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German Pages 333 Year 1990
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 587
Integration und Bundesstaat Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends
Von
Stefan Korioth
Duncker & Humblot · Berlin
STEFAN KORIOTH
Integration und Bundesstaat
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 587
Integration und Bundesstaat Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends
Von Stefan Korioth
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Korioth, Stefan:
Integration und Bundesstaat: ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends / von Stefan Korioth. - Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 587) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-06991-9 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-06991-9
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1989/1990 von der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Der Text war im März 1989 abgeschlossen. Danach erschienene Literatur habe ich noch teilweise in den Anmerkungen berücksichtigt. Herrn Professor Dr. Bernhard Schlink danke ich herzlich für die Betreuung und Förderung der Arbeit. Mein Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Klaus Schiaich für Kritik und Anregungen im Rahmen des Zweitgutachtens. Danken möchte ich schließlich Susanne Schütt, Oliver Schütt und Barbara Rammes für vielfältige Hilfe bei der Durchsicht und den Korrekturen. Ich widme die Arbeit meinen Eltern. Bonn, im August 1990
Stefan Korioth
Inhaltsverzeichnis Einleitung
13 1. Teil An den Wurzeln der Integrationslehre - das ungeschriebene Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat
I. Einführung
16
16
1. Das Frühwerk Smends
16
2. Smends bundesstaatsrechtlicher Ausgangspunkt: Dieföderativen Grundlagen des Deutschen Reiches
18
II. Der Streit um dieföderativen Grundlagen des Deutschen Reiches
20
1. Die historischen Ereignisse
20
2. Die Bedeutung der vertragsmäßigen Grundlagen des Reiches in der Politik nach 1871
21
3. Die Stellungnahmen der Staatsrechtslehre zur Entstehung des Reiches . . .
23
a) Die Ansicht v. Seydels: Das Reich als vertraglich begründeter Staatenbund
24
b) Die Ansicht Labands: Das Reich als verfassungsgesetzlich geordneter Bundesstaat
25
c) Die Trennung Triepels zwischen staatsrechtlicher und politischer Betrachtungsweise
27
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
32
1. Das Nebeneinander von Verfassungsgesetz und Bündnisverträgen
33
2. Die Vereinbarkeit von Verfassungsgesetz und Bündnisverträgen als gleichwertige Rechtsquellen
34
3. Der Zentralbegriff der „Bundestreue"
38
4. Die Bundestreue als „ungeschriebenes Verfassungsrecht"
46
8
Inhaltsverzeichnis
a) Die Rechtsquellenlehre des Positivismus: Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht
46
b) Die fehlende eindeutige Charakterisierung des ungeschriebenen Verfassungsrechts durch Smend
51
c) Die heutige Unterscheidung zwischen Gewohnheitsrecht und ungeschriebenem Verfassungsrecht
52
d) Die Erweiterung der konstitutionellen Rechtsquellenlehre durch Smends ungeschriebenes Verfassungsrecht
54
e) Die Kritik des ungeschriebenen Verfassungsrechts als Rechtserkenntnisquelle und die Unterscheidung Smends zwischen „funktionellen" und „organisatorischen" Rechtssätzen
57
f) Die Funktion des ungeschriebenen Verfassungsrechts im konstitutionellen Staatsrecht 62 aa) Smends Ziel: Die Vermittlung zwischen Staatsrecht und Politik . . .
62
bb) Das Problem der „Verfassungswandlung" in den Arbeiten Labands und Jellineks
63
cc) Die Auflösung des Gegeneinander von Norm und Wirklichkeit in der Lehre Smends
66
dd) Parallelen zwischen der Verfassungswandlung nach Jellinek und dem ungeschriebenen Verfassungsrecht Smends
68
5. Die Problematik der Rechtserzeugungsquelle des ungeschriebenen Verfassungsrechts
72
6. Die politische Bedeutung der Rechtspflicht zur Bundestreue im Deutschen Reich nach 1871
79
7. Smends „Bundestreue" und der staatsrechtliche Positivismus
85
2. Teil Bundesstaatstheorie und Bundesstaatsrecht in der Integrationslehre
I. Der Gegenstand der Untersuchung
92
92
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
97
1. Der Anlaß für die Entwicklung der Integrationslehre
97
2. Die Quellen und der sachliche Bezug der Integrationslehre
101
3. Das Ziel der Theorie der Integration
103
4. Die dogmengeschichtlichen Hintergründe
107
Inhaltsverzeichnis
5. Begriff und Eigenart der Integration: Der geisteswissenschaftliche Staatsbegriff Smends 111 a) Das Grundproblem: Die Gewinnung der staatlichen Wirklichkeit aus dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft 111 b) Die Wurzeln: Die phänomenologische Methode Theodor Litts und seine soziologischen Grundbegriffe 113 c) Der Staat als Integration
123
aa) Wort und Begriff Integration
126
bb) Der staatstheoretische Bedeutungsgehalt der Integration
129
cc) Die empirisch aufweisbaren Integrationsfaktoren
134
6. Die Integration des Staates als Begriff des Politischen a) Die gegenseitige Erklärung von Staat und Politik durch Smend
136 136
b) Die Trennung von Staat und Politik im Begriff des Politischen bei Carl Schmitt 143 III. Die Bundesstaatslehre Smends als Anwendungsfall der Integrationslehre
. . . 152
1. Die bisherigen Untersuchungen zu den Anwendungsmöglichkeiten des Integrationsgedankens 152 2. Staatsgewalt, Herrschaft und Macht in der Staatslehre Smends
155
3. Die Integrationslehre des Bundes
164
4. Die Integrationslehre als Paradigma antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik? 174 IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre am Beispiel der Bundestreue 175 1. Die Neuorientierung der bundesstaatlichen Verfassung in den Jahren 1918/ 1919 176 a) Politische Voraussetzungen der Reform - Föderalismus und Unitarismus im Übergang von der Monarchie zur Demokratie 176 b) Bundesstaatliche Elemente der Verfassungsentwürfe und der Weimarer Verfassung 180 c) Neubeginn und Kontinuität des bundesstaatlichen Systems
184
2. Die Bundestreue in der politischen Praxis der Jahre 1918-1925
187
3. Das Problem der Bundestreue in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik 193
10
Inhaltsverzeichnis
a) Anschütz, Behnke, Triepel
194
b) Die Anerkennung einer „republikanischen Bundestreue" bei Lassar, Thoma und Bilfmger 197 4. Die Übertragung der Bundestreue aus dem monarchischen Staat in die Weimarer Republik bei Rudolf Smend 201 a) Smends Bemühung um den Verfassungsbegriff auf dem Hintergrund der spätkonstitutionellen Lehren 202 b) Die Bestimmung des Status der Verfassungstheorie
207
c) Der Verfassungsbegriff der Integrationslehre
210
aa) Die Verfassung als Ordnung des Integrationsprozesses
211
bb) Die Loslösung der Verfassung aus dem Gesamtzusammenhang des Rechts 215 d) Die Bundestreue als Anwendungsfall der verfassungsrechtlichen Integrationslehre 219 e) Die Bundestreue im Zusammenhang der bundesstaatsrechtlichen Dogmatik 222 f) Smends Bundesstaatstheorie und die Bundestreue
226
3. Teil Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
I. Einleitung
228
228
II. Eine Arbeit Smends zum Grundgesetz: Das Gutachten im „Kampf um den Wehrbeitrag" 229 1. Rückkehr zur Legalität der Verfassung?
230
a) Das „Wort des Grundgesetzes"
232
b) Erklärungsversuche
234
2. Ausgangspositionen und Fragen zur Smend-Rezeption
240
a) Widerruf der Integrationslehre durch Smend?
240
b) Die Ausgangslage der Staatsrechtslehre nach 1945
242
III. Auswirkung der Integrationslehre auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 245 1. Verfassungsgerichtsbarkeit und Staatsrechtlehre
245
Inhaltsverzeichnis
2. Die Rezeption der Integrationslehre am Beispiel der Bundestreue a) Föderalismus und Grundgesetz
248 249
aa) Die Entwicklung der Jahre 1945-1949
249
bb) Die Bundesstaatlichkeit im Spiegel der Staatsrechtslehre
253
b) Bundesverfassungsgericht und Bundesstaatstheorie
257
c) Die Entwicklung der Bundestreue in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 258 d) Die Konkretisierung der Bundestreue
261
e) Der Zusammenhang von Integrationslehre und Bundestreue in der Rechtsprechung 267 aa) Der unmittelbare Bereich der Bundestreue
268
bb) Die Smend-Rezeption in der Verfassungstheorie und der StatusBestimmung des Bundesverfassungsgerichts 270 (1) Die methodischen Ansätze zur Verfassungsinterpretation
271
(2) Die Diskussion um den Status des Bundesverfassungsgerichts . . . 273 (3) Die Bundestreue und das Verfassungsverständnis des Bundesverfassungsgerichts 277 f) Gründe für die Anknüpfung an die Integrationslehre IV. Die Integrationslehre in der bundesrepublikanischen Staatsrechtslehre 1. Die Weiterentwicklung des Integrationsansatzes in der Staatslehre
279 280 282
a) Der Staat als Aufgabe politischer Einheit
282
b) Der unitarische Bundesstaat
289
2. Die Rezeption der Verfassungstheorie Smends
291
a) Die Verfassung als inhaltlich angereicherte Lebensordnung von Staat und Gesellschaft 295 b) Die normative Kraft der Verfassung als Bezugspunkt verfassungsrechtlicher Dogmatik 299 Schlußbemerkung
309
Literaturverzeichnis
312
Abkürzungen
Die verwendeten Abkürzungen entsprechen dem „Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache auf der Grundlage der für den Bundesgerichtshof geltenden Abkürzungsregeln", bearbeitet von H. Kirchner und F. Kastner, 3. Auflage, Berlin/New York 1983.
Einleitung Das staatsrechtliche Lebenswerk Rudolf Smends umfaßt, beginnend mit der Dissertation aus dem Jahre 1904 und endend mit einem lexikalischen Beitrag aus dem Jahre 1975, die ungewöhnlich lange Zeitspanne von siebzig Jahren. In dieser Zeit ist Smend weder mit Kommentierungen zu einer Verfassungsurkunde hervorgetreten noch hat er größere systematische Arbeiten auf dem Gebiet des Staatsrechts, etwa Lehrbücher oder Beiträge zu Handbüchern des Staatsrechts, verfaßt. Seine Veröffentlichungen gehören dennoch zu den wichtigsten und einflußreichsten dieses Jahrhunderts auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Sie wirken zugleich über den engeren Kreis der juristischen Lehre in den Bereich der politischen Theorie hinein. Angesichts dessen überrascht es nicht, daß Smends Werk bereits vielfach Gegenstand der Forschung geworden ist. Dabei standen bislang fast ausschließlich seine Veröffentlichungen und Lehren aus den zwanziger Jahren im Vordergrund. Das hat seinen Grund: Zur Zeit der Weimarer Republik, als die deutsche Staatsrechtslehre in der Auseinandersetzung von reiner Rechtslehre und antinormativistischer Verfassungslehre um eine wissenschaftliche Erarbeitung der neuen Verfassungslage bemüht war, hat Rudolf Smend mit seiner „Integrationslehre" einen der markantesten und originellsten der damalig entwickelten Lösungsversuche vorgelegt. Den Rang, aber auch die von der Neuartigkeit der Integrationslehre ausgehende Provokation spiegelten die sofort einsetzende Diskussion der Lehre und auch die zahlreichen zeitgenössischen Rezensionen des Smendschen Hauptwerkes „Verfassung und Verfassungsrecht". Extrempositionen in der Bewertung herrschten zunächst vor. Während etwa Günther Holstein die Integrationslehre emphatisch begrüßte, widmete Hans Kelsen Smends Deutung von Staat und Verfassung als Phänomene geistiger Lebenswirklichkeit eine umfängliche Streitschrift, die im Jahre 1930 unter dem Titel „Der Staat als Integration" erschien. Schon im Jahre 1931 legte Hans Mayer dann mit seiner bis heute wichtigen Untersuchung zur Krise der deutschen Staatslehre und der Staatsauffassung Rudolf Smends den ersten Versuch einer Würdigung des zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Werkes Smends vor. Bereits in den ersten prinzipiellen Auseinandersetzungen mit der Integrationslehre traten die Schwierigkeiten der Smend-Interpretation zutage: Die knappe, teilweise aphoristische, von einer systematischen Ausformung weit entfernte Gestalt der Integrationslehre hat es hier und in der Folgezeit mit sich gebracht, daß Smend für die verschiedensten Deutungen und Standpunkte in Anspruch
14
Einung
genommen wurde. Inzwischen umfassen die Erklärungsversuche neben juristischen ideologiekritische, politologische, soziologische und sogar anthropologische Interpretationen. Über dem faszinierenden Farbenreichtum des Staatsrechts der zwanziger Jahre sind der in das Kaiserreich zurückreichende Beginn des wissenschaftlichen Wirkens Smends, aber auch die Auswirkung seiner Lehren für das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland in den Hintergrund gedrängt worden. Hier setzt die vorliegende Arbeit an. Sie versucht in ihrem ersten Teil, den Wurzeln der Integrationslehre in Smends frühen Arbeiten zur Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 nachzugehen; die in dieser Zeit noch vorsichtige, nach einem eigenen Standpunkt tastende Distanzierung Smends von der Methode und den sachlichen Grundanschauungen des staatsrechtlichen Positivismus soll in den Spannungsfeldern der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und der politischen Grundströmungen eingeordnet werden. Der zweite Teil der Arbeit knüpft unmittelbar an die Ergebnisse des ersten Teiles an. Die Integrationslehre der Weimarer Republik wird hier vor allem als kontinuierliche Fortentwicklung des Smendschen Arbeitsansatzes aus der Zeit des Kaiserreiches und als Auseinandersetzung mit der radikalen Zuspitzung des staatsrechtlichen Positivismus in der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens verstanden. Es zeigt sich, daß schon in den Arbeiten Smends zur Verfassung des Kaiserreichs neue Arbeitsansätze, methodisch vielfach noch unreflektiert, zum Tragen gekommen sind, die ihre theoretische Begründung und Ausformung erst in den zwanziger Jahren erhalten haben. Über dieser dogmengeschichtlichen Einordnung soll allerdings ein weiterer Aspekt der Integrationslehre nicht vernachlässigt werden. Sie war nicht nur ein wissenschaftliches Ereignis, ein abstraktes Gedankengebäude, sondern auch Ausdruck engagierten Staatsbürgertums. So galt ganz zum Ende der Weimarer Republik das Interesse Smends dem Problem, ob und wieweit die moderne Massendemokratie dem Ideal des „sittlich an den Staat gebundenen Bürgers" noch Raum geben kann. Da die programmatischen Neuansätze der zwanziger Jahre in vielem die „Wurzeln" (P. Häberle) der bundesrepublikanischen Staatsrechtslehre sind, bereiten die Überlegungen zur Integrationslehre der Weimarer Republik gleichzeitig den dritten Teil der Arbeit vor, der sich mit der Smend-Rezeption nach 1945 befaßt. Gerade an dieser Stelle klafft bislang eine Lücke in der Beschäftigung mit Smend: „Die Beschreibung der Smendschen Wirkungsgeschichte in der deutschen Staatsrechtslehre steht noch aus" (Vorländer). Diese Lücke überrascht angesichts der Tatsache, daß der Integrationslehre nachhaltiger Einfluß sowohl auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch auf die Staatsrechtslehre nach 1945 zugeschrieben wird. Die vorliegende Arbeit möchte einige Leitlinien und Aspekte der Fortwirkung der Integrationslehre nach 1945 aufzeigen. Daß diese Darstellung nur ein erster Ansatz zur Erforschung der Smend-Rezeption sein kann, bedarf keiner besonderen Hervorhebung. Die Bedeutung der Integrationslehre zeigt sich gerade daran, daß sie
Einung
15
auch sechzig Jahre nach ihrer Konzeption noch nicht zu einem abgeschlossenen Gegenstand dogmengeschichtlicher Forschung geworden ist, sondern die Diskussion über ihre Weiterentwicklung im Flusse ist; Smends Einschätzung aus seiner letzten zusammenfassenden Äußerung zur Integrationslehre, wonach die heutige Auseinandersetzung von juristischer Verfassungslehre und Sozialwissenschaft an den „Argumenten der Integrationslehre nicht ganz vorbeigehen" könne, hat sich bewahrheitet. Überlegungen zur Smend-Rezeption können vom heutigen Standpunkt deshalb nicht mehr als eine vorläufige Bestandsaufnahme sein. Neben die Fragen nach der Entstehung, der Ausbildung und der Rezeption der Integrationslehre trat für den Verfasser ein weiteres Interesse an dem Werk Smends: die Frage nämlich, inwieweit Smend bei der dogmatischen Bearbeitung des jeweiligen positiven Verfassungsrechts mit Hilfe seiner Lehre, die sich konsequent immer wieder auf den Schlüsselbegriff der Integration zurückbezieht und damit im Bereich der allgemeinen Staatslehre und Verfassungslehre zu verorten ist, zu rational begründeten und überzeugenden Ergebnissen gelangt. Um dieser Frage nachgehen und eine Antwort geben zu können, wird durchgehend ein Teilbereich der staatsrechtlichen Arbeiten Smends, seine Studien zum Bundesstaatsrecht, in den Vordergrund gerückt. Dieser Teilbereich bietet sich schon deshalb an, weil gerade hier Kontinuität und Wandelung des Werkes über seinen großen Entstehungszeitraum hin in einzelnen Stationen exemplarisch belegt werden können. Smend hat im bundesstaatlichen Verfassungsrecht bereits im Jahre 1916 eine Rechtsfigur etabliert, zu der er immer wieder zurückgekehrt ist und die bis zum heutigen Tage kaum an Bedeutung eingebüßt hat: Es handelt sich um den Rechtsbegriff der Bundestreue, bei dem mit Recht von einer „Langzeitwirkung" (M. Friedrich) gesprochen wird. M i t seiner Einbettung in den größeren Zusammenhang der Integrationslehre läßt der Begriff der Bundestreue die Verbindung von allgemeiner Staatslehre und Verfassungslehre einerseits, positiv-staatsrechtlicher Argumentation andererseits deutlich werden. Die Interpretation der Herleitung und Entfaltung der Bundestreue in der jeweiligen Verfassungsordnung trägt so zum Verständnis der Integrationslehre bei.
1. Teil
An den Wurzeln der Integrationslehre — das ungeschriebene Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat I . Einführung 1. Das Frühwerk Smends Zu Beginn der wissenschaftlichen Tätigkeit Rudolf Smends stehen, was wohl nicht ganz unüblich für einen jungen Verfassungsjuristen ist, rechtshistorische Forschungen im Vordergrund. Seine preisgekrönte Dissertation behandelt „Die preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen"1. Hier vergewissert sich Smend der Grundlagen des deutschen konstitutionellen Staatsrechts in der Gegenüberstellung mit der auf dem Prinzip der Volkssouveränität ruhenden demokratischen belgischen Verfassung. Unter dem bescheidenen Motto „in magnis voluisse sat est" läßt Smend Ansätze seines dabei gewonnenen Verständnisses des Verfassungsrechts erkennen. Die Tatsache, daß die auf dem monarchischen Prinzip ruhende preußische Verfassung in vielen Artikeln wörtliche Übersetzungen der entsprechenden, dort aber im Kontext des demokratischen Staatsrechts stehenden Bestimmungen der belgischen Verfassung enthält, zwingt Smend, bei der Herausarbeitung der Unterschiede hinter den Text der Verfassungsurkunde und über ihn hinaus zu fragen. Das Ergebnis ist eine Erkenntnis, in der ein Leitmotiv der verfassungsrechtlichen Arbeiten Smends bereits anklingt: „ . . . die Sätze des belgischen Rechts brauchen, wenn das preußische Staatsgrundgesetz sie auch wörtlich übernommen hat, deshalb im Zusammenhang des preußischen Staatsrechts doch durchaus nicht dieselbe Bedeutung zu haben, wie im Rahmen der belgischen Verfassung .. . " 2 . Das Verständnis der Verfassung erschöpft sich für Smend schon an dieser Stelle nicht in der Textinterpretation, sondern es bedarf der Einsicht in die geschichtlich-politischen Hintergründe. Das ist das Ergebnis der Dissertation und der Ausgangspunkt des gesamten Smendschen Werkes. So überrascht es nicht, daß Smend auf die These, gleichlautende Verfassungssätze könnten unterschiedliche Bedeutung haben, 45 Jahre später noch einmal ausdrücklich, dann im Bereich des Staatskirchenrechts, zurückkommen wird: „Aber wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe"3. 1 2 3
Göttingen 1904. Smend, Die preußische Verfassungsurkunde, S. 3. Smend, Staat und Kirche, S. 411, zu Art. 140 GG.
I. Einführung
17
Der Dissertation des Jahres 1904 folgen als nächste größere Arbeit verfassungsgeschichtliche Untersuchungen über das Reichskammergericht 4. Erst danach, kurz vor und während des Ersten Weltkrieges, sind die publizistischen Arbeiten Smends ganz dem positiven Verfassungsrecht der Reichsverfassung des Jahres 1871 zugewandt. Das Bundesstaatsrecht beschäftigt ihn in einem kurzen, aus aktuellem politischen Anlaß entstandenen Aufsatz 5 , ferner in der für die Festschrift für Otto Mayer verfaßten Abhandlung „Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat" aus dem Jahre 19166. Vor allem anhand dieser letztgenannten Abhandlung soll im ersten Teil der vorliegenden Arbeit das Eigentümliche des bundesstaatsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Denkens Smends dargestellt werden, soweit es dem monarchischen Staatsrecht des Deutschen Reiches gilt. Auf dieser Grundlage kann es dann unternommen werden, die Konzeption des späteren Hauptwerkes „Verfassung und Verfassungsrecht" aus dem Jahre 1928 unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zu bereits früher angelegten Thesen zu betrachten. Das mit der Erörterung ungeschriebenen bundesstaatlichen Verfassungsrechts auf eine Einzelfrage des damals geltenden Rechts zielende Thema des Festschriftenbeitrages des Jahres 1916 ist kein Hindernis bei einer solchen umfassenderen Deutung. Viele der kennzeichnenden Eigenarten der juristischen Arbeitsweise Smends fallen an seinem Beitrag zur Festschrift für Otto Mayer, hier schon deutlicher als in der 12 Jahre früher entstandenen Dissertation, auf. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. Die Behandlung des Problems des ungeschriebenen Verfassungsrechts im monarchischen Bundesstaat stützt Smend auf eine Erörterung der staatsrechtlichen und historischen Grundlagen des Deutschen Reiches von 1871, Grundlagen, die in der staatsrechtlichen Literatur der Zeit umstritten waren und zu völlig unterschiedlichen juristischen Deutungen geführt haben 7 . Smends Stellungnahme hierzu erlaubt es, seinen Standort in den zeitgenössischen Positionen zu bestimmen, indem sein Gedankengang, seine Fragestellungen und die Begründung der Ergebnisse darauf befragt werden, worin das Verbindende und das Neue im Vergleich zu den anderen Autoren des Staatsrechts liegen. Zudem führt die Frage nach der Existenz ungeschriebenen Verfassungsrechts in die Rechtsquellenlehre und damit zu einer Grundfrage des Verhältnisses von Staat und Recht.
4 Smend, Das Reichskammergericht, Erster Teil, Geschichte und Verfassung, Weimar 1911. 5 Die Zuständigkeit des Bundesrates in der braunschweigischen Frage, DJZ 18 (1913), Sp. 1347-1350. 6 Festgabe für Otto Mayer, S. 245 ff.; hier zitiert nach: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 39ff. 7 Jede Behandlung bundesstaatsrechtlicher Fragen in der Literatur zwischen 1871 und 1918 — aber auch darüber hinaus — war beherrscht von den Besonderheiten der Entstehung des Reiches, vgl. Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 116 ff., 120.
2 Korioth
18
1. Teil: An den Wurzeln der Integrationslehre
Was schließlich die Möglichkeit anbelangt, zwischen Arbeiten Smends zu verschiedenen Verfassungen mit Gewinn für das Verständnis der einzelnen Arbeiten Verbindungslinien herzustellen, so scheint diese Möglichkeit der Autor selbst zu billigen: In seiner letzten Veröffentlichung, einer lexikalischen Zusammenfassung der Integrationslehre, erschienen 1975, nennt Smend die Studie aus dem Jahre 1916 einen „paradigmatischen Vorläufer" 8 der späteren Integrationslehre. Damit in Einklang steht die Ansicht der Smend-Interpreten, das eine Zeitspanne von 70 Jahren umfassende Werk Smends weise eine bemerkenswerte Kontinuität auf 9 . Ob diese Ansicht tatsächlich zutrifft, mag hier zunächst dahinstehen. Jedenfalls rechtfertigt sie den Versuch, verschiedene Teile des Werkes zur gegenseitigen Deutung heranzuziehen. 2. Smends bundesstaatsrechtlicher Ausgangspunkt: Dieföderativen Grundlagen des Deutschen Reiches Dem Nachweis der Existenz ungeschriebenen Rechts im Bereich des Bundesstaatsrechts bringt Smend im Festschriftenbeitrag des Jahres 1916 ein nicht nur theoretisches Interesse entgegen. Das zeigt die thematische Beschränkung der Abhandlung auf das ungeschriebene Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, womit allein das deutsche Reich unter der Verfassung des Jahres 1871 Beachtung finden kann. Das zeigt insbesondere aber das selbstgesteckte Ziel, „die politische Wirklichkeit im Reich mit den von der Theorie behaupteten Grundlagen des Reichsstaatsrechts in Einklang (zu) bringen" 10 . Was erst seinen Einklang finden muß, steht gegenwärtig noch in Disharmonie. Der soeben zitierte Satz Smends enthält deshalb zum einen die Aussage, daß die politische Wirklichkeit, die — um einen späteren, von Smend 1916 noch nicht verwendeten Begriff anzuführen — Verfassungswirklichkeit der Beziehungen zwischen Reich und Ländern, nicht mit dem bisher am Text der geschriebenen Reichsverfassung erarbeiteten Bundesstaatsrecht in Einklang steht. Zum anderen formuliert Smend das Programm, diesen Einklang herzustellen. Der Weg dorthin soll nicht eine Forderung an die Politik sein, sich streng an die geschriebene Verfassung zu halten. Diese Forderung wäre nach Smend wenig angemessen, denn Kennzeichen der Verfassung ist ihre „inhaltliche Unvollständigkeit" 11 ; sie ist „mager" 1 2 , auf ihrem Boden besteht in den Rechtsverhältnissen zwischen Reich und 8
Smend, Art. Integration, EvStL, 2. Auflage, Sp. 1024 (1025). Scheuner, FS Smend (1952), S. 433 (434); ferner Bartlsperger, S. 2; Mols, AöR 94 (1969), S. 521; Poeschel, S. 34. Hesse, In memoriam Rudolf Smend, S. 582, spricht von der „Bruchlosigkeit des in einer Zeit tiefgehenden Wandels entstandenen Werkes". 10 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52. 11 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 55; vgl. bereits die frühere, gleichgerichtete Feststellung Smends, Hirths Annalen 39 (1906), S. 321 : Die formellen Normen des Reichsstaatsrechts seien vielfach „unzulänglich" und „fragmentarisch". 12 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52; später bezeichnet Smend die Bismarcksche Verfassung als „nur technisch" (Verfassung und Verfassungsrecht, S. 227). 9
I. Einführung
19
Ländern „eine gewisse Rechtsunsicherheit" 13 , kurz, die Verfassung sagt nicht alles, was verfassungsrechtlich gefordert ist. Diese Feststellung trifft Smend nicht als Kritiker der Reichsverfassung. Nach seiner Ansicht bestehen technische und politische Schwierigkeiten, im monarchischen Bundesstaatsrecht die Beziehungen zwischen Reich und Gliedstaaten in scharf gefaßte Verfassungsartikel einzukleiden 14 ; die geschriebene Verfassung ist also notwendigerweise unvollkommen. Bereits hier wird erkennbar, daß für Smend, auch wenn er es 1916 noch nicht ausdrücklich ausspricht, die juristische Arbeit in den formalen Bahnen des positivistischen Normativismus wenig erfolgversprechend sein kann. Seine Arbeitsweise möchte zunächst Einblick in die politischen Vorgänge und die Grundkräfte des Verfassungslebens gewinnen. Dieser Einblick soll es ihm ermöglichen, den Charakter der Reichsverfassung des Jahres 1871 als „diplomatisches Aktenstück" 15 zu überwinden und Einsicht zu gewinnen in jenes „Stück Verfassungsrecht, das entweder gar nicht oder in eigentümlich mißverständlicher Form geschrieben ist und deshalb bei der Darstellung des Reichsstaatsrechts — trotz großer praktischer Bedeutung — nur zu leicht übersehen wird" 1 6 . Smends Forderung, den Einklang von Staatsrecht und Politik herzustellen, richtet sich also an den Verfassungsjuristen, dessen Erarbeitung der geltenden Rechtssätze auf einer Analyse der politischen Vorgänge aufzubauen hat. Die Abhandlung des Jahres 1916 beginnt daher mit einer Beschreibung einzelner politischer Vorgänge zwischen Reich und Ländern, wobei diese selektiv nur der Praxis der verbündeten Regierungen entnommen sind, während die parlamentarische Praxis des Reichstages und der einzelstaatlichen Parlamente keine Berücksichtigung finden. Die Aufgabe des Juristen bei der Verwirklichung des Einklangs von reichsstaatsrechtlicher Theorie und Praxis auf dem speziellen Gebiet des Bundesstaatsrechts sieht Smend in der Feststellung ungeschriebenen Rechts zur Ergänzung des geschriebenen. Der Zentralbegriff dieses ungeschriebenen Rechts ist der Begriff der „Bundestreue" 17 , welche Einzelstaaten und Reich den anderen und dem Ganzen schuldeten. Wenn nach dem bereits zitierten Satz die Praxis mit den „Grundlagen des Reichsstaatsrechts in Einklang" zu bringen ist, so deutet dies an, daß Ansatzpunkt für die Herleitung des ungeschriebenen Rechts, das die Brücke zur politischen Wirklichkeit schlagen soll, eine neue rechtliche Würdigung der „Grundlagen des Reichsstaatsrechts" sein soll. M i t dieser Wendung knüpft Smend an den Streit um die sogenannten föderativen Grundlagen der Reichsverfassung an. Zum Verständnis seiner 13 14 15 16 17
2*
Smend, Smend, Smend, Smend, Smend,
Ungeschriebenes Ungeschriebenes Ungeschriebenes Ungeschriebenes Ungeschriebenes
Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht,
S. 53. S. 55. S. 40. S. 40. S. 52.
1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
20
Position soll deshalb ein kurzer Abriß dieses Theorienstreites mit den ihm zugrundeliegenden historischen Ereignissen der Darstellung des Smendschen Gedankenganges vorangestellt werden. Da bei Smend die föderativen Grundlagen des Reiches und der ungeschriebene Rechtssatz der Bundestreue im Zusammenhang stehen, ist es dabei von besonderem Interesse, welche Beachtung die föderativen Grundlagen des Reiches und die Bundestreue in anderen Darstellungen des Bundesstaatsrechts aus dieser Zeit gefunden haben. I I . Der Streit um die föderativen Grundlagen des Deutschen Reiches Der Streit drehte sich um die Frage, welche verfassungsrechtliche Bedeutung der Tatsache zukam, daß der Reichsgründung mehrere Vertragswerke zwischen den Regierungen der deutschen Einzelstaaten vorausgegangen waren 18 . 1. Die historischen Ereignisse Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Bundes infolge des Krieges zwischen Preußen und Österreich vereinbarten Preußen und zunächst 17 weitere norddeutsche Staaten in den sogenannten Augustverträgen des Jahres 1866 eine bundesstaatliche Neuordnung Norddeutschlands. Zu deren Verwirklichung sollte eine gemeinschaftliche Bundesverfassung ausgearbeitet werden. Bis zum Oktober 1866 schlossen sich weitere fünf norddeutsche Staaten diesem Augustbündnis an. In den Novemberverträgen des Jahres 1870, während des DeutschFranzösischen Krieges, verpflichteten sich der Norddeutsche Bund und die süddeutschen Staaten zur Gründung eines neuen deutschen Bundesstaates und zur Feststellung der neuen Bundesverfassung. Weder 1866 noch 1870/1871 jedoch wurden die Akte zum Vollzug dieser Verträge allein von den beteiligten Regierungen vorgenommen. Art. 2 des Bündnisvertrages vom 18. August 1866 19 bestimmte, daß die Zwecke des Bündnisses definitiv durch eine Bundesverfassung unter „Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden Parlaments" festzulegen waren. Der konstituierende Reichstag, gewählt am 12. Februar 1867, nahm den durch Bismarck eingebrachten Verfassungsentwurf am 16. April 1867 an, worauf die Kommission der verbündeten Regierungen den Verfassungsentwurf in der Form der Schlußberatungen des Reichstages billigte 20 . Die Vereinbarungen des Jahres 18
Vgl. zu diesen Verträgen E.R. Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 644ff., 735 ff. Abgedruckt bei E.R. Huber, Dokumente 2, Nr. 185. 20 Die weitere Entstehung des Norddeutschen Bundes vollzog sich folgendermaßen: Da die einzelstaatlichen Regierungen nach innerstaatlichem Recht nicht befugt waren, dem Staatenbund beizutreten, mußte der Verfassungsentwurf den einzelnen Landtagen zur gesetzlichen Verabschiedung vorgelegt werden. Die Landtage beschlossen den Verfassungsentwurf im Verlauf des Juni 1867 in Gesetzesform. Daraufhin trat die Verfassung des Norddeutschen Bundes am 1. Juli 1867 in Kraft. 19
II. Der Streit um die föderativen Grundlagen des Reiches
21
1870, der Sache nach Erweiterungen des Norddeutschen Bundes durch den Beitritt der süddeutschen Staaten 21 , bedurften der Zusammenfassung in einem revidierten Verfassungstext. Dem am 21. März 1871 zusammengetretenen ersten Reichstag des Deutschen Reiches wurde vom Bundesrat der revidierte Entwurf einer Reichsverfassung vorgelegt. A m 16. April 1871 nahm der Reichstag das „Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches" 22 an, in das die „Verfassungs-Urkunde für das Deutsche Reich" als Teil eingefügt war. 2. Die Bedeutung der vertragsmäßigen Grundlagen des Reiches in der Politik nach 1871 Diese Vorgänge bei der Entstehung des Deutschen Reiches, die Aufeinanderfolge von Verfassungsverträgen der monarchischen Regierungen 23 und dem Gesetzgebungsakt des Reichstages, eines nach Triepel „auf der Basis eines damals in Deutschland unerhört demokratischen Wahlsystems" 24 gewählten Parlaments, fanden in der Staatspraxis der Kaiserzeit immer wieder ihren Niederschlag. Insbesondere das entstehungsgeschichtliche Element des Vertrages diente als Bezugspunkt. Das verdeutlichen die wiederholten und entschiedenen Bekenntnisse Bismarcks zu den föderativen Grundlagen der Reichsverfassung und seine darauf gestützte Politik des Ausgleichs zwischen dem Reich, Preußen und den übrigen Einzelstaaten. In einer Reichstagsrede vom 8. Juli 1879 etwa äußerte Bismarck im Hinblick auf den Vorspruch der Verfassung: „Die verbündeten Regierungen sind das Reich und das Reich besteht aus den gesamten verbündeten Regierungen... Die verfassungsmäßige Definition des Reiches befindet sich in dem einleitenden Satze zur Verfassung über den Bundesvertrag, den die verbündeten Regierungen untereinander abgeschlossen haben und der da lautet, daß der König von Preußen und die übrigen einen Bund schließen" 25 . Die Bundesratserklärung vom 5. April 1884 betont, indem sie zugleich Bismarcks 21 Diese Erweiterungen vollzogen sich entsprechend den Geschehnissen des Juni 1867. Die Novemberverträge wurden dem Norddeutschen Reichstag und den süddeutschen Parlamenten zur Genehmigung vorgelegt, wo sie in Gesetzesform verabschiedet wurden. 22 Abgedruckt bei E.R. Huber, Dokumente 2, Nr. 218. 23 Unerheblich für den monarchischen Charakter des Bündnisses war, daß zu den Vertragsschließenden die drei Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg gehörten, die sich aristokratisch-republikanische Verfassungen gegeben hatten, vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 56 f. 24 Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 31. Das allgemeine Wahlrecht, die „damals stärkste der freiheitlichen Künste", hat Bismarck nach eigenem Bekunden bewußt als Kampfmittel auf dem Weg zur deutschen Einheit eingesetzt, ohne von seiner sachlichen Berechtigung wirklich überzeugt zu sein (vgl. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, S. 381 ff.). 25 Zitiert nach Otto Mayer, AöR 18 (1903), S. 364; vgl. hierzu auch Schröcker, Der Staat 5 (1966), S. 316f. und Kowalsky, S. 6ff.
