine Fähigkeit, Ressourcen für die psychologische Großforschung zu mobilisieren.82 Sterns praktische Arbeit mit Intelligenztests ähnelte 79 Peters: Rassenpsychologie, S. 33. 80 Vgl. Schmidt: William Stern und Lewis Terman. 81 Stern: Jugendkunde, S. 290; ebenso ders.: Intelligenz der Kinder und Jugendlichen (1920), S. 244-245 und (1928), S. 244-245. 82 Stern: Vorbemerkung zu: Terman: Pflege der Begabung, S. 137; ders.: Intelligenz der Kinder und Jugendlichen (1928), S. 418-420, 459-462; zu Yerkes ders.: Neue YaleEinrichtungen.
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der Termans viel stärker als der Klinebergs, denn in der boasianischen Intelligenzforschung ging es weder darum, Individuen zu beurteilen und untereinander in Rangfolgen einzuordnen, noch um prognostische Aussagen für Alltagsentscheidungen, noch um die experimentelle Verbesserung einzelner Tests. Klineberg vermaß Individuen dagegen, um über den Testpositivismus Intelligenz auf einer Metaebene der kulturwissenschaftlichen Kritik zu beobachten. Hier kamen disziplinäre Unterschiede zu Geltung, die Terman und Stern auf Seiten der pädagogischen Psychologie zusammenbrachten, während Klineberg anthropologische Fragestellungen verfolgte. Kultur war in Sterns Institut zwar nicht ganz fehl am Platz, denn Klineberg zufolge interessierte er sich sehr für Margaret Meads Samoa-Studie und den »cultural approach to behavior«.83 Um 1930 beschäftigten sich zwei seiner Mitarbeiter mit kulturellen Perspektiven. Der bereits erwähnte Martin Scheerer, der 1936 ebenfalls in die USA emigrierte, arbeitete zu »persönlichen Bräuchen«, also magischem Denken im Alltag des modernen Menschen. Als er sich bei einer amerikanischen Stiftung um Förderung von Arbeiten zum kindlichen Aberglauben bewarb, schrieb Boas ein positives Gutachten, mahnte jedoch eine stärkere Berücksichtigung anthropologischer Perspektiven an.84 Martha Muchow betrieb eine »kulturtypologische Jugendpsychologie«, die die Milieu- und Epochenabhängigkeit jugendlicher Verhaltensweisen betonte.85 Andererseits verfocht der langjährige Institutsmitarbeiter Heinz Werner als Entwicklungspsychologe klar kulturevolutionistische Positionen der Parallelführung von Primitiven, Kindern und Geisteskranken, und auch Stern war die Unterscheidung von Natur- und Kulturmenschen nicht fremd.86 So wurde erst unter den Bedingungen der Emigration eine echte wissenschaftliche Kooperation halbwegs greifbar. William Stern ging es darum, seine ehemalige Mitarbeiterin Betti Katzenstein unterzubringen, die mittlerweile Anschluss an die Berner Psychotechnikerin Franziska Baumgarten-Tramer gefunden hatte und in die Schweiz emigriert war. Boas skizzierte eine Fortsetzung der Migrationsstudie, bei der Otto Klineberg sich den Stadt-Land-Unterschieden in 83 Klineberg: Reminiscences, CUA, OHRO, S. 20-21. 84 Vgl. Stern: Aus den letzten Arbeiten, S. 401-403 (beteiligt waren auch Martha Muchow und Heinz Werner); Henry Allen Moe an Boas, 15. Januar 1937; Boas: [Gutachten über Martin Scheerer], 4. Februar 1937, PCFB. 85 Muchow: Lebensraum- und epochaltypische Entwicklungspsychologie; vgl. Dudek: Jugend als Objekt, S. 229. 86 Werner: Einführung in die Entwicklungspsychologie; Stern: Personalistische Psychologie, S. 167; gegen Werners Primitivismus vgl. Boas an Nelson McCrea, 29. Dezember 1930, CUA, CRH, Ser. II, Box 4, Folder 3; Klineberg: Race Differences, S. 332.
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New York und New Jersey gewidmet hätte, während Katzenstein parallel in Zürich und einigen entlegenen Alpentälern arbeiten sollte. Stern äußerte Bedenken, zu konkreten Klärungen oder Absprachen kam es jedoch nicht mehr, da die Finanzierung offen blieb, Katzenstein 1936 endgültig nach Brasilien emigrierte und Klineberg im selben Jahr zu einer Forschungsreise nach China aufbrach.87 Fragt man zusammenfassend nach den Gründen für ausgebliebene Kontakte und Transfers zwischen den empirischen Intelligenzpsychologen der Weimarer Republik und den Boasianern, ergibt sich eine Gemengelage. Neben kontingenten Faktoren – vor allem dem Umstand, dass die Boasianer Wilhelm Peters’ Arbeiten nicht zur Kenntnis nahmen – spielen sowohl disziplinäre Grenzen als auch nationale Diskursausprägungen ein Rolle. Für William Stern blieben Klinebergs Arbeiten vermutlich »amerikanische« Psychologie, die ihre Versuchspersonen nicht als Personen im ganzheitlichen Sinne wahrnahm, während die individualpsychologischen und kulturevolutionistischen Prämissen an seinem Institut der cultural anthropology zuwiderliefen. Obwohl sich auch die boasianische Anthropologie auf verschiedene Weise mit Individualität beschäftigte, musste sie eine differentielle Individualpsychologie à la Stern gering gewichten oder wie Ruth Benedict auf kulturelle Kollektive übertragen, um die Kohärenz, Prägekraft und Verschiedenheit der Kulturen in die Waagschale zu werfen. Wenn die Weimarer Psychologen Amerika rezipierten, dann eher die Testarbeiten ausgewiesener Kinderpsychologen wie Terman und Goodenough. Fachliche Gemeinsamkeiten rückten Stern und Peters eher in die Nähe von Lewis Terman und Charles Davenport. Deren rassistische Schlagseite konnten sie weitgehend ausblenden, weil sie im deutschen Kontext nicht relevant erschien.88 Der Vergleich mit dem rassisch und ethnisch gespaltenen Amerika bestätigte das Selbstverständnis, in einer relativ homogenen Gesellschaft zu leben. Während sich Otto Klineberg als Kulturpsychologe nicht für individuelle Ganzheiten und zunächst nur bedingt für Intelligenz als solche interessierte, hatten Stern und andere deutsche Intelligenzforscher umgekehrt kein Verständnis für die anthropologischen Probleme Rasse und Kultur. Zwar gab es durchaus Rassenpsychologie in Deutschland, aber sie war »eine Lehre von wissenschaftlichen Outsidern und Laien«89, von der sich die Wissenschaftler abgrenzten.
87 William Stern an Boas, 16. Oktober 1934; Baumgarten-Tramer an Boas, 19. Januar und 25. November 1935, Boas an Baumgarten-Tramer, 20. Dezember 1935, PCFB. Zu Katzenstein vgl. Geuter/León: Flucht nach Südamerika, S. 33. 88 Etwa Hylla: Schule der Demokratie, S. 252-253. 89 Brake: Forschungsstand der Rassenpsychologie, S. 33.
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Charakterologie und »schauende« Rassenpsychologie In der Tat waren es nicht zufällig privatgelehrte Außenseiter und Schriftsteller, die das Feld der »Rassenseele« mit großem Erfolg bestellten. Autoren wie Houston Stewart Chamberlain, Otto Weininger, Oswald Spengler oder Hans F. K. Günther wurden gekauft und gelesen, weil sie sich akademisch undiszipliniert über das bewegende Problem rassischer Unterschiede äußern konnten.90 Ihnen ging es gerade nicht oder nur unter anderem um Intelligenz. Es war der »Charakter«, der bei allen, auf die eine oder andere Weise, im Zentrum von Rasse stand. Sie legten die Einheit von Körper, Psyche und Kultur zugrunde, fokussierten aber auf die Antriebskräfte und Reaktionsweisen rassetypischen Verhaltens. Zugänglich würden diese im »Ausdruck«, der mimischen, gestischen oder körpermotorischen »Entäußerung eines feststehenden seelischen Charakters«91, dem begabten und geschulten Auge erkennbar. Die Charakterologie war Teil der holistischen Bewegung, die nicht auf Deutschland beschränkt war, hier aber zwischen 1900 und 1950 außerordentlich wirkmächtig wurde. Gerade auch in den Human- bzw. Lebenswissenschaften sollte ganzheitliches Begreifen den Mechanismus und Positivismus des späteren 19. Jahrhunderts überwinden, um der Dynamik vitaler Prozesse gerecht zu werden.92 Dass damit Unschärfen einhergingen, war aus Sicht einer geisteswissenschaftlichen Psychologie unausweichlich und setzte sie in scharfen Kontrast zum amerikanischen Szientismus.93 Der Untersuchungsgegenstand »gelebtes Leben« sei keiner Messung, sondern nur der »sinngemäße[n] Erfassung einer komplexen Totalreaktion« zugänglich. 94 Der neuromantische Holismus wies zwar starke Affinitäten zu konservativen und rechtsextremen Haltungen auf, streute aber breit darüber hinaus. Unter holistisch orientierten Wissenschaftlern finden sich Gegner und Verfolgte des Nationalsozialismus, in der Biologie etwa Hans Driesch und Richard Goldschmidt, in der Psychologie William Stern und das Gros der Frankfurter und Berliner Gestaltpsychologen.95 So wie die Eugenik für unterschiedliche Weltanschauungen und politische Präferenzen anschlussfähig 90 Vgl. Leo: Wille zum Wesen, S. 414. 91 Vgl. Geuter: Polemos panton pater, S. 157. 92 Vgl. Harrington: Reenchanted Science; Hau: Holistic Gaze; Lawrence/Weisz (Hg.): Greater than the Parts; Timmermann: Constitutional Medicine. 93 Vgl. Geuter: Nationalsozialistische Ideologie und Psychologie; Depaepe: Wohl des Kindes, S. 314; Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 176-181. 94 Jacobsen: Charaktertypische Ausdrucksbewegungen, S. 308, 310. 95 Vgl. Harrington: Reenchanted Science; Timmermann: Constitutional Medicine, S. 738.
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war, gab es auch »linke« Charakterologen, darunter den von Boas sehr geförderten Ethnologen Theodor Wilhelm Danzel.96 Trotz der Vorbehalte gegen die Verkürzungen der modernen Naturwissenschaften wollte die Charakterologie als integrativer Ansatz keines der bestehenden Verfahren grundsätzlich ausschließen. So entwickelten sich Bestrebungen, charakterologische Ansätze in wissenschaftliche Beobachtungsformen zu überführen, vor allem ins Experiment und in die genealogische Erbforschung. Das galt etwa für die Lehren des Lebensphilosophen und Ausdruckstheoretikers Ludwig Klages, dessen Graphologie eine wichtige Referenz für den gebildeten Antisemitismus in Deutschland lieferte, und zwar gerade weil er über die Feststellung von Ähnlichkeiten auch Nichtjuden eines »jüdischen« Charakters bezichtigen konnte.97 Ein anderes Beispiel ist die Konstitutionslehre des Marburger Mediziners Ernst Kretschmer, bei dem Otto Klineberg 1928 hospitierte. Kretschmer entwarf eine Systematik psychophysischer Konstitutionen, in der bestimmte Körperbautypen mit bestimmten psychopathologischen Erscheinungen korrelierten. Einflussreich wurde sie nicht zuletzt, weil Kretschmer Pathologien nur als extreme Varianten »normaler« Verhaltensweisen deutete und somit ein allgemeines Schema für die differentielle Fremd- und Selbstbeobachtung bot.98 Die Verwissenschaftlichung von Charaktertypologien zielte auf die Frage nach ihrem empirischen Gehalt sowie nach der Erblichkeit von »normalen« Persönlichkeitsmerkmalen bzw. ganzen Persönlichkeitstypen. Dieser Trend erlebte 1929 einen ersten Höhepunkt auf der 7. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft in Tübingen und verfestigte sich in den 1930er Jahren. Dabei ergaben sich Überschneidungen in der Forschung von pädagogischen und anthropologischen Psychologen, Psychiatern und erbpsychologisch arbeitenden Biowissenschaftlern (die im nächsten Kapitel zur Sprache kommen werden), insbesondere durch den Gebrauch der so genannten Zwillingsmethode. Neben Mitarbeitern von Kretschmer selbst ist etwa der Tübinger Psychiater Hermann Hoffmann zu nennen, der sich als Koautor der Kretschmerschen Typologie verstand und charakterbezogene Sippenforschung betrieb.99 Die pädago96 Danzel: Magische Mensch. Vgl. zur Eugenik zusammenfassend Dikötter: Race Culture, S. 467-68. 97 Vgl. Leo: Wille zum Wesen, Teil 4; als Beispiel für eine experimentelle Rassengraphologie nach Klages: Krieger: Rasse, Rhythmus und Schreibinnervation. 98 Vgl. Matz: Konstitutionstypologie von Ernst Kretschmer; Hau: Holistic Gaze. 99 Hoffmann: Über Charaktervererbung; ders.: Erbpsychologische Familienkunde. Vgl. Leonhardt: Hermann F. Hoffmann, bes. S. 25, 32-37, 50; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene, S. 293-294.
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gischen Psychologen Oswald Kroh und Gerhard Pfahler arbeiteten eher kasuistisch mit projektiven psychologischen Tests, um die körperlichen »Kretschmertypen« mit entsprechenden Verhaltensmustern abzugleichen.100 1936 erhielt der aktive Nationalsozialist Pfahler DFG-Mittel für einen Forschungsschwerpunkt zu »Zwillingsforschung und Erbcharakterkunde«.101 Walter Köhn, der bei dem philosophischen Anthropologen Erich Rothacker zur psychischen Ähnlichkeit von Geschwistern arbeitete, brachte die Zwillingsmethode mit der Charakterbeurteilung nach Klages’ Schema (»Stoff«, »Artung«, »Gefüge«) zusammen. Köhn hielt den Nachweis für erbracht, dass die Erbanlage ausschlaggebend für den charakterlichen Phänotyp sei.102 Offen für Klages’ Bereicherungen der »Schulwissenschaft« war auch Julius Deussen von der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, der sich in rassenhygienischer Absicht mit dem Persönlichkeitsprofil von Obdachlosen beschäftigte.103 Eugenische Zielsetzungen waren in der verwissenschaftlichten Charakterologie prominent und nach 1933 zum Teil direkt mit Zwangssterilisation oder Euthanasie verknüpft.104 Dagegen blieb die Unterscheidung und Bewertung verschiedener Rassen hier häufig konturlos. Ernst Kretschmer schloss eine Gleichsetzung seiner Konstitutionstypen mit bestimmten Rassen sogar ausdrücklich aus.105 Sich über Rassencharaktere zu äußern, überließen die Wissenschaftler den nichtakademischen Diskursteilnehmern, die dies ausführlich taten, da »Rasse« im Unterschied zur Intelligenzdebatte für die Rede vom Charakter geradezu leitend war. Das Problem rassischer Diversität stellte sich in der deutschen Charakterologie jedoch auf ganz andere Weise als in der amerikanischen Psychometrie: Statt um graduelle Intelligenzunterschiede ging es um die »Rettung der nordischen Seele durch Erfassung nordischen Wesens«.106 Mit Carl Brigham ließ sich die Überlegenheit der nordischen Rasse in Zahlen ausdrücken; in Deutschland brachte der Versuch, das nordische Wesen zu bestimmen, eine regelrechte Stilkunde hervor, die Selbsterkenntnis durch starke Kontraste ermöglichte. 100 Pfahler: System der Typenlehre, S. 257-267, 273-288; Kroh: Methoden der experimentellen Typenforschung. 101 Vgl. Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene, S. 158-163. 102 Köhn: Vorfrüchte; ders.: Psychologische Untersuchungen; ders.: Vererbung des Charakters. 103 Deussen: Psychologische Grundfragen, S. 163; zu seiner Beteiligung am planmäßigen Krankenmord vgl. Roelcke: Lebensläufe schreiben. 104 Vgl. etwa Schottky (Hg.): Persönlichkeit im Lichte der Erblehre. 105 Etwa Kretschmer: Veranlagung zu den endogenen Seelenstörungen; Kretschmer als »Gegner« von Rassentheorien in: o. A.: Rasse (Brockhaus). 106 Günther: Rassenkunde des deutschen Volkes (1928), S. 424.
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Das betraf zum einen die verschiedenen europäischen Unterrassen, die im deutschen »Volk« präsent seien oder als Nachbarn eingeschätzt werden mussten. Auf der Suche nach einer idealen Mischung aus beständigem Bauerntum und intelligenter, schöpferischer Führungsstärke deklinierten in den 1920er Jahren Autoren wie Hans F. K. Günther und Fritz Lenz die unveränderlichen »seelischen« Merkmale der – wiederum körperlich identifizierten – »nordischen«, »fälischen«, »alpinen« Menschenschläge durch. Auch wenn sie sich unterschiedlicher Verfahren bedienten, waren im Ergebnis die Unterschiede zu den USA nicht allzu groß. Den amerikanischen Vorbehalten gegen Sizilianer und Osteuropäer entsprach ungefähr die Diagnose eines aufbrausend-gewalttätigen Charakters beim »westischen« bzw. von Daseinsschwere und Ideenlosigkeit beim »ostischen« Menschen. Markante Differenzen ergeben sich aber, wenn man das jeweils paradigmatische »Problem« der nationalen Rassenverhältnisse in den Blick nimmt. Beim »American negro« ging es um stadträumlich konzentrierte Unterschichten mit sichtbar anderer Hautfarbe, also um ein relativ eindeutiges Anderssein, auch wenn das hellhäutige »passing« (als weiß durchgehen) die Imagination beschäft107 igte. In Deutschland ging es dagegen um Fremde, die weder biologisch noch habituell vom Eigenen zu unterscheiden waren: vor allem um Juden, die wie »deutsche« Bürger aussahen und lebten, auch wenn der vermeintlich leicht identifizierbare »ostjüdische Typus« hierzu einen Kontrapunkt setzte.108 In den zwanziger Jahren gehörte es zum gesicherten Wissen der Rasseforschung, dass eine »reine« jüdische Rasse im physisch-anthropologischen Sinn nicht existiere. Um Juden dennoch als »artfremd« ausweisen zu können, mussten deutsche Antisemiten sozialpsychologisch und damit subtiler argumentieren als die amerikanischen Psychometriker in Bezug auf den »negro«. Man konnte die Juden als intelligentes »Volk« von hoher Kulturbegabung gelten lassen109 und sie gleichzeitig als Produkt eines historischen Entwurzelungsprozesses ansprechen, dessen seelische Deformationseffekte sich zu einer quasi erblichen Konstante verfestigt hätten. Demnach war die destruktive Andersartigkeit der jüdischen Psyche auf die Erfahrung von Vertreibung, Zerstreuung und Ghettoisierung zurückzuführen.110 Der Bonner Historiker Fritz Kern schrieb 1927, nicht der viel beschworene Rasseninstinkt sei verantwortlich für den Gegensatz zwischen Juden und Deutschen, 107 Vgl. exemplarisch Grossman: Land of Hope; Baldwin: Chicago’s New Negroes 108 Vgl. Krüger: Horse Breeder’s Perspective, S. 382; Jensen: Gebildete Doppelgänger, S. 326-328. 109 Lenz: Erblichkeit der geistigen Begabung (1927), S. 556-566. 110 Vgl. Lipphardt: Biologie der Juden. S. 118; als Beispiel Rodenwaldt: Seelenkonflikt des Mischlings, S. 364.
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weil zuerst »jahrtausendealte Verstädterung und Verhändlerung« im Ghetto einen unüberwindlichen Gegensatz zum Geist eines selbst bestimmten »Herrentums« geschaffen hätten. Die Fremdheit der Juden erkläre sich also »einerseits aus ihrem besonderen Rassengemisch und andererseits aus dem Judentypus als Sozialtypus, in dem Körperliches und Seelisches nicht zu unterscheiden ist. Man nehme nur das Äußerliche, die Gebärde, die Art zu sprechen«.111 1929 sprach der Hamburger Geograph Siegried Passarge in betont sachlichem Gestus von »Talmudgehirne[n] und Ghettocharaktere[n]« als Manifestationen der rabbinischen Kultur. Sie habe das Überleben der Juden in der Diaspora gesichert, allerdings unter Preisgabe der »wichtigsten staats- und kulturerhaltenden Kardinaltugenden, unter denen ritterliches Ehrgefühl, Stolz und Vornehmheit der Gesinnung den ersten Platz einnehmen«.112 Der Verlust der ursprünglichen Rasseumwelt im Vorderen Orient habe die Juden im Wortsinn bodenlos und die »Anpassungsfähigkeit« zum dominanten jüdischen Charaktermerkmal gemacht. Dieser Kunstgriff erlaubte es, das »Jüdische« zugleich als konstant und als wechselhaft zu verstehen. Das Grundproblem der Juden war demnach die fehlende Balance ihrer Lebenskräfte, das Fehlen einer vitalen Persönlichkeit, die sich erst sekundär als zersetzende Geistigkeit, Verstellung und Lebensneid manifestiere. In dieser Lesart erschienen Juden nicht einfach als Minderwertige, sondern als das wesenhaft Andere, das sich in einer unüberbrückbaren psychischen Differenz konstituierte, die durch keine noch so gut gemeinten Akkulturationsversuche überwunden werden könne.113 Analytisch-metrische Objektivierungsformen der modernen Naturwissenschaften wären an diesem Verständnis des »jüdischen Charakters« gescheitert. Es war auf Techniken angewiesen, prägnante Unterschiede im Modus der »Schau« zu erfassen. Den pointiertesten Gegenentwurf zur amerikanischen Psychometrie bildete die »Rassenseelenkunde« des Phänomenologen Ludwig Ferdinand Clauß, neben Günther der führende Vertreter des »nordischen Gedankens«. 114 Clauß lehnte eine biologische Herangehensweise rundheraus ab, benutzte aber Kategorien der physischen Anthropologie. Für ihn ging der Körper darin auf, »Schauplatz der Seele« zu sein. Clauß bestimmte keine Merkmale nach dem Muster der klassischen Völkerstereotypen, die menschlichen Gruppen einzelne Charaktereigenschaften und Gefühle stabil zuordneten. Er betrieb eine 111 Kern: Stammbaum und Artbild, S. 249-250, 252. 112 Passarge: Judenthum als landschaftskundlich-ethnologisches Problem, S. 398, 327. 113 Vgl. Lipphardt: Biologie der Juden, S. 119-121; Leo: Wille zum Wesen; Rupnow: Judenforschung. 114 Vgl. Lutzhöft: Nordische Gedanke, S. 47-50; Weingart: Doppel-Leben; Hoßfeld: Jenaer Jahre des »Rasse-Günther«; Leo: Wille zum Wesen, S. 414-419, 453-476.
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Psychologie zweiter Ordnung, untersuchte »Ausdrucksstile«, in denen sich allgemein menschliche Gefühlsregungen und Eigenschaften in jeweils charakteristischer Weise vollzögen. Die verborgenen Seelendynamiken, in denen sich verschiedene Haltungen zur Welt artikulierten, lese der Beobachter in der Mimik, Gestik, Haltung und Motorik einer Person. Die außerakademische Rassentypologie Günthers übersetzte er in eine Systematik, in der dem nordischen »Leistungsmenschen« etwa der westische (mediterrane) »Darbietungsmensch« und der orientalische »Erlösungsmensch« gegenüberstanden. Clauß propagierte die einfühlende Wesensschau als angemessene Erkenntnisform rassenseelischer Unterschiede, wobei visuellen Evidenzen in Form von Fotoporträts große Bedeutung zukam. Ein grundlegendes Dilemma seines Systems bestand darin, dass »die Ergründung der seelischen Artgesetze« aufgrund der wesenhaften Differenzen zwischen den Rassen streng genommen nur in der Selbstbeobachtung möglich sei.115 Den einzigen Zugang zu fremdem Seelenleben sah er in der gleichsam feldforscherischen Teilnahme am Leben einer fremden Rasse, wie er sie selbst Ende der 1920er Jahre bei einer Beduinengruppe absolviert hatte: »nicht Heranholen von Versuchspersonen in ein objektiv gleiches Versuchslokal, das letztlich doch für keinen das gleiche ist; sondern Aufsuchen der Menschen in ihrem eigenen Lebensfelde und Verweilen in diesem Felde, bis es gewohnt und ›natürlich‹ ist«.116 Als epistemologisch unbedarft und tautologisch kritisierte er denn auch die Verfahren der rassenvergleichenden Psychometrie: Die Begabungen werden mit Hilfe teils mechanischer Verfahren, teils von Schulzeugnissen »gemessen« und der Durchschnitt für jede Rasse statistisch errechnet oder abgeschätzt, wonach denn jede Rasse selbst eine Art Schulzeugnis erhält. Die Rassen werden untereinander auf das Maß ihrer durchschnittlichen Begabung verglichen, und – da der gelehrte Zensor, versteht sich, keiner Rasse angehört, sondern über den Rassen schwebt, – in eine Wertordnung, eine Rangordnung gewiesen: die eine Rasse sei begabter, die andere minder begabt. Fragt man, als wozu denn eine Rasse begabt betrachtet werden soll […] – so lautete die Antwort: Als begabt »zur Kultur«. […] Der Verdacht liegt nahe, daß jene Gelehrten, welche die Begabung der einzelnen Rassen gegeneinander abwägen und messen, sich dabei einer bestimmten Kultur bedienen, die damit den anderen Kulturen vorangestellt, und zur Kultur überhaupt, zur Normalkultur und zum überartlichen Wertmaßstab erhoben wird.117
115 Clauß: Rasse und Seele, S. 27. 116 Clauß: Psycho-Anthropologie, S. 16. 117 Clauß: Seele und Antlitz, S. 95-96.
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Aus einer Perspektive radikaler Differenzen formulierte Clauß also ähnliche kulturrelativistische Einwände gegen die Psychometrie der Rassen wie ihre Kritiker in den USA. Während Clauß psychische Erscheinungen grundsätzlich nicht für messbar hielt, suchte der Marburger Psychologieprofessor Ernst Jaensch die Konfrontation mit der Intelligenzmessung.118 In den 1920er Jahren hatte er eine Theorie der Wahrnehmungstypen entwickelt, die einen umfassenden Erklärungsanspruch hatte, da zum einen die Wahrnehmung der Schlüssel zum individuellen Weltverhältnis insgesamt sei und zum anderen die naturwissenschaftliche Begründung der philosophischen Psychologie liefere. Jaensch unterschied drei Grundtypen, die er wiederum gängigen völkerpsychologischen Zuschreibungen zuordnete: Der objektbezogene außenintegrierte Typ (J1) entspreche dem mediterranen Menschen, die idealistischen, überwiegend oder ganz innenintegrierten Typen (J2 und J3) dem Deutschen, der wirklichkeitsferne, nicht-integrierte S-Typ mit seinem kompensatorischen Rationalismus dem französischen Intellektuellen. Unverkennbar enthielt dieses Schema Wertungen, jedoch betonte Jaensch die Gleichrangigkeit der verschiedenen Typen und formulierte das politische Ziel, Wissen für die transnationale Kommunikation bereitzustellen. Nach 1933 nahm seine Theorie eine militante Wendung, denn nun begann Jaensch zwischen »gesunden« und »entarteten« Wahrnehmungstypen zu unterscheiden und die nationalsozialistische »Bewegung« als Kampf zwischen J und S, zwischen »lebendigem Sein« und lebensfeindlicher Abstraktion zu deuten. Innerhalb des labilen S-Typs spezifizierte er 1938 den »lytischen S-« oder »Auflösungstypus« als generellen »Gegentypus« zur »deutschen Bewegung«. Er stehe für Liberalismus, Bolschewismus, Abstraktion und Chaos und finde seinen Hauptvertreter im Judentum. Auf seinem Feldzug gegen den »Auflösungstypus« rechnete Jaensch auch mit der Intelligenzdiagnostik der Weimarer »Systemzeit« ab. In einem Aufsatz, der 1938 in der Zeitschrift für angewandte Psychologie erschien, formulierte er zunächst die bekannten ganzheitspsychologischen Vorbehalte gegen quantifizierende Verfahren der Intelligenzmessung. Statt mit einer einheitlichen, skalierbaren Größe Intelligenz zu operieren, so Jaensch, müsse man davon ausgehen, »dass es verschiedene Typen des Menschentums gibt, und dass an diesen menschlichen Grundformen auch verschiedene Typen der Intelligenz geknüpft sind, die wegen ihrer qualitativen Verschiedenheit durchaus nicht rein quantitativ miteinander vergleichbar sind«. 119 Diese qualitativen Unterschiede fielen am stärksten bei den höheren Intelligenzgraden ins Gewicht; Tests seien daher nur zur Diagnose minderbegabter und pathologischer Fälle geeignet. 118 Das folgende nach Geuter: Nationalsozialistische Ideologie, S. 180-190. 119 Jaensch: Grundsätze, S. 4.
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Die Intelligenzdiagnostiker hätten einen ganz bestimmten Intelligenztypus zur Norm erhoben und ein »Prüfungssystem jüdischen Ursprungs« etabliert, das den »Gegentypus« in gesellschaftlich relevante Positionen gebracht, »deutsches Menschentum« dagegen zurückgedrängt habe. Jaensch wurde auch persönlich und denunzierte William Stern als maßgeblichen Protagonisten dieses Systems. Dass Stern Intelligenz als Anpassungsfähigkeit definiert habe, sei ebenso kennzeichnend für den »Gegentypus« wie die Präferenz für »eine ›freischwebende‹, von allen übrigen Seiten des Menschenwesens, seinem Gefühls-, Trieb- und Willensleben, seinem Charakter, gleichsam abgelöste Geistigkeit«. 120 Diesen Ball nahm eine von Jaensch angeregte Dissertation auf, die Intelligenzprüfung unter völkischen und typologischen Gesichtspunkten betrieb.121 Es handelte sich dabei hauptsächlich um eine Revision der Aufgabenstellungen europäischer und amerikanischer Tests, die ergab, dass sie nicht etwa universale, allen Prüflingen gleichermaßen zumutbare Anforderungen stellten, sondern unterschiedliche Intelligenzregister bedienten, die den Typen aus Jaenschs Nomenklatur jeweils mehr oder weniger entgegenkamen. Mehr beiläufig wurden empirische Nachprüfungen an unterschiedlichen Gruppen von Versuchspersonen erwähnt, die Systematik dieser Versuche aber nicht dargelegt. Der Autor dieser Studie zeigte sich gut informiert über die aktuelle Entwicklung des amerikanischen Testmaterials, das der in Marburg promovierte Methodistenpriester und Psychologieprofessor Aaron John Ungersma von der Universität Denver zur Verfügung gestellt hatte. 122 Im November 1937 eröffnete Jaensch mit einem Beitrag über Wege und Ziele der Psychologie in Deutschland den Jubiläumsband zum 50-jährigen Bestehen des American Journal of Psychology. Diese prominente Stellung verdankte sich vermutlich seiner Reputation als Wahrnehmungspsychologe, die auch die anglophone Welt erreicht hatte. 123 Diese transatlantischen Verbindungen verhinderten jedoch nicht, dass von den USA aus die deutsche Psychologen bald als eine Parallelwelt erschien, in der Jaensch verschiedene rassische Integrationstypen im Pickverhalten deutscher und italienischer Hühner wiedererkannte.124 Hatte die Einbeziehung geisteswissenschaftlicher Methoden in die empirische Erziehungspsychologie zunächst erweiternd 120 Ebd., S. 5-6. Jaensch hetzte auch gegen Wilhelm Peters: vgl. Gutachten Jaensch über Oswald Kroh vom 9. Juli 1937, in: Retter: Oswald Kroh und der Nationalsozialismus, S. 189. 121 Becker: Intelligenzprüfung. 122 Ebd., S. 101, Anm. 1. Zu Ungersma vgl. http://cdm15837.contentdm.oclc.org/cdm/ ref/collection/p15837coll1/id/326 [Zugriff 2. Juli 2013]. 123 Jaensch: Eidetic Imagery. 124 Vgl. Richards: »Race«, Racism, and Psychology, S. 179-180.
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und differenzierend gewirkt, verengte sich die pädagogische Psychologie nach 1933 zusehends auf die Bestätigung »völkischer« und »rassischer« Unterscheidungen sowie die Revision milieutheoretischer Befunde.125 Da Intelligenz gegenüber dem Charakter hierbei von untergeordneter Bedeutung war, traten Intelligenzmessungen weiter in den Hintergrund und dienten häufig im ursprünglichen psychopathologischen Zusammenhang nur noch der Feststellung von »Schwachsinn«126 – was sie keineswegs harmlos machte, standen sie ebenso wie die Persönlichkeitsdiagnostik doch häufig in Zusammenhang mit erzwungener Sterilisierung oder Krankenmord.
125 Etwa: Burkhardt: Rassenpsychologische Forschung an Schulkindern. Vgl. Depaepe: Wohl des Kindes, S. 328-337; Laux: Pädagogische Diagnostik, S. 127ff.; Geuter: Professionalisierung, S. 279, 296; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene. Fritz Lenz gab mehrere revisionistische Dissertationen in Auftrag, etwa Hell: Frage der Zusammenhänge; Schmidt: Beziehungen zwischen Landflucht. 126 Etwa Dubitscher: Durchführung von Intelligenzuntersuchungen.
7. Aussichten auf Rasse: Biowissenschaftliche Erbpsychologie
Verhielt sich die empirische Intelligenzpsychologie in Weimar indifferent gegenüber der Variable Rasse, so lag dies vermutlich unter anderem daran, dass ein sichtbarer Feind fehlte. Zwar gab es eugenische Invektiven wie die von Fritz Lenz. Doch zu Verfahren der rassisch vergleichenden Intelligenzmessung verhielten sich deutsche Rasseanthropologen zwiespältig bis ablehnend. Anders als in den USA gab es hier keine Empirie rassischer Intelligenzunterschiede, gegen die Vertreter von »Umweltlehren« hätten anforschen müssen. Das heißt nicht, dass der wissenschaftliche Rassismus in Deutschland seelisch-geistigen Unterscheidungen keine Bedeutung beigemessen hätte. Im Gegenteil lässt sich behaupten, dass Historiker die psychologische Dimension der Rassenanthropologie, von Ausnahmen abgesehen, bisher noch nicht scharf genug herausgestellt haben. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum Franz Boas seine verstärkte Präsenz im deutschen anthropologischen Feld ab 1926 schwerpunktmäßig an rassenpsychologische Interventionen knüpfte.
Anthropologen entdecken die Psyche Ab Mitte der 1920er Jahre riefen im Feld der Humandiversität tonangebende Biowissenschaftler die Rassenpsyche als neues Forschungsproblem aus. Dabei mag die epochale Psychologisierung der Gesellschaft eine Rolle gespielt haben, die sich vom Zwischenmenschlichen über Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen bis zur Kriegführung erstreckte. Andere Erklärungen finden sich in der disziplingeschichtlichen Dynamik der Anthropologie. Seit dem späten 19. Jahrhundert befand sich die Wissenschaft von den rassischen Unterschieden – gerade wegen der gesellschaftlichen Effekte, die rassische Unterscheidungen freisetzten – in einer epistemischen Dauerkrise. Zunächst war die klassische morphologische
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Anthropometrie mit ihrem Zentralgestirn, dem Schädelindex, in eine Sackgasse geraten. Empirizismus und Positivismus hatten Datenmengen und verfeinerte Methoden hervorgebracht, aus denen jedoch kein synthetischer Erkenntnisfortschritt resultierte.1 Mit der Wiederentdeckung der von Gregor Mendel aufgestellten Vererbungsgesetze erschien zunächst die Erblehre den Weg in ein moderneres Verständnis von der Dynamik menschlicher Entwicklung zu weisen. Tatsächlich konnte Eugen Fischer in seiner Studie zu den Rehobother Bastards (1913) zeigen, dass die Mendelschen Regeln auch auf den Menschen anwendbar waren. Doch mit zunehmenden Kenntnissen über die Komplexität menschlicher Vererbung zeichnete sich ab, dass vermeintlich rassische Abstammungsgemeinschaften nicht auf ein konstantes Set von Merkmalen festzulegen waren.2 Dass sich die meisten humangenetischen Forschungsergebnisse nicht unmittelbar in biopolitische Praxis übersetzen ließen, war in Deutschland besonders problematisch, weil hier Rassenwissenschaft, Genetik und Eugenik eng verbunden blieben, während sie sich in den USA Ende der 1920er Jahre auseinanderentwickelten und in Großbritannien ohnehin nie eng verwoben waren.3 Wissenschaftliche Gewissheiten in Bezug auf Rasse blieben instabil, während der »rassenhygienische« Handlungsdruck wuchs. In den wissenschaftlichen Suchbewegungen nach dem Wesen von Rasse gelten die mittzwanziger Jahre als ein Wendepunkt der deutschen Anthropologiegeschichte. Zum einen verschob sich nach dem Verlust der Kolonien der Blick von den Welt- auf die europäischen Unterrassen. Zum anderen wurde die Systematik menschlicher Formen von der Frage nach ihrer Entwicklung abgelöst.4 Forscher stützten sich weiterhin auf die morphologischen Typen der physischen Anthropologie, kombinierten diese aber mit neuen Fragestellungen etwa nach der Phänogenese, den Bedingungen und Verläufen der Entwicklung konkreter Erscheinungsbilder aus Erbanlagen. Es entsprach einem internationalen Trend, dass Einzelne begannen, die Vorstellung historisch stabiler Rassegruppen in dynamischen »Populationen« aufzulösen, die sich durch veränderliche Streuung von Merkmalen und Merkmalskombinationen innerhalb von Gruppen und durch statistische Überlappung von Gruppen auszeichnen. Um unter Bedingungen erhöhter Mobilität und reproduktiver Vermischung die Abstammungsidentität von Gruppen überhaupt aufklären zu können, richtete sich der Blick auf angenommen homogene, weil räumlich oder sozial isolierte bzw. durch Selektion 1
Vgl. Massin: From Virchow to Fischer, S. 106-109.
2
Vgl. so bereits Weingart/Kroll/Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 359.
3
Vgl. Kühl: Internationale, S. 103; Becker: Amerikanisierung, S. 162-165; Weiss: Nazi
4
Vgl. Proctor: From Anthropologie, S. 156; Lipphardt: Isolates and Crosses.
Symbiosis.
B IOWISSENSCHAFTLICHE E RBPSYCHOLOGIE
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abgeschottete Fortpflanzungsgemeinschaften. Das biologische Profil einer Untersuchungsgruppe blieb aber nach wie vor auf fachfremdes Wissen, vor allem genealogische Informationen, angewiesen. Dabei ließ sich Genealogie auch für antirassistische Zwecke nutzen: So wählte der Boasianer Melville Herskovits einen biometrisch-familienbiographischen Ansatz, um zu zeigen, dass die Gruppe der vermeintlichen »full-blood negroes« in Wirklichkeit zu einem erheblichen Teil weiße und indianische Vorfahren habe.5 In Deutschland formulierte der Anthropologe Walter Scheidt, der methodisch vielleicht avancierteste Rassewissenschaftler, mit seinem Konzept der »Lokalrassen« eine wirkungsmächtige Vorlage für die Erforschung von Diversität innerhalb der ansässigen Bevölkerung.6 Während sich die Konturen der alten rassischen Gruppen mit der 1920er Jahre aufzulösen begannen, verlagerte sich, so Robert Proctor, das Interesse zugleich vom äußerlich Sichtbaren des Rassekörpers auf sein unsichtbares Inneres. Die innere Organe, Blutgruppen und Drüsenfunktionen rückten als Anhaltspunkte für rassische Unterscheidungen in den Blick.7 Mindestens ebenso wichtig aber war für die deutsche Rassenforschung in ihrer Beweisnot die Hinwendung zur Psyche. Nun waren psychologische Argumente innerhalb des Rassediskurses keineswegs neu. Die Verschränkung von Körper, Psyche und Kultur gehörte zum grundlegenden Inventar der Rassentheorien des 19. Jahrhunderts. Wissenschaftler hatten sich schon vor dem Weltkrieg auf das theoretische Apriori psychischer Rassenunterschiede bezogen, auch wenn sie sich methodisch von den »unwissenschaftlichen« Rasseschriftstellern abgrenzten. Fritz Lenz wollte bereits 1916 die Juden als »geistige« Rasse verstanden wissen.8 Auch im ersten Grundriß der menschlichen Erblehre behaupteten er und Eugen Fischer die Existenz psychischer Rassenunterschiede. Bei Fischer hieß es lapidar: »Den einzelnen Rassen ist Phantasie, Tatkraft, Intelligenz usw. in außerordentlich verschiedenem Grad und in den mannigfachsten Kombinationen zuteil geworden, erblich und unveräußerlich«.9 Lenz äußerte sich ausführlicher, aber nicht weniger apodiktisch:
5
Herskovits: American Negro.
6
Vgl. Gausemeier: Walter Scheidt, S. 39-40; Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 83, 115; Fischer: Völkerkunde, S. 34; positive zeitgenössische Bezugnahmen etwa bei Voegelin: Rasse und Staat, S. 77-81; Shapiro: Rez. Scheidt.
7
Proctor: From Anthropologie, S. 152-156; zur Blutgruppenforschung vgl. Spörri: Rei-
8
Vgl. Tucker: Science and Politics, S. 114; Lipphardt: Biologie der Juden, S. 148;
9
Fischer: Rassenunterschiede des Menschen (1921), S. 121.
nes und gemischtes Blut. dies.: Wenn Forscher Rassen am Geruch erkennen.