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persönliche Auffassung wiedergibt, die Fortdauer der Vertragsgrundlage des Reiches: „Die Regierungen sind entschlossen, die Verträge, aufweichen unsere Rechtsinstitutionen beruhen, in unverbrüchlicher Treue aufrecht zu erhalten und zu handhaben" 26 . In einer Ansprache an den Bundesrat erklärte Bismarck am 1. April 1885: „Das Reich hat die feste Basis in der Bundestreue der Fürsten" 27 . Diese Äußerungen zeigen, daß mit dem Vertragsgedanken auch das diesem innewohnende Prinzip der Treue in die politischen Beziehungen zwischen den Bundesgliedern Eingang fand. Bismarck selbst machte jedoch deutlich, daß sein Bekenntnis zur Bundestreue keine juristische Stellungnahme zum Wesen des Bundesstaates enthalten sollte. Ihm kam es allein auf die Nutzbarmachung des Vertragsgedankens für die praktische Politik an 2 8 . Dies spiegelt seine Regierungstätigkeit wider. Kennzeichnend ist hier etwa das dauernde Bestreben Bismarcks, strittige Fragen innerhalb des Bundesrates nicht durch Majoritätsentscheidungen, sondern Verständigung aller Einzelstaaten einer Lösung zuzuführen 29 und in außenpolitischen Angelegenheiten eine weitgehende Abstimmung mit den Regierungen zu erreichen. Die Geschichtsforschung sieht den Grund für diese Einstellung Bismarcks nicht in einer besonderen Sympathie für den Föderalismus. Die Berufung auf die vertraglichen Ursprünge der Reichsverfassung, die Beiträge der Einzelstaaten zur Entstehung des Reiches, war oftmals Mittel zum Zweck 30 . Den bisher souveränen Landesfürsten sollte eine harmonische Eingliederung in das Reich erleichtert werden, indem ihnen immer wieder vor Augen geführt wurde, daß das Reich nichts anderes als die mit ihrer Zustimmung ins Leben gerufene staatliche Organisation Deutschlands sei 31 . Das Reich, welches nach dem Wortlaut der einzelnen Verfassungsartikel ein Bund von Staaten war, deutete Bismarck deshalb als Fürstenbund. Ein weiterer Grund für die Haltung Bismarcks war die von ihm angenommene Unvereinbarkeit von Parlamentarismus und Föderalismus. Seine Ablehnung des parlamentarischen Regierungssystems 32 ließ sich 26
Abgedruckt in Hirths Annalen 1886, S. 350ff. Zitiert nach Otto Mayer, AöR 18 (1903), S. 370. 28 Vgl. Ficker, S. 116 f.: der „föderative Sprachgebrauch" müsse politisch ausgelegt werden; vgl. auch E. Kaufmann, Bismarcks Erbe, S. 34, 45. 29 E. Kaufmann, Bismarcks Erbe, S. 32, zitiert folgende Äußerung Bismarcks: „Zwischen freien, souveränen, verbündeten Regierungen liegt die Sache anders als zwischen einzelnen Mitgliedern eines Abgeordnetenhauses." 30 Vgl. hierzu Dennewitz, Der Föderalismus, S. 75; Flemming, S. 70ff., 53 ff.; Rauh, S. 79, bewertet die besondere Rücksichtnahme Bismarcks auf den Bundesrat als föderalistisches „Scheinmanöver". 31 Vgl. Bayer, S. 6; Rauh, S. 48. 32 Rauh, S. 43 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 334. Die Funktion des Parlaments erblickte Bismarck darin, Kritik an der monarchischen Regierung zu üben, ohne aber Einfluß auf die Herrschaft zu gewinnen {Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, S. 383). 27
II. Der Streit um die föderativen Grundlagen des Reiches
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deshalb am besten durch ein einheitliches Auftreten von Reichsleitung33 und Bundesrat gegenüber dem Reichstag verwirklichen. Das föderalistische Organ Bundesrat, mit Regierungs- und Gesetzgebungskompetenzen ausgestattet, sollte die Installierung einer dem Reichstag verantwortlichen Regierung überflüssig und darüber hinaus unmöglich machen. Auf diese Weise diente der Föderalismus den Monarchien. Der Kerngedanke Bismarcks war die Verbindung von Föderalismus und Antiparlamentarismus 34 . Letzterer gipfelte in den Überlegungen aus den Jahren 1889 und 1891, einen ungefügigen Reichstag kurzerhand durch eine Auflösung des bestehenden und den Abschluß eines neuen Bundesvertrages und eine sich daran anschließende neue Verfassung auszuschalten35. Bereits in einer Äußerung vom 16. April 1886 hatte Bismarck bekannt: „Es kann wohl dahinkommen, daß ich das, was ich gemacht habe, wieder zerschlagen muß; die Leute vergessen, daß dem jetzt bestehenden Bunde dasselbe passieren kann, was dem Frankfurter Bunde 1866 passiert ist; die Fürsten können von ihm zurücktreten und einen neuen bilden ohne den Reichstag" 36 . Die Betonung der Vertragsgrundlage der Verfassung drängte so schließlich den Gesetzescharakter der vom Reichstag beschlossenen Reichsverfassung und damit ihr demokratisches Entstehungselement in den Hintergrund. 3. Die Stellungnahmen der Staatsrechtslehre zur Entstehung des Reiches Für die Staatsrechtslehre war die Aufeinanderfolge von Verfassungsverträgen und Gesetzgebungsakt bei der Verfassungsgebung immer wieder Gegenstand der rechtlichen Bewertung. Die zentrale Frage lautete, ob die Novemberverträge, rechtlich betrachtet, das neue Reich geschaffen hätten. Das von der Politik geübte Prinzip der Bundestreue dagegen trat zunächst in den Hintergrund. Wie zu zeigen sein wird, hat erst Rudolf Smend in ihm einen allgemeinen, ungeschriebenen Rechtsgrundsatz gefunden. Eine Beantwortung der Frage der Bedeutung der Novemberverträge setzte grundsätzliche Überlegungen zur rechtlichen Natur des Bundes und der Einzelstaaten voraus. Wer vertragsmäßige Grundlagen in den Vordergrund rücken wollte, sah sich bundesstaatsrechtlich vor das Problem gestellt, ob durch ein verabredetes und gemeinsames Vorgehen mehrerer bisher souveräner Einzelstaaten ein neuer Staat mit einheitlichem und unteilbarem Staatswillen 33
Den Gebrauch des Terminus „Reichsregierung" verbot Bismarck, vgl. Rauh, S. 69 Fn. 28. 34 Nawiasky, Grundprobleme I, S. 140: „So war Bismarck Föderalist, weil er Monarchist war, wie Monarchist, weil Gegner der Demokratie". Zum Antiparlamentarismus Bismarcks siehe Rein, Die Revolution in der Politik Bismarcks, S. 271 f., 280; ferner Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks, S. 13 ff. 35 Inwieweit diese sogenannten „Staatsstreichpläne" Bismarcks tatsächlich ernst gemeint waren, ist in der Geschichtsforschung strittig. Bejahend insbesondere Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks, S. 18 ff. 36 Zitiert nach Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks, S. 25.
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entstehen kann. Bejahendenfalls mußte untersucht werden, ob neben der in Gesetzesform erlassenen Verfassung des Jahres 1871 die vorausgegangenen Verfassungsverträge der Regierungen überhaupt beanspruchen konnten, Rechtsquelle des geltenden (Bundes-)Verfassungsrechts zu sein. Gesetz und Vertrag sind Grundlagen einer Staatenverbindung, die nicht ohne weiteres nebeneinander Geltung beanspruchen können 37 . Verträge setzen eine Koordination der Partner voraus, während das Verfassungsgesetz im Wege der einseitigen Setzung das Verhältnis des Oberstaates zu seinen untergeordneten Gliedern und das Verhältnis der Glieder untereinander regeln will. Auch unter methodischen Aspekten ist die Bewertung der föderativen Grundlagen des Reiches von Bedeutung. Die Einschätzung der Verträge als Verfassungsrecht konnte nur auf der Grundlage einer Rechtsquellenlehre erfolgen, die für die Anerkennnung weiterer Rechtsquellen neben der Verfassungsurkunde offen war. Dasselbe gilt für den ungeschriebenen Grundsatz der Pflicht zu bundestreuem Verhalten. a) Die Ansicht v. Seydels: Das Reich als vertraglich begründeter Staatenbund
Die Ansicht, daß allein die Vertragswerke die Grundlagen des Reichsstaatsrechts bildeten, findet sich bei Max von Seydel 38 . Sie steht in engsten Zusammenhang mit der von ihm durchgeführten Negierung der Möglichkeit einer Existenz von Bundesstaaten überhaupt. Seydel setzte die Staatsgewalt mit der Souveränität gleich. Da die Souveränität notwendiges Merkmal des Staatsbegriffes und unteilbar sei, müsse auch die Staatsgewalt unteilbar sein. Daraus folge, daß es neben dem Einheitsstaat als Staatenverbindung nur den Staatenbund geben könne. Bei diesem verbleibt die Souveränität bei den Mitgliedsstaaten. Der Bundesstaat, in dem die Ausübung der Staatsgewalt durch den Bund und die Einzelstaaten erfolgen soll, sei schon begrifflich unmöglich, weil er die Teilbarkeit der Souveränität voraussetzen würde. Bei der begrifflichen Bestimmung der Staaten Verbindung im Deutschen Reich geht die v. Seydelsche Lehre vom Modell der völkerrechtlichen Verbindung des Deutschen Bundes aus dem Jahre 1815 aus. Im Bismarckschen Bundesstaat erblickt sie nichts anderes als die Fortsetzung dieses Bundes souveräner Staaten. Dem Reich selbst könne keine Staatsqualität zugebilligt werden 39 . Die Existenz einer Gesamtstaatsgewalt, die von der Summe der Gliedstaatsgewalt verschieden ist, stellt v. Seydel deshalb in Abrede. Folgerichtig stehen bei ihm die Verträge der Jahre 1866/1870 bei der Behandlung des Reichsstaatsrechts völlig 37
Vgl. etwa Zorn I, S. 69, nach dem die rechtliche Verbindung im Bundesstaat nur ein Gesetz sein kann. 38 v. Seydel, Commentar, Einleitung; ders., Abhandlungen, S. Iff.; dazu Barschel, S. 15f.; Harbich, S. 23f.; Nawiasky, Bundesstaat, S. 199ff.; ders., Max von Seydel, S. 4ff.; Usteri, S. 186 ff. 39 v. Seydel, Commentar, Einleitung, insbes. S. 11; ders., Abhandlungen, S. 15, 25ff.
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im Vordergrund. Die Ansicht, der Reichstag sei Teilnehmer der Verfassungsvereinbarungen gewesen, hält er für irrig 4 0 . Der Reichstag sei allein beratend tätig geworden, seine Zustimmung zu den Verfassungsvereinbarungen war Vertragsbedingung zwischen den verbündeten Fürsten. Die Bundes ver träge ihrerseits waren auf die Herstellung immerwährender gegenseitiger Verpflichtungen der Bundesstaaten gerichtet; eine Verdrängung der Verträge durch die in Gesetzesform erlassene Reichsverfassung habe nicht stattgefunden. 1897 schrieb v.Seydel: „Das Vertragsverhältnis besteht nach wie vor fort und ist die Grundlage, auf welcher die Reichsverfassung als Gesetz beruht... Die unterm 16. April 1871 verkündete Verfassung ist wie ihre Vorgängerin (seil, die Verfassung des Norddeutschen Bundes) zugleich formelles Gesetz und Staatsvertrag" 41 . Dabei sieht v. Seydel, da das Deutsche Reich als Staatenbund keine eigene Rechtspersönlichkeit habe, die Reichsverfassung als gleichmäßig in allen deutschen Staaten geltendes Landesgesetz an. Wenn aber auf der Ebene des Bundes allein die Bündnisverträge Grundlage des Verfassungsrechts sind, besteht ein Dualismus der Grundlagen des Reichsstaatsrechts von vorneherein nicht. Das Problem des Verhältnisses gesetzlicher Subordination und vertraglicher Koordination im Bundesstaat umgeht v. Seydel, indem er im Recht der Staatenverbindungen allein Beziehungen gleichgeordneter Verbündeter kennt. Aus der vertraglichen Basis des Reiches leitet v. Seydel auch die Geltung des Vertragsprinzips der Treue her 4 2 . Der Gliedstaat, so führt er aus, schulde den anderen Vertragstreue. Gegenüber dem Bund könne er sich durch verletzende Handlungen eines Vertragsbruchs schuldig machen. In diesem Fall setze er sich dem vertraglichen Zwang aus. Eine Gehorsamspflicht der Gliedstaaten gegenüber dem Bund bestehe aber nicht, denn das Verhältnis beider sei nicht das von Staat und Untertan. Diese Auffassung stimmte, was v.Seydel selbst betont 4 3 , mit den Grundsätzen der Regierungspraxis überein. b) Die Ansicht Labands: Das Reich als verfassungsgesetzlich geordneter Bundesstaat
Einen völligen Gegensatz zur Lehre v.Seydels stellt die Stellungnahme Labands zu den Grundlagen des Reichsstaatsrechts dar. Den Vorgängen bei der Gründung des Deutschen Reiches sei, so meint Laband, nichts zu entnehmen, was für ein dauerndes vertragsmäßiges Verhältnis der Einzelstaaten untereinander angesehen werden könnte 44 . Zwar hätten die Novemberverträge des Jahres 1870 vertragsmäßige Rechte und Pflichten der Kontrahenten begründet. Diese aber hätten sich nur auf den Eintritt der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund bezogen und seien durch die Vollzugshandlungen beim 40 41 42 43 44
v.Seydel, v.Seydel, v.Seydel, v.Seydel, Laband I,
Commentar, Eingang, S. 15. Commentar, Eingang, S. 25. Abhandlungen, S. 57f. Commentar, Eingang, S. 23. S. 89.
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
Eintritt durch Erfüllung erloschen. Laband sieht ferner die Annahme eines fortdauernd vertragsmäßigen Charakters des Reiches durch die Tatsache widerlegt, daß die definitive Festlegung der staatsrechtlichen Grundsätze „nicht in der Form eines Vertrages, sondern in der Form eines Verfassungsgesetzes erfolgte" 45 . Dem zugrunde liegt der Versuch Labands, die Merkmale aller Staatenverbindungen an zivilrechtlichen Kategorien des Gesellschaftsrechts zu orientieren. Der Kategorie der nicht rechtsfähigen Personengesellschaft entspricht der vertragsmäßige, dem Völkerrecht zugehörende Staatenbund. Der Bundesstaat dagegen ist korporativer, staatsrechtlicher Natur und dem Begriff der juristischen Person zuzuordnen 40 . Das privatrechtliche Gegenstück ist der rechtsfähige Verein. Die Begründung der Bundesstaatslehre Labands orientiert sich damit recht deutlich am Modell des dezentralisierten Einheitsstaates. Der Bundesstaat hat einen selbständigen, übergeordneten Willen, der von dem seiner Mitglieder zu unterscheiden ist. Die Kategorie des Vertrages, der eine Gleichordnung der Partner voraussetzt und auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts allein im Völkerrecht seinen Platz findet, paßt nicht zu der begrifflichen Herleitung des Bundesstaates durch Laband. Die vorausgesetzte Subordination der Einzelstaaten unter das Reich 47 führt Laband dann konsequent durch. Zwar mißt er den Einzelstaaten des Deutschen Reiches von 1871 den Charakter autonomer, wenn auch nicht souveräner Staaten, bei. Auf der anderen Seite wird immer wieder die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich betont, vermittelt durch das Prinzip des „Gehorsams" gegenüber den „Gesetzesbefehlen" 4* des Reiches. Das Bismarckreich ist für Laband zu allererst nicht Bund, sondern Staat. Eine Erörterung der Frage, ob es im Bundesstaatsrecht ungeschriebenes Verfassungsrecht gibt oder geben kann, fehlt bei Laband völlig. Sein vierbändiges Werk über das Reichsstaatsrecht ist geprägt von der Identifikation von Verfassung und Verfassungsgesetz 49. Dennoch erwähnt Laband, wenn auch an 45
Laband I, S. 90; ähnlich Meyer/Anschütz, S. 694; Haenel, Staatsrecht I, S. 53 f.; später Anschütz, VVDStRL 1 (1924), S. 12. 46 Laband I, S. 61 f. 47 Laband I, S. 59: „Der Gliedstaat ist nach unten Herr, nach oben Untertan". Noch einseitiger spricht Schulze I, S. 12, ausschließlich von „Gehorsamspflichten" der Einzelstaaten. 48 Laband I, S. 107 ff. Besonderes Gewicht haben deshalb in Labands Darstellung die Institute der Reichsaufsicht, der Reichsexekution und der Kompetenz-Kompetenz des Reiches. 49 Auch dort, wo sich Laband dem ungeschriebenen Recht in Form des Gewohnheitsrechts zuwendet, geschieht dies mit zwei Einschränkungen. Zum einen kennt Laband Gewohnheitsrecht mit Verfassungsrang nicht (vgl. dazu noch unten 1. Teil, Fn. 130). Zum anderen wird dem Gewohnheitsrecht derogative Kraft gegenüber dem Gesetz kategorisch abgesprochen, vgl. Laband II, S. 75 f. u. Fn. 1 zu S. 75.
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versteckter Stelle, das Prinzip der Treue im Bundesstaatsrecht 50. Bezeichnenderweise steht es jedoch bei ihm nicht in Beziehung zu der von Bismarck geübten Verfassungspraxis, sondern allein im Zusammenhang der verfassungsmäßigen Reichsaufsicht und damit der rechtlichen Gehorsamspflicht der Länder gegenüber dem Reich 51 . Laband unterscheidet zwei Gegenstände des Aufsichtsverfahrens 52. Ist eine Materie reichsrechtlich geregelt, besteht eine Pflicht der Einzelstaaten zum Gesetzesgehorsam. Fehlt ein Reichsgesetz und kann deshalb das Verhalten der Länder lediglich allgemeine Interessen des Reiches verletzen, nicht aber eine gesetzliche Gehorsamspflicht, so besteht eine Pflicht der Gliedstaaten zur Treue gegenüber dem Reich. Eine weitere Ausarbeitung dieses zweiten Gegenstandes der Reichsaufsicht nimmt Laband jedoch nicht vor. Bedeutung habe nur die Aufsicht über die Ausführung der Reichsgesetze53. Es ist deutlich zu spüren, daß auch hier Labands Interesse allein dem gesetzlich bestimmten Verhältnis zwischen Reich und Gliedstaaten gilt. Die Treuepflicht hat gegenüber der Gehorsamspflicht nur ergänzende Funktion, solange eine dem Reich zugewiesene Materie reichsgesetzlich noch nicht geregelt ist. c) Die Trennung Triepels zwischen staatsrechtlicher und politischer Betrachtungsweise
Trotz der konträren Ergebnisse zeigt es sich, daß Laband und v. Seydel bei der Behandlung der rechtlichen Grundlagen des Reiches von 1871 methodisch in ähnlicher Weise vorgehen. Beide versuchen, die historischen Ereignisse und die Reichsverfassung von 1871 jeweils dem juristischen Begriff aus der Lehre der Staatenverbindungen zu subsumieren, der ihnen für die staatliche Existenz Deutschlands vorzuschweben scheint. Die politische Schöpfung Bismarcks wird an den vorhandenen juristischen Typen gemessen, deren Anwendbarkeit auf die deutsche Staatenwelt von vornherein feststeht 54. Auf dem Gebiet des Bundesstaatsrechts läßt sich das Ergebnis ihrer Darlegungen so umschreiben: Beide Autoren legen, jeweils auf ihre eigene Art, Rechenschaft über die äußeren Rechtsformen des staatlichen Lebens ab 5 5 . Es kam ihnen auf eine rein rechtsdogmatische Argumentation zum Begriff des Bundesstaates und auf eine klare Trennung und Lösung der juristischen Probleme dieser Staatsform an. Eine Berücksichtigung der zugrundeliegenden 50
Vgl. zum Folgenden Bayer, S. 8 f. Ansonsten stellt Laband I, S. 246, den Grundsatz auf: „Rechtlich ist es jedem Staate unverwehrt, sein egoistisches Interesse bei der Instruktionserteilung allein im Auge zu behalten." Einer solchen, rein formalen Betrachtung ist natürlich die Berücksichtigung einer Treuepflicht fremd. 51
52 53 54 55
Laband I, S. 107 ff. Laband I, S. 109. Vgl. Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 110. Zur Würdigung v.Seydels in dieser Hinsicht Nawiasky, Max von Seydel, S. 13.
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1. Teil: An den Wurzeln der Integrationslehre
soziologisch-politischen Sachverhalte findet zur Lösung von Rechtsproblemen weder bei Laband noch bei v. Seydel statt. Diese juristische Isolierung ist zunächst kein Mangel, sondern ein Verdienst ihrer Lehren 56 . Deren Schwächen liegen nicht in der methodischen Beschränkung, sondern in der Einseitigkeit der jeweiligen theoretischen Konstruktion: Die Ausrichtung Labands am Einheitsstaat zwingt die Einzelstaaten in seiner Darstellung in die völlige Subordination unter die Reichsgewalt. Der mögliche Ausgleich dieses Verlustes, eine vermehrte Einflußnahme der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens, findet nur ganz am Rande Labands Interesse und Sympathie 57 . A n dem selbständigen Willen des Bundesstaates sind die Gliedstaaten nicht wie Gesellschafter einer Personengesellschaft beteiligt, vielmehr sind sie dem Bundesstaat als der übergeordneten juristischen Person unterworfen. Die Auffassung v. Seydels dagegen, das Bismarckreich sei in Wirklichkeit eine Fortsetzung des seit 1815 in Deutschland bestehenden Staatenbundes, besticht zwar durch ihre lückenlose und geschlossene Durchführung im System v. Seydels, sie ließ sich jedoch nur mühsam mit der Existenz der Reichsverfassung vereinbaren und fand wenig Gefolgschaft 58 . Warum insbesondere die höchste staatliche Gewalt im Sinne v. Seydels immer unteilbar sein soll, so daß die Möglichkeit eines Bundesstaates prinzipiell ausgeschlossen ist, ist nicht recht einzusehen. Theoretisch läßt sich eine höchste Gewalt denken, die in ihrer Kompetenz auf ein genau abgegrenztes Sachgebiet beschränkt ist. Damit läßt sich der Zwischenbegriff des Bundesstaates neben dem Begriff des Einheitsstaates und dem des Staatenbundes aufstellen. V.Seydel versuchte, das Bundesstaatsproblem aus der Welt zu schaffen, indem er seinen Gegenstand, den Bundesstaat, aus der Welt schaffte 59 . 56 Dieses Verdienst der formalistischen Bundesstaatslehren übersieht M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken, S. 47, völlig, wenn er die Bundesstaatsdebatte als eine Kontroverse bezeichnet, die mit „abwegigem Scharfsinn und überflüssiger Schulmeisterei" geführt worden sei und den „verengten Blickkreis der positivistischen Staatsrechtsjurisprudenz, ihren mangelnden Probleminstinkt' 4 habe hervortreten lassen. 57
Laband I, S. 60 m. Fn. 1; vgl. Ό steri, S. 215; Nawiasky, Bundesstaat, S. 202. v. Seydel in der Deutung des Reiches als Rechtsverhältnis folgend jedoch v. Müller, Krit. Vierteljahresschrift 25 (1883), S. 150 ff. Vorsichtige Zustimmung äußerte Otto Mayer, AöR 18 (1903), S. 337 ff. Das Deutsche Reich entspreche zwar dem politischen Begriff des Bundesstaates, rechtlich aber sei es ein Monarchenbund (a.a.O., S. 363 ff.). Im Begriff des Bundesstaates gebe es insofern einen Widerspruch, als Staat und Bund sich ausschlössen (a.a.O., S. 340 u. 341 Fn. 7). Mit seinen Bedenken gegen die Staatennatur der Glieder eines Bundesstaates sei v. Seydel völlig im Recht. — Interessanterweise fand die These vom Staatenbundcharakter des Bismarckreiches nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung neue Anhänger, so Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 18, 104ff.; ebenso ders., Zeitschrift für öffentliches Recht 3 (1922/1923), S. 514; ders., Fischers Zeitschrift für Verwaltungsrecht 57 (1925), S. 147. Wittmayer ließ sich offenbar von dem Wunsch leiten, die Diskontinuität zwischen dem Kaiserreich und der Republik besonders herauszustellen. 58
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So das kritische Resümee Nawiaskys,
Bundesstaat, S. 201.
II. Der Streit um die föderativen Grundlagen des Reiches
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Die Kritik an der Seydelschen Darstellung der Grundlagen des Reichsstaatsrechts faßte Triepel im Jahre 1907 folgendermaßen zusammen 60 : Es ließe sich zwar nicht leugnen, daß dem Norddeutschen Bund und dem Reich des Jahres 1871 die Verträge einer Reihe bis dahin rechtlich unabhängiger Staaten zugrundelägen. Indem aber die Staaten die vertragsmäßig geschuldeten Handlungen zur Entstehung der neuen Bundesgewalt vornahmen, seien sowohl das Augustbündnis von 1866 als auch die Novemberverträge des Jahres 1870 erloschen, so wie Schuldverträge des Privatrechts durch Erfüllung erlöschen. Die Verträge sind nach Triepel „für das Recht nicht mehr vorhanden. A n die Stelle des vertragsmäßigen Verhältnisses ist das gesetzliche, ist die Verfassung getreten" 61 . Die Verträge sind zu rein geschichtlichen Tatsachen geworden. Dennoch will sich Triepel, und das ist an seiner Darstellung der föderativen Grundlagen des Reichsstaatsrechts bemerkenswert, mit dieser rein juristischen und in dieser Hinsicht für ihn zwingenden Bewertung nicht zufriedengeben: Dem unbefangenen Blick nämlich könne nicht verborgen bleiben, daß jene Verträge in der Staatspraxis des Reiches eine bedeutsame Rolle spielten 62 . Insbesondere Bismarck habe ja immer wieder das Bundesverhältnis der Fürsten als Grundlage des Reiches betont und zur Legitimation politischer Maßnahmen herangezogen. Unausgesprochen konstatiert Triepel damit das, was dann zehn Jahre später für Smend der explizit herausgestellte Ausgangspunkt der Überlegungen zum Bundesstaatsrecht ist: die partielle Unvereinbarkeit der Staatspraxis in den Beziehungen von Reich und Einzelstaaten mit den verfassungsgesetzlich normierten Grundlagen dieser Beziehungen. U m so interessanter, insbesondere im Hinblick auf den späteren Lösungsversuch Smends, ist der von Triepel gewiesene Ausweg. Den Widerspruch zwischen juristischem Nichtvorhandensein und tatsächlicher Bedeutsamkeit der Bündnisverträge will er als nur scheinbaren Widerspruch entlarven und damit aus der Welt schaffen. Die Staatsrechtslehre sei zwar auf dem ihr eigenen Gebiet mit der kategorischen Verneinung vertragsmäßiger Grundlagen der Reichsverfassung völlig im Recht. Zu einem anderen Ergebnis führe aber eine politische, „dynamische" 63 Betrachtungsweise. Deren Standort bestimmt Triepel nur negativ dahingehend, daß sie für die Entscheidung einer konkreten Rechtsfrage nichts hergeben könne. Der Rechtscharakter einer Verfassung könne nicht danach beurteilt werden, wie sich die Verfassung und ihre Grundlagen in den Augen der Staatsmänner darstellten. Die wiederholte Berufung der Politiker auf die Bündnisverträge, so ist Triepel wohl zu verstehen, kann also diesen Verträgen keine rechtliche Bedeutung 60
Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 24 ff. Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 25; ebenso bereits ders., Völkerrecht und Landesrecht, S. 183. 62 Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 25. 63 Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 23. 61
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
verleihen und sie insbesondere nicht in den Rang von Rechtsquellen des Verfassungsrechts erheben. Dem liegt die Auffassung Triepels zugrunde, die Politik, verstanden als Staatspraxis, und das Staatsrecht seien zwei getrennte Sphären. Eine Verbindung zwischen ihnen kann jedenfalls nicht darin gefunden werden, daß die Politik auf konkrete Rechtsfragen Einfluß nehme. Triepels Argumentation läßt deutlich werden, daß für ihn die dogmatische Staatsrechtslehre nicht auf außerjuristische, politische Argumente zurückgreifen darf. Diese grundsätzliche Trennung von Staatsrecht und Politik bringt Triepel auch im Untertitel seiner hier herangezogenen Abhandlung zum Ausdruck 64 . Aus der Trennung folgt, daß politisch von Bedeutung sein kann, was es in juristischer Betrachtungsweise nicht ist. Auf diesem Wege hat Triepel bereits den Widerspruch zwischen dem juristischen nihil der Bündnisverträge und ihrer politischen Bedeutsamkeit als scheinbaren Widerspruch erkannt. Doch auch damit gibt Triepel sich nicht zufrieden. Er untersucht, in welcher Weise vielleicht doch noch die Bündnisverträge für den Juristen Bedeutung haben können, wenn sie schon nicht als Rechtsquelle des geltenden Verfassungsrechts und nicht als Hilfe bei der dogmatischen Bewältigung konkreter bundesstaatsrechtlicher Fragen herangezogen werden können. Die Erklärung findet Triepel in einer „psychologischen Tatsache" 65 . Die Bündnisverträge seien der Grund, warum sich die vorher souveränen Einzelstaaten an die Verfassung des Jahres 1871 gebunden fühlten. Indem Bismarck den Inhalt der Verfassung auf die Vereinbarung der Staaten stützte, sei den Gliedstaaten diese Verfassung nicht als „Machtspruch", sondern als eine „selbstgesetzte N o r m " 6 6 erschienen. Auf den an dieser Stelle möglichen Einwand, die geschichtliche Tatsache der Verträge könne so nur die Gebundenheit der Gliedstaaten, nicht aber der einzelnen Staatsbürger erklären, führt Triepel als zweiten Geltungsgrund und zweite politische Tatsache die Mitwirkung der Volksvertretung bei der Feststellung der Verfassung an 6 7 . 64
Er lautet: „Eine staatsrechtliche und politische Studie". Zwanzig Jahres nach dem Erscheinen von „Unitarismus und Föderalismus" hat Triepel in seiner Rede „Staatsrecht und Politik" das Verhältnis beider Bereiche untersucht. Dabei läßt die Rede eine vorsichtig veränderte Einschätzung der Rolle erkennen, welche die Politik für den Staatsrechtler hat. Triepel prüft die Frage, ob es methodisch richtig sein kann, daß sich die Staatsrechtslehre in Beziehung zu anderen Wissenschaften vom Staat setzt (Staatsrecht und Politik, S. 17). Seine bejahende Antwort begründet er damit, daß eine Einbeziehung des Politischen erforderlich sei, um die Normen des Staatsrechts allseitig zu erfassen (a.a.O., S. 20). Er befürwortet nunmehr die „Verbindung der politischen Erwägungen mit der logischformalen Begriffsarbeit" (a.a.O., S. 37). Rückblickend wird der staatsrechtlichen Literatur zur Bismarckschen Reichsverfassung vorgeworfen, sich im Bereich des Bundesstaatsrechts fast ausschließlich mit der „juristischen Natur des Reiches, der Länder und ihrer Verbindung beschäftigt zu haben" (a.a.O., S. 9); vgl. hierzu Koch, S. 85 ff.; Smend, Heinrich Triepel, S. 603. 65 66
Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 26. Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 29.
II. Der Streit um die föderativen Grundlagen des Reiches
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Während v. Seydel die Verfassung wegen ihrer Entstehung als Staatsvertrag ansieht und daraus juristische Folgen ableitet, ist die Verfassung für Triepel doppelt paktiert, zum einen zwischen den Gliedstaaten, zum anderen zwischen den Regierungen und der Volksvertretung. Das alles hat für Triepel aber nur politische Bedeutung, rechtliche Konsequenzen ergeben sich daraus nicht. Der politische Sinn der Bismarckschen Verfassung und ihr rechtlicher Gehalt verbleiben in einem Nebeneinander; es handelt sich nicht um aufeinander bezogene Faktoren 68 . Diese sorgsame Trennung zwischen Recht und Politik und die Zuordnung der Bündnisverträge zu dem letzteren Bereich führt Triepel dann konsequent für die Bestimmung des Prinzips der Bundestreue durch. Da die von Triepel anerkannte Treuepflicht ihre Wurzel in den Bündnisverträgen findet, ist sie eine politische, nicht eine rechtliche Pflicht 69 . Es gibt zudem allein eine Treuepflicht der Gliedstaaten gegenüber dem Reich. Auf das Problem der Bundestreue kommt Triepel später noch einmal zurück, und zwar in seinem 1917 erschienenen Werk „Die Reichsaufsicht". Ohne Bezug auf den im Jahr zuvor veröffentlichten Beitrag Smends zur Festschrift für Otto Mayer und ohne den Begriff der Bundestreue zu verwenden, anerkennt Triepel hier eine ungeschriebene Rechtspflicht der Länder zur „Erfüllung der verfassungsmäßigen Bundespflicht, die Interessen des Reichs oder andere von der Reichsverfassung anerkannte Gemeininteressen zu achten" 70 . Die Parallele zu der von Laband begründeten Treuepflicht ist auffallend: Ähnlich diesem begrenzt Triepel die Treuepflicht darauf, Maßstab der Reichsaufsicht in den vom Reichsgesetzgeber noch nicht erfaßten Fällen seiner Zuständigkeit zu sein 71 . Eine in allgemeiner Weise den Ländern auferlegte rechtliche Treuepflicht kennt Triepel dagegen nicht 7 2 , ebensowenig eine Treuepflicht des Reiches gegenüber den Einzelstaaten. Einen Zusammenhang dieser einseitigen Rechtspflichten mit den bündischen Grundlagen des Bismarckreiches braucht Triepel angesichts des begrenzten Themas seiner Untersuchung, der insbesondere in Art. 4 RV dem Reich zugewiesenen Aufsicht über die Länder, nicht herzustellen 7 3 . Die von ihm herausgearbeitete Treuepflicht beruht auf der Reichsverfas67
Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 31. Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 269 m. Fn. 2. 69 Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 29. 70 Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 451. 71 Somit betrifft die Rechtspflicht der Einzelstaaten in der seit Triepel geläufigen Terminologie den Bereich der „selbständigen Aufsicht". 72 Vgl. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 451 f. 73 Es kann also nicht davon gesprochen werden, wie Bayer, S. 13, dies tut, daß Triepel einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Treuepflicht kennt. Bayer vernachlässigt den bei Triepel eng begrenzten Anwendungsbereich der Treuepflicht. Dieser hat keinesfalls die Treue als Maßstab der wechselseitigen Beziehungen zwischen Reich und Gliedstaaten im Blick. Im Jahre 1923 hat Triepel, Festgabe für Wilhelm Kahl, S. 23 f., dann auch 68
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
sung, auf deren Einhaltung die selbständige Reichsaufsicht gerichtet ist. Triepels Thema ist nicht die bündische Treue, sondern die verfassungsgesetzlich vorgesehene 74 . I I I . Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht Diesen hier grob skizzierten Diskussionsstand findet Smend vor, als er in seinem Festschriftbeitrag „Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat" eine Diskrepanz zwischen der Praxis des Bundesstaatsrechts und den von der Theorie behaupteten Grundlagen des Reichsstaatsrechts feststellt. Die Staatspraxis ist dabei für Smend gleichbedeutend mit der Regierungspraxis. Die Verhandlungen und Willensbekundungen des Reichstages finden bei ihm keine Berücksichtigung, was bei der Klärung der politischen Bedeutung des ungeschriebenen Verfassungsrechts noch zu zeigen sein wird 7 5 . M i t der „Theorie" meint Smend alle vorstehend genannten Autoren. Zwar werden die verschiedenen Lehrmeinungen — mit Ausnahme der Triepelschen — nicht ausdrücklich und ausführlich gewürdigt, doch läßt Smends Argumentation eine deutliche Abkehr von der bisherigen juristischen Behandlung der Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten erkennen. Das gilt zunächst gegenüber denjenigen Autoren, die im Gefolge Labands die Ansicht vertreten, diese Beziehungen seien allein verfassungsgesetzlich bestimmte, geprägt von der Überordnung des Reiches. Warum diese Betrachtung angesichts des von Smend selbst gesteckten Zieles, politische Wirklichkeit und Recht in Einklang zu bringen, unbefriedigend ist 7 6 , ergibt sich aus der geschilderten Regierungstätigkeit Bismarcks. Der von Laband in seiner Darstellung des Bundesstaatsrechts konsequent durchgeführte Normativismus, die Orientierung an der Reichsverfassungsurkunde mit ihren zumeist formalen Zuständigkeitsvorschriften, ist nicht in der Lage, für die von Bismarck und den Regierungen geäußerte Grundlage des „Bündnisses" die Rechtsform zu schaffen, in der diese Grundlage sich vollkommen verwirklichen kann 7 7 . Für die herrschende Lehre war die staatsrechtliche Praxis irrelevant. Die Frage der ausdrücklich eine Rechtspflicht des Reiches und der Länder zur Herstellung eines „bundesfreundlichen Einvernehmens" abgelehnt. 74 Vgl. Schröcker, Der Staat 5 (1966), S. 152. 75 Vgl. unten, 1. Teil, III. 6. 76 Später zieht sich die Labandsche Betrachtungsweise in der Kritik Smends (Verfassung und Verfassungsrecht, S. 271) sogar das Prädikat „wahrer Abgrund des Formalismus" zu. 77 Vgl. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 54, wo der Darstellung Labands Farblosigkeit und Vernachlässigung des föderativen Elements des Reichsstaatsrechts vorgeworfen wird. Später hat Smend diesen Vorwurf bekräftigt, vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 234: Laband habe die Problematik des Bismarckschen Verfassungsrechts überhaupt nicht gesehen. Vgl. auch Smend, Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre, S. 337.