162 | I NTELLIGENZ UND R ASSE Wenn auch die Rassenunterschiede im allgemeinen viel weniger hochgradig sind als die zwischen normalen und krankhaften Anlagen, so sind sie doch darum nicht minder bedeutungsvoll […]. Das gilt ganz besonders von den seelischen Unterschieden. Wenn es nur körperliche Rassenunterschiede gäbe, so wäre ja die ganze Rassenfrage ohne besondere Bedeutung; und damit hängt es offenbar zusammen, daß gerade die seelischen Rassenunterschiede entweder übertrieben oder ganz geleugnet werden. Daß es überhaupt seelische Rassenunterschiede gibt, daran kann von vornherein kein Zweifel sein. Jeder Rasse kommen ja gewisse Durchschnittswerte im Bau jedes Organs zu; das gilt natürlich auch von dem Bau des Gehirns und damit auch den seelischen Anlagen. Die Frage kann also nicht sein, ob es überhaupt seelische Rassenunterschiede gibt, sondern nur, welcher Art und wie groß sie sind.10
Neu stellte sich in den 1920er Jahren die Aufgabe, die kulturtheoretische Annahme psychischer Rassendifferenzen in eine wissenschaftliche Fragestellung zu übersetzen, sie als rassenanthropologisches Problem zu formulieren und Methoden zu ihrer Untersuchung zu erarbeiten. Pascal Grosse hat diese Entwicklung schon vor fast 20 Jahren benannt und dabei betont, dass die »Fundierung einer zeitgemäßen Rassenpsychologie« als Antwort auf die Unfähigkeit der somatischen Humangenetik zu verstehen sei, jene gesellschaftlich relevanten Aussagen zu formulieren, die von einer angewandten und politisch verstandenen Wissenschaft erwartet wurden.11 Was die Verwissenschaftlichung der Humandifferenz im 19. Jahrhundert getrennt hatte – die Lehre von den körperlichen Merkmalen der Menschenrassen und die Lehre von den psychokulturellen Zuständen der Völker –, sollte in der Zwischenkriegszeit wieder zusammengeführt werden. Im Zeichen eines ganzheitlichen Verständnisses vom Menschen fand eine Psychologisierung der Rassenwissenschaft und eine Verwissenschaftlichung der Rassenpsyche statt. In den folgenden Jahren erklärten deutsche Rasseforscher unterschiedlicher Ausrichtung die Psyche zum zentralen Forschungsdesiderat. Das traf für die genetisch orientierten unter ihnen – neben Lenz vor allem Verschuer und Walter Scheidt – zu, aber auch für Egon von Eickstedt, dessen »ganzheitliche« Anthropologie Vererbungsprozesse ausklammerte.12 Selbst Forscher wie Otto Reche und Theodor Mollison, die sich mit Anatomie und Physiologie beschäftigten, 10 Lenz: Erblichkeit der geistigen Begabung (1921), S. 286, (1927), S. 471, 520-521. 11 Vgl. Grosse: Kolonialismus, S. 77, 80. 12 Scheidt: Volk und Rasse, S. 3; ders.: Neue Ergebnisse, S. 291; Eickstedt: Rez. Hertz. Zu Eickstedt vgl. Preuß: »Anthropologe und Forschungsreisender«, 185-186, 193197; Klautke: German »Race Psychology«; zu Verschuer vgl. Kröner: »Rasse« und Vererbung, S. 202-203, 205.
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schlossen geistige Eigenschaften in den rassischen Merkmalskomplex ausdrücklich ein.13 1938 wählte Eugen Fischer das Problem der Erblichkeit geistiger Rasseneigenschaften für einen Vortrag auf dem Internationalen Kongress für Anthropologie und Ethnologie in Kopenhagen. Hier trug er die Ansicht vor, dass »die Frage nach der erblichen Unterlage unseres geistig-seelischen Lebens uns brennender interessiert als etwa die Vererbung von Haarfarben oder Krankheiten oder dergleichen«.14 Der Körper war zu einem Indikator für »Rasse« zusammengeschrumpft, deren Essenz in der Psyche zu finden sei. Quantitativ spiegelte sich dieser bemerkenswerte Positionswechsel allerdings nicht in der Forschungsarbeit wider. Obwohl die Psyche allgemein als Kern oder neben dem Körper zumindest gleichrangiger Bestandteil von Rasse galt, überwogen in der Praxis nach wie vor somatische und physiologische Untersuchungsgegenstände. Denn die Rasseforscher mussten eingestehen, dass die exakte Erfassung der Psyche vor ungleich größeren Schwierigkeiten stand als die Vermessung äußerer Körpermerkmale. Dass geistig-seelische Eigenschaften erblich seien, schien bald außer Frage zu stehen. Man bezog sich dabei zum einen auf Erkenntnisse der Psychopathologie, die familiäre Häufungen hochspezifischer Krankheitsbilder bereits sichtbar gemacht hatte und auch die Erblichkeit allgemeiner Verhaltensdispositionen, etwa zur Kriminalität, nachzuweisen behauptete. Der andere Kronzeuge war Wilhelm Peters mit seiner Pionierstudie zur Verwandtenähnlichkeit geistiger Leistungen.15 Theoretisch machten sich viele Rasseforscher auch Peters’ Einschränkung zu Eigen, nicht psychische Eigenschaften an sich seien vererbbar, sondern lediglich Anlagen zur Herausbildung bestimmter Reaktionsweisen. Otmar Freiherr von Verschuer, einer der ersten erbpsychologisch arbeitenden Genetiker, sprach einen Grundvorbehalt aus, als er feststellte, geistig-seelische Vorgänge seien nur symptomatisch beobachtbar, zudem sei die Psyche in ihrer Entwicklung und ihren Funktionen sehr viel stärker als der Körper schwer bestimmbaren Umwelteinflüssen unterworfen. 16 Doch weil um 1930 fest mit der Nachweisbarkeit
13 Reche: Rasse und Sprache, S. 208; ders.: Rasse (1927/28), S. 22. 14 Fischer: Rasse und Vererbung geistiger Eigenschaften, S. 1. 15 Bezüge auf Lange: Verschuer: Anlage und Milieu, S. 46; ders.: Intellektuelle Entwicklung, S. 178; ders.: Erbforschung; Bezüge auf Peters: Lenz: Erblichkeit der geistigen Begabung (1927), S. 471; Verschuer: Erbpsychologische Untersuchungen, S. 280281; noch 1939: Gottschaldt: Erbpsychologie der Elementarfunktionen, S. 454-55; Just: Erbpsychologie der Schulbegabung, S. 556-559. 16 Verschuer: Intellektuelle Entwicklung, S. 177; ähnlich Lenz: Erblichkeit der geistigen Begabung (1927), S. 471; ders.: Erblichkeit geistiger Eigenschaften (1936), S. 714;
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vererbter psychischer Unterschiede gerechnet wurde, befand sich die Erb- und Rassenpsychologie in einem idealen Schwebezustand zwischen Erkenntnisversprechen und ungelösten Fragen. Als Direktor des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik wertete Eugen Fischer die Erbpsychologie 1935 zu einer eigenständigen Abteilung auf, nicht zuletzt, weil verschiedene Zweige der Biowissenschaften auf diesem Feld konkurrierten.17 In Berlin war es der Neuroanatom Oskar Vogt am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, der bis 1937 die zerebrale Verankerung geistiger Eigenschaften, insbesondere bei »Genies«, erforschte.18 Die Frage herausragender Begabung beschäftigte auch die genealogisch-demographische Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München unter Leitung von Ernst Rüdin. Seit 1928 untersuchte seine Mitarbeiterin Adele Juda die Erblichkeit von Höchstbegabung und ihr Verhältnis zur Geisteskrankheit. Zudem hatte die Erbpathologie inklusive der Kriminalitätspsychiatrie, wie sie Johannes Lange mit internationaler Resonanz betrieb, die Vererbung normaler Charaktereigenschaften im Blick.19 Schließlich gehören zu diesem Feld auch die medizinisch-psychologischen Studien zur Erblichkeit normaler Charaktereigenschaften in Anlehnung an die Kretschmersche Konstitutionslehre, die im vorigen Kapitel dargestellt wurden. Als Leiter der erbpsychologischen Abteilung berief Fischer Kurt Gottschaldt, der aus der gestaltpsychologischen Schule von Wolfgang Köhler kam, sich 1932 bei dem philosophischen Anthropologen Erich Rothacker habilitiert hatte und obendrein in dem Ruf stand, ein Linker zu sein.20 Gottschaldt kam im Verlauf seiner Forschungen zu allgemeinen Aussagen über stärkere oder schwächere Umweltmodellierbarkeit von Intelligenz und Persönlichkeit, wiederum ohne dass konkrete biopolitische Maßnahmen daraus abzuleiten gewesen wären. 1936 und Reche: Rasse (1927/28), S. 22; Just: Vererbung, Umwelt, Erziehung, S. 17; Fischer: Versuch einer Genanalyse, S. 212. 17 Vgl. Ash: Die erbpsychologische Abteilung; Massin: Rasse und Vererbung als Beruf, S. 230-236; Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 248-257. 18 Vgl. Hagner: Geniale Gehirne, S. 248, 261. 19 Vgl. Weber/Burgmaier: Höchstbegabtensammlung; Wetzell: Kriminalbiologische Forschung; Cottebrune: Planbare Mensch, S. 87; zur Rezeption in den USA vgl. Landauer: Rez. Lange; Lange: Crime and Destiny. 20 Zu Gottschaldt vgl. Stadler: Schicksal, S. 152-157; Ash: Gestalt Psychology, S. 354361; ders.: Erbpsychologische Abteilung; Lösch: Rasse, S. 322-327; Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 211-216, 250-257; Massin: Rasse und Vererbung als Beruf, S. 230-236; Weingart: Doppel-Leben, S. 81-84; Mastroianni: Kurt Gottschaldt’s ambiguous relationship.
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1937 untersuchte er in Ferienlagern auf Norderney eine größere Anzahl Zwillingspaare. Im Zentrum stand die wochenlange Dauerbeobachtung von »Grundtemperament« und Verhaltensstil der Kinder in natürlichen Lebenssituationen. Gottschaldt beharrte darauf, dass die Psychologie nicht messen, sondern Ähnlichkeits- und Verschiedenheitsdiagnosen erstellen könne. Daher waren Tests zur logischen und praktischen Intelligenz lediglich eine Ergänzung seines charakterologischen Ansatzes. Dabei zeigten er und seine Mitarbeiter sich offen für »amerikanische« Methoden wie die Faktorenanalyse, die der Wiener Psychotechniker Peter Hofstätter 1938 bekannt machte, um die Quantifizierung und vergleichende Gruppierung psychischer »Mannigfaltigkeit« zu verfeinern.21 Im Kontext von Fischers KWI kam der Erbpsychologie darüber hinaus der Auftrag zu, einer genetisch fundierten Rassenpsychologie den Weg zu ebnen. Gottschaldt bekannt sich explizit zu Fischers Standpunkt erblicher geistiger Rassenunterschiede. Er versuchte, durch den Vergleich von »nordischen« und »alpinen« Kindern ein rassisches Element in die Zwillingsstudien einzubringen, fand aber offenbar keine signifikanten Ergebnisse.22 Anfang der 1940er Jahre entwarf er im Rahmen eines kolonialpolitischen Projekts einen Fragebogen, um Methoden der »modernen psychologisch gegründeten Menschenführung« in einem künftigen deutschen Kolonialreich in Afrika nutzbar zu machen.23 Um herauszufinden, welche psychologischen Voraussetzungen Afrikaner als potenzielle Arbeitskräfte und Konsumenten mitbrächten, hielt Gottschaldt es für nötig, aus der indigenen Lebenswelt heraus Diagnoseverfahren zu entwickeln, die »auf die Bedürfniswelt des Eingeborenen, auf seine Aktivitäts-, Gefühls- und Stimmungslage, auf seine natürliche Umwelt abgestimmt sind«. 24 Mangels brauchbarer Alternativen empfahl er Tests, ohne dass diese sich hätten praktisch bewähren müssen. Den entscheidenden Schritt von erbpsychologischen Erkenntnissen zur empirischen Rassenpsychologie vollzog Gottschaldt also nicht.25 21 Hofstätter: Über Faktoren-Analyse, S. 224; vgl. Wilde: Meß- und Auswertungsmethoden; Gottschaldt: Erbpsychologie der Elementarfunktionen, S. 471; ders.: Statistik in der Psychologie, S. 393; ders.: Methodik der Persönlichkeitsforschung, S. 8, Anm. 1, S. 34-37; ders.: Problematik der psychologischen Erbforschung, S. 50, Anm. 1; vgl. auch Ash: Erbpsychologische Abteilung, S. 418-419; Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 250-255. 22 Gottschaldt: Methodik erbpsychologischer Untersuchungen, S. 523; ders.: Problematik der psychologischen Erbforschung, S. 48-49. 23 Gottschaldt: Psychologische Probleme, S. 163. 24 Ebd., S. 167. 25 Das betonte er selbst: Gottschaldt: Problematik der psychologischen Erbforschung, S. 33, 40.
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Das lässt sich verallgemeinern. Die Institutionalisierung einer experimentellen Rassenpsychologie, die systematisch normale psychische Gruppendifferenzen erfasst hätte, gelang in nationalsozialistischer Zeit nicht.26 Zwar ist auf dem wissenschaftlichen Publikationsmarkt 1935/36 ein Boom von Überblicksdarstellungen und Einführungen, Sammelrezensionen und Aufsätzen zu verzeichnen, zu dem Autoren aus verschiedenen Disziplinen beisteuerten.27 Ebenso fand die Rassenpsychologie Eingang in das universitäre Lehrangebot. Aber 1935 scheiterte in Hamburg und Berlin der Versuch, an den jeweiligen Universitätsinstituten eine rassepsychologische Forschungsabteilung einzurichten. 1936 erhielt mit Ferdinand Ludwig Clauß ein erklärter Gegner der experimentellen Psychologie die Dozentur für Rassenpsychologie am Psychologischen Institut der Berliner Universität.28 Die vielleicht gewichtigste Stimme in der Psychologie außereuropäischer Rassen blieb der Tropenmediziner und Hygieniker Ernst Rodenwaldt, der psychologische Aussagen hauptsächlich auf koloniale Lebenserfahrung stützte.29 Rodenwaldts Ausführungen über den Seelenkonflikt des Mischlings erinnern an Robert Parks marginal man, wobei dessen positive kulturschöpferische Seite jedoch ganz fehlt. Das psychische Ungleichgewicht der Rassenmischlinge führte er primär auf die Disharmonie extrem unterschiedlicher Erbteile zurück, sekundär aber zudem auf sozialpsychologische Effekte: die traumatisierende Erfahrung von Stigma und Ausschluss. Das Bewusstsein seiner Herabsetzung kompensiere der Mischling entweder mit der paranoiden Verachtung von Reinrassigen oder mit Strebertum und Überanpassung.30 Rodenwaldts Mischlingspsychologie fand direkten Eingang in eine leistungsdiagnostische Studie, die in praktischem Zusammenhang mit nationalsozialistischer Biopolitik stand. Es handelte sich um die Untersuchung der Schulnoten von »Rheinlandbastarden« durch Fischers Mitarbeiter Wolfgang Abel, der unter anderem der Frage nachging, inwiefern durch die »Verbreitung allgemeiner rassenkundlicher Kenntnisse die26 Ähnliches gilt für die »Judenforschung«, vgl. Rupnow: Judenforschung, S. 127. 27 Etwa Brake: Forschungsstand der Rassenpsychologie; Petermann: Problem der Rassenseele; Eickstedt: Grundlagen der Rassenpsychologie; Reinöhl: Vererbung der geistigen Begabung. 28 Vgl. Moser: Zur Entwicklung, S. 503; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene, S. 30, 34; Weingart: Doppel-Leben, S. 38; Klautke: German »Race Psychology«, S. 23-24. 29 Rodenwaldt: Mestizen auf Kisar, S. 445-446; ders.: Seelenkonflikt des Mischlings; ders.: Allgemeine Rassenbiologie des Menschen, S. 666 ff; vgl. Grosse: Kolonialismus, S. 79-80; Matz: Konstitutionstypologie, S. 400. 30 Rodenwaldt: Seelenkonflikt des Mischlings, S. 368-371; ders.: Allgemeine Rassenbiologie, S. 669-670.
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sen Kindern ihre Bastardnatur und Andersartigkeit auch selbst bewußt wurde, und dieses Bewußtsein wieder auf ihre Leistungen von Einfluß blieb«.31 Generell bediente sich die Verfolgung »rassischer« Minderheiten aber nur ausnahmsweise exakter psychometrischer Methoden, obwohl sie sich zentral auf psychische Rassenunterschiede bezog. Typisch war daher eher die Arbeit von Gerhart Stein, einem Promovenden von Verschuer, zur Psychologie und Anthropologie der Zigeuner, der seine psychologischen Erkenntnisse auf charakterologische Alltagsbeobachtungen und einen Reisebericht aus dem Jahr 1829 stützte.32 Im Hinblick auf die rassische Binnendifferenzierung des deutschen Volkes gab es zwar messende Ansätze, die dem psychischen Profil des »nordischen«, »ostischen«, »alpinen« oder »fälischen« Typus auf der Spur waren. Sie erwiesen sich aber, etwa in der Berufsauslese, nicht als praxistauglich.33 Ob 1935 oder 1944: psychologische Erbforscher mussten einräumen, dass die Rassenpsychologie noch immer vor ungelösten methodischen Problemen stehe.34 Die Frage, wie sich psychische Dispositionen vererbten und wie sie sich unter verschiedenen Umwelteinflüssen entfalteten, oder noch grundlegender: wie die Psyche überhaupt aufgebaut sei, welches die Funktionseinheiten seien, die es zu isolieren und deren genetische Träger es zu bestimmen galt, blieb im Dritten Reich umstritten. Rassenpsychologie war offenbar Orientierungswissen, das sich die Unschärfen der Interdisziplinarität zunutze machte und nicht in tragfähige akademische Strukturen übersetzen ließ. Ähnliches gilt für die schwächer ausgeprägte Öffnung der Anthropologie zur Kultur. Um 1930 versuchte man von verschiedenen Seiten, Brücken zwischen Biologie einerseits und Volks- bzw. Völkerkunde und Geschichte andererseits zu schlagen. Das semantische Überblenden von »Volk« und »Rasse«, kennzeichnend für national-völkische Rhetorik, mussten Rassekundler kritisieren. Sie 31 Abel: Europäer-Marrokaner- und Europäer-Annamiten-Kreuzungen, S. 326. Vgl. Pommerin: »Sterilisierung der Rheinlandbastarde«, S. 46-48; Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 291-299. 32 Stein: Physiologie und Anthropologie der Zigeuner, S. 85-88; vgl. Sandner: Universitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene, S. 82; Zimmermann: Rassenutopie und Genozid; Schmidt-Degenhard: Vermessen und Vernichten, S. 92-97. 33 Etwa Cehak: Über das psychomotorische Tempo; vgl. Geuter: Nationalsozialistische Ideologie und Psychologie, S. 194; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene, S. 346, 367. 34 Brake: Forschungsstand der Rassenpsychologie, S. 31-35; Gottschick: Grundfragen und Schwierigkeiten der Rassenpsychologie; Bouterwek: Frage der Vererbung; Gottschaldt: Erbpsychologie der Elementarfunktionen, S. 445-446; Rodenwaldt: Allgemeine Rassenbiologie, S. 646; Deussen: Psychologische Grundfragen, S. 164.
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lehnten die unwissenschaftliche Gleichsetzung von »Rasse« und »Volk«, von »nordisch« und »arisch«, ab; Rasse als zoologischer Aspekt des Menschen sei von seiner sprachlich-kulturellen Volkszugehörigkeit zu unterscheiden. Zugleich schrieben sie aber das biohistorische Narrativ fort, demzufolge die urzeitlich ausdifferenzierten Rassen mit ihrem jeweiligen psycho-physischen Gepräge den historischen Werdegang der Völker wesentlich mitbestimmt hätten. 35 Eugen Fischer formulierte es 1938 in Kopenhagen so: »Die Völker sind rassemäßig verschieden zusammengesetzt, die Rassen unterscheiden sich durch erbliche, körperliche und geistige Eigenschaften, auf geistigen Eigenschaften beruht (je unter bestimmten Umweltbedingungen) jeweils die Kultur, also ist auch diese rassisch bedingt.«36 Die Suche nach dem rassischen Einfluss auf die Kultur galt es zu verwissenschaftlichen und durch die Verbindung von Bio- und Kulturforschung auf eine exakte Grundlage zu stellen. Was hatten die europäischen Rassetypen zur deutschen Kultur beigetragen; gab es unter ihnen eine Hierarchie der Kulturfähigkeit? Und welche Bedeutung kam dem »vorderasiatischen« (sprich: jüdischen) Typus für die rassische Selbstfindung der Deutschen zu? Mit der 1926 gegründeten Zeitschrift Volk und Rasse gab es zwar einen Umschlagplatz, auf dem sich natur- und geisteswissenschaftliche Perspektiven begegnen sollten. Dennoch blieb auch die Zusammenführung von Rasse und Kultur eher Ankündigung und Diskussionsgegenstand als Forschungspraxis. Zudem war den Vertretern geisteswissenschaftlicher Disziplinen daran gelegen, sich in der Verflechtung von Biologie und Kultur gegen die Deutungsmacht der Biologen zu behaupten.37 Das Problembewusstsein der Anthropologen für den Zusammenhang von Rasse und Kultur äußerte sich zumeist in anekdotischen Ähnlichkeitsbeobachtungen (Alpenbewohner trugen runde Hüte auf ihren runden Schädeln) und den bekannten Axiomen der Rassentheorie (die indogermanische Züchterkultur wusste um den kulturschädigenden Einfluss der Schwachen und Fremdrassigen). 38 Dem immerhin konsequenten Ansatz Walter Scheidts, das 35 Vgl. etwa Fischer: Spezielle Anthropologie, S. 125; Reche: Rasse und Sprache, S. 208; ders.: Rasse (1927/28), S. 22. 36 Fischer: Rasse und Vererbung geistiger Eigenschaften, S. 9. Zur Überlagerung biologischer Kategorien durch soziale bei deutschen Rasseforschern vgl. Klingemann: Soziologie und Politik, S. 210-211, 224-226; dag. Fleck: Transatlantische Bereicherungen, S. 142. 37 Thilenius: Ethnologisch-anthropologische Gemeinschaftsarbeit, S. 59; Kern: Stammbaum und Artbild; kritisch dazu von ethnologischer Seite Krause: Völkerkunde; Mühlmann: Biologie und Geisteswissenschaften. 38 Beispiele nach Reche: Natur- und Kulturgeschichte, S. 66; ders.: Rasse und Kultur; vgl. Geisenhainer: Rasse ist Schicksal, S. 86, 156-157.
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Programm einer regelrechten »Kulturbiologie« zu entfalten, konnten die meisten seiner Kollegen dagegen nichts abgewinnen.39 Die Vision einer interdisziplinären Rassenforschung versprach, den ganzheitlichen Zusammenhang von Körper, Psyche und Kultur wissenschaftlich zu untermauern. Dass die methodischen Probleme offenbar zu groß waren, um dieses Versprechen empirisch einzulösen, hatte durchaus Vorteile, entstand doch am Rand wissenschaftsförmiger Aussagen eine Grauzone des Wahren und nur noch nicht Bewiesenen. Am Wissenschafts- und Weltanschauungsstandort Deutschland – dem Setting, in dem Franz Boas um 1930 agierte – verhielten sich anthropologische Erbforschung und psychologische Rassenhermeneutik, Forscher und außerakademische Denker zwiespältig zueinander. Einerseits grenzten sich die Biowissenschaftler von der interpretierenden Spekulation, die Seelenkundler vom zergliedernden Materialismus ab. Andererseits funktionierten sie arbeitsteilig. Forscher wie Eugen Fischer verwiesen immer wieder auf das Erkenntnispotenzial der rassischen Wesensschau. Umgekehrt gingen die Wesensdeuter von jenen typischen Körperbildern der Rassen und Unterrassen aus, die die ältere physische Anthropologie wissenschaftlich beglaubigt hatte und von der sich 40 auch die modernen Bioanthropologen und Genetiker nicht verabschiedeten.
Bei den »Madison Grants of Germany« Obwohl sich boasianische anthropology und deutsche Anthropologie nach dem Ersten Weltkrieg in verschiedene Richtungen entwickelten, intensivierten sich Boas’ Kontakte in dieses Feld, so dass sie um 1930 so stark waren wie zuletzt vielleicht um 1890. Das hatte mit seiner Nothilfe für die deutsche Wissenschaft zu tun, von der auch die neue Generation der Bioanthropologen und Genetiker profitierte. Zudem spielten aber inhaltliche Verflechtungen eine Rolle. Das heißt nicht, das Gros der deutschen Anthropologen hätte Boas’ Schlussfolgerungen jemals als echte Alternative zur Rassenerblichkeit in Betracht gezogen. Es heißt aber, dass seine Befunde rezipiert wurden und auch seine Absage an die Existenz relevanter Rassenunterschiede als dauernde Herausforderung präsent blieb. 39 Vgl. Gausemeier: Walter Scheidt, S. 35-48; Fischer: Völkerkunde, S. 34-36. 40 Vgl. Lutzhöft: Nordische Gedanke, S. 34; Geuter: Nationalsozialistische Ideologie, S. 187; Geisenhainer: Rasse ist Schicksal, S. 96; Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 150-151; Lipphardt: Wenn Forscher Rassen am Geruch erkennen, S. 67-68; Leo: Wille zum Wesen, S. 419-432; als Beispiele: Fischer: Rez. Günther: Rassenkunde; ders.: Rez. Clauß: Rasse und Seele; ders.: Rasse und Vererbung geistiger Eigenschaften, S. 6; Verschuer: Rez. Günther: Nordische Gedanke.
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Wenig ausgeprägt waren dagegen seine Beziehungen zu anderen Biowissenschaftlern, die sich mit Umwelteffekten beschäftigten. 1926 stand Boas in Kontakt mit dem Bakteriologen Walther Kruse vom Hygiene-Institut Leipzig, der binnendeutsche Migrationseffekte untersuchte und sich, bei klar wertender Unterscheidung der menschlichen Großrassen, gegen den nordischen Entartungsalarmismus wandte.41 Ein anderer Anknüpfungspunkt hätten die »völkerpathologischen« Studien sein können, die Boas’ Bundesbruder Ludwig Aschoff in China und der Sowjetunion unternahm, um das Verhältnis von Erbe und Umwelt bei rassenphysiologischen Erscheinungen aufzuklären. In ihrer Korrespondenz war dieses Problem aber kein Thema, und es deutet auch nichts darauf hin, dass es bei persönlichen Treffen zur Sprache kam.42 Stattdessen konzentrierte sich Boas auf die Anthropologen und Rasseschriftsteller wie Clauß und H. F. K. Günther. Dabei war das Feld der Anthropologie, in dem Boas ab Mitte der 1920er Jahre wieder verstärkt in Erscheinung trat, heterogen. Es gab nicht nur den Gegensatz von physisch-morphologischer Anthropologie und dynamischer Rassenkunde mit genetischer Fundierung. Auch die Rasseforscher vertraten unterschiedliche Konzepte von Rasse und Ansätze ihrer Erforschung.43 Das hatte in Nuancen Auswirkungen auf ihr Verhältnis zu Boas, obwohl seine Plastizitätsthese unter deutschen Anthropologen grundsätzlich auf Skepsis bis Ablehnung stieß. Am wenigsten traf dies für deutsch-jüdische Biowissenschaftler wie Franz Weidenreich, Hans Friedenthal und Hans Ullmann zu, die sich aus der Defensive heraus mit der »Biologie der Juden« beschäftigten und Boas zustimmend rezipierten. 44 Der jüdische Sexualwissenschaftler Max Marcuse dagegen führte 1927 »die Behauptung von Franz Boas, daß alle Rassen einander wertgleich seien«, als Beispiel für den Einfluss von Affekten auf wissenschaftliche Äußerungen an.45
41 Boas an Beardsley Ruml, 1. Mai 1926, PCFB. Er spricht fälschlich von »Dr. Krause«. Vgl. Kruse: Die Deutschen und ihre Nachbarvölker, S. 326-327. 42 Aschoff an Boas, 12. Juni 1921, APS, FBP, BRC, Emergency Society, Folder 7; Marie und Franz Boas an Helene Boas, 24. September 1925, APS, FBP, FP, Box 16, Folder 1925; Aschoff an Boas, 2. November 1922, PCFB. 1924 traf Aschoff Boas in New York, vgl. Girtler: Burschenschafter und Schwiegersohn, S. 575; zu seiner Völkerpathologie vgl. Cottebrune: Planbare Mensch, S. 38-61. 43 Vgl. Massin: Anthropologie raciale; Schmuhl: Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik; Geisenhainer: Rasse ist Schicksal, S. 85. 44 Vgl. Lipphardt: Biologie der Juden, S. 144; so auch Feist: Stammeskunde der Juden, S. 183. 45 Marcuse: Rasse, S. 1194.
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Unter den nichtjüdischen Anthropologen hatte der Antitypologe Scheidt weniger Berührungsängste und bezog sich in seiner Rassenkunde von 1925 auf 13 verschiedene Schriften von Boas aus den Jahren 1895 bis 1920. Boas’ Einwandererstudie nannte er »eine der besten und beachtenswertesten Untersuchungen über einen möglichen Einfluß der Umwelt auf den Bau des Schädels«, die Ausleseffekte als Ursache allerdings nicht stichhaltig widerlegt habe.46 Otto Reche zitierte in einem Aufsatz über das Verhältnis von Rasse und Sprache zwar aus Boas’ Kultur und Rasse von 1914, jedoch nur ethnographische Beispiele, ohne auf Boas’ Thesen zur Plastizität vermeintlicher Rassenmerkmale oder zur Kulturfähigkeit aller menschlichen Typen einzugehen. 47 Das Ignorieren heikler Differenzen war eine mögliche Strategie im Umgang mit Boas, daneben gab es genug Stimmen, die seine Position ausdrücklich als falsch, weltanschaulich motiviert oder gefährlich markierten.48 Der diplomatische Mittelweg lag darin, die Disclaimer aufzugreifen, die Boas selbst den Ergebnissen der Einwandererstudie beifügt hatte: Die Plastizität sei begrenzt, es entstünden also nicht völlig andere Schädelformen; die Veränderung sei vermutlich reversibel, Vererbung erworbener Eigenschaften komme also nicht in Betracht; die verschiedenen Schädelformen näherten sich zwar einem rechnerischen Mittelwert an, diesem entspreche kein realer neuer »Yankeetypus«, der vor allem durch popularisierende Medien geisterte; die amerikanische Umwelt rufe bei verschiedenen eingewanderten »Rassen« verschiedene Reaktionen hervor.49 Diese relativierende Tendenz ist etwa bei dem außerordentlich auflagenstarken Rassentheoretiker Günther zu erkennen, dessen Rassenkunde des deutschen Volkes seit der 12. Auflage von 1928 einen Abschnitt zu Boas enthielt, der in allen folgenden Auflagen wortgleich beibehalten wurde:
46 Scheidt: Rassenkunde, S. 230-231; vgl. auch ders.: Rez. Boas: Bemerkungen; Boas an Scheidt, 20. November und 15. Dezember 1925; Scheidt an Boas, 3. Dezember 1925, 6. Januar und 16. Februar 1926, PCFB. 47 Reche: Rasse und Sprache, S. 210. Egon von Eickstedt führte Boas’ Rasse und Kultur in der Bibliographie seiner Dissertation auf, was inhaltlich kaum nachvollziehbar ist. Allerdings scheint Boas einen Druckkostenzuschuss aus den USA vermittelt zu haben: Eickstedt: Rassenelemente der Sikh, S. 379; Felix von Luschan an Eickstedt, 21. Februar 1922, StBPK, HSA, NL Luschan. Vgl. auch Verschuer: Wirkung der Umwelt, S. 176; ders.: Rez. Boas: Materials for the Study. 48 Etwa Reche: [Replik auf Marcuse], S. 1196; Mollison: Rez. Boas: Anthropology and Modern Life; Kurz: Rez. Boas: Anthropology and Modern Life, S. 215; Steinmetz: Rez. Michels: Patriotismus, S. 28. 49 Etwa Struck: Versuch einer Karte des Kopfindex, S. 60-61.
172 | I NTELLIGENZ UND R ASSE Öfters werden Feststellungen des Anthropologen Boas (jüdischen Volkstums, amerikanischer Staatsangehörigkeit) über vermeintliche oder wirkliche Abwandlungen von Rassenmerkmalen als Einwände gebraucht, welche überhaupt gegen eine Behauptung von Rassenunterschieden sprechen sollen. […] Boas selbst möchte aber – im Gegensatz zu denen, welche seine Untersuchungen als Einwand gegen das Bestehen von Rassenunterschieden gebrauchen wollen – keine erbbildlichen Änderungen […] annehmen, sondern allein erscheinungsbildliche Abwandlungen.50
Günther nahm Boas also gewissermaßen vor unzulässigen Verfremdungen seiner Ergebnisse in Schutz.51 Deutlich härter attackierte Fritz Lenz. Ein Rezensent nannte die zweite Auflage von Boas’ Kultur und Rasse »das Gegenstück« zu Lenz’ Rassenhygiene im Baur-Fischer-Lenz.52 Schon 1917 hatte Lenz die erste Auflage im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie als nicht diskussionswürdig abgetan und adressierte Boas seitdem als Juden, tendenziösen Lamarckisten und Leugner von Rassenunterschieden.53 Zudem diffamierte er über ihn andere Autoren, die antibiologistisch argumentierten. In einer Rezension von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes heißt es: Im Grunde ist ihm die Rasse sogar ein direktes Produkt der Umwelt. Unter Berufung auf den jüdischen Anthropologen Boas behauptet er von den aus Europa gekommenen Amerikanern: »Sie werden von Generation zu Generation der ausgerotteten Bevölkerung ähnlicher.« […] Hier spricht offenbar Spengler I, der Orientale. Ja, wie viele Schriftsteller vorderasiatischer Abkunft vertritt Spengler sogar einen ganz ausgesprochenen Psycholamarckismus.54
50 Günther: Rassenkunde des deutschen Volkes (1928), S. 233; dass. (14. Aufl. 1930, 15. Aufl. 1933, 1939), S. 250-251; ders.: Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), S. 216-217, S. 290-29; Rassenkunde Europas (1929), S. 106, Anm. 2. 51 So Mollison: Rez. Feist: Stammeskunde. 52 O. A.: Rez. Boas: Kultur und Rasse. 53 Lenz: Rez. Boas, Rasse und Kultur, S. 212; ders.: Rez. Struck/von Luschan, S. 487; ders.: Erblichkeit der geistigen Begabung (1923), S. 428, (1927), S. 575; ders.: Erblichkeit der geistigen Eigenschaften (1936), S. 713; vgl. auch Lipphardt: Biologie der Juden, S. 145. 54 Lenz: Oswald Spengler, S. 301. Lenz unterstellte nicht, dass Spengler jüdischer Abstammung sei. Es verdankte sich dem charakterologischen Ähnlichkeitsdenken, dass Lenz ihn als jüdischen Lamarckisten bezeichnen konnte, vgl. Leo: Wille zum Wesen, S. 515-522.
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Lenz ignorierte Boas, so gut er konnte, indem er sich auf zwei andere Kritiker der Rassentheorie bezog, die sich insbesondere gegen nordische Überlegenheit wandten. Der Wiener Publizist Friedrich Hertz hatte bereits 1904 gegen Chamberlains Erfolgsbuch Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts eine Kritik der Modernen Rassentheorien geliefert. 1915 erschien die zweite Auflage unter dem Titel Rasse und Kultur, 1925 eine dritte, wesentlich veränderte Auflage, die sich vor allem mit der Frage psychokultureller Rassenunterschiede befasste.55 1927 veröffentlichte der Ethnologe Pater Wilhelm Schmidt eine Abrechnung mit der Rassentheorie, die Walter Scheidt als eine der »bislang bemerkenswertesten Schriften gegen Günther« bezeichnete.56 Hertz wie Schmidt meinten, Rassentheoretiker verwechselten Vererbung in Familienlinien mit Erbzusammenhängen in rassischen Großgruppen. Sie beharrten darauf, dass Rassen- und Kulturentwicklung nicht zusammenfielen, wiesen auf die Kulturbegabtheit und Entwicklungsfähigkeit aller menschlichen Gruppen einschließlich der »Primitiven« hin. Vermeintliche erbliche Rassenunterschiede seien durch soziokulturelle Faktoren erklärbar, eine psychokulturell argumentierende Rassenkunde daher unwissenschaftlich.57 Nicht nur Lenz schenkte Hertz’ Rasse und Kultur mehr Beachtung als Boas’ Kultur und Rasse. Bis Ende der zwanziger Jahre bezogen sich viele Wissenschaftler – zumeist negativ, vereinzelt auch positiv – auf Hertz als wichtigsten Kritiker der Rassenlehre.58 Boas, der ihn 1923 kennen lernte, grenzte sich, vermutlich gerade wegen der auffallenden Parallelen, von dem anthropologischen Amateur ab. Er rechnete Hertz neben Jean Finot und Ignaz Zollschan zu den unsachlichen »Verteidiger(n) der Rassengleichheit«.59 Seine Informationen über das Army Screening, das er ebenfalls ganz in Boas’ Sinne interpretierte, bezog Hertz bezeichnenderweise aus den Schriften von Fritz Lenz.60 Lenz gehörte zu jenen deutschen Rassisten, die in der Zwischenkriegszeit enge Verbindungen zu ihren amerikanischen Pendants pfleg55 Zu Hertz vgl. Weindling: Central Europe, S. 265-267. 56 Scheidt: Replik auf Marcuse; vgl. auch Lenz: Rez. Schmidt. 57 Hertz: Rasse und Kultur, S. 62, 324, 90-93, 232: Schmidt: Volk und Rasse, S. 54, 2122, 10-12. 58 Lenz: Rez. Hertz: Rasse und Kultur (1917); ders.: Rez. Hertz: Rasse und Kultur (1925); ders.: Erblichkeit der geistiger Begabung (1927), S. 521, 534, 577-578; Scheidt: Rez. Hertz: Rasse und Kultur; Kern: Stammbaum und Artbild, S. 277; Eickstedt: Rez. Hertz: Rasse und Kultur; Müller-Freienfels: Beiträge zur Rassenpsychologie. 59 Boas: Frage der Rassenreinheit, S. 169; vgl. auch Boas an Helen R. Bryan, 28. Juni 1933, PCFB. 60 Hertz: Rasse und Kultur (1925), S. 312-314, Anm. 1.
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ten.61 Er war es auch, der in Deutschland am prononciertesten die Ergebnisse des orthodoxen mental testing heranzog. Erstmals präsentierte er Termans Begabtenforschung und Yerkes’ Bericht des Army Screening 1925/26 im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, als in den USA selbst die kritische Wende in der Rassenpsychologie begann, die Lenz in der Folgezeit beharrlich ignorieren sollte.62 Ab der dritten Auflage von 1927 fanden das Army Testing und andere race psychology ihren Platz im Baur-Fischer-Lenz, von dort übernahmen andere den weißen bzw. nordischen Begabungsvorsprung.63 Termans Annahme, der soziale Status drücke im Durchschnitt eine Intelligenzanlage aus, konnte in Deutschland mit breiter Zustimmung rechnen. Sie war häufig verbunden mit der Warnung vor falschem Vertrauen in »scheinexakte« Tests, da letztlich die nicht messbare Antriebsstruktur der ganzen Person den Ausschlag gebe. Das galt auch für den Rassenvergleich: Intelligenz sei eine Grundfunktion, die in allen menschlichen Gruppen auf ähnliche Weise streue, während rassische Kulturbegabung erst aus der günstigen Kombination von Intelligenz, Phantasie, Willen und Charakter erwachse.64 Lenz zufolge drückten die Ergebnisse des racial testing aber relevante Unterschiede aus. Er nahm die Ergebnisse des Army Screening als statistischen Beleg für die objektive Minderbegabung der »Neger«, die im Vergleich zu den Neandertalern zwar »schon viel weniger in den Tag« hineinlebten, denen es jedoch an Triebkontrolle, »Initiative und Führerbegabung« fehle.65 Die metrische Hierarchisierung koexistierte bei Lenz mit einer kulturrelativistischen Position, die quantifizierende Vergleiche eigentlich ausschloss: Wenn man nämlich den Wert der Rassen an der Kultur messen will, so entsteht notwendig die Frage nach dem Sinn und Wert der Kultur. Steht z. B. die abendländische oder die chi61 Vgl. Kühl: The Nazi Connection; Spiro: Defending the Master Race, S. 356-380. 62 Lenz: Begabtenforschung Termans; ders.: Ergebnisse der Intelligenzprüfungen. 63 Lenz: Erblichkeit der geistigen Begabung (1927), S. 525-529, S. 543-546; ders.: Erblichkeit der geistigen Eigenschaften (1936), S. 717-720, 735-737; Saller: Einführung, S. 100; Günther: Rassenkunde des deutschen Volkes (1930), S. 206, Anm. 1, und folgende Auflagen; Reinöhl: Vererbung der geistigen Begabung, S. 257; Fischer: Rasse und Vererbung geistiger Eigenschaften, S. 5. 64 So etwa Fischer: Rehobother Bastards, S. 296-297; Scheidt: Rassenkunde, S. 275-276; Just: Biologische Grundlagen der Begabung, S. 268-269; Rodenwaldt: Seelenkonflikt des Mischlings, S. 367; ders.: Allgemeine Rassenbiologie, S. 657; Reinöhl: Vererbung der geistigen Begabung, S. 83; Gottschaldt: Psychologische Probleme, S. 165-167. 65 Lenz: Erblichkeit der geistigen Begabung (1927), S. 524-529; vgl. auch Mollison: Rez. Boas: Anthropology and Modern Life, S. 32.
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nesische höher? […] wenn man den Wert einer Kultur an ihrer Wirkung auf die Rasse misst, so kann man den Wert der Rasse nicht wieder an ihrer Wirkung auf die Kultur messen. Wenn man aber der Rasse als solcher Eigenwert zuerkennt, so kann eine Rasse weder »höher« noch »tiefer« als eine andere stehen, weil alle solche Höhenbeziehungen die Geltung eines anderweitigen Maßstabes voraussetzen würden. […] Wenn wir unsere Rasse nicht um irgendeiner Kultur, einer Lehre oder Moral willen, sondern um ihrer selbst willen lieben, so verträgt sich diese Liebe nicht mit der Gleichschätzung irgend einer andern Rasse, ohne dass wir darum unsere Rasse als höherwertig in einem objektiven Sinne ansähen.66
Die Paarung von Relativismus und aggressiver Parteilichkeit ist ein wiederkehrendes Muster in der deutschen Rassenpsychologie67, in dem sich eine professionelle Kluft zwischen methodischem Bewusstsein und brachialer Thesenbildung abbildet. Als der amerikanische Genetiker Hermann J. Muller 1933 die englische Ausgabe des Baur-Fischer-Lenz rezensierte, kam er daher zu einem zwiespältigen Urteil. Während die allgemeinen und methodologischen Teile vorzüglich seien, machten sich Fischer und Lenz in den Abschnitten zur Rassenkunde und Rassenhygiene zu »mouthpieces for the crassest kind of popular prejudice«. Als Beispiel nannte Muller die rassische Auslegung des IQ, der nachgewiesenermaßen stark von Umweltfaktoren beeinflusst sei.68 Der Rückzug auf die Beweiskraft der Alltagserfahrung hinderte Lenz nicht, in einzelnen Aspekten treffende Kritik an Intelligenztests zu formulieren, die sich gegen den Testpositivismus der Erbpsychologie richtete. In den zwanziger Jahren wandte er sich wiederholt gegen mathematische Scheinevidenzen, unter anderem die Suggestionen von Kurvenbildern und Korrelationsstatistiken. Später warf Lenz seinem Institutskollegen Gottschaldt vor, in dessen Versuchsanordnung sei das gemessene Objekt vom Vorgang der Messung nicht sauber zu trennen.69 Den Scharfsinn, der in solchen Aussagen über den performativen Charakter von Experimenten steckte, brachte Lenz allerdings vor allem dann auf, wenn es darum ging, einen Gegner bloßzustellen. In eigenen Ausführungen über (rassen)psychologische Sachverhalte verzichtete er gleich ganz auf jede wissen66 Lenz: Erblichkeit der geistigen Begabung (1927), S. 581; vgl. auch Weingart/Kroll/ Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 102-103. 67 Vgl. Proctor: From Anthropologie, S. 151-152; Gausemeier: Walter Scheidt, S. 42; als Beispiele: Reche: [Replik auf Marcuse], S. 1196; Rodenwaldt: Allgemeine Rassenbiologie, S. 657-658. 68 Muller: Rez. Baur/Fischer/Lenz: Human Heredity. 69 Lenz: Bemerkungen zur Variationsstatistik; ders.: Über Asymmetrie und Variabilitätskurven; ders.: Zur Problematik (1941); ders.: Zur Problematik (1943/44), S. 8, 19.
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schaftlich zu nennende Methode und berief sich auf die erkenntnisstiftende Funktion des eigenen Rasseinstinkts. Auch aus diesem Grund bezeichnete Boas ihn immer als Pseudowissenschaftler. Er attackierte auch andere Hochschullehrer wie Reche, Mollison und Scheidt, aber nur Lenz zählte er neben Günther zu den »Madison Grants of Germany«.70 1925/26 versuchte Boas, eine International Review of Social Biology and Psychology auf die Beine zu stellen, die als kritische Gegenstimme zu dem von Lenz geführten Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie konzipiert war.71 Mit von der Partie waren der norwegische Philosoph und Experimentalpsychologe Anathon Aall, der 1925 Columbia-Gastprofessor war, und Boas’ Columbia-Kollege Edward Thorndike. Offenbar sollten auch Marcel Mauss und Richard Thurnwald, der das Archiv 1904 mit gegründet hatte, für den Herausgeberkreis gewonnen werden.72 Das Projekt scheiterte zwar an der Finanzierung, aber es leitete für Boas eine Phase verstärkter publizistischer Präsenz in deutschen medizinisch-anthropologischen Fachzeitschriften ein.73 Dabei richtete er – analog zu seinen amerikanischen Arbeiten – den Fokus zunehmend auf psychologische Fragen. Den Anfang machte eine Übersetzung seines Artikels The Question of Racial Purity aus dem American Mercury von 1924. Sie erschien 1926 zunächst in der Frankfurter Zeitung und wurde kurz darauf in dem freidenkerisch-sozialistischen Bildungsmagazin Urania nachgedruckt.74 Dass die populäre Wissenschaftszeitschrift Die Umschau 1928 in wenigen Zeilen über Klinebergs Yakima-Studie berichtete, dürfte als Kuriosum untergegangen sein.75 Beachtung fand dagegen 70 Boas an Friedrich Schmidt-Ott, 6. April 1933; an Waldemar Kaempffert, 10. April 1933; an Felix Warburg, 9. Oktober 1933, PCFB; Boas an Gladys Reichard, 4. Juli 1929, APS, FBP, PP, Reichard, Gladys (1923-1942). 71 Er sprach vom »German Journal of Social Biology«: Boas an Beardsley Ruml, 30. April 1926, PCFB. 72 Aall an Boas, 10. September 1926, PCFB. 73 Vgl. Boas: Rez. Gustav Kraitschek; ders.: Bemerkungen über die Anthropometrie der Armenier; ders.: Rasse (1927); ders.: Variabilität von Volksgruppen; zudem außerhalb der Fachpresse: ders.: Rasse oder Vererbung; vgl. dazu Lipphardt: Biologie der Juden, S. 180-184. Eine geplante Publikation in der von Erwin Baur herausgegebenen Zeitschrift Bibliotheca Genetica kam offenbar nicht zustande, vgl. Carl Correns an Boas, 24. Juli 1924; Baur an Correns, 22. Juli 1924, Verlag Borntraeger an Correns, 23. Juli 1924, PCFB. 74 Boas: Frage der Rassenreinheit, vgl. Emerich Reeck an Boas, 11. November 1929, PCFB. 75 A.: Der Indianer denkt langsam, aber richtig.
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ein Vortrag, den Boas am 20. Juli 1929 in der Berliner Anthropologischen Gesellschaft über »Rasse und seelische Veranlagung« hielt. An der Diskussion beteiligten sich unter anderen Eugen Fischer und Otmar Freiherr von Verschuer.76 Wie in den USA legte er auch in diesem Redebeitrag Wert darauf, kein radikaler Antibiologist zu sein. Individuelle psychische Differenzen seien durchaus biologisch zu erklären: In derselben Bevölkerung finden sich hochintelligente und intellektuell minderwertige, schaffende Künstler und künstlerisch unbegabte, Tatmenschen und willensschwache, und die Unterschiede sind so ausgesprochen, daß es Willkür wäre, das rein biologische Element auszuscheiden, wie es von den »Behaviorists« geschieht. Physiologisches Verhalten hängt zum Teil von der anatomischen Form ab. Ein kräftiger Kreislauf des Blutes wirkt sich anders aus, als ein träger […]; der Chemismus des Körpers, der Drüsen hat einen entscheidenden Einfluß auf die physiologischen und so auch auf die geistigen Funktionen.77
Psychische Rassenerblichkeit wies er jedoch mit den bekannten Argumenten zurück und machte dies exemplarisch an der kritischen race psychology von Otto Klineberg und Melville Herskovits fest. Zwei Jahre später griff er das Problem psychischer Rassenunterschiede in der Rede auf, die er zur Feier seines 50-jährigen Doktorjubiläums in Kiel hielt. Währen der erste Teil des Vortrags der Unterscheidung von familiären Erblinien, »Lokalrassen« und Rassen gewidmet war, handelte der zweite Teil von psychischen Fragen. Boas zeichnete den Umschwung in der amerikanischen race psychology nach und bezog sich namentlich auf Garths Konversion von der Biologie zur Umwelt. Prominenten Platz räumte er Otto Klinebergs Arbeiten ein, sowohl der Dissertation und der Europa-Studie wie seinen laufenden Untersuchungen zur selektiven Migration. Entgegen den Annahmen von Otto Ammon habe Klineberg »den endgültigen Beweis erbracht, daß Auslese nicht die Ursache der Erscheinung ist«, denn er habe zeigen können, dass sich die Leistungen von bodenständiger und abgewanderter Bevölkerung nicht unterschieden.78 76 Vgl. Z Ethn (1929), S. 222. Boas an Antonie Wohlauer, 2. August 1929, APS, FBP, PP, Correspondence, Folder 1929; an Ernst Boas, 3. August 1929, APS, FBP, PP, Correspondence, Letters Franz and Marie Boas to Ernst Boas, Folder 19. Der in der Korrespondenz erwähnte Verriss seines Vortrags in der Deutschen Allgemeinen Zeitung konnte in den Ausgaben Groß-Berlin und Reich nicht identifiziert werden. 77 Boas: Rasse und seelische Veranlagung, S. 296; vgl. auch ders.: Replik auf Marcuse, S. 1417; ders.: Rasse und Kultur, S. 10, 12. 78 Boas: Rasse und Kultur, S. 13-14.
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Das Jubiläum erfuhr eine weitgehend freundliche Resonanz. So würdigte der Amerikanist Franz Termer Boas als »den objektiven, tiefdringenden und gerechten Beurteiler der Leistungen und Charaktereigenschaften kulturell weniger hochstehender Völker«.79 Die Publikation der Rede gestaltete sich aber schwierig. Otto Aichel, der Boas für den medizinischen Ehrendoktor der Universität Kiel vorgeschlagen hatte, wandte sich in seinem Namen an Fritz Lenz als Herausgeber des Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie sowie die Zeitschrift Volk und Rasse, die beide absagten.80 Daraufhin bat Boas einen Bundesbruder, den Freiburger Pathologen Ludwig Aschoff, um Hilfe, der es ebenfalls vergeblich bei medizinischen Zeitschriften versuchte.81 Boas einigte sich schließlich mit dem Jenaer Verlag Gustav Fischer, in dem unter anderem Eugen Fischers Rehobother Bastards, Rudolf Martins Lehrbuch der Anthropologie, Wilhelm Peters’ Vererbung geistiger Eigenschaften und Walter Scheidts Kulturbiologie erschienen waren. 1932, als sein Kieler Vortrag erschien und Boas zum letzten Mal den Sommer in Deutschland verbrachte, wandte er sich im Anthropologischen Anzeiger nochmals gegen die Behauptung, dass die »Korrelation zwischen Körperbau und geistigen Eigentümlichkeiten geographisch und sozial geordneter Volksgruppen« irgend einen Beweis für Kausalzusammenhänge liefere.82 Boas war konsequent in der Zurückweisung psychischer Rassenunterschiede, zumindest ihrer Bedeutsamkeit für das menschliche Zusammenleben. Er stand damit aber nicht allein83, und es gab auch in Deutschland Positionen, die sich, ähnlich wie die amerikanischen Behavioristen, radikaler von organischen Modellen der Psyche abgrenzten als er. Anders als in den USA handelte es sich dabei aber nicht um Kritiker einer »mentalistischen« Perspektive, sondern um Autoren, die im Gegenteil die Autonomie des Geistigen betonten. Das galt etwa für Erich Voegelin, der in seinem Buch Rasse und Staat auch Die seelischen Eigenschaften der Rassen abhandelte. Beißend mokierte er sich über die Unzulänglichkeiten einer rassenpsychologischen »Methodik« der körperlich-psychischen Analogien84, hatte aber darüber hinaus schon einen Blick für das sinnstiftende Potenzial der Charakterologie, die den »inneren Juden« in jedem Menschen zu entdecken vermochte.85 Boas sprach hingegen nur von Pseudowissenschaft, gerade 79 Termer: Franz Boas; vgl. auch o. A.: Franz Boas’ goldenes Doktorjubiläum. 80 Aichel an Boas, 9. Januar 1932, PCFB. 81 Aschoff an Boas, 4. und 28. April 1932, K[urt] Brandenburg (Schriftleiter Medizinische Klinik) an Aschoff, 26. April 1932, PCFB. 82 Boas: Rasse und Charakter, S. 280. 83 Vgl. etwa Krause: Völkerkunde, S. 156. 84 Voegelin: Rasse und Staat, S. 86, 71-74, 84-87, 93; ähnlich Beck: Unabhängigkeit. 85 Ebd., S. 202-205.
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weil für ihn psychologische Wahrheit in der Biologie zu finden war. Dieser Einschluss der Biologie schuf vermutlich auch die Basis für seine Beziehungen zu Eugen Fischer, einer Schlüsselfigur der deutschen Anthropologie dieser Zeit.
Franz Boas und Eugen Fischer Während sich Lenz und Boas in wechselseitiger Verachtung übten, unterhielt Boas mit dessen Koautor Eugen Fischer bis 1933 kollegiale Beziehungen. Ihre überlieferte Korrespondenz setzte 1913 ein, als Fischers Untersuchung zu den Rehobother Bastards erschien, in der er an einer »Mischlings«bevölkerung erstmals die Gültigkeit der Mendelschen Regeln für die menschliche Vererbung zeigte.86 Boas konnte Fischers Pionierstudie als Schlag gegen die Präpotenzlehre der Rassentheorie verstehen, der zufolge sich in Rassenmischungen stets die minderwertige der beiden Stammrassen durchsetze, so dass deren Nachkommen in punkto Fruchtbarkeit, Körpergröße und Intelligenz immer schlechter abschnitten als der höherwertige Elternteil. Laut Fischer wiesen rassengemischte Individuen in seinem Sample durchschnittlich »bessere« Eigenschaften auf als ihre negroiden Vorfahren – so wie die von Boas untersuchten weiß-indianischen half-bloods, weshalb sich Fischer seinerseits durchweg positiv auf diese Studien aus den 1890er Jahren bezog.87 Noch 1935 nannte Boas die Rehobother Bastards und ihre wichtigste Nachfolgestudie, Ernst Rodenwaldts Mestizen von Kisar, als maßgebliche Referenzen für die Unschädlichkeit von Rassenmischung.88 Problematischer lagen die Dinge bei Boas’ Einwandererstudie. Nachdem Fischer sich in der ersten Auflage des Baur-Fischer-Lenz 1921 noch ohne Namen zu nennen auf die umweltinduzierte Veränderung der Schädel bezogen hatte, wurde er in der zweiten Auflage von 1923 deutlicher.89 An anderer Stelle lobte er Boas’ Arbeit als bedeutsame Pionierstudie: »Einfach als unmöglich darf man solche doch mit aller Sorgfalt vorgenommenen und mit allen Unterlagen darge86 Fischer an Boas 10. und 30. August 1913, PCFB. Vgl. auch Boas: Variety of Lines of Descent, S. 7. 87 Fischer: Bastarde, S. 298-299. Zu den Bastards vgl. Weingart/Kroll/Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 100-102; Schmuhl: »Neue Rehobother Bastardstudien«; Fischer: Rassenunterschiede des Menschen (1921), S. 87, (1923) S. 112, 127, (1927) S. 117, 139; ders.: Versuch einer Genanalyse, S. 214-216; ders.: Gesunde körperliche Erbanlagen, S. 176, 209, 302. 88 Boas an Dorothy Mossman, 16. Mai 1935, PCFB. 89 Fischer: Rassenunterschiede des Menschen (1921), S. 83, (1923) S. 88; schon positive Erwähnung in: ders.: Rassenmerkmale des Menschen, S. 517.
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stellten Ergebnisse nicht bezeichnen, weil sie lang bestehende und fast selbstverständlich gewordene Vorstellungen stürzen bzw. ›modifizieren‹!«90 Boas gegenüber brüstete sich Fischer später damit, er sei »ja wohl am stärksten für die Bedeutung Ihrer Ergebnisse eingetreten, im Baur-Fischer-Lenz gegen starken Widerspruch meiner Mitarbeiter«.91 Dieses Engagement verdankte sich auch dem ureigenen Interesse, die Umwelt als modellierenden Faktor rassischer Erscheinungsbilder zu untersuchen. Fischer, der aus dem Schwarzwald stammte und sich für überwiegend nordisch hielt, beschäftigte die blonde Rundköpfigkeit, das kombinierten Auftreten »nordischer« und »alpiner« Rassemerkmale, in bestimmten Populationen Süddeutschlands und Österreichs.92 Er nahm an, dass die ehemals lang- bis mittelschädelige Bevölkerung Süddeutschlands durch Umwelteinflüsse rundschädelig geworden sei. In diesem Zusammenhang lobte er die »schönen Untersuchungen von Franz Boas«93, doch anders als dieser sah er die Konstanz der Rassen damit nicht in Frage gestellt, bestehe doch die Möglichkeit, dass Individuen durch Umweltformung »noch reinrassig (relativ) dieselben wären wie beim Einzug, nur äußerlich anders aussähen«. Er nutzte Boas’ Plastizitätsthese, um sich selbst als heterodoxen Erneuerer darzustellen: »Der bisherigen Anthropologie, dem Systematiker, scheint wohl schon die Fragestellung fast ungereimt, die Annahme von derartigen Umweltwirkungen als unvorstellbar – aber damit ist die Frage nicht gelöst – die Anthropologie steht vor neuen Aufgaben.«94 Sein Bekenntnis zur Umwelt richtete sich also gegen die alte physische Anthropologie der statischen Äußerlichkeiten. Wie es zu der Umweltmodifikation komme, so Fischer, sei völlig ungeklärt, jedenfalls handle es sich um rein phänotypische Veränderungen.95 Obwohl ihre Deutungen der Changes in Bodily Form deutlich auseinandergingen, erschienen ihre Standpunkte außerhalb der Biowissenschaften als so ähnlich, dass eine Reihe von Autoren Fischer und Boas paarweise zitierten.96 90 Fischer: Spezielle Anthropologie, S. 132; vgl. ders.: Rez. Boas: Kultur und Rasse. 91 Fischer an Boas, 25. November 1929, PCFB. Später äußerte er sich, er habe es damals nicht für opportun gehalten, etwas gegen »die Juden« zu unternehmen, vgl. Gunnar Dahlberg an Boas, 3. Februar 1942, PCFB. 92 Fischer: Betrachtungen über die Schädelform; ders.: Rassenunterschiede des Menschen (1927), S. 91; vgl. auch Schmuhl: Feindbewegungen, S. 196-198. 93 Fischer: Betrachtungen über die Schädelform. 94 Fischer: Spezielle Anthropologie, S. 132. 95 Ebd.; ders.: Rassenunterschiede des Menschen (1927), S. 91. 96 Voegelin: Rasse und Staat, S. 60-61; Wolff: Rassentheorien, S. 26-27, Hellpach: Geopsychische Erscheinungen (1923), S. 344-346; ders.: Geopsyche (1935), S. 196; (1939), S. 209-210.
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Unter den Tisch fiel damit der gänzliche andere Blick auf das Verhältnis von Erbanlage und Umwelt. Die Unterscheidung von Genotyp und Phänotyp (Erbanlage und Erscheinungsbild) implizierte, dass vom Zeitpunkt der Befruchtung an die Erbanlagen fortgesetzt mit unterschiedlichsten Umwelteinflüssen interagierten.97 Während »environment« oder »nurture« in der Regel nichtgenetische Tatbestände und außerorganische Einflüsse umfassten, war die »Umwelt« aber gewissermaßen in die Erbanlage inkorporiert. William Sterns Annahme, es gebe typische Dispositionen zur Aneignung von Umwelteinflüssen, kehrte bei den Genetikern wieder, wobei ihnen das Konzept der »Reaktionsnorm« zu Hilfe kam, das der Zoologe Richard Woltereck 1908 geprägt hatte.98 Exemplarisch ist die Argumentation Günther Justs, »daß zwar die Umwelt auf das sich entwickelnde Individuum einwirkt, dass aber zugleich das Individuum Art und Umfang der Umweltwirkung bis zu einem gewissen Grade selbst bestimmt«. Da die individuellen »Ansprechbarkeiten« für Umweltreize erblich veranlagt seien, »nehmen die Erbanlagen in entscheidender Weise Einfluß auf Art und Umfang der Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt«. 99 In diesem Sinne manifestierte sich Fischer zufolge beim Knochenwachstum des Schädels eine rassisch festgelegte Variationsbreite, die es erlaubte, Abweichungen an eine gemeinsame Reaktionsnorm zurückzubinden.100 Der Gegensatz zu Boas beruhte nicht darauf, dass deutsche Bioanthropologen Umwelt und Variabilität ignorierten, sondern in ihr Konzept vererbter Entwicklungspotenzen in einer Weise integrierten, dass die Annahme rassischer Differenzen intakt blieb. Obwohl sie in der Frage des wissenschaftlichen Rassennachweises gegensätzlicher Meinung waren, war Fischer für Boas nach 1925 der wichtigste Ansprechpartner unter den deutschsprachigen Anthropologen.101 1926 trat Fischer mit einem Projekt an Boas heran, das er nach eigener Aussage bereits vor dem Ersten Weltkrieg im »Anschluss an Ihre bedeutsamen Untersuchungen über die Veränderungen der Kopfform bei Einwanderer-Kinder in Amerika« ins Auge gefasst hatte. Es ging um die Württembergischen Templer-Gemeinden, deren Mitglieder Ende der 1860er Jahre zum Teil nach Palästina ausgewandert waren. Fischer wollte nun einen Mitarbeiter auf die Veränderungen der Schädelform in 97 Etwa Verschuer: Wirkung der Umwelt, S. 162. 98 Vgl. Harwood: Weimar Culture; Schwerin: Experimentalisierung, S. 108-110. 99 Just: Vererbung, Umwelt, Erziehung, S. 17-18; zu Just vgl. Felbor: Rassenbiologie, S. 141-196; ähnlich Hoffmann: Charakter und Umwelt, S. 36-37, 55-56, 69; Köhn: Psychologische Untersuchungen, S. 166. 100 Fischer: Gesunde körperliche Erbanlagen, S. 170. 101 Vgl. etwa Boas an Fischer, 6. August 1925 und 9. Dezember 1929, PCFB; Lipphardt: »Investigation of Biological Changes«.
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der neuen Umwelt ansetzen. Boas warb beim Laura Spelman Rockefeller Memorial für das Vorhaben, dem er »most fundamental importance« bescheinigte, und stellte eine Verbindung zu eigenen Arbeiten an »American Negroes, Italians, and Jews; both in regard to physical development and mental reaction« her. Rockefeller sagte jedoch ebenso ab wie das Human Migration Committee des National Research Council.102 Näher kam man sich, nachdem Fischer 1927 die Leitung des neuen KaiserWilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem übernommen hatte. Im Sommer 1929 besuchte Boas Fischers Institut und zeigte sich hoffnungsvoll, ihn von einigen seiner Positionen überzeugt zu haben.103 Er plante einen weiteren Besuch in Dahlem, »um mit Fischer über Instrumente & ein paar Probleme zu reden. Ich möchte gern, daß sie meine Einwanderergeschichte an der in die Stadt gezogenen Bevölkerung wiederholen«. Als Fallstudie war Baden im Gespräch.104 Boas hielt es zu diesem Zeitpunkt also für denkbar, dass sich Fischer seine eigene Fragestellung mit Gewinn zu Eigen machen würde.105 In diesen Dimensionen plante Fischer aber offenbar vorerst nicht. Anfang 1930 erfuhr Boas von seiner Schwester Hedwig, dass politische Umstände Fischer wiederum eine sehr kleine endogame Migrantengruppe zugespielt hatten. Dieses Mal handelte es sich um mennonitische Russlanddeutsche, die Ende 1929 im westpreußischen Flüchtlingslager Hammerstein eingetroffen waren. Fischer ließ untersuchen, »wie u. ob die Leute sich in 200 Jahren der fremden Umwelt angepaßt haben. Also Deine Ideen über die Juden in Amerika. Dann sollen sie Messungen an der deutschen (bayerischen) Bevölkerung machen, um die Unterschiede festzustellen. Die Notgemeinschaft bezahlt es«.106 Einige Monate später erfuhr Boas auch, dass diese Messungen keine Veränderungen der Schädelform ergeben hatten.107 Im Sommer lud Fischer zu einem »familiären Abendessen«, bei dem man über »allerlei plaudern« könne.108 Weitere Treffen, bei denen Boas Fischer drängte, »diese Untersuchung durchführen zu lassen«, gab es wohl 1931 und 1932.109 102 Boas an Beardsley Ruml, 1. Mai 1926; an George M. Stratton, 10. Mai 1926, PCFB. 103 Boas an Gladys Reichard, 4. Juli 1929, APS, FBP, PP, Reichard, Gladys. 104 Boas an Ernst Boas und Helene Yampolsky, 16. Juli 1929, APS, FBP, PP, Boas, Franz – Correspondence, Folder 1929; Boas an Fischer, 24. März 1930, PCFB. 105 Boas an Max Warburg, 9. Oktober 1930, PCFB. 106 Hedwig Lehmann an Boas, 1. Februar 1930, APS, FBP, FP, Box 17; zu den Hintergründen vgl. Oltmer: Migration und Politik, S. 207-208107 Hedwig Lehmann an Boas, 20. März 1930, APS, FBP, FP, Box 17. 108 Fischer an Boas, 28. Juli 1930, PCFB. 109 Boas an Gunnar Dahlberg, 30. November 1942, PCFB.
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Hans-Walter Schmuhl hat gezeigt, dass sich Fischer und seine Mitarbeiter auch nach 1933 auf Boas’ Fragestellung bezogen, insbesondere in Studien zur Plastizität des menschlichen und des tierischen Schädels.110 Darunter sind zwei Arbeiten zu Migrationseffekten, die als Parallelstudien verstanden werden können. Walter Dornfeldt führte 1932 bis 1934 in Berlin eine Studie an ostjüdischen Zuwanderern durch. Sie bestätigte Boas’ Ergebnis, schon in der ersten Einwanderergeneration seien Veränderungen der Schädelform festzustellen, die ohne Zweifel auf die veränderte Umwelt zurückgingen. Allerdings betonte Dornfeldt auch, »daß es sich nicht um eine Veränderung der Rasse handelt, sondern nur um eine Verschiebung des Phänotypus innerhalb der erblichen rassenmäßigen Reaktionsbreite«.111 1940 erschien eine weitere Dissertation über den Einfluß der Großstadt auf die Kopfform, die Fischer und Boas gemeinsam gegen Otto Ammon in Stellung brachte und die Vermutung stützte, »dass tatsächlich eine Einwirkung des Stadtlebens auf die Bildung der Kopfform« in Richtung Langschädeligkeit stattfinde.112 Noch im Frühjahr 1934 hatte Fischer zu einer Reihe von Wissenschaftlern gehört, die Boas anschrieb, um seine eigenen Studien zu »Human Growth« international zu vernetzen.113 Fischer bezog sich 1936 in der vierten Auflage des Baur-Fischer-Lenz wiederum zustimmend auf diese aktuellen Wachstumsforschungen, während sich Boas noch 1940 gegen eine Revision seiner Einwandererstudie wehrte, indem er auf Fischers Experimente mit Ratten verwies.114 Die 1929/30 durchgeführten Messungen an den Russenlanddeutschen fügten sich in ein groß angelegtes Forschungsprojekt zur »Anthropologischen Erforschung der deutschen Bevölkerung«, für das Fischer 1928 über Boas in den USA Gelder aufzutreiben versuchte.115 Der Plan zu einer landesweiten anthropologischen Bestandaufnahme stammte bereits aus der physischen Anthropologie um 110 Schmuhl: Feindbewegungen, S. 198-202. Vgl. Roth: Wachstumsversuche, S. 411; Hauschild: Rassenunterschiede, S. 216. 111 Dornfeldt: Studien über Schädelform, S. 370; Ergebnisse genannt in Fischer: Gesunde körperliche Erbanlagen, S. 169; zu Dornfeldt vgl. Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene, S. 346. 112 Preßler: Untersuchung über den Einfluß der Großstadt, S. 247. 113 Boas an Fischer, 17. April 1934, PCFB. Das Schreiben ging auch an Theodor Mollison, Otto Schlaginhaufen, Eugène Pittard, Jan Czekanowski und J. Matiezka. 114 Fischer: Gesunde körperliche Erbanlagen, S. 129, 213. Dabei handelte es sich um Boas/Michelson: Graying of Hair, und Boas: Tempo of Growth in Fraternities; Boas: Changes in Bodily Form (1940), S. 183; so bereits ders.: Fallacies of Racial Inferiority, S. 680. 115 Fischer an Boas, 2. Februar und 27. November 1928, PCFB.
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1900, allerdings hatte sich der Zugriff mit der Einsicht in die Dynamik von »Rasse« geändert. Anstelle von Querschnittuntersuchungen an der Gesamtbevölkerung sollten nun punktuell verschiedene »Lokalrassen« untersucht werden, das heißt örtlich konzentrierte, genealogisch nachvollziehbare Vererbungszusammenhänge nach dem Vorbild von Walter Scheidts Finkenwerder-Studie.116 Boas konnte das Vorhaben mit Sympathie betrachten: Zwar handelte es sich gerade nicht um die Wiederholung seiner »Einwanderergeschichte«, die Typen in verschiedenen Umwelten verglich. Aber die »Lokalrassen« steckten genau jenen überschaubaren Rahmen ab, in dem Boas Vererbung für nachweisbar hielt, zumal psychologische und ethnologische Aspekte in die Untersuchung einbezogen werden sollten. Außerdem fallen Parallelen zu seiner salvage ethnology ins Auge, galt es dem Plan zufolge doch, in abgelegenen Siedlungsgebieten mit relativ konstanten Populationen die noch vorhandenen »reinen« Typen zu beschreiben, bevor sie durch migrationsbedingte Mischung zu verschwinden drohten. Schließlich das Personal: Es stellte einen Querschnitt durch die deutsche Rassen- und Erbforschung dar, in dem Hardliner wie Theodor Mollison, Otto Reche und Ernst Rüdin ebenso vertreten waren wie der völkische Dissident Karl Saller, der Völkerkundler Georg Thilenius und der jüdische Anthropologe Franz Weidenreich, der sich aus konstitutionstypologischer Warte Boas’ Schädelplastizität zu Eigen machte.117 1929 bewilligte die Rockefeller Foundation dem Forschungsverbund 125.000 Dollar für fünf Jahre, verwaltet von der Notgemeinschaft. Allerdings standen die wissenschaftlichen Erträge dieses Großunternehmens zu seinem Aufwand in keinem Verhältnis, denn aufgrund zum Teil unvereinbarer Rassekonzepte, Untersuchungssamples und -methoden blieben die Ergebnisse disparat.118 Von Interesse ist dieser Zusammenhang, weil mit Karl Saller einer der beteiligten Wissenschaftler eine wenig bekannte Untersuchungsreihe durchführte, die große Überschneidungen mit der boasianischen Intelligenzforschung aufweist.
116 Fischer: Kaiser-Wilhelm-Institut, S. 149-150. 117 Fischer an Boas 2. Februar und 27. November 1928; bereits Boas an Friedrich Schmidt-Ott, 21. September 1925, PCFB; vgl. Weidenreich: Rasse und Körperbau, S. 173-176. 118 Vgl. Lösch: Rasse, S. 199-202; Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 113-123; Laukötter: Von der »Kultur«, S. 300-307; Fleck: Transatlantische Bereicherungen, S. 130-142; Cottebrune: Planbare Mensch, S. 66-74, 90; Geisenhainer: Rasse ist Schicksal, S. 278-282.
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Schnittstellen: Psychologische Erbforschung um 1930 Saller lehrte seit 1929 als Privatdozent in Göttingen und war innerhalb der Biowissenschaften neben dem Botaniker Friedrich Merkenschlager ein profilierter Kritiker der »nordischen Bewegung«, der besonders für das »ostische« Erbe des deutschen Volkes eintrat.119 Vor und nach 1933 polemisierte er aus völkischer Perspektive insbesondere gegen Günther und Lenz, als bekennender Eugeniker kritisierte er solche Sterilisationsmaßnahmen, die gesicherter medizinischer Erkenntnisse entbehrten. Als Gegner einer rassistisch-eugenischen Biopolitik kann Saller sicherlich nicht gelten, aber er vertrat ein dynamisches, populationsgenetisches Rassekonzept, das bemerkenswerte Parallelen zu Boas’ Kritik an der Rassenforschung aufweist. Insbesondere lehnte Saller die Fixierung auf historisch stabile, klar kontrastierbare Rassetypen ab. Empirisch betrachtet stellten die gängigen Rassetypen Extremformen dar, denen einzelne Individuen entsprechen mochten, die jedoch dem Erscheinungsbild größerer Vererbungsgemeinschaften nicht gerecht würden. Im Rahmen des von Rockefeller geförderten Projektverbundes hatten Sallers Messungen ergeben, dass im »nordischen« Schleswig-Holstein helle Haarund Augenfarbe statistisch am häufigsten mit Rundköpfigkeit gekoppelt sei, einem Merkmal der »alpinen« und der südosteuropäischen »dinarischen« Rasse. Statt wie andere Rassekundler das nordische Wesen der schleswig-holsteinischen Rundköpfe über Charaktereigenschaften zu retten, forderte Saller, das wissenschaftliche Klassifikationssystem zu revidieren. Es gelte, die Normalität der Zwischentypen anzuerkennen, »die unter genetischen Gesichtspunkten den Extremen als gleichwertig an die Seite gestellt werden müssen, da sie sich ebenso wie diese in bestimmt begrenzten Gebieten als geschlossene Fortpflanzungsgemeinschaften erhalten«. 120 Er stellte die etablierten Rassetypen zwar nicht gänzlich in Frage, plädierte aber für eine Definition, die geographische Isolation als wesentliche Bedingung erblicher Merkmalskombinationen heraushob. 121 Zudem erklärte er gegen die menschheitsgeschichtliche Mission der nordischen Rasse, kulturell produktiv könne immer nur ein »harmonisches Bastardgemisch« sein.122
119 Zu Saller vgl. Weingart/Kroll/Bayertz: Rasse, S. 317-318, 539-540; Massin: Anthropologie raciale, S. 203-204, 234-237; Essner: »Irrgarten«, S. 91-92, 97; Lüddecke: »Fall Saller« 120 Saller: Frage der Rassengliederung, S. 1547. 121 Ebd., S. 1504. 122 Saller: Leitfaden, S. 219.
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In seiner Einführung in die menschliche Erblichkeitslehre und Eugenik verwies Saller 1932 wiederholt, aber nicht prononciert auf Franz Boas.123 Dass Boas im Hinblick auf Variabilität und Mischung ganz ähnliche Positionen vertrat, erfuhr der Leser hieraus nicht. Wie einige andere deutsche Kritiker einer Rassenkunde à la Baur/Fischer/Lenz und Günther betonte Saller die Plastizität des Schädels, ohne Boas’ Einwandererstudie überhaupt zu nennen.124 In der 1933 erschienenen ersten Auflage vom Weg der deutschen Rasse, der wiederum gegen Rassereinheit und nordische Überlegenheit gerichtet war, bezeichnete er Boas zustimmend als Urheber des Konzepts der »Plastizität der Rassen«.125 Ohne Boas namentlich zu nennen, sprach Saller auch in folgenden Publikationen noch von der »Plastizität der Rassen«, bis ihm 1935 die Lehrbefugnis entzogen wurde und seine Schriften auf den Index kamen.126 Sallers Intelligenzforschung bestand aus einer Serie lokaler Stichproben, die das Verhältnis von differentieller Geburtenrate, intellektueller Begabung und Schichtzugehörigkeit aufklären sollte. Untersucht wurden Schulkinder in Nordhessen, in Hannover, Göttingen und Regensburg, in ostfriesischen und oberpfälzischen Landgemeinden sowie in einem ehemaligen Bergarbeiterdorf in Niederbayern; die Ergebnisse veröffentlichte Saller zwischen 1931 und 1934.127 Seine Untersuchung richtete sich gegen den nordizistischen Intelligenzdeterminismus, ihr Design erinnert stark an Otto Klinebergs zeitgleiche Arbeiten. Auch Saller suchte sich unterschiedliche Konstellationen, die es erlaubten, die Variablen »Erbanlage« und »Umwelt« zu isolieren. Er verglich etwa Stadt- und Landbewohner derselben »Rasse« sowie jeweils Stadt- und Landbewohner verschiedener »Rassen«, Schüler verschiedener Schularten, die aus derselben sozialen Schicht stammten, und Städter verschiedener Konfession und »Stammeszugehörigkeit«. Mit Fragebögen erfasste er die Familiengröße und familiär gehäufte Sonderbegabungen. Leistungsdiagnostisch arbeitete Saller sowohl mit der eingedeutschten Staffelmethode von Bobertag-Norden und vorhandenen IQ-Tests der 123 Saller: Einführung, etwa S. 239, 240, 242, Auswahlliteratur: Boas: Kultur und Rasse (1914), S. 293. 124 Saller: Leitfaden, S. 264; ders.: Anthropologie der Ostjuden; Oppenheimer: Rassenprobleme, S. 7; Merkenschlager: Rassensonderung, S. 31-33. 125 Saller: Weg der deutschen Rasse, S. 10. 126 Saller: Biologie des deutschen Volkskörpers; zu seiner Entlassung vgl. Lüddecke: Fall Saller, S. 85-93. 127 Vgl. Saller: Intelligenzunterschiede deutscher Volksgruppen; ders.: Intelligenzunterschiede der Rassen Deutschlands; ders.: Untersuchungen in Förderklassen; ders.: Untersuchungen in Landgebieten Ostfrieslands; ders.: Zusammenhänge von Schulleistungen; ders.: Stellung der Hilfsschulkinder.
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Hilfsschulen als auch mit Schulzeugnissen verschiedener Schülergruppen und – Wilhelm Peters folgend – verschiedener Generationen einer Familie. In anderen Fällen ging er einfach symptomatisch von der besuchten Schulart, Förderschule für unbemittelte Höherbegabte oder Hilfsschule, aus. Dies alles zielte darauf, die pauschale Zurechnung von sozialer Schicht und Begabungsgrad, wie sie Autoren wie Fritz Lenz und Wilhelm Hartnacke vortrugen, empirisch zu differenzieren. Saller betonte zwar die erbliche Dimension der Intelligenz und bezog sich dabei vor allem auf die aktuelle Zwillingsforschung. Andererseits »scheinen die hier mitgeteilten Tatsachen nachdrücklich auf die Bedeutung auch der gesamten Umweltverhältnisse und Aufzuchtbedingungen für die endgültige Ausgestaltung der Erbanlagen und damit auch des erblich begründeten Intelligenzquotienten zu sprechen«.128 Den IQ bezeichnete er als »umweltlabile« Variable und berief sich auf milieukundliche Argumente von Johannes Baron und Adolf Busemann.129 Vor diesem Hintergrund beantwortete Saller seine Ausgangsfrage dahingehend, »daß die Ursache für alle weiteren Erscheinungen die soziale Differenzierung ist, die zugleich mit einer Differenzierung der Fortpflanzung und der Intelligenz einhergeht«.130 Markant unterschied sich Sallers Erkenntnisinteresse von dem der Boasianer durch seine eugenische Fragestellung. Staatliche Intervention hielt er vor allem an den Rändern der Normalität für nötig. Eugenik dürfe nicht darauf zielen, »ganze soziale Schichten zu fördern oder zu benachteiligen, sondern auf eine besondere Fürsorge für einzelne Fälle bzw. einzelne Familien mit überdurchschnittlicher Veranlagung, wie sie in allen sozialen Schichten vorkommen«. Umgekehrt seien die »übermäßig unintelligenten Familien« nach gründlicher Einzelfallprüfung in ihrer Fortpflanzung (durch Sterilisation) zu beschränken.131 Während Saller es in diesen Äußerungen vermied, den sozialen Schichten verschiedenen Begabungsstufen zuzuordnen, war ein Hauptergebnis seiner Untersuchungen, dass sich innerhalb der städtischen und ländlichen Unterschichten eine bestimmte Gruppe, die Ungelernt-Unbegabten, weiterhin auffallend vermehre. Dagegen sinke bei den gelernten (weil intelligenteren) Arbeitern seit Mitte der zwanziger Jahre die Geburtenrate rapide. Halte dieser Trend an, werde »das Volk also – drastisch gesprochen – auf die Dauer verdummen«.132 Saller plä128 Saller: Untersuchungen in Landgebieten Ostfrieslands, S. 387, vgl. ders.: Zusammenhänge von Schulleistungen, S. 230-231, 243-45. 129 Saller: Untersuchungen in Förderklassen, S. 186; ders.: Untersuchungen in Landgebieten Ostfrieslands, S. 395, 404. 130 Saller: Untersuchungen in Landgebieten Ostfrieslands, 396-397. 131 Ebd., S. 379, 397. 132 Saller: Zusammenhänge von Schulleistungen, S. 246.
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dierte für das Begabungspotenzial der Unterschichten im Allgemeinen, indem er innerhalb dieser Gruppe die »Hilfsschülerfamilien« isolierte und als maßgeblichen Faktor der negativen Bevölkerungsentwicklung herausstellte. Halbwegs entgegen kamen Boas und Klineberg dagegen seine Äußerungen über das Verhältnis von Rasse und Intelligenz. Saller äußerte keine Zweifel an der Existenz psychischer Unterschiede zwischen den menschlichen Großrassen. Als Beleg führte er unter anderem Davenport und Staggerdas jüngst erschienenes Race Crossing in Jamaica an.133 Allerdings präsentierte er auch die boasianischen Einwände gegen die Rassenpsychometrie, um auf weitgehende Umweltmodifikationen hinzuweisen. Er referierte Boas’ Deutung des Army Screening – Unterschiede zwischen African Americans der Nord- und Südstaaten, bessere Leistungen von südeuropäischen Einwanderern bei längerem Aufenthalt in den USA – sowie die Ergebnisse von Otto Klinebergs Dissertation und Melville Herskovits’ Howard-Studie.134 Saller machte hierzu keine bibliographischen Angaben; vermutlich bezog er sich auf Boas’ Berliner Vortrag von 1929, vielleicht hatte er auch Anthropology and Modern Life gelesen. Im Hinblick auf die feineren Unterschiede zwischen den in Deutschland präsenten Unterrassen kam er immer wieder auf die Aussage zurück, es gebe keine Korrelation und folglich keine kausale Verbindung zwischen körperlichem Rassetypus und psychischer Leistung. Vielmehr zeige sich ein Zusammenhang zwischen umweltbedingten Unterschieden, etwa ländlicher und städtischer Sozialisation, und intellektueller Leistungsfähigkeit. Ausdrücklich schloss er höherwertige Erbanlagen als Ursache von Landflucht aus; Abwanderung in die Stadt sei weitgehend zufälligen Umständen geschuldet. 135 Auch hier formulierte er als Interventionsziel, »nicht Rassen zu fördern, denn im Schwankungsbereich einer jeden Rasse können immer mehr oder weniger gute Anlagen vorkommen, sondern bewährte Individuen und bewährte Erblinien zu begünstigen, welche durch die Schaffung entsprechender Umweltbedingungen ermittelt werden können«.136 Trotz dieser Nähe zu boasianischen Positionen gibt es keinen Hinweis darauf, dass Boas oder Klineberg Sallers Intelligenzarbeiten zur Kenntnis nahmen. Seine Überblicksdarstellungen waren in den USA etwa durch Rezensionen im Ameri-
133 Saller: Leitfaden, S. 219, 269; ders.: Intelligenzunterschiede deutscher Volksgruppen, S. 266; ders.: Einführung, S. 56-57. 134 Saller: Leitfaden, S. 218-219; ders.: Einführung, S. 87, 89. 135 Saller: Intelligenzunterschiede deutscher Volksgruppen; ders.: Intelligenzunterschiede der Rassen Deutschlands; ders.: Untersuchungen in Landgebieten Ostfrieslands, S. 373, 400, 404, 407. 136 Saller: Leitfaden, S. 219.