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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Vereinbarkeit mit der Reichsverfassung stellte sich nicht. Ob die von Smend demgegenüber befürwortete Ausrichtung des Rechts an der politischen Wirklichkeit Aufgabe der Staatsrechtslehre sein kann oder sein soll, muß eine kritische Befragung der Position Smends ergeben; hier geht es zunächst nur darum, die Besonderheit seines Ansatzes zu verfolgen. Sein Versuch, politische Bekundungen juristisch zu erfassen, muß sich aber auch gegen die Darlegungen Triepels richten. Triepel anerkennt die politische Bedeutsamkeit der Bündnisgrundlage des Reiches, verneint dagegen ihre staatsrechtliche Bedeutung. Er verzichtet, wie oben gezeigt, im Gegensatz zu Smend ausdrücklich darauf, Politik und Staatsrecht in Einklang zu bringen. Die Seydelsche Reduzierung der Grundlagen des Reichsstaatsrechts auf die Verträge der verbündeten Regierungen schließlich hält Smend für nicht tragfähig, weil sie mit der Theorie von dem staatenbündischen Charakter des Reiches untrennbar verknüpft ist, die Smend mit der herrschenden Meinung im Reichsstaatsrecht ablehnt 78 . 1. Das Nebeneinander von Verfassungsgesetz und Bündnisverträgen U m die juristische Bedeutsamkeit der Verträge und der auf sie gegründeten Staatspraxis darzutun, beschreitet Smend einen eigenen, vor ihm noch nicht erkundeten Weg. Wenn, so beginnt Smends Überlegung angesichts der von ihm geschilderten vielfaltigen Verfassungspraxis, weder die unvollkommene Verfassung noch die Bündnisverträge jeweils für sich allein genommen die Vielfalt der tatsächlichen Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten vollständig erklären können, dann muß es möglich sein, Verträge und Verfassung nebeneinander zu stellen. Neben der verfassungsgesetzlichen Subordination gibt es dann die vertragliche Koordination der Reichsglieder. „Reich- und Einzelstaaten stehen nicht nur in dem Verhältnis der Über- und Unterordnung, das die staatsrechtliche Auslegung aus der Reichsverfassung zunächst als ihren Hauptinhalt entnehmen muß, sondern zugleich in dem Verhältnis des Bundes zu den Verbündeten" 79 . Die Beziehungen zwischen Reich und Gliedstaaten werden nicht nur durch die „formelle staatsrechtliche Überordnung" 80 des Reiches, sondern auch durch die Gleichordnung der Verbündeten geprägt. Diese von Smend postulierte Gleichordnung aber verweist dorthin, wo sie am klarsten zum Ausdruck gekommen ist, nämlich auf die Bündnisverträge, die von den souveränen Einzelstaaten zur Schaffung des Deutschen Reiches abgeschlossen wurden. Daraus folgert Smend: „Die föderativen Grundlagen der Reichsverfassung' geben nicht nur den geschriebenen Sätzen der Reichsverfassung eine gewisse politische Farbe und Wirkungskraft, sondern sie bedeuten ihre Berei78 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 49 f.; vgl. auch den Vorwurf Smends, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 234, v.Seydel habe sich von vornherein auf eine Einseitigkeit seiner Gesamtauffassung festgelegt. 79 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 51. 80 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 51.
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cherung um wichtige ungeschriebene" 81. Die Bündnisverträge sind „Rechtsquelle" 82 und nicht nur historische Begebenheit. Auf diese Weise gibt es für Smend im Bundesstaatsrecht zwei sich ergänzende Rechtsquellen, die geschriebene Verfassung und die Bündnisverträge. 2. Die Vereinbarkeit von Verfassungsgesetz und Bündnisverträgen als gleichwertige Rechtsquellen Bereits dieser erste Schritt Smends wirft in seiner Begründung und in seinem Ergebnis eine Fülle von Fragen auf. Zunächst fallt ins Auge, daß Smend, obwohl er mit der herrschenden Meinung in der Staatsrechtslehre die v.Seydelsche staatenbündische Lehre von den föderativen Grundlagen des Deutschen Reiches ablehnt, den Bündnisverträgen juristische Bedeutung beimißt. Ist dies ein Widerspruch, oder ist es möglich, ausgehend von dem Bundesstaatscharakter des Reiches, die Bündnisverträge als Rechtserkenntnisquellen anzuerkennen? Eine Antwort darauf setzt die Feststellung voraus, als was für eine Art von Rechtsquelle die Bündnisverträge überhaupt in Betracht kommen konnten. Historisch handelte es sich um Verträge, durch deren Abschluß sich bisher souveräne deutsche Staaten zur Gründung eines Bundesstaates, genauer zur Errichtung einer gemeinsamen bundesstaatlichen Verfassung, verpflichteten. Verträge zwischen souveränen Staaten aber sind völkerrechtliche Verträge. Als solche können sie durchaus neben der staatsrechtlichen Rechtsquelle der Verfassung ihren Platz finden; der Dualismus beider wäre unter dem Gesichtspunkt des Rechtsquellencharakters in ein harmonisches Nebeneinander auflösbar—jedenfalls solange, als die Verträge noch nicht erfüllt worden sind und die souveränen Einzelstaaten der neuen Gesamtstaatsverfassung noch nicht als Gliedstaaten unterworfen sind. Eine Charakterisierung der Verträge als früheres, durch Feststellung der Reichsverfassung erloschenes, oder als noch geltendes Völkervertragsrecht liegt Smend jedoch ganz offenbar fern. Das läßt sich in seinen Ausführungen deutlich belegen. Die Verträge als föderative Grundlagen der Reichsverfassung bedeuten ihm eine „Bereicherung" des Reichsstaatsrechts um „wichtige ungeschriebene" Rechtssätze83. Diese sind „Reichsverfassungsrecht" 84, durch welche „einige magere Abschnitte der Reichsverfassung ihr eigentliches Leben" 85 erhalten. Die 81
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52 Fn. 21. 83 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52. Zu der eigenwilligen Folgerung Smends, den geschriebenen Verträgen ungeschriebenes Verfassungsrecht zu entnehmen, sogleich unter 3. 84 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 40. 85 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52. 82
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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Bedeutung der Verträge liegt also auf dem Gebiet des Reichsstaatsrechts, nicht des Völkerrechts. Das ungeschriebene Staatsrecht mag durch die Übernahme völkerrechtlicher Sätze entstanden sein, selbst Völkerrecht ist es nicht. Die angeführten Zitate aus Smends Abhandlung belegen aber auch, daß der in diesem Zusammenhang mögliche umgekehrte Weg, die Reichsverfassung in Zusammenschau mit den Bündnisverträgen auf die Ebene des völkerrechtlichen Vertrages zu ziehen, von ihm abgelehnt wird 8 6 . Es geht allein um Reichsstaatsrecht. Damit muß sich Smends Ansatz daraufhin befragen lassen, ob ein Nebeneinander der Verträge und der Verfassung überhaupt möglich ist. Das Problem hat seinen Sitz in der juristischen Konstruktion des Bundesstaates und der hieraus abgeleiteten Beschreibung der Rechtsbeziehungen zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten. Die deutsche Staatsrechtslehre gelangte nach langen und wenig ergiebigen Kontroversen 87 zu folgender Begriffsbestimmung: Der Bundesstaat ist ein souveräner Staat, der aus verfassungsmäßig zur Einheit zusammengefügten nichtsouveränen Einzelstaaten besteht, die an seiner Willensbildung teilnehmen 88 . Unmittelbare Folge daraus, daß die Eigenschaft der Souveränität nur dem Gesamtstaat zukommt, ist innerstaatlich die unbeschränkte Rechtsmacht des Gesamtstaates über seine Zuständigkeit, die sogenannte Kompetenz-Kompetenz. Im Extremfall, nämlich dann, wenn die Gesamtstaatsverfassung kein entsprechendes Verbot enthält, findet diese Kompetenz-Kompetenz ihre Grenze nicht einmal an der Existenz der Gliedstaaten 89 . In der Theorie könnte sich der Bundesstaat in einen Einheitsstaat verwandeln. Aus der Sicht der Einzelstaaten unterliegt ihr Kompetenzgebiet der KompetenzKompetenz des Gesamtstaates. Infolgedessen besteht das Verhältnis des Gesamtstaates zum Gliedstaat entweder in einer verfassungsgesetzlich aktuell angeordneten Unterordnung der Gliedstaaten oder in einer sich aus der Kompetenz-Kompetenz des Gesamtstaates ergebenden potentiellen, latenten Unterordnung, die nur von der Ausübung oder Ausweitung der Zuständigkeiten des Gesamtstaates abhängt. Laband und Triepel als repräsentative Vertreter 86 Das Gegenteil behaupten Meyer/Anschütz, S. 694; Behnke, S. 64, und Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 121, die Smend deshalb als Zeugen für die Ansicht des staatenbündischen Charakters des Reiches heranziehen wollen. Daß dies nicht zutreffend sein kann, zeigt Smends ausdrückliche Ablehnung der Staatenbundstheorie; vgl. hierzu auch Ficker, S. 105 Fn. 1. 87 Wiedergegeben von Barschel, S. 10-21; Harbich, S. 21 ff.; Nawiasky, Bundesstaat, S. 196-251. 88 So etwa G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 769; Laband I, S. 58 ff.; Meyer! Anschütz, S. 49. 89 Für die Reichsverfassung erörtert von Haenel, Studien I, S. 177; G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 304f.; einschränkend ders., Allgemeine Staatslehre, S. 783 f.; Laband I, S. 129: „Es ist in der Verfassung ja nirgends ausgesprochen, daß das Reich für alle Zeiten ein Bundesstaat sein und bleiben müsse. Die Verfassung gestattet ebensowohl die Fortentwicklung in dezentralisierter, föderalistischer Richtung als die Konsolidierung zum Einheitsstaat"; MeyerIAnschütz, S. 693; Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 105; vgl. dazu Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 121 f.
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der herrschenden Bundesstaatslehre stellten auf dieser Grundlage allein Untertanenpflichten der Gesamtstaaten fest. Damit ist noch nicht gesagt, daß der Gesamtstaat seine Überordnung immer in die Form des Gesetzesbefehles einkleiden muß 9 0 . Die Möglichkeit, Befehle auszusprechen, umfaßt auch die Möglichkeit, auf Zwang zu verzichten und im Wege des Vertragsschlusses einen Anspruch gegen einen Einzelstaat zu erwerben, der durch einen korrespondierenden Anspruch des Einzelstaates belastet ist. Auf dem Boden des Bundesstaates als souveränem, aus nichtsouveränen Staaten zusammengesetzten Staates, sind Verträge zwischen den Gliedern durchaus denkbar 91 . Die uneingeschränkte Souveränität des Gesamtstaates besagt aber eines: Selbst im Fall des Vertragsschlusses bleibt das potentielle Verhältnis der Über- und Unterordnung erhalten. Eine echte vertragliche Gleichordnung ist von vornherein ausgeschlossen. Der Vertrag ist im Grundsatz die „Form des Verkehrs Gleichberechtigter" 9 2 . Das Nebeneinander verfassungsmäßiger Unterordnung und vertraglicher Gleichordnung muß unmöglich sein 93 . Indem Smend dagegen gerade dieses Nebeneinander für das Deutsche Reich behauptet, weil er außer der Untertanenpflicht der Gliedstaaten die wechselseitige Pflicht zur Bündniserfüllung kennt, scheint er der Bundesstaatstheorie der nichtsouveränen Glieder nicht zu folgen. Können die Einzelstaaten, gestützt auf die Bündnisverträge, die sie unbestritten als souveräne Staaten eingegangen sind, jederzeit dem Reich die Berufung auf die vertragliche Gleichordnung entgegenhalten, so verbleibt ihnen ein eigenstaatlicher Bereich, der für den Gesamtstaat unantastbar ist. M i t anderen Worten: Den Einzelstaaten verbleibt eine Teilsouveränität. Es liegt nahe, Smends Ausführungen einen Bundesstaatsbegriff zu entnehmen, der eine Teilung der Souveränität zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten für möglich hält und als Wesensmerkmal des Bundesstaates ansieht. Diese Ansicht hatte bereits im Jahre 1853 Georg Waitz in einer Abhandlung über „Das Wesen des Bundesstaates"94 vertreten. An dieser Stelle aber ist die Auslegung Smends auf Vermutungen angewiesen. Seine Ausführungen beschränken sich darauf, für die beobachteten politischen 90
Vgl. Haenel, Studien I, S. 30, 242; Ficker, S. 4 f. Haenel, Studien I, S. 30; anderer Auffassung ist Wenzel, S. 25, der aus der Untertanenstellung des Gliedstaates folgerte, daß ein Vertrag zwischen diesem und dem Reich nicht möglich sei. 92 G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 295. 93 Vgl. Haenel, Studien I, S. 33; Zorn I, S. 399: „auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts wird der Staat seinen Unterthanen (also auch den Gliedstaaten) gegenüber niemals vertragsmäßig, d.i. nebengeordnet, sondern immer nur gesetzlich ... thätig". 94 Waitz, Grundzüge der Politik, S. 153 ff.; nähere Darstellungen geben Barschel, S. 14f.; Hatschek, Staatsrecht I, S. 58f.; Nawiasky, Bundesstaat, S. 199ff. Waitz meint mit der „geteilten Souveränität" allerdings eine Aufteilung der Kompetenzen unter die gleichberechtigten staatlichen Gewalten des Bundesstaates und der Einzelstaaten, deren sachlicher Herrschaftsbereich nicht identisch ist. Im Bundesstaat trägt jeder Staat ein „eigenes selbständiges Recht in sich" (Waitz, Grundzüge der Politik, S. 165). 91
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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Vorgänge die angemessene juristische Einkleidung zu finden; an theoretischen Konstruktionen und Lösungen konkreter Rechtsfragen durch begriffliche Ableitung aus einem vorausgesetzten Begriff des Bundesstaates ist Smend nicht interessiert. Das mag an dem begrenzten Umfang des Beitrages zu einer Festschrift liegen. Viel wahrscheinlicher erscheint es jedoch, daß Smend theoretische Darlegungen zum Bundesstaatsbegriff für das selbstgesteckte Ziel, die politische Wirklichkeit und ihre juristische Behandlung in Einklang zu bringen, überhaupt für wenig erfolgversprechend hält. Hierfür lassen sich Anhaltspunkte finden. So bedauert Smend die bisherige „theoretische Vorherrschaft einer Schablone" 95 und meint hiermit das dem republikanischen Bundesstaatsrecht der Vereinigten Staaten entnommene und auf das Deutsche Reich übertragene Modell einer absoluten Unterordnung der Gliedstaaten. An dieser Stelle verzichtet Smend auf die Entgegensetzung eines eigenen, formalen Bundesstaatsbegriffs. Seinen anderen Weg, aus der politischen Betrachtung die rechtlichen Konsequenzen zu ziehen, belegt seine im Anschluß an Otto Mayer 9 6 getroffene grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem auf einer monarchischen Verfassung ruhenden Bundesstaat Deutsches Reich und den älteren republikanischen Bundesstaaten, hier insbesondere der Schweiz und der nordamerikanischen Union. Diese Unterscheidung ist in ihrem Ursprung eine politische. Während die letztgenannten Staaten mit dem Bundesvolk als Souverän rechnen konnten, führte das Deutsche Reich seine Existenz auf den Zusammenschluß der bisher souveränen einzelstaatlichen Monarchien zurück. Die Entstehung des Bundesstaates beruhte nicht auf einer Entscheidung des Staatsvolkes, sondern auf einem gemeinsamen Vorgehen der fürstlichen Regierungen unter der Führung Preußens 97. Dies findet nach Otto Mayer seinen wesensnotwendigen Ausdruck in der Existenz des Bundesrates als eines die Gesamtheit der Staatshäupter repräsentierenden Organs. Wesensnotwendig kann aber hier nur politisch notwendig bedeuten. Aus rechtlichen Gründen war die Existenz des aus den monarchischen Staatshäuptern zusammengesetzten föderalistischen Organs für den Bundesstaat nicht wesensnotwendig 9 8 . Das hat auch Otto Mayer indirekt eingeräumt, indem er forderte, den Bundesstaat nur als politisches Programm gelten zu lassen und sich damit zu begnügen, die Rechtsformen aufzuweisen, „in welchen dieses Programm sich verwirklicht" 99 . Die Unterscheidung zwischen dem monarchischen und dem republikanischen Bundesstaat erweist sich als eine inhaltliche Auffüllung des Bundesstaatsbegriffs, die sich von der formalen juristischen Begriffsbildung entfernt. Die Unterscheidung fand deshalb in der Staatsrechtslehre kaum 95 96 97 98 99
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 59. Otto Mayer, AöR 18 (1903), S. 337 ff. Otto Mayer, AöR 18 (1903), S. 339 f. Vgl. Behnke,, S. 31. Otto Mayer, AöR 18 (1903), S. 340.
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1. Teil: An den Wurzeln der Integrationslehre
Anklang 1 0 0 , teilweise dagegen entschiedenen Widerspruch, der mit der Unbrauchbarkeit dieser Kategorien für das Staatsrecht begründet wurde 1 0 1 . Das hielt Smend nicht ab, den Gedanken Otto Mayers aufzugreifen und rechtliche Besonderheiten des monarchischen Bundesstaates festzustellen, insbesondere die Besonderheiten der rechtlichen Gleichordnung von Bundesstaat und Einzelstaaten. Der monarchischen Reichsverfassung fehle wegen ihrer Entstehung als „diplomatisches Aktenstück" 1 0 2 der „einleuchtende, volkstümliche Ausdruck" 1 0 3 der Grundlagen des nationalen Staatslebens, der bei republikanischen Staaten eine unbedingte Unterwerfung der Gliedstaaten unter die Zentralgewalt zu rechtfertigen vermöge. Auch für Smend ist, in deutlichem Anklang an Otto Mayer, der Bundesstaat zunächst politisches Phänomen eines konkreten Staates. Im monarchischen Bundesstaat Deutsches Reich lautet sein Prinzip dahingehend, daß sich „die Einzelstaaten ... mit der ganzen Irrationalität ihrer geschichtlichen Eigenart im Leben des Reichs auswirken und zur Geltung bringen" 1 0 4 sollen. Die Reichsverfassung kann deshalb den monarchischen Oberhäuptern der Einzelstaaten nicht mit „kalter Rücksichtslosigkeit" 105 eine gesetzlich bestimmte Unterordnungspflicht entgegenhalten. M i t dieser Wendung wird von Smend aus den politisch gewonnenen Kategorien des monarchischen und republikanischen Bundesstaates die Rechtsansicht der Koexistenz von Gleichordnung und Unterordnung im Bundesstaat begründet. Es bestätigt sich die These, daß Smend seinen Ausführungen keinen bestimmten Bundesstaatsbegriff zugrundelegt, sondern Otto Mayers Forderung erfüllt, für das politische Programm Bundesstaat die Rechtsformen seiner Verwirklichung bereitzustellen. Smend die juristische Ungereimtheit seiner Rechtsquellenlehre, gemessen an dem damals herrschenden juristischen Bundesstaatsbegriff, vorzuhalten, wäre aus diesem Grunde verfehlt. Seine Arbeitsweise ist eben eine andere. Nicht formale Deduktion, sondern Feststellung der Rechtssätze für eine konkrete politische Wirklichkeit ist das Ziel. Mit diesem Zwischenergebnis kann der weitere Gedankengang Smends verfolgt werden. 3. Der Zentralbegriff der „Bundestreue"
In einem zweiten Schritt unternimmt Smend auf dem Boden des Rechtsquellendualismus von Verträgen und Verfassung eine allgemeine rechtssatzmäßige 100 Ygi picker t s. 1 Fn. 3; jedoch stimmte Wittmayer, S. 113, 121, Otto Mayer zu.
Die Weimarer Reichsverfassung,
101 Affolter, AöR 34 (1915), S. 55, akzentuierte den Widerstand der formalistisch ausgerichteten Staatsrechtslehre am deutlichsten: „Die rechtsvergleichende Betrachtung der historisch gegebenen Bundesstaaten kann nur eine formale sein; sie läßt die Eigenart der durch den monarchischen Gedanken beherrschten Staatsorganisation, die nationalen Gefühle und Anschauungen völlig unberührt". 102 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 40. 103 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 39 f. 104 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 59. 105 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 59.
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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Beschreibung der Bedeutung, welche die Verträge für die Rechtsbeziehungen von Reich und Gliedstaaten haben. Die Bündnisgrundlage verlange die gegenseitige Pflicht zur Herstellung des Einvernehmens freundschaftlicher Verbündeter. Zum Vertragsgedanken gehört die Vertragstreue. So wie der Schuldner einer privatrechtlichen Vertragspflicht bei der Erfüllung die Gebote von Treu und Glauben zu berücksichtigen hat, müßten Reich und Einzelstaaten bei der Erfüllung ihrer reichsverfassungsmäßigen Pflichten und Wahrnehmung ihrer entsprechenden Rechte die Interessen des jeweils anderen beachten. Was das Reich und die Einzelstaaten einander schuldig sind, geht deshalb nur zum Teil aus der Reichsverfassung hervor, die sich in „formellen Vorschriften" 106 erschöpft. Als Zentralbegriff der durch die Bündnisverträge bestimmten zweiten Ebene des monarchischen Bundesstaatsrechts führt Smend den bisher allein im politischen Sprachgebrauch bekannten Begriff der „Bundestreue" 1 0 7 , 1 0 8 in die Staatsrechtslehre ein. Die Neuartigkeit dieses allgemeinen bündischen Rechtssatzes zeigt der Vergleich mit den Darlegungen Triepels und Labands zur rechtlichen Treuepflicht im Bundesstaat. Smend kennt einerseits nicht nur eine Rechtspflicht der Länder gegenüber dem Reich, sondern er möchte die Bundestreue auf jede Beziehung im Bundesstaat anwenden. Andererseits ist die Treue nicht eine sachlich eng begrenzte Pflicht, die allein als Maßstab der Aufsicht des Reiches in Betracht kommt. Smends Treuepflicht ist keine reichsverfassungsmäßige, sondern eine bündische. Sie ist Nachwirkung des Bündnisses der Souveräne. Sie nimmt den politischen Sprachgebrauch und die 106
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 51. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 55. Daneben verwendet Smend die Begriffsbildungen der „bundesfreundlichen Vertragstreue" (a.a.O., S. 51), der „bundesfreundlichen Gesinnung" (a.a.O., S. 51) und der „bundesstaatlichen Höflichkeit" (a.a.O., S. 56). Es handelt sich hierbei nicht, wie dies Bayer, S. 24, annimmt, um Synonyme zur Bundestreue. Allein die Bundestreue faßt Smend als Rechtspflicht auf, nicht dagegen die Bundesfreundlichkeit. So erläutert er z.B.: Die Verständigung zwischen Reich und Einzelstaaten in außenpolitischen Dingen habe nicht allein auf bundesfreundlichem Verhalten der Reichsleitung beruht, sondern vielmehr ein verfassungsrechtlich gefordertes Verhältnis hergestellt (a.a.O., S. 42). Dieser sorgfaltig abgestufte Sprachgebrauch verdeutlicht, daß die Verletzung der Pflicht zur Bundesfreundlichkeit noch kein Unrecht, kein rechtswidriges Verhalten bezeichnen soll. Die Smendsche Bundesfreundlichkeit ist also keine Rechtspflicht. Vgl. auch Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 239, wo die Bundesfreundlichkeit als lediglich „pflichtmäßige Tendenz" bezeichnet wird. 107
108 Nach Stern, Staatsrecht I, S. 646, wird die Entwicklung des allgemeinen Rechtsinstitutes der Bundestreue heute zu Unrecht Smend zugeschrieben. C.J. Bluntschli habe es bereits 1876 herausgestellt. Der von Stern, a.a.O., zitierte Satz Bluntschlis belegt jedoch, daß dieser allein die politische Treuepflicht bei der Regierung des Bundesstaates behandelt, nicht jedoch eine rechtliche Treuepflicht. Auch nach W. Geiger, Treuepflicht, S. 113, hat Smend keine neue Erkenntnis ausgesprochen. Die von Geiger herangezogenen früheren Belege für die Anerkennung der Bundestreue meinen jedoch ebenfalls „das bundesfreundliche Verhalten als Grundlage des politischen Zusammenlebens" (Geiger, a.a.O.). Geiger verkennt, daß das Neue bei Smend die Aufstellung des entsprechenden allgemeinen Rechtssatzes ist.
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Regierungspraxis vornehmlich Bismarcks auf und verwandelt das dort herrschende Leitmotiv in einen Rechtssatz. Die These Smends ist dadurch als ein dem monarchischen Bundesstaat Deutsches Reich eigentümliches Prinzip entwickelt worden. Nur in diesem Staat, der nach Smend den „Einzelstaaten durch ihre Beteiligung am Bundesrat und durch ihre Ausführung der Reichsgesetze eine entsprechende Beteiligung auf dem eigenen Boden der Reichszuständigkeit für das ganze Leben der bundesstaatlichen Gesamtheit" 109 eingeräumt hat, beansprucht sie zunächst Geltung 1 1 0 . An dieser Stelle nun fällt eine merkwürdige Unklarheit an den Darlegungen Smends ins Auge. Einerseits sollen die Bündnisverträge selbst Rechtsquelle sein, wenn auch nicht in dem Sinne, daß die einzelnen Vertragsbestimmungen selbst nach Gründung des Reiches konkrete Verhaltensanordnungen enthalten könnten, sondern erst dadurch, daß die politische Praxis ihnen die Pflicht zur dauernden Bündniserfüllung entnimmt. Andererseits ver ortet Smend die von ihm als Rechtssatz anerkannte Bundestreue dann wiederum an der Verfassung, denn es handelt sich um „ungeschriebenes Verfassungsrecht", das „hinter dem geschriebenen Verfassungssatz" 111 steht, also ohne diesen kein Eigenleben zu führen vermag. Der Rechtsquellendualismus, so scheint es, wird damit im Ergebnis wieder aufgehoben, indem die Verträge als unselbständige Ergänzungen der Verfassung herangezogen werden. Dann aber möchte man fragen, warum Smend den Bündnisverträgen zunächst juristische Bedeutung beimißt, um aus ihnen die Pflicht zur Bundestreue zu gewinnen, anstatt die Verträge schlicht als historische, entstehungsgeschichtliche Tatsachen bei der Auslegung der Reichsverfassung zu berücksichtigen. Die Gründe für die von Smend gewählte Herleitung der Bundestreue liegen in seinen Ausführungen nicht offen zutage. Sie lassen sich indirekt herausfinden, wenn der Frage nachgegangen wird, warum durch Auslegung allein der Reichsverfassung eine allgemeine Treuepflicht des Reiches und der Gliedstaaten, auch wenn auf den Begriff der „Bundes"Treue verzichtet worden wäre, nicht zu gewinnen war. Ein Hinweis auf die Labandsche repräsentative Darstellung des Bundesstaatsrechts, die, orientiert an der Verfassung, nur die darin vorgesehenen einzelnen Kompetenzen und sonstigen Rechte zu gewinnen vermochte, kann dazu nicht genügen. Denn Smend hätte ja mit seiner ganz anderen Arbeitsweise die Beobachtung der politischen Vorgänge, insbesondere der Rücksichtnahme auf die einzelnen Regierungen in der Verhandlungspraxis des Bundesrates, direkt an die einschlägigen Organisationsvorschriften, etwa die
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Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 57 f. Später hat Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 269, 272, diese sachliche Beschränkung fallengelassen und auch für den durch die Weimarer Reichsverfassung konstituierten Bundesstaat den Rechtssatz der Bundestreue aufgestellt, vgl. unten, 2. Teil, IV. 4. 110
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Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 53.
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betreffs des Bundesrates, herantragen können, ohne die Bündnisverträge als Rechtsquelle zu bemühen. Ein Grund dafür, warum Smend diesen Weg nicht eingeschlagen hat, mag in folgendem liegen: Die Reichsverfassung konstruierte einen Bundesstaat, in dem einem Gliedstaat, nämlich Preußen, eine deutliche Vorrangstellung gegenüber den anderen Gliedstaaten zukam. Ein Fortbestehen des Reiches wäre rechtlich und tatsächlich ohne Preußen nicht möglich gewesen. Diese Hegemonie Preußens fand ihren Niederschlag in vielen organisatorischen Vorschriften, die sogar zur teilweisen Identifizierung des Reichs und Preußens aus der Sicht der anderen deutschen Staaten führten 112 . Der preußische König war zugleich deutscher Kaiser (Art. 11 I RV), der preußische Ministerpräsident einziger Reichsminister. Preußen kam nach Art. I I I RV das Präsidium im Bundesrat zu, das der Reichskanzler als preußischer Ministerpräsident ausübte 113 . M i t seinen 17 Stimmen im Bundesrat konnte Preußen zudem nach Art. 78 I RV jede Verfassungsänderung verhindern, während andererseits dasselbe Ziel die drei nächstgrößten der übrigen Einzelstaaten, Bayern, Württemberg und Sachsen, erst durch ein Zusammenwirken erreichen konnten, da sie nur gemeinsam über die nach Art. 78 I RV erforderlichen 14 Stimmen zur Ablehnung einer Verfassungsänderung verfügten. Auch auf Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches übte Preußen maßgebenden Einfluß aus. Der König von Preußen brachte die durch das Stimmenübergewicht seines Staates bereits maßgeblich geprägten Bundesratsvorlagen an den Reichstag (Art. 16 RV); der Kaiser hatte die Reichsgesetze auszufertigen und zu verkünden (Art. 17 RV). Von obersten preußischen Verwaltungsbehörden ließ sich sagen, sie seien „zum mindesten tatsächlich auch eine Reichsbehörde" 114 . Die Existenz des Reichstages, des einzigen vom preußisch beherrschten Bundesrat unabhängigen obersten Reichsorganes, konnte an der Vormachtstellung Preußen nichts ändern. Der Reichstag stand nach der Verfassung an Bedeutung hinter dem Bundesrat zurück 1 1 5 . Diese verfassungsmäßige Hegemonie Preußens, nach Triepel „das rechtlich wie politisch wichtigste Stück, aber freilich auch die heikelste Seite unserer Verfassung" 116 , hätte den Versuch, direkt aus der Verfassung ein System der Neben- und Gleichordnung der Gliedstaaten untereinander und zum Reich 112 Bei Smend heißt es dazu: „Was das Reich und die Einzelstaaten, d.h. ... politisch angesehen vor allem Preußen und die Einzelstaaten..(Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 51). 113 Diese organisatorische Verbindung Preußens mit dem Reich, aus dem das Reich erst seine Stärke herleitete, erkannte Bismarck besonders deutlich in seiner Reichstagsrede vom 10. März 1877 an: „Schneiden Sie mir die preußische Wurzel ab und machen sie mich allein zum Reichsminister, so glaube ich, bin ich so einflußlos wie ein anderer". 114 Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 113, zum preußischen Kriegsministerium. 115 Vgl. Behnke, S. 55; Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 153. 116 Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 105.
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herzuleiten, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die von der Bundesverfassung einem Einzelstaat eingeräumte führende Stellung widerspricht zwar nicht dem Begriff des Bundesstaates117, jedoch kann von einer verfassungsmäßigen Gleichordnung nicht die Rede sein, wenn ein Gliedstaat in der Lage ist, alle Willensäußerungen des Gesamtstaates maßgeblich zu beeinflussen. Die Verbindung zwischen Preußen und dem Reich verschob das Gesamtverhältnis der Einzelstaaten zum Reich. Preußen hatte an der verfassungsmäßigen Überordnung des Reiches teil, wodurch die Gleichwertigkeit der Gliedstaaten nach der Verfassung aufgehoben war. Die Hegemonie Preußens war zudem Ausdruck politischer Macht; eine aus der Macht abgeleitete Treuepflicht mag eine ethische oder politische Treuepflicht sein, eine rechtliche läßt sich aus ihr kaum begründen. Das Prinzip der Gleichordnung setzt voraus, daß die Rechtsbeziehungen im Bundesstaat nach Maßstäben zu beurteilen sind, die auf alle Einzelstaaten in gleicher Weise Anwendung finden. Diese Maßstäbe ließ die Reichsverfassung nicht erkennen. Insofern ist es zutreffend, das Überordnungsverhältnis des Reiches nach der damals herrschenden Bundesstaatstheorie als „juristische Formel für die Vormachtstellung Preußens im Reich" 1 1 8 zu bezeichnen. Smend mußte deshalb zur rechtlichen Begründung des Gleichordnungsverhältnisses der Einzelstaaten, „auch des hegemonisch verstärkten Preußen" 119 , die Reichsverfassung beiseiteschieben, wodurch gleichzeitig die Hegemonie Preußens herabgesetzt wurde. Die Aufwertung der Verträge zum Ursprung des Rechtssatzes von der Bundestreue zeigt dabei, daß Smend offenbar der Hegemonie Preußens rechtliche und nicht nur politische Bedeutung beimaß — im Gegensatz zu einem Teil der Staatsrechtslehre, welche die Hegemonie Preußens nur als politisches Prinzip anerkennen wollte 1 2 0 . Die Hegemonie, verstanden als politisches Prinzip, hätte nur die Entgegensetzung eines gegenläufigen politischen Prinzips der bundesmäßigen Gleichordnung verlangt. Die verfassungsmäßige Hegemonie Preußens erweist sich somit als ein Grund, aus 117 Vgl. Behnke, S. 55; Dennewitz, Der Föderalismus, S. 48: „ . . . die hegemonial geleitete Föderation ist eine Tatsache in der Geschichte der Staaten..."; Kittel, S. 1 : „Das Wesen des Bundesstaates läßt es wohl zu, daß ein einzelnes Glied im Bunde eine bevorrechtigte Stellung einnimmt"; Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 105, 109. 118 Schröcker, Der Staat 5 (1966), S. 326. 119 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52. 120 Ζ. B. Anschütz, Die preußische Wahlreform, S. 8, wonach das Verhältnis Preußens zum Reich „grundsätzlich kein anderes" ist, kein „anders sein kann als das, in dem jeder Einzelstaat des Reiches zum Reiche steht: Das Verhältnis des Gliedes zum Ganzen"; vgl. auch MeyerIAnschütz, S. 497; anders etwa E. Kaufmann, Bismarcks Erbe, S. 24; Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 77,111 f. Ders., Staatsrecht und Politik, S. 9f., bewertet im Rückblick die Position von Anschütz als folgerichtigen Ausdruck der Entfremdung zwischen den juristischen Konstruktionen der Staatsrechtslehre zur Bismarckschen Reichsverfassung und den politischen Wirklichkeiten. Anschütz selbst hat später die grundlegende rechtliche Bedeutung der preußischen Hegemonie anerkannt (VVDStRL 1 (1924), S. 14).