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can Anthropologist bekannt137, seine Intelligenzstudien veröffentlichte er allerdings in kleineren eugenischen Zeitschriften und der Zeitschrift für Kinderforschung, die wahrscheinlich außerhalb von Boas’ Radar lagen. Zudem verfügte Saller nicht über die institutionelle Macht, die Boas adressieren musste, wenn er den wissenschaftlichen Rassismus mit dessen eigenen Waffen schlagen wollte. 1931 bewarb sich Otto Klineberg um ein Stipendium, das es ihm ermöglicht hätte, an Eugen Fischers KWI zu arbeiten. In seinem Gutachten betonte Boas, Klinebergs Aufenthalt in der Hochburg der deutschen Rasseforschung könne dazu beitragen, einen »critical spirit among the younger German scientists« zu entwickeln. Ferner sollte diese Entwicklungshilfe der antisemitischen Konjunktur in Deutschland entgegenwirken. Fischer habe sich bei einem Gespräch im Sommer 1930 sehr interessiert gezeigt. 138 Klineberg bekam das Stipendium nicht, dennoch stellt sich die Frage, woran der kritische race psychologist in Berlin hätte anschließen können. Otmar Freiherr von Verschuer, nur drei Jahre älter als Klineberg, leitete von 1927 bis 1935 die Abteilung Erblehre am KWI.139 Seine Erbpsychologie setzte auf die Zwillingsmethode, die auch amerikanische Genetiker nutzten, um die Erblichkeit kognitiver Fähigkeiten nachzuweisen. Allerdings führte erst der deutsche Genetiker Hermann Werner Siemens 1924 die systematische Analyse von monozygoten (eineiigen) und dizygoten (zweieiigen) Zwillingen ein. Verschuer entwickelte ein neues Verfahren zum Nachweis monozygotischer Genese. Anstelle der Untersuchung von Eihäuten und Plazenta stützte sich seine Ähnlichkeitsdiagnose an herangewachsenen Zwillingen auf ein komplexes Gesamtbild anatomischer und physiologischer Merkmale. Zu diesem Zweck baute Verschuer eine umfangreiche Kartei auf, in der bis 1935 über 4000 Zwillinge aus Berlin und Brandenburg erfasst wurden. 140 Die Ähnlichkeitsprüfung war als Vorarbeit für die eigentliche Zwillingsforschung zu verstehen, da nur an einwandfrei »erbgleichen« Paaren Umwelteinflüsse gemessen werden konnten. Diese ermittelte Verschuer mithilfe der Konkordanz-Diskordanz-Methode: Sie ging davon aus, dass die durchschnittliche Abweichung der Werte eineiiger Zwillingspartner auf Umweltfaktoren schließen lasse, so wie die höhere Diskordanz Zweieiiger im Vergleich zu Eineiigen generell für die Erblichkeit eines 137 Kroeber: Rez. Saller; Shapiro: Rez. Saller. 138 Boas an Henry Allen Moe, 8. Oktober 1931, PCFB. 139 Vgl. Ash: Erbpsychologische Abteilung, S. 403-404; zu Verschuer vgl. Sandner: Universitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene; Kröner: »Rasse« und Vererbung. 140 Vgl. Lösch: Rasse, S. 202-206; Massin: Mengele, S. 202-214; Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 84-94.
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abgefragten Parameters spreche. Verschuer ging wie Fischer vom Phänotypus aus, der stets ein Produkt von Erbanlagen und Umwelteinflüssen sei: »Durch die Erbanlagen sind bestimmte Reaktionsmöglichkeiten gegeben; die Verwirklichung derselben erfolgt durch den Einfluß der Umwelt.« Einige wenige menschliche Eigenschaften seien entweder dominant von Erbe oder Umwelt geprägt, bei den allermeisten würden jedoch beide Faktoren wirksam. Eine der wichtigsten Aufgaben der Genetik sei es daher, deren Anteil an körperlichen und geistigen Eigenschaften bzw. die Variabilität dieses Anteils zu ermitteln.141 Um psychische Eigenschaften, oder genauer: symptomatische Reaktionen, zu untersuchen, nutzte Verschuer quantifizierende und qualitative Verfahren, die Intelligenz und Charakter der Probanden offenbaren sollten. Er berechnete die Intelligenzquotienten von eineiigen und gleichgeschlechtlichen zweieiigen Zwillingspaaren nach der Stanford-Binet-Skala von Lewis Terman.142 Zwar hätte mit dem Binetarium von Otto Bobertag eine »deutsche« Revision zur Verfügung gestanden, aber möglicherweise folgte Verschuer hier Wilhelm Peters, der für die Prüfung der Verwandtenähnlichkeit den Stanford Binet empfohlen hatte.143 Für sein Erkenntnisziel dürfte die Testversion gleichgültig gewesen sein, da es nicht um das relative Intelligenzniveau in Bezug auf eine Gesamtschülerschaft, sondern um Ähnlichkeiten zwischen Zwillingspartnern ging. Ausdrücklich bezog sich Verschuer auf William Sterns Intelligenzkonzept, das ein individuelles Allgemeinniveau mit unterschiedlich modellierten Teilaspekten, wie reaktiver und spontaner, objektiver und subjektiver, theoretischer und praktischer Intelligenz, vorsah.144 Verschuer wählte jedoch nicht die von Stern vorgeschlagenen Verfahren, sondern den Rorschachtest, der »einzelne Komponenten der Intelligenz und des affektiven Verhaltens« erfasse und »einen Einblick in die Struktur der psychischen Persönlichkeit« gebe.145 1921 hatte der Schweizer Psychiater Hermann Rorschach seinen Formdeutungstest vorgestellt, bei dem der Proband eine Reihe von zufällig erzeugten, symmetrischen Tintenklecksen spontan ausdeuten sollte. Der Tester wertete die Deutung der Zufallsfiguren durch den Probanden nach einer Reihe von Kriterien aus: Wurde die ganze Figur oder nur ein Detail angesprochen? Stand Form oder 141 Verschuer: Erb-Umweltproblem, S. 54; vgl. auch ders: Rez. Günther, S. 327-328; ders.: Anlage und Milieu, S. 39-40. 142 Verschuer: Erbpsychologische Untersuchungen, S. 281; ders.: Anlage und Milieu, S. 47. 143 Peters: Vererbung geistiger Eigenschaften, S. 54; vgl. auch Saller: Intelligenzunterschiede deutscher Volksgruppen, S. 266. 144 Verschuer: Intellektuelle Entwicklung und Vererbung, S. 198. 145 Verschuer: Erbpsychologische Untersuchungen, S. 283.
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Farbe bzw. eine Bewegung im Vordergrund? Welche inhaltlichen Zuschreibungen (Tiere, Menschen, Pflanzen, Szenen usw.) nahm der Proband vor? Gab er eine besonders häufige »Vulgärantwort« oder eine seltene »Originalantwort«? Waren die einzelnen Antworten »gut«, das heißt für den Tester nachvollziehbar, oder »schlecht«, also nicht nachvollziehbar? Dass Verschuer dieses projektive Verfahren in die psychologische Erbforschung einbrachte, mag »seiner Zeit voraus« gewesen sein, auch wenn die psychologische Typendiagnostik hier Schrittmacher gewesen war.146 Kulturpsychologisch arbeitende Boasianer wie Cora DuBois, Ruth Bunzel, Jules Henry und Irving Hallowell begannen erst Ende der 1930er Jahre den Rorschachtest einzusetzen, als er, nicht zuletzt durch deutschsprachige Emigranten, unter amerikanischen Wissenschaftlern populär wurde.147 Dass der Formdeutungstest um 1930 innovativ war und sich in den beiden folgenden Dekaden bei Forschern unterschiedlicher Ausrichtung bewährte heißt jedoch nicht, dass er unproblematisches Wissen produzierte. Deutsche Genetiker und amerikanische Kulturanthropologen teilten die essentialisierende Annahme, über den Test auf fundamentale Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensrepertoires zugreifen zu können. Zudem ließ eine Auswertung, die dem Kriterium »guter« und »schlechter« Antworten folgte, breiten Raum für diskursiv verankerte Werturteile. Interpretationsmanöver kennzeichneten auch Verschuers Versuch, den Anteil von Erbe und Umwelt bei der Entstehung psychischer Eigenschaften zu gewichten. Für die prozentuale Berechnung des Umweltanteils eines psychischen Phänotyps stellte er einen Unähnlichkeitsquotienten auf: die Differenz der eineiigen Zwillingspartner geteilt durch die Differenz der zweieiigen Zwillingspartner.148 Er reduzierte Umwelt also schlicht auf das Nichtähnliche an seinen Probanden und verzichtete darauf, das Problem äußerer Einflüsse zu erörtern oder experimentell zu berücksichtigen. 1930 legte sich Verschuer auf einen rechnerischen Umweltanteil von 51 Prozent fest, relativierte diesen aber durch den Hinweis auf die große Fehleranfälligkeit psychischer Messungen, die einen Prozentsatz plausibler mache, der etwa beim Umweltanteil der Körpermaße, bei 41 Prozent, liege.149 Für diese Korrektur zu Gunsten der Erblichkeit gab er keinen empirischen Anhaltspunkt. Man hat es hier mit dem seit Galton gängigen Analogie-
146 Ash: Erbpsychologische Abteilung, S. 404; vgl. etwa Enke: Konstitutionstypen im Rorschachschen Experiment; Pfahler: System der Typenlehren. 147 Vgl. Hallowell: Rorschach Technique, S. 199-200; Manson: Psychodynamics of Culture, S. 64, 70-72. 148 Verschuer: Erbpsychologische Untersuchungen, S. 283. 149 Verschuer: Anlage und Milieu, S. 47.
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schluss vom Körper auf die Psyche zu tun, der Verschuers mehrfach geäußertem Vorbehalt widersprach, dass Umweltfaktoren psychische Eigenschaften stärker modellierten als körperliche. Selektiv ging Verschuer auch vor, um aus einem breiten Spektrum möglicher Erklärungen die Erblichkeit von Intelligenz herauszufiltern. Er griff sich beim Rorschachtest als »ein Beispiel« das Auswertungskriterium Originalität heraus. Es handelte sich aber um den einzigen Einzelwert, bei dem der errechnete Umweltanteil unter 30 Prozent lag – alle anderen bewegten sich jenseits der 50. Diesen Solitär schrieb Verschuer zum Indikator für Intelligenz hoch: »Eine große Zahl von Originalantworten ist nach Rorschach vor allem ein Zeichen für einen großen Reichtum an visuellen Erinnerungsbildern und für die Fähigkeit, diesen zu ekphorieren [abzurufen AG]. Es ist dies eine Komponente der Intelligenz.«150 In der Konklusion wurde aus der »Komponente«, die einen vereinzelten, für das Gesamtbild seiner Untersuchung untypischen Wert repräsentierte, dann der schlagende Beweis für die überwiegende Erblichkeit von Intelligenz. Bei Verschuers Offenheit für amerikanische Testmethoden stellt sich die Frage, wie er die Trendwende in der amerikanischen Psychogenetik aufnahm, die ja ebenfalls mit Zwillingen arbeitete. Die Pionierleistungen der amerikanischen Zwillingsforschung zur Intelligenz erkannte er an, kritisierte aber die fehlende Trennung in erbgleiche und erbungleiche Zwillingspaare.151 Auffallend ist seine Reaktion auf die Arbeiten von H. H. Newman und Co, die ihn ihrerseits als einen der produktivsten Forscher auf dem Gebiet der Zwillingsmethode bezeichneten.152 Verschuer hingegen sträubte sich gegen ihre Ergebnisse. 1930 erwähnte er Newmans Befund, dass bei getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen die Intelligenzleistung abweiche, während die Persönlichkeitsmerkmale große Ähnlichkeit aufwiesen. In diesem Fall flüchtete sich Verschuer in die lahme Erklärung, »daß die Reaktion auf bestimmte Umweltreize bei den einzelnen Menschen sehr verschieden ist«.153 1933 behauptete er in der Zeitschrift Charakter, es gebe keinen Zweifel an der »Erblichkeit der Intelligenzhöhe«.154 Newmans Hinweis auf die Umweltlabilität der Intelligenz waren hier herausgefallen, Verschuer nannte ihn nur als Persönlichkeitsforscher. Damit lag er im Trend: Während Karl Saller Newman noch als Kronzeugen für die Umweltabhängigkeit von Intelligenz genannt hatte, bemühten sich die Hardliner unter den
150 Verschuer: Erbpsychologische Untersuchungen, S. 284. 151 Ebd., S. 281; ders.: Anlage und Milieu, S. 46. 152 Newman/Freeman/Holzinger: Twins, S. 19, 20-22; vgl. Massin: Mengele, S. 207. 153 Verschuer: Anlage und Milieu, S. 48. 154 Verschuer: Erbforschung, S. 65.
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deutschen hereditarians in späteren Bezugnahmen, seine Befunde contra Erblichkeit kleinzureden.155 Der Verschuerschen Zwillingsmethode bediente sich auch die einzige psychologische Dissertation, die vor dem nationalsozialistischen Machtwechsel an Fischers KWI entstand. Sie stammte von Ida Frischeisen-Köhler, die Franz Boas vermutlich über Rudolf Lehmann kannte, der mit ihrem 1923 verstorbenen Ehemann Max befreundet gewesen war.156 Frischeisen-Köhler begann 1927 im Alter von 40 Jahren Anthropologie, Zoologie, Ethnologie und Philosophie an der Berliner Universität zu studieren.157 Ab 1929 war sie Doktorandin am KWI, Boas scheint sie bei seinem Berlin-Aufenthalt im Sommer 1929 an Fischer empfohlen zu haben, der sie anfangs offenbar förderte.158 Über ihren weiteren Werdegang informierte Boas seine Schwester Hedwig Lehmann, die sich mit Frischeisen-Köhler im Herbst 1929 anfreundete. Befremdet zeigte sich Hedwig nur von deren Begeisterung für die Eugenik; sie sei »ganz und gar ›Verschuert‹ und Ver-Muckermannt«.159 Die »große, innige Freundschaft« zu dem katholischen Eugeniker Hermann Muckermann kühlte zwischenzeitlich ab, als FrischeisenKöhler 1932 Hilfsassistentin in dessen Abteilung am KWI wurde.160 1933 wurde sie mit einer Arbeit zur Erblichkeit des Persönlichen Tempos promoviert. Zweitgutachter war neben Fischer der 1935 emigrierte Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler. Nachdem ein Institutsangehöriger sie beim Innenministerium als politisch unzuverlässig denunziert hatte, ließ Fischer ihren Vertrag jedoch auslaufen. Daraufhin arbeitete sie wieder dem ebenfalls entlassenen Muckermann als Leiter der katholischen »Forschungsstelle für die Gestaltung von Ehe und Familie« zu.161 In mehreren Texten verteidigte sie die Gesetzgebung zur Sterilisation von 155 Saller: Intelligenzunterschiede deutscher Volksgruppen, S. 274; Köhn: Vererbung und Umwelt, S. 54-55; Lenz: Erblichkeit der geistigen Eigenschaften (1936), S. 689, 692-693; Reinöhl: Vererbung der geistigen Begabung, S. 98; Lange: Grenzen der Umweltbeeinflußbarkeit, S. 502-503; Stumpfl: Erbpsychologie, S. 381-384; Verschuer: Umwelt und Erbanlage, S. 13-14; Gottschaldt: Erbpsychologie der Elementarfunktionen, S. 456; ders.: Methoden, S. 40-41; ders.: Probleme der psychologischen Erbforschung, S. 52-53. 156 Lehmann: Max Frischeisen-Köhler. 157 Vgl. Rürup/Schüring: Schicksale und Karrieren, S. 196-197; Ash: Erbpsychologische Abteilung, S. 403-404; Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 110, 173-174. 158 Vgl. Hedwig Lehmann an Franz Boas, 7. Mai 1930, APS, FBP, FP, Box 17. 159 Hedwig Lehmann an Franz Boas, 1930, APS, FBP, FP, Box 17. 160 Hedwig Lehmann an Franz Boas, 14. Oktober 1931 bzw. 21. April 1932, APS, FBP, FP, Box 17. Zu Muckermann vgl. Lösch: Rasse, S. 212-215. 161 Lösch: Rasse als Konstrukt, S. 241, 302.
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»Menschen mit erblichem Schwachsinn«, zur Verhinderung der »Rassenmischung« mit Juden sowie der Einwanderung von »Fremdrassigen und Erbkranken«.162 Ihre Arbeit am KWI galt, neben Schädelmessaufträgen von Fischer, der Frage nach dem Anteil von Erbanlage und Umwelt an der psychischen Verschiedenheit von Zwillingen. 1929 verglich Frischeisen-Köhler die Schulleistungen von gut 200 eineiigen und gleichgeschlechtlichen zweieiigen Zwillingspaaren. Sie kombinierte also Wilhelm Peters’ Ansatz der statistischen Verwandtenähnlichkeit mit Verschuers Zwillingmethode, das heißt der Errechnung von mathematischen Mittelwerten und Abweichungen der jeweiligen Zwillingspartner. Wenig überraschend bestätigte sie Verschuers Ergebnis, dass zweieiige Zwillinge stärker voneinander abwichen als eineiige, woraus wiederum zu schließen sei, dass Eineiige »eine größere Ähnlichkeit oder gar Gleichheit der Erbanlagen auf psychischem Gebiet [zeigen], die einander sich gleichende Leistungen zur Folge haben«. Da Zwillinge in gleicher Umwelt lebten, müsse die Erbanlage verantwortlich für den Unterschied der Abweichung sein. 163 Eine Parallelstudie, die mit dem so genannten Hamburger Beobachtungsbogen von Sterns Mitarbeiterin Martha Muchow arbeitete, kam in Bezug auf Charakterunterschiede zu dem gleichen Ergebnis.164 Frischeisen-Köhler gestand zu, dass Schulnoten weder Objektivierungen von geistigen Fähigkeiten noch objektive Beurteilungen erbrachter Leistungen seien, wie auch Intelligenzprüfungen intellektuelle Begabung nicht unmittelbar abbildeten. Darüber hinaus sprach sie das Problem an, die Kausalfaktoren Anlage und Umwelt sowie verschiedene psychische Parameter wie Intelligenz, Fleiß und Aufmerksamkeit analytisch zu unterscheiden: Die »Erbanlagen, die in Verbindung mit den Umweltreizen in den Schulleistungen zum Ausdruck kommen, sind mehr als die Summe der einzelnen Erbanlagen. Sie sind ein geschlossenes Ganzes, deren einzelnen Teilstücke in innigster Wechselbeziehung zueinander stehen«.165 Dennoch behauptete sie schließlich, einwandfrei erwiesen zu haben, »daß zwischen den Zeugnissen und demgemäß zwischen den Leistungen und dem geistigen Habitus der EZ und ZZ grundlegende Unterschiede bestehen, die […] erbmäßig bedingt sind«.166 Die Diskrepanz zwischen methodischem Problembewusstsein und dem Willen zur eindeutigen Konklusion kehrte hier ebenso wieder wie der Kunstgriff, Einzelbefunde, die nicht ins Gesamtbild passten, 162 Frischeisen-Köhler: Familienaufbau, S. 468; dies.: Nationale Eugenik, S. 986-987. 163 Frischeisen-Köhler: Untersuchungen an Schulzeugnissen, S. 394, 403. 164 Lassen: Frage der Vererbung »sozialer und sittlicher Charakteranlagen«. 165 Frischeisen-Köhler: Untersuchungen an Schulzeugnissen, S. 385-387. 166 Ebd., S. 414-415.
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selektiv der »Umwelt« zuzuschreiben, ohne aber Umweltfaktoren auf den Prüfstand zu stellen und systematisch in das Untersuchungsdesign einzuarbeiten. So ordnete Frischeisen-Köhler jenen Schulfächern, in denen Zwillingspartner stärker voneinander abwichen, eine höhere Umweltabhängigkeit zu als jenen, in denen sie ähnliche Ergebnisse erzielten.167 Analog verfuhr sie in ihrer Dissertation zum individuell bevorzugten Tempo. Wieder handelte es sich um Erbpsychologie nach der Zwillingsmethode, die auf ein experimentelles Arrangement von William Stern zurückgriff. Im Gegensatz zu den Schulzeugnissen beruhten die Daten nicht auf Beurteilungen Dritter, sondern auf eigenen Beobachtungen. Die Probanden klopften zum einen in frei gewählter Haltung in dem ihnen angenehmsten Tempo auf einen Tisch, zum anderen bewerteten sie verschiedene mit einem Metronom erzeugte Tempi. Daraus ergab sich laut Frischeisen-Köhler bei starker Differenz zwischen persönlichen Tempi eine klare Konstanz des individuellen persönlichen Tempos. Das bevorzugte Tempo eineiiger Zwillinge ähnelte sich stärker als das zweieiiger, Eltern und Kinder zeigten stark übereinstimmende Präferenzen. Auch hier lautete das Ergebnis Erblichkeit, kombiniert mit dem Versuch, den konkreten Erbgang zu beschreiben.168 Wie darf man sich die Diskussionen vorstellen, die Otto Klineberg mit Verschuer und Frischeisen-Köhler geführt hätte, wäre er 1931/32 nach Berlin gegangen? Rückblickend erscheint die Hoffnung, in der deutschen Rasseforschung Selbstkritik säen zu können, absurd. Eine Konversion der Erbforscher kann man vermutlich ausschließen. Wahrscheinlicher sind andere Effekte: Hätten sie, um Klineberg etwas entgegenzusetzen, avancierte race psychologists wie Florence Goodenough oder Lyle Lanier rezipiert, die beispielsweise mit ihren Geschwindigkeitsstudien die Grobheiten des Army Screening hinter sich gelassen hatten? 169 Hätte die Herausforderung durch Klinebergs rassisch vergleichenden Ansatz gar dazu geführt, jene experimentelle Rassenpsychologie voranzutreiben, die in Wirklichkeit nie über Ansätze hinauskommen sollte? Klineberg hätte seinerseits erfahren können, dass in Deutschland über »Umwelt« anders geredet wurde als zu Hause über »environment«. Sicherlich wäre noch einmal deutlich geworden, dass, im Gegensatz zu den USA, die Rassenpsychologie ein aufstrebendes Forschungsproblem war, das Ida Frischeisen-Köhler paraphrasierend so auf den Punkt brachte:
167 Ebd., S. 406. 168 Frischeisen-Köhler: Persönliches Tempo, S. 60. 169 Goodenough/Tinker: Comparative Study; Goodenough: Further Study, Lanier/Lambeth: Race Differences in Speed.
196 | I NTELLIGENZ UND R ASSE [D]er eigentliche Wert eines Menschen und einer Rasse wurzelt nicht […] in seinen körperlichen, sondern in seinen seelischen Eigenschaften. Erst wenn wir wissen, daß mit einem bestimmten körperlichen Habitus stets und regelmäßig eine bestimmte, selbstverständlich in gewissen Variationsbreiten schwankende seelische Struktur verbunden ist, die die Leistungsfähigkeit und die charakterlichen Eigenschaften einer Rasse, bzw. einer Rassenmischung, bedingen und festlegen, können wir Urteile über den Wert einer Rasse abgeben – und zwar nicht nur über die Weniger- oder Höherwertigkeit, sondern auch über die Anderswertigkeit – und die rassische Zusammensetzung von Völkern zu beeinflussen suchen. Hier liegen Zukunftsaufgaben für eine wissenschaftliche Rassenpsychologie, die erst am Beginn ihrer Forschungsarbeit steht.170
Trotz ihres Rauswurfs beim KWI blieben Frischeisen-Köhlers Persönliches Tempo und ihre Schulzeugnisse als zwei der wenigen empirischen Arbeiten zur Erbpsychologie über Jahre hinweg wichtige Referenzen. 171 Ihre strategische Bedeutung im wissenschaftlichen Deutungskampf um Rasse nahm auch Franz Boas wahr, der erste Texte von Frischeisen-Köhler vermutlich erstmals Anfang 1931 las.172 1933/34 versuchte er, ihr Tempo-Experiment in ein umweltsensitives Untersuchungsdesign zu übertragen, um die Behauptung der Erblichkeit widerlegen zu können. Damit reagierte er auf den nationalsozialistischen Machtwechsel, den er – neben der Segregationspolitik, die Freunde, geschätzte Kollegen und seine in Deutschland lebenden Verwandten traf – vor allem als Siegeszug der »pseudowissenschaftlichen« Rassenkunde wahrnahm.
170 Frischeisen-Köhler: Nationale Eugenik, S. 985-986. 171 Saller: Zusammenhänge von Schulleistungen, S. 230; Köhn: Rez. FrischeisenKöhler; Schwidetzky: Rez. Frischeisen-Köhler; Fischer: Gesunde körperliche Erbanlagen; S. 245; Lenz: Erblichkeit der geistigen Eigenschaften (1936), S. 697; Petermann: Problem der Rassenseele, S. 149-150, 159-164; Eickstedt: Grundlagen der Rassenpsychologie, S. 126, Anm. 173; Reinöhl: Vererbung der geistigen Begabung, S. 99, 209-211; Cehak: Über das psychomotorische Tempo, S. 39; Just: Erbpsychologie der Schulbegabung, S. 550-552; Gottschaldt: Über die Vererbung, S. 2; ders.: Erbpsychologie der Elementarfunktionen, S. 509-510; Enke: Motorik und Psychomotorik, S. 469-470. 172 Hedwig Lehmann an Boas, 6. Oktober und 14. Dezember 1930, APS, FBP, FP, Box 17.
8. Unwahrscheinliche Verbindungen: Entflechtung, Beharrung und Resonanzen 1933-1942
»Meine meiste Zeit geht mit Arbeiten über Rassencharaktäre hin«, schrieb Franz Boas 1935 dem Berliner Geographen Albrecht Penck.1 Im Tonfall ähnelt dieser Brief der jahrzehntelangen Korrespondenz mit den deutschen Freunden und Kollegen. Er scheint damit eine Normalität zu beschwören, die es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gab. Penck war einer der wenigen in Deutschland, mit denen Boas noch korrespondierte. Und im Alter von 77, ein halbes Jahr vor seiner Emeritierung stehend, hatte er sich noch einmal in ein neues Forschungsthema gestürzt, während Berge von ethnographischem Material darauf warteten, endlich abschließend bearbeitet und veröffentlicht zu werden. Beides war natürlich Folge der nationalsozialistischen Machtübernahme. Was der Regimewechsel und die darauf folgende Politik für Boas’ Beziehungen zu deutschen Wissenschaftlern, für die Äußerungs- und Rezeptionsmöglichkeiten der boasianischen Anthropologie in Deutschland bedeuteten, ist Gegenstand des folgenden Kapitels. Zudem lenkt Boas’ Beschäftigung mit »Rassencharaktären« den Blick auf ein groß angelegtes Forschungsprogramm, mit dem er eine unanfechtbare Antwort auf die fatale deutsche »Pseudowissenschaft« geben wollte.
Nach 1933: Nischen der Präsenz In zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen und Nachschlagewerken ist zu lesen, Boas’ Bücher seien im Mai 1933 verbrannt worden – da sie der national-
1
Boas an Albrecht Penck, 20. Dezember 1935, PCFB.
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sozialistischen Rassenlehre zuwiderliefen.2 Diese Aussage ist pauschal genauso plausibel, wie sie bei genauerem Hinsehen im Detail unbewiesen ist. Sie suggeriert eine systematische Politik, die es so nicht gab, und ignoriert die Grauzone, in der Boas’ Publikationen auch unter nationalsozialistischer Herrschaft präsent blieben.3 Sein Name stand in der Tat auf einer Kieler Liste, die im Vorfeld der Bücherverbrennung erstellt wurde, um die lokalen Bibliotheken, darunter auch die Universitätsbibliothek, von unerwünschter Literatur zu »säubern«. 4 Die beschlagnahmten Bücher sollten am 10. Mai verbrannt werden. Dass Boas’ Werke in Kiel dann wirklich verbrannt wurden, lässt sich aber nicht belegen. Aus Köln berichtete der Ethnologe Julius Lips im Juni, Boas’ Bücher seien dort neben seinen eigenen verbrannt worden.5 Wenn diese Aussage zutrifft, scheint es sich jedoch um eine unsystematische Auswahl gehandelt zu haben, denn in den bekannten »schwarzen Listen« von 1933 oder den späteren (Jahres)Listen des schädlichen und unerwünschten Schrifttums taucht Boas nicht auf. 6 Seine Schriften waren im Dritten Reich mitnichten verboten. Angesichts der dezentralen Aktionen ist es aber durchaus möglich, dass in Einzelfällen Exemplare von Kultur und Rasse oder anderer seiner Bücher auf den symbolpolitischen Scheiterhaufen wanderten. Zweifellos hatte sich Boas als Jude und Kritiker der Rassentheorien aus Sicht des neuen Regimes als Urheber unerwünschten Gedankenguts qualifiziert. In einer Bibliographie, die der Sachverständige für Rasseforschung im Innenministerium Ende 1933 herausgab, führte er mit Kultur und Rasse eine (alphabetisch geordnete) Liste von 30 Autoren in der Kategorie »Niederreißend (von
2
Dagegen aber Langenkämper: »Ich fürchte nur«, S. 132, 146-147; als Beispiele Davidson: Boas, Franz; Kaufmann: »Rasse und Kultur«, S. 310, Anm. 5 (Quelle: Holocaust Museum, Washington); Espagne: Question des imbrications, Abs. 3; Maas: Boas, Franz Uri; Darnell: Franz Boas, S. 16; Norwood: Third Reich, S. 87, 88; Franz Boas, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Boas_Franz (15. März 2013); nicht aber in: Franz Boas, in: http://en.wikipedia.org/wiki/Boas_Franz (15. März 2013).
3
Zu Widersprüchen, Lücken und Spielräumen vgl. Barbian: Literaturpolitik, S. 250-
4
Vgl. Mish/Cornelißen: Kiel, S. 527, Anm. 45.
281, 347, 461-462. 5
Lips an Boas, 12. Juni 1933, PCFB. Zur Verfolgung von Lips durch die Nationalsozialisten vgl. Kreide-Damani (Hg.): Ethnologie im Nationalsozialismus; Zweifel an seiner oppositionellen Haltung formuliert Ostendorf: Field Trip, S. 90-91.
6
Boas nicht genannt in Treß (Hg.) Verbrannte Bücher 1933, und http://www.berlin.de/ rubrik/hauptstadt/verbrannte_buecher/index.php (25. Januar 2012); o. A.: Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums.
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Gegnern der Rassenkunde geschrieben)« an.7 Es gibt aber keine robusten Belege dafür, dass seine Bücher der wissenschaftlichen Öffentlichkeit physisch entzogen wurden. Das verdeutlicht exemplarisch die Sekretierungspolitik der Universitätsbibliothek Marburg. Im Fachgebiet »Judentum, Antisemitismus, Rassenkunde« wurden unter anderem einschlägige Publikationen von Friedrich Hertz, Friedrich Merkenschlager, Wilhelm Schmidt, Erich Voegelin, Julius Schaxel und das Gemeinschaftswerk The science of life von Herbert George Wells, Julian Huxley und George Philip Wells aus dem Verkehr gezogen, aber keine Bücher von Franz Boas.8 Generell umfasste das Beuteschema der nationalsozialistischen Literaturpolitik neben Belletristik sowie »Schmutz und Schund« vor allem weltanschauliche Literatur. Wissenschaftliche Werke standen nicht im Fokus, indiziert wurden vor allem Politik-, Staats- und Rechtswissenschaften.9 Die Rassenkunde war in diesem Zusammenhang offenbar von untergeordneter Bedeutung. Das Wissen, Boas’ Bücher seien 1933 verbrannt worden, stammt vermutlich aus zeitgenössischen Zeitungsberichten, die hauptsächlich auf Meldungen der Nachrichtenagentur Associated Press beruhten. Als Boas 1942 starb, enthielten alle Nachrufe in der Tagespresse – wiederum AP folgend – den Hinweis auf die Verbrennung seiner Bücher.10 Boas selbst scheint unbeabsichtigt zur Verfestigung dieser Fehlinformation beigetragen zu haben. Am 6. Mai 1933 meldete die New York Times aus Kiel, Boas’ Bücher stünden auf einer schwarzen Liste und sollten am 10. Mai verbrannt werden. Zugleich druckte sie ein telefonisch eingeholtes Statement von Boas ab, der erklärte, er wisse von den Kieler Vorgängen auch nur aus der Tagespresse, vermute aber, dass seine Gegnerschaft zu nordischen Theorien die Beschlagnahme verursacht habe.11 Science griff diese Deutung offenbar auf und nannte am 12. Mai Boas’ »opposition to the theory of ›Nordic‹ or ›Aryan‹ racial superiority« als Grund für die Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Daraufhin veranlasste der neue systemkonforme Kieler Rektor über einen Mittelsmann eine Gegendarstellung. Am 14. Juli korrigierte Science: Boas’ Bücher seien, aus Protest gegen den verleumderischen Tenor des 7
Gercke/Kummer: Rasse im Schrifttum, 1. Aufl. S. 79, 2. Aufl. S. 87.
8
Vgl. Lemberg: Verboten, S. 66-69.
9
Vgl. Happel: Das wissenschaftliche Bibliothekswesen, S. 79-81; Barbian: Literaturpolitik, S. 355-361.
10 Vgl. o. A.: Prof. Franz Boas, Scientist, Dies; o. A.: German-Born Scientist Dies; o. A.: Dr. Franz Boas; o. A.: Obituaries. 11 O. A.: Dr. Boas on the Blacklist; o. A.: Dr. Boas Doubts Nordic Claims; Boas an Macmillan Company, 5. Mai 1933, PCFB; vgl. auch Norwood: Third Reich, S. 76. Eine Meldung der Frankfurter Zeitung, Boas’ Bücher seien aus der UB Kiel entfernt worden, findet sich in APS, FBP, BRC, Newspaper clippings.
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offenen Briefes an Reichspräsident von Hindenburg, nur einige Tage von der Ausleihe ausgeschlossen gewesen.12 Boas schrieb daraufhin an den Philosophen Julius Stenzel, um Näheres über die Hintergründe zu erfahren.13 Anstelle des beurlaubten Stenzel antwortete der Germanist Carl Wesle, vor seiner Zwangsversetzung vorübergehend Dekan der Philosophischen Fakultät. Er bestätigte die in Science gemachten Angaben: Nach Aussage eines beteiligten Studenten seien seine Bücher nur einige Tage lang »geprüft«, dann aber wieder dem Leihverkehr zugänglich gemacht worden. Verantwortlich seien nicht Universitätsstellen, sondern vom Propagandaministerium unterstützte und von den lokalen Polizeibehörden tolerierte »Kampfausschüsse«. Das Ganze sei als revolutionärer Begleiteffekt, nicht aber als systematische Maßnahme zu verstehen.14 In diesem Sinne schrieb Anfang September auch der später ebenfalls zwangsversetzte Prorektor Wolfgang Freiherr von BuddenbrockHettersdorff an Boas und hob wiederum den Hindenburg-Brief mit seinen provozierenden Anschuldigungen als Auslöser hervor. Nachdem eine Kieler Tageszeitung den Brief am 21. April veröffentlicht habe, seien noch am selben Tage von einer politischen Kommission – also nicht von der Universität selber – Ihre Schriften als Protest auf einige Tage in der Universitäts-Bibliothek sekretiert worden. Ich stelle ausdrücklich fest, daß diese Protestaktion nichts mit Ihrer wissenschaftlichen Ansicht über Rassefragen zu tun hat.15
Boas scheint diese Darstellung der Kieler Vorgänge akzeptiert zu haben. Noch 1938 sorgte er dafür, dass die Universitätsbibliothek zu Vorzugskonditionen das International Journal of American Linguistics erhielt.16 Allerdings verwahrte er sich gegen die Unterstellung, er habe in seinem offenen Brief Gerüchte und Unwahrheiten verbreitet.17 In der Bücherverbrennung sah er vor allem eine symbolische Aktion. Schwerer wog für ihn die institutionelle Schließung und Lenkung des Publikationswesens. Im Lauf des Sommers entschied er sich daher, die testamentarisch festgelegte Schenkung seiner wissenschaftlichen Bibliothek an
12 Science 77 (1933), Nr. 2002, 12. Mai, S. 446 und 78 (1933), Nr. 2011, 14. Juli, S. 34; zum Vorgang Buddenbrock-Hettersdorff an Boas, 1. September 1933, PCFB. 13 Boas an Stenzel, 25. Juli 1933, PCFB. 14 Wesle an Boas, 21. August 1933, PCFB. 15 Buddenbrock-Hettersdorff an Boas, 1. September 1933, PCFB. 16 Oberländer (Direktor UB Kiel) an Boas, 11. Februar 1939, PCFB. 17 Boas an James McKeen Cattell, 25. September 1933, an Buddenbrock-Hettersdorff, 26. September 1933, an Friedrich Schmidt-Ott, 1. Oktober 1933, PCFB.
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die Notgemeinschaft auf Eis zu legen, bis die Meinungsfreiheit in Deutschland wiederhergestellt sei.18 Der März 1933 stellte eine gravierende Zäsur in Boas’ Verhältnis zur deutschen Öffentlichkeit dar. Es handelte sich dabei aber nicht um einen plötzlichen und vollständigen Ausschluss, als sei er qua Befehl in den Bereich des Unsagbaren verbannt worden. Als Person des öffentlichen Lebens existierte er weiter in einem Modus der Duldung, der maßgeblich durch seine amerikanische Staatsbürgerschaft begünstigt wurde. Obwohl »Amerika« für die bekämpfte Zivilisation der Moderne stand, behielt es einen Platz im Dritten Reich. Bis 1939 blieb amerikanische Literatur auf dem Buchmarkt präsent, akademische und mäzenatische Kontakte bestanden fort oder intensivierten sich zunächst sogar.19 Vor diesem Hintergrund ergibt sich ein gemischtes Bild. Verunglimpfungen, wie sie das NS-Blatt der Angriff schon vor 1933 gegen Boas gerichtet hatte – gegen den »amerikanischen Juden Boas« als Steigbügelhalter des Rasseleugners Spengler20 –, vervielfältigten sich und zielten nun auch auf den Kern seiner deutschen Reputation, sein Engagement in der Emergency Society. Im August ging Eugen Kühnemann, in Breslau lehrender Philosoph und Literaturwissenschaftler mit langjähriger Amerikaerfahrung, Boas im Völkischen Beobachter an. Man würdige seine Nothilfe für die deutsche Wissenschaft, dass er in seinem Schmähbrief an Hindenburg selbst auf sie hingewiesen habe, bestätige aber, dass Juden nie uneigennützig handelten.21 Boas beschwerte sich über diese »gemeine[n] Angriffe[n]« ebenso wie über Fritz Lenz, der von ihm nur »als dem ›jüdischen Anthropologen‹, oder als ›Gelehrten von vorderasiatischen Neigungen‹« spreche.22 In die Hassrede mischten sich vor allem in den ersten Monaten nach dem Machtwechsel konziliante Stimmen, die sich am eigenen Mitgefühl aufrichteten. Boas’ 75. Geburtstag am 9. Juli 1933 sei »in der gesamten Nazi-Presse« gewürdigt worden, wie ein Bundesbruder beschwichtigend berichtete. Dies sei als 18 Boas an Schmidt-Ott, 2. Juni und 1. Oktober 1933, PCFB; an Helene Yampolsky, Ernst Boas, Franziska Michelson, 20. November 1933, APS, FBP, FP, Box 18, Folder Boas, Gertrud 1922. Um die Erbschaftssteuer zu umgehen, war die Schenkung als Kaufvertrag deklariert: Boas an Schmidt-Ott, 1. Juni 1931, PCFB. 19 Vgl. etwa Barbian: Literaturpolitik, S. 465-466; Bittner: Learning by Dewey, S. 108; Gassert: Amerika im Dritten Reich, S. 116-147; Norwood: Third Reich; Weindling: Rockefeller Foundation, S. 128-130; Macrakis: Wissenschaftsförderung. 20 Gräbert: Untergang der Spenglerei: vgl. auch Hedwig Lehmann an Boas, 2. Mai 1932, APS, FBP, FP, Box 17; Bruno Oetteking an die Schriftleitung des Angriff, 3. Juni 1932; an Boas, 25. Juni 1932, PCFB. 21 Kühnemann: Das neue Deutschland. 22 Boas an Schmidt-Ott, Entwurf, 1. Oktober 1933, PCFB.
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»Zeichen eines gewissen Anstands- und Schuldgefühls zu werten […]. Viele Bundesbrüder und Bekannte, die Nazis sind hatten Dein Bild ausgeschnitten und sich ehrlich gefreut. Selbst bei radikalen Leuten begegnet man immer wieder dem Bedauern, dass der Gerechte mit leiden muss«.23 Dass die »Nazi-Presse« ihm einhellig Tribut zollte, darf bezweifelt werden. Der Völkische Beobachter und der Stürmer gehörten jedenfalls nicht zu den Gratulanten. Tatsächlich brachte aber die Deutsche Allgemeine Zeitung eine Notiz, die ihn überraschend affirmativ als »deutsche[n] Rassenforscher in Amerika« bezeichnete.24 Die Gefühlsökonomie solcher versöhnlerischer Gesten wäre eine eigene Untersuchung wert. Hier genügt sie als Beleg für eine gewisse Beharrungskraft der Boasschen Persona. Auch der entsprechende Eintrag in der letzten Ausgabe des Nachschlagewerks Wer ist’s? von 1935, in dem Boas seit 1905 vertreten war, unterschied sich vom der Ausgabe 1928 nur durch ein aktualisiertes Werkverzeichnis.25 Bestehen blieben seine Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Vereinen und Akademien, allerdings trat er 1935 aus dem Verband Alter Herren bei den Alemannen aus.26 Eugen Fischer setzte sich als »Führer« der Berliner Anthropologischen Gesellschaft nicht aktiv dafür ein, ihn auszuschließen, wenngleich er in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Madison Grants Conquest of a Continent von einem vermeintlichen Deutungsmonopol des »jüdischen Anthropologen und Ethnologen Franz Boas« sprach.27 1938 gratulierte ihm der Physiologe Emil Abderhalden, der als Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher maßgeblich den Ausschluss der jüdischen Mitglieder betrieb, im Namen der Leopoldina offiziell zum 80. Geburtstag.28 Und Boas’ Publikationen blieben auf dem deutschen Markt, wenngleich ihre weitere Verbreitung eingeschränkt 23 Kurt Schneider an Boas, 30. August 1933; vgl. auch Ludwig Aschoff an Boas, 31. Juli 1933, PCFB. 24 O. A.: Deutscher Rassenforscher in Amerika; Ludwig Aschoff schickte Boas diesen Artikel zu, 31. Juli 1933, PCFB; vgl. auch o. A.: Franz Boas’ 75. Geburtstag; o. A.: Personalnachrichten. 25 Degener: Wer ist’s (1928), S. 146-147; Degener: Wer ist’s (1935), S. 143. 26 Boas an Friedrich von Müller (Deutsche Akademie), 16. Februar 1934; Schlesischer Altertumsverein an Boas, Juni 1936, Boas an W. Behrmann (Vorsitzender Verein für Geographie und Statistik Frankfurt am Main), 25. November 1936, PCFB; vgl. Cole: Franz Boas (1994): S. 18, 21; Girtler: Burschenschafter und Schwiegersohn, S. 577. 27 Vgl. Proctor: From Anthropologie, S. 163; Lösch: Rasse, S. 293; Fischer: Geleitwort, S. vii. 28 Abderhalden an Boas, 24. Juni 1938; vgl. auch die Gratulationen zum 75. Geburtstag: Dr. Jürgens an Boas, 7. Juli 1933; Deutsche Akademie an Boas, 16. August 1933, PCFB.
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gewesen sein dürfte. Der Verlag de Gruyter gab 1938 an, Kultur und Rasse sei nach wie vor lieferbar.29 Verlagsabrechnungen für seinen Kieler Vortrag Rasse und Kultur bezeugen 682 verkaufte Exemplare für 1933, 49 im Jahr 1934 sowie vier im Jahr 1937.30 Kein Jahr hat in Boas’ umfangreicher Korrespondenz so viele Schriftstücke hinterlassen wie 1933. Dazu trug auch die Kommunikation mit seinen nichtjüdischen Kontaktleuten in den Biowissenschaften bei. Auf Boas’ Forderung, sich zu erklären und von der Politik der neuen Machthaber klar zu distanzieren, antworteten sie mit Ausreden, Verharmlosung oder Triumph. Walter Scheidt hatte eine rassenpsychologische Erklärung parat und führte Boas’ Kritik auf ein rassisches Ressentiment gegen das natürliche »Gefühl der Wesensfremdheit zwischen Juden und nicht-vorderasiatisch veranlagten Nichtjuden« zurück.31 Die kurzzeitig verdichtete transatlantische Kommunikation schied die Geister und läutete einen Prozess der Entflechtung ein, der vielfach gezielt, abrupt und endgültig verlief. Andere Verbindungen blieben noch längere Zeit bestehen. Noch 1937 erhielt der Kolumbien-Spezialist Konrad Theodor Preuss für ein vor 1933 begonnenes Publikationsvorhaben Mittel aus dem Projektbudget des Department of Anthropology.32 Vereinzelte Kontakte, die vor allem den Austausch von Abbildungsmaterial betrafen33, änderten aber nichts daran, dass das Tischtuch zwischen Boas und seinen deutschen Kollegen zerschnitten war, wobei es keinen Unterschied machte, ob sich jemand bereitwillig und zielstrebig in den Dienst nationalsozialistischer Politik stellte oder sich Parteimitgliedschaft und Gutachtertätigkeit verweigerte. Boas gab viele Kontakte auf, lehnte neue Kooperationsanfragen ab und veröffentlichte nicht mehr in Deutschland, abgesehen von einem Festschriftbeitrag für den Soziologen Ferdinand Tönnies, der ein Regimegegner war.34 29 De Gruyter an Boas, 10. Februar 1938, PCFB. 30 Gustav Fischer an Boas, 28. März 1934, 30. Mai 1935 und 2. April 1938, PCFB. 31 Scheidt an Boas, 19. April 1933; vgl. auch die Briefe von Ludwig Aschoff, 22. März, 23. April; Otto Aichel, 16. April 1933; Georg Thilenius, 17. Mai 1933; Eugen Fischer, 24. Juni 1934, PCFB. 32 Ruth Benedict an Nelson McCrea, 15. Oktober 1937 [Bericht zu Projekt Nr. 39 »Study of Middle American Culture and Religion«], CUA, CRH, Ser. II, Box 4, Folder 1. 33 Boas an Scheidt, 3. Januar und 3. Februar 1936; Scheidt an Boas, 14. Januar 1936; Verschuer an Boas, 4. April 1936; Boas an Charles Davenport (über eine vergebliche Anfrage bei Eugen Fischer), 23. Dezember 1936, PCFB. 34 Boas: Individualität primitiver Kulturen; vgl. etwa Eberhard Zwirner (KWI für Hirnforschung) an Boas, 12. Juni 1936, Boas an Zwirner, 23. Juni 1936, PCFB.
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Wie die Zitierpolitik von Eugen Fischer und seinen Promovenden gezeigt hat, bewiesen seine vorhandenen Schriften und Positionen dagegen einige Beharrungskraft. Das dürfte auch daran gelegen haben, dass sich die Frage nach der biokulturellen Humandiversität keinesfalls erledigt hatte. Der Nationalsozialismus war entschieden in der Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen und Zerschlagung demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen, aber er brachte keine konsistente Ideologie mit.35 »Rasse« und »Volk«, »Blut und Boden« ließen sich als politische Schlagwörter leicht in einem Atemzug nennen. Übersetzt in die anthropologische Fachdiskussion hatte man es aber mit dem Problem zu tun, Biologie von Kultur, Erbe von Umwelt abzugrenzen. Eine Kontroverse im ersten Jahrgang der ab 1934 erscheinenden nordizistischen Zeitschrift Rasse verdeutlicht den dadurch entstehenden Diskussionsspielraum, der es zuließ, Boas sowohl ablehnend als auch verhalten zustimmend zu zitieren. Gleich im ersten Heft meinte der Geologe Kurt Holler auf eine Nationalsozialistisch getarnte Umweltlehre aufmerksam machen zu müssen. Unter dem Deckmantel der Formel »Blut und Boden« würden marxistisch-lamarckistische Argumente verbreitet, die sich der »Messungen des Juden Boas und Prof. Fischers, Berlin« bedienten.36 In diesem und in weiteren Artikeln hatte Dauerdenunziator Holler zum einen »Systemgrößen wie Saller, Merckenschlager, Hellpach nebst ihrem jüdischen Anhang wie Hertz, [Hans] Friedenthal, Weidenreich«, andererseits populärwissenschaftliche »Schriftsteller wie Dr. [Gerhard] Venzmer und Dr. [Heinz] Woltereck« im Blick.37 Auf Hollers ersten Beitrag antwortete unter verschiedenen Autoren, die die Frage der Umweltprägung des Erbguts durchaus diskutabel fanden, auch der Ornithologe und Rassenhygieniker Hans Duncker. Er nannte Boas’ und Herskovits’ Arbeiten zur Rassenmischung in einem Atemzug mit denen von Fischer, Rodenwaldt, Davenport/Staggerda, rückte sie also auf eine gemeinsame Ebene wissenschaftlicher Legitimität.38 Noch weiter ging im selben Jahr Friedrich Keiter, ein Mitarbeiter Walter Scheidts, der ein ganzes Kapitel seiner Monographie über Rußlanddeutsche Bauern und ihre Stammesgenossen in Deutschland der »Untersuchung von Franz Boas« widmete. Sie habe bewiesen, »dass unter veränderter Umwelt [Körper-] Maße sich eigensinnig ändern« könnten. Dass sich bei der von ihm selbst unter35 Barbian: Literaturpolitik, S. 486; Essner: »Irrgarten«, S. 92-94; Leo: Wille zum Wesen, S. 572-575. 36 Holler: Nationalsozialistisch getarnte Umweltlehre; vgl. Potthast: »Rassenkreise«, S. 297-302. 37 Holler: »Deutsche Rasse«; ders.: Geologie, S. 55. Zu Venzmer vgl. Stoff: Hormongeschichten. 38 Duncker: Rassenmischung, S. 266.
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suchten Gruppe, den schon erwähnten deutschstämmigen Mennoniten, die Schädelmaße kaum wandelten, spreche nicht gegen Boas, der stets betont habe, »wie ungleich die Umwelt auf die verschiedenen Bevölkerungen wirkt«. Keiter scheute sich nicht, Boas’ fachliche Autorität für sich in Anspruch zu nehmen: Boas’ und unsere Untersuchungen stehen mithin miteinander im Einklang und stützten sich zum Teil gegenseitig. Nochmals ist aber zu betonen, daß die damit gezeigten geringen Umweltswirkungen in keiner Weise jene Schlüsse auf Belanglosigkeit des rassischen Erbanlagenbestandes rechtfertigen, wie sie auf die Boasschen Arbeiten hin oft ganz deutlich als »Sensation« in die Welt gesetzt wurden.39
Es ist festzuhalten, dass diese letzte Einschränkung weniger Boas selbst als jenen galt, die sich mit überzogenen Schlussfolgerungen auf ihn beriefen. Auch später blieben positive Bezugnahmen in Zusammenhängen möglich, die Umwelteinwirkungen auf den Menschen thematisierten, etwa in Willy Hellpachs Geopsychischen Erscheinungen, die 1935 stark umgearbeitet in vierter Auflage unter dem Titel Geopsyche herauskamen. Zwar hatte sich die in früheren Ausgaben fast überschwängliche Referenz auf Boas hier ernüchtert und verkürzt. Hellpach rückte nun die Erklärungsschwächen in den Vordergrund: Eine Ursache für die Umformung der Einwandererschädel könne Boas nicht angeben. Hellpach würdigte seine Arbeiten aber immer noch als Pionierleistung auf dem Gebiet der »standräumliche(n) Besonderung des Phänotyps«. Selbst in der fünften Auflage von 1939 blieb dieses positive Bekenntnis erhalten. Der Wortlaut war minimal verändert, an entscheidenden Stellen rhetorisch distanzierter als in der vierten Auflage. Zudem sicherte sich Hellpach durch den Einschub ab, Boas’ Plastizitäts-These sei umstritten und teilweise abgelehnt, jedoch »im Ergebniskern von Forschern wie Eugen Fischer als stichhaltig anerkannt« worden.40 Wie für andere stigmatisierte und verfolgte Wissenschaftszweige, etwa die Gestaltpsychologie oder die »jüdische« Intelligenzpsychologie, dürfte auch für Franz Boas gegolten haben, dass es Nischen gab, in denen er vor allem in den Anfangsjahren der nationalsozialistischen Herrschaft zitierfähig blieb. 41 Aber 39 Keiter: Rußlanddeutsche Bauern, S. 77. Zu Keiter vgl. Weingart/Bayertz/Kroll: Rasse, S. 537-538; Felbor: Rassenbiologie, S. 93-140. Boas zitierte diese Arbeit 1940 (»Kreiter«), vgl. ders.: Age Changes and Secular Changes, S. 68. 40 Hellpach: Geopsyche (1935), S. 196; (1939), S. 209-210. 41 Vor allem seine Wachstumsstudien, vgl. Wurzinger: Rez. Boas: Studies in Human Growth; Verschuer: Erbbedingtheit des Körperwachstums, S. 411. Zum Überdauern der Gestaltpsychologie vgl. Ash: Erbpsychologische Abteilung, S. 415; Stadler: Schicksal, S. 152-157. William Stern und Wilhelm Peters, die emigrierten, und Otto
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noch 1943 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Kulturgeographen Franz Termer und dem Ethnologen Fritz Krause, ob Boas in einer geplanten Gesamtdarstellung der deutschen Amerikanistik zu berücksichtigen sei. Der nationalkonservative Termer führte Boas’ Leistungen für die Nordamerikanistik, die Tatsache, dass er Deutscher sei, sowie seine Aktivitäten nach dem Ersten Weltkrieg an, Krause, der als Verfasser der entsprechenden Textpassage den Ausschlag gab, hielt dagegen, dass Boas Jude sei und seit 1933 mehrfach öffentlich deutsche Wissenschaftler beschimpft habe.42 Die Reaktionsnorm der nationalsozialistischen Anthropologie reichte von dem bekannten Muster der relativierenden Bestätigung43 bis zur Markierung der Plastizitätsthese als Pseudowissenschaft, so bei Ernst Rodenwaldt, der fand, die »Ergebnisse Boasscher Untersuchungen erben sich unverdienter Weise immer noch in der Literatur fort, obwohl in Amerika selbst längst schon die Unzulänglichkeit des Materials in statistischer Hinsicht festgestellt wurde«.44 Eine weitere Möglichkeit, sich auf Boas zu beziehen, bestand darin, seine anthropometrischen Arbeiten herunterzuspielen oder ganz auszuklammern und ihn stattdessen als internationale Autorität des Fachs, als Förderer der Anthropologie in den USA, als Ethnologen sowie als Unterstützer der deutschen Wissenschaft anzusprechen.45 Die Vossische Zeitung, die in früheren Jahren noch die Entzauberung des Schädels als Boas’ herausragende wissenschaftliche Leistung benannt hatte, gratulierte 1933 dem Indianerforscher zum 75. Geburtstag.46 Diese Tendenz spiegelt auch der dürre Zweizeiler in der achten Auflage von Meyers Lexikon wider. Er führte Boas als »dt.-amer. Ethnolog«, dessen Hauptwerk das Handbook of American Indians sei. 47 Es handelte sich dabei ganz klar um Verharmlosungsmanöver.48 Obwohl nun die ethnographische Seite stärker in den Bobertag, der sich 1934 das Leben nahm, wurden etwa zitiert von Dubitscher: Durchführung von Intelligenzuntersuchungen; Reinöhl: Vererbung der geistigen Begabung, S. 56, 58, 93, 173; Jacobsen: Charaktertypische Ausdrucksbewegung, S. 307; Deussen: Psychologische Grundfragen, S. 169. 42 Vgl. Fischer: Völkerkunde im Nationalsozialismus, S. 69-70. 43 Eickstedt: Rassenkunde und Rassengeschichte, S. 118; Tirala: Rassenvermischung. 44 Rodenwaldt: Rasse und Umwelt, S. 21. 45 Etwa Eickstedt: Rassenkunde und Rassengeschichte, S. 678; Mühlmann: Methodik der Völkerkunde, S. 90, 199; Keiter: Rasse und Kultur, Bd. 2, S. 189; so vor 1933 Schemann: Rassenfragen im Schrifttum, S. 31. 46 O. A.: Franz Boas’ goldenes Doktorjubiläum; o. A.: Franz Boas’ 75. Geburtstag. 47 O. A.: Boas, Franz (Meyers). 48 Zur Politik der Konversationslexika nach 1933 vgl. Prodöhl: Politik des Wissens; Keiderling: Enzyklopädisten und Lexika.
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Vordergrund rückte, um von seiner physischen Anthropologie schweigen zu können, gab es eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der boasianischen Kulturforschung nach 1933 nur noch in Einzelfällen.49 Über die Jahre dünnte sich der Bezug auf boasianische Texte kontinuierlich aus und beschränkte sich auf vereinzelte Rezensionen, Hinweise in Fußnoten, Nennungen in Bibliographien sowie Literaturanzeigen in wissenschaftlichen Umschaumedien.50 Am längsten wurde der Anthropologische Anzeiger seinem bibliographischen Auftrag gerecht: 1943 erschien hier der letzte Hinweis auf eine neuere Publikation des bereits verstorbenen Boas, seinen Aufsatz in Science von 1941.51 1938 schienen die verbliebenen Möglichkeiten boasianischer Präsenz in Deutschland ausgereizt. Boas’ Schwestern und ihre Familien hatten sich in Sicherheit gebracht. Er stornierte alle ausstehenden Bestellungen bei seinem Berliner Buchhändler, kündigte Abonnements, legte Mitgliedschaften nieder und letzte Kontakte still.52 Der Vorsitzende der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte teilte mit, dass Boas wegen »vielfach be-
49 Zu nennen ist hier vor allem eine Serie kritischer Forschungsberichte, die der Sozialwissenschaftler Wilhelm Milke 1937/38 publizierte und die Alfred Kroeber 1940 im American Anthropologist als herausragend bezeichnete. Milke: Historische Richtung, ders.: Funktionalismus, ders.: Lehre von den Kulturstilen; Kroeber: Rez. Milke. Zu Milke vgl. Fischer: Völkerkunde im Nationalsozialismus, S. 73. 50 Etwa Eickstedt: Rez. Lowie; Keiter, Rasse und Kultur, Bd. 1, S. 296-297. Am besten war – wie vor 1933 – Melville Herskovits repräsentiert; vgl. Herskovits: Physical Form and Growth; ders.: Felix von Luschans Messungen; Verschuer: Rez. Herskovits: American Negro; Weninger: Rez. Herskovits: Anthropometry of the American Negro; Fischer: Gesunde körperliche Erbanlagen, S. 289, 308; Mühlmann: Rassen- und Völkerkunde, S. 504, 557, 566; Hauschild: Rassenunterschiede, S. 274, Anm. 6; Abel: Physiognomik und Mimik, S. 425. 51 Anthr Anz 19 (1943/44) 1/2, S. 10, vgl. auch ebd., 12 (1935/36) 3/4, S. 212; 13 (1936/37) 1/2, S. 21; 15 (1938) 3/4, S. 225, 241; 16 (1940) 3/4, S. 129; 18 (1941/42) 1/2, S. 2, 6, 17; 18 (1941/42) 3, S. 101, 114; Hinweise auf Klineberg: Negro Intelligence: Anthr Anz 12 (1935/36) 3/4, S. 206; Anthr Anz 13 (1936/37) 3/4, S. 190; auf ders.: Race Differences: Anthr Anz 13 (1936/37) 3/4, S. 165. 52 Die letzten Briefe aus Deutschland erhielt Boas von Theodor Wilhelm Danzel (5. August 1938), Leo Frobenius (9. August 1938), Friedrich Schmidt-Ott (28. Dezember 1938), Oskar Bolza (9. März 1939), Lore von den Steinen (20. April 1939); Boas an Buchhandlung Gsellius, 10. Februar 1938; an Schweizerbarth’sche Buchhandlung, 23. Februar 1939, an Leopoldina, 23. Februar 1939; zu Familie und Freunden vgl. Boas an Alfred Tozzer, 9. Mai 1939, PCFB.
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zeugter Feindseligkeit gegen das heutige Deutschland« ausgeschlossen werde.53 Auch in der amerikanischen scientific community markierten die Jahre 1937/38 einen Umschwung. Jahrelang hatte Boas vergeblich versucht, amerikanische und internationale Kollegen zu einem solidarischen Statement gegen die Unterdrückung der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland zu bewegen. Wo vorher Indifferenz, diplomatische Zurückhaltung oder gar Komplizenschaft vorgeherrscht hatten, wuchs nun in Fachverbänden, universitären Leitungsgremien und bei einzelnen Wissenschaftlern die Bereitschaft, öffentlich gegen die nationalsozialistische Politik Stellung zu beziehen.54
Wissenschaftliches Gegengift Nach 1933 verbrachte Franz Boas viel Zeit damit, Widerspruch gegen den Nationalsozialismus, den Franquismus sowie den Antisemitismus in den USA zu organisieren und praktische Hilfe für eine große Zahl von Emigranten zu leisen. Daneben war es ihm wichtiger denn je, die Unhaltbarkeit von Rassetheorien wissenschaftlich nachzuweisen und positive Gegenbeweise zu erbringen.55 1933/34 schob er ein ganzes Bündel von Projekten an, die alle dem Nachweis dienen sollten, dass es keine Zusammenhänge zwischen körperlichem Typus und Verhalten gebe, die einer rassischen Veranlagung zugerechnet werden könnten. Es handelte sich dabei um jeweils selbständige, thematisch und methodisch heterogene Studien, deren Zusammengehörigkeit erst aus Briefen und Projektberichten ersichtlich wird. Boas selbst setzte laufende Arbeiten in der physischen Anthropologie fort, die er 1925 unter dem Projekttitel »Heredity and Environment Studied in the Growth of Children« begonnen hatte.56 Diese galten zum einen der Feststellung 53 Boas an Schuchardt, 18. Januar 1939, Wolfram von den Steinen an Boas, 18. Februar 1939, PCFB; vgl. Andree: Geschichte der Berliner Gesellschaft, S. 129-130. 54 Vgl. Barkan: Mobilizing Scientists, S. 182-189, 197-202; Kühl: Internationale, S. 147148; Norwood: Third Reich. 55 Vgl. Krook: Analysis of Franz Boas’ Achievements; Cole: Franz Boas (1994), S. 21, Barkan: Mobilizing Scientists, S. 184; ders.: Retreat of Racism, S. 281-282; Lipphardt: »Investigation of Biological Changes«. Übersicht der Projekte bei Boas an Felix Warburg, 15. Juli 1935, an Wallach, 3. Juni 1937, PCFB. 56 Boas: Projektberichte »Heredity and Environment«, 12. März und 10. Oktober 1926, CUA, CRSS, Ser. III, Box 5, Folder 11; vgl. Tanner: Boas’ Contribution; Little: Franz Boas’s Place. Diese Fragen beschäftigten ihn seit der Einwandererstudie, Boas an W. I. Thomas, 1. Februar 1913, PCFB.
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individueller Wachstumsmuster, zum anderen der Ähnlichkeit von Wachstumsund Reifungsmustern bei biologischen Geschwistern. Sie richtete sich unter anderem gegen den Topos der Frühreife jüdischer und schwarzer Heranwachsender. Die »rassischen« Samples bestanden aus »ostjüdischen«, anglo-, italound afroamerikanischen Kindern, die in verschiedenen Teilgruppen mit schlechten bzw. vorteilhaften Bildungs- und Lebenschancen untersucht wurden. Das Ergebnis war, wenig überraschend, dass zwar eine Familienähnlichkeit von Entwicklungsmustern vorlag, dass aber keine rassischen, sondern nur soziokulturelle Konstanten beobachtet werden konnten.57 In dem ab 1934 laufenden Teilprojekt »Tempo of Individual Development by Heredity and Environment« arbeiteten Boas’ Schwiegersohn Nicholas (Nikolai) Michelson und der emigrierte deutsche Gynäkologe Wilhelm Nußbaum mit, der bei Eugen Fischer und Otmar Freiherr von Verschuer ausgebildet worden war. 58 Sie dokumentierten das Knochenwachstum in Händen und Handgelenken von Geschwistergruppen verschiedener Rasse und Nationalität über mehrere Jahre per Röntgenaufnahmen.59 Unmittelbar wurde nur die angegliederte, in Kapitel 3 dargestellte Intelligenzstudie veröffentlicht, die physisches und mentales Wachstum korrelierte. Ein Großteil der anderen Ergebnisse konnte erst nach Boas’ Tod publiziert werden.60 Zwei weitere Projekte beschäftigten sich mit der Verbreitung von Kriminalität und psychischen Krankheiten unter verschiedenen Einwanderergruppen und deren Nachkommen. Die von Elliott Stofflet durchgeführte Studie zur Kriminalität ging von den statistisch erfassten Häufungen verschiedener Delikttypen bei Gruppen verschiedener nationaler Herkunft aus und zeigte, analog zu Boas’ Einwandererstudie, die Plastizität kriminellen Verhaltens. In der zweiten Generation sei eine Verschiebung von den bei Immigranten noch typischen Tötungsdelikten hin zu »predatory types of offenses« zu konstatieren. Die Einwandererkinder näherten sich damit dem »normalen« kriminellen Profil der ansässigen weißen Bevölkerungsmehrheit an, was für ihre kulturelle Anpassungsfähigkeit 57 Boas an Philip M. Hayden, 23. März 1932, CUA, CRSS, Ser. III, Box 7, Folder 6; Boas: Studies in Human Growth; ders: Studies in Human Growth III; ders.: Effects of American Environment; Boas an Felix Warburg, 15. Juli 1935, PCFB. 58 [Boas]: Berichtsentwurf zu den Projekten 2, 26, 76 (Boas) und 91 (Klineberg) (Ende 1934), CUA, CRSS, Ser. III, Box 5, Folder 11; Boas: Bericht zu Projekt 26, ca. Mai/Juni 1936, CUA, CRSS, Ser. III, Box 6, Folder 15; zu Nußbaum vgl. Lipphardt: Biologie, S. 278-299; dies: »Investigation of Biological Changes«, S. 180-181. 59 Nicholas Michelson an Dr. J. Lewis, 26. Januar 1938, PCFB. 60 Michelson: Investigations in the physical development of negroes; ders.: Studies in the physical development of negroes (II. Weight, III, Chephalic index, IV. Onset of puberty).
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spreche.61 Stofflet grenzte sich auch von deutschen Autoren wie Baur/Fischer/ Lenz und Johannes Lange ab, dessen Verbrechen ist Schicksal 1930 auf Englisch erschienen war. Hauptsächlich richtete sich dieses Projekt aber gegen amerikanische Einwanderungsbeschränkungen und Sterilisationsgesetze.62 Analog untersuchte der emigrierte deutsche Psychiater Bruno Klopfer das Auftreten von fünf verbreiteten Geisteskrankheiten bei italienischen, deutschen und irischen Einwanderern. Auch hier ging es um Veränderungen von der ersten zur zweiten Einwanderergeneration. Zunächst assoziiert, später integriert war eine Studie des Psychologen Ross McFarland zu Anpassungskonflikten bei italienischen Einwanderern.63 Im Vergleich von ländlichen Süditalienern und Auswanderern sollten neben psychophysischen Störungen und Kriminalität insbesondere Veränderungen von Einstellungen, Werten und Idealen herausgearbeitet werden. 1938/39 führte der Soziologe Leopold Macari, dessen Familie einen solchen Migrationshintergrund hatte, das Projekt mit Schwerpunkt auf dem Heiratsverhalten als Ursache und Effekt von Akkulturation weiter.64 An die aktuelle attitude-Forschung schloss auch ein weiteres Projekt an. Hier ging es darum, die Identifizierbarkeit der rassischen Herkunft anhand der äußeren Erscheinung zu widerlegen. Boas bat ihm bekannte Dozenten an Colleges und Universitäten, in der ersten Sitzung eines Kurses alle Teilnehmer durch ihre Kommilitonen anhand der äußeren Erscheinung »rassisch« einordnen zu lassen. Es bestätigte sich, dass diese spontanen Einschätzungen oft daneben lagen, aber Veröffentlichungsreifes kam dabei anscheinend nicht heraus.65 Unmittelbar gegen den deutschen Antisemitismus richtete sich 61 Stofflet: Study; Boas: Bericht zu Projekt 26, ca. Mai/Juni 1936, CUA, CRSS, Ser. III, Box 6, Folder 15. 62 Lange: Crime and Destiny; Stofflet: Study, S. 6, 9-10; Boas an Frederick Keppel, 16. November 1936; an Edmund E. Day, 20. November 1936, PCFB. 63 McFarland an Boas, 4. Februar 1935, Anlagen: »Cultural Conflict and Adjustment in a Selected Group of Italians; Changes in Attitudes Relative to the Folkways and Mores of a Specific Italian Group with Change in Environment« (mit Fragebogen), PCFB; Continuation of Project 26. Studies in the Acculturation of an Italian Group, CUA, CRSS, Ser. III., Box 6, Folder 15. 64 Boas/Poffenberger an CRSS, 4. April 1938, PCFB; Completion of Study: Intermarriage and Acculturation (1938), CUA, CRSS, Ser. III, Box 8, Folder 3. Wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten und anderer Konfliktpunkte schied McFarland aus dem Projekt aus, vgl. Macari an Boas, 20. März 1938; Boas an McFarland, 21. März 1938, PCFB. 65 Boas an Melville Herskovits, 12. September 1934, PCFB; Boas: Berichtsentwurf zu Projekt 2, 26, 76 (Boas), 91 (Klineberg), [Ende 1934], CUA, CRSS, Ser. III., Box 5,
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eine Untersuchung des emigrierten Goetheforschers Karl Georg Wendriner, der den jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur zwischen 1750 und 1900 geistesgeschichtlich aufarbeitete. Das 1935 abgeschlossene Typoskript reichte von Moses Mendelssohn bis Max Liebermann, handelte von Kunst, Geistes- und Naturwissenschaften und erörterte auch die antisemitischen Äußerungen deutscher Geistesgrößen von den Romantikern bis zu Nietzsche.66 Im Hinblick auf die deutsche Erb- und Rassenpsychologie und die Konjunktur der »Rassencharaktäre« sind jedoch zwei andere Forschungsschwerpunkte hervorzuheben, die sich teils testexperimentell, teils teilnehmend beobachtend mit »personality traits« und »motor habits« beschäftigten. Otto Klineberg setzte in enger Verbindung mit Boas seine psychometrische Arbeit auf dem Gebiet der Persönlichkeitsforschung fort. Sein Projekt »Personality and Race«, das von Oktober 1934 bis Mai 1935 lief, bestand aus zwei Teilstudien, die jeweils den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerkmalen, physischer Konstitution, rassischer bzw. nationaler Herkunft und soziokulturellem Hintergrund in den Blick nahmen.67 Obwohl der Projektantrag den Schwerpunkt auf die vergleichende Untersuchung weißer »high school boys« angelsächsischer, italienischer und jüdischer Herkunft legte, liegen hierfür keine Ergebnisse vor. Die bewilligten Mittel scheinen vor allem in die zweite Teilstudie geflossen zu sein, die sich auf Collegebesucher in verschiedenen New Yorker neighborhoods und Studierende der New York University konzentrierte. Mit einer Bandbreite gängiger Persönlichkeitstests prüften sie Aufrichtigkeit, Beständigkeit, Mut, Wettbewerbsgeist, Suggestibilität, Werte und Meinungen der Probanden, wobei Klineberg betonte, die Tests seien nicht als Maß realer Eigenschaften zu verstehen.68 Die Testergebnisse wurden zum einen nach nordischer, alpiner und mediterraner bzw. jüdischer und nichtjüdischer Rassezugehörigkeit der Testpersonen, zum anderen nach Bildungseinrichtung und (daraus abgeleitet) sozioökonomischem Niveau verglichen. Die angekündigte MonograFolder 11. Angedacht war auch der Versuch, in der Zeitschrift Look Abbildungen verschiedener jüdischer »Typen« zu veröffentlichen und Leser einschätzen zu lassen, bei welchen der Abgebildeten es sich um Juden handele. Das ergibt sich aus: David Efrón an Boas, 24. Juli 1938, PCFB. 66 Wendriner an Boas, 30. Januar 1935; Boas an Felix Warburg, 15. Juli 1935, PCFB. 67 Secretary [des CRSS] an Klineberg, 1. Mai 1934, CUA, CRSS, Ser. III, Box 11, Folder 5; Boas an L. C. Dunn, Robert McIver, Albert Poffenberger, 8. Juni 1934, PCFB; Klineberg an Howard McBain, 6. Dezember 1934, CUA, CRSS, Ser. III, Box 9, Folder 2. 68 Klineberg: To the Columbia University Council for Research in the Social Sciences [Projektantrag »Personality and Race«], CUA, CRSS, Ser. III, Box 11, Folder 5.
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phie, welche die Irrelevanz des »rassischen« Faktors hätte berichten können, erschien wiederum nicht. Die Resultate wurden nur knapp in Werken von befreundeten Kollegen zusammengefasst, in Anne Anastasis Differential Psychology und der Experimental Social Psychology von Murphy/Murphy/Newcomb, 1940 auch in Klinebergs Social Psychology.69 Aus diesem Projekt scheint jedoch ein Aufsatz hervorgegangen zu sein, der einen »deutschen« Aspekt hatte, insofern er nach dem Zusammenhang von Persönlichkeitsmerkmalen mit den Kretschmerschen Konstitutionstypen fragte, die Klineberg während seines ersten EuropaAufenthaltes 1928/29 vor Ort in Marburg kennen gelernt hatte.70 In den USA war Kretschmers Typenlehre bekannt, stieß bei Psychologen aber überwiegend auf Skepsis.71 Auch diese Studie kam zu dem Ergebnis, dass sich in der psychisch gesunden Normalbevölkerung keine Korrelation zwischen pyknischem bzw. leptosomem Körperbau und cyclothymem bzw. schizothymem Persönlichkeitstypus herstellen lasse.72 Statistisch signifikante Zusammenhänge gebe es dagegen zwischen dem Verhalten und der Art der besuchten Bildungseinrichtung. Auch Klinebergs anschließendes Projekt, das nicht unmittelbar Teil von Boas’ wissenschaftlichen Kampagne war, lässt sich als Antwort auf die deutsche Rassenseelenkunde verstehen und gehört daher in diesen Kontext. Klineberg hatte schon 1930 das Interesse formuliert, die Kulturgebundenheit des emotionalen Ausdrucks zu untersuchen.73 Im Sommer 1933 verbrachte er zwei explo69 Klineberg: [Projektbericht »Project No. 91 Personality as Related to Race and Physical Type«], [Oktober 1938], CUA, CRSS, Ser. III, Box 11, Folder 5; ders.: Social Psychology, S. 305-306, 315. Angekündigt als Otto Klineberg/Harriet Fjeld/John P. Foley: An experimental study of personality differences among constitutional, »racial,« and cultural groups, in Anastasi: Differential Psychology, S. 251; Murphy/ Murphy/Newcomb: Experimental Social Psychology, S. 58 (nach Anastasi). Anastasi war mit dem Projektmitarbeiter John P. Foley verheiratet, vgl. Hogan: Anne Anastasi, S. 266-267. Vgl. auch Boas: Mind of Primitive Man (1938), S. 128. 70 RAC, Rockefeller Foundation, Fellowship Recorder Cards: Otto Klineberg, card 2. Vgl. zudem seine Rezensionen deutscher Charakterologen: Klineberg: Rez. Welkisch; ders.: Rez. Ziehen und Klages. 71 Vgl. Kretschmer: Physique and Character; ders.: Psychology of the Men of Genius; Klüver: Typological Method; Garrett/Schneck: Psychological Tests, Part One, S. 5-6; Farber: Critique; positiv Schwesinger: Heredity, S. 364-367; vgl. Tracy: Evolving Science, S. 172. 72 Klineberg/Asch/Block: Experimental Study; vgl. auch Klineberg: Race Differences, S. 61-66. 73 Klineberg an Boas, 16. April 1930, PCFB.
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rative Monate in Mexiko, jedoch zerschlug sich ein längerer Forschungsaufenthalt.74 Erst Ende 1935 konnte er mit einem Guggenheim Fellowship für ein Jahr nach China reisen, um dort »emotional expression« zu untersuchen: »do research on what was alleged to be Chinese inscrutability. Do we find the Chinese inscrutable because their faces show so little, or because what they do show, they show differently? Is there less expression or different kind of expression?«75 Über seine Pekinger Arbeit sind, da sie Fragment blieb, nur Bruchstücke bekannt.76 Klineberg beschäftigte sich mit der Anatomie des chinesischen Gesichts, mit physiognomischer Literatur und literarischen Darstellungen des emotionalen Ausdrucks, setzte Fotografien, Filmaufnahmen, Fragebögen und Interviews sowie Experimente ein, die er im psychologischen Labor der Yenching Universität durchführte, wo der in den USA ausgebildete Psychologe Luh Chih Wie tätig war. Wie anfangs in New Orleans arbeitete er auch mit psychiatrischem Material, »case studies of Chinese psychotics illustrating both causes and mechanisms of mental disorder in China«.77 Sein Verbindungsmann war der Amerikaner R. C. Lyman, der am Peking Union Medical College die erste Generation chinesischer Psychiater ausbildete.78 Auf der Rückreise plante Klineberg, weitere Tests in Japan zu machen. Ein zentraler Bestandteil wäre jedoch der die Erhebung von amerikanischem Vergleichsmaterial gewesen.79 In China erstellte Klineberg in Boas’ Auftrag zudem filmische »samples of gestures and motor habits to add to your collection«, etwa zur Handhabung von Werkzeugen oder zur Gehgeschwindigkeit beim Tragen verschieden schwerer Lasten. 80 Denn Boas interessierte sich schon seit der Jahrhundertwende für »motor habits«, verinnerlichte Bewegungsmuster, etwa in der indigenen Kunst und im Tanz.81 1920 fragte der Musikethnologe Erich von Hornborstel nach Methoden, die Bewegungsstile verschiedener Rassen zu unterscheiden.82 Boas
74 Klineberg: Notes on the Huichol. 75 So in einem autobiographischen Text von 1974: Klineberg: Otto Klineberg, S. 173. 76 Nach eigener Aussage musste er die Datenerhebung aus politischen Gründen frühzeitig abbrechen, vgl. Klineberg: Reflections, S. 43. 77 Klineberg an Boas, 9. Februar 1936; an Boas, 16. November 1935, PCFB; ders.: Emotional Expressions in Chinese Literature: ders.: Social Psychology, S. 171-172 78 Vgl. Kleinman: Social Origins, S. 6-8. 79 Klineberg an Boas, 14. März 1936, PCFB. 80 Klineberg an Boas, 16. November 1935 und 9. Februar 1936; Boas an Klineberg, 17. September 1935, PCFB. 81 Vgl. Boas: On Certain Songs and Dances, sowie Jonaitis (Hg.): Wealth of Thought. 82 Hornborstel an Boas, 13. Juli 1920, PCFB.
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sprach sich in seiner Antwort natürlich gegen die Existenz motorischer Rassemerkmale aus. Mögliche Untersuchungsfelder sah er dagegen in der kulturellen Prägung sprachlicher Artikulation und »gesture language«: I have never published anything about the problem of motor habits of different races, because I have never been able to get material that is really adequate for stating the problem clearly. I always talk about it in my lectures and try to direct the attention of psychologists to it, but so far nothing has happened.83
Innerhalb der boasianischen Anthropologie verfolgten zunächst die Ethnologen die Frage motorischer Differenzen. Den Anfang machte im Ersten Weltkrieg der Deutsch-Amerikaner Hermann K. Haeberlin, der zeitweilig Boas’ größte Nachwuchshoffnung war, aber schon 1919 an Diabetes starb.84 Er studierte bei Karl Lamprecht, Wilhelm Wundt und Felix von Luschan und hatte, mit kritischer Haltung, die deutsche Debatte um »Stil« im Gepäck, als er 1914 nach New York kam.85 In seinen Arbeiten zur decorative art der Nordwestküste plädierte er für eine Kombination von empirischer Strukturanalyse und intuitiven Verfahren, um den Stil einer Gruppe und die individuelle »Handschrift« eines Künstlers zu erfassen. Früher oder später stoße der Beobachter auf formale Beziehungen, »which can only be ›felt‹ and to which the student of art can only call attention in order that others may experience them. […] It must be ›nacherlebt‹«.86 In den zwanziger und dreißiger Jahren beschäftigten sich vor allem Ruth Bunzel, Gladys Reichard und Gene Weltfish mit dem Verhältnis von Stil und individueller Kreativität in primitiven Kunsthandwerken wie dem Korbflechten, Weben und Töpfern. Dabei spielten Arbeitsrhythmen und Bewegungsabläufe eine zentrale Rolle. Als Kulturhermeneutikerinnen suchten sie die Einfühlung in die Erfahrungswelt der Navajo-Weberinnen und Pueblo-Töpferinnen, indem sie selbst die entsprechenden Techniken erlernten. In ihren wissenschaftlichen Texten arbeiteten sie mit subjektivierenden oder semifiktionalen Elementen.87
83 Boas an Hornborstel, 3. August 1920, PCFB. 84 Vgl. Miller: Regaining Dr. Herman Haeberlin. 85 Zur Stildebatte vgl. Kaufmann: »Primitivismus«. 86 Haeberlin: Principles of Esthetic Form, S. 262-263. 87 Bunzel: Pueblo Potter; Weltfish: The Relation of Practice and Style in Primitive Decorative Art, [Projektbericht Januar 1933]; dies: The Interrelation of Style and Motive in Decorative Art, Projektbericht Dezember 1933, beide CUA, CRH, Ser. II, Box 4, Folder 3 und 5; Reichard: Spider Woman. Vgl. Tedlock: From Participant Observation; Frazer: Genre, Methodology and Feminist Practice.
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Von zu solchen ethnopoetics waren die messenden Arbeiten zu »motor habits« nun weit entfernt, auch wenn sie nicht völlig ohne synthetische Gesamteindrücke auskamen. Eine kleinere Untersuchung übernahm 1934 John P. Foley, der schon in Klinebergs Persönlichkeitsstudie mitgewirkt hatte. Sie war eine direkte Antwort auf Ida Frischeisen-Köhlers Persönliches Tempo. Foley präsentierte seine Ergebnisse ausdrücklich als Widerlegung ihrer Annahme erblicher, stabiler Tempopräferenzen.88 Er untersuchte Auszubildende in verschiedenen Berufsgruppen – Sekretärinnen, Maschinen- und Handnäherinnen, Kosmetikerinnen, Haushälterinnen –, die jeweils einer typischen Arbeitsmotorik unterworfen waren, auf ihr bevorzugtes Tempo hin. Er kam zu dem Ergebnis, dass Frauen, deren Arbeit schnelle, repetitive, präzise Bewegungen erforderten, auch ein schnelles Tempo bevorzugten, gleiches galt umgekehrt für die »langsamen« Berufe, was seiner Ansicht nach gegen idiosynkratisch ausgebildete Präferenzen sprach. Anders als Frischeisen-Köhler gruppierte Foley sein Probandensample auch nach »races« (»Italian, Negro, Jewish, Irish, German«). Es ergab sich keine Korrelation zwischen »Rasse« und Tempo – abgesehen von den deutschstämmigen Frauen, die überwiegend in »schnellen« Berufen anzutreffen waren.89 Dass Rassenseelenkundler diese Korrelation als Selektion gedeutet hätten, die fleißige Deutsche schnelle Berufe wählen ließ, erörterte Foley jedoch nicht.90 Das Kernstück der anticharakterologischen Offensive war eine Studie zur Körpermotorik, die der Argentinier David Efrón von Ende 1933 bis 1937 durchführte, ab 1936 unter Mitarbeit von Foley, dessen Tempo-Projekt nicht verlängert wurde, und des Zeichners Stuyvesant Van Veen.91 Boas schätzte Efrón nicht nur, weil er selbständig arbeitete und »ingenious in finding new approaches« sei.92 Er war auch ein dezidierter Antifaschist und politischer Aktivist, der sich wie er selbst unter anderem gegen den spanischen Franquismus engagierte. Zunächst hatte Efrón vor, den Zusammenhang von Gesichtsanatomie, Muskel- und 88 In Boas: Bericht zu Projekt 26 (ca. Mai/Juni 1936), CUA, CRSS, Ser. III, Box 6, Folder 15, wird diese Verbindung namentlich nicht hergestellt, vgl. aber Boas an Stern, 30. Oktober 1934, PCFB, und ders.: Mind of Primitive Man (1938), S. 124; Foley: Factors Conditioning, S. 379-381; ders.: Experimental Study, S. 39. 89 Foley: Experimental Study, S. 32. 90 Vgl. auch den Einwand von Klineberg: Social Psychology, S. 305, Foley habe Selektionsmechanismen nicht abschließend widerlegt. 91 Zunächst bearbeitete Efrón die Teilstudie Kriminalität, vgl. Boas an Wolfgang S. Schwabacher, 2. April 1934; an Otto Klineberg, 16. Dezember 1935, PCFB. 92 Boas an Henry Allen Moe, 15. Mai 1935, PCFB; zu Efrón vgl. Ekman: Preface. Das Material dieser Studie liegt in den National Anhropological Archives und den Archives of American Art der Smithsonian Institution.