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dem Smend bei der Begründung des ungeschriebenen Rechtssatzes der Bundestreue die geschriebene Verfassung verlassen mußte. Ein anderer Grund ergibt sich aus der Methode, welche die zeitgenössische Staatsrechtslehre der Arbeit an der geschriebenen Verfassung zugrundelegte und die mit den Begriffen des „staatsrechtlichen Positivismus" und — so die zeitgenössische Umschreibung — der „juristischen Methode" verbunden ist. Diese Methode hat die Staatsrechtslehre zwischen 1871 und 1918 fast uneingeschränkt beherrscht 121 . A m reinsten findet sie ihren Ausdruck in der Darstellung des Reichsstaatsrechts durch Laband, die an Einfluß alle anderen übertraf 122 . Laband stellte die berühmte Forderung auf, daß jede Rechtserkenntnis und die Begründung juristischer Entscheidungen ohne Rückgriff auf philosophische, historische oder politische Argumente erfolgen sollte 123 . Der juristischen Dogmatik eines bestimmten positiven Rechts wird die Aufgabe „der Konstruktion der Rechtsinstitute, ... der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen" 124 zugewiesen. Diese Aufgabe bezeichnet Laband als rein logische Denktätigkeit. Allein die der Dogmatik vorgelagerte Sammlung und Kenntnis der geltenden positiven Rechtssätze unterfallt nicht dieser strengen gedanklichen Beschränkung. Laband unterteilt also die Rechtswissenschaft in zwei Ebenen, die niedere der Stoffsammlung und die höhere der begrifflichen Konstruktion. Für die juristische Erfassung der Verfassungsurkunde bedeutete dies, daß sie sich angesichts der feststehenden geschriebenen Rechtssätze in der beschriebenen logischen Denktätigkeit der Dogmatik erschöpfte. Eine Erweiterung der Verfassung um neue Rechtssätze war ausgeschlossen. Nur die juristische Konstruktion der staatsrechtlichen Grundbegriffe war zugelassen. Diese Konstruktionen aber sind ihrem Inhalt gegenüber indifferent. Im Bundesstaatsrecht 121
ν. Ο er t zen, S. 8. So bereits zur ersten Auflage des Labandschen Werkes (1878) O. v. Gierke, Schmollers Jahrbuch 7 (1883), S. 1097f.; v.Müller, Krit. Vierteljahresschriften 25 (1883), S. 145; ferner später Smend, Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre, S. 338; Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 7, resümiert aus der Sicht des Jahres 1926: „Labands Staatsrecht hat mehr als eine Generation deutscher Publizisten vollständig beherrscht". Dieser beherrschende Einfluß zeigt sich auch bei einem dem Positivismus kritisch gegenüberstehenden Autor wie G. Jellinek, für den die Staatsrechtslehre reine Normwissenschaft ist, deren Aussagen von denen über das Sein des Staates scharf getrennt werden müssen (Allgemeine Staatslehre, S. 11, 16 ff, 50). Der juristischen Methode schreibt G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, Vorrede, S. VII, das Verdienst zu, das Staatsrecht aus „dem flüssigen Elemente einer schwer zu begränzenden Kunde vom Staate" in den „festen Aggregatzustand einer juristischen Disziplin" verwandelt zu haben. 122
123
Laband I, Vorwort zur zweiten Auflage, S. IX. Laband I, S. IX; vgl. zu den einzelnen Elementen dieser Bestimmung der Aufgabe juristischer Dogmatik E-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 21 Iff.; Dreier, in: Dreier/Schwegmann, S. 19ff.; v. Oertzen, S. 254ff.; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 23ff.; Schenke, AöR 103 (1978), S. 570f. 124
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blieben die politische Existenz und die Frage nach der Rechtfertigung des Bundesstaates unberücksichtigt 125 . Indem Laband nur den rechtlichen Aufbau der vorhandenen staatlichen Organisation untersucht, sieht er es nicht als Aufgabe des Staatsrechts an, zu fragen, welche politischen Entscheidungen die vorhandene staatliche Ordnung erzeugt hätten und welche politischen Kräfte diese Ordnung stützten. Die bündische Rechtspflicht zur Bundestreue konnte also, da sie an die politischen Vorgänge zumindest anknüpft, mit der Labandschen Dogmatik keinesfalls, auch dann nicht, wenn das Prinzip der Gleichordnung im Bundesstaat trotz der Hegemonie Preußens mit der Verfassung vereinbar gewesen wäre, aus der Verfassung abgeleitet werden. Angesichts dessen bestanden für Smend um seines Zieles willen, politische Wirklichkeit und staatsrechtliche Einkleidung der Beziehungen im Bundesstaat zur Deckung zu bringen, zwei Möglichkeiten. Die erste hätte darin bestanden, das von Laband geprägte Verständnis der Dogmatik des Staatsrechts völlig zu verlassen und an die Stelle der norm- und begriffsorientierten Denkweise die konsequente Betrachtung der wechselseitigen Beeinflussung von positivem Verfassungsrecht und politischen Vorgängen zu setzen. Dann hätte bei der Auslegung der Reichsverfassung der Rechtssatz der Bundestreue durch Berücksichtigung der Bündnisverträge als politische und historische Faktoren, als Entstehungsgeschichte der Reichsverfassung und Grundlage der Regierungstätigkeit, gewonnen werden können. Später, in einem Aufsatz aus dem Jahre 1939, hat Smend selbst angedeutet, daß diese Möglichkeit bestanden hätte. Er verweist dort auf die — in seiner Abhandlung des Jahres 1916 unbeachtet gebliebene — Eingangsformel der Reichsverfassung, in der die „ReichsVerfassung selbst mit soviel Nachdruck" 1 2 6 das bündische Element des Reichsstaatsrechts herausgestellt habe. Im Jahre 1916 jedoch zieht Smend die direkte Gegenüberstellung von Verfassungsgesetz und politischer Praxis zwecks Gewinnung des neuen Rechtssatzes nicht in Betracht. Der offene Bruch mit der von Laband geprägten juristischen Methode bleibt aus. Die zweite und von Smend gewählte Möglichkeit bestand darin, einen Schritt vor der juristischen Dogmatik im engen Sinne Labands anzusetzen, nämlich bei der von Laband so bezeichneten „vollständigen Kenntnis und Beherrschung des zu bearbeitenden Stoffes" 127 , der Zusammenstellung der geltenden Rechtssätze. Indem Smend in den Bündnisverträgen im Gegensatz zur herrschenden Lehre nicht nur ein historisch-politisches Faktum erblickt, sondern sie als geltendes Recht behauptet, findet er einen rechtssatzmäßigen Ursprung der Bundestreue, 125
Vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 118; ferner M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken, S. 47 f. 126 Smend, Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre, S. 337. Dem hätte Smend einen Hinweis auf Art. 19 RV hinzufügen können, der von „verfassungsmäßigen Bundespflichten" der Bundesglieder sprach. 127
Laband I, S. IX.
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der, ergänzend neben der geschriebenen Verfassung stehend, zwischen dieser und der teilweise von anderen Prinzipien beherrschten politischen Wirklichkeit zu vermitteln vermag. Die Spannung zwischen geschriebener Verfassungsnorm und politischer Wirklichkeit wird entschärft; sie verwandelt sich in eine Spannung von „Form und Inhalt des in Frage stehenden Rechtssatzes"128, oder, anders formuliert, in die Spannung zwischen zwei Rechtssätzen, die teilweise in Widerspruch zueinander stehen und dennoch gleichzeitige Geltung beanspruchen. Die politische Erwägung wird so zum Gegenstand der Norm. Die anschließende dogmatische Erfassung der Norm kann dann, da die Norm bereits historische und politische Aspekte als juristischen Bestandteil enthält, auf die erneute Erwägung dieser Aspekte verzichten. Vordergründig konnte Smend mit diesen Begründungsschritten dem Postulat der herrschenden juristischen Methode genügen, juristische und politische Erwägungen zu trennen. Ob Smend im Jahre 1916 bewußt den völligen Bruch mit dem Positivismus vermeiden wollte, läßt sich seiner Abhandlung nicht entnehmen. Eines jedoch erscheint naheliegend: Da der staatsrechtliche Positivismus unter Labands Führung herrschend war, konnte eine auf Zustimmung angewiesene neue staatsrechtliche These sich nicht in völlig neuen methodischen Bahnen bewegen. Überzeugungskraft einer juristischen Meinung setzt voraus, daß sich ihre Begründung im Rahmen der in einer Zeit zugelassenen Argumente bewegt. Das mag der zweite Grund für die These Smends sein, die föderativen Grundlagen des Reichs hätten auch nach der Reichsgründung noch positiv-rechtlichen Inhalt. Die Problematik und Schwäche dieser These selbst, die teilweise bereits von der zeitgenössischen Kritik herausgestellt wurden, sind im folgenden noch zu behandeln. Sie betreffen die Entstehung und methodische Herleitung der Rechtspflicht zur Bundestreue. Zuvor jedoch ist die Klärung erforderlich, welcher Kategorie von Verfassungsrechtsnormen Smend den Grundsatz der Bundestreue zuweist. Dies betrifft den Rechtsquellencharakter der Bundestreue im Sinne einer Rechtserkenntnisquelle. 128 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 43. Die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt deutet eine Rezeption der methodischen Überlegungen Haenels an, bei dem sich Smend 1908 habilitierte {Leibholz, Rudolf Smend, S. 17). Haenel gehört zu den positivismusimmanenten Kritikern der juristischen Methode Labands (vgl. M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken, insbes. S. 64ff.). Haenel, Staatsrecht I, S. 115f., 156, unterscheidet in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Staates zwischen der juristisch-konstruktiven und der staatswissenschaftlichen Methode. Letztere untersucht die tatsächlichen Lebensverhältnisse innerhalb des Staates und zielt damit auf den „Inhalt" der juristischen Gegenstände, deren rechtliche Gestaltung nur die äußere „Form" darstellt. Die Rechtsinstitute sind damit auf die von ihnen geregelten Lebensverhältnisse bezogen, das Rechtsdenken muß dementsprechend wirklichkeitsorientiert sein. Vgl. zu diesem Ansatz bei Haenel auch Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 31 ff.
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4. Die Bundestreue als „ungeschriebenes Verfassungsrecht" Die Feststellung, daß die Reichsverfassung keine Normierung der Pflicht zur Bundestreue aufwies und dieser Rechtssatz deshalb „ungeschriebenes Verfassungsrecht" sei, enthält nur dann eine abschließende und präzise Verortung, wenn unter dem Begriff des ungeschriebenen Verfassungsrechts in der damaligen Staatsrechtslehre eine ganz bestimmte Art von Verfassungsrechtsnormen verstanden wurde und Smend sich diese Rechtsquellenlehre zu eigen gemacht hat. a) Die Rechtsquellenlehre des Positivismi»: Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht
Ein Blick auf die systematischen Darstellungen des Reichsverfassungsrechts zeigt zunächst eine auffallige Zurückhaltung in der Behandlung der Rechtsquellenlehre. Weder Labands „Staatsrecht des Deutschen Reiches" noch Haenels „Deutsches Staatsrecht" widmen diesem Problemkreis einen eigenen Abschnitt, während Meyer/Anschütz 129 in einer Aufzählung der Rechtsquellen des deutschen Staatsrechts neben Gesetzen und Verträgen das Gewohnheitsrecht erwähnen. Die Existenz der Verfassungsurkunde lenkte das Interesse vorrangig auf die Darstellung und Auslegung des darin enthaltenen Verfassungsrechts im formellen Sinne. Das Phänomen des ungeschriebenen Verfassungsrechts findet kaum Beachtung, geschweige denn eine systematische Bearbeitung oder eine Klärung des Verhältnisses von Gewohnheitsrecht und ungeschriebenem Recht. Laband erwähnt nicht einmal verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht als besondere Rechtsquelle 130 . Andere Autoren betonen bei einer kursorischen Behandlung des Gewohnheitsrechts, daß angesichts der Kodifizierung des Verfassungsrechts für Gewohnheitsrecht nur ein sehr beschränkter Raum verbleibe 131 . Selbst die thematisch nicht auf eine Darstellung des geltenden Reichsstaatsrechts zielende Allgemeine Staatslehre Georg Jellineks ist in ihrem die allgemeine Staatsrechtslehre behandelnden Dritten Buch auf den Begriff der geschriebenen Verfassung fixiert. „Die Verfassung des Staates", so schreibt Jellinek zwar zur Einleitung des Kapitels über die Staatsverfassung, „umfaßt... in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art 129
Meyer IAnschütz, S. 230 ff.
130
Vgl. Laband II, S. 68 ff., 75 f. Warum das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle des Verfassungsrechts für Laband nicht in Betracht kommen konnte, erklärt seine besondere Definition dieser Rechtsquelle an anderer Stelle {Laband, Budgetrecht, S. 3). Gewohnheitsrecht gilt hier als „Inbegriff der im Volksbewußtsein lebenden Rechtsnormen, die von der Staatsgewalt nicht fixirt und ausgesprochen worden sind". Es ist der „Gegensatz" zum Gesetz. Da aber für Laband allein der Staat zur Setzung von Verfassungsrecht befugt ist, müssen in diesem Bereich gewohnheitsrechtliche Bildungen ausgeschlossen sein. 131 MeyerjAnschütz, heitsrecht, S. 25.
S. 233 f.; Zorn I, S. 398 f.; vgl. Tomuschat, Verfassungsgewohn-
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ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des einzelnen zur Staatsgewalt" 132 . Im weiteren aber geht Jellinek dann trotz dieses weiten Verfassungsbegriffes nicht mehr auf die verschiedenen Arten der „Rechtssätze" ein. Er unterscheidet vielmehr Staaten mit oder ohne Verfassungsurkunde 133, und in jenen Staaten, also auch dem Deutschen Reich, besteht nach Jellinek das Hauptproblem bei der Feststellung der Verfassungsrechtssätze in der Abgrenzung der Verfassungsgesetzgebung von der einfachen Gesetzgebung. Ungeschriebenes Verfassungsrecht, darauf beschränken sich die Darlegungen Jellineks in diesem Zusammenhang, kann sich neben oder gegen die geschriebene Verfassung entwickeln 134 . Eine weitere Betrachtung, geschweige denn eine genaue Bestimmung des schillernden Begriffs, findet sich nicht. Der Grund hierfür liegt darin, daß das Interesse Jellineks an der nicht gewohnheitsrechtrechtlichen Bildung von Verfassungsrecht außerhalb der Verfassungsurkunde um die Begriffe des „materiellen" Verfassungsrechtssatzes und der „Verfassungswandlung" 135 kreist. „Ungeschriebenes Verfassungsrecht" dagegen ist eine von Jellinek ejier beiläufig verwendete Wortzusammensetzung, aber ganz offensichtlich kein Rechtsbegriff, der eine eigenständige Rechtsquelle bezeichnete. Auf eine eingehende Untersuchung des Problems des Gewohnheitsrechts verzichtet Jellinek an anderer Stelle mit der Begründung, es liege außerhalb des Rahmens seines Werkes über die Allgemeine Staatslehre 136 . Jellinek erläutert nicht, trotz seiner expliziten Anerkennung der Bedeutung von Gewohnheitsrecht, warum diese Rechtsquelle kein Gegenstand ist, der unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Staats und Recht ein unabdingbar zu behandelnder Teil einer allgemeinen Staatslehre ist. Das ist zunächst deshalb erstaunlich, weil gerade Jellinek immer wieder betont, daß die Positivität des Rechts überhaupt allein auf subjektiven psychologischen Momenten, auf der Überzeugung von der Gültigkeit des Rechts beruht 1 3 7 — ein Phänomen, das für die Anerkennung von Gewohnheitsrecht nach herkömmlicher Auffassung eine zentrale Bedeutung hat. 132
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 505. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 531. 134 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 536. 135 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 536 m. Anm. 1. 136 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 339 Fn. 1. Ders., Gesetz und Verordnung, S. 334f., erwähnt die Bedeutung von Verfassungsgewohnheitsrecht trotz Vorhandenseins der lex scripta der Verfassungsurkunde. Auch an dieser Stelle aber hält Jellinek eine Vertiefung des Problems des Verfassungsgewohnheitsrechts für nicht erforderlich. Er bemerkt: „Es wäre für jedes positive Staatsrecht eine interessante Arbeit, die Sätze nachzuweisen, die nicht auf der lex scripta der Verfassungsurkunde, sondern auf constitutionellem Gewohnheitsrecht beruhen." Hier ist die Vernachlässigung des Gewohnheitsrechts damit zu erklären, daß die Schrift „Gesetz und Verordnung" sich allein mit dem staatlich gesetzten Recht beschäftigt. 133
137
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 333 f.
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Die Gründe für das auffallende Desinteresse Jellineks an dem Problem des Gewohnheitsrechts lassen sich nur indirekt seinen Ausführungen entnehmen, teilweise sogar nur vermuten. Ansatzpunkt der Klärung ist die ihm eigentümliche Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Recht. Jellinek lehrt, daß dem Staat die Tendenz innewohnt, sich zum alleinigen Inhaber der Herrschaftsgewalt in einem bestimmten Gebiet über bestimmte Menschen zu setzen. Dadurch geht auch fast die gesamte Rechtsbildung in die Hände des Staates über 1 3 8 . Die Setzung von Recht ist Willensakt der Staatsmacht, verbindliche hoheitliche Anordnung, die in einem förmlichen Verfahren festgestellt wird. Der Staat ist das Seinsfaktum, das „hinter" dem Recht steht 139 . „Damit wird es... des Staates Recht, alles innerhalb seiner Grenze geltende Recht zu regulieren, so daß im modernen Staate alles Recht in staatlich geschaffenes und staatlich zugelassenes Recht zerfällt" 1 4 0 . Die Bildung von Gewohnheitsrecht, das keinem förmlichen staatlichen Rechtserzeugungsverfahren entspringt, ist damit zwar nicht ausgeschlossen; eine Aufnahme des Gewohnheitsrechts in die Rechtsordnung setzt aber immerhin eine staatliche Zulassung oder stillschweigende Billigung voraus 1 4 1 . Auf diese Weise wird das Gewohnheitsrecht von der außerstaatlichen Übung der Rechtsunterworfenen wieder zur staatlichen Autorität als Ursprung der Rechtssetzung zurückgeführt. Die staatliche „Zulassung" des gemeinschaftsgeschaffenen Rechts ist im Ergebnis nichts anderes als die unmittelbare staatliche Rechtsetzung durch das Gesetz. Die Entstehung von Gewohnheitsrecht ist folglich für Jellinek kein spezifisches Problem der besonderen Rechtsquelle Gewohnheitsrecht. Es handelt sich für ihn vielmehr um das allgemeine Problem der Entstehung und Setzung von Recht überhaupt. Dieses Problem behandelt Jellinek ausführlich 142 . Die deshalb eher beiläufigen Bemerkungen zu den Besonderheiten von ungeschriebenem Verfassungsrecht und Gewohnheitsrecht lassen insgesamt nicht viel mehr erkennen, als daß Jellinek den Begriff des verfassungsrechtlichen Gewohnheitsrechts nicht als Synonym für den Begriff des ungeschriebenen Verfassungsrechts verwenden möchte, im Gegensatz zu anderen Autoren, die beides ohne nähere Begründung gleichsetzen143.
138
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 365f.; ders., Staatenverbindungen, S. 262. Vgl. G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 300: „Die Rechtsordnung... beruht auf dem Dasein einer ihr vorangehenden, durch sie legalisirten Staatsgewalt". 140 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 366f.; vgl. auch dens., Gesetz und Verordnung, S. 214. 141 Hier klingt bei Jellinek die besondere positivistische Variante der Gewohnheitsrechtstheorie, die sogenannte „Gestattungstheorie", an. Weil nach positivistischer Auffassung alles Recht vom Staat ausgeht, soll dies nach der Gestattungstheorie auch für das Gewohnheitsrecht gelten. Dessen Rechtsqualität setzt deshalb staatliche Duldung oder stillschweigende Anerkennung seitens des Staates voraus. Vgl. zur Gestattungstheorie Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 178 Fn. 23, 430f., 435. 139
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Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 337 ff.
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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Zusammenfassend läßt sich folgendes sagen: Ganz offenbar erschöpft sich für die Staatsrechtslehre nach 1871 das ungeschriebene Recht im Gewohnheitsrecht 1 4 4 . Soweit ersichtlich, wird vor der Arbeit Smends nur zweimal vom Gewohnheitsrecht unterschiedenes ungeschriebenes Verfassungsrecht thematisiert. Die umfangreiche Abhandlung Triepels aus dem Jahre 1908 über ungeschriebene Kompetenzen des Bundesstaates145, die als erste zu nennen ist, enthält keine Weiterführung der konstitutionellen Rechtsquellenlehre. Triepel vermeidet eine allgemeine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des ungeschriebenen Verfassungsrechts. Er konstatiert lapidar, daß über die Methoden, mit deren Hilfe ungeschriebenes Verfassungsrecht festgestellt werden könnte, noch keine Einigkeit bestehe 146 . Triepels Nachweis ungeschriebener Kompetenzen ist rechtsvergleichender Art. Als Vorbild dient die im nordamerikanischen Verfassungsrecht entwickelte Lehre von den „implied powers" der Zentralgewalt. Hatschek 147 , der sodann zu nennen ist, geht kurze Zeit später von der Überlegung aus, daß die Bildung gewohnheitsrechtlicher Normen des Verfassungsrechts oft an dem Erfordernis dauernder Übung scheitere. Dennoch gäbe es, vielfach auf nur einen oder wenige Präzedenzfalle gestützt, ungeschriebene Normen auf dem Gebiet des Staatsrechts, denn bestimmte, auch singuläre Verhaltensweisen der Staatsorgane träten mit dem Anspruch auf, Recht zu sein. Das damit aufgeworfene Problem der ungeschriebenen Verfassungsnormen und ihres Zusammenhanges mit der Verfassungspraxis umgeht Hatschek jedoch im weiteren, indem er den von ihm aufgezeigten Normen den Charakter von Rechtsnormen abspricht. Es handele sich um Normen im „Vorstadium des Rechts", die kraft „empirischer Faktizität" gälten, jedoch noch nicht in „offiziellen Rechtsquellen" 148 ihren Ausdruck gefunden hätten. Auf diesem Weg gelingt es Hatschek zwar, die Staatspraxis auch dann zum Gegenstand der Staatsrechtslehre zu machen, wenn sie nicht in der geschriebenen Verfassung ihr 143 Vgl. Meyer/Anschütz, S. 432; ferner S. 697: „durch angeschriebenes Recht', also durch Gewohnheitsrecht". 144 Bergbohm, S. 548 Fn. 12, der selbst gegen diese Identifikation als „zu steif, zu unbeweglich" ankämpft, bezeichnet die Zerlegung der Rechtserkenntnisquellen in Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht als „altgewohnt". Vgl. hierzu auch Bayer, S. 31 f.; Meinzolt, BayVBl 76 (1928), S. 526; Peters, Grundfragen, S. 52ff.; Voigt, VVDStRL 10 (1952), S. 37 f. 145
Triepel, FS Laband, S. 237ff. Triepel, FS Laband, S. 253. Jedoch enthält der folgende Satz eine Andeutung, daß Triepel unter „ungeschriebenem Recht" das Weiterdenken der geschriebenen Rechtssätze im Sinne der Konstruktion des juristischen Positivismus verstand: „Man versteht in der Rechtswissenschaft unter dem Verfahren der Konsequenz die Methode, mit deren Hilfe ungesetzte Rechtssätze als Folgen ausdrücklich gesetzter Rechtssätze dargetan werden" (a.a.O., S. 287). 146
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JöR 3 (1909), S. 3, ferner S. 34f., 67; ders., Parlamentsrecht, S. 18ff. Hatschek, JöR 3 (1909), S. 4. Diese Normen nennt Hatschek mit einem dem englischen Parlamentsrecht entlehnten Begriff „Konventionairegeln". Vgl. zu dem heute geläufigeren Begriff „Konventionen" Bryde, S. 434 m.w.N. in Fn. 21. 148
4 Korioth
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
normatives Abbild findet. Dennoch wird der letzte Schritt vermieden: Die von der Praxis befolgte Konventionairegel ist nicht Rechtsregel, „Recht muß Recht bleiben" 149 . Der Konventionairegei weist Hatschek den alleinigen Zweck zu, praktisch zweckmäßiges Handeln nachträglich zu rechtfertigen. Die generelle, für die Zukunft bestimmte Verhaltensanweisung bleibt der Rechtsnorm vorbehalten. Die überkommene Zweiteilung der Rechtserkenntnisquellen in Verfassungsgesetz und Gewohnheitsrecht lassen somit Triepel und Hatschek unangetastet, obwohl beide Autoren Phänomene als Gegenstand des Staatsrechts behandeln, die mit dieser überkommenen Zweiteilung nur mit Schwierigkeiten zu erfassen sind. Insgesamt ist deshalb festzustellen, daß in der Staatsrechtslehre des Bismarckreiches ungeklärt bleibt, was unter der Formel „Ungeschriebenes Verfassungsrecht" zu verstehen ist. Fragt man nach den Gründen hierfür, so ist in erster Linie der um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch im Staatsrecht vorgedrungene Kodifikationsgedanke zu nennen 150 . Dieser Kodifikationsgedanke verband sich später mit dem positivistischen Dogma von der Geschlossenheit der Rechtsnormen 151 . Nur was den offiziellen Rechtsquellen, dem Gesetz und ganz am Rande dem Gewohnheitsrecht entstammte, war Recht 1 5 2 . Daneben galt der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts eine geschriebene Verfassung als große Errungenschaft, die mit der Entwicklung des absoluten zum konstitutionellen Staat verbunden war. Die geschriebene Verfassung enthielt faßbare und dauerhafte Zusicherungen des Monarchen an seine Untertanen 153 . Sie bildete einen 149 Hatschek, JöR 3 (1909), S. 67, vgl. ferner S. 35. Damit übereinstimmend bezeichnet heute Kriele, Staatslehre, S. 193, die Konventionen als „Grundregeln der politischen und gesellschaftlichen Sittlichkeit, nicht des Rechts". Vgl. auch G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 28 f. 150 Am klarsten fomuliert diesen Kodifikationsgedanken Gerber, Grundzüge, S. 12f.: „Die Bedeutung des Staatsrechts läßt es als natürlich und wünschenswerth erscheinen, daß wenigstens seine Hauptsätze die Form des geschriebenen Rechts erhalten, damit sie der Sicherheit, Festigkeit und allgemeinen Erkennbarkeit theilhaftig werden, welche dem Gesetzesrechte vorzugsweise eigen ist". 151 Laband, Budgetrecht, S. 75, bemerkt hierzu: „Eine Lücke in der VerfassungsUrkunde darf man nicht verwechseln mit einer Lücke in der Staatsverfassung. Die letztere ist ein undenkbarer Begriff; Gesetze können lückenhaft sein, die Rechtsordnung selbst kann ebensowenig eine Lücke haben, wie die Ordnung der Natur". 152 Vgl. Bergbohm, S. 372ff.; Hatschek, JöR 3 (1909), S. 50, möchte die Rechtsphilosophie Hegels als Stütze und Wurzel dieser positivistischen Ansicht ansehen. Richtig ist daran sicherlich, daß Hegel, Rechtsphilosophie, § 211, das seinerzeit stark umstrittene Kodifikationsstreben unterstützte. In § 212 der Rechtsphilosophie findet sich ferner der Satz: „ I n dieser Identität des Ansichseins und des Gesetztseins hat nur das als Recht Verbindlichkeit, was Gesetz ist." Mit dem Begriff „Gesetz" meint Hegel aber nicht das geschriebene Gesetz, sondern das „Recht an sich", dasjenige, was als „Recht gesetzt ist und als Recht bekannt ist" (Rechtsphilosophie, § 211).
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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Friedensschluß nach politischen Umwälzungen und eine feierliche Verbriefung neuer Errungenschaften. Eine ungeschriebene Verfassung bedeutete dagegen etwas Unsicheres, Unverbürgtes, und es liegt die Annahme nahe, daß dieses Mißtrauen auf die Vorstellung jeglichen ungeschriebenen Verfassungsrechts neben der Verfassungsurkunde erstreckt wurde. b) Die fehlende eindeutige Charakterisierung des ungeschriebenen Verfassungsrechts durch Smend
Angesichts dieses Befundes ist für den Sprachgebrauch Smends im Jahre 1916 festzustellen, daß mit der Wendung vom „Ungeschriebenen Verfassungsrecht" keine präzise Verortung im Rechtsquellensystem des konstitutionellen Staatsrechts vorgenommen wurde. Aus diesem Grunde hätte eine eigene Begriffsbestimmung nahegelegen. Darauf verzichten aber die Ausführungen Smends. Die Wendung vom ungeschriebenen Verfassungsrecht wird nicht erklärt, sondern allein aus stilistischen Gründen gelegentlich variiert. So spricht Smend von „nicht geschriebenem Verfassungsrecht" und „Verfassungsgrundlagen", letzteres in Gegenüberstellung zur Verfassungsurkunde 154. Der Begriff des Gewohnheitsrechtes andererseits findet nur an einer Stelle und in einem Zusammenhang Verwendung, der zumindest vermuten läßt, daß für Smend der ungeschriebene Rechtssatz der Bundestreue etwas anderes als Gewohnheitsrecht ist 1 5 5 . Insgesamt jedoch berührt Smend das Problem, welcher Art von Verfassungsrechtsnormen die Bundestreue zuzuweisen ist, nicht ausdrücklich. Es ist nicht deutlich erkennbar, ob sein „Ungeschriebenes Verfassungsrecht" mit den Rechtserkenntnisquellen der zeitgenössischen Staatsrechtslehre zu vereinbaren ist, weil es sich um Gewohnheitsrecht handelt, oder ob es dieses System sprengt, weil eine neue Rechtsquelle eingeführt wird. Auch hier tritt das Eigentümliche an Smends Arbeits- und Schreibstil in Erscheinung: Hinter dem Problem, wie angesichts der politischen Praxis eine Gleichordnung im Bundesstaat rechtlich formuliert werden kann, das heißt, wie die Praxis rechtssatzmäßig erfaßt werden kann, tritt die begriffliche Bearbeitung in Smends juristischem Denken zurück. 153
Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 515 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 13 ff.; Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 1, betont den Wert der geschriebenen Verfassung unter dem Gesichtspunkt besonderer Festigkeit und Stetigkeit. H. Huber, Probleme, S. 329, weist daraufhin, daß im Begriff der geschriebenen Verfassung der Gedanke der schriftlichen Fixierung zu Beweiszwecken und der andere Gedanke des Paktes, der Vereinbarung zwischen dem Monarchen und seinem Volk, zum Ausdruck kamen. Siehe hierzu auch Heller, Staatslehre, S. 305, 308. 154
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 40. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 46: Eine notwendige rechtliche Eingrenzung des kaiserlichen Aufsichtsrechts nach Art. 17 RV habe in der Praxis stattgefunden, wobei es unerheblich sei, ob der Gegenstand der Aufsicht nunmehr auf „Gewohnheitsrecht beruht oder noch nicht einmal als solches anzuerkennen ist". 155
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
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Exakte Ableitungen und Definitionen sucht man hier wie an anderen Stellen seines Werkes vergeblich 156 . Ob mit der allgemeinen bündischen Rechtspflicht zur Treue Gewohnheitsrecht oder eine andere Form ungeschriebenen Rechts von Smend behauptet wird, kann daher erst aus der Argumentation Smends auf einer vorausgehenden Unterscheidung zwischen Verfassungsgewohnheitsrecht und ungeschriebenem Verfassungsrecht, wie sie heute vorgenommen wird, erschlossen werden. c) Die heutige Unterscheidung zwischen Gewohnheitsrecht und ungeschriebenem Verfassungsrecht
Maßgebend für den im Privatrecht entwickelten Begriff des Gewohnheitsrechts ist das Vorliegen einer Rechtsnorm, welche nicht von oben her, von der Zentralgewalt einer Gemeinschaft, vorgeschrieben ist, sondern sich von unten her, durch Beteiligung der Rechtsunterworfenen im Wege der freiwilligen tatsächlichen Übung, gebildet hat 1 5 7 . Rechtserzeugungsvoraussetzungen sind eine langandauernde und allgemeine Übung als objektives Element und die Überzeugung der Beteiligten von der Rechtmäßigkeit der Übung als subjektives Element 158 . Die Entstehung des Gewohnheitsrechtes läßt sich also als ein Vorgang beschreiben, der von der Faktizität zur Normativität aufsteigt. Gewohnheitsrecht ist gleichsam ein „normatives Abziehbild" 1 5 9 bestimmter Lebenssituationen. Verfassungsgewohnrecht entsteht, wenn ein bestimmtes Verhalten in der Staatspraxis über einen längeren Zeitraum hinweg mit der Annahme rechtlicher Geltung geübt wird. Als allmählich gewachsenes Recht hat Gewohnheitsrecht vorrangig die Funktion, im Verhältnis zum geschriebenen Recht ergänzend und lückenfüllend zu wirken. Es kann aber auch in den gesetzlich geregelten Bereich übergreifen und dem Gesetzesrecht widersprechen 160 . Damit ist das Problem des Gewohnheitsrechts das „Ob" seiner Geltung 156 Häberle, NJW 1975, S. 1874f., bescheinigt Smend eine „überaus sensible Sprache", welche die Konturen mitunter „impressionistisch" zurücktreten lasse — ein für einen Verfassungsjuristen etwas zwiespältiges Kompliment. Ungewöhnlich heftig fallt das Urteil Hans Kelsens über den Stil Smends aus: „Ein völliger Mangel systematischer Geschlossenheit, eine gewisse Unsicherheit der Auffassung, die klaren, eindeutigen Entscheidungen ausweicht, sich am liebsten nur in vagen Andeutungen ergeht" {Kelsen, Der Staat als Integration, S. 2, zu „Verfassung und Verfassungsrecht"). Kritisch zum Stil Smends ferner H. Mayer, Die Krisis, S. 32f.; Badura, Die Methoden, S. 186. 157
Enneccerus/Nipperdey, S. 261 ff.; Peters, Grundlagen, S. 54; Wolff/ BachofI, S. 125. Larenz, Methodenlehre, S. 341; Ossenbühl, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 104; Voigt, VVDStRL 10 (1952), S. 37; vgl. zu teilweise abweichenden Ansichten Bryde, S. 448 f.; Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 435 f. 159 Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 48. 160 Dies ist insbesondere für den Bereich des Verfassungsgewohnheitsrechts umstritten. Ablehnend gegenüber solchem derogierenden Gewohnheitsrecht etwa v.Seydel, Commentar, S. 118; Stier-Somlo I, S. 347; Stern, Staatsrecht I, S. 111 f.; ferner Bryde, S. 454ff.; bejahend dagegen Bachof Verfassungswidrige Verfassungsnormen, S. 44; H. Huber, 158
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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und nicht so sehr, wenn die Geltung von Gewohnheitsrecht überhaupt feststeht, sein Inhalt, das „Wie" seiner Geltung. Für den Bereich des Verfassungsgewohnheitsrechts dürfte folgende Grenzziehung zutreffend sein: „ U m der Funktion der geschriebenen Verfassung willen ist es nicht möglich, sich unter Berufung auf ungeschriebenes Recht über geschriebenes Verfassungsrecht hinwegzusetzen" 161 . Unter dem Begriff des ungeschriebenen Verfassungsrechts werden, nachdem sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß Verfassungsgewohnheitsrecht die Fülle der ungeschriebenen Quellen des Verfassungsrechts nicht erschöpft 162 , vor allem allgemeine Rechtsgrundsätze zusammengefaßt, deren Existenz erforderlich ist, um bei einem Schweigen des Verfassungstextes sinnwidrige Ergebnisse der Rechtsfindung vermeiden zu können 1 6 3 . Soweit nach der geschriebenen Verfassung Subsumtion stattfindet, verbleibt dem ungeschriebenen Verfassungsrecht kein Raum; es dient allein der „Abhilfe kodifikatorischer Unzulänglichkeiten" 164 . Einigkeit scheint heute darüber zu bestehen, daß solche Rechtssätze aus dem gesamten Sinnzusammenhang der Verfassung die geschriebenen Normen zu einer Einheit verbinden und einem geschriebenen Verfassungssatz zugeordnet sind. Das zeigen die heute wichtigsten und unbestrittenen Anwendungsfalle des ungeschriebenen Verfassungsrechts, die ungeschriebenen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Bundes. Die Möglichkeit, mit geschriebenem Verfassungsrecht in Widerspruch zu geraten, wird deshalb, im Unterschied zum Gewohnheitsrecht, dem ungeschriebenen Verfassungsrecht abgesprochen. Seine Existenz ist auch nicht, im Unterschied zum Gewohnheitsrecht, von einer vorgängigen Übung abhängig, sondern leitet sich von unmittelbaren rechtsethischen Postulaten her 1 6 5 . Aus diesem Grund weist es einen hohen Abstraktionsgrad auf und dient der Regelung von Konfliktlagen allgemeinster Natur, während dem Gewohnheitsrecht kraft der Entstehung aus einer tatsächlichen Übung ein Moment des Zufalligen, durch die konkreten Lebensumstände Bedingten anhaftet. Das Problem des ungeschriebenen Verfassungsrechts ist nicht das „Ob" seiner Geltung, sondern das „Wie" seines Inhalts und seine Konkretisierbarkeit. Dieses Problem mag im übrigen der Grund dafür sein, daß in der heutigen Diskussion das ungeschriebene Recht eine nur sehr geringe Bedeutung hat 1 6 6 . Zusammenfassend kann mit Tomuschat der Unterschied Probleme, S. 332; Scheuner, VVDStRL 10 (1952), S. 47 und bereits Gerber, Grundzüge, S. 14 f. 161 Hesse, Grundzüge, Rn. 34. 162 Vgl. Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen, S. 43 f.; H. Huber, Probleme, S. 332; Peters, Grundzüge, S. 52ff.; H.-J. Wolff, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 33. 163 Bachof Verfassungswidrige Verfassungsnormen, S. 43 ff.; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 48; Voigt, VVDStRL 10 (1952), S. 38, 40, 43. 164 Voigt, VVDStRL 10 (1952), S. 43. 165 Bayer, S. 32; H.-J. Wolff, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 37f., 39. 166 Das gilt nicht nur für den Bereich einer engeren Theorie der Rechtsquellen. Auch in dem heute häufig thematisierten Komplex, in welcher Weise sich das Verfassungsrecht
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
zwischen Gewohnheitsrecht und ungeschriebenem Recht in die Formel gefaßt werden, daß Recht der Induktion gegen Recht der Deduktion steht 167 . d) Die Erweiterung der konstitutionellen Rechtsquellenlehre durch Smends ungeschriebenes Verfassungsrecht
An den soeben geschilderten Maßstäben ist der von Smend entwickelte Rechtssatz von der Bundestreue zu messen. Die für eine gewohnheitsrechtliche Geltung dieses Rechtssatzes erforderliche längere, von dem Bewußtsein der Rechtmäßigkeit getragene Übung der obersten Staatsorgane, scheint Smend auf den ersten Blick dargetan zu haben, denn er kann durchaus Beispielsfälle aus der Staatspraxis des Bismarckreiches anführen, in denen Reich und Einzelstaaten sich nach dem Prinzip der Bundestreue verhalten haben und dies für rechtlich geboten hielten. Neben der bereits geschilderten Regierungstätigkeit Bismarcks, die, aus welchen Gründen auch immer, auf bundesfreundliche Verständigung ausgerichtet war, soll hierzu ein weiterer, von Smend in einigen Aspekten beleuchteter Einzelfall erwähnt werden. Dieser betrifft die Beteiligung der Einzelstaaten an der Gestaltung der auswärtigen Politik. Der Grundsatz, daß im Bundesstaat sinnvollerweise nur dem Gesamtstaat die Befugnis zur außenpolitischen Vertretung des Bundes zukommen kann, galt mit Selbstverständlichkeit auch im Deutschen Reich nach 1871 168 . Dennoch sah sich die Reichsleitung wiederholt zur Berücksichtigung einzelstaatlicher Wünsche und Interessen genötigt, die daraus resultierten, daß die vor 1871 souveränen süddeutschen Einzelstaaten zu dieser Zeit jeweils ihre eigene Außenpolitik betrieben hatten. U m den Einzelstaaten den durch Gründung des Reiches erforderlich gewordenen Verzicht auf diese ungehinderte Durchsetzung partikularer auswärtiger Interessen zu erleichtern, hatte Bismarck bereits 1870 einen Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten eingerichtet, der später in Art. 8 I I I RV eine sehr knappe und unzulängliche Regelung fand 1 6 9 . Dieser Bundesratsausschuß hatte jedoch nach außerhalb formeller Änderungen des Wortlauts der geschriebenen Verfassung fortentwickeln kann, hat das ungeschriebene Verfassungsrecht keinen Platz gefunden. Die grundlegende Monographie von Bryde zum Thema „Verfassungsentwicklung" aus dem Jahre 1982 erwähnt es nicht einmal. 167 Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 48. 168 Vgl. MeyerjAnschütz, S. 499. 169 Art. 8 I I I RV lautete: „Außerdem wird vom Bundesrate aus den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg und zwei vom Bundesrate alljährlich zu wählenden Bevollmächtigten anderer Bundesstaaten ein Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten gebildet, in welchem Bayern den Vorsitz führt". Diese Regelung stellte einen Kompromiß angesichts weitergehender Wünsche Bayerns dar, die darauf gerichtet waren, die völkerrechtliche Vertretung des zu gründenden Bundes dem Kaiser und dem König von Bayern gemeinschaftlich zu übertragen, vgl. Rauh, S. 113; Kowalsky, S. 16.