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Knochenbewegungen in verschiedenen Sprachen und emotionalem Ausdruck zu untersuchen – ein Thema, das Boas gegenüber Hornborstel ja als lohnenden Untersuchungsgegenstand bezeichnet hatte.93 Eine solche Studie hätte auch Ähnlichkeit mit Willy Hellpachs Fränkischem Gesicht gehabt, der »the far-reaching effect of social habits upon physiognomy« nachgewiesen habe.94 Efrón konzentrierte sich dann aber auf die Plastizität der körperlichen Ausdrucksbewegung, das heißt auf Unterschiede des gestischen Repertoires bei knapp 3000 »traditionell« und »assimiliert« lebenden New Yorker Italienern und Juden.95 Auch dieses Projekt richtete sich explizit gegen deutsche Rassenpsychologie, aus Boas’ Sicht insbesondere gegen Clauß.96 Zwar setzte sich Efrón von jeglicher »mento-racist theory of expressive bodily movement« ab.97 Unter den Autoren, die er auf den ersten 20 Seiten seines Buches paraphrasiert, sind auch Franzosen, Spanier, Engländer und Amerikaner. Jedoch bilden die ausdruckspsychologischen Theoreme von Günther, Lenz, Clauß und Ott(o)mar Rutz seine Hauptangriffsfläche. Allen bescheinigt er das vollständige Fehlen empirischer Beweise und Unwissenschaftlichkeit.98 Der synthetischen »Schau« des psychologischen Rassetypus setzte Efrón eine Analyse verschiedener Gebärdenmuster entgegen. Innovativ war dabei weniger das Argument der Verhaltensplastizität als die eingesetzten Methoden. Die Datenerhebungen fanden in sozialen Alltagssituationen statt, etwa auf öffentlichen Plätzen, in Parks und Sportstadien, bei politischen Versammlungen, in Restaurants, Clubs und Theatern. Anders als in Foleys Tempoexperiment ging es hier um spontanes Verhalten. Efróns Team fixierte seine stadtethnologischen Beobachtungen schriftlich in Feldnotizen und Skizzen.99 Weitere Informationen holten sie sich bei der historische Gestenkunde, bei Schauspielern, Tänzern und 93 Efrón an Boas, 12. April 1933; Boas an Hornborstel, 1920, PCFB. 94 Boas: Question of Racial Purity, S. 166. 95 Boas an Philip M. Hayden, 27. Oktober 1938, CUA, CRSS, Ser. III., Box 6, Folder 15; Efrón: Gesture and Environment; vgl. Ruby: Picturing culture, S. 62-64. Foley machte darüber hinaus eine Studie zu »posture, walking and other motor habits«, die aber nicht veröffentlicht wurde, vgl. Efrón an Boas, 5. August 1936, PCFB; Efrón/ Foley: Gestural Behavior, S. 153, Boas: Mind of Primitive Man (1938), S. 124. 96 Boas: Mind of Primitive Man (1938), S. 125. Clauß’ Rasse und Seele hatte Boas 1926 bei seinem Berliner Buchhändler bestellt, vgl. Rechnung der Firma Gsellius vom 10. Januar 1927, PCFB. 97 Efrón: Gesture and Environment, S. 30. 98 Ebd., S. 37; vgl. Efrón an Boas, 24. Juli 1938, PCFB; Rutz: Ausdruck des Menschen; ders.: Grundlagen einer psychologischen Rassenkunde. 99 Etwa Van Veen an Boas, [Juli 1935], PCFB; vgl. Ruby: Picturing Culture, S. 63
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Pantomimen (darunter ein Schüler des Ausdruckstänzers Rudolf von Laban) und beim Leiter des Experimentalpsychologischen Labors der Universität Neapel.100 Zudem gab es, auf Boas’ Anregung hin, Filmaufnahmen. 1930 hatte Boas im Feld bei den Kwakwaka'wakw erstmals mit Filmmaterial gearbeitet, um Tänze aufzunehmen. Die benötigten Geräte hatte er in Deutschland gekauft.101 Ethnographisches Material in bewegten Bildern festzuhalten, war technisch avanciert, lag aber auch auf der Hand. Zur selben Zeit arbeitete etwa der Wiener Psychologe Karl Bühler daran, die neuen Aufzeichnungstechniken Grammophon und Film für die Ausdrucksforschung nutzbar zu machen.102 Efrón wählte den Ansatz, den Film in seine Einzelbilder zurückzuverwandeln, um den Bewegungsfluss in Etappen zu zerlegen. Er projizierte »one film after another of the moving picture film upon the same sheet and mark[s] the curve of the movements of various parts of the body, particularly arm and elbow«.103 Mit dieser Vielfalt an Techniken näherte sich das Team aus Süditalien stammenden Bewohnern von Little Italy sowie litauischen und polnischen Juden im East Side Ghetto, in beiden Fällen identifiziert durch die von ihnen gesprochenen Dialekte.104 Die zerlegten Bewegungsabläufe systematisierte Efrón im Hinblick auf zwei Aspekte. Die raumzeitliche Analyse erfasste Form, Radius und Körperebene der Bewegung, die eingesetzten Körperteile, Tempo und Bewegungsfluss.105 Die linguistische Analyse untersuchte Gestik als »Sprache« in Bezug auf Interaktion und mögliche Symbolgehalte. Auf diese Weise arbeitete er zwei klar unterschiedene Muster heraus. Die »traditionelle« italienische Gestik zeichnete sich durch synergetische, symmetrische Armbewegungen aus, die von der Schulter ausgehend raumgreifend, zentrifugal und kontinuierlich verliefen. Auf inhaltlicher Ebene bezeichnete Efrón die italienische Gestik als »physiographisch«, das heißt sie verbildlichte häufig Objekte und andere Sachverhalte, auf 100 Vgl. Exzerpt in APS, FBP, PP, Papers, Gestures; Macari: Report on Method [Februar 1935], Giuseppe Prezzolini an Cesare Colucci, 4. Februar 1935, PCFB; Efrón: Gesture and Environment, S. 106-197. 101 Boas an eines seiner Kinder, 29. August 1930, APS, FBP, PP, Correspondence, Box 1929. Vgl. dazu Ruby: Franz Boas; ders.: Picturing Culture, S. 54-63; http://www. burkemuseum.org/bhc/projects_boas [Zugriff 12. August 2013]. Als Beispiel für die Vorgehensweise: Efrón an Boas, 5. und 28. August 1936, PCFB. 102 Bühler: Ausdruckstheorie, S. 1; Bühler an Boas, 21. September 1935, PCFB; vgl. auch Jacobsen: Charaktertyptische Ausdrucksbewegungen. 103 Boas an Otto Klineberg, 16. Dezember 1935, PCFB; Efrón: Gesture and Environment, S. 66-67. 104 Efrón: Gesture and Environment, S. 65-66. 105 Vgl. Ebd., etwa Abb. 10-12, 14, 16, 37, S. 166-169, 177.
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die sich das Gespräch bezog. Die »traditionelle« jüdische Gestik setzte hingegen Hände, Arme und Kopf in asymmetrischen, abrupten Zickzackbewegungen ein, die vom Ellenbogengelenk ausgingen und sich direkt an das Gegenüber wandten, das zudem häufig berührt wurde. Efrón bezeichnete die jüdische Gestik als »ideographisch«, insofern sie hauptsächlich den Äußerungsprozess selbst untermalte. Bis hierhin hätten sich deutsche Charakterologen vollauf bestätigt gefunden. Efróns von Boas entlehnter Clou bestand natürlich darin, in einem zweiten Schritt »amerikanisierte« Italiener und Juden zu beobachten und festzustellen, dass sich der bei den nicht akkulturierten Samples noch so ausgeprägte Unterschied abgeschliffen und sich beide Gruppen der sparsamen Expressivität angelsächsischer Amerikaner angeglichen hatten. Dagegen betonten zeitgleiche Arbeiten zur Motorik in Deutschland die absolute Unveränderlichkeit des rassischen Typus.106 Aufschlussreich fand Efrón auch die so genannte hybride Gestik, die sich je nach sozialer Situation bei der »traditionellen« oder der »amerikanisierten« Version der eigenen Gruppe bzw. den Repertoires verschiedener ethnischer Gruppen bediente.107 Mit der Rede von Hybriden landete Efrón wieder bei der kulturalistischen Lesart von Reinheit und Mischung. Zwar hob er hervor, mit den aufgezeigten gruppenspezifischen Charakteristika seien nicht etwa Typen, sondern statistische Wahrscheinlichkeiten gemeint.108 Aber seine Korrespondenz mit Boas zeigt deutlich, dass er sich sehr wohl von der Vorstellung eines bestimmten Typus leiten ließ, als er beispielsweise die bekannten Ausflugsziele assimilierter Juden nach filmbarem Material absuchte. In einem Hotel in Saratoga fand er endlich jene »101 % American Jewish upper-middle class of New York city, which has shifted its admiration from the rabbi to the jockey«.109 Auch Van Veens Zeichnungen dienten manches Mal der Überzeichnung, um das Argument der kulturellen Differenz prägnant zu machen. So standen neben den gleichsam versachlichten Körpern der Bewegungsanalyse auch Illustrationen »typischer« Ostjuden und Italiener.110 All diese Einzelergebnisse von der Kriminalität bis zu den »motor-habits« schlugen in dieselbe Kerbe der umweltinduzierten Verhaltensplastizität. Allerdings betrachtete Boas sie nicht als letzte Antwort auf die Behauptungen der Rassenwissenschaft. Vielmehr verstand er diese Projekte als Testballons und Vorarbeiten für ein großes Forschungsvorhaben, das er 1937 bei den außeruni-
106 Etwa Krieger: Rasse, Rhythmus und Schreibinnervation, S. 19. 107 Efrón: Gesture and Environment, S. 154-160. 108 Efrón/Foley: Gestural behavior, S. 155, Anm. 1. 109 Efrón an Boas, 28. August [1936], PCFB. 110 Vgl. Efrón: Gesture and Environment, etwa Abb. 34-36, S. 176-177.
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versitären Förderinstitutionen vorstellen wollte.111 Dieser Plan spricht gegen die Annahme, Boas habe diese Forschungsarbeiten unter Verschluss gehalten, um keine Angriffsflächen zu bieten.112 Zwar lehnte er manche Intervention, etwa eine öffentliche Stellungnahme gegen die Zeitschrift Volk und Rasse, mit dem Hinweis auf seine jüdische Herkunft ab, die ihn als Kritiker kompromittieren könne.113 Wissenschaftliche Ergebnisse hielt er aber nicht zurück. Dies belegen die zahlreiche Veröffentlichungen der Projektmitarbeiter und Boas’ selbst, der sich die Aufmerksamkeit der Leser von Science und Human Biology sowie der medizinischen Direktoren der Lebensversicherer verschaffte.114 Im September 1936 präsentierte er mit Efrón und Foley die Ergebnisse des Gestik-Projekts auf der Jahrestagung der American Psychological Association mit einem Diavortrag.115 Zudem wies Boas in eigenen Veröffentlichungen immer wieder auf die anderen Projekte des Verbundes hin, so auch in der überarbeiteten zweiten Auflage von The Mind of Primitive Man, die 1938 erschien.116 Blieben Ergebnisse unveröffentlicht, lag dies nicht an Boas. Für Wendriners Skript etwa fand sich trotz intensiver Bemühungen kein amerikanischer Verleger.117 Andere Studien erschienen aus diversen Gründen erst Jahre später.118 111 L. C. Dunn an Philip M. Hayden, 18. April 1936, CUA, Department of Anthropology, Ser. I, Box 1, Folder 1; Boas: Bericht zu Projekt 26, [Mai/Juni 1936], CUA, CRSS, Ser. III, Box 6, Folder 15. 112 Vgl. Schmuhl: Feindberührung, S. 206; Lipphardt: »Investigation of Biological Changes«, S. 178-179. 113 Vgl. Weidenreich an Boas, 18. August 1934; Boas an Weidenreich, 12. September 1934, an Elliot Smith, 5./6. September 1934, PCFB. 114 Boas: Studies in Growth II (1933); ders.: Studies in Growth III (1935); ders.: Tempo of Growth in Fraternities (1935); ders.: Effects of American Environment (1936); Age Changes and Secular Changes (1940); Für die Rezeption in der Presse vgl. etwa o. A.: Are People Getting Bigger All The Time?; vgl. auch Barkan: Mobilizing Scientists, S. 184. 115 Boas/Efrón/Foley: Comparative Investigation. 116 Boas: Effects of American Environment, S. 524-525; ders.: Mind of Primitive Man (1938), S. 124-128. 117 Boas an Earle H. Balch, 23. Mai 1938; an Waldemar Kaempffert, 26. Mai 1938; an Paul G. Tomlinson, 5. Dezember 1938; an Sidney Wallach, 24. April 1939, an New York Foundation, 25. Mai 1939, an Harry Schneiderman, 25. September 1939, an Thomas Mann, 16. April 1940, an Solomon Grayzel, 7. Juni und 19. Dezember 1940; Thomas Mann an Boas, 8. Mai 1940, Monroe Deutsch an Boas, 11. Dezember 1939, Lucius N. Littauer Foundation an Boas, 14. März 1940; Israel Matz Foundation an Boas, 11. April 1940; Boas an Richard E. Gutstadt, 16. März 1942, PCFB.
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Darüber hinaus unternahm Boas große Anstrengungen, um die Ergebnisse der Einzelprojekte in die Erwachsenenbildung und die Massenmedien zu tragen.119 Er setzte dabei vor allem auf Efróns Studie, die prägnantes Filmmaterial bot und ihr Argument am Beispiel von Prominenten wie dem New Yorker Bürgermeister Fiorello LaGuardia festmachen konnte. Tatsächlich erzielte sie relativ große Publizität in der Presse.120 Dagegen versuchte Boas vergeblich, bei einem Publikumsverlag eine populäre Ausgabe von Efróns Dissertation unterzubringen, die nach zwei Jahren Schublade erst 1941 stark gekürzt und in unattraktiver Aufmachung erschienen war.121 Ebenso scheiterte der Plan, einen Partner für Produktion und Vertrieb eines educational film zu gewinnen, trotz eines professionelles Treatments und Kontakten, die bis zu Warner Brothers reichten.122 Als 1937 die Finanzierung durch das American Jewish Committee auslief, schlug Boas – ohne Erfolg – eine zweite Projektphase vor, die auch sprachliches Verhalten einbezogen hätte.123 Noch einmal kümmerte er sich in den letzten vier Wochen vor 118 Macari an Boas, 14. Februar 1941, 2. Oktober 1942; Macari: Comparative Study of Intragroup Marriage; Klopfer: Is Inclination to Mental Disease. 119 Boas an Waldemar Kaempffert, 21. März 1935, an Frederick Keppel, 16. November 1936; Marvin Lowenthal an Boas, 18. und 27. April 1938, PCFB. Vgl. dazu Burkholder: Color in the Classroom, Kapitel 2. 120 Boas an Lester Markel, 24. September 1935, an Edmund Kaufman, 2. Oktober 1935; an Frank Thone, 14. September 1936; Robert Minner an Boas, 5. August 1936; Boas an Charles Proffitt, 24. April 1941; an Waldemar Kaempffert, 25. September 1941; Gilbert Seldes an Boas, 20. März 1942, PCFB; Artikel: Bernstein: Racial Gestures Disappear; o. A.: Descent Unimportant in Tracing Gestures; o. A.: American Environment; [Titel unbekannt], in: New York Evening Post, 8. Juli 1937; o. A.: Germans’ Theory of Race Attacked; Kaempffert: Science In The News. 121 Boas an Sidney Wallach, 25. September 1941; an Macmillan Company, 9. Oktober 1941; an Simon and Schuster, 30. Oktober 1941, PCFB. Zur Resonanz vgl. die Rezensionen von Murphy, Stonequist, Klineberg und Tozzer. 122 Gesture and Posture. An Educational Film on the influence of American life on the motor-habits and rest positions of immigrants and their descendants. A study in assimilation. (Tentative Plan), [6. März 1935], und Preliminary Scenario Draft, 6. März 1935, PCFB. Boas an Sidney Wallach, 20. Mai 1935; Edmund I. Kaufman an Boas, 4. und 6. Juni, 2. Oktober 1935, 7. August 1936; Boas an Harry Warner, 30. Juni 1935, an Howard A. Gray, 6. Juli 1936; an George W. Cohen, 20. August und 14. September 1936, an M. B. Silverberg, 23. Oktober 1936; Marvin Lowenthal an Boas, 18. und 27. April 1938, PCFB. 123 Boas an Sidney Wallach, 3. Juni 1937; Harvey Fletcher an Boas, 10. Mai 1937, PCFB.
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seinem Tod intensiv um den Anschub einer Studie, die sich mit den sprachbegleitenden Körperbewegungen zugewanderter und ansässiger Afroamerikaner befassen sollte.124 Gleichzeitig versuchte Boas, die Ergebnisse dieser Studien international sichtbar zu machen und deutsche Wissenschaftler vor Fachkollegen aus anderen Ländern zu konfrontieren. Als Forum bot sich der dritte Internationale Bevölkerungskongress an, der Ende Juli 1937 in Paris stattfinden sollte.125 1935 hatte Boas sich skandalisiert gezeigt, dass Eugen Fischer den zweiten Bevölkerungskongress in Berlin hatte nutzen können, um internationale Zustimmung für die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik zu mobilisieren. 126 Im Vorfeld des Pariser Kongresses bemühte er sich nun intensiv, gegen die Bedenken des Vorbereitungsausschusses, der eine Eskalation befürchtete, ein paper von Wendriner zu platzieren – allerdings vergeblich. Er selbst hielt einen Vortrag mit dem Titel Heredity and environment, in dem er neben den eigenen Entwicklungsforschungen alte und neue Ergebnisse von Otto Klineberg sowie die Studien von Foley, Efrón, Stofflet, Klopfer und Macari präsentierte.127 Als Adressaten seiner Kritik nannte er »the modern race enthusiasts«. Namhaft machte er, sich mehr oder minder scharf abgrenzend, Fritz Lenz, Ida Frischeisen-Köhler und Ludwig Ferdinand Clauß, aber auch prominente Biowissenschaftler wie Ernst Rüdin und Otmar von Verschuer, die unter den Zuhörern waren, durften sich angesprochen fühlen. In Paris gelang es den Gegnern der nationalsozialistischen Rassepolitik aus verschiedenen Ländern erstmals, die deutsche Delegation diskursiv unter Druck zu setzen. Die Fortsetzung folgte ein Jahr später auf dem in Kopenhagen tagenden Internationalen Kongress für Anthropologie und Ethnologie. Melville Herskovits und Otto Klineberg vertraten hier die boasianische Position mit Vorträgen und Diskussionsbeiträgen gegen Fischer und Verschuer.128 Nach der Rückkehr aus Paris ging Boas im Herbst 1937 daran, die nächste Stufe seines antirassistischen Forschungsprogramms zu zünden. Im Anschluss an den Bevölkerungskongress hatten sich in Paris Rassismuskritiker aus verschie124 Boas an Foley, 18. und 22. November 1942, Foley an Boas, 21. November 1942; Boas an Wayne Dennis, 23. November 1942; Dennis an Boas, 8. Dezember 1942; Boas an Efrón, 14. Dezember 1942, PCFB. 125 Zum Folgenden vgl. Barkan: Retreat, S. 326; Kühl: Internationale, S. 131-136, 148151; Weiss: Nazi Symbiosis, S. 204-208. 126 Boas an Livingston Farrand, 12. September 1935, PCFB. 127 Boas: Heredity and environment. 128 Congrès international des sciences anthropologiques, S. 183-186; Herskovits an Boas, 10. August 1938, PCFB; vgl. Barkan: Mobilizing Scientists, S. 195-197; ders.: Retreat, S. 326-328.
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denen Ländern darauf verständigt, bald einen großen internationalen Kongress zu Rassefragen zu abzuhalten, der die »German pseudo-scientifc propaganda« mit einer autoritativen Gegenposition kontern sollte. Vorausgehend und begleitend sollten in den USA und in Europa parallel arbeitende Forschungsinitiativen angestoßen werden, die es sich wiederum zur Aufgabe machten »to explore the whole field of so-called racial behavior«. 129 Boas trommelte eine Planungsgruppe zusammen, die den kontaminierten Begriff »race« bald fallen ließ und als Population Committee bekannt ist.130 Dessen Arbeit kann man als Fortsetzung der 1933/34 begonnenen Forschungsaktivitäten verstehen. In diesem Rahmen wollte Otto Klineberg das Problem der selektiven Migration endlich in größerem Stil angehen, und zwar gemeinsam mit dem Arbeitspsychologen Goodwin Watson, dem Sozialpsychologen Gardner Murphy und dem physischen Anthropologen Harry Shapiro, der die Ergebnisse von Boas’ Immigrantenstudie an Kindern japanischer Einwanderer auf Hawaii bestätigt hatte.131 Kontinuitäten zu Klopfers Untersuchung beinhaltete der Vorschlag des emigrierten deutschen Psychiaters Franz Kallmann, eines ehemaligen Mitarbeiters Ernst Rüdins, die psychische Verfassung von Nachkommen rassisch-nationaler Mischehen zu erforschen. Neue Akzente stellten sich dadurch ein, dass es Boas gelang, eine strategische Allianz mit moderaten hereditarians aufzubauen, insbesondere dem privatgelehrten Reformeugeniker Frederick Osborn.132 Dieser hatte sich in einem 1934 erschienenen Buch zur Bevölkerungsentwicklung bereits positiv auf Boas und Klineberg bezogen und sich auf dem Pariser Kongress gegen die Nachweisbarkeit rassischer Intelligenzunterschiede ausgesprochen.133 »[T]he old class and race biases of eugenics« sah er als Hindernis einer seriösen, wissenschaftlich fundierten Biopolitik an, die ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf »group superiorities«, sondern auf »superior individual stocks« richten müsse, die in allen menschlichen Gruppen zu etwa gleichen Anteilen vorkämen.134 Boas teilte Osborns modifiziertes eugenisches Anliegen zwar nicht, aber es gab eine Grundlage, auf der sich gemeinsam arbeiten ließ. Osborn drängte auch darauf, die Psychogenetikerin Barbara Burks ins Boot zu holen, die in den 1920er Jahren an Lewis Termans Intelligenzstudien mitge129 Boas an Paul Rivet, an Sir Robert Mond, an Morris Waldman, 15. November 1937, PCFB. 130 Vgl. Barkan: Retreat, S. 328-332. 131 Shapiro: Migration and Environment. 132 Vgl. Kevles: In the name, S. 170-175; Barkan: Retreat, S. 274-275; Gillette: Eugenics and the Nature-Nurture Debate, S. 140-146. 133 Osborn/Lorimer: Dynamics of Population; Osborn: Application of measures. 134 Osborn an Boas, 11. Oktober 1937, PCFB.
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arbeitet hatte und mittlerweile in Cold Spring Harbour die psychische Entwicklung von Adoptivkindern erforschte.135 1936 hatte Burks im Rahmen einer Europareise Kollegen in Marburg, Leipzig und Berlin aufgesucht. Ihre Eindrücke hielt sie in einem vertraulichen Bericht fest, den sie offenbar auch Boas zukommen ließ.136 Ihren Aufenthalt in Deutschland beschrieb sie selbst als erhellendes Differenzerlebnis, das ihr unter anderem auch das Erkenntnispotenzial der Kulturanthropologie verdeutlichte: These insights into an authoritarian culture as different from our own in many respects as the cultures of Samoa or New Guinea, really had more stimulus value for me than that of any scientific institution or agency which I visited in Berlin […] For the first time I grasped from within, a point on which cultural anthropologists insist upon – that to be able to identify the dynamic factors in one’s own culture, one must have the experience of living in another culture with which to compare it.137
Ab 1939 leitete Burks das Committee on Displaced Foreign Psychologists der American Psychological Association.138 Zu einer zweiten Margaret Mead wurde sie allerdings nicht. Das deutsche Sterilisationsprogramm hielt sie nach wie vor für gut, und die Projektskizze, die sie 1938 unterbreitete, enthielt die Annahme, die rassische Abstammung von Findelkindern lasse sich anhand physischer Merkmale bestimmen. Nach semantischer Kosmetik, die »race« durch »heredity« ersetzte, war sie 1939 bereit, den Abschnitt zu »racial differences« in ihrem Antrag völlig zu überarbeiten.139 Im Herbst 1938 waren die Diskussionen so weit gediehen, dass die Gruppe unter dem von Otto Klineberg vorgeschlagenen Titel »Studies in the Determination of Population Qualities by Genetic and Environmental Factors« sechs Einzelprojekte bei der Carnegie Institution einreichen konnte, zu deren Trustees Osborn gehörte.140 Im April 1939 wurden Mittel für Kallmann und Boas, pro135 Osborn an Boas, 13. Dezember 1937, 8. Juni und 8. September 1938, PCFB. 136 Abgedruckt in Geuter: Reise. Ende 1937 schickte sie Boas »some of the notes which I assembled on visits to foreign institutions after a fellowship year abroad«, Burks an Boas, 23. Dezember 1937, PCFB. 137 Burks: Into the Third Reich, S. 38. 138 Zu Burks: Barkan: Retreat S. 330-331; Cravens: Triumph S. 258-9; Kevles: In the Name S. 140-141. 139 Burks an Boas, 23. Dezember 1937, 15. Juni 1938, 3. und 14. Oktober 1939; Boas an Burks, 2. November 1938, PCFB. 140 Boas an Keppel, 4. November 1939. Folgende Projekte wurden eingereicht: Otto Klineberg/Goodwin Watson/Gardner Murphy/Harry Shapiro: »The Problem of Se-
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spektiv auch für Burks bewilligt. Kallmann verwandte die Gelder jedoch nicht für das beantragte Vorhaben, sondern führte – mit Boas’ Billigung – seine in Deutschland begonnene Schizophreniegenetik zu Ende. Übrig blieb von dem Paket also nur Boas’ Projekt, das auf seinen Vorschlag hin mit dem ähnlichen Vorhaben von Shapiro zusammengelegt wurde. 141 Diese Gelder flossen vornehmlich in die kombinierte Wachstums- und Intelligenzstudie mit Gertrude Hildreth.142 Im Juni 1940 legte Boas auf Osborns Rat hin den gesamten Antrag nochmals vor. Kallmann und Burks erhielten weitere Förderung, die übrigen Projekte wurden aber wiederum abgelehnt. Darüber hinaus stellte die Institution kriegsbedingt die persönliche Pauschale ein, die Boas zur Fertigstellung laufender Projekte (auch in Ethnologie und Linguistik) seit 1935 erhielt.143 Während die Forschungsmittel schrumpften, waren die anstehenden Aufgaben aus Boas’ Sicht riesig. 1940/41 arbeitete er mit Michelson und Nußbaum daran, die untersuchten Geschwisterschaften in ihren körperlichen und psychischen Eigenschaften ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung setzen.144 Mehrere Jahre Arbeit veranschlagte er auch dafür, das in seinem langen Leben gesammelte Material endlich durch jüngere Leute ausarbeiten zu lassen. Harry Shapiro beantragte Förderung, um mit Boas’ Daten den Zusammenhang von körperlicher und geistiger Reifung weiterzuverfolgen und in eine standardisierte Skala umzusetzen.145 Diese ambitionierten Vorhaben kamen jedoch nicht mehr zum Zug. Das Population Committee, gedacht als druckvoller Einstieg in die finale Klärung erblicher Variation, endete im Diminuendo. Die Bilanz dieser beachtlichen lective Migration«, Franz Boas: »Familial Constitution of Populations«, Franz Kallmann: »Effects of Intermarriage upon the Quality of Population«, Benjamin Malzberg: »Analysis of Racial and National Differences in Relation to Mental Disease«, Harry Shapiro: »A Proposal to Investigate Physical Quality in Human Population«, Barbara Burks: »Problems Considered For Follow-Up of Children Placed in Foster Homes by State Charities Aid Association«. Edward Hootons »Function and Genetic Problems« war nicht ausformuliert, PCFB. 141 Osborn an Boas, 14. April 1939; Keppel an Boas, 28. April 1939; Boas an Keppel, 3. Mai und 12. Juni 1939, PCFB. 142 Boas: Report on Grant, 1. Juni 1940; Boas an Keppel, 10. Juni 1940, PCFB. 143 Boas an Keppel, 10. Juni, 9. und 13. Dezember 1940; an Osborn, 1. November 1940, PCFB. 144 Boas an Philip M. Hayden, 4. März 1940, an Keppel, 4. Oktober 1940, PCFB; Boas an Hayden, 31. März 1941, CUA, CRSS, Ser. III, Box 6, Folder 15. 145 Boas an Hayden, 31. Mai 1940; Harry L. Shapiro: Proposal to Test the Association of Physical and Mental Variation in the Individual; ders. an Boas, 21. Juni 1940, PCFB.
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Aktivitäten, die Boas im Lager seiner ehemaligen Kontrahenten Anerkennung brachte, fällt am Ende merkwürdig dünn aus, wenn man den Rassenaspekt betrachtet – nicht zuletzt, weil im Lauf der Jahre der Gegner abhanden kam. Für entschieden politisierte Forscher wie Boas und Efrón blieb die wissenschaftliche Abgrenzung von deutschen Rassisten wichtig, während sich in ihrem Umfeld ein neuer Konsens herausbildete, der die nationalsozialistische Gesellschaft pathologisierte und damit als Referenzgröße marginalisierte.146 Als sie 1937 erstmals über das Population Committee korrespondierten, empfahl Frederick Osborn, nicht zu sehr auf deutsche Pseudowissenschaft zu fokussieren, »which is already pretty completely discredited in this country«. Im Vordergrund sollten die drängenden Probleme der multirassischen amerikanischen Gesellschaft stehen.147 Ähnlich argumentierten einige Rezensenten von Efróns Gesture and Environment. Gardner Murphy bedauerte, dass er sich überhaupt auf die Trivialitäten der rassischen Ausdruckskunde einließ, da seine bahnbrechende Studie doch für sich stehe. Der mit Robert Park assoziierte Soziologe Everett Stonequist sah das innovative Potenzial eher in der Methode als in den Ergebnissen, aber auch er befand die Hypothesen des Rassendeterminismus keiner Widerlegung mehr für würdig.148 Die boasianische Kritik nordischer Rassentheorien, in den frühen 1920er Jahren noch eine Außenseiterposition, war in den social sciences Allgemeinwissen geworden. Die Dialektik des Erfolgs brachte es mit sich, dass sich der Informationswert der späten boasianischen Arbeiten in dem Maß abschwächte, wie die Unwissenschaftlichkeit eines »extremen« Rassismus Evidenz erlangte. Boas blieb in den Kampf mit einem Gegner vertieft, den andere für längst geschlagen hielten.
Ferne Echos: Deutscher Kulturalismus und amerikanische Psychometriekritik Auf der anderen Seite des Atlantiks kamen die neuen Ergebnisse boasianischer Psychologie nur noch tröpfelnd an.149 War schon unter günstigen Bedingungen
146 Vgl. etwa Baker: Recent Trends in the Nordic Doctrine; kritisch dazu Klineberg: Science of National Character, S. 154-156. 147 Osborn an Boas, 11. Oktober 1937, PCFB. 148 Murphy: Rez. Efrón, S. 268; Stonequist: Rez. Efrón, S. 279. 149 Vgl. Hinweise auf Klinebergs Negro Intelligence: Anthr Anz 12 (1935/36) 3/4, S. 206; Anthr Anz 13 (1936/37) 3/4, S. 190, und Race Differences: Anthr Anz 13 (1936/37) 3/4, S. 165. Anthr Anz 14 (1937/38) 2, S. 118 verwies indirekt auf einen
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die Rezeption zäh verlaufen, erschwerte sie sich weiter in der Zeit des Nationalsozialismus.150 In Einzelfällen fand sie aber statt, und wenn sie auch nicht von Transfer im Sinne einer Aneignung boasianischer Positionen zeugte, so zeigt sie doch interessante Parallelen in einer kontroversen Konstellation: Es prallten zwei Versionen des Kulturrelativismus aufeinander. In Deutschland standen weiterhin rassenaffirmative Texte wie das Army Testing, Davenport/Staggerda und die Arbeiten von Stanley Porteus hoch im Kurs. Die wichtigste Referenz der amerikanischen Psychometriekritik war Thomas Garths Race Psychology.151 Neben Garth, Newman-Freemans Zwillingsforschung und Schwesingers Heredity and Environment152 gehörten Klinebergs Arbeiten zu den wenigen kritischen Studien, die deutsche Rassenpsychologen überhaupt rezipierten. »Zwischen Stil und Test, Clauß und Garth, wird eine gewisse Kluft immer bleiben«, fasste der Breslauer Anthropologe Egon von Eickstedt 1936 zusammen.153 Diese Kluft war auf deutscher Seite jedoch bewohnt von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, die es anders als Clauß für nötig hielten, die aktuelle Entwicklung der amerikanischen Psychometrie wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Im Oktober 1935 erschien ein Forschungsüberblick des Pädagogen Jürgen Brake in der Zeitschrift Die Erziehung. Brake war Assistent bei Hermann Nohl, der völkisch und rassisch orientiert war, 1937 aber entlassen wurde.154 In Brakes Literaturverzeichnis finden sich – allerdings ohne Referenzen im Fließtext – unter anderem Boas’ Rasse und Kultur von 1932, die dritte Auflage von Hertz’ Vortrag von Boas: L’influenza dell’ambiente su la differente maniera die gesticolare nelle differente razzi, in: L’Universo 17 (1936) 12, S. 930-931, Anthr Anz 15 (1938/39) 1, S. 30, nannte Foleys Aufsatz: Factors Conditioning Motor Speed. 150 Vgl. Gerndt (Hg.): Volkskunde und Nationalsozialismus; Fischer: Völkerkunde im Nationalsozialismus; Hauschild (Hg.): Lebenslust und Fremdenfurcht; Streck (Hg.): Ethnologie und Nationalsozialismus; ders.: Deutsche Völkerkunde 151 Brake: Forschungsstand der Rassenpsychologie, S. 36 (fälschlich »Harth«); Petermann: Problem der Rassenseele, S. 39-53; ders.: Wider die vorgebliche Überwindung; Eickstedt: Grundlagen der Rassenpsychologie, S. 22, 73, 124, 153; Cehak: Über das psychomotorische Tempo, S. 53; Preuß: Erforschbarkeit der Rassenseele, S. 76; Keiter: Rasse und Kultur, Bd. 2, S. 306; Fischer: Rasse und Vererbung geistiger Eigenschaften, S. 5; Gottschaldt: Erbpsychologie der Elementarfunktionen, S. 519-520; ders.: Statistik in der Psychologie, S. 395; ders.: Psychologische Probleme, S. 162. 152 Petermann: Rez. Schwesinger; Huth: Rez. Schwesinger; positiv noch Tietze: Rez. Schieffelin/Schwesinger. 153 Eickstedt: Grundlagen der Rassenpsychologie, S. 124. 154 Vgl. Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene, S. 119.
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Rasse und Kultur, Garths Race Psychology und Erich Voegelins Rasse und Staat. Exemplarisch lassen sich folgende, bei anderen Autoren wiederkehrende Argumente aus Brakes prägnant formuliertem Text herausfiltern: 1) Exakt messende Methoden können isolierte Fähigkeiten und elementare Funktionen wie Wahrnehmung und Denken erfassen, nicht aber die komplexen Lebensantriebe der Rassen. Dennoch zeigen Tests zuverlässig »typische Unterschiedstendenzen für die Begabungen der einzelnen Rassen« an, etwa Intelligenzunterschiede zwischen den Großrassen und den europäischen Unterrassen.155 Hieran ist die Unterstellung geknüpft, Kritiker der Rassenpsychologie leugneten, dass typische Verhaltensunterschiede zwischen Gruppen beobachtet werden können. 2) In Spannung dazu steht der bereits bei Jaensch, Clauß und auch Lenz vorgebrachte Einwand, die den Intelligenztests zugrundeliegenden Maßstäbe seien nicht objektiv, sondern kulturell voreingenommen zugunsten westlicher Rationalität: Man vergleicht also in Wirklichkeit verschiedenartige Funktionstypen unter einseitigen und ungleichartigen Bedingungen miteinander. Die einen sind dem gewählten Maßstab relativ angepaßt, die anderen sind weniger auf ihn zugeschnitten, und dementsprechend ist ihre Leistung, die ja das feste Maß des Vergleichs sein soll, in jedem Fall eine verschiedene.156
Ergebnisse vergleichender Intelligenztests sind banal, da sie nur Unterschiedlichkeit zeigen, das Wesen der Unterschiede aber nicht erhellen. 3) Banal ist auch der Verweis auf Umwelteinflüsse, da Phänotypen immer Umweltprodukte sind. 4) Die USA sind als multirassisches Land besonders geeignet, um die Brauchbarkeit metrischer Methoden zu überprüfen. Allerdings trete »das Paradoxe ein, daß die Rassenpsychologie, deren Axiom gerade die Verschiedenartigkeit der Menschen ist, in ihrem Bewußtsein von der Eigenart der Menschen nicht radikal genug ist«. Die amerikanische Psychologie ignoriere, dass es bei Rassen um »Artverschiedenes« und nicht bloß »Gradverschiedenes« gehe.157 Die deutsche Seelenschau fragt nach inkommensurablen Qualitäten, der amerikanische Test folgt der quantitativen Logik der Einheitsskala. 5) Der dürftige, dem Potenzial der Rassenpsychologie nicht entsprechende Forschungsstand ist durch die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften 155 Brake: Forschungsstand der Rassenpsychologie, S. 12. 156 Ebd., S. 13-14. 157 Ebd., S. 14.
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bedingt und muss durch Kooperation bzw. Integration der beiden Wissenssysteme überwunden werden. Eine erwähnenswerte Variante dieses Deutungsmusters bot Egon von Eickstedt. Seine Breslauer Schule der Ganzheitsanthropologie hielt Kultur und Psyche für biologisch determiniert, verstand sich aber als Gegenprogramm zur genetischen Anthropologie.158 Lebensferne Reduktion führe dazu, »daß die analysierenden Formen der biologischen Erbforschung, also des sogenannten Mendelismus mit seinem ausgebreiteten Theorienbestand, an der Beweglichkeit und Vielgestaltigkeit der psychischen Erscheinungen meist Schiffbruch erleidet«.159 Der Komplexität und Dynamik psychischer Phänomene versprach Eickstedt mit der »gesicherten Typenschau« gerecht zu werden, der auf Begabung beruhenden intuitiven, biometrisch abgesicherten Erfassung rassischer Typen.160 Als Forum diente ihm unter anderem seine ab 1935 erscheinende Zeitschrift für Rassenkunde, die Boas’ Kontaktmann beim American Jewish Committee als vergleichsweise harmlos einstufte.161 Eickstedt bemühte sich um Anschluss an die internationale Diskussion, so dass anfangs kurze Originalartikel von race psychologists wie Garth, Davenport und Staggerda erschienen und stärker als in anderen Zeitschriften ausländische Literatur angezeigt und besprochen wurde, darunter Otto Klinebergs Negro Intelligence und Race Differences.162 Anfang der 1940er Jahre bezeichnete Eickstedt Intelligenztests als überschätzt, aber nützlich, weil sie zumindest die Tatsache von Unterschieden klar zum Ausdruck brächten, wobei die Frage »Erbe oder Umwelt« nebensächlich sei. Afroamerikaner hätten in allen Tests »sehr schlecht gegen alle anderen Rassen ab[geschnitten], möge das nun an der Testanordnung oder der Negerseele liege. Jedenfalls steht die geringe Eignung des Negers für die intellektuelle Meisterung der europäischen Kulturform außer Frage. Das ist nicht die ihre«.163 158 Vgl. Grosse: Kolonialismus: S. 80-81; Preuß: »Anthropologe und Forschungsreisender«, S. 185-186, 193-197. 159 Eickstedt: Grundlagen der Rassenpsychologie, S. 132-133. 160 Vgl. Preuß: »Anthropologe und Forschungsreisender«, S. 204-209. 161 Wallach an Boas, 25. Februar 1935, PCFB. Zur Positionierung der Zeitschrift vgl. Hoßfeld: Geschichte, S. 337-339; Preuß: »Anthropologe und Forschungsreisender«, S. 119-123. 162 Garth: Color Blindness; Davenport: Influence of economic conditions; ders.: Azygos vein; ders.: Genetics of the Japanese; Staggerda: Population study; Eickstedt: Rez. Klineberg: Race differences; ders.: Rez. Morant/Samson: Examination; Schwidetzky: Rez. Franzblau; dies.: Rez. Shapiro. Vgl. auch Klautke: German »Race Psychology«, S. 27. 163 Eickstedt: Träger der afrikanischen Kulturen, S. 134.
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Ausführlicher setzte sich Eickstedt mit Garth erstmals in seinem 1936 erschienenen Buch Grundlagen der Rassenpsychologie auseinander. Er konstatierte einen Zwiespalt von Ergebnis (den manifeste Leistungsunterschiede verschiedener »rassischer« Gruppen) und Urteil (Erblichkeit unbewiesen, Umwelteinflüsse wahrscheinlich): Aber wenn auch nicht in jedem Fall gerade Wertunterschiede, so sind doch eben Unterschiede, und zwar typische Unterschiede der Verhaltensweisen offensichtlich. Man muß daher feststellen, daß der »große Ikonoklast der Experimentalwissenschaften« keineswegs »das stupide Rassenvorurteil« zerschlagen, sondern seine gesunden Grundlagen vielmehr aufgezeigt hat.164
Ohne dass der Begriff fiel, tauchte auch bei Eickstedt die Vorstellung einer »Reaktionsnorm« wieder auf, die dazu führt, dass sich Individuen zu Umwelt in rassetypischer Weise verhalten: Garths Endurteil lautet: Geistige Rassendifferenzen sind zeitliche Entwicklungsdifferenzen. Das ist letzten Endes der gleiche Schluß wie bei Boas. Wirksam werden hier nur Umwelt und geistige Spannweite, nicht die Unterschiede der Rassenseele. Die geistigen und physiologischen Fähigkeiten als solche sind nun allerdings der ganzen Menschheit gegeben […]. Aber das rassisch Entscheidende […] ist im seelischen Bereich eben das charakterologische Moment: das Zusammenspiel von Wille, Gefühl und Trieb […]. Das Individuum ist nicht nur ein passives Rezeptakulum für Erlebnisse und Bewußtseinsinhalte, sondern umgekehrt und in erster Linie und viel wichtiger: ein aktiv handelndes, willensstrebiges Wesen mit typischen Verhaltungsweisen und Verhaltenselementen, den Charaktereigenschaften. Und hier sind die rassischen Differenzen augenfällig.165
Befunde, wie sie Thomas Garth oder Peterson und Lanier zugunsten objektiver Umwelteffekte anführten, tat Eickstedt daher als »unklar« und überprüfungsbedürftig ab.166 An Otto Klinebergs Europa-Studie bemängelte er die unzureichende Berücksichtigung von sozialen und Entwicklungsunterschieden in den Samples; so »klingt die Folge Nordisch-Alpin-Mediterran natürlich nur schattenhaft durch«.167 Noch 30 Jahre später arbeitete sich Eickstedt mit außerordentlich intensiver Kenntnis der Literatur an der amerikanischen Psychometriedebatte der 164 Eickstedt: Grundlagen der Rassenpsychologie, S. 119. Woher die Zitate stammen, war nicht aufzuklären. 165 Ebd., S. 22-23. 166 Ebd., S. 118, Anm. 156, S. 119, Anm. 158a. 167 Ebd., S. 122.
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Zwischenkriegszeit ab. Er bezeichnete Garth als Opfer eines »einseitigen Experimentalismus« und Klineberg als rabulistischen »Meister im Wegrechnen«, die beide blind für das Wesentliche seien, die tiefenpsychologischen Antriebe von biologischen Kollektiven.168 Als gelungene fachmännische Widerlegung von Garths conclusio empfahl Eickstedt 1936 das kurz zuvor erschienene Buch zum Problem der Rassenseele von Bruno Petermann.169 Auch der Hamburger Privatdozenten Petermann, ab 1939 Professor für Psychologie in Göttingen, versuchte mehr schlecht als recht, Quantitäten und Qualitäten in eine gemeinsame Linie zu bringen. Petermann hatte seine akademische Laufbahn bei Johannes Wittmann in Kiel begonnen, jenem konservativen Reformpädagogen, der Intelligenzmessungen grundsätzlich ablehnte. Praktische Erfahrung im Kulturvergleich sammelte Petermann 1928/29 als Professor für Psychologie an der Tungchi-Universität in Shanghai. 1936/37 setzte er sich in der erwähnten Monographie und zwei Rezensionen mit Garth und Klineberg auseinander, dessen Study of Psychological Differences er als testpsychologische Pionierstudie auf dem Gebiet der europäischen Unterrassen zur Kenntnis nahm.170 Nachdrücklich wies er Garths Aussage zurück, in der Summe hätten die zahlreichen amerikanischen Tests keinen positiven Beweis für die Erblichkeit von rassischen Intelligenzunterschieden erbracht – wie der Armeetest und Garths eigene Untersuchungen zeigten, sei das Gegenteil der Fall, die »Zahlen reden eine ganz klare Sprache«.171 Garths Hinweis auf Umweltfaktoren trage nicht, da auch für Chinesen und Japaner die »Artfremdheit« der amerikanischen Kultur gelte, diese aber in Intelligenztests deutlich besser abschnitten als Indianer, Mexikaner und Schwarze, womit die rassische Veranlagung verschiedener Intelligenzniveaus bewiesen sei.172 Wenige Seiten nach diesem Bekenntnis zur Zahl hob Petermann zu einer Fundamentalkritik metrischer Methoden an, die nicht in der Lage seien, die eigentlich ausschlaggebende »innere geistige Lebensdynamik« der Rassen zu erfassen.173 Diese Schwäche sah er auch bei Klineberg, dem es nicht gelinge,
168 Eickstedt: Ursprung und Entfaltung der Seele, S. 2244, 2486. 169 Eickstedt: Grundlagen der Rassenpsychologie, S. 120-121. 170 Petermann: Problem der Rassenseele, S. 39, 50. Im Text heißt es durchgängig »Klieneberg« (es gab einen Königsberger Psychiater namens Otto Klieneberger). 171 Ebd., S. 47; ausführlich ders.: Wider die vorgebliche Überwindung. 172 Petermann: Problem der Rassenseele, S. 52. 173 Ebd., S. 56.
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klar die Bedeutungslosigkeit der Rassenmomente für die gemeinsamen seelischen Unterschiedlichkeiten durch unanfechtbare Gegenbefunde zu erweisen. Daß er selbst diese Meinung haben kann, beruht auf […] der Fehlmeinung, dass man Testverfahren und sonstige rein intellektuelle Leistungsbestimmungen absolut setzen dürfe. […] Testpsychologische Verfahren erweisen sich in Wahrheit zu grobschlächtig, als dass sie in unserm Problem wirklich Tieferliegendes zu Tage fördern könnten.174
Nicht nur in den zahlengläubigen USA, auch in der deutschen Rassenlehre seien vermeintliche »›Messungen‹ der seelischen Eigenschaften« bisher vorherrschend gewesen, da psychologische Forschung fast ausschließlich von Anthropologen betrieben werde.175 Diese Distanzierung fand jedoch innerhalb einer symbiotischen Beziehung statt. Petermann stützte sich auf die Ergebnisse der Erbpsychologie, vor allem Ida Frischeisen-Köhlers Arbeiten, um seine geisteswissenschaftliche Psychologie naturwissenschaftlich zu erhärten und ganzheitlich abzurunden.176 Umgekehrt bezogen sich Eugen Fischer und andere auf Petermann, um die Beweislücken ihrer Rassenpsychologie zu schließen.177 Als wegweisend schätzte Petermann trotz Einwänden die Claußsche Ausdruckslehre ein und wiederholte den kulturrelativistischen Einwand gegen die Psychometrie, ihr Begabungsvergleich der Rassen setze einen allgemeingültigen Kulturstandard voraus, obwohl sich in Wahrheit viele, bis auf den Grund unterschiedliche Kulturformen in der Gesamtmenschheit vorfinden, deren jede ihr Gesetz in sich hat und deren jede im Grunde genommen nur aus sich heraus verstanden werden kann, nicht aber aus der rein äußerlichen Messung an einer anderen, sich selbst absolut setzenden. 178
Im Übrigen war Petermann durch einen »deutschschreibende[n] Gegner der Rassenbewegung« auf Garth und Klineberg aufmerksam geworden.179 Gemeint war der Ethnologe Wilhelm Emil Mühlmann, der über die Aktualitäten der race psychology aus erster Hand informiert war. Sein Doktorvater Richard Thurnwald war seit dem Ersten Weltkrieg wiederholt Gastprofessor in den USA und publi174 Petermann: Wege zur Rassenseelenlehre, S. 562-563. 175 Petermann: Problem der Rassenseele, S. 40. 176 Ebd., S. 159-164. 177 Etwa Fischer: Rasse und Vererbung geistiger Eigenschaften, S. 5; Stumpfl: Erbpsychologie, S. 370, 371, 374; Gottschaldt: Erbpsychologie der Elementarfunktionen, S. 520; ders.: Statistik in der Psychologie, S. 395. 178 Petermann: Problem der Rassenseele, S. 58. 179 Ebd., S. 40.
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zierte in führenden amerikanischen Fachzeitschriften. 180 Mühlmann redigierte seit 1931 Thurnwalds Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie, die 1932-1934 unter dem Namen Sociologus als deutsch-amerikanisches Fachblatt erschien. Sein Blick für die Dynamik der amerikanischen Sozialwissenschaften schlug sich unter anderem in Rezensionen von Schriften Margaret Meads, Paul Radins, Melville Herskovits’ und Gregory Batesons nieder.181 Mühlmann hatte Mitte der 1920er Jahre zunächst Anthropologie bei Eugen Fischer, Fritz Lenz, Heinrich Poll, Walter Scheidt und Georg Thilenius studiert und dazu H. F. K. Günther und Ludwig Ferdinand Clauß gelesen. 1928 publizierte er einen Überblicksartikel zur Rassenpsychologie in der eugenischen Zeitschrift Volksaufartung, einen Anfängertext, der die aufsteigende Erbpsychologie als wissenschaftliche Fundierung rassenpsychologischer Gewissheiten begrüßte. Nach dem Wechsel zu Thurnwalds Ethnosoziologie ging Mühlmann in den 1930er Jahren mehrfach auf das »Begabungsproblem« ein, nun aber mit ausgeprägt antibiologischem Akzent. Er bezog sich dabei auf Thurnwalds Modell der sozialen »Siebung«, das dem Konzept einer nur natürlichen Auslese unter Menschen eine Absage erteilte.182 1933 besprach er in einer Sammelrezension Garths Race Psychology, Klinebergs Europa-Studie und Boas’ Anthropology and Modern Life neben Schriften von Reichsbauernführer Walther Darré und Gobineau-Übersetzer Ludwig Schemann. 1936 erschien zunächst ein kurzer Text über das Begabungsproblem bei den Naturvölkern in Eickstedts Zeitschrift für Rassenkunde. Im Herbst hielt Mühlmann auf der Tagung der Gesellschaft für Völkerkunde einen Vortrag zum Problem der rassischen Begabung bei den Naturvölkern, der hauptsächlich die Rassenpsychologie des ansonsten »hoch verehrten« Fritz Lenz auseinandernahm und davor warnte, die »Leistungsfähigkeit der Fremdvölker« zu unterschätzen.183 Zeitgleich kam sein populäres Überblickswerk Rassen- und Völkerkunde heraus, das die differentielle Begabungsdiagnostik ebenso thematisierte wie seine 1938 erschienene Methodik der Völkerkunde. Mühlmann zählte zu jenen Querschlägern des Rassedenkens, die sich ausdrücklich von biologisch-genetischen Erklärungen distanzierten. Dem Natura180 Vgl. Michel: Wilhelm Emil Mühlmann; Petermann: Geschichte der Ethnologie, S. 777-794; Amidon: »Diesmal fehlt die Biologie«, S. 132-133. 181 Mühlmann: Rez. Radin: Social Psychology; ders.: Rez. Mead: Inquiry into the question; ders.: Rez. Melville und Frances Herskovits: Suriname Folkore; ders.: Rez. Bateson: Naven. 182 Thurnwald: Kritik der Gesellschaftsbiologie; vgl. Melk-Koch: Richard Thurnwald und die Siebungstheorie. 183 Mühlmann: Problem der rassischen Begabung, S. 110, 113.
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lismus der Genetiker setzte er den soziologischen Realismus des historisch geformten Kollektivs entgegen. Verhalten im Allgemeinen und Leistungen im Besonderen könnten nur kulturellen Gemeinschaften, nicht aber individuellen Erbanalagen zugerechnet werden.184 In diesem Sinn warf er der Erbpsychologie Romantizismus vor: Die Frage, ob die Rassen der Naturvölker schwächer begabt seien als die europiden Rassen läßt sich nicht beantworten, weil sie falsch gestellt ist. Sie rekurriert auf einen »natürlichen«, nicht-historischen und nicht-sozialen Menschen, den es nicht gibt. Rassenhaft sind die Reaktionsnormen der Völker, denen jeweils auslesende Umweltsysteme (Landschaft, Gesellschaft, Kultur, Geschichte umfassend) zugeordnet sind. Es kommt nicht darauf an, diese »Umweltfaktoren« aus der Anlage der psychologischen Untersuchung möglichst auszuschalten, sondern im Gegenteil aufs stärkste mit heranzuziehen […]. Dadurch gelangen wir zur Herausarbeitung von seelischen Rassenunterschieden, die nicht Gradunterschiede von Begabungen sind, überhaupt nicht »Eigenschaften«, sondern rassische Persönlichkeitszüge.185
So versteige sich Fritz Lenz in eine »nichtsinnvolle Fragestellung«, wenn er im Baur-Fischer-Lenz über die geistige Minderbegabung der »Neger« und anderer Rassen schwadroniere: Für ihn zerfallen die Menschen in Rassen mit quantitativ gestaffelter Begabung. Die einen haben wenig Phantasie, die bringen es zu gar nichts. Die anderen haben etwas mehr, sie erfinden Viehzucht und Pflanzenbau. […] Die Spitze bilden natürlich wir. Und die Umwelt? Aus ihr schlägt der Mensch mehr oder weniger heraus. Phantasielose Menschen schlagen gar nichts heraus, phantasievollere mehr, am meisten natürlich der europäische Mensch.186
Dass er Lenz’ widersprüchliche Rassenpsychologie damit nur teilweise traf, ist eine andere Frage. Festzuhalten ist Mühlmanns Vorwurf, Lenz vertrete unzulässigerweise einen kulturevolutionären Eurozentrismus. Wie erörterte Mühlmann unter diesen Vorzeichen die Ergebnisse der kritischen race psychology? Ein 1947 veröffentlichtes »Tagebuch« der Jahre 1932 bis 1945, das seine innere Distanz zum Nationalsozialismus dokumentieren und
184 Mühlmann: Rassenfragen, S. 327. 185 Mühlmann: Begabungsproblem, S. 90. 186 Mühlmann: Problem der rassischen Begabung, S. 110; vgl. auch ders.: Rez. Baur/Fischer/Lenz: Menschliche Erblehre, S. 78.
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ihn politisch entlasten sollte, enthält unter dem 12. Oktober 1932 einen Eintrag zu Franz Boas’ Kieler Rede Rasse und Kultur. Darin finde sich ein Satz, der die landläufige Rassentheorie aus den Angeln hebt. Es handelt sich um die Feststellung, dass die individuellen Unterschiede innerhalb einer Rasse größer seien als die Unterschiede zwischen den Durchschnitten zweier Rassen. Das ist richtig und unanfechtbar, und es gilt gerade auch für die seelischen Anlagen der Rassen.
Angeblich fühlte sich Mühlmann dadurch veranlasst, »einen kräftigen Vorstoß [zu] unternehmen, um die Ergebnisse der amerikanischen Familiensoziologie und Rassenpsychologie in Deutschland bekannt zu machen«.187 Ähnlich führte er in seiner immer noch viel zitierten Geschichte der Anthropologie von 1948 aus, daß nach den Ergebnissen der ethnographischen und psychologischen Persönlichkeitsforschung die individuellen Unterschiede innerhalb derselben Rasse meist größer sind als die Durchschnittsunterschiede zwischen verschiedenen Rassen, wie Boas betont hat. Damit verringert sich aber der Deutungswert eines Vergleiches der »Mittelwerte« auch auf psychologischem Gebiet erheblich.188
Es ist möglich, dass er Boas’ Rasse und Kultur 1932 rezipierte, auf Klinebergs Arbeiten stieß und darin sein eigenes Anliegen wiedererkannte, Humandiversität soziologisch-historisch zu verstehen. Deutlich ist aber auch, dass die Thematisierung der amerikanischen Psychometriekritik dazu diente, die Borniertheit seiner deutschen Kollegen herauszustreichen. So brüstete er sich damit, 1933 als erster deutscher Autor Garths problematisches, aber wichtiges Buch rezipiert zu haben, obwohl Wilhelm Peters, auf den er sich übrigens durchweg positiv bezog, der Vorreiter gewesen war.189 Ebenso ignorierte er, dass Karl Saller, dessen Intelligenzstudien er für belanglos hielt, schon Ende der zwanziger Jahre die boasianische Psychometrie rezipiert hatte. 190 Sich zur amerikanischen Intelligenzforschung zu verhalten bedeutete nicht zuletzt, sich im noch wenig bestellten heimi-
187 Mühlmann: 13 Jahre, S. 20-21; zum Quellenstatus des »Tagebuchs« vgl. Michel: Wilhelm Emil Mühlmann, S. 106, Anm. 48. 188 Mühlmann: Geschichte, S. 197. Um 1930 warnte Thurnwald ihn, über Boas nicht allzu kritisch zu schreiben, da dieser die Nothilfe für die deutsche Wissenschaft initiiert habe, vgl. Melk-Koch: Suche nach der menschlichen Gesellschaft, S. 274. 189 Mühlmann: Rassen- und Völkerkunde, S. 376. Zu Peters vgl. ders.: ebd., S. 563; ders.: Rassenkunde (1932), S. 309; ders.: Rez. Rasse und Geist. 190 Mühlmann: Rassenkunde (1932), S. 309-310; ders.: Rassenkunde (1933/34), S. 418.
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schen Feld der wissenschaftlichen Rassenpsychologie zu positionieren, auch auf die Gefahr hin, sich Feinde zu machen.191 Als Anthropologe, der zum Ethnosoziologen konvertierte, war Mühlmann in der Lage, Befunde und Einwände der cultural anthropologists zu würdigen, er machte sie sich aber nicht zu Eigen. Seine Anmerkungen zu Boas und Klineberg sind denn auch knapp und kritisch. In Anthropology and Modern Life stelle Boas seine bekannten einseitigen Ansichten dar; wer »aber Auffassungen auszubalancieren versteht, wird auch die vorliegende Schrift mit Interesse lesen«.192 Otto Klineberg, der in seiner Europa-Studie »keine als Rassenunterschiede deutbaren Differenzen« gefunden habe, sei »merkwürdigerweise in der deutschen Rassenliteratur, die sich so viel mit ›Rassenpsychologie‹ befaßt, niemals erwähnt« worden.193 In der Rassen- und Völkerkunde von 1936 führte er Klinebergs Psychological Differences between »Racial« and National Groups in Europe wiederum an, allerdings als Beleg für die Kritik an der Interpretation des Army Screening und an der Mulattenhypothese.194 Klinebergs spätere Veröffentlichungen Negro Intelligence und Race Differences kommentierte Mühlmann nicht mehr; wenn er über Rassenverhältnisse in den USA schrieb, stützte er sich auf den qualitativ soziologischen Ansatz von Edward Reuter.195 Der wichtigste Sparringpartner in der amerikanischen race psychology war für Mühlmann wiederum Garth, dessen Ergebnisse er umfänglich referierte und würdigte, ohne seine Schlussfolgerung zu teilen. Sein wichtigster Einwand betraf die Annahme, Voraussetzung für einen Rassenvergleich seien gleiche Umweltbedingungen, vor allem Bildungschancen und soziale Lage, wie sie Garth in der Formel R1ED ≤ R2ED ausdrückte. Zwar gebe Garth »einwandfreie Belege dafür, daß der IQ durch ungünstige äußere Lage gedrückt werden kann«.196 Das war Mühlmann zufolge aber nicht der springende Punkt: Da Rasse ein Anpassungsprodukt aus Züchtung ist, leben auch zwei in gleicher geographischer Außenwelt befindliche Rassen biologisch und psychisch in verschiedenen Umwel191 Petermann nahm seine denunziatorische Aussage förmlich zurück, vgl. Eickstedt: Rez. Petermann; Petermann: [Richtigstellung]. Unterstützung für Mühlmann auch in: Eickstedt: Rez. Mühlmann: Rassen- und Völkerkunde. Dagegen behinderte Walter Scheidt Mühlmanns Habilitation in Hamburg, vgl. Fischer: Völkerkunde im Nationalsozialismus, S. 36, 170-172; Michel: Wilhelm Emil Mühlmann, S. 77. 192 Mühlmann: Rassenfragen im Schrifttum, S. 332. 193 Ebd., S. 326. 194 Mühlmann: Rassen- und Völkerkunde, S. 382-383, 563. 195 Ebd., S. 498-499, 504-507. 196 Ebd, S. 383.
236 | I NTELLIGENZ UND R ASSE ten. Wenn man eine Vergleichsbasis für zwei Rassen sucht, so kann diese nur die jeweilige optimale Umwelt sein, d. h. die, welche der Rasse die optimale Anpassung und damit optimale kulturelle Leistung ermöglicht.
Problematisch sei nicht, dass in der Testlogik die Umweltverhältnisse zweier Rassen nicht konstant seien, sondern dass rassische Gruppen fast nie in ihren optimalen Umwelten lebten. Ist Rasse wirklich etwas in die Tiefe der Persönlichkeit Gehendes, über Generationen biologisch Gewordenes, so liegt zweifellos die optimale Umwelt und damit der Leistungsmesser z. B. eines Negers nicht in den Vereinigten Staaten (auch nicht bei gehobener sozialer Lage, bester Erziehung usw.), sondern in Afrika, genauer: an einer ganz bestimmten Stelle in Afrika.197
Unter dieser Voraussetzung musste etwa Klinebergs Negro Intelligence als Kratzer an der Oberfläche des Problems erscheinen. Denn auch der Antigenetiker Mühlmann stützte sich auf das biohistorische Narrativ der urgeschichtlichen, biologisch tradierten Primäranpassung an verschiedene Umwelten. Demzufolge konnte es jenes neutrale, objektiv beschreibbare environment nicht geben, von der die amerikanischen Psychometriekritiker redeten, da es keinen allgemeinen Menschen, sondern nur Individuen gebe, die sich aufgrund ihres jeweiligen soziokulturellen Habitus zur Außenwelt auf je spezifische Weise verhielten. Mühlmanns Umweltdeterminismus verortete die »Zukunft einer brauchbaren Rassenpsychologie doch mehr bei der behavioristischen Methode«, die nicht zwischen angeborenem und erworbenem Verhalten unterscheide.198 Anders als die amerikanischen Behavioristen sah er allerdings nicht den planenden Experten, sondern das soziokulturelle Kollektiv als Agenten der Verhaltensmodellierung an. Boas’ Motiv der Variabilität innerhalb einer Gruppe tauchte bei Mühlmann, klassifizierend gewendet, in Hinblick auf die »kulturelle Schöpferkraft eines Volkes« wieder auf. Er bezog sich auf den Ausdruckstheoretiker Ludwig Klages und dessen »Gleichsetzung von Denkvermögen und Ausdrucksvermögen«: Die Begabung ist zu messen am Reichtum eigenartiger Persönlichkeiten. […] Die methodische Konsequenz für die Völkerkunde lautet: Zu fragen ist nach der Spannbreite der Verhaltensmuster. Wie groß ist der Grad der Variation vom »Durchschnitt«, das Maß zugelassener Ausdruckseigenheiten? Die Begabung eines Volkes ist zu beurteilen nach der
197 Mühlmann: Rassenfragen, S. 328. 198 Ebd., S. 329.
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Armut oder Fülle eigenartiger Persönlichkeiten, die sie hervorbringt bzw. zur Äußerung kommen läßt.199
Variation kam hier also nicht als Argument gegen, sondern für Differenzen ins Spiel. Damit schlug Mühlmann wieder Brücken zu jenen Boasianern, die sich mit »primitiver« Individualität und Persönlichkeit beschäftigt hatten, vor allem Paul Radin und, mit Einschränkung, Margaret Mead. Sie hätten gezeigt, dass bei so genannten Naturvölkern dieselbe individuelle Bandbreite an Temperamenten und Charakteren auftreten könne »wie bei uns«.200 Mühlmann wandte sich, wie Clauß, prinzipiell gegen die Anwendung vergleichender Intelligenztests, da sie unausweichlich Tautologien produzierten.201 Er versuchte konsequent qualitativ zu argumentieren, was nicht verhinderte, dass er in der populären Rassen- und Völkerkunde Zugeständnisse an die quantifizierende Psychologie machte.202 In diesem Buch nahm er nun auch zum »Judenproblem« Stellung, das ihn zuvor nicht beschäftigt hatte.203 Nach 1939 gab er in der Frage des wertenden Kulturvergleichs als Zuarbeiter der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik in Osteuropa seine wissenschaftliche Zurückhaltung auf. Er plädierte auch dafür, das Verstehen des kulturell Anderen als Herrschaftstechnik zu begreifen.204 Das verband ihn wiederum mit jenen zahlreichen Boasianern im Dienst des Office of Strategic Services, die durch »national character studies« dazu beitragen wollten, die Kriegsgegner zu besiegen und den Frieden zu sichern.
199 Ebd., S. 224-225. 200 Mühlmann: Methodik der Völkerkunde, S. 218-220, 264-265; ders.: Rez. Radin: Social Psychology, Sp. 660; ders.: Rassen- und Völkerkunde: S. 374, 387-388, 563. 201 Mühlmann: Rassenfragen, S. 223; ders.: Begabungsproblem, S. 88-89; ders.: Methodik der Völkerkunde, S. 220-222. 202 Mühlmann: Rassen- und Völkerkunde, S. 384-385, 418-419. 203 Ebd. S. 536-537. 204 Mühlmann: Rassen- und Völkerkunde, S. 539; vgl. Michels: Wilhelm Emil Mühlmann
9. Ergebnisse
Vom kulturspezifischen Test zur Objektivierung mentaler Plastizität: die boasianische Intelligenzpsychologie 1926-1942 Die boasianische Intelligenzforschung war eine Antwort auf die mental-testingBewegung, die es sich zum Ziel machte, mittels psychologischer Tests psychische Unterschiede zwischen Individuen und Gruppen exakt zu vermessen. In den USA der Zwischenkriegszeit war dieses Verfahren im internationalen Vergleich besonders verbreitet, hatten Psychologen doch bereits während des Ersten Weltkriegs den Anspruch erhoben, mit seiner Hilfe die Intelligenz der Normalbevölkerung differentiell zu erfassen. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre verband sich mit der Psychometrie ein ausgeprägter Rassismus, der die erbliche geistige Höherwertigkeit der »nordischen« Amerikaner bzw. die Geringerwertigkeit aller anderen Bevölkerungsgruppen wissenschaftlich nachzuweisen behauptete. Franz Boas und die Boasianer reagierten darauf zunächst im Modus der intellektuellen Kritik. Sie wandten ein, dass Intelligenztest keineswegs auf objektive Weise allgemeine psychische Anlagen abfragten, sondern stark kulturell geprägt seien, und zwar zu Lasten von American Indians, African Americans und Einwanderern aus Süd- und Osteuropa, deren Kognitionsmuster und Wissensbestände sich von denen der weißen amerikanischen middle class unterschieden. Da diese Kritik nicht verfing, musste Franz Boas seine Psychometriekritik jedoch professionalisieren. Um das racial testing zu bekämpfen, eignete er sich daher die Testpsychologie für sein eigenes Methodenrepertoire an und arbeitete nun verstärkt mit ausgebildeten Psychologen zusammen. Anknüpfend an seine ältere Forschungen zu »heredity and environment« formulierte er zwischen 1926 und 1928 erstmals eine prononciert psychologische Studie, die ihn mit Fortsetzungsphasen und Anschlussprojekten bis zu seinem Tod 1942 beschäftigen sollte.
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Es überrascht wenig, dass dort die Frage nach Erbe oder Umwelt zu Gunsten der Umwelt beantwortet wurde. Allerdings lässt sich im Verlauf des Projekts eine signifikante Verschiebung beobachten. Zunächst zielte Boas’ Forschungsdesign darauf, die Kulturabhängigkeit gebräuchlicher Tests, ihrer Aufgaben, Prozeduren und Ausdeutungen, sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck sollten Psychologen in Zusammenarbeit mit Kulturanthropologen kulturspezifische Tests für benachteiligte Gruppen entwickeln und im Vergleich mit »weißen« Probanden zeigen, dass auch Indianer und Schwarze überlegen abschnitten, wenn die Aufgabenstellungen ihren Lebensgewohnheiten entsprachen. Boas’ wichtigster psychologischer Mitarbeiter Otto Klineberg wechselte jedoch nach anfänglichen Versuchen mit kulturspezifischen Testvarianten die Strategie. In seinen später stark rezipierten Untersuchungen zur Intelligenz schwarzer Migranten arbeitete er ausschließlich mit solchen Tests, die unter orthodoxen Testpsychologen als Standard galten. Klineberg verzichtete nun vollständig auf ethnographische Informationen und verglich Testleistungen nach der Aufenthaltsdauer schwarzer Migranten, die aus den Südstaaten nach New York City gezogen waren, also einen gravierenden Umweltwechsel hinter sich hatten. Den kulturellen Gegensatz zwischen Ostküstenmetropole und Deep South reduzierte Klineberg dabei auf den zwischen Stadt und Land, zwischen besseren und schlechteren Bildungschancen. Ihm kam es darauf an, schwarze und weiße Amerikaner nicht verschiedenen Kulturen zuzuordnen. »Stadt« und »Land« waren unterschiedlich genug, um den Faktor »Umwelt« zu variieren, aber sie waren in Klinebergs Versuchsanordnung auf einer gemeinsamen Skala amerikanischer Kultur verortet. So konnte er Boas’ Axiom bestätigen, dass der Einzelne – egal welcher »Rasse« er angehörte – unter günstigen äußeren Bedingungen entwicklungs- und bildungsfähig sei. Dieser Erfolg in der Nature-Nurture-Kontroverse war jedoch mit Kompromissen erkauft, die sich fast zwangsläufig aus der Strategie ergaben, sich auf die Methoden des Gegners einzulassen. Um das Entwicklungspotenzial des durchschnittlichen schwarzen Amerikaners sichtbar zu machen, war es sinnvoll, auf eingeführte Intelligenztests zurückzugreifen, denn unter der Prämisse allgemein wirksamer Umwelteffekte bewährten sie sich als Objektivierungen mentaler Plastizität. Der anfängliche Kulturskeptizismus machte damit aber einem Testpositivismus Platz, der den Normalismus der Psychometrie akzeptierte, um ihre rassistischen Implikationen widerlegen zu können. Im Zuge dieses Strategiewechsels betonten Boas und Klineberg darüber hinaus zunehmend die Bedeutung von Erbfaktoren für unterschiedliche Intelligenzleistungen – wohlgemerkt bezog sich dies auf Erblichkeit in familiären Abstammungslinien und nicht auf das Phantom menschlicher Großrassen. Boas hielt die
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Frage nach der Biologie unterschiedlich begabter Familien nicht nur für ein legitimes Forschungsthema, sondern arbeitete Ende der 1930er Jahre selbst dazu. Die Annahme, Intelligenz sei erblich, kritisierte er damit weitaus weniger radikal als etwa die Behavioristen, die Fragen der Erblichkeit aus ihrer Psychologie kategorisch ausschlossen. Boasianer und Antiboasianer begegneten sich gewissermaßen an der Normalverteilungskurve: Während Erstere sich auf die Schnittmengen der sich überlagernden Glocken konzentrierten, bearbeiteten Letztere deren freistehende Ränder. Wie wurde die boasianische Intelligenzforschung aufgenommen? In der Wissenschaftsgeschichte des (psychologischen) Rassismus gilt sie häufig als Durchbruch der soziologisch-kulturalistischen Vernunft. Die unmittelbaren Reaktionen der Zeitgenossen waren jedoch verhaltener, was nicht zuletzt mit einer gewissen Kluft zusammenhing, die sich zwischen Untersuchungstechnik – einem relativ kleinen Sample – und der Schlussfolgerung auftat, hiermit seien natürliche Selektionsmechanismen ein für allemal wissenschaftlich widerlegt. So lobten Autoren verschiedener Couleur die methodische Qualität und den Pioniercharakter von Klinebergs Migrationsstudie. Aber auch wohlwollende Kritiker nahmen sie keineswegs als letztes Wort in der Frage psychischer Rassenunterschiede wahr: Nur weil Differenzen, die zuvor rassischer Veranlagung zugerechnet worden waren, sich als umweltlabil herausgestellt hätten, sei es nicht statthaft, verbleibende Differenzen nun pauschal der Umwelt zuzurechnen. Gegen das Bild einer singulären Vorreiterstudie ist zudem zu berücksichtigen, dass Boas’ und Klinebergs antirassistische Psychometrie in einem größeren diskursiven Umschichtungsprozess stattfand. Erst die langjährige fachinterne Diskussion von Psychologen über die Probleme des racial testing hatte das Umfeld geschaffen, in dem ihre experimentalpsychologischen Interventionen wirksam werden konnten. Schon um 1930 hatten sich Zweifel an der Tragfähigkeit des racial testing zu einem neuen Konsens verdichtet. Sie betrafen allerdings weniger die Existenz rassischer Differenzen als deren Beweisbarkeit mit den Mitteln der Testpsychologie. Diese »moderate« Position war eher durch Skeptizismus gekennzeichnet als durch die Überzeugung, dass Unterschiede des menschlichen Verhaltens zuallererst auf Kultur zurückzuführen seien. So ließ sich die boasianische Position weiterhin als überzogen oder »extrem« markieren, ebenso wie die radikaler Theoretiker nordisch-arischer Superiorität oder die Aktionen des »primitiven« Ku Klux Klan. Der Mainstrem des Skeptizismus hielt die Tür zunächst offen für die weitere Beforschung rassischer Intelligenzunterschiede, die aus einer Normalverteilungslogik heraus nicht als absolute qualitative Differenz, sondern als quantitative Gradunterschiede formuliert wurden: Verbesserte Bildungschancen könnten
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die Leistungen der Schwarzen verbessern, einholen könnten sie die Weißen aber nicht. Allerdings seien die vielen Individuen, die den weißen Durchschnitt erreichten oder übertrafen, als wertvolles Humankapital zu betrachten. Zweifellos gelang es der boasianischen Psychometrie, produktive Unruhe in Fragen der Rassenintelligenz zu stiften. Mit Erfolg markierte sie das zuvor geltende Axiom erblicher Intelligenz als eine offene Frage. Otto Klineberg schoss aber über das Ziel hinaus, als er diese Öffnung des Problems als seine Lösung darstellte. Es war eines, die vermeintlichen Beweise der race psychology zu demontieren und zu zeigen, dass Umweltfaktoren Testleistungen erheblich beeinflussten. Es war aber unmöglich, die intellektuelle Gleichbegabtheit aller Rassen experimentell nachzuweisen. Otto Klineberg begnügte sich damit, die Beweislast den hereditarians zuzuschieben und Intelligenz damit im wissenschaftlichen Spiel zu halten, statt die Grenzen ihrer Beweisbarkeit zu erörtern und deutlich zu machen, dass »Rassengleichheit« am Ende politisch entschieden werde.
Stile des Rassismus: Amerikanisches measurement versus deutsche »Schau« Kritiker des amerikanischen intelligence testing wie Leon J. Kamin und Stephen Jay Gould haben argumentiert, die rassistische Psychometrie der frühen 1920er Jahre habe direkt zu einer Beschränkung der Einwanderung geführt und dadurch mittelbar den Holocaust begünstigt, da europäische Juden nicht mehr in die USA hätten auswandern können.1 Dieser fatale Effekt mag sich biographisch in kleinerer oder auch größerer Zahl nachweisen lassen. Der Brückenschlag von Ellis Island zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern sollte aber nicht den Blick für die markanten Unterschiede zwischen den Rassismen amerikanischer und deutscher Wissenschaftler verstellen, wie sie in dieser Untersuchung anhand von race psychology und Rassencharakterologie dargelegt wurden. Zweifellos entfalteten sich diese Differenzen in einem übergreifenden diskursiven Rahmen, der Humandiversität anhand rassischer Unterscheidungen und einer klaren Werthierarchie ordnete. Die allgemein kursierenden Elemente des Rassendiskurses fügten sich dies- und jenseits des Atlantiks aber zu unterschiedlichen Konstellationen zusammen. Auf die Gefahr hin, deutsch-amerikanische Unterschiede zu überzeichnen, soll versucht werden, diese sowohl disziplinär als auch gesellschaftspolitisch geprägten Debatten zu kontrastieren. 1
Vgl. Kamin: Science and Politics of I.Q., S. 27; Gould: Falsch vermessene Mensch, S. 258.
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Die amerikanische race psychology behandelte Intelligenz als eine messbare Entität, die bei verschiedenen Menschen in unterschiedlichem Maße vorhanden sei. Ausgehend von symptomatischen Testexperimenten benutzte sie mehr oder weniger elaborierte mathematische Verfahren, um von Probandensamples auf ganze Bevölkerungsgruppen zu schließen. Mit dem Prinzip der Normalverteilung ließen sich Häufungen und Streuungen des Merkmals Intelligenz innerhalb einer Bevölkerungsgruppe beobachten und auf einer Einheitsskala zum Streuungsverlauf anderer Gruppen in Beziehung setzen. Diese vermeintlich exakten Messungen von intelligentem Verhalten dienten dazu, die vorgängige Hierarchie der Rassen wissenschaftlich zu objektivieren. Allerdings brachte die Normalverteilungslogik gleichzeitig Argumente gegen absolute qualitative Rassenunterschiede hervor, da sie auch die Überlappung von Streuungsfeldern verschiedener Rassen aufzeigte, nach ihren eigenen Maßstäben also beträchtliche Schnittmengen von deren mentalen Eigenschaften. Von dem Befund gradueller Abstufungen aus ließ sich für eine Durchlässigkeit rassischer Grenzziehungen und sogar für die Aufwertung durch Bildung plädieren. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass diese mathematische Relativierung rassischer Unterscheidungen den kompromisslosen Qualitätsrassismus nicht beseitigte. In der Wissenschaft koexistierte sie einerseits mit psychometrischen Ansätzen, die gerade überdurchschnittlich »intelligenten« Gruppen wie Juden, Ostasiaten und »Mischlingen« unüberwindliche Fremdheit und psychische Instabilität bescheinigten, andererseits mit tödlichen infektionsbiologischen Menschenversuchen an African Americans.2 Und in der Gesellschaftspolitik karikierte die Segregationspraxis vor allem in den Südstaaten die Idee eines »overlapping« von schwarzer und weißer Intelligenzkurve. Dennoch stellte der Perspektivwechsel von »qualitativ anders« auf »mehr oder weniger« ein zentrales Merkmal der race psychology dar. In diesem Sinne konnte der amerikanische Psychologe Thomas Russell Garth Mitte der 1930er Jahre an den deutschen Anthropologen Egon von Eickstedt schreiben: »Racial differences must of necessity be quantitative, not qualitative.«3 Eickstedt wiederum zitierte diesen Satz als Beleg für die Inkonsequenz der amerikanischen Psychometrie. Denn in Abgrenzung von deren quantifizierendem Ansatz definierte sich die deutsche Rassenpsychologie durch qualitative Unterscheidungen, die weniger Hierarchien als absolute Differenz markierten. Wie einige neuere Arbeiten zum deutschen Antisemitismus gezeigt haben, ging 2
Zum wissenschaftlichen Antisemitismus in den USA vgl. etwa Norwood: Third Reich; Lüthi: Invading Bodies; Winston: »Objectionable traits«; zum Tuskegee-Syphilis-Experiment Jones: Bad Blood; Washington: Medical Apartheid.
3
Nach Eickstedt: Rassenpsychologie, S. 119, Anm. 157.
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es ihr um fundamentale Charakter- statt um graduelle Intelligenzunterschiede. Das Problem rassischer Diversität stellte sich in der deutschen Charakterologie daher auf ganz andere Weise als in der amerikanischen Psychometrie: Wollten amerikanische Psychologen die Überlegenheit der nordischen Rasse in Zahlen ausdrücken, brachte die Bestimmung des nordischen Wesens in Deutschland eine regelrechte Stilkunde hervor, die Selbsterkenntnis durch prägnante Kontraste ermöglichte. Analytisch-metrische Objektivierungsformen der modernen Naturwissenschaften waren für dieses Verständnis von Rasse nicht brauchbar. Es war auf Techniken angewiesen, markante Unterschiede im Modus der ganzheitlichen, intuitiven »Schau« zu erfassen. Obwohl dieses Verfahren unter Biowissenschaftlern nie volle Anerkennung erfuhr, bezogen sie sich in ihrer psychologisch gewendeten Rassenforschung doch immer wieder auf die Systematiken der Rassenhermeneutiker. Trotz der Konzentration auf den Charakter wollte diese auf Intelligenz als Argument nicht ganz verzichten. Denn einerseits betonte die Ganzheitspsychologie, es gebe keine allgemeine, skalierbare menschliche Intelligenz. An verschiedene Wesenstypen, die das Eigentliche der menschlichen Psyche ausmachten, lagerten sich verschiedene Intelligenzen an, die metrisch nicht vergleichbar seien. Zumindest die kulturbegabten Rassen hätten je spezifische geistige Fähigkeiten ausgebildet, die von einem sachlichen Standpunkt aus gleichwertig seien. Andererseits schienen Kulturrelativismus und die genannten Einwände gegen die Messbarkeit von Intelligenz nicht mehr zu gelten, wenn dieselben Autoren die Ergebnisse des Army Testing heranzogen, um die geistige Überlegenheit der nordischen Rasse zu untermauern. Die deutsche Rassenpsychologie, immer am Rande der Wissenschaftlichkeit lavierend, kam mehrheitlich zu keiner konsistenten Haltung, die ihre vielfältigen Vorurteile gegen unterschiedliche Rassen auf einen Nenner gebracht hätte. Die Formel »hochbegabte Neger« für die Juden spiegelt so den kläglichen Versuch, die unvereinbaren Maßstäbe zusammenzuführen.4 Die Unterschiede zwischen amerikanischem Quantitäts- und deutschem Qualitätsrassismus haben sicherlich vielfältige Ursachen. Eine davon könnte sein, dass sie um verschiedene paradigmatische »Probleme« kreisten. In den USA war es der (sub)proletarische, intellektuell minderbegabte »negro«, der schon aufgrund seiner Hautfarbe weitgehend zuverlässig erkennbar war und durch massenhafte Migration in den Städten des Nordens sichtbar wurde. Die deutsche Rassenimagination beschäftigte dagegen vor allem der akkulturierte, überintelligente »Jude«, der sich weder morphologisch noch habituell vom nicht-
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Keiter: Rasse und Kultur, Bd. 3, S. 428-429.
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jüdischen Bürgertum unterschied und in den anonymen Interaktionen der modernen Gesellschaft unsichtbar blieb. Da Rassenanthropologen selbst herausgearbeitet hatten, dass die »jüdische Rasse« nicht über eindeutige körperliche Merkmale zu bestimmen sei, musste die wesenhaft andere »innere« Beschaffenheit der Juden dazu herhalten, die Behauptung rassischer Differenz aufrechtzuerhalten. In Abgrenzung vom »unwissenschaftlichen« Judenhass, vom pöbelhaften Radauantisemitismus wollten deutsche Rassenpsychologen nicht so sehr die Minderwertigkeit als vielmehr die psychische Andersartigkeit der Juden herausarbeiten. Der psychologisierende Antisemitismus in Deutschland, sofern er wissenschaftlichen oder systematischen Status beanspruchte, musste sozialpsychologisch und damit subtiler argumentieren als die amerikanischen Psychometriker in Bezug auf den »negro« (während er etwa im Bezug auf die »Rheinlandbastarde« nicht sonderlich erfindungsreich musste). Man konnte die Juden als intelligentes »Volk« von hoher Kulturbegabung und gleichzeitig als Produkt eines historischen Entwurzelungsprozesses ansprechen, dessen seelische Deformationseffekte sich zu einer quasi erblichen Konstante verfestigt hätten. Demnach war die destruktive Andersartigkeit der jüdischen Psyche nicht auf ursprünglich »schlechte« Rasseeigenschaften, sondern auf die Erfahrung von Vertreibung, Zerstreuung und Ghettoisierung zurückzuführen. Und da Anpassungsfähigkeit unter diesen Bedingungen zum Hauptwesenszug »des Jüdischen« geworden sei, brauchte es feinfühlige Menschenkenner, um es unter verschiedenen Masken ausfindig zu machen. Der Vergleich von amerikanischem Quantitäts- und deutschem Qualitätsrassismus macht deutlich, dass es keine klare Affinität bestimmter wissenschaftlicher Methoden zu rassistischen Handlungsweisen gibt, sondern dass es im Einzelfall auf den Gebrauch, der von einzelnen Verfahren gemacht wird, und ihre unintendierten Effekte ankommt. Da in den letzten Jahren vor allem naturwissenschaftliche Objektivierungsformen auf ihre wirklichkeitsgenerierende Funktion hin befragt und kritisiert wurden, stechen im Vergleich von race psychology und Rassenpsychologie die geisteswissenschaftlichen Methoden heraus: Während das Messen, Korrelieren und Skalieren rassistische Vorurteile bestätigen sollten, aber schließlich unter US-Psychologen einen Prozess der Selbstkritik in Gang setzten, trugen Einfühlung und Verstehen im nationalsozialistischen Deutschland dazu bei, horrenden Schaden anzurichten.