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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1870 niemals die selbständige Führung der auswärtigen Angelegenheiten durch den Reichskanzler beeinträchtigen können. Die Tätigkeit des Ausschusses gelangte über die gelegentliche Entgegennahme von Informationen und die rein akklamatorische Billigung der Außenpolitik der Reichsleitung zu keinem Zeitpunkt hinaus 170 . Der Ausschuß führte also in der Verfassung und im Verfassungsleben ein kümmerliches Dasein, was auch Smend nicht verkennt 171 . Dennoch gelingt Smend der Nachweis, daß sich außerhalb der von der Reichsverfassung hierfür vorgesehenen Form der Ausschußberatung eine als rechtlich geboten empfundene Übung entwickelt hatte, die Einzelstaaten an der Gestaltung der auswärtigen Politik zu beteiligen. Diese Übung bestand im wesentlichen aus ständiger, in nicht formeller Weise geschehender Fühlungnahme zwischen Reich und Einzelstaaten 172 , die auch jene Einzelstaaten umfaßte, die nicht verfassungsmäßig vorgesehene Mitglieder des Bundesratsausschusses nach Art. 8 I I I RV waren. Ohne daß die Verfassung dies vorsah, wurden die Akten, die besonders bedeutende außenpolitische Vorgänge betrafen, den Einzelstaaten zugänglich gemacht; Versammlungen der leitenden Minister zur Beratung dieser Angelegenheiten wurden zur ständigen Übung. M i t Ausbruch des Ersten Weltkrieges schließlich fanden Versammlungen diplomatischer Vertreter der Einzelstaaten im Auswärtigen Amt sogar täglich statt 1 7 3 . In diesem eng begrenzten Bereich der Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten hatte sich mithin Gewohnheitsrecht gebildet, wenn auch praeter oder sogar contra constitutionem, denn die Verfassung kannte als Tätigkeitsform der Einzelstaaten in auswärtigen Angelegenheiten nur die des Ausschusses nach Art. 8 I I I RV. Das Reich war nach diesem Gewohnheitsrecht verpflichtet, eine ständige Fühlungnahme mit den Einzelstaaten aufrechtzuerhalten, um Einvernehmen im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten zu erzielen. Im weiteren aber kann Smend zur Begründung des generellen, in jeder Rechtsbeziehung zwischen Reich und Einzelstaaten geltenden Rechtssatzes der Bundestreue nicht auf eine allgemeine und langandauernde Übung der obersten Staatsorgane des Reichs und der Einzelstaaten zurückgreifen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Smend muß konstatieren, daß manche Bereiche der 170 Deuerlein, Auswärtiger Ausschuß, S. 178, zitiert folgende briefliche Äußerung des bayerischen Ministerpräsidenten Hertling vom 26. Oktober 1912: „ M i t dem Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten können wir es ... ja niemals recht machen. Wird er einberufen, so hat das keinen Wert, wird er nicht einberufen, so gibt man ihm eine Bedeutung, die er nicht hat und nicht haben kann". Vgl. dazu auch Bilfinger, Der Einfluß, S. 213 m. Fn. 2 und Nawiasky, Grundprobleme I, S. 13 ff. 171
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 41. Unrichtig ist jedoch die Erwähnung von lediglich vier Zusammentritten des Ausschusses bis 1905 (a.a.O., S. 40). Die Untersuchung von Deuerlein, Auswärtiger Ausschuß, S. 255, hat in dieser Periode neun Sitzungen ermitteln können. 172
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 42. Dagegen hatten die wiederholten Bemühungen Bayerns, den Bundesratsausschuß zu beleben, wenig Erfolg, vgl. Deuerlein, Auswärtiger Ausschuß, S. 180ff., 221 ff., 255f. 173
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
Staatspraxis — im Gegensatz zu der von ihm als allein maßgebend berücksichtigten Regierungspraxis des Bundesrates und der Reichsleitung — das nach dem vom ihm gefundenen Rechtssatz rechtlich geforderten bundestreue Verhalten gänzlich vermissen lassen, insbesondere das Verhältnis von Bundesrat und Reichsleitung auf der einen Seite, Reichstag auf der anderen Seite 174 . Das zeigt, daß es im Deutschen Reich keinen von allen obersten Staatsorganen gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtssatz von der in allen Rechtsbeziehungen geltenden Pflicht zur Bundestreue gab. Die Bekenntnisse der verbündeten Regierungen zu den vertragsmäßigen Grundlagen konnte nicht ausreichen, um darauf die Behauptung eines Reichsgewohnheitsrechts zu stützen 175 . Dementsprechend verwendet Smend auch auf einen Nachweis der Voraussetzungen eines Gewohnheitsrechtes keine weitere Mühe. Er meint ungeschriebenes Verfassungsrecht, das sich von dem Begriff des Gewohnheitsrechtes gelöst hat 1 7 6 . Vergegenwärtigt man sich noch einmal, daß die Rechtsquellenlehre des konstitutionellen Staatsrechts neben dem geschriebenen Recht nur Gewohnheitsrecht kannte, so läßt sich bereits jetzt feststellen, daß Smends Rechtssatz der Bundestreue diese Rechtsquellenlehre überwindet, indem er als erster die neue Kategorie des ungeschriebenen Verfassungsrechts hinzufügt. In diesem Sinne hat man später Smend mit Recht die „Entdeckung" des ungeschriebenen Verfassungsrechts zugeschrieben 177. A m deutlichsten spiegelt dieses Neuartige an Smends Ausführungen die zeitgenössische, ablehnende Kritik von Meyer/Anschütz wider: Smend habe nicht aufzeigen können, daß die Pflicht zur Bundestreue eine Rechtspflicht sei, denn er habe die Voraussetzungen der gewohnheitsrechtlichen Geltung dieses Satzes nicht hinreichend nachgewiesen178. Es läßt sich sicher bestreiten, und insoweit hat die Kritik von Meyer/Anschütz ihre Berechtigung, daß die Pflicht zur Bundestreue eine Rechtspflicht darstellte. Die Begründung für die Ablehnung einer rechtlichen Verpflichtungskraft greift aber bei Meyer/Anschütz zu kurz. Der Hinweis auf die fehlenden Voraussetzungen gewohnheitsrechtlicher Geltung konnte nur unter der Voraussetzung genügen, daß Verfassungsgewohnheitsrecht die einzige Möglichkeit ungeschriebenen Verfassungsrechts darstellt. Da Smend diese enge Lehre von den Rechtserkenntnisquellen im Verfassungs174
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52. Treffend hierzu die Feststellung von Meyer/Anschütz, S. 697: „ . . . das Reich und sein Recht ruhen doch nicht allein auf dem Willen der Regierungen und des deutschen Volkes". 176 Dafür, daß Smend mit der Bundestreue keinen Gewohnheitsrechtssatz aufstellen wollte, spricht auch seine spätere Bemerkung, es handele sich nicht um einen „justitiablen" Rechtssatz (Verfassung und Verfassungsrecht, S. 271 ff.). Diese Eigenschaft könnte einem Gewohnheitsrechtssatz nicht abgesprochen werden. 177 Häberle, NJW 1975, S. 1874; Leibholz, Rudolf Smend, S. 34; Schröcker, Der Staat 5 (1966), S. 137; vgl. auch Scheuner, FS Smend (1952), S. 439. 178 MeyerjAnschütz, S. 697 f. 175
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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recht sprengt, geht die Kritik von Meyer/Anschütz in ihrer Begründung ins Leere 179 . Sie bezeugt nur, daß Smends Rechtsquellenlehre neu und für die überkommene Staatsrechtslehre unverständlich war 1 8 0 . e) Die Kritik des ungeschriebenen Verfassungsrechts als Rechtserkenntnisquelle und die Unterscheidung Smends zwischen „funktionellen" und „organisatorischen" Rechtssätzen
Einen tauglicheren Ansatzpunkt zur Kritik der Rechtserkenntnisquelle „Ungeschriebenes Verfassungsrecht" in ihrer von Smend entwickelten Bedeutung vermag ein Vergleich mit den heute herausgearbeiteten und gesicherten Voraussetzungen ungeschriebenen Verfassungsrechts zu vermitteln. Ein solcher Vergleich ist zwar ahistorisch, und es wäre wenig ergiebig, Smends in diesem Bereich innovativer Arbeit aus dem Jahre 1916 eine Vernachlässigung derjenigen Gesichtspunkte vorzuhalten, die erst in der Auseinandersetzung mit späteren Verfassungsordnungen gefunden wurden. Dennoch erscheint ein Vergleich nicht sinnlos, denn die heutigen Erkenntnisse beruhen nicht zuletzt auf dem Anstoß durch Smend, dessen Arbeit heute noch Ausgangspunkt der Überlegungen zu diesem Fragenkreis ist, wenn auch mehr in verbaler Adaption der Ergebnisse als in detaillierter Auseinandersetzung. Eine rein immanente, zeitbezogene Kritik könnte zudem nur historische Bedeutung haben. Als zentrales Merkmal des ungeschriebenen Verfassungsrechts im heutigen Verständnis wurde oben die Verbindung dieser Rechtsquelle mit dem geschriebenen Verfassungsrecht genannt. Ganz in diesem Sinne formuliert Smend, das ungeschriebene Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat stehe „hinter" 1 8 1 der geschriebenen Verfassung, es habe also, so wird diese Formulierung verstanden werden müssen, von der geschriebenen Norm entweder seinen Ausgangspunkt gefunden, oder umgekehrt leite sich der Verfassungsartikel vom ungeschriebenen Verfassungsrecht her. Im weiteren stellt Smend hierzu fest, erst das von ihm erörterte ungeschriebene Verfassungsrecht verdeutliche den „eigentlichen, funktionellen Sinn" 1 8 2 der geschriebenen Verfassung. 179
Später freilich hat Anschütz seine Ansicht vorsichtig revidiert und im Rahmen eines Vortrages vor der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer die Existenz ungeschriebenen Verfassungsrechts im Kaiserreich anerkannt (VVDStRL 1 (1924), S. 13). Offen bleibt jedoch dort, ob Anschütz nunmehr mit ungeschriebenem Verfassungsrecht etwas anderes als Gewohnheitsrecht meint. 180 In ähnlicher Weise, wenngleich nicht kritisch gegen Smend gewendet, ist ein Beleg für diese enge Rechtsquellenlehre noch Stier- Somlo I, S. 345 ff., der die Bundestreue, so wie sie von Smend für das Kaiserreich formuliert wurde, als gewohnheitsrechtliche Bildung des Verfassungsrechts einstuft. Vgl. auch Bilfinger, Der Einfluß, S. 58, der meint, ohne allerdings Belege anzuführen, es ließen sich die Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts in der Staatspraxis nach 1871 nachweisen, anders freilich ders., VVDStRL 10 (1952), S. 49, der dort die Bundestreue aus dem Zusammenhang mit dem Gewohnheitsrecht herauslösen möchte. 181 182
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 53. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 43.
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
Damit jedoch sind die Anforderungen an das ungeschriebene Recht noch nicht erfüllt. Es muß feststehen, daß der ungeschriebene Rechtssatz mit dem Sinn der Verfassung in Einklang steht und es sich um eine abstrakte Weiterentwicklung des geschriebenen Rechts handelt. Nur aus diesem Grund kann schon begrifflich der Widerspruch zur geschriebenen Verfassung ausgeschlossen sein. Unter diesem Gesichtspunkt begegnet die Geltung des Smendschen ungeschriebenen Verfassungsrechts, insbesondere ihres zentralen Rechtssatzes von der Pflicht zu bundestreuem Verhalten, in seinem Zusammenhang mit der Reichsverfassung des Jahres 1871 Bedenken. Die Reichs Verfassung enthielt auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten die Entscheidung für ein Verhältnis der Über- und Unterordnung, verstärkt durch die verfassungsrechtlich abgesicherte Hegemonie Preußens. Das Formalsystem Labands war mit seiner Bezeichnung der Gliedstaaten als Untertanen des Reiches völlig im Recht. Das verkennt auch Smend nicht: Die staatsrechtliche Auslegung der Verfassungsurkunde müsse das Verhältnis der Über- und Unterordnung im Bundesstaat „zunächst als ihren Hauptinhalt" 1 8 3 feststellen. Pflichten des Reiches gegenüber den Einzelstaaten kannte die Verfassung nur in wenigen Einzelfällen, und von einem Verhältnis der Gleichordnung konnte nicht die Rede sein. Dennoch behauptet Smend ein solches Prinzip der Gleichordnung, und zwar, um seinen zuletzt zitierten Satz sinngemäß weiterzuführen, als Nebeninhalt und Nebenprinzip der verfassungsrechtlichen Beziehungen zwischen Reich und Ländern und als Grundlage einer Pflicht zur Bundes treue. Er fügt damit der geschriebenen Verfassung einen Rechtssatz hinzu, der vor allem dem Reich Pflichten auferlegt und zu der geschriebenen Verfassung im Widerspruch steht. Bereits die Heranziehung der Bündnisverträge als Rechtsquelle und als Grundlage des Gleichordnungsverhältnisses zeigt, daß Smend bei der Begründung dieses Gleichordnungsverhältnisses die geschriebene Verfassung nicht allein weiterdenkt und nicht mit Hilfe des ungeschriebenen Rechtssatzes praktische Rechtsprobleme bewältigen will, die in solchen Sachverhalten auftreten, die von der geschriebenen Verfassung als zu regelnde Sachverhalte völlig ausgespart oder vernachlässigt worden sind. Seine Erweiterung der Rechtsquellenlehre dient nicht dazu, Lücken der geschriebenen Verfassung auszufüllen, wie dies nach heutigem Verständnis Aufgabe des ungeschriebenen Verfassungsrechts ist, sondern sie dient dazu, die verfassungsrechtlich bereits geregelten Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten mit Hilfe der allgemeinen Rechtspflicht zu bundestreuem Verhalten materiell zu verändern. A m deutlichsten tritt dies in Erscheinung, wenn Smend mit Hilfe des ungeschriebenen Verfassungsrechts solche Verhaltensweisen der staatlichen Organe als rechtmäßig billigt, welche zu der geschriebenen Verfassung in klarem Widerspruch standen. Die Bedeutungslosigkeit des bereits erwähnten Bundesratsausschusses für auswärtige Angelegenheiten nach Art. 8 RV veranlaßt Smend nicht etwa zu der Forderung, die 183
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 51.
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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Ausschußberatungen zu beleben. Er billigt vielmehr die neuentwickelten Formen einer Beteiligung der Bundesstaaten an den Auswärtigen Angelegenheiten des Reiches, auch soweit sie den gewohnheitsrechtlich anerkannten Teil verlassen, weil sie Ausprägung des Prinzips der Bundestreue sind. Sie könnten unbedenklich „der buchstäblichen Anwendung (seil, der Verfassung), der Versammlung des auswärtigen Ausschusses selbst" 184 , vorgehen. Dies bedeutet, daß das ungeschriebene Verfassungsrecht in Wahrheit nicht „hinter" der geschriebenen Verfassung steht, wie dies Smend an anderer Stelle behauptet 185 , sondern derogierende Kraft gegenüber der geschriebenen Verfassung entfaltet. Das Gebot der Widerspruchsfreiheit zwischen dem geschriebenem und ungeschriebenem Verfassungsrecht ist damit verletzt; die geschriebene Verfassung erfährt im Bundesstaatsrecht keine Ergänzung, sondern eine einschneidende Veränderung. Smends Stellungnahme dazu, ob seine neuen Rechtsquellen mit der Verfassungsentscheidung des Jahres 1871 widerspruchsfrei zusammenpassen, fallt jedoch anders aus, denn nach seiner Ansicht verdeutlicht ja das ungeschriebene Verfassungsrecht erst den „eigentlichen, funktionellen Sinn" der Verfassung. Dem liegt der Versuch Smends zugrunde, die Veränderung der geschriebenen Verfassung nicht als solche erkennbar werden zu lassen, zumindest aber sie zu rechtfertigen. Dies geschieht dadurch, daß Smend in seiner Abhandlung einen doppelten Begriff des Verfassungsrechtssatzes einführt — allerdings nur anhand von Beispielen und ohne diese Beispiele mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu vertiefen 186 . Es gibt für ihn zum einen Verfassungsrechtssätze, die ein organisatorisches Verhältnis zwischen Subjekten des Verfassungsrechts schaffen. Sie finden sich in der geschriebenen Verfassung. Zum anderen aber gibt es Verfassungsrechtssätze, die ein funktionelles Verhältnis erzeugen. „Funktionell" im Sinne Smends bedeutet, daß von den organisatorisch zuständigen Staatsorganen ein inhaltlich bestimmtes Verhalten rechtlich verlangt wird, im Bereich der Beziehungen im Bundesstaat etwa ein bundestreues Verhalten. Diese ein funktionelles Verhältnis bestimmenden Rechtssätze werden durch Berücksichtigung des ungeschriebenen Verfassungsrechts gefunden. Sie sind die „eigentlichen" 187 Verfassungsnormen. Die geschriebene Verfassung, allein für sich genommen, gibt die rechtliche Ausgestaltung des Bundesstaates Deutsches Reich nicht exakt wieder. Sie enthält „sichtlich unvollständige" und „in eigentümlich mißverständlicher F o r m " 1 8 8 geschriebene Bestimmungen. Die rechtliche Verfassung des Bundesstaates liegt erst dann vollständig vor, wenn die funktionalen Rechtssätze formuliert sind. 184
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 43. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 53. 186 Ygi z u d e n Beispielen Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 42f., 51. 187 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 43. 188 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 40. 185
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1. Teil: An den Wurzeln der Integrationslehre
Die geschriebene Verfassung ist deshalb erst Vorstufe der eigentlichen Verfassung. Der Widerspruch des von Smend behaupteten Gleichordnungsverhältnisses von Reich und Gliedstaaten mit der geschriebenen Verfassung wird aufgehoben, indem dieser von vornherein der Charakter der Kodifikation bezüglich der Rechtsbeziehungen im Bundesstaat abgesprochen wird; sie wird in ihrer Bedeutung herabgesetzt. Das in ihr enthaltene Über- und Unterordnungsverhältnis ist kein endgültiges Urteil, dem vielleicht kritisch widersprochen werden könnte, das aber Anerkennung verlangt, sondern dieses Verhältnis ist ein vorläufiger Befund. Das hinzugefügte Nebenordnungsverhältnis enthält keinen Widerspruch zur geschriebenen Verfassung, vielmehr deren notwendige Ergänzung. Die Rechtssätze der geschriebenen Verfassung sind nach Smend nicht zahlenmäßig unvollständig und bedürfen insoweit der Ergänzung, sondern sie sind strukturell unvollständig. Das ungeschriebene Verfassungsrecht dient nach Smend also nicht dem Finden neuer, von der geschriebenen Verfassung selbständiger Rechtssätze. Es dient der Formulierung der vollständigen Verfassung, deren Rechtssätze aus geschriebenem und ungeschriebenem Recht zusammengesetzt sind. Smend faßt dies in die Formulierung, es handele sich jeweils um die Spannung zwischen „Form und Inhalt des in Frage stehenden Rechtssatzes"189: Die geschriebene Form des Rechtssatzes verdeckt den weitergehenden Inhalt. Weil die Rechtssätze des Verfassungsrechts somit nicht allein aus der Verfassungsurkunde des Jahres 1871 ersichtlich sind, enthält die Erweiterung der positivistischen Rechtsquellenlehre um das ungeschriebene Verfassungsrecht zugleich eine Erweiterung des Verfassungsbegriffes. Die positivistische Gleichsetzung von Gesetz und Recht, im Staatsrecht von Verfassungsurkunde und Verfassung, wird durch einen weiten Verfassungsbegriff ersetzt; die geschriebene Verfassung ist Form, aber nicht Inhalt. Dieser Verfassungsbegriff ist von einem anderen zeitgenössischen Versuch, den Verfassungsbegriff zu erweitern, abzugrenzen, und zwar von der Unterscheidung Georg Jellineks zwischen der Verfassung im formellen und im materiellen Sinne 190 . Jene ist nach Jellinek identisch mit der Summe der Rechtssätze, welche in der Verfassungsurkunde enthalten sind. Ihr wesentliches rechtliches Merkmal erblickt Jellinek in der „erhöhten formellen Gesetzeskraft" 1 9 1 . Die Verfassungsgesetzgebung ist erschwerenden Formen gegenüber der einfachen Gesetzgebung unterworfen. Verfassung im materiellen Sinne hingegen sind für Jellinek die Rechtssätze, „welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des einzelnen 189
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 43. Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 505 ff.; vorher bereits ders., Gesetz und Verordnung, S. 262 f. Zu dieser Unterscheidung ferner Badura, EvStL, Art. Verfassung, Sp. 2712; Bryde, S. 59ff. 191 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 534. 190
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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zur Staatsgewalt" 192 . Die materielle Verfassung muß mit der Verfassung im formellen Sinne nicht deckungsgleich sein, denn nicht alle Rechtssätze des beschriebenen Inhalts finden sich in der Verfassungsurkunde. Diese Unterscheidung impliziert folgendes: Soweit der Kreis des materiellen Verfassungsrechts sich nicht mit dem des formellen überschneidet, enthält er eigenständige Rechtssätze. Diese können unter Umständen dem formellen Verfassungsrecht widersprechen 193 , nicht aber auf die geschriebene Verfassung selbst einwirken und sie selbst im Wege der Veränderung ergänzen 194 . Während Jellineks materielle Verfassung also, soweit sie sich nicht mit der formellen deckt, eigenständig neben dieser steht, geht das ungeschriebene Verfassungsrecht Smends eine enge Verbindung mit der geschriebenen Verfassung ein. Im Bereich der Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten ist es Mittel ihrer notwendigen Ergänzung. Den Versuch Jellineks, mit Hilfe des materiellen Verfassungsbegriffs auch solche verfassungsrelevanten Normgruppen als Verfassungsrecht zu erfassen, die nicht in der Verfassungsurkunde enthalten sind, hat Smend später ausdrücklich zurückgewiesen. Jellinek wird vorgeworfen, mit der materiellen Verfassung nach seinem Verständnis nicht mehr als „schwankende Aufzählungen" der Rechtssätze gegeben zu haben, die wesentliche Bestandteile der positivrechtlichen Verfassungsordnung eines Staates seien 195 . Smend vermißt die Begründung dafür, aus welchem Grund im Einzelfall Rechtssätze als so wichtig angesehen werden können, daß sie nicht nur öffentliches Recht und halbwegs wichtige Staatsrechtsnormen sind, sondern gerade Verfassungsrecht. Seinen eigenen materiellen Verfassungsbegriff gründet Smend in der späteren Abhandlung, ohne das Problem weiter zu vertiefen, charakteristischerweise auf den politischen Charakter des Gegenstandes der Verfassung 196 . Das politisch Wichtige ist auch für das Verfassungsrecht wichtig. Normen, die für diesen politischen Bereich Verhaltensanordnungen enthalten, gehören zum Verfassungsrecht. Im übrigen findet die Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Verfassungsrecht bei Smend wenig Beachtung. Der Grund hierfür führt wieder auf das ungeschriebene Verfassungsrecht zurück. Indem Smend gerade durch dieses die Gleichsetzung der Verfassungsurkunde mit dem Verfassungsrecht aufgegeben hat und die Rigidität der geschriebenen Verfassung ihre Ergänzung durch ungeschriebenes Recht erfordert, ist die einer formalen Betrachtungsweise entsprungene Unterscheidung Jellineks zwischen 192
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 505. Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 536. 194 Diese Fähigkeit schreibt Jellinek allein dem Phänomen der „Verfassungswandlung" zu, die für ihn eine Änderung des Verfassungsrechtszustandes ohne Änderung des Verfassungstextes bedeutet (G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 3). 195 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 237f. 196 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 238. 193
1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
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formellem und materiellem Verfassungsrecht überflüssig. Die erhöhte Gesetzeskraft der formellen Verfassung im Sinne Jellineks kann für Smend keine Bedeutung mehr haben. Die Beweglichkeit des Verfassungsrechts, die Jellinek nur über solche materiellen Verfassungsrechtssätze erfassen kann, die außerhalb der Verfassungsurkunde stehen und nicht an deren erhöhter Bestandsgarantie teilnehmen, hat Smend bereits in die Verfassung selbst verlegt. f) Die Funktion des ungeschriebenen Verfassungsrechts im konstitutionellen Staatsrecht
aa) Smends Ziel: Die Vermittlung
zwischen Staatsrecht und Politik
M i t dieser Kennzeichnung ist bereits die Frage berührt, welche Funktion Smend in seiner Abhandlung, deren Erscheinungsjahr 1916 in die letzte Phase des konstitutionellen Staatsrechts fallt, dem ungeschriebenen Verfassungsrecht zuweist. Einen Anhaltspunkt zur Lösung gibt der Umstand, daß der Smendsche Rechtsgrundsatz der „Vertragstreue und bundesfreundlichen Gesinnung" wortgetreu Begriffe aufnimmt, die Bismarcks bündischem Sprachgebrauch entstammen, also der Sphäre der Politik. Wird das bereits erwähnte 197 Ziel Smends hinzugezogen, die „politische Wirklichkeit mit den von der Theorie behaupteten Grundlagen des Reichsstaatsrechts in Einklang (zu) bringen" 1 9 8 , so zeigt es sich, daß das ungeschriebene Verfassungsrecht einen politischen Ursprung und eine politische Funktion hat. Die „politische Lebensfunktion" 199 der Bundestreue charakterisiert Smend selbst so: „Die Einzelstaaten sollen sich mit der ganzen Irrationalität ihrer geschichtlich-politischen Eigenart im Leben des Reichs auswirken und zur Geltung bringen" 2 0 0 . Das ungeschriebene Verfassungsrecht vermittelt zwischen den politischen Wertvorstellungen und der geschriebenen, starren Verfassung. Politische Faktoren aber entziehen sich der zuverlässigen, sicheren Einschätzung; sie sind wandelbar. Indem sie durch das ungeschriebene Verfassungsrecht auf die geschriebene Verfassung einwirken, wird diese selbst wandelbar und in ihrem Inhalt offen 201 . In der ihm von Smend zugedachten Funktion ist das ungeschriebene Verfassungsrecht deshalb der Umschaltpunkt, das Verfassungsrecht als politisches Recht zu begreifen. Diese in der Abhandlung des Jahres 1916 behandelte neuartige Rechtsquelle leistet zwar zunächst nur auf dem Gebiet des Bundes197
Vgl. oben, 1. Teil, I. 2. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52. 199 Siehe den Ausdruck bei Bilfinger, Der Einfluß, S. 52. 200 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrechts, S. 52. 201 Vgl. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 55: Das Maß einer Pflicht des Reiches zur Verständigung mit den Gliedstaaten lasse „sich nicht unmittelbar durch einen noch so dehnbaren Satz festlegen"; ferner H. Huber, Probleme, S. 332, der feststellt, ohne allerdings auf Smend einzugehen, daß ungeschriebenes Verfassungsrecht ein Weg sei, „um deutend, ergänzend, verändernd und aufhebend auf das geschriebene Verfassungsrecht einzuwirken". 198
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
63
staatsrechts die Vermittlung zwischen Staatsrecht und Politik, zwischen den Vorstellungen der verbündeten Regierungen und der bisher auf die Behandlung formaler Rechtsbeziehungen bedachten Staatsrechtslehre. Dennoch wird ein grundsätzliches Bestreben deutlich, das bei Smend auch in der Erörterung anderer Einzelfragen des Staatsrechts in dieser Zeit seinen Ausdruck findet. Noch klarer als in der hier besprochenen Abhandlung äußert Smend sein zentrales Anliegen, zwischen Recht und Politik zu vermitteln, in einer kurze Zeit später, im Jahre 1919, veröffentlichten Arbeit zum Wahlrecht. Die Verfassung sei, so heißt es dort, „die rechtliche Regelung des Spiels der politischen Kräfte" 2 0 2 . Untersuchung und Kritik der einzelnen Verfassungseinrichtungen dürften sich folglich „nicht auf deren anatomische Gestalt beschränken" 203 , wobei für Smend die Anatomie der „ruhende Bestand" 204 der geschriebenen Verfassung ist. Es sei vielmehr erforderlich, die „Physiologie" zu erforschen. Dieser bildhaften Beschreibung ist zu entnehmen, daß Smend hier — in Vorwegnahme einer von ihm später, in den zwanziger Jahren, vorgetragenen These — die Verfassung nicht als starre Verhaltensanordnung, sondern als rechtlichen Ausdruck des staatlichen Lebens begreifen möchte. „Paragraphenauslegung und rechtsbegriffliches Systemdenken" 205 treten für den Verfassungsjuristen in den Hintergrund. Daraus folgt weiter, daß das ungeschriebene Verfassungsrecht Smends nicht so sehr ein Problem der allgemeinen Rechtsquellentheorie lösen will, angeregt etwa durch ein Versagen der bisherigen Kategorien. Es ist vielmehr, wenngleich dies nicht offen zutageliegt, ein noch verhaltener Ausdruck einer neuartigen Verfassungstheorie 206, die versucht, eine Öffnung und Anpassung des Verfassungsrechts gegenüber dem Einfluß politischer Veränderungen herbeizuführen: Das ungeschriebene Verfassungsrecht ist Einkleidung und Lösungsversuch der Problemstellung, ob außerrechtliche Faktoren auf die geschriebene Verfassung einwirken können und welche Ergebnisse eine Einwirkung dieser Faktoren zeitigt. Diese übergeordnete Problemstellung wurde um die Jahrhundertwende auch von anderen Autoren vorgenommen, von ihnen aber anders gefaßt, insbesondere in die Fragen nach Arten und Möglichkeiten der „Wandlung" einer Verfassung. bb) Das Problem der „ Verfassungswandlung" Labands und Jellineks
in den Arbeiten
Sowohl das ungeschriebene Verfassungsrecht als auch die Verfassungswandlung betreffen, mit unterschiedlicher Akzentsetzung im einzelnen, das Problem 202 203 204 205 206
Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, Vgl. insoweit auch M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 4.
S. S. S. S.
61. 61 f. 67. 67.
64
1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
einer Inkongruenz von Normen des Verfassungsrechts einerseits und der Verfassungswirklichkeit andererseits 207. Die Lösungsversuche beider Institute sind jedoch völlig verschieden. Das zeigt ein kurzer Blick auf die zur gleichen Zeit stattfindende Diskussion über den Verfassungswandel. Mit dem Problem der Verfassungswandlung hat sich als erster 208 Laband befaßt. Seine beiden einschlägigen Abhandlungen aus den Jahren 1895 209 und I907210 untersuchen, welche Veränderungen das Reichsstaatsrecht seit 1871 außerhalb des Bereichs der formellen Verfassungsänderungen erfahren hat. Worum es Laband dabei geht, verdeutlicht sein Bild von der Geschichte eines Hauses: „So wie die Fundamente und die Fassade eines Gebäudes unverändert bleiben können, während im Innern die wesentlichsten Umbauten vorgenommen werden, so zeigt auch der Verfassungsbau des Reichs bei einer äußerlichen Betrachtung zwar dieselben architektonischen Linien wie zur Zeit seiner Errichtung; wer aber in das Innere eindringt, der sieht, daß es nicht mehr dasselbe ist wie zu Anfang, daß es anderen Bedürfnissen und Anschauungen entsprechend umgebaut und ausgebaut worden ist . . . " 2 1 1 . Die juristische Fassade, der Verfassungsbau des Reiches, ist also für Laband derselbe, allein der tatsächliche Zustand des Reichs ist ein anderer geworden. Die Betrachtung des Verfassungswandels hat sich demnach nicht mit juristischen Problemen der Verfassungsinterpretation oder der Verfassungsänderung zu befassen, sondern mit politischen Entwicklungen. Laband behandelt in seinen beiden Untersuchungen zahlreiche Einzelfälle 212 , ohne dem Problem der Verfassungswandlung eine tiefere theoretische Fundierung zu verschaffen 213 . Juristische Bedeutung hat Laband dem Phänomen nicht beigemessen. Es handelt sich für ihn um den Ausdruck politischer Notwendigkeiten 214 . Der durch allmählichen Verfassungswandel entstehende „Verfassungszustand" tritt 207 Vgl. zu diesem Problemstandort in bezug auf das ungeschriebene Verfassungsrecht W. Weber, VVDStRL 10 (1952), S. 61 f.; H. Krüger, VVDStRL 10 (1952), S. 62f. 208 V g l Fiedler, S. 27; Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung, S. 17. 209
Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung. Laband, JöR 1 (1907), S. Iff. 211 Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 3. 212 So z.B. die Herausbildung des Kaiserlichen Initiativrechts im Bundesrat (Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 19 ff.), die Stellung des Reichskanzlers nach Einführung des Stellvertretungsgesetzes vom 17. März 1878 (a.a.O., S. 16ff.), die Entwicklung der Reichsverwaltungsbehörden (a.a.O., S. 13f.). 213 vgl. Fiedler, S. 27; Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung, S. 17. Jedoch deutet Laband, was in der Bewertung durch die vorzitierten Autoren keine Beachtung findet, eine Klassifizierung der Ursachen für die Verfassungswandlung an, indem er das Fortschreiten der einfachen Gesetzgebung als eine Ursache der „Fortbildung" des „Verfassungszustandes" außerhalb der formellen Verfassungsurkunde herausarbeitet (Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 4). 210
214
Vgl. Laband, JöR 1 (1907), S. 2f.; ders., Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 37: „Neue Bedürfnisse werden neue Aufgaben stellen."
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes V e r f a s s u n g s r e c h t 6 5
zwar in einen Gegensatz zum Verfassungsgesetz 215, doch ist jener Zustand nur ein tatsächlicher, der für die rechtliche Bewertung außer Betracht bleibt. Dies folgt aus Labands Verfassungsverständnis. Da für ihn die Verfassung ein vorgegebenes, lückenloses, eindeutig auszulegendes und geschlossenes Ganzes ist, muß die spätere Entwicklung von Materien, die für die Verfassung von Bedeutung sind, sich außerhalb der Verfassung, in einem notwendigen Gegensatz zu dieser, vollziehen. Das Problem eines die Rechtsnorm unmittelbar gestaltenden Wandels der „tatsächlichen politischen Entwicklung" beschäftigt Laband nicht 2 1 6 . Eine Weiterführung des Labandschen Ansatzes und eine erste begriffliche Bestimmung des Verfassungswandels hat Georg Jellinek 1906 unternommen. Er bezeichnet mit dem Begriff „Verfassungswandlung" eine Verfassungsänderung, welche den Text der geschriebenen Verfassung unverändert bestehen läßt und durch Tatsachen hervorgerufen wird, die nicht von der Absicht oder dem Bewußtsein einer Verfassungsänderung begleitet werden müssen 217 . In dieser Formulierung entspricht der Begriff der Verfassungswandlung, ähnlich wie bei Laband, einer spezifisch formalistischen Betrachtungsweise 218: Die geschriebenen Rechtsnormen und der tatsächliche Rechtszustand treten in einen Gegensatz. Eine Vermittlung zwischen der deskriptiven und konstatierenden Betrachtungsweise der Wirklichkeit und der formalen Norm findet nicht statt. Für Jellinek handelt es sich nicht um Wirklichkeit, die rechtlich zu bewältigen ist. Das „Irrationale der Wirklichkeit" 2 1 9 richtet sich unmittelbar gegen die Norm selbst. Jellinek stellt zwar fest, im Unterschied zu Laband, daß es Zustände gibt, „in denen Recht und Faktum, sonst voneinander streng zu scheiden, ineinander übergehen" 220 . Die Verfassungswandlung hat also „verfassungsbildende 215
Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 3. M i t zwei Ausnahmen, die jedoch wegen ihrer deutlichen Abweichung von Labands Grundthese auf sprachlicher Nachlässigkeit beruhen könnten: Laband bezeichnet die nach 1871 erfolgte Ausgestaltung der Reichsfinanzverfassung nicht nur als Veränderung des „Verfassungszustandes", sondern als „tiefgreifende Abänderung der Reichsverfassung", wobei Laband mit letzterem offenbar das Verfassungsgesetz meint {Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 31). Weiterhin betrachtet Laband den durch Erlaß verschiedener Justizgesetze entstandenen Zustand als das „wirkliche Verfassungsrecht" (a.a.O., S. 34). 216
217 G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 3; der sAllgemeine Staatslehre, S. 537. Bornhak, AöR 26 (1910), S. 375, wollte demgegenüber mit dem Begriff der Verfassungswandlung gewohnheitsrechtliche Zersetzungen des Gesetzesrechts erfassen. Diese Begriffsbestimmung, die im Gegensatz zu der Jellineks keine Bedeutung erlangt hat, kann hier außer Betracht bleiben. Sachlich übereinstimmend mit Jellinek definieren heute den Begriff der Verfassungswandlung Bryde, S. 21,254; Hesse, FS Scheuner, S. 128; Badura, Art. Verfassung, EvStL, Sp. 2722. 218 V g l Fidler, S. 28; Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung, S. 14, 17. 219 G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 2. 220 G. Jellinek, Verfassungsänderung und VerfassungsWandlung, S. 21. Interessanterweise erwähnt Jellinek in diesem Zusammenhang nicht die von ihm an anderer Stelle
5 Korioth
66
1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
Kraft". Das aber ist auch für ihn kein Gegenstand juristischer Dogmatik. „Die realen politischen Kräfte", so schreibt Jellinek, „bewegen sich nach ihren eigenen Gesetzen, die von allen juristischen Formen unabhängig sind" 2 2 1 . Auf der Grundlage des staatsrechtlichen Positivismus ist dieses Ergebnis nur konsequent 222 . Eine juristische Theorie der Verfassungswandlung hätte erfordert, die methodische Grundvoraussetzung des Positivismus, die strikte Trennung von Recht und Wirklichkeit und die Unzulässigkeit der Einbeziehung historischer und politischer Betrachtungen, aufzugeben. Jellinek aber hat sich zu der strikten positivistischen Trennung auch im Rahmen der Behandlung der VerfassungsWandlung bekannt. Seine Untersuchung, so bemerkt er, bewege sich auf der Grenzlinie von Staatsrecht und Politik. Die Erscheinung der Verfassungswandlung verweist Jellinek im Anschluß daran ausdrücklich in den Bereich der Politik 2 2 3 . cc) Die Auflösung des Gegeneinander von Norm und Wirklichkeit Lehre Smends
in der
Smends ungeschriebenes Verfassungsrecht ist demgegenüber unbefangener und weitergehend. Es scheut sich zunächst nicht, die geschriebene Verfassung aus ihrer Rolle als unveränderlichen Maßstab einer Änderung des Verfassungsrechtszustandes zu entlassen. Denn während der Begriff „Wandlung" den Vergleich mit einem früheren Zustand, und zwar dem in der Verfassungsurkunde geschriebenen, voraussetzt, und in diesem Begriff unterschwellig der Vorwurf eines Versagens der geschriebenen Verfassung mitschwingt, bedeutet das ungeschriebene Verfassungsrecht schlicht ein Mittel zur Feststellung der jetzt geltenden Verfassungsrechtslage. Es impliziert keinen Widerspruch zur geschriebenen Verfassung und damit keinen durch Zeitablauf eingetretenen Wandel 2 2 4 , weil die eigentliche Verfassung nach Smend ja erst unter Hinzunahme der weiteren Rechtsquelle feststeht. Es wirft der geschriebenen Verfassung kein Versagen vor, weil nach Smend die geschriebene Verfassung von vornherein nicht das ganze politische Dasein des Staates festlegen und sicher beherrschen kann 2 2 5 . (Allgemeine Staatslehre, S. 337 ff.) entwickelte Lehre von der „normativen Kraft des Faktischen". 221 G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 72. 222 Vgl. Hesse, FS Scheuner, S. 130. 223 G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, Vorrede, S. V f . : Er wolle „auf einige höchst bedeutende Fragen der Politik hinweisen". 224 Vgl. bereits Smend, Hirths Annalen 39 (1906), S. 321, wonach die Staatstätigkeit im Bismarckreich, die über den „Rahmen der Reichsverfassung" hinausgehe, eine „Wahrung gewisser ursprünglicher Prinzipien des Reichsverfassungsrechts" sei; ferner ders., Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 40: das ungeschriebene Verfassungsrecht sei „bisher nicht genügend beobachtet" worden. Daraus folgt, daß es bereits seit Entstehung des Reiches vorhanden war. 225
Vgl. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 54f.
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes V e r f a s s u n g s r e c h t 6 7
Der grundlegende Unterschied aber zwischen der Betrachtungsweise Jellineks und Smends besteht darin, daß letzterer ausdrücklich die tatsächlichen Verhältnisse zum Gegenstand der rechtlichen Reflexion macht. Smends Darlegungen wenden sich damit gegen die positivistische Denkweise, welche die Verfassung auf die immanente Logik der geschriebenen Rechtssätze zu reduzieren sucht. Smend erhebt politische Vorgänge zum Bestandteil der Norm und schenkt ihnen nicht nur unter dem Gesichtspunkt des „Verfassungszustands" im Sinne Jellineks und Labands Beachtung. Er versucht, das Verhältnis von Norm und Faktum insgesamt zu erfassen und nicht nur ein Nebeneinander zu konstatieren. Das ungeschriebene Verfassungsrecht soll die politische Wirklichkeit auch rechtlich einbinden; von der außerjuristischen Größe wird diese Wirklichkeit zur Wirkungskraft innerhalb der Norm. Die politische Entwicklung und das politisch Notwendige werden von Smend nicht nur deskriptiv erfaßt, sondern in das Verfassungsrecht als dessen ungeschriebener Bestandteil hineingenommen. Funktion dieses ungeschriebenen Bestandteils ist es, dem politisch Notwendigen, den gestaltenden Ideen und Kräften des Verfassungslebens, das heißt im Bereich der Beziehungen von Reich und Einzelstaaten der Bundestreue, Rechnung zu tragen 226 . Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die späteren Ausführungen Smends zum Problem der Verfassungswandlung aus dem Jahre 1928. Diese greifen die Thematik grundsätzlich anders als die Darlegungen Labands und Jellineks a n 2 2 7 und stellen im wesentlichen eine Weiterführung des bereits in der Abhandlung des Jahres 1916 beispielhaft durchgeführten Ansatzes dar, die politische Wirklichkeit juristisch zu erfassen. Smend bezeichnet in seinem Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht" die Verfassungswandlung nicht als Frage der Rechtsquellentheorie und nicht als Anwendungsfall des allgemeinen geisteswissenschaftlichen Problems der Spannung zwischen Sein und Sollen. Es handele sich vielmehr um eine Frage der spezifischen Substanz des Staates, soweit sie Gegenstand rechtlicher Regelung durch seine Verfassung sei 2 2 8 . Smend bestimmt hier nunmehr ganz allgemein und nicht nur auf die Lösung eines bundesstaatsrechtlichen Problems bezogen die Funktion des Verfassungsrechts: Es habe eine immerfort sich wandelnde Aufgabe zu erfüllen, nämlich die Totalität des Staates zu erfassen. Entsprechend den politischen Umständen veränderten sich die Faktoren der Lösung dieser Aufgabe. Das könne zu einer schrittweisen Veränderung der Verfassung selbst führen 229 . Die Verfassungswandlung tritt ins Zentrum der Verfassungstheorie. Smends Verfassungsverständnis rechnet die Wandlungsfähigkeit der Verfassung von vornherein zu 226
Vgl. hierzu auch die Anmerkungen von M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 4f. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 188 Fn. 9, wirft Jellinek vor, nur eine empirische Beschreibung, aber keine juristische Theorie der Verfassungswandlung gegeben zu haben. Ungenau Roßnagel, Der Staat 22 (1983), S. 553. 228 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 188; vgl. hierzu Fiedler, S. 34ff. 229 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 241. 227
*
68
1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
ihrem Wesen. In diesem Zusammenhang stellt Smend dann zwei Merkmale der Verfassungswandlung heraus, die ebenso auf das von ihm früher behandelte ungeschriebene Verfassungsrecht zutreffen: Die durch Wandlung der Verfassung vollzogene Änderung des Verfassungsrechts könne nicht an die Erfordernisse der Gewohnheitsrechtbildung gebunden sein 230 , und die Ermittlung der „Staatsverfassung als ideelles Sinnsystem" erfordere „neben dem geschriebenen Verfassungstext" die Einbeziehung weiterer, politischer und soziologischer Kräfte 2 3 1 . Diese beiden Äußerungen belegen nachträglich, daß das frühere ungeschriebene Verfassungsrecht nicht eine Erweiterung der positivistischen Rechtsquellenlehre enthält, sondern, wenngleich noch unvollkommen, Vorläufer und impliziter Ausdruck einer Verfassungstheorie ist, welche sich vom positivistischen Verfassungsbegriff überhaupt gelöst hat und die Verfassung als Faktor des politischen Lebens begreifen möchte. Der erst in einem späteren Abschnitt des Smendschen Werkes entwickelte Begriff der Verfassungswandlung unterscheidet sich in seiner Funktion vom ungeschriebenen Verfassungsrecht nur durch die explizite Berücksichtigung des Zeitfaktors. Das ungeschriebene Verfassungsrecht ist eher rückwärts gewendet, auf die Wahrung „ursprünglicher Prinzipien" 232 des Verfassungsrechts, die Verfassungswandlung verschiebt „schrittweise das Rang- und Gewichtsverhältnis der verfassungsmäßigen Faktoren, Institute und Normen" 2 3 3 . dd) Parallelen zwischen der Verfassungswandlung nach Jellinek und dem ungeschriebenen Verfassungsrecht Smends Trotz der geschilderten fundamentalen Unterschiede weisen die Verfassungswandlung Jellineks und das ungeschriebene Verfassungsrecht Smends über die Tatsache hinaus, daß beide Institute Lösungsversuche desselben Problems sind, weitere Parallelen auf. Beide Phänomene haben, entsprechend ihrer Entwicklung an der Reichsverfassung des Jahres 1871, ihre besondere Bedeutung für einen bestimmten Typ von Verfassung, und zwar für die geschriebene Verfassung mit erschwerter Abänderungsmöglichkeit 234 . In einem Staat ohne geschriebene Verfassung ist das tatsächliche Staatsleben selbst seine Verfassung. Diese ist der konkrete Gesamtzustand seiner politischen Ordnung, so daß eine zum Verfassungswandel führende Spannung zwischen formellen Verfassungsrechtssätzen und dem 230
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 242. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 188 f. 232 Smend, Hirths Annalen 39 (1906), S. 321. 233 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 241 f. 234 Sog. starre formelle Verfassung in der Terminologie G. Jellineks (Allgemeine Staatslehre, S. 531, 534 ff.). Das hat Jellinek jedoch nicht gehindert, die Verfassungswandlung auch mit Beispielen aus dem englischen Verfassungsrecht zu belegen (Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, passim). 231
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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tatsächlichen Verfassungsrecht hier nicht möglich ist. Der Begriff des ungeschriebenen Verfassungsrechts ist ebenfalls auf die geschriebene Verfassung bezogen, indem er diese voraussetzt 235 . In einem Staat ohne geschriebene Verfassung ist der Begriff ungeschriebenes Verfassungsrecht eine Tautologie, denn dann ist das ungeschriebene Verfassungsrecht mit dem Verfassungsrecht identisch. Smend und Jellinek haben ferner keine systematische Ausarbeitung ihrer Themata vorgenommen, wobei Jellinek ausdrücklich darauf verzichtet 236 . Ihre Darstellungsweise beruht auf einer Vorstellung einzelner Fälle aus der Staatspraxis, verbunden mit einer vorsichtigen Kommentierung dieser Fälle. Hier ergibt sich ein weiterer Berührungspunkt. Auffallend ist, daß die von Jellinek angeführten praktischen Fälle, die ihn zu der theoretischen Frage der Verfassungswandlung geführt haben, fast allesamt dem Bundesstaatsrecht entnommen sind 2 3 7 . Das ungeschriebene Verfassungsrecht Smends beschränkt sich sogar ausschließlich auf diesen Bereich. Das läßt vermuten, daß gerade die Beziehungen zwischen Reich und Gliedstaaten nach 1871 eine Entwicklung genommen haben, die mit der Reichsverfassung des Jahres 1871 nur noch unzulänglich zu erfassen war. Tatsächlich lassen sich solche Entwicklungslinien aufzeigen, deren unverkennbarer Abschluß etwa um die Jahrhundertwende erreicht war. Eine Entwicklungslinie ist durch eine fortschreitende sachliche Unitarisierung gekennzeichnet. Immer mehr staatliche Aufgaben wurden dem Reich zur Wahrnehmung übertragen 238 . Insbesondere der Ausbau der Reichsverwaltung und die fortschreitende Rechtsvereinheitlichung 239 führten zum Ausbau der Rechtsstellung des Reiches, ohne daß die insgesamt 14 formellen Änderungen der Verfassung bis 1914 diese Verschiebung der Machtverhältnisse zum Ausdruck brachten 240 . Die Verfassungsänderungen bezogen sich weithin auf Gegenstände untergeordneter Bedeutung 241 . Der Ausbau der Staatsorganisa235
Vgl. Voigt, VVDStRL 10 (1952), S. 40. 236 Ygi Q j e i i i n e k t Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, Vorrede, S. VI; Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung, S. 20, meint, Jellinek habe eine anschauliche Lektüre politischen Inhalts liefern wollen. 237 Vgl. Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung, S. 180f., der die Verfassungswandlung sogar als ein spezifisch bundesstaatliches Problem einschätzt. 238 Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 157; Menger, Verfassungsgeschichte, S. 152 f.; ferner Hatschek, Bismarcks Werk, S. 13; Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 36ff., 81 ff.; Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 108 f. 239 Vgl. die Zusammenstellung zum chronologischen Ablauf der Rechtsvereinheitlichung und zum Aufbau der Reichsämter mit eigenem Unterbau bei Flemming, S. 71 Fn. 2 und 3. 240 Smend, Hirths Annalen 39 (1906), S. 321, konnte vielmehr feststellen, daß jedenfalls der Ausbau der Reichsverwaltung „über den Rahmen der Reichsverfassung" hinausgegangen sei. 241 Vgl. Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 157f.; ferner Laband, JöR 1 (1907), S. 2f.
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
tion des Reiches vollzog sich im wesentlichen durch die einfache Gesetzgebung und die Staatspraxis. Daneben standen zahlreiche Einzelfalle, in denen die Staatspraxis sich klar gegen den Wortlaut der Reichs Verfassung stellte. Der bekannteste betrifft die Entwicklung des Bundesrates zur ständigen Versammlung. Die Art. 12 ff. RV sahen vor, daß der Bundesrat jährlich, nach Berufung durch den Kaiser, zusammenzutreten hatte. Der Bundesrat sollte also keine ständige Versammlung sein. In Wirklichkeit war er dagegen seit 1883 nicht mehr geschlossen und damit zur permanenten Einrichtung geworden 242 . Die vielfaltigen gesetzgeberischen, verwaltenden und richterlichen Funktionen konnten ebensowenig unterbrochen werden wie die Tätigkeit von Ministerien und Gerichten. Als zweites Beispiel ist die Herausbildung eines kaiserlichen Initiativrechts im Bundesrat zu nennen. Nach Art. 7 RV war jedes Bundesglied befugt, Beratungsgegenstände durch die jeweilige monarchische Regierung in den Bundesrat einzubringen. Da der Kaiser nicht als solcher Bundesglied war, sondern nur als König von Preußen, hätten in seinem Namen durch den Reichskanzler nach dem Wortlaut der Verfassung keine Beratungsgegenstände in den Bundesrat eingeführt werden können. Tatsächlich wurden aber eine große Zahl der vom Präsidium des Bundesrates, das Preußen innehatte (Art. 11 RV), eingebrachten Anträge im Namen des Kaisers an den Bundesrat gebracht 243 . Als abschließendes Beispiel für eine der geschriebenen Verfassung widersprechende Praxis soll hier die Entwicklung des Systems des Finanzausgleichs zwischen Reich und Ländern nach 1871 genannt werden 244 . Der Finanzausgleich war grundsätzlich nach dem System der Matrikularbeiträge aufgebaut (Art. 69-73 RV). Das Reich als Gesamtstaat sollte die von ihm benötigten Mittel als Beiträge der Gliedstaaten erhalten, lediglich indirekte Steuern und Zölle flössen direkt in die Reichskasse. Zu dem nach Art. 70 RV vorgesehenen Reichssteuersystem kam es nicht 2 4 5 . Da der Finanzbedarf des Reiches aber 242
Vgl. G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 22f. Bis zur vierten Auflage seines Reichsstaatsrechts (1904) hatte Laband hiervon keine Kenntnis genommen. Es hieß bei ihm (Laband I, 4. Auflage, S. 253): „Der Bundesrat ist keine ständige Versammlung". Erst in der 5. Auflage (Laband I, S. 278) wird, nach wörtlicher Übernahme des vorzitierten Satzes, eingeräumt, daß die diesbezügliche formelle Bestimmung der Reichsverfassung ihre Bedeutung verloren habe. Anders bereits Zorn I, S. 159 f.: Der Bundesrat sei längst ein ständiges Kollegium und die Art. 12-14 RV seien längst in der Hauptsache gegenstandslos geworden. 243 Vgl. Haenel, Studien II, S. 42; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 537; Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 19ff.; ders., JöR 1 (1907), S. 16f.; Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 111. Interessanterweise bezeichnet Anschütz, Art. Gesetz, S. 216, das kaiserliche Initiativrecht als „gewohnheitsrechtlich" anerkannt. 244 Hierzu Flemming, S. 77 ff. 245 Art. 70 RV enthielt ursprünglich einen verfassungsmäßigen Vorbehalt auf Einführung eines Reichssteuersystems („... solange Reichssteuern nicht eingeführt worden
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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ständig stieg, geriet es in eine finanzielle Abhängigkeit von den Ländern. U m die Matrikularbeiträge der Gliedstaaten zu erhöhen, wurde ein ständiger künstlicher Fehlbetrag im Reichshaushalt durch die sogenannte „Frankensteinsche Klausel" 2 4 6 geschaffen, die nicht in die Verfassung, sondern von Fall zu Fall in einzelne Steuergesetze eingefügt wurde. Das Reichsaufkommen an Zöllen und Tabaksteuer mußte nach dieser Klausel, soweit es jährlich 130 Millionen Mark überstieg, an die Länder abgeführt werden 247 . Damit wurde die Notwendigkeit der Matrikularbeiträge aufrechterhalten. Aus der Bestimmung des Art. 70 RV, die fehlende Hoheit des Reiches über direkte Steuern nur als Provisorium hinzunehmen, wurde im Widerspruch zur Verfassung ein Dauerzustand 248 . Diese Beispiele zeigen, daß im Bundesstaatsrecht vielfach die Staatspraxis andere als die von der Verfassung vorgezeichneten Wege gegangen ist, was etwa seit der Jahrhundertwende die Staatsrechtslehre in verstärktem Umfang zu beschäftigen begann 249 . Nicht von ungefähr entstand deshalb im Bundesstaatsrecht das erstmals von Smend ausdrücklich formulierte Bestreben, Staatsrecht und Staatspraxis in Einklang zu bringen. Betrachtet man insgesamt die damalige Literatur zur Entwicklung des Reichsstaatsrechts seit 1871, so fallt auf, daß zwei naheliegende Folgerungen aus der teilweisen Auseinanderentwicklung von Staatspraxis und geschriebener Verfassung nicht in Betracht gezogen wurden: Weder gab es Stellungnahmen, welche die Staatspraxis als verfassungswidrig anprangerten, noch wurde die Möglichkeit formeller Verfassungsänderungen nach Art. 78 RV ernsthaft erwogen 250 . Letzteres hängt damit zusammen, daß der Verfassung als geschlossind..."), der aber 1904 gestrichen wurde. Das System der Matrikularbeiträge wurde dadurch endgültig festgeschrieben. 246 Vgl. hierzu Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 159f.; Laufer, Das föderative System, S. 30f.; Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 26. 247 Im Gesetz betreffend die Zölle und Tabaksteuer aus dem Jahre 1879 hatte die Klausel folgenden Wortlaut: „Derjenige Ertrag der Zölle und der Tabaksteuer, welcher die Summe von 130 Millionen Mark in einem Jahre übersteigt, ist den einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe der Bevölkerung, mit welcher sie zu den Matrikularbeiträgen herangezogen werden, zu überweisen" (zitiert nach Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 26). 248 Kritisch hierzu Haenel, Staatsrecht I, S. 376, 383; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 538; Laband, JöR 1 (1907), S. 42ff.; ders., Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 31. 249 Vgl. neben den bereits angeführten Arbeiten G. Jellineks und Labands insbesondere Hatschek, Bismarcks Werk, S. 3f., 11 ff.; ders., Parlamentsrecht, S. 18ff. und JöR 3 (1909), S. 1 ff.; ferner Triepel, FS Laband, S. 247 ff. Insofern ist die Feststellung von Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 22 f., nicht ganz zutreffend, daß die methodischen Auflockerungen des staatsrechtlichen Positivismus während der Kaiserzeit lediglich ein „wissenschaftsendogenes" Phänomen gewesen seien, „von keinen dringenden praktischen Problemen gedrängt". 250 Charakteristisch hierzu ist etwa die Stellungnahme Labands, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 1 : Die erschwerte Abänderungsmöglichkeit sei gerade eine Garantie des Bestandes der Verfassung und „juristische Form" dafür, daß „unbedachte
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sener rechtlicher Grundordnung des Staates das Merkmal einer ungeschichtlichen Ordnung anhaftete. Verfassungsänderungen erschienen unter diesem Gesichtspunkt als etwas Pathologisches 251 . Die Lösungsversuche bewegen sich auf einer vermittelnden, deutenden Ebene. Sie versuchen, nachträglich die bereits festgefügte Staatspraxis als wirklichen Rechtszustand des Reiches zu begreifen, oder aber, so der weitergehende Ansatz Smends, sogar als rechtlich gefordert zu betrachten. Insofern tritt neben das Institut der Verfassungswandlung (Laband, G. Jellinek), die Behauptung der Herausbildung von Konventionalregeln (Hatschek), das ungeschriebene Verfassungsrecht Smends als weiterer Weg, Staatsrecht und Staatspraxis in Einklang zu bringen. Die Besonderheit des Smendschen Weges ist die ausdrückliche juristische Rechtfertigung der Staatspraxis. 5. Die Problematik der Rechtserzeugungsquelle des ungeschriebenen Verfassungsrechts In den bisherigen Ausführungen ist das ungeschriebene Verfassungsrecht Smends, insbesondere die Rechtspflicht zu bundestreuem Verhalten, unter dem Gesichtspunkt der Rechtserkenntnisquelle behandelt worden, aus der geltendes Recht entnommen oder abgeleitet werden kann. Von dem Begriff der Rechtserkenntnisquelle grundsätzlich zu trennen ist der Begriff der Rechtsentstehungsquelle. Rechtsentstehungsquellen sind die Ursachen für die Entstehung des Rechts als einer Sollensordnung 252 . Sie können sehr vielfältig sein, weil sie den Prozeß der Rechtserzeugung als Schnittpunkt zahlreicher Einflüsse angeben, die von den sozialen, insbesondere ökonomischen Machtverhältnissen bis hin zu der Religion und dem Klima eines Landes reichen können 2 5 3 . In diesem Sinne bezeichnet der Begriff Rechtsquelle keine rechtstheoretische, sondern eine rechtssoziologische Fragestellung 254 . Eine und voreilige Umgestaltungen" vermieden werden müßten. Die Änderung des Wortlauts der Verfassung gilt Laband mithin unausgesprochen als Abbau der Bestandsgarantie, was nur die Folgerung zuläßt, daß sie nach Laband tunlichst vermieden werden muß. G. Jellinek verwendete die Rigidität der Verfassung sogar zur Definition des Verfassungsbegriffs: „Das wesentliche Merkmal von Verfassungsgesetzen liegt ausschließlich in ihrer erhöhten formellen Gesetzeskraft" (Allgemeine Staatslehre, S. 534). Vgl. ferner zur Problematik der Verfassung als einer den Zeitläufen entrückten staatlichen Ordnung Kaegi, S. 27ff.; Schenke, AöR 103 (1978), S. 567 f. 251
Demgegenüber greift die Erklärung bei Roßnagel, Die Änderungen des Grundgesetzes, S. 25, zu kurz, wenn das mangelnde Interesse an Verfassungsänderungen allein mit der positivistischen Behandlung der Verfassung als Gesetz und der Zulässigkeit von Verfassungsänderungen ohne Textänderung nach Art. 78 RV (vgl. Laband II, S. 39) erklärt wird. 252 Vgl. H.-J. Wolff, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 34; Ossenbühl, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 67 f. 253 Ossenbühl, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 68; Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 291. Zu dem Begriff der Rechtserzeugungsquelle im Sinne einer „materiellen Rechtsquelle" Meyer-Cording, S. 51 f.
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gesonderte Untersuchung des ungeschriebenen Verfassungsrechts Smends, insbesondere des Rechtssatzes der Bundestreue, im Hinblick auf seine Entstehungsquellen im oben aufgezählten Sinne wäre jedoch wenig ertragreich. Das ergibt sich aus folgendem: Eine zentrale Bedeutung innerhalb Smends Abhandlung kommt der Darstellung politischer Vorgänge und der Handhabung politischer Grundsätze im Verhältnis zwischen dem Reich und den Einzelstaaten zu. Aus der Feststellung, daß die Bundestreue hier beachtet wird, folgert Smend die rechtssatzmäßige Geltung dieses Grundsatzes. Die politische Handhabung also erhebt die Bundestreue zur Rechtsquelle; das Geübte ist nicht nur Tatsache, sondern auch Norm. Die politische Praxis ist damit nicht nur Erkenntnisquelle, sondern auch Entstehungsgrund des ungeschriebenen Verfassungsrechts. In ihm fallen die beiden Rechtsquellenbegriffe, die sonst zu trennen sind, zusammen. Es gibt jedoch für das ungeschriebene Verfassungsrecht gleichsam eine zweite Schicht der Rechtsentstehungsquelle. Sie resultiert daraus, daß nicht die politische Praxis aus sich heraus behauptet hat, mit ihren Handlungen Recht zu setzen, sondern dieser Schritt erst durch die Rechtswissenschaft vollzogen wurde. Das ungeschriebene Verfassungsrecht ist auch durch Juristen geformtes Recht, und hier interessieren die methodischen Prämissen und Begründungen für die Herleitung dieses Rechts. Die Methode Smends bei der Herleitung einer Rechtspflicht zu bundestreuem Verhalten im monarchischen Bundesstaat ist bereits deutlich geworden: Smend leitet aus dem politischen Sein ein rechtliches Sollen ab. Damit enthalten die Ausführungen Smends, wenngleich nicht ausdrücklich, als Prämisse eine Aussage darüber, welche Kräfte innerhalb des Staates rechtserzeugend wirken können. Für Smend sind die politischen Kräfte rechtserzeugend. Thematisch berührt sich diese Aussage, obwohl sie auf den engen Bereich des Bundesstaatsrechts bezogen bleibt, mit der allgemeinen Lehre G. Jellineks von der normativen Kraft des Faktischen, deren erklärte Bestimmung es ist, zu einer „Lehre von den rechtserzeugenden Kräften" 2 5 5 beizutragen. Der Vergleich der Positionen beider Autoren in bezug darauf, welche Bedeutung sie einer Aussage über rechtserzeugende Kräfte beimessen, ist für eine Kritik der Methode Smends, dem politischen Sein ein rechtliches Sollen zu entnehmen, aufschlußreich. Nach Jellineks Ansicht sind Entstehung und Bestand des Rechts von zwei Seiten zu erklären, und zwar von der Umwandlung des tatsächlich in der Staatsordnung Geübten in Recht und von der Umwandlung eines über dem positiven Recht stehenden Rechts in gewaltsame, evolutionäre Macht oder in 254 Vgl. Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 291, der dann das rechtstheoretische Problem des Erkenntnisgrundes für etwas als Recht als das „fundamentale Quellenproblem" (a.a.O., S. 292) bezeichnet. 255 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 354.
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eine tatsächliche Übung, die stillschweigende Anerkennung durch die Herrschenden erfährt 256 . Es gibt also zwei in jeder Rechtsordnung wirksame Elemente der Rechtsbildung. Die Umwandlung des tatsächlich Geübten in Recht nennt G. Jellinek das „konservative" im Gegensatz zu dem „evolutionistischen" 257 , auf Änderung gerichteten Element einer Umwandlung des antizipierten höheren Rechts in Macht. Das konservative Element der Rechtserzeugung repräsentiert die „normative Kraft des Faktischen". Ihr Charakteristikum ist, daß es sich im Grunde um einen rein psychologischen Mechanismus handelt. Das konservative Element der Rechtserzeugung entstehe, meint Jellinek, weil „das bereits Geübte physiologisch und psychologisch leichter reproduzierbar ist als das Neue" 2 5 8 . Gleichzeitig tritt Jellineks Lehre von der normativen Kraft des Faktischen in einen engen Zusammenhang mit dem Problem der Entstehung des Gewohnheitsrechts. Dieses entspringe nicht der Überzeugung, daß etwas kraft seiner inneren Notwendigkeit Recht sei, sondern der psychischen Eigenschaft des Einzelnen, das sich stets wiederholende Faktische als das Normative anzusehen 259 . Das völlig Unterschiedliche dieser Lehre Jellineks von der normativen Kraft des Faktischen zu der Methode Smends, die tatsächliche Staatspraxis auch als die rechtlich geforderte anzusehen, ist trotz der thematischen Berührungspunkte nicht zu verkennen. Jellinek versucht mit seiner Lehre das Problem zu lösen, ob es ein Recht für den Staat gibt und auf welche soziologische und psychologische Ursachen es sich gründet; um eine Methode zur Auffindung und Formulierung staatsrechtlicher Sätze geht es ihm nicht 2 6 0 . Keinesfalls bedeutet die normative Kraft des Faktischen eine Identifikation von Recht und Macht als Grundlegung des Staatsrechts 261. Jellinek fragt danach, inwieweit sich soziales Geschehen auf 256
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 338. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 354. 258 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 338. 259 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 339. 260 Das wird vielfach verkannt, z.B. von Quaritsch, Der Staat 1 (1962), S. 302, der annimmt, die Lehre Jellineks wolle zu einer Aussage darüber verhelfen, was Erkenntnisgrund für etwas als positives Recht ist. Auch Peters, Grundlagen, S. 19f., meint fälschlicherweise, Jellinek habe eine Lehre des Staatsrechts aufstellen wollen. Diese Stellungnahmen zu Jellinek übersehen, daß die normative Kraft des Faktischen im System Jellineks der Soziallehre des Staates angehört, nicht etwa der Staatsrechtslehre. 257
261 So das Mißverständnis von Anschütz, Kommentar, S. 5 ff., der den Begriff Jellineks unter ausdrücklicher Berufung auf diesen als positivistisches Schlagwort für diese Identifikation verwendet und zur Erklärung des Rechts der gelungenen Revolution heranzieht. Nach Jellinek dagegen hat die Anerkennung einer normativen Kraft des Faktischen ihre Wurzel gerade in einer konservativen, antirevolutionären Geisteshaltung. In der sozialpsychologischen Betrachtungsweise Jellineks ist die Anerkennung des Rechts der gelungenen Revolution aus der Vorstellung einer gegen die frühere Machtlage durchgesetzten Gerechtigkeitsordnung zu erklären. Die gelungene Revolution betrifft das evolutionistische Element der Rechtsbildung, nicht das konservative der normativen Kraft des Faktischen.
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Rechtsbeziehungen auswirken oder sie begründen kann. Der in der Lehre von der normativen Kraft des Faktischen behandelte Zusammenhang von Staat und Recht ist ein sachliches Problem 262 . Methodologisch verweist Jellinek zwar auf den Zusammenhang von Staatsrechtslehre und Politik 2 6 3 , jedoch bestimmt er das Verfahren der Staatsrechtslehre, den juristischen Teil der Staatslehre, als allein normativ-dogmatisch 264 . Sie beschäftigt sich mit den Normen, welche ein Seinsollen ausdrücken und hat den Inhalt der Rechtsnormen zu entwickeln. Die Methode der sozialen Staatslehre besteht demgegenüber darin, kausal erklärend vorzugehen, „den Staat als gesellschaftliches Gebilde in der Totalität seines Werdens" 265 zu betrachten. Zu ihren Aufgaben gehört es auch, das Recht „in seiner Eigenschaft als soziale Funktion" 2 6 6 , „als einen tatsächlichen Faktor des Volkslebens" 267 zu begreifen. Unter dem Gesichtspunkt dieser methodischen Unterscheidung gehört die Lehre von der normativen Kraft des Faktischen nicht zur Staatsrechtslehre, sondern zur Soziallehre des Staates 268 . Auch hier legt Jellinek im übrigen Wert darauf, die Politik als Bewertung staatlicher Zustände und Verhältnisse von der rein kausalwissenschaftlichen Soziallehre des Staates zu trennen 269 . Smends Methode, aus dem tatsächlich Geübten die Geltung eines Rechtssatzes abzuleiten, betrifft zwar auch eine normative Kraft des Tatsächlichen, jedoch handelt es sich für Smend um eine Methode innerhalb der Staatsrechtslehre. Hier führt Smend das durch, was Jellinek für die Staatsrechtslehre gerade ablehnt: Smend identifiziert die politische Betrachtungsweise mit der juristischen 270 . Sprachlich gehen die Worte Recht und Politik bei Smend oft eine enge Verbindung ein 2 7 1 . Die normative Kraft des Faktischen ist für ihn keine psychologische Begründung für die Entstehung von Recht, sondern sie erhebt politische Erwägungen zur Rechtsquelle. Im Sinne der Jellinekschen Terminologie 2 7 2 betreibt Smend zunächst Politik, denn er betrachtet staatliche Erscheinun262 Ygj Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 22. 263 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 16; hierzu Koch, S. 64. 264 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 11, 19 f., 50 f. 265 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 11. 266 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 51. 267 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 21. 268 Holubek, S. 100, bezeichnet sie als „sozialwissenschaftliches Gesetz". 269 Abweichend jedoch in diesem letzten Punkt G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 31: Die Politik als wissenschaftliche Disziplin könne zu einer Lehre von den rechtserzeugenden Kräften beitragen. 270 Diese Identifikation hat bereits Waldecker, VerwArch 25 (1917), S. 81, kritisch angemerkt. 271 So spricht Smend etwa von „politischem Rechtsgefühl" (Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 55). Vgl. auch Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, S. 82. 272 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 13: Politik ist die angewandte, praktische Wissenschaft vom Staat; ihre Methode ist die zweckbezogene Wertung staatlicher Erscheinungen.
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gen unter teleologischen Gesichtspunkten: Die politische Praxis der Verständigung und gegenseitigen Behandlung als gleichberechtigte Partner zwischen Reich und Gliedstaaten wird als wünschenswert eingestuft. Dieses Urteil wird dann zum Maßstab künftiger Verhaltensweisen. Das politische Sein des gegenseitigen Umganges als vertraglich Verbündete ist auch ein Seinsollendes. Den Bereich der Politik im Jellinekschen Sinne einer praktischen Wissenschaft vom Staat aber verläßt Smend, indem er aus dem politischen Werturteil die Rechtspflicht zur Bundestreue ableitet. Für Jellinek nämlich besteht zwischen dem politischen Werturteil und den politischen Normen einerseits, den rechtlichen Normen andererseits, eine unüberbrückbare Kluft: Nur die Rechtsnormen sind allgemein geltende Normen, denen Garantien ihrer Erfüllung beigegeben sind 2 7 3 . Smends ungeschriebenes Verfassungsrecht dagegen schlägt auch methodisch die Brücke zwischen politischen und rechtlichen Normen. Eine kritische Anmerkung zur Vorgehensweise Smends ergibt sich bereits aus diesem Vergleich mit der klaren sachlichen und methodischen Aufgabenverteilung zwischen Politik, sozialer Staatslehre und Staatsrechtslehre bei Jellinek 274 . Smend verwischt die Grenzen zwischen der Beschreibung der im Deutschen Reich nach 1871 tatsächlich vorkommenden politischen Wertungen und den durch die Verfassung vorgegebenen Verhaltensanforderungen. Die von Smend behauptete Verfassungsnorm der Bundestreue stattet ein politisches Werturteil mit dem Rang des Verfassungsrechts aus. Die verfassungsrechtliche Beziehung von Reich und Einzelstaaten wird in wesentlichen Merkmalen nicht durch die geschriebene Verfassung bestimmt, sondern durch die politische Praxis, das heißt durch die Praxis der verbündeten monarchischen Regierungen. Das Bundesstaatsrecht dient dazu, politische Verhaltensweisen als rechtlich gefordert und rechtmäßig zu qualifizieren. Aus dem Sein folgt ein rechtliches Sollen 275 . Das Bundesstaatsrecht begibt sich dadurch in die Abhängigkeit von der politischen Praxis 276 , das Recht wird in den Dienst der Politik gestellt 277 . 273
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 13, 20. Mißverständlich ist die Einschätzung Baduras, Die Methoden, S. 208, mit der Lehre von der normativen Kraft des Faktischen gebe Jellinek die Trennung zwischen rechtlicher und soziologischer Methode auf und bekenne sich zu einer „monistischen Durchführung der soziologischen Methode" innerhalb der Staatslehre. Badura vernachlässigt, daß das positive Recht für Jellinek ein Gegenstand ist, der sowohl innerhalb der sozialen Staatslehre als auch der Staatsrechtslehre seine Behandlung finden muß und dabei verschiedener methodischer Betrachtung zugänglich ist. Richtig dagegen Badura, a.a.O., S. 96. 274
275 Als Ausdruck des Unbehagens an dieser Vorgehensweise Smends ist die häufig geäußerte Kritik zu verstehen, die von Smend behauptete Pflicht zu bundestreuem Verhalten im Deutschen Reich nach 1871 sei in Wirklichkeit keine Rechtspflicht, sondern allenfalls ein politisches Gebot, vgl. hierzu Waldecker, VerwArch 25 (1917), S. 78 f f ; Meyer!Anschütz, S. 695ff.; später Behnke, S. 62ff.; Ficker, S. 104 Fn. 1, 117; Nawiasky, Grundprobleme I, S. 33; Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 125 Fn. 46. 276
Vgl. bereits die Kritik Waldeckers, VerwArch 25 (1917), S. 81: „Der juristische Gesichtspunkt wird zum Diener des politischen".
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes V e r f a s s u n g s r e c h t 7 7
Das zeigt sich deutlich daran, daß das ungeschriebene Recht sachlich allein die politischen Vorstellungen der Regierungen berücksichtigt, während abweichende politische Vorstellungen unberücksichtigt bleiben. Die unter Berücksichtigung des ungeschriebenen Rechts gefundene Verfassung dient damit als Mittel der Bestandssicherung des jeweiligen Staates 278 . Besonders deutlich belegt dies der zentrale Begriff der Bundestreue, durch den die einzelstaatlichen Monarchien, vor allem aber das Reich mit allen seinen Organen, zum Festhalten am monarchischen Bundesstaat verpflichtet sind. Der Grundsatz der Bundestreue bedeutet eine Friedenspflicht; Reich und Gliedstaaten ist die Herstellung von Einvernehmen und Zusammenwirken rechtlich auferlegt 279 . Im Begriff der „Treue" schwingen aber auch irrationale Vorstellungen mit, die bei der Wandlung der Treue in eine rechtlich geforderte Pflicht nicht nur an den Rechtsgehorsam der obersten Staatsorgane appellieren 280 . Sowohl der Begriff der Treue als auch auch der des Bundes verbinden sich leicht mit der adjektivischen Ergänzung „ewig" zur Vorstellung eines dauernden Bestandes. Auf der Linie eines solchen gefühlsmäßigen Appelles liegt auch das Interesse Smends an der „Psychologie", an dem „Lebensprinzip" des monarchischen Bundesstaates, wobei er letzteres in dem „nationalen Einheitswillen" und in der „Bundestreue der Fürsten" 2 8 1 erblickt. Daneben äußert sich das Ziel einer Bestandssicherung des Staates auch in einzelnen, im Kontext der Abhandlung Smends eher beiläufigen Feststellungen. So sei Preußen unter den Voraussetzungen des monarchischen Bundesstaates dem Reich nicht nur zur Stellung des Kaisers jederzeit verpflichtet, mithin zur Aufrechterhaltung der monarchischen Staatsform, sondern es müsse auch das Drei-Klassen-Wahlrecht zum preußischen Abgeordnetenhaus beibehalten 282 . 277 Hier bewahrheitet sich die von G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 15, bereits 1882 ausgesprochene Warnung vor der Vermischung politischer und rechtlicher Aspekte: „Wo die Begriffe einmal anfangen in den heraklitischen Fluß der Dinge zu gerathen, da hat die Jurisprudenz ihr Feld verloren". 278 In den zwanziger Jahren hat sich Smend zu dieser Bedeutung der Verfassung bekannt: Es sei „ja doch das formale Dasein und Leben des Staates und die Gewährleistung dieses Daseins und Lebens zunächst Selbstzweck und damit einzige wesentliche Aufgabe der Verfassung" (Verfassung und Verfassungsrecht, S. 197). 279
Vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 123. Vgl. Heller, in: Preußen contra Reich, S. 169: Die Bundestreue sei ein mehr „sentimentaler Begriff 4 . Fuß, DÖV 1964, S. 37, stellt den „personalen" Bezug des Begriffs der Treue heraus, und für Lerche, VVDStRL 21 (1964), S. 88, schwingt im Begriff der Bundestreue „nibelungenhafter Beigeschmack nach der Speisenkarte germanischer Genossenschaften" mit. 280
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Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 57. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 47f., wobei jedoch die Folgen für dieses Wahlrecht, die sich aus einer späteren Vorrangstellung des Parlaments innerhalb des Staates ergeben könnten, ausdrücklich ausgeklammert bleiben. Die Ablehnung einer Umgestaltung des Wahlrechts zum preußischen Abgeordnetenhaus antwortet liberalen Bestrebungen zur Änderung dieses Wahlrechts, die auf eine Demokratisierung zielten. 1915 fand eine dementsprechende Initiative im Reichstag statt; 282
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Wenn aus dem tatsächlich geübten Verhalten ein rechtlich gefordertes und rechtmäßiges wird, so bedeutet dies aber auch, daß die Verfassung durch außerjuristische Einflüsse veränderbar ist. Das gilt nicht nur für die geschriebene Verfassung, die ja schon kraft der notwendigen Ergänzung durch ungeschriebenes Verfassungsrecht für sich allein genommen nach Smend kein zutreffendes Bild des Reichsstaatsrechts sein kann und der Veränderung im Wege der Ergänzung bedarf. Auch das ungeschriebene Verfassungsrecht ist wegen seiner Herleitung aus der politischen Praxis wandelbar: Ändern sich die politischen Wertvorstellungen, sind etwa andere Verhaltensweisen als die bisherigen geboten, um den Bestand des monarchischen Bundesstaates zu sichern, so müssen sich auch die Rechtspflichten ändern. Wegen dieser Folgerungen aus der Vorgehensweise Smends kann, zumindest im Bereich des Bundesstaatsrechts, die geschriebene Verfassung nicht mehr ernst genommen werden. Darüber hinaus findet eine Relativierung des Verfassungsrechts insgesamt statt. Die Verwandlung politischer Grundsätze in Verfassungsrechtssätze bezieht politische Wirklichkeit und Recht in der Weise aufeinander, daß die Wirklichkeit das Recht prägt. Diese pauschale Ineinssetzung von Verfassungsrecht und Wirklichkeit 2 8 3 durch die rechtliche Berücksichtigung politischer Erfordernisse verdrängt die stabilisierende und begrenzende Funktion der geschriebenen Verfassung. Die Normativität der Verfassung ist bei Smend abhängig von der Wirklichkeit, die sie wiederum, als an die Staatsorgane gerichtete Verhaltensanweisung, bestimmen soll. Die einmal geschaffene Verfassung ist kein feststehender Normenbestand, sondern ein geschichtlicher Prozeß, in dem das, was sein soll, und das, was ist, ständig aufeinander einwirken. Die Berufung auf das Zauberwort der Bundestreue setzt den Zwang zur Begründung, ob ein Verhalten mit der geschriebenen Verfassung übereinstimmt, außer Kraft. Verfassungsgesetzlich bereits entschiedene Fragen können immer wieder, unter Rückgriff auf vorgebliches ungeschriebenes Verfassungsrecht, neu aufgeworfen und anderes entschieden werden. Doch das ist nur der erste Schritt. Die Anbindung des Rechts an die Politik führt zu einer weiteren Unsicherheit: Über das politisch Notwendige und das, was der Verwirklichung der Bundestreue am besten entspricht, kann auch nach Anerkennung des grundsätzlichen Treuegebots Uneinigkeit bestehen. In diesem Fall die Regierungspraxis für maßgeblich zu erklären, erscheint fragwürdig. Für das Prinzip der Bundestreue gilt dies insbesondere deshalb, weil es an verbale föderalistische Bekundungen und an eine Regierungspraxis Bismarcks anknüpft, welche die Geschichtsforschung als nur vordergründig föderalistisch und bundesfreundlich erkannt hat 2 8 4 . außerparlamentarisch hat sich vor allem Max Weber während des Krieges in zahlreichen Schriften für innere Reformen in Preußen ausgesprochen; vgl. auch Ossadnik, Liberalismusfremdheit, S. 17 f. 283 Später formuliert Smend: „Als positives Recht ist die Verfassung nicht nur Norm, sondern auch Wirklichkeit" (Verfassung und Verfassungsrecht, S. 192). 284 Vgl. oben, 1. Teil, II. 2.
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M i t dieser Auflösung der Verfassung in einen geschichtlichen Prozeß hat Smend damit zuerst im Bundesstaatsrecht beschrieben, was er später, in seinem Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht" aus dem Jahre 1928, mit einer berühmten Formulierung als „fließende Geltungsfortbildung des gesetzten Verfassungsrechts" 285 bezeichnen wird. Das in der Abhandlung des Jahres 1916 entwickelte ungeschriebene Verfassungsrecht enthält zwar bereits eine juristische Theorie des Verhältnisses von Norm und Wirklichkeit, welche die methodische Trennung überwindet, die Jellinek zwischen Staatsrecht und Politik konsequent durchführt. Eine überzeugende Bestimmung des Verhältnisses von Norm und Wirklichkeit aber ist Smend in seiner Abhandlung nicht gelungen. Erreicht ist allein die Preisgabe der Verfassung an die politischen Kräfte. 6. Die politische Bedeutung der Rechtspflicht zur Bundestreue im Deutschen Reich nach 1871 Carl Schmitt hat hervorgehoben, daß verfassungsrechtliche Normen nicht nur darüber bestimmen, was geschehen soll, zu welchem Verhalten die obersten Staatsorgane verpflichtet sind, sondern auch eine politische Entscheidung treffen, deren Erkenntnis überhaupt das Verständnis der betreffenden Norm ermöglicht 286 . Im folgenden Abschnitt sollen deshalb die politische Vorentscheidung und die politische Bedeutung herausgestellt werden, die dem von Smend gefundenen Rechtssatz von der Pflicht zu bundestreuem Verhalten im monarchischen Bundesstaat Deutsches Reich unter der Verfassung des Jahres 1871 zugrundelagen. Bei der Entstehung des Norddeutschen Bundes und nachfolgend des Deutschen Reiches trafen, wie bereits erwähnt 2 8 7 , Verträge zwischen den monarchischen Einzelstaaten und ein Gesetzgebungsakt des Reichstages zusammen. Die Entstehungsgeschichte der Reichsverfassung spiegelt insofern genau die Spätform des im Deutschland des 19. Jahrhunderts herrschenden Typs der konstitutionellen Monarchie mit ihrem Ringen zwischen monarchischem Prinzip und Volkssouveränität wider 2 8 8 . Im Unterschied zu vorangegangenen Verfassungen, 285 286 287
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 241, 242. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 110, 116, 125, 146, 200.
Oben, 1. Teil, II. 1. Vgl. Menger, Verfassungsgeschichte, S. 113, 146f., 151. Umstritten ist dabei bis heute, ob der Konstitutionalismus als eigenständiges deutsches Modell politischer Ordnung neben Absolutismus und Parlamentarismus anzusehen ist (so insbesondere E. R. Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 9 ff.), oder als vorläufiger, unentschiedener Ausgleich politischer Formkräfte (C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 288f.; E.-W. Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie, S. 112 f., 130 ff.); kritisch zu den Prämissen dieser Diskussion Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, S. 263 ff. 288
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etwa der preußischen des Jahres 1850, hatte sich das monarchische Prinzip nicht rein verwirklicht. Die Verfassung war nicht einseitig von den beteiligten Monarchien oktroyiert, sondern in eigentümlichem Sinne, zwischen den regierenden Monarchien einerseits, andererseits zwischen diesen und dem Reichstag, doppelt paktiert 2 8 9 . Im Sinne der Verfassungslehre Carl Schmitts bedeutete die Verfassung des Jahres 1871 einen Kompromiß, der nur vorübergehend sein konnte, weil die Frage nach dem Subjekt der verfassunggebenden Gewalt nicht gelöst war 2 9 0 . Als Repräsentanten der politischen Einheit traten nebeneinander die Monarchien und die Volksvertretung auf. Der Reichstag war das demokratische Element der Verfassung, aus allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen (Art. 20 RV) der Staatsbürger hervorgegangen. Gleichzeitig war der Reichstag das unitarische Reichsorgan 291 . Die in ihm vertretenen Parteien waren fast ausnahmslos gesamtdeutsche, die im ganzen Reich um Stimmen warben. Der Bundesrat demgegenüber repräsentierte als Kollegium der gliedstaatlichen Monarchien das föderalistisch-monarchische Element der Verfassung 292 . Im Verfassungsgefüge war der Reichstag gegenüber dem Bundesrat das untergeordnete, schwächere Organ, dessen Aufgabe auf die Mitwirkung bei der Gesetzgebung beschränkt war (Art. 5 RV). Der Bundesrat dagegen besaß umfassende Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen. Weithin galt er als Träger der Souveränität des Reiches 293 , womit nach der herrschenden Lehre von der Unteilbarkeit der Souveränität das Volk und der Reichstag von der Teilnahme an dem souveränen Herrschaftswillen der Reichsgewalt ausgeschlossen war. Der Reichstag stand außerhalb des souveränen Bereichs 294 . Die zwischen beiden Reichsorganen angelegte Spannung drängte also den Reichstag von vornherein in eine zurückgesetzte Stellung. Zu einem politisch schwachen Organ wurde der Reichstag endgültig durch seine Unfähigkeit, angesichts der 289
Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 31. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 53ff., 63ff.; vgl. auch E.-W. Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie, S. 130 ff. 291 Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 153; Th. Heuß, Die neue Demokratie, S. 35; Laufer, Föderalistische Ordnung, S. 28 f.; Menger, Verfassungsgeschichte, S. 152. 292 Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 153; Rauh, S. 347; Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 12 ff. 293 Vgl. Hatschek, Staatsrecht I, S. 60f.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 849; Laband I, S. 97; v.Martitz, Betrachtungen, S. 41; v. Seydel, Commentar, S. 123, 125. Thoma, in: Anschütz/Thoma, HdDStR, Bd. 1, S. 72, zitiert folgende Äußerung Bismarcks aus der Reichstagsrede vom 19. April 1871: „Die Souveränität ruht nicht beim Kaiser; sie ruht bei der Gesamtheit der verbündeten Regierungen." 294 Soweit ersichtlich, hat allein O. v. Gierke diese Konstruktion der Souveränität bekämpft, v. Gierke akzeptiert das Dogma von der Unteilbarkeit der Souveränität. Da aber die Souveränität dem Reich zustand, sollte die Ausübung der Souveränität nach seiner Ansicht mehreren Reichsorganen, nämlich Bundesrat und Reichstag, gemeinschaftlich übertragen sein. „Gerade hierin... besteht das Wesen des konstitutionellen Staates, in welchem daher in der That der Souverän nicht der ,alleinige' Träger der Staatsgewalt ist, sondern ,Mitträger 4 derselben anerkennt" (0. v. Gierke, Schmollers Jahrbuch 7 (1883), S. 1147, ferner S. 1168-1170). 290
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Spaltung in mehr als ein Dutzend Parteien einem einheitlichen Willen Ausdruck zu geben, der dem Willen der Reichsleitung als gleichwertig hätte zur Seite treten können 2 9 5 . Die von Smend begründete Auffassung der Bundestreue als Vertragstreue läßt sich in diesen politischen Kräftefeldern deutlich verorten. Sie war vorrangig monarchistisch: Die wiederholte Berufung Smends auf die Bündnisverträge der Monarchien, deren Aufwertung zur Rechtsquelle des Bundesstaatsrechts, schwächte die Bedeutung der Reichsverfassung als Gesetz ab. Sie drängte die Bindungen zurück, welche den Monarchien durch die unter Mitwirkung der Volksvertretung zustande gekommene Reichsverfassung auferlegt worden waren 2 9 6 . Die Zurückführung der Existenz des Reiches auf die Bündnisverträge ließ das Reich als Ergebnis einer Willensäußerung der beteiligten Monarchien erscheinen. Smend selbst hat dies offensichtlich auch so beabsichtigt. Zunächst wird von ihm das spannungsgeladene Verhältnis von Bundesrat und Reichsleitung auf der einen Seite, dem Reichstag auf der anderen Seite herausgestellt. Dann spricht Smend von dem „unitarisch-konstitutionellen" Element 297 der Verfassung, das er in Verbindung zur Volksvertretung bringt; diesem wird die vertragsmäßige Grundlage der Verfassung entgegengehalten, die „ganze Welt der Bündnisverträge'", welche die monarchischen Regierungen beherrsche 298. Smends Stellungnahme wird deutlich, wenn er im gleichen Zusammenhang die „Unzulänglichkeit unserer Verfassungsurkunde" 299 beklagt und vor einer Überschätzung der geschriebenen Reichsverfassung warnt. Monarchistisch ist die Betonung der Bündnisverträge aber auch deshalb, weil sie geeignet ist, den Bundesstaat der Sache nach dem Staatenbund anzunähern. Zwar wird die Staatlichkeit des Reiches und seine Überordnung über die Einzelstaaten von Smend anerkannt, aber daneben erscheint die Bundesgesamtheit als fortdauernder Bund der Einzelstaaten, so wie er bereits im Deutschen Bund des Jahres 1815 verwirklicht war. A n dieser Gesamtheit hat das Staatsvolk keinen Anteil. Dieser Teil der Bundesstaatlichkeit bewegt sich ganz auf der Ebene des Fürstenbundes, ihm gegenüber ist das Staatsvolk durch die Einzelstaaten mediatisiert. Smend versucht zudem, gerade durch die Bundestreue, die es in dieser Form in republikanischen Bundesstaaten wie der Schweiz und den Vereinigten Staaten nicht geben könne 3 0 0 , das Problem eines auf monarchischer Grundlage 295
Vgl. die zeitgenössische Kritik am Reichstag bei G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 58. Siehe ferner Rein, Die Revolution in der Politik Bismarcks, S. 279: „Der Reichstag mit seinem sich selbst zersetzenden Fraktionsgeist hat es in der Bismarckzeit nicht fertig gebracht, von sich aus moralische Eroberungen in Deutschland zu machen, das deutsche Volk für sich zu gewinnen". 296 297 298 299 300
Vgl. Schröcker, Der Staat 5 (1966), S. 154. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S.
6 Korioth
54. 53 f. 53. 57f.
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ruhenden Bundesstaates zu lösen 301 . Die konstitutionelle deutsche Staatsrechtslehre soll aus der Übernahme von für das Deutsche Reich untauglichen republikanischen Schablonen herausgeführt werden, denn die republikanische Bundesstaatslehre stellt sich gerade die Frage, wie, gleichsam als Spiegelbild der Lehre von der Volkssouveränität, jeder Teil der Staatsgewalt von Oberstaat und Gliedstaaten seine Herleitung vom Staatsvolk findet. Aus der monarchistischen Bedeutung folgt die konservative. Die Bündnisverträge konnten den Bestrebungen des Bürgertums, den parlamentarischen Einfluß auf die Reichspolitik zu verstärken, insbesondere der Forderung nach einer parlamentarisch kontrollierten Reichsregierung, entgegengesetzt werden. Eine Veränderung des konstitutionellen Kräftefeldes zugunsten des Reichstages wäre eine Vertragsverletzung und ein Fall von „Bundes-Untreue" gegenüber den Einzelstaaten gewesen. So kann Smend sogar die Bundestreue zur Ablehnung innerer Reformen in Preußen ins Feld führen: „Die Begründung der Demokratisierung des preußischen Dreiklassenwahlrechts mit der Notwendigkeit seiner Angleichung an das Reichstagswahlrecht entspricht dem Grundgedanken des republikanischen, nicht des monarchischen Bundesstaates" 302 . Daneben hatte die Bundestreue eine föderalistische Bedeutung 3 0 3 , 3 0 4 . Dies folgt bereits aus der damalig weitgehend anerkannten Identifizierung föderalistischer Bestrebungen mit den einzelstaatlichen, insbesondere süddeutschen Monarchien 305 , also einer Ineinssetzung monarchischer und föderaler Bestre301
Vgl. Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 113. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 58. 303 Im Sinne der Begriffsbestimmung Triepels, Unitarismus und Föderalismus, S. 11 f., sollen hier mit dem Adjektiv „föderalistisch" alle diejenigen politischen Kräfte im Bundesstaat bezeichnet werden, die eine Stärkung der Gliedstaaten gegenüber dem Gesamtstaat erstreben; mit Triepel übereinstimmend z.B. Peters, Grundlagen, S. 210. Abweichend Dennewitz, Der Föderalismus, S. 21, 81 f., der den Begriff nicht auf politische Tendenzen innerhalb einer Bundesstaates beschränken möchte. 302
304
Die föderalistische Bedeutung ungeschriebenen Verfassungsrechts im Deutschen Reich vor 1918 bestritt allerdings Anschütz, VVDStRL 1 (1924), S. 13f. Dem liegt die unzutreffende Ansicht zugrunde, die unitarisch wirkende Hegemonie Preußens sei das eigentlich bedeutende Stück des ungeschriebenen Verfassungsrechts gewesen. Auf dieser unrichtigen, weil gerade die verfassungsmäßige Verbindung Preußens mit dem Reich verkennenden Grundlage, verkehrt Anschütz den Ansatz Smends ins genaue Gegenteil. Das ungeschriebene Verfassungsrecht im monarchischen Deutschen Reich ist für Anschütz nicht die auf die Bündnisverträge rückbezogene Bundestreue, sondern die unitarische Tendenz der politischen Entwicklung, einer „Macht von Tatsachen" (a.a.O., S. 14), der Smend gerade die ursprüngliche vertragliche Gleichordnung entgegensetzt. 305 Ygi Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 110f. Diese Verbindung zwischen monarchischer und föderaler Staatsform tritt besonders bei denjenigen Autoren in Erscheinung, denen der Deutsche Bund des Jahres 1815 als Modell des Bundesstaates oder Bundes überhaupt erscheint, so betrachtete Th. Heuß, Die neue Demokratie, S. 35, rückblickend im Jahre 1920 den Föderalismus des Kaiserreiches als „ein Stück Fürstenvertrag", nicht dagegen als „Volksströmung", und C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 388, hält die Demokratie und den Föderalismus auf die Dauer für unvereinbar, weil die
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bungen. So stellte Bismarck im Rückblick auf die Situation der Jahre zwischen 1860 und 1870 fest: „Die Dynastien bildeten überall den Punkt, um den der deutsche Trieb nach Sonderung in engeren Verbänden seine Kristalle ansetzte" 306 . Die Idee der nationalen Demokratie, so wie sie zu Beginn des 19. Jahrhundert aufgekommen war, war dagegen ihrem Wesen nach unitarisch und zentralistisch 307 . Historisch ist der politische Föderalismus in Deutschland überhaupt erst im Widerspruch zu den verfassungspolitischen Ideen der französischen Revolution entstanden 308 . Viel wichtiger ist jedoch, daß die Bundestreue Smends, im Gegensatz zur herrschenden Staatsrechtslehre, die der Reichsverfassung allein Untertanenpflichten der Gliedstaaten gegenüber dem Reich entnehmen wollte 3 0 9 , zum erstenmal versucht hat, umfassende Pflichten des Reiches gegenüber den Einzelstaaten als Rechtspflichten zu begründen 310 . Anstelle der Untertanenpflicht beherrscht die Bündniserfüllung das Bundesstaatsrecht; nicht die Einwirkung des Reichs auf die Gliedstaaten steht in Frage, sondern der Einfluß der Gliedstaaten auf das Reich. Die dadurch verstärkte politische Position der Gliedstaaten ist offensichtlich. Die Bundestreue konnte auch als Argument gegen die Bestrebungen des Reichs dienen, seine Zuständigkeiten auf Kosten der Bundesstaaten auszudehnen, was nach dem Verfassungstext insbesondere im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen möglich war 3 1 1 . Das Bundespräsidium, repräsentiert durch die Präsidialmacht Preußen, war durch die Pflicht zur Vertragstreue daran gehindert, für den Bund mehr Rechte als die vertraglich durch die Bundesgenossen eingeräumten in Anspruch zu nehmen 312 . Smend rechnet es darüber hinaus sogar ausdrücklich zum Wesen des auf föderativer Grundlage beruhenden monarchischen Bundesstaates, daß die Einzelstaaten durch ihre Vertretung im Bundesrat und durch Ausführung der Reichsgesetze auf die Reichszuständigkeit Einfluß nehmen und „das ganze Leben der bundesstaatlichen Gesamtheit entscheidend bestimmen" 313 können. Während homogene Einheit des Volkes über kurz oder lang über die Existenz von politisch selbständigen Gliedstaaten hinweggehen müsse. 306 Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, S. 269, vgl. auch S. 262. 307 So konnte C. Frantz, ein Klassiker des Föderalismus, schreiben: „Der Constitutionalismus aber, welcher aus den Ideen von 1789 entsprungen ist, führt zur Centralisation, und jede Centralisation wird zuletzt militärisch" (Naturlehre des Staates, S. 264); vgl. auch dens., Der Föderalismus, S. 227. 308 Grewe, Antinomien des Föderalismus, S. 14ff. 309 Vgl. oben, 1. Teil, II. 3. b). 310 Vgl. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 40: „Rechte der Einzelstaaten gegenüber dem Reich". 311 Vgl. Art. 2 S. 1 RV i.V.m. der Möglichkeit, die konkurrierende Gesetzgebung des Reiches nach Art. 78 I I auszuweiten; allgemein zur Kompetenzerweiterung des Reiches zu Lasten der Einzelstaaten Haenel, Staatsrecht I, S. 771 ff.; Hatschek, Staatsrecht I, S. 62ff.; MeyerIAnschütz, S. 692 m. Fn. h. 312 313
6*
Vgl. Schröcker, Der Staat 5 (1966), S. 154. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 58.
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1. Teil: A n den Wurzeln der Integrationslehre
dies noch eine juristische Aussage mit bestimmter politischer Bedeutung ist, zielt eine andere Formulierung Smends allein auf die politische Stellung der Gliedstaaten. Smend schreibt, daß die Gliedstaaten sich im „Leben des Reichs ... zur Geltung bringen" 3 1 4 sollen. Geltung in diesem Sinne kann nur ein politisches Prinzip sein. M i t dieser Bestimmung der Stellung der Gliedstaaten richtet sich die Bundestreue zugleich gegen die Hegemonie Preußens im Reich. Die Gliedstaaten vermochten nur dann Einfluß auf die „bundesstaatliche Gesamtheit" zu gewinnen, wenn die im Reich übermächtige Stellung des Gliedstaates Preußen mit rechtlichen Argumenten eingedämmt werden konnte. Während nach der Verfassung allein das Reich, nicht aber Preußen den außerpreußischen Gliedstaaten gegenübertrat, betraf die Bundestreue nicht nur das wechselseitige Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaaten, sondern auch das der Einzelstaaten untereinander: „jeder der Verbündeten schuldet den anderen und dem Ganzen die Bundes-, die Vertragstreue" 315 . Insofern vertritt Smend einen nicht-hegemonialen Föderalismus, dessen Ausrichtung sich interessanterweise in manchem mit der theoretischen Begründung und Ausgestaltung des Föderalismus berührt, die Constantin Frantz, einer der schärfsten zeitgenössischen Kritiker des Bismarckschen Verfassungswerks, entwickelt hat. Ausgangspunkt ist für Frantz in seinem 1879 erschienenen Hauptwerk „Der Föderalismus" die Unmöglichkeit eines deutschen Einheitsstaates 316 . Der deshalb wünschenswerte föderative Verfassungsaufbau setze jedoch gleichberechtigte Gliedstaaten voraus. M i t deutlicher Wendung gegen die durch die Ereignisse des Jahres 1866 entstandene Hegemonie Preußens in Deutschland bemerkt Frantz hierzu: „Der Löwe und die Maus können sich nicht konföderieren" 317 . Das Bundesverhältnis unter der Reichsverfassung sei dagegen in Wirklichkeit nur ein Subjektionsverhältnis, das eine sinnvolle bundesstaatliche Ordnung ausschließe. Der fundamentale Unterschied zwischen dem Versuch Smends, der unitarischen Entwicklung des Deutschen Reichs eine im politischen Sinne föderalistische Tendenz entgegenzustellen, und dem Modell des Föderalismus bei Constantin Frantz liegt in der fehlenden Ausrichtung der Überlegungen von Frantz an den realen Gegebenheiten des Bismarckreiches. Smend nahm die politischen Bekenntnisse Bismarcks beim Wort und gestaltete sie zur Rechtspflicht um, wenngleich sie vielleicht nur als föderalistisches „Scheinmanöver" 318 gedacht waren. Frantz sah dagegen, geleitet von seiner völligen Ablehnung der 314 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 59; vgl. auch Bilfinger, VVDStRL 1 (1924), S. 35, der die Vorstellung, das Deutsche Reich solle die „Lebenskraft" der Einzelstaaten verwerten, als „dynamische und politische" Betrachtung bezeichnet. 315 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 51. 316 C. Frantz, Der Föderalismus, S. 220f.; hierzu Flemming, S. 80ff.; Dennewitz, Der Föderalismus, S. 48 ff. 317 C. Frantz, Der Föderalismus, S. 232. 318 Rauh, S. 79.
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Reichskonstruktion des Jahres 1871, einen föderalistischen Staatsaufbau bedingt durch eine Auflösung Preußens und durch Gründung eines engen staatsrechtlichen Bundes zwischen den deutschen Einzelstaaten („Engerer Bund") und Gründung eines weiteren, völkerrechtlichen Bundes zwischen diesem „Engeren Bund" und Österreich als „Weiterem Bund" 3 1 9 . Damit zielte die Vorstellung von Frantz im Grunde auf einen reformierten Deutschen Bund a b 3 2 0 , ein angesichts der 1866/1871 vollzogenen kleindeutschen Lösung für den staatlichen Aufbau Deutschlands irreales Unterfangen 321 . 7. Smends „Bundestreue64 und der staatsrechtliche Positivismus Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung läßt sich so zusammenfassen: Smends Ansatzpunkt in seiner bundesstaatlichen Studie aus dem Jahre 1916 ist der Versuch, zwischen den beiden wichtigsten Deutungen des Bundesstaates, der unitarisch ausgerichteten Staatenkorporation Labands und der föderalistischen Leugnung des Bundestaats bei v. Seydel, zu vermitteln. Hierzu führt Smend den Grundsatz der „Vertragstreue und bundesfreundlichen Gesinnung" zwischen den Bundesgliedern als allgemeinen Rechtsgrundsatz ein. Der Verfassungsrechtssatz der Bundestreue ist in dogmengeschichtlicher Hinsicht der Ertrag der Smendschen Abhandlung. Es konnte gezeigt werden, daß die politische Auswirkung dieses Rechtsgrundsatzes darin bestand, den doppelten Kompromiß der Bismarckschen Reichsverfassung zugunsten der monarchischen und föderativen Elemente zu verschieben. Daneben aber läßt die Arbeit Smends ansatzweise ein neues Verständnis von Verfassung und Verfassungsrecht erkennen. Smend schiebt die Grenzen dessen, was Gegenstand staatsrechtlicher Erörterung sein kann, gegenüber Labands Beschränkung auf streng dogmatische und konstruktive Fragen weit hinaus. Das ungeschriebene Verfassungsrecht gibt die Gleichstellung der Verfassung mit den geschriebenen Sätzen der Verfassungsurkunde auf. Der Verfassung wird ein ungeschriebener materialer Bestandteil vorgeordnet. In methodischer Hinsicht bedeutet das eine Erschütterung des staatsrechtlichen Positivismus der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre, wenngleich die Fundierung einer eigenen Gegenposition und die ausdrückliche Zurückweisung der positivistischen Methode noch unterbleibt. Die Behauptung einer rechtssatzmäßig geltenden Pflicht zur Bundestreue ist nicht das einzige und erste Ergebnis der neuen Arbeitsweise. Bereits 1911 hatte Smend in einer Abhandlung zu den Grundfragen des parlamentarischen Wahlsystems sich die Frage vorgelegt, welchen politischen Anforderungen ein Wahlsystem genügen müsse und in diesem Zusammenhang der herrschenden 319
C. Frantz, Der Föderalismus, S. 312 f. Vgl. Bilfinger, VVDStRL 1 (1924), S. 39 und C. Frantz, Der Föderalismus, S. 225 f. 321 Vgl. zu den wirklichkeitsfremden Zukunftserwartungen von Frantz die Ausführungen bei Deuerlein, Der Föderalismus, S. 110. 320
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Staatsrechtswissenschaft vorgehalten, sie beschränke sich auf die korrekte juristische Bearbeitung des positiven Rechts, vernachlässige aber die Frage nach Maßstäben der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit ihrer Ergebnisse 322 . Angesichts dessen erscheint es nicht als eine Überinterpretation der bundesstaatsrechtlichen Studie, hier als Ergebnis festzuhalten, daß schon 1916 für Smend das Sinnprinzip der Verfassung die Integrationspflicht derjenigen Kräfte ist, die das politische Geschehen maßgebend tragen, wenngleich das Wort Integration noch nicht verwendet wird und der Gedanke auf das Bundesstaatsrecht begrenzt bleibt 3 2 3 . Bundestreue ist nichts anderes als die Pflicht, im System der Zusammenordnung von Reich und Ländern einen harmonischen Zustand der Integration herbeizuführen. M i t diesem Fazit läßt sich der zeitliche Beginn der staatsrechtlichen Arbeitsweise Smends bestimmen, die gegenüber dem Positivismus eine neue Sicht von Verfassung und Verfassungsrecht verficht. Die neue Methode setzt nicht erst zur Zeit der Weimarer Verfassung mit der Ausarbeitung der Integrationslehre ein, sondern ist in Ansätzen bereits vor 1918 ausgebildet. Wenn teilweise behauptet wird, der „Übergang" Smends zu einer „unformalen Rechtskonzeption" falle in die zwanziger Jahre und dieser Übergang müsse seine Motive in einer Abwehrhaltung Smends gegenüber der Weimarer Verfassung finden 3 2 4 , so ist jedenfalls die These vom bewußten, in die zwanziger Jahre fallenden Wechsel der Methode nicht richtig. Smend hat nach 1918 keine abrupte Kehrtwendung vollzogen, sondern den eigenständigen Ansatz kontinuierlich weiterverfolgt. Die Integrationslehre versucht die verfassungstheoretische und — als das gänzlich neue Element — die staatstheoretische Vertiefung des vorhandenen Ansatzes. Zu der weiteren These, Smend habe der Weimarer Verfassung reserviert gegenübergestanden, kann an dieser Stelle natürlich noch nicht 322 Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts, S. 37 Fn. 18. Ungenau ist jedoch die Behauptung von M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 6 m. Fn. 22, Smend habe 1911 der „Staatsrechtswissenschaft" die Aufgabe zugewiesen, die Voraussetzungen richtiger politischer Entscheidungen klarzustellen. An der von Friedrich in Bezug genommenen Textstelle Smends (Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts, S. 19) ist von den Aufgaben der „Staatswissenschaft", nicht der Staatsrechtswissenschaft die Rede. Der terminologische Unterschied ist von Bedeutung. Staatswissenschaft umfaßte nach damaligem Sprachgebrauch jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Staat (vgl. die Begriffsklärung bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 4f.). Daß hierzu auch die Erörterung politischer Fragen gehörte, war unstreitig und keine neue Erkenntnis Smends. Auch Laband, der für die dogmatische Behandlung des Staatsrechts eine streng juristische Betrachtungsweise fordert, verkennt den außerjuristischen, d.h. staatswissenschaftlichen Wert historischer und politischer Erörterungen in bezug auf den Staat nicht (vgl. Laband I, Vorwort zur 2. Auflage, S. IX). 323 Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 33, bewertet die genannten Arbeiten Smends als „erste Ansätze Smends zu einer funktionalen 4 und damit auch rechtspolitischen Rechtsauslegung und -anWendung". 324 So etwa I. Maus, FS Carlo Schmid, S. 131 f.; dies., Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus, S. 27 ff., 48 f.; vgl. ferner W. Bauer„ Wertrelativismus und Wertbestimmtheit, S. 264, 271, 285; Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, S. 144.
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Stellung genommen werden. Die Begründung dieser Ansicht unter Hinweis auf einen angeblich in die zwanziger Jahre fallenden Wechsel der staatsrechtlichen Methode trägt jedoch nicht. Allerdings bleibt festzuhalten, daß die politische Option der Bundestreue vor 1918 durchaus konservativ, sogar monarchistisch war, denn Smend erhob die politischen Ansichten der monarchischen Regierungen zum Maßstab der Beziehungen innerhalb des Bundesstaates und vernachlässigte gleichzeitig die Rolle des Reichstages im Verfassungsgefüge. Paradoxerweise wirkte gerade die neue Art Smends in der Behandlung des Staatsrechts zugunsten des überkommenen monarchischen Teils innerhalb des damaligen verfassungsrechtlichen Status quo 3 2 5 . Dieser Befund wirkt zunächst überraschend, wenn man ihn einer gängigen Kritik gegenüberstellt, die am klassischen staatsrechtlichen Positivismus geübt wurde und teilweise noch geübt wird. Jene häufig unter dem Gesichtspunkt der Ideologiekritik unternommene Betrachtung des Positivismus wirft der juristischen Methode des Staatsrechts das vor, was hier als Ergebnis der neuen Methode Smends festgestellt wurde: Der staatsrechtliche Positivismus habe bewußt oder unbewußt zur Befestigung des monarchischen Besitzstandes beigetragen. Bereits Gierke hat in seiner großen Kritik des Labandschen Staatsrechts aus dem Jahre 1883 in manchem den Auftakt zu diesem Topos innerhalb der Positivismus-Kritik gegeben. Labands Konzeption weise einen „unverkennbar absolutistischen Z u g " 3 2 6 auf, in ihr verschwömmen im Widerspruch zu Labands methodischen Grundauffassungen alle Grenzen zwischen juristischer Erörterung und politischen Ergänzungen. Labands Ausführungen verdankten nicht selten einer konkreten politischen Überlegung ihre Richtung und ihr Endresultat 3 2 7 . In seiner 1926 gehaltenen Rede über „Staatsrecht und Politik" hat Triepel diese Kritik aufgegriffen. Die rein juristische Methode des Staatsrechts habe sich durchweg mit „politischen Zweckerwägungen" verbunden, obwohl sie es nicht habe wahrhaben wollen 3 2 8 . Kurze Zeit darauf bemerkte Hans Mayer: „Die rein juristische Methode kann... stets nur konservativ sein... Tatsächlich kommt... im Staatsrecht Labands die Staatsanschauung der Bismarckschen antibürgerlichen und fortschrittsfeindlichen Regierungspolitik zum Ausdruck" 3 2 9 ; die Lehre Labands habe dazu gedient, den Bestand des vorhandenen Staates jeder politischen Kritik zu entziehen 330 . Die Thesen Hans Mayers gipfeln in der 325 Thoma, in: HbdStR I, S. 8, hat treffend davon gesprochen, Smends Abhandlung zeichne die „Einwirkung des gesinnungsmäßigen Gehalts des Föderalismus auf das Staatsrecht nach". 326 O. Gierke, Schmollers Jahrbuch 7 (1883), S. 1104, 1132. 327 O. Gierke, Schmollers Jahrbuch 7 (1883), S. 1105. 328 Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 33. 329 H. Mayer, Die Krisis, S. 11. 330 H. Mayer, Die Krisis, S. 11 f. Vgl. aber auch die Bewertung der positivistischen Methode bei C. Schmitt, Hugo Preuß, S. 7f., dort S. 8: „Alle wichtigen Begriffe der
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Feststellung, die rein begriffliche Erfassung von Staat und Staatsrecht bei Laband habe geradezu das konservativ-monarchische Prinzip der Bismarckschen Politik „verkörpert" 3 3 1 . Auch nach 1945 bleibt der Vorwurf der verdeckten politischen Stellungnahme und politischen Funktion ein Leitmotiv der Positivismuskritik 332 . Durch den Versuch der Abstraktion von allem Politischen sei der juristische, d.h. normativistische Positivismus im Grundsatz jeder „beliebigen politischen Akkomodation" 3 3 3 fähig gewesen, in seiner Auswirkung im einzelnen sei er in den Dienst der Rechtfertigung des bestehenden Staatszustandes getreten und habe zur Legitimierung des monarchischen Status quo beigetragen 334 . Ein anderer Kritiker ist sogar der Meinung, in Verschärfung der bereits von Hans Mayer geübten Kritik, Labands logisch-deduktives Denken habe den „Ausschluß jeglicher Kritik an der Legitimität der Bismarckschen Politik" 3 3 5 gesichert. Die Belege ließen sich fast beliebig vermehren. Es stellt sich aber die Frage, ob die in dieser Einschätzung geäußerte Kritik, die dem Positivismus der LabandSchule in seiner „Funktion", seinen „Motiven" oder seinem „Charakter" einen verdeckten konservativen, wenn nicht sogar reaktionären Zug vorwirft, insofern richtig sein kann, als diese Kritik eine Besonderheit der positivistischen Methode getroffen hat 3 3 6 . Denn gerade Smends Vorgehensweise, die sich in Abkehr von der begriffsjuristischen Behandlung staatsrechtlicher Einzelfragen entwickelt hat, war ja — wie gezeigt — vor 1918 geeignet, konservativmonarchische Ideen zu bewahren. Das legt die Vermutung nahe, daß die Funktion des staatsrechtlichen Positivismus während der Kaiserzeit doch nicht deutschen Staatslehre tragen zu dem gleichen Ergebnis bei und unterminieren die überlieferte Monarchie, auch wenn sie scheinbar ganz theoretisch oder sogar vorbehaltlos gouvernemental sind." 331 H. Mayer, Die Krisis, S. 9. 332 Charakteristisch etwa Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 67; ders., Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, S. 17. v. Oertzen, S. 322, schreibt zu Laband: „Der konservative' Zug der Labandschen Schule ist unbestreitbar." Weitere Belege für diese Bewertung sind aufgeführt bei V. Neumann, Der Staat im Bürgerkrieg, S. 42 Fn. 12. 333
Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 29. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 29; vgl. aber auch die Würdigung dieser Methode auf S. 30. Ferner Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, S. 145: Der Anspruch, wissenschaftliche Erkenntnis unpolitisch zu gewinnen, habe die „politischen Intentionen der klassenmäßig und ideologisch nahezu homogenen Intelligenz vordergründig verdecken" sollen. Siehe auch M. Friedrich, AöR 111 (1986), S. 200. 335 W. Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit, S. 45. Ebenso W. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 159. 336 Es geht hier allein um den Vorwurf des politischen Konservativismus. Auf einem ganz anderen Blatt steht die Erkenntnis, daß die positivistisch arbeitenden Staatsrechtslehrer eine vernunftrechtlich-philosophische Idee des Rechts zugrundelegten und diese konservierten, vgl. E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 21 Of., 214, 217 f.; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche" Richtung, S. 26. 334
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einfach eine — bewußte oder unbewußte — Stellungnahme zu politischen oder weltanschaulichen Positionen enthielt. Wenn Laband alle materialen Gesichtspunkte mit den Worten, „alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen ... sind für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffes ohne Belang.. . " 3 3 7 , von der juristischen Denktätigkeit fernhalten möchte, so verdient dieser Anspruch ernstgenommen zu werden. Für den Bereich des Bundesstaatsrechts läßt sich nachweisen, daß dieses Bemühen um Objektivität teilweise erreicht wurde. Denn es ist festzuhalten, daß die spätkonstitutionellen Darstellungen des Bundesstaatsrechts recht genau den in der Bismarckverfassung angelegten doppelten Kompromiß zwischen unitarisch-parlamentarischen und monarchisch-föderalistischen Elementen wiedergegeben haben. Die begriffliche Loslösung der einzelnen Rechtsinstitute aus allen staatstheoretischen und geschichtlichen Beziehungen, die Freisetzung der juristischen Begriffe von bestimmten geschichtlichen und politischen Funktionen war in der Lage, den politisch ungelösten Widerstreit des monarchischen und des demokratischen Prinzips zu neutralisieren 338 , denn dem ungelösten konstitutionellen Dualismus entsprach das Wissenschaftsideal des politikfreien Rechts. Die positivistische Arbeitsweise war somit nicht beliebiger politischer Akkomodation fähig, sondern sie war den geltenden Verfassungen verbunden. Deren eigenartige konstitutionelle Kompromißformeln aber hatte der staatsrechtliche Positivismus nicht entworfen, sondern vorgefunden 339 . Selbst wenn die Ansicht Hans Mayers richtig ist, wonach der Wahl jeder juristischen Methode eine weltanschauliche, im Kern politische Entscheidung vorausgeht 340 , so wird man sich vor einer vorschnellen Einordnung Labands und seiner Schule als Apologeten des monarchischen Prinzips hüten müssen. Auch die zeitgenössische Einschätzung war, trotz der Kritik Gierkes, durchaus eine andere. Bezeichnend ist etwa, daß die Auffassung Labands vom Reich als einer korporativen Verbindung der deutschen Staaten, nicht eines Bundes der deutschen Fürsten, die scharfe Kritik Bismarcks herausforderte 341 , der demgegenüber in einem Antrag an den 337
Laband I, Vorwort, S. VI. In dieser unentschiedenen Souveränitätsfrage des deutschen Konstitutionalismus sieht E.-W. Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie, S. 112 ff., den sachlichen Grund der Verbannung der Politik aus der Staatsrechtslehre. 339 Vgl. Tsatsos, S. 17 f. 340 H. Mayer, Die Krisis, S. 10. Damit übereinstimmend etwa C. Schmitt, Hugo Preuß, S. 5 f. 341 Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks, S. 40 f. Labands Lehre war nach Bismarcks Auffassung „keine authentische Interpretation der Verfassung". Vgl. auch das bei Zechlin, a.a.O., S. 177ff., abgedruckte Schreiben Bismarcks vom 1. März 1890 und das Protokoll der Ministersitzung vom 2. März 1890. In letzterem wird eine Äußerung Bismarcks so wiedergegeben: „Von einzelnen Rechtslehrern, z.B. Laband u.a., sei die Ansicht verfochten, daß die Staaten, nicht deren Souveräne, den Bund geschlossen hätten. Diese Interpretation sei irrthümlich und man müsse der Neigung, die Verfassung von Privatgelehrten auslegen zu lassen, entgegentreten" (a.a.O., S. 180). Laband selbst hat in seinen Lebenserinnerungen die Anerkennung seines Reichsstaats338
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Bundesrat formulierte: „Mitglieder des Bundes sind nur die Souveräne, welche den Bund, der das Reich bildet, geschlossen haben" 3 4 2 . Smends Bundestreue — immerhin ein von Bismarck verwendeter Terminus — und die ihr zugrundeliegenden Überlegungen betonten demgegenüber das monarchisch-föderalistische Element des Reichsstaatsrechts in einseitiger Weise, während den im Reichstag vertretenen Parteien ein „konstitutioneller Doktrinarismus" 343 vorgeworfen wird. Seine Abhandlung konnte sogar als Legitimation dafür verstanden werden, den Verfassungskompromiß zugunsten der monarchischen Bestandteile durch Verträge der Einzelstaaten neu zu formulieren, ohne die Erfordernisse der Verfassungsänderung nach Art. 78 RV einzuhalten 344 . Im Lichte des Ansatzes Smends erscheint die positivistische Lehre eher als neutraler Spiegel der Verfassungsrechtslage, teils aber auch als Konservator liberalen Gedankenguts 345 . Deutlich wird letzteres in der Erwiderung bei Meyer/Anschütz auf die Studie Smends, die vor 1918 die einzige Entgegnung der herrschenden Lehre geblieben ist. Hier wird Smend ohne Umschweife kritisch vorgehalten, das Bundesstaatsrecht durch den Regulator der Bundestreue einseitig an den föderalistischen Interessen der Monarchien ausgerichtet zu haben. Daß die verbündeten Regierungen, einzeln und zusammen, sich wiederholt zu der Lehre von den vertragsmäßigen Grundlagen bekannt hätten, reiche nicht aus, um die Behauptung einer reichsverfassungsrechtlich verpflichtenden Bundestreue zu stützen, „ . . . denn das Reich und sein Recht ruhen doch nicht allein auf dem Willen der Regierungen, sondern auf dem einmütigen Willen der Regierungen und des deutschen Volkes. ,Als ob es lediglich die Regierungen gewesen wären, die dem Reiche seine Form gegeben haben!'" 3445 .
rechts durch Bismarck eher zurückhaltend erwähnt. Bismarck habe für den im Jahre 1876 erschienenen ersten Band des Staatsrechts „großes Interesse" bekundet (Laband, Lebenserinnerungen, S. 86). 342 Zitiert nach v. Seydel, Commentar, S. 132. 343 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 53. 344 Die Vertreter des staatsrechtlichen Positivismus dagegen wiesen die Bestrebungen klar zurück, die auf eine Revision der Verfassung zugunsten der Fürsten gerichtet waren. So kritisierten Meyer/Anschütz, S. 691 Anm. f, eine „ . . . in gewissen Kreisen anscheinend nicht unbeliebte und unter Ausschluß der Öffentlichkeit gepflegte Ansicht, wonach die verbündeten Regierungen durch Einstimmigkeitserklärungen (durch einen ,neuen Bundesvertrag', wie man es nennt) das bestehende Reich aufzulösen und durch ein neues mit einer neuen Verfassung zu ersetzen befugt seien ...". 345 Vgl. allgemein zur Würdigung des staatsrechtlichen Positivismus in dieser Hinsicht v.Oertzen, S. 321 ff. 346 Meyer/Anschütz, S. 697, mit Berufung auf Triepel, Unitarismus und Föderalismus; ferner ders., S. 224 und 472, wo das Deutsche Reich bezeichnet wird als „der nationale korporative Verband, welcher, fundiert auf die deutschen Staaten und das deutsche Volk, beide, Staaten und Volk, zu einem souveränen Staatswesen zusammenfaßt".
III. Die Abhandlung Smends über ungeschriebenes Verfassungsrecht
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Schon dieses Beispiel zeigt, daß sich ein zwingender Zusammenhang von juristischer Methode in der Staatsrechtslehre mit einer konservativen Staatsauffassung oder einer konservativen politischen Funktion dieser Methode nicht erweisen läßt. In ihr, nicht aber der Vorgehensweise Smends, wird man das Wissenschaftsethos des Strebens nach unparteiischer Erkenntnis anerkennen müssen.
2. Teil
Bundesstaatstheorie und Bundesstaatsrecht in der Integrationslehre I. Der Gegenstand der Untersuchung Die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts bezeichnen die Hauptschaffenszeit Rudolf Smends auf dem Gebiet des Staatsrechts. Mehrere kürzere Abhandlungen zum Verfassungsrecht führen zu dem im Jahre 1928 erschienenen Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht". In diesem Werk ging es Smend zum erstenmal darum, nicht einzelne Fragen des positiven Verfassungsrechts zu behandeln und dabei die theoretischen Grundlagen der Verfassung eher andeutungsweise zu berühren, so wie dies in der im ersten Teil der vorliegenden Arbeit untersuchten bundesstaatsrechtlichen Abhandlung des Jahres 1916 geschehen war, sondern umgekehrt überhaupt erst eine sachlich und methodisch fundierte Lehre vom Staat und vom Recht zu entwerfen und auf dieser Grundlage zu den Einzelfragen des positiven Rechts vorzustoßen. Die Vorbemerkung des Buches kleidet dieses Ziel in die Gestalt einer These. Angesichts ihrer Stellung ist sie mehr eine Arbeitshypothese. Smend behauptet hier den „untrennbaren Zusammenhang von Staats- und Verfassungstheorie und Staatsrechtslehre" 1. Eine „wahrhaft fruchtbare Staatsrechtslehre" bedürfe deshalb der „bewußten und methodisch klaren Begründung in einer allgemeinen Staats- und Verfassungslehre" 2. Die polemische Ausrichtung dieser These ist deutlich erkennbar. Sie richtet sich gegen die Grundlage der „Allgemeinen Staatslehre" Georg Jellineks. Hier hatte Jellinek deutlich gemacht, daß es neben der juristischen Staatsbetrachtung, die von der Verfassung und den gegebenen Gesetzen auszugehen habe, zwar noch eine politisch-soziologische Seite des Staates gebe, aber ganz entschieden auf der notwendigen methodischen Trennung beider Aspekte bestanden3. Smends gegenläufiger Weg der Verklammerung von Staatslehre, Verfassungslehre und Staatsrechtslehre und der Erklärungsversuch hierzu ist die „Integrationslehre" mit dem Zentralbegriff der „Integration". In dieser Lehre treten wie in einem Kreuzungspunkt 4 Smends Anschauungen von Staat, Recht und Verfassung zusammen. Der behauptete 1
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119. 3 Vgl. G. Jellinek,Allgemeine Staatslehre, S. 11, 50, 137ff. 4 So die treffende Bezeichnung von Badura, Der Staat 16 (1977), S. 307. Häberle, AöR 102 (1977), S. 285, spricht von dem einen „Schlüsselbegriff' der Integration, aus dem Staats- und Verfassungslehre entwickelt werden. 2
I. Der Gegenstand der Untersuchung
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notwendige innere Zusammenhang zwischen den drei genannten Arbeitsgebieten gibt aber auch das Darstellungprinzip des Buches „Verfassung und Verfassungsrecht" vor, das in drei Teile gegliedert ist und die zentralen Einzelfragen zur gegenseitigen Ergänzung von verschiedenen Seiten beleuchtet. Einer „Staatstheoretischen Grundlegung" 5 schließen sich „Verfassungstheoretische Folgerungen" 6 an, und zuletzt, als eigentlichen Beitrag zur Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, umreißt Smend in einem Dritten Teil einige sich aus den Grundlegungen für ihn ergebende „Positivrechtliche Folgerungen" 7 . Ausführungen zur Theorie des Bundesstaates und zu seinem Verfassungsrecht, die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit näher untersucht werden sollen, finden sich im Zweiten und Dritten Teil des Smendschen Werkes. Die Darstellung seiner Ausführungen hat folgendes zu berücksichtigen. Die These Smends vom untrennbaren Zusammenhang von Staatstheorie, Verfassungstheorie und Staatsrecht und ihre Durchführung in der Integrationslehre bedeutet, daß Smends Bundesstaatslehre und ihre positivrechtlichen Folgerungen nicht aus dem Gesamtzusammenhang von „Verfassung und Verfassungsrecht" gleichsam herausgebrochen werden können und einer isolierten Untersuchung zugänglich sind. Die Bundesstaatslehre erschließt sich vielmehr erst dann, wenn die staatstheoretischen Prämissen Smends berücksichtigt werden. Das mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen, denn der Begriff des Bundesstaates setzt notwendigerweise eine Vergewisserung über den Begriff des Staates voraus. Bei Smend jedoch hat dieser Zusammhang zwischen den Begriffen Staat und Bundesstaat eine ganz eigenständige Bedeutung. Die Staatsbegriffe der verschiedenen früheren Theorien über den Bundesstaat sind, anders als bei Smend, häufig gerade im Hinblick auf die konstruktive Möglichkeit eines Bundesstaates gebildet und haben nur in diesem Zusammenhang Relevanz. Die begriffliche Konstruktion des Bundesstaates führt zuweilen sogar zu einer fast bedenkenlos anmutenden Umgestaltung des Staatsbegriffes. In manchem bezeichnend hierfür ist die Lehre Labands. Der Bundesstaat ist für Laband eine Staatenkorporation, in der der Oberstaat über die Einzelstaaten als Mitglieder herrscht. Eine souveräne Oberstaatsgewalt steht nichtsouveränen Gliedstaatsgewalten gegenüber 8. Diese Lehre steht und fallt mit der Möglichkeit, souveräne und nichtsouveräne Staaten unterscheiden und die letzteren in überzeugender Weise von autonomen Provinzen und Gemeinden abgrenzen zu können. U m den Staatscharakter der Unterstaaten nicht aufgeben zu müssen, verzichtet Laband in seiner Darstellung des Reichsstaatsrechts auf das Merkmal der Souveränität 9 als einen notwendigen Bestandteil des Staatsbegriffes. 5
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 121 ff. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 187 ff. 7 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 233 ff. 8 Vgl. Laband I, S. 55 ff. und oben, 1. Teil, I., 3. b). 9 Nach Laband I, S. 57 f. „die oberste, höchste Rechtsmacht, welche keine andere über sich hat". 6
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Wesentliches Merkmal des Staates wird stattdessen die Herrschaft: „Die juristische Persönlichkeit des Staates besteht darin, daß der Staat eigene Herrschaftsrechte behufs Durchführung seiner Aufgaben und Pflichten und einen selbständigen Herrscherwillen hat" 1 0 . Die rechtlichen Merkmale des Staates faßt Laband also weit. Er löst den Staatsbegriff bewußt vom Modell des souveränen Einheitsstaates als „der einfachsten und regelmäßigen Form" des Staates11. Der weite Staatsbegriff kann dann für die nach Laband zwingende Erklärung des Bundesstaates als Staatenkorporation herangezogen werden. Noch ein weiteres ist an dieser Erfassung des Bundesstaatsproblems entscheidend. Labands Erläuterungen zum Staatsbegriff bezwecken an dieser Stelle seines Reichsstaatsrechts allein, „Die rechtliche Natur des Reiches" 12 zu klären 13 . Einen allgemeinen vorpositiven Teil des Staatsrechts kennt das System Labands nicht. Diese auf die Dogmatik des Staatsrechts zielende Begriffsbildung entspricht der Methode des staatsrechtlichen Positivismus, die durch eine sachliche Isolierung gegenüber der Staatstheorie im Sinne einer Klärung der Natur des Staates, seiner Aufgaben und Zwecke gekennzeichnet ist 1 4 . Gegenpositionen wie die von Haenel entworfene, der es ausdrücklich ablehnte, dem Begriff des Staates in Anwendung auf den Bundesstaat eine Erweiterung zu geben 15 , und der stattdessen ein Verständnis des Bundesstaates als „organisches Ganzes" und „Totalität" 1 6 von Gesamtstaat und Einzelstaaten forderte, konnten sich in der Staatsrechtslehre vor 1918 nur sehr geringen Einfluß verschaffen. Smend geht einen anderen Weg als die herrschende spätkonstitutionelle Bundesstaatslehre. Die Gewinnung des Staatsbegriffes steht für ihn am Anfang und ist hier noch nicht auf die Probleme hin gedacht, die sich aus der Zusammenordnung mehrerer Staaten zu einem Bund ergeben. Der Begriff des Bundesstaates stellt sich dann ausdrücklich und ausschließlich als Folgerung 10
Laband I, S. 57. Vgl. Laband I, S. 64. 12 So die Abschnittsüberschrift bei Laband I, S. 55. 13 Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang auch die Bemerkungen von G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 12f., zu den von ihm vorgefundenen Staatsbegriffen: „Die allgemeinen Begriffe vom Staate sind dem Typus des Einheitsstaates entnommen. Natürlich lassen sich mit diesen Begriffen die abweichenden Verhältnisse zusammengesetzter Staaten nicht in Einklang bringen". Jellinek folgert daraus, daß aus dem Vergleich der historisch gegebenen Staatsformen der höhere Begriff des Staates „berichtigt" werden müsse und zieht die entsprechende allgemeine Regel heran: „non ex régula jus sumatur, sed ex jure, quod est, régula fiat". Vgl. hierzu auch dens., Allgemeine Staatslehre, S. 486 f. Zur Kritik an dieser Vorgehensweise vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 116ff. 11
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Vgl. hierzu E-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 211 f. Haenel, Studien I, S. 67. Dort findet sich die Feststellung, die Erweiterung des Staatsbegriffes mache ihn „wissenschaftlich werthlos". 16 Haenel, Studien I, S. 62,63; vgl. M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken, S. 48. 15
I. Der Gegenstand der Untersuchung
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aus den Grundannahmen der Integrationslehre dar 1 7 , wobei Folgerung jedoch nicht meint, daß im Wege logischer Ableitung dem genus Staat weitere Merkmale hinzugefügt werden, so daß sich die spezies Bundesstaat ergibt. Die Bundesstaatslehre ist ein Anwendungsfall der Integrationslehre. Smend spricht von „bundesstaatlicher Integration" 18 . Hierbei bestimmt die Untersuchung Smends nicht die formale rechtstheoretische Frage, ob die Konstruktion des Bundesstaates als eine auf einem Rechtsgrund beruhende Verbindung von Staaten überhaupt in überzeugender und widerspruchsfreier Weise möglich ist. Es geht ihm vielmehr um das sachliche Wesen und die Rechtfertigung des bestehenden deutschen Bundesstaates19. Angesichts der gerade zur Zeit der Weimarer Republik diskutierten Möglichkeit, den deutschen Staat zukünftig als Einheitsstaat zu gestalten 20 , hatte dies besondere Aktualität. Mit deutlicher Anspielung auf die Diskussion über die Reichsreform bemerkte Smend: „Eine Bundesstaatstheorie hat darzutun, wieso der Bundesstaat ein sinnvolles politisches Prinzip sein kann" 2 1 . Die Bundesstaatstheorie soll demnach eine Hinwendung zum Konkreten, zu den Problemen des staatlichen Lebens enthalten. Allein in dieser Hinsicht führen nach Smend die von ihm „zugrundegelegten Anschauungen ... zu einer von der herkömmlichen abweichenden Bundesstaatstheorie" 22. Es gibt zwei Schwierigkeiten bei der Darstellung der Bundesstaatslehre Smends. Die erste ist die allgemeine Schwierigkeit des Umgangs mit dem Buch „Verfassung und Verfassungsrecht", dem Erich Kaufmann bescheinigt hat, es sei „nicht leicht zu lesen", weil es „manche nicht ausgeglichene und sein Verständnis erschwerende Widersprüche" 23 enthalte. Das ist ein Urteil, dem sich wohl jeder Smend-Leser anschließen wird. Die zweite Schwierigkeit liegt darin, daß Smend, trotz seines Anspruches, eine eigenständige „Bundesstaatstheorie" zu begründen und hieraus die staatsrechtlichen Folgerungen zu ziehen 24 , die Ausarbeitung beider Fragenkreise nur in einer kurzen Skizzierung 17
Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 223. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 225. 19 Vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 119. 20 Darauf zielten manche Vorschläge bei der in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre geführten Diskussion über eine sogenannte „Reichsreform", vgl. Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 30 m. Fn. 49; Nawiasky, Grundprobleme I, S. 75 ff. ferner Dennewitz, Der Föderalismus, S. 152 ff. 18
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Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 225. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 223. 23 E. Kaufmann, Ges. Schriften III, S. X X X ; zur Integrationslehre allgemein Poeschel, S. 7: „Aber in der Tat ist bekanntermaßen die »geisteswissenschaftliche' Staatstheorie Rudolf Smends dem an der allgemeinen juristischen Methode ausgerichteten Leser nicht leicht zugänglich. Gegenstand und Methode der,Integrationslehre' passen aber auch nicht in das Schema der übrigen Fakultäten. So geht es nicht viel besser als dem Juristen oft auch dem soziologisch, ja selbst dem geisteswissenschaftlich und philosophisch Vorgebildeten, der sich Smend zuwendet." 22
24
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 268.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
der Kerngedanken vornimmt, mehr in Form eines Programms, das noch der Durchführung bedarf. „Eine Bundesstaatstheorie ... muß das Ganze verständlich machen" 25 . Dieser bezeichnende und gleichzeitig zentrale Satz Smends in diesem Zusammenhang gibt die Richtung und die Anforderungen an, in der die Probleme des Bundesstaates überhaupt erst bestimmt werden können. In die Richtung, in der diese Probleme einer umfassenden Lösung zugeführt werden können, weist er nicht. Angesichts dessen ist eine ergänzende Interpretation erforderlich. „Schon die aphoristische, andeutende Schreibweise Smends nötigt zu einer verstehenden Untersuchungsweise, die selbsttätig die vorhandenen Andeutungen ergänzt, den geistigen Wurzeln, auch wo sie nicht offen gelegt sind, nachspürt und aus eigener Kraft versucht, das Gesamtbild ... zu gewinnen" 26 . Diese von Hans Mayer mit Blick auf die Staatsauffassung Smends getroffene Feststellung gilt auch für die Untersuchung der Einzelprobleme. Will diese Untersuchung die Texte Smends nicht gänzlich überschreiten, so können nicht so sehr Folgerungen aus der Bundesstaatslehre Smends ihr Gegenstand sein. Es ist vielmehr eine Beschränkung darauf geboten, ob die staats- und verfassungstheoretische Grundlegung Smends überhaupt ein brauchbares Fundament für die Erklärung des Bundesstaates und seiner verfassungsrechtlichen Probleme sein kann. Die Frage lautet, ob die Integrationslehre zur Lösung bundesstaatsrechtlicher Probleme einen positiven Beitrag zu geben vermag. M i t dieser Fragestellung kann sich die vorliegende Arbeit auf Smend selbst berufen. Er beansprucht, mit der Integrationstheorie „die Voraussetzungen für die Lösung jedes einzelnen staatstheoretischen Problems" 27 angeben zu können. Das muß dementsprechend auch für das staatstheoretische Problem Bundesstaat der Fall sein. Demgegenüber ist die Feststellung Baduras 28 , der meint, glatte Verwendbarkeit sei nicht das Ziel der Integrationslehre, folglich könne auch die Feststellung eines Mangels hierin kaum einen Vorwurf gegen Smend begründen 29 , wenig überzeugend. Badura nimmt den Anspruch der Integrationslehre nicht ernst, der in der zitierten Äußerung Smends deutlich wird. Zudem hat jede Theorie, die ein so hochgestecktes Ziel verfolgt wie die Integrationslehre, nur dann ihre volle Berechtigung, wenn sie tatsächlich neue Perspektiven für Staatslehre und Staatsrecht erschließt. M i t Blick auf das Staatsrecht faßt Smend dies in die Formulierung, seine Anschauungen müßten sich „am positiven Recht... bewähren" 30 . Smend hat damit der Integrationslehre ihre Bewährung in der Anwendung auf Einzelprobleme zugedacht 31 . Diese 25
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 224. H. Mayer, Die Krisis, S. 32 f. 27 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 187. 28 Badura, Der Staat 16 (1977), S. 307. 29 Eine ähnliche Auffassung zeigt sich bei H, Mayer, Die