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»Umwelt« und »Kultur«: Transfer, An- und Ausschlüsse In den 1920er Jahren war Franz Boas in Deutschland eine Person des öffentlichen Lebens. Dieser Status verdankte sich zum Teil seiner wissenschaftlichen Reputation als Ethnologe Nordamerikas und dem sensationellen Befund seiner Einwandererstudie, die vermeintlich rassisch bestimmte Schädelform verändere sich unter wechselnden Umwelteinflüssen. Dieser professionelle Ruf formierte sich in den anthropologischen Netzwerken, die Boas im späten 19. Jahrhundert geknüpft hatte. In erster Linie ging sein Ansehen in der Zwischenkriegszeit aber auf sein umfangreiches ehrenamtliches Engagement für die deutsche Wissenschaft zurück. Zwischen 1920 und 1927 und dann wieder in der Weltwirtschaftskrise sammelte er in den USA Spendengelder und trat für die Wiederaufnahme akademischer Tauschbeziehungen zum Kriegsverlierer ein. Öffentlich verurteilte er die internationale Ausgrenzung deutscher Wissenschaftler. Aus diesen Aktivitäten ergaben sich unzählige neue Kontakte zu hochrangigen Wissenschaftspolitikern, Bibliothekaren und Gelehrten aller Disziplinen – inklusive der Rassenforschung. Die kommunikativen Voraussetzungen für einen Transfer boasianischer Anthropologie waren also günstig: Boas konnte damit rechnen, bei deutschen Wissenschaftlern Gehör zu finden. Gemessen an einer substantiellen inhaltlichen Rezeption blieb ein nennenswerter Erfolg jedoch aus. Zwar wurde seine Plastizitätsthese in den 1920er Jahren auch über anthropologische Fachkreise hinaus sehr bekannt und fand über so unterschiedliche Autoren wie Willy Hellpach, Carl Gustav Jung oder Oswald Spengler Eingang in das florierenden Genre der Kulturtheorie. Diese Popularisierung ging aber oftmals einher mit Fehllektüren und Umdeutungen, die Boas’ ursprünglicher These nur noch von Ferne ähnelten. Dagegen wurden seine aktuellen empirischen Arbeiten zur Intelligenz offenbar nicht rezepiert: Das Verhältnis der Boasianer zu Weimarer Intelligenzpsychologen wie William Stern und Wilhelm Peters oder auch dem Anthropologen Karl Saller kann nur als erstaunliches wechselseitiges Ignorieren beschrieben werden. Hier schufen weder Boas’ gute Kontakte noch rassenskeptische Gemeinsamkeiten einen Resonanzraum für seine liberale Kulturanthropologie. Dass dieses beträchtliche Anschluss- und Transferpotenzial nicht ausgeschöpft wurde, ist teilweise wiederum mit disziplinären bzw. nationalen Ausprägungen zu erklären. Die deutsche Begabungsforschung interessierte sich vorrangig für die Feindiagnostik individueller Unterschiede, wobei der »Umwelt« herausragende Bedeutung zukam. Anders als in den USA gab es hier aber nicht die klare Gegenüberstellung von »nature« und »nurture«, der auch Boas und Klineberg in ihrer Forschung verhaftet blieben. Vielmehr stellte gerade die erbliche
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Ansprechbarkeit eines Individuums für Umweltreize den Schlüssel zu einer subjektiv, systemisch und prozesshaft verstandenen Umwelt dar. Wo die deutsche Begabungsforschung Gruppenunterschiede ins Spiel brachte, handelte es sich um Klassen-, nicht um Rassen- oder Kulturunterschiede, die die boasianische Anthropologie bevorzugt beschäftigten. Abgesehen von solchen diskursiven Strukturunterschieden ist aber nicht vollständig aufzuklären, warum Boas mit einigen naheliegenden Koalitionspartnern im Kampf gegen den Psychorassismus nicht zusammenfand. Andererseits taten sich Kommunikationschancen gerade dort auf, wo man sie nicht an erster Stelle vermutet. Die Untersuchung bestätigt frühere Annahmen, dass der Paradigmenwechsel in der deutschen Rassenforschung – von der liberalen physischen Anthropologie zur mehr oder weniger rassistisch-eugenischen Humangenetik – Boas’ Mitsprache nicht ausschloss. Im Gegenteil bahnte sich um 1930 eine direkte Zusammenarbeit mit dem führenden Rasseanthropologen Eugen Fischer an. Und sogar nach 1933 hielten sich wissenschaftliche Nischen, in denen Boas als ernstzunehmender Wissenschaftler lesbar und zitierfähig blieb. Die Grundlage der anvisierten Kooperation mit Fischer ist auf zwei Ebenen zu suchen. Zum einen ist auf die allgemeine Psychologisierung und Kulturalisierung von Rasse in der wissenschaftlichen Rasseforschung hinzuweisen, die in der Rassentheorie seit dem 19. Jahrhundert ohnehin gegeben war. Zum anderen interessierte sich die von Fischer vertretene humangenetische Richtung für die Phänogenese, die Herausbildung rassischer Erscheinungstypen unter bestimmten Umwelteinflüssen. Insofern war es nicht völlig abwegig, dass Boas wiederholt darauf drängte, Fischer möge in Deutschland eine Neuauflage seiner amerikanischen Einwandererstudie durchführen. In kleinem Umfang geschah dies auch, allerdings erst nach 1933 und dann ohne Boas’ Beteiligung. Einen direkten Anknüpfungspunkt für die boasianische Intelligenzpsychologie hätte zum anderen die psychologische Erbforschung geboten, die an dem von Fischer geleiteten Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik stattfand. Boas versuchte – vergeblich –, hier Otto Klineberg zu platzieren, um Einfluss auf die Forschung zur Erblichkeit von Intelligenz zu nehmen. Wenn sich boasianische Anthropologie und deutsche Rassenforschung um 1930 mehr als punktuell berührten, so ist herauszustreichen, wo ihre Gemeinsamkeiten endeten. Die Unvereinbarkeit von liberalem Kulturrelativismus und biologisch-kulturellem Essentialismus wird besonders greifbar beim Konzept der »Umwelt«. Die amerikanische, auch von Boas bespielte Opposition von Erbanlage und Umwelt war in Deutschland in einem Konzept typischer Dispositionen zur Aneignung von Umwelteinflüssen aufgehoben. So wie deutsche Rasseforscher die Herausbildung verschiedener Rassetypen als evolutionäre Anpassung
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an spezifische Umwelten erklärten, unterstellten sie besondere erbliche Ansprechbarkeiten auf verschiedene Umwelteinflüsse. In diesem Sinne manifestierte sich Eugen Fischer zufolge beim Knochenwachstum des Schädels eine rassisch festgelegte Variationsbreite, die es erlaube, Abweichungen an eine gemeinsame Reaktionsnorm zurückzubinden. Der Gegensatz zu Boas beruhte nicht darauf, dass deutsche Bioanthropologen Umwelt und Variabilität ignorierten, sondern in ihr Konzept vererbter Entwicklungspotenzen in einer Weise integrierten, dass die Annahme rassischer Differenzen intakt blieb. Ähnliches gilt für den Kulturalismus der hermeneutischen Rassenpsychologie. Sowohl die boasianische Anthropologie als auch deutsche Rassenpsychologen argumentierten in ihrer Kritik des mental testing kulturrelativistisch. Beide verneinten die Möglichkeit, eine objektive Wert- und Leistungshierarchie der Rassen/Kulturen aufzustellen, da es keinen neutralen Beobachterstandpunkt gebe. Seine Sozialisation in eine bestimmte Kultur binde jeden Menschen an eine bestimmte Perspektive auf die Welt. Wie Boas und Klineberg kritisierten etwa Bruno Petermann und Wilhelm Emil Mühlmann, dass vermeintlich universelle Intelligenztests tatsächlich kulturgebundenes Wissen abfragten und reproduzierten. Wenn sie in den 1930er Jahren die boasianische Intelligenzforschung rezipierten, macht dies allerdings den Eindruck eines Selbstgesprächs. Im Nationalsozialismus – das zeigt das Beispiel Mühlmanns – diente die Auseinandersetzung mit den Veröffentlichungen amerikanischen Kollegen dem Distinktionsgewinn in deutschen Feldkämpfen. Als Grundlage eines Wissenstransfers wurde diese Lektüre erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirksam, als Rassentheorie aus der deutschen Völkerkunde heraus- und amerikanische Sozialwissenschaft in sie hineingeschrieben werden musste. Bis dahin hatten die Boasianer mit dem Kulturrelativismus die Gleichheit, deutsche Rassenpsychologen aber die Ungleichheit der Menschen unterstrichen. Boas forderte die Wissenschaft auf, sich über ihren kulturellen bias Rechenschaft abzulegen und Andersartigkeit auf dem Boden einer geteilten Humanität duldsam gegenüberzutreten. Deutsche Rassenpsychologen gaben eine entgegen gesetzte Regieanweisung: Es gelte, das eigene Rasseninteresse zu erkennen und sich offensiv damit zu identifizieren. Ihr Relativismus verknüpfte sich nicht mit Toleranz. »Nurture« und »culture«, wie die boasianische Anthropologie der 1920er und 1930er Jahren sie verstand, ließen sich also nicht einfach mit »Umwelt« und »Kultur« übersetzen. In der deutschen psychologischen oder psychologisierenden Rassenforschung befasste man sich mit Erbumwelten – das heißt erblichen rassischen Ansprechbarkeiten für Umwelteinflüsse – und Biokultur – das heißt Kultur als urwüchsigem Ausdruck von Rasse, der nicht objektivierbar sei. Wäh-
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rend sich die Begabungsforschung und Intelligenzmessung der Weimarer Republik nicht für Rasse interessierten, interessierte sich die deutschsprachige Rassenpsychologie nur eingeschränkt für Intelligenz und nur am Rande für deren Messung. In dieser Konstellation musste es der boasianischen Intelligenzforschung nicht nur wegen ihrer politischen Ausrichtung schwer fallen, Resonanzen zu erzeugen.
Franz Boas und die deutsche Rassenforschung – ein Missverständnis? So erfolgreich Franz Boas seine Anthropologie in den USA gegen den wissenschaftlichen Rassismus in Stellung zu bringen vermochte, so sehr erscheint seine Beziehung zu deutschen Rasseforschern als Geschichte einer gescheiterten Anstrengung. Selbst einem so angesehenen, mit deutschen Kollegen so gut vernetzten und zugleich dezidierten Kritiker des Rassismus wie Franz Boas gelang es nicht, den Siegeszug rassischer Deutungsmuster wenigstens zu irritieren. Und das, obwohl er seine Einwände gegen die »irrationale«, weil wissenschaftlich unbewiesene Behauptung stabiler, kulturell relevanter Rassenunterschiede über die Jahre hinweg nahezu unverändert wiederholte und bei jeder Gelegenheit anmerkte, der nordische Suprematismus sei Blödsinn. Zu seiner großen Enttäuschung beeindruckte das die deutschen Anhänger nordischer Suprematie überhaupt nicht. Boas erklärte sie daher zu Pseudowissenschaftlern, während er deutschen Kollegen, die sich 1933 zum neuen Regime bekannten, Verrat an der Wissenschaft vorwarf. Für ihn – wie für viele Historiker des späteren 20. Jahrhunderts – passten Wissenschaft und Nationalsozialismus, Rationalität und Rassenwahn, einfach nicht zusammen. Etwas anders sah es Friedrich Hertz, wie Boas ein Kritiker der Rassentheorie, aber auch ein erfolgreicher Konkurrent auf dem publizistischen Markt des Antirassismus. Hertz formulierte 1925: »Die Rassentheorie stellt eine seltsame Mischung dar aus Entwicklungsgedanken einerseits, der Annahme streng feststehender Rassetypen und eines absoluten Wesensunterschieds der Menschen andererseits, aus Rassendeterminismus und moralisierender Deutung, aus Mystik 5 und nüchternster Ausbeuterlogik«. Hier deutete sich eine Haltung an, die mittlerweile zu einem bewährten Untersuchungsansatz geworden ist: Die Seltsamkeit von Rassentheorie und -wissenschaft zum Ausgangspunkt ihrer Erforschung zu nehmen. Solchermaßen kulturanthropologisch haben neuere Studien zur Geschichte des Dritten Reichs herausgearbeitet, dass Rassenkonzepte gerade wegen 5
Hertz: Rasse und Kultur (1925), S. 4.
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ihrer Unschärfe und Heterogenität produktiv werden konnten und dass administrative und wissenschaftliche Rationalität auf verschiedenen Ebenen mit dem rassisch-völkischen Projekt verquickt waren. Hätte nicht auch Boas eine solche Perspektive einnehmen können? Immerhin hatte er als Gründervater der cultural anthropology die Erforschung »primitiver« (sprich: anderer) Sinnsysteme zum Programm erhoben. Über Jahrzehnte sammelte und publizierte er die Selbstdeutungen indigener Gruppen in Form von Märchen, Mythen oder Genealogien, um die Eigenlogik, die eigensinnige Kohärenz und Konsistenz ihres Denkens aufzuzeigen. Eine der wenigen anthropologischen Konstanten, die Boas akzeptierte, war das Bedürfnis nach »secondary explanations«, Rationalisierungen der menschlichen Lebensumstände, die er bei primitiven wie bei entwickelten Gesellschaften konstatierte.6 Allen menschlichen Gruppen sprach er die Fähigkeit zu, Unverständliches zu rationalisieren, es mit Bedeutungen zu versehen, die es in eine größere Systematik einfügten. Hätte es in diesem Sinne nicht nahe gelegen zu fragen, warum es für seine deutschen Kollegen möglich und sinnvoll war, Wissenschaft und Irrationales zusammenzubringen, Rasse so zu denken, wie sie es taten? Ansätze dazu sind in Boas’ Schriften erkennbar. In der Debatte um das primitive Denken betonte er immer wieder, auch die moderne Wissenschaft als Inbegriff der Rationalität werde – hierin den primitiven Völkern ähnlich – zum Teil von starken Gefühlen angetrieben, so 1911 in seiner Einleitung zum Handbook of American Indian Languages: And even our scientific views, which are apparently based entirely on conscious reasoning, are affected by this tendency of distinct activities to associate themselves under the influence of strong emotions. It has been recognized before that this is one of the fundamental causes of error and of the diversity of opinion.7
Generell betonte Boas die Kulturgebundenheit eines jeglichen Beobachters. Aus dem Zitat wird aber auch deutlich, dass seine Bereitschaft, Wissenschaft kulturalistisch zu betrachten, begrenzt war. Nicht die von Hertz benannte Seltsamkeit, die bei aller Ablehnung hätte Interesse wecken, produktive Unruhe stiften können, fiel Boas ins Auge, sondern rationale Abweichungen wie Fehler und Kontroverse. Es gehört zu den immer wieder beschworenen Grundlagen von Boas’ Anthropologie, dass er geistes- und naturwissenschaftliche Erkenntnisformen strikt voneinander schied. Die Überkreuzung dieser beiden Erkenntnisformen etwa in 6
Stocking: Franz Boas and the Culture Concept, S. 222, 232.
7
Boas: Introduction, S. 70.
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der Frage nach der Kultur naturwissenschaftlicher Forschung kam offenbar nicht in Betracht. Auch weil er, so muss man unterstellen, davon ausging, dass Eugen Fischer und er selbst demselben Stamm (der deutschen Naturwissenschaft) angehörten. Und so verwundert es schließlich doch nicht, dass Boas in seinen Interaktionen mit deutschen Rasseforschern nie auf die Idee kam, diese könnten »anders« sein als er selbst, um dann noch einen Schritt weiterzugehen und deutsche Rassenforscher ethnologisch zu betrachten. Wenn er in deren Aussagen auf Rationalisierungen stieß, markierte er sie immer als etwas Irrationales, das sich von außen in die Wissenschaft hineindränge – »pseudo science«. Er sah darin ein defizitäres Denken, das von dem emotionalen Bedürfnis getrübt war, die eigene Wir-Gruppe zu überhöhen. Er entwickelte keinen Blick für die Eigenlogik des wissenschaftlichen Rassismus in Deutschland mit ihrer Mischung aus wissenschaftlichen Standards der Modellbildung und Experimentalisierung einerseits und dem Willen zum Kurzschluss andererseits. Hätte er sich ihr mit ethnologischer Distanz genähert, hätte er das Verhältnis von Wissenschaft und Rassismus mit Unterscheidungen der Kulturanthropologie beobachtet, hätte er vielleicht die kulturellen Hintergründe, die sozialen Funktionen dieses ihn so sehr irritierenden anderen Denkens aufklären können. Etwas mehr Lévy-Bruhl, etwas mehr kognitiver Relativismus hätten ihm an dieser Stelle zumindest klar machen können, warum seine Attacken auf die deutsche Rasseforschung ins Leere liefen.
Psychowissen und Kulturanthropologie des Rassismus Man muss hinzufügen, dass zu viel Lévy-Bruhl dem Anliegen, Rassismus zu historisieren, wiederum abträglich sein kann. Das Extrembeispiel ist Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker (1996), das – wie es der Autor formuliert – »eine anthropologische Neubewertung« des deutschen Antisemitismus vornahm. Goldhagen berief sich auf Clifford Geertz’ Konzept der dichten Beschreibung, arbeitete faktisch aber mit Unterscheidungen, die in den zwanziger Jahren die Diskussion um das primitive Denken angeleitet hatten. Goldhagen plädierte dafür, die Deutschen der 1930er und 1940er Jahre nicht als moderne, vernünftige Menschen zu betrachten, sondern sie als Exoten zu verstehen, die einem magischen Denken verhaftet gewesen seien. Ihr eliminatorischer Antisemitismus sei eine »kognitive Struktur« gewesen, die seit dem Mittelalter stabil geblieben sei und die Taten des Genozids geradezu folgerichtig hervorgebracht habe. Dass er den deutschen Antisemitismus auch noch in die Nähe des Wahn-
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sinns stellte, also primitives mit geisteskrankem Denken in Verbindung brachte, machte den Rückgriff in die 1920er Jahre perfekt.8 Goldhagens These kann man als Monument betrachten für die Probleme, die es mit sich bringt, wenn man den Rassismus zum mentalen Anderen erklärt. Dass wir den Rassismus psychologisieren, ist kaum vermeidbar, da psychologisches Wissen im Verlauf des 20. Jahrhunderts in nahezu alle Lebensbereiche eingesickert ist und beansprucht, individuelle wie »kollektive« Verhaltensweisen transparent zu machen. HistorikerInnen sollten sich jedoch fragen, welche Annahmen über die psychische Natur des Menschen sie damit jeweils reproduzieren. Das betrifft spezifische Konzepte – etwa Verdrängung, Kompensation oder Trauma – ebenso wie allgemeine Funktionen, etwa das Verhältnis von Denken und Fühlen oder das Verhältnis von Denken bzw. Fühlen und Handeln. Aus Franz Boas’ wissenschaftlicher Biographie lässt sich jedenfalls lernen, dass die Kritik und die Analyse des Rassismus eine Geschichte haben, die auf höchst ambivalente Weise mit dem Rassedenken verflochten ist. Kulturanthropologie sollte daher nicht als neutraler Dechiffrierapparat für fremde Sinnsysteme missverstanden werden. Ihre Genese im Kontext des frühen 20. Jahrhunderts hat ihr vielmehr Grundannahmen über »kollektive Mentalitäten« mit auf den Weg gegeben, die anfällig sind für psychologische Essentialisierungen. Psychowissen, das sich als Themenfeld der Historiographie erst abzuzeichnen beginnt, hätte das Potenzial, ein zentrales Problem der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu werden.9 Und es wäre ein schöner Nebeneffekt der Selbstaufklärung, wenn HistorikeInnen, die die Psychologisierung des Wissens vom Menschen erforschen, auch für die psychologischen Subtexte historischer Narrative sensibilisiert würden.
8
Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker, S. 45-69, bes. 45-46.
9
Vgl. etwa Tändler/Jensen (Hg.): Selbst zwischen Anpassung und Befreiung.
Abkürzungen
Am Anthr Am J Phys Anthr Am J Psych Am J Soc APS Am Soc Rev Ann Amer Acad
American Anthropologist American Journal of Physical Anthropology American Journal of Psychology The American Journal of Sociology American Philosophical Society American Sociological Review Annals of the American Academy of Political and Social Science
Anthr Anz Arch Anthr Arch ges Psych Arch Rass Ges Biol
Anthropologischer Anzeiger Archiv für Anthropologie Archiv für die gesamte Psychologie Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie
BRC
Boas-Ruykeser Collection
CRH
Council for Research in the Humanities
CRSS CUA Dte Lit Ztg FBP FB Forsch Fort HSA J Abnorm Soc Psych J Appl Psych J Comp Psych
Council for Research in the Social Sciences Columbia University Archive Deutsche Literaturzeitung Franz Boas Papers Family Papers Forschungen und Fortschritte Handschriftenabteilung Journal of Abnormal and Social Psychology Journal of Applied Psychology Journal of Comparative Psychology
J Edu Psych
Journal of Educational Psychology
J Gen Psych
Journal of Genetic Psychology
J Hered J Hist Beh Sci
Journal of Heredity Journal of the History of the Behavioral Sciences
J Negro Edu
Journal of Negro Education
J Soc Psych
Journal of Social Psychology
Milbank Mem
Milbank Memorial Fund Quarterly
NYT
New York Times
o. A.
ohne Autor/in
OHRO
Oral History Records Office
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Päd Zentralbl Peterm Mitt PCFB PP Psych Bull RAC StBPK Z Abstamm Vererb
Pädagogisches Zentralblatt Petermanns Mitteilungen Professional Correspondence of Franz Boas (Mikrofilm) Professional Papers Psychological Bulletin Rockefeller Archive Centre Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Zeitschrift für induktive Amstammungs- und Vererbungslehre
Z Ang Psych Z Ethn Z Kinderf Z Morph Anthr Z Päd Psych Z Rassenk Z Völkerpsych Soz
Zeitschrift für angewandte Psychologie Zeitschrift für Ethnologie Zeitschrift für Kinderforschung Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie Zeitschrift für pädagogische Psychologie Zeitschrift für Rassenkunde Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie
Quellen und Literatur
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Archivalien
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C OLUMBIA U NIVERSITY A RCHIVE , N EW Y ORK C ITY Department of Anthropology Records Ser. I: Research, Box 1 Council for Research in the Humanities Records Ser. II: Projects 1927-1968, Box 4 Council für Research in the Social Sciences Records Ser. II: Minutes and Meetings 1923-1970, Box 5 Ser. III: Projects 1925-1968, Box 5-9, 11
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Oral History Records Office Reminiscences of Otto Klineberg
R OCKEFELLER A RCHIVE C ENTRE , T ARRYTOWN , NJ Rockefeller Foundation Fellowship Recorder Cards: Melville Herskovits; Otto Klineberg International Education Board Ser. I-3, Box 51, Folder 783 Laura Spelman Rockefeller Memorial Ser. III-6, Box 55, Folder 586
S TAATSBIBLIOTHEK P REUßISCHER K ULTURBESITZ , B ERLIN Handschriftenabteilung: Nachlass Felix von Luschan
Mikrofilm The Professional Correspondence of Franz Boas (1878-1943). 44 Filme. Wilmington, Del.: Scholarly Resources 1972
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Personenverzeichnis
Aall, Anathon (1867-1943) 176 Abderhalden, Emil (1877-1950) 202 Abel, Wolfgang (1905-1997) 166 Aichel, Otto (1871-1935) 178 Allport, Gordon (1897-1967) 98, 132 Ammon, Otto (1842-1916) 73, 177, 183 Anastasi, Anne (1908-2001) 96f., 212 Argelander, Annelies 142 Aschoff, Ludwig (1866-1942) 170, 178 Babcock, Marjorie 100, 138 Baron, Johannes 142, 187 Bateson, Gregory (1904-1980) 232 Baumgarten-Tramer, Franziska (18891970) 147 Benedict, Ruth Fulton (1887-1948) 19f., 59, 129, 148 Binet, Alfred (1857-1911) 28f. Blackwood, Beatrice (1889-1975) 65-66 Boas, Hedwig vgl. Lehmann, Hedwig Bobertag, Otto (1879-1934) 135ff., 190 Boring, Edwin (1886-1968) 42 Brake, Jürgen (* 1906) 226 Brigham, Carl C. (1890-1943) 31f., 36f., 46f., 56, 60, 64-69, 75, 86, 92, 94, 151 Buddenbrock-Hettersdorff, Wolfgang Freiherr von (1884-1964) 200 Bühler, Charlotte (1893-1974) 44 Bühler, Karl (1879-1963) 217 Bunzel, Ruth (1898-1990) 59, 110, 191, 214 Burks, Barbara (1902-1943) 47, 222-223 Busemann, Adolf (1901-1968) 141f., 187 Cassirer, Ernst (1874-1945) 119 Cattell, James McKeen (1860-1944) 26f. Celler, Emanuel (1888-1981) 54 Chamberlain, Houston Stewart (18551927) 91, 149, 173 Clauß, Ludwig Ferdinand (1892-1974) 153ff., 166, 170, 215, 221, 226f., 231f., 237 Clemenceau, Georges (1841-1929) 111 Conklin, Edward G. (1863-1952) 91 Danzel, Theodor Wilhelm 111, 150
Darré, Walther (1895-1953) 232 Davenport, Charles B. (1866-1944) 39f., 68, 88f., 91, 93f., 135, 148, 188, 204, 226, 228 Deloria, Ella (1888-1971) 58, 70, 80 Deussen, Julius (1906-1974) 151 Dewey, John (1859-1952) 15, 93, 136 Dodd, Stuart Carter (1900-1975) 64-67, 97 Dornfeldt, Walter (*1900) 183 Draper, Wickliffe (1891-1972) 39 Driesch, Hans (1867-1941) 150 DuBois, Cora (1903-1991) 191 Duncker, Hans (1881-1961) 204 East, Edward (1879-1938) 91 Efrón, David (*1904) 215-221, 225 Ehrenreich, Paul (1855-1914) 108 Eickstedt, Egon von (1892-1965) 109, 162, 226, 228ff., 232, 243 Finot, Jean (1856-1922) 91, 173 Fischer, Eugen (1874-1967) 118, 160f., 163f., 168f., 175, 177-183, 194, 202, 204f., 209f., 231f., 247, 249 Foley, John P. (1910-1994) 19, 215f., 219, 221 Franzblau, Rose Nadler (1905-1979) 67 Freeman, Frank N. (1880–1961) 67, 94, 96, 103, 226 Freud, Sigmund (1856-1939) 13 Friedenthal, Hans (1870-1942) 170, 204 Frischeisen-Köhler, Ida (1887-1956) 145, 193-196, 215, 221, 231 Frischeisen-Köhler, Max (1878-1923) 193 Galton, Francis (1822-1911) 25f., 35, 46, 91 Garrett, Henry E. (1894-1973) 97 Garth, Thomas Russell (1872-1939) 33, 45ff., 86-89, 92, 96, 98, 231-235, 226230, 243 Giese, Fritz (1890-1935) 125, 137 Gobineau, Arthur Comte de (1816-1882) 38, 91, 232 Goddard, Henry H. (1866-1957) 29ff.
322 | I NTELLIGENZ UND R ASSE Goldenweiser, Alexander (1880-1940) 54, 59, 87, 120ff. Goldschmidt, Richard (1878-1958) 150 Goodenough, Florence (1886-1959) 44, 56, 70, 88, 148, 195 Gottschaldt, Kurt (1902-1991) 164f., 175 Grant, Madison (1865-1937) 16, 85, 90f., 176, 202 Günther, Hans Friedrich Karl (1891-1967) 93, 140, 149, 152ff., 170, 172, 176, 185f., 215, 232 Gusinde, Martin (1886-1969) 111 Haeberlin, Hermann K. (1890-1918) 214 Hale, George E. (1868-1938) 113 Hallowell, Irving (1892-1974) 191 Hankins, Frank H. (1877-1970) 91f., 104 Harnack, Adolf von (1851-1930) 113 Hartnacke, Wilhelm (1878-1952) 140, 187 Hellpach, Willy (1877-1952) 124, 141, 204f., 215, 246 Henry, Jules (1904-1969) 191 Herskovits, Melville J. (1895-1963) 38, 54-57, 80, 87, 100, 110, 161, 177, 188, 204, 221, 232 Hertz, Friedrich (1878-1964) 91, 173, 199, 204, 226, 249f. Herzog, George (1901-1983) 110 Hetzer, Hildegard (1899-1991) 44 Hildreth, Gertrude (1898-1984) 81, 224 Hindenburg, Paul von (1847-1934) 111, 200f. Hirsch, Nathaniel 61, 73, 92 Hoffmann, Hermann (1891-1944) 150 Hofstätter, Peter (1913-1994) 165 Hogben, Lancelot (1895-1975) 94 Holler, Kurt 204 Holzinger, Karl J. (1892-1954) 67, 94 Hornborstel, Erich von (1877-1935) 110, 119, 212, 215 Humboldt, Wilhelm von (1767-1835) 19 Hurston, Zora Neale (1891-1960) 80 Huxley, Julian (1887-1975) 199 Hylla, Erich (1887-1976) 135ff., 144 Jacobi, Abraham (1830-1919) 109 Jaensch, Erich Rudolf (1883-1940) 155f., 227 Johnson, Guy B. (1901-1991) 87, 102, 104 Juda, Adele (1888-1949) 164 Jung, Carl Gustav (1875-1961) 125, 246
Just, Günther (1892-1950) 181 Kafka, Gustav (1883-1953) 141 Kallmann, Franz (1897-1965) 222ff. Kantor, Jacob (1888-1984) 51f., 83 Katzenstein, Betti(na) (1906-1981) 76, 130, 148 Kaup, Ignaz (1870-1944) 126 Keiter, Friedrich (1906-1967) 204f. Kern, Fritz (1884-1954) 153 King, Louis E. (1898-1981) 73, 77, 79 Klages, Ludwig (1872-1956) 125, 150f., 236 Klineberg, Otto (1899-1992) 14f., 19, 5962, 65-67, 69-81, 83, 86, 88f., 92, 94106, 129f., 142f., 145, 176f., 186, 188f., 195, 211-215, 221ff., 226, 228, 230f., 234ff., 240ff., 246ff. Klopfer, Bruno (1900-1971) 210, 221f. Köhler, Wolfgang (1887-1967) 65, 164, 193 Köhn, Walter 151 Koppers, Wilhelm (1886-1961) 111 Krause, Fritz (1881-1963) 206 Kretschmer, Ernst (1888-1964) 61, 150f., 212 Kretschmer, Paul (1866-1956) 114 Kroeber, Alfred L. (1876-1960) 54, 62f., 120ff. Kroh, Oswald (1887-1955) 151 Kruse, Walther (1864-1943) 170 Kühnemann, Eugen (1868-1946) 201 Laban, Rudolf von (1879-1958) 217 LaGuardia, Fiorello (1882-1947) 220 Lamprecht, Karl (1856-1915) 143, 214 Lange, Johannes (1891-1938) 164, 210 Lanier, Lyle H. (1903-1988) 67, 74, 99ff., 104, 195, 229 Lasker, Bruno (1880-1965) 98 Lehmann, Hedwig (*1863) 108, 118, 126, 182, 193 Lehmann, Rudolf (1855-1927) 108, 110, 112, 116, 119, 123, 126, 193 Lenz, Fritz (1887-1976) 91, 139f., 152, 159, 161f., 172-179, 185, 187, 201, 210, 216, 221, 227, 232f. Lévy-Bruhl, Lucien (1857-1939) 18, 24, 121, 251 Liebermann, Max (1847-1935) 210 Lipmann, Otto (1880-1933) 130 Lippmann, Walter (1889-1974) 42, 55
P ERSONENVERZEICHNIS | 323
Lips, Julius (1895-1950) 198 Lloyd George, David (1863-1945) 111 Loeb, James (1867-1933) 115 Locke, Alain (1886-1954) 97 Lorimer, Frank 97 Lowie, Robert H. (1883-1957) 54f., 62, 86, 121f. Luh, Chih Wie 213 Luria, Aleksander (1902-1977) 95 Luschan, Felix von (1854-1924) 108f., 112, 116, 119, 126f., 214 Lyman, R.C. 213 Macari, Leopold M. (1912-1978) 210, 221 Malinowski, Bronisław (1884-1942) 120 Malzberg, Benjamin (1893-1975) 98 Mann, Cecil W. (1896-1967) 68 Marcuse, Max (1877-1963) 170 Martin, Rudolf (1864-1925) 112, 178 Mauss, Marcel (1872-1950) 176 McDougall, William (1871-1938) 61, 90ff., 129 McFarland, Ross 210 Mead, Margaret (1901-1978) 19f., 55ff., 66, 110, 143, 147, 223, 232, 237 Meinhof, Carl (1857-1944) 119 Mendel, Gregor (1822-1884) 160 Mendelssohn, Moses (1729-1786) 211 Merkenschlager, Friedrich 185, 199, 204 Meyer, Adolph E. (1898-1988) 131f. Meyer, Eduard (1855-1930) 113 Michels, Robert (1876-1936) 125 Michelson, Nicholas (Nikolai) (*1897) 82, 118, 209, 224 Mirenova, Anna 95 Mitchell, Blythe C. 67, 94 Mollison, Theodor (1874-1952) 83, 162, 176, 184, Muchow, Martha (1892-1933) 147, 194 Muckermann, Hermann (1877-1962) 193 Mühlmann, Wilhelm Emil (1904-1988) 231-235, 237, 248 Muller, Hermann J. (1890-1967) 47, 175 Mumford, William 68 Murphy, Gardner (1895-1979) 212, 222, 225 Myers, Charles S. (1873-1946) 15 Myrdal, Gunnar (1898-1987) 77, 105 Newman, Horatio Hackett (1875-1957) 67, 93f., 192, 226 Nietzsche, Friedrich (1844-1900) 91
Nohl, Hermann (1879-1960) 226 Nußbaum, Wilhelm (1896-1985) 82, 209, 224 Oakesmith, John 91 Odum, Howard W. (1884-1954) 86ff., 93, 102 Ogburn, William (1886-1959) 93, 98 Oliver, R.A.C. 68 Osborn, Frederick (1886-1956) 97, 222ff. 225 Park, Robert Ezra (1864-1944) 9ff., 87, 90, 166, 225 Park, Willard Z. (1906-1965) 98 Parsons, Elsie Clews (1875-1941) 119 Passarge, Siegfried (1867-1958) 153 Paterson, Donald S. (1892-1961) 44 Pearson, Karl (1857-1936) 91f. Penck, Albrecht (1885-1945) 112, 197 Petermann, Bruno (1898-1941) 230ff., 248 Peters, Wilhelm (1880-1963) 138f., 142, 163, 178, 187, 190, 194, 138f., 144148, 234, 246, Peterson, Joseph (1878-1936) 33, 41, 66f., 74, 99ff., 229 Pfahler, Gerhard (1897-1976) 150 Pintner, Rudolf (1884-1942) 44, 73, 92f. Ploetz, Alfred (1860-1940) 91 Poffenberger, Albert (1887-1977) 58f. Poll, Heinrich (1877-1939) 232 Porteus, Stanley D. (1883-1972) 40f., 44, 46, 68f., 91f., 97, 100, 138, 226 Pressey, Sidney (1888-1979) 93 Preuss, Konrad Theodor (1869-1938) 120, 202 Price, Joseph St. Clair 102, 104 Quetelet, Adolphe (1796-1874) 25, 92 Radcliffe-Brown, Alfred (1881-1955) 120 Radin, Paul (1883-1959) 18, 232, 237 Reche, Otto (1879-1966) 93, 162, 171, 176, 184 Reichard, Gladys A. (1893-1955) 110, 214 Reuter, Edward B. (1881-1946) 90, 93, 98 Ripley, William (1867-1941) 29 Robertson, John M. (1856-1933) 91 Rodenwaldt, Ernst (1878-1965) 166, 179, 204, 206
324 | I NTELLIGENZ UND R ASSE Rorschach, Hermann (1884-1922) 190, 192 Rosenwald, Julius (1862-1932) 115 Rothacker, Erich (1888-1956) 151, 164 Rüdin, Ernst (1874-1952) 164, 184, 221f. Rutz, Ott(o)mar (1881-1952) 215 Saller, Karl (1902-1969) 184-189, 192, 204, 234, 246 Sapir, Edward (1884-1939) 59, 66, 120 Schaxel, Julius (1887-1943) 199 Scheerer, Martin (1900-1961) 76, 147 Scheidt, Walter (1895-1976) 93, 118, 161f., Schemann, Ludwig (1852-1918) 232 Schmidt, Wilhelm (1868-1954) 120ff., 173, 199 Schmidt-Ott, Friedrich (1860-1956) 114, 118 Schwesinger, Gladys C. (1893-1964) 68, 226 Seler, Eduard (1849-1922) 108, 112 Shapiro, Harry L. (1902-1990) 222, 224 Siemens, Hermann Werner (1891-1969) 189 Simmel, Georg (1858-1918) 9 Simon, Théodore (1872-1961) 28 Spearman, Charles (1863-1945) 43 Spengler, Oswald (1880-1936) 125f., 149, 172, 201, 246 Squires, Paul 65f., 69 Staggerda, Morris 40, 88f., 188, 204, 226, 228 Stein, Gerhart (1910-1971) 167 Steinen, Karl von den (1855-1929) 108, 112 Stenzel, Julius (1883-1935) 200 Stern, Carl Wilhelm 126 Stern, William (1871-1938) 28, 30, 61, 76, 81, 129ff., 133ff., 138, 141f., 144, 146, 148, 150, 155, 181, 190, 195, 246 Stoddard, Theodore Lothrop (1883-1950) 93 Stofflet, Elliott Holmes (*1904) 209f., 221 Stonequist, Everett 225 Sumner, William Graham (1840-1910) 15 Terman, Lewis M. (1877-1956) 30f., 37, 40, 42, 44, 47, 53, 62f., 93, 146ff., 174, 222 Termer, Franz (1894-1968) 111, 178, 206
Thilenius, Georg (1868-1937) 110, 184, 232 Thomas, Dorothy 103 Thomas, William I. (1863-1947) 15 Thompson, Charles S. 92f. Thorndike, Edward (1874-1949) 30, 42f., 53, 135, 137, 176 Thurnwald, Richard (1869-1954) 27, 120f., 143, 176, 231f. Tönnies, Ferdinand (18551936) 125, 203 Tozzer, Alfred (1877-1954) 62 Trachtenberg, Dusja 81 Uexküll, Jakob von (1864-1944) 133, 141 Ullmann, Hans 170 Ungersma, Aaron John (1905-2000) 155 Van Veen, Stuyvesant (1910-1988) 215, 218 Venzmer, Gerhard (1893-1986) 204 Verschuer, Otmar Freiherr von (18961969) 145, 163, 167, 177, 189-195, 209, 221 Virchow, Rudolf (1821-1902) 16 Voegelin, Erich (Eric) (1901-1965) 178, 199, 227 Vogt, Oskar (1870-1959) 164 Wagner, Günter (1908-1952) 110 Wagner, Richard (1813-1883) 91 Wallis, Wilson D. (1886-1970) 54, 66, 121 Warburg, Aby (1866-1929) 119 Watson, Goodwin 222 Watson, John (1878-1958) 82f., 137 Weidenreich, Franz (1873-1948) 170, 184, 204 Weininger, Otto (1880-1903) 149 Wells, George Philip (1901-1985) 199 Wells, Herbert George (1866-1946) 199 Weltfish, Gene (1902-1980) 214 Wendriner, Karl Georg (1885-1943) 211, 219, 221 Werner, Heinz (1890-1964) 147 Wesle, Carl (1890-1950) 200 Wettstein, Richard von (1863-1931) 115 Whipple, Guy (1876-1941) 30 Wilhelm II. (1859-1941) 91 Wissler, Clark (1870-1947) 25, 53, 62 Wittmann, Johannes 131, 230 Wolf, Käthe 44 Wolff, Karl Felix (1879-1966) 126 Woltereck, Heinz 181
P ERSONENVERZEICHNIS | 325
Woltereck, Richard (1877-1944) 204 Woodworth, Robert S. (1869-1962) 27, 58ff., 72, 93 Wuelfing, John Max (1859-1929) 115 Wundt, Wilhelm (1832-1920) 26, 44, 132, 214 Yerkes, Robert (1876-1956) 30, 42, 45, 54, 93 Zollschan, Ignaz (1877-1944) 91, 173
Dank
Die Anlage zu dem Forschungsprojekt, das zur Grundlage dieses Buches wurde, stammt von Edith Hirte. »Zwischen den Kulturen – Franz Boas und der transatlantische Wissenstransfer in der Anthropologie, 1885-1925« lautete der Titel ihres Vorhabens, das in erster Linie den Museumsmann und physischen Anthropologen Franz Boas in der Zeit um 1900 im Blick hatte. Es lässt sich für ein geisteswissenschaftliches Forschungsthema vermutlich kein radikalerer Umweltwechsel vorstellen als der Wechsel der Bearbeiterin. Betrachtet man nun den Phänotyp, so hat er sich gänzlich anders entwickelt, als Edith Hirte und ich selbst es zu Beginn der Arbeit vermutet hätten. Das Sujet zeitlich in die 1920er und 1930er Jahre und thematisch in Richtung Intelligenzpsychologie zu verschieben, war kein gezielter Eingriff. Diese Verlagerung hat sich im Verlauf der Arbeit ergeben und zeugt davon, dass in dem historischen Phänomen Franz Boas noch immer viel Potenzial steckt, das sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln kann. Ermöglicht wurde die hier vorliegende Entfaltung durch das DFG-Schwerpunktprogramm 1143: »Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und im 20. Jahrhundert: Personen, Institutionen, Diskurse«, in dem das Projekt angesiedelt war. Mein herzlicher Dank gilt Wolfgang Hardtwig, der mir 2009 als Projektleiter dieses mir bis dahin nur entfernt bekannte Untersuchungsgebiet anvertraut hat. Weiterhin geht mein Dank an das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Berlin), wo mir Veronika Lipphardt in ihrer Research Group »Knowledge about Human Biological Diversity in the 20th Century« 2012 eine intensive Schreibphase in anregender Umgebung ermöglicht hat. Die Mitarbeiter der amerikanischen Archive, zu erwähnen sind vor allem das Columbia University Archive und das Archiv der American Philosophical Society, haben den Aufenthalt dort zu einem Vergnügen gemacht. Schließlich möchte ich für Diskussionen und Hilfen aller Art Uffa Jensen, Anja Laukötter, Philipp Müller und ganz besonders Per Leo danken.
Alexa Geisthövel Berlin, den 15. August 2013
Histoire Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (3., überarbeitete und erweiterte Auflage) Januar 2014, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2366-6
Alexa Geisthövel, Bodo Mrozek (Hg.) Popgeschichte Band 1: Konzepte und Methoden April 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2528-8
Bernd Hüppauf Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs September 2013, 568 Seiten, kart., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2180-8
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Histoire Nora Kreuzenbeck Hoffnung auf Freiheit Über die Migration von African Americans nach Haiti, 1850-1865 Januar 2014, ca. 350 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2435-9
Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel, Jürgen Danyel (Hg.) Popgeschichte Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988 April 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2529-5
Ute Rösler Die Titanic und die Deutschen Mediale Repräsentation und gesellschaftliche Wirkung eines Mythos September 2013, 326 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2324-6
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Histoire Steffen Bender Virtuelles Erinnern Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2186-0
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Günal Incesu Ankara – Bonn – Brüssel Die deutsch-türkischen Beziehungen und die Beitrittsbemühungen der Türkei in die Europäische Gemeinschaft, 1959-1987 Februar 2014, ca. 330 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2500-4
Martin Knoll Die Natur der menschlichen Welt Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topografischen Literatur der Frühen Neuzeit Mai 2013, 464 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2356-7
Oliver Kühschelm, Franz X. Eder, Hannes Siegrist (Hg.) Konsum und Nation Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1954-6
Peter Stachel, Martina Thomsen (Hg.) Zwischen Exotik und Vertrautem Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten Dezember 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2097-9
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Cécile Stephanie Stehrenberger Francos Tänzerinnen auf Auslandstournee Folklore, Nation und Geschlecht im »Colonial Encounter« Mai 2013, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2284-3
Swen Steinberg, Winfried Müller (Hg.) Wirtschaft und Gemeinschaft Konfessionelle und neureligiöse Gemeinsinnsmodelle im 19. und 20. Jahrhundert Januar 2014, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2406-9
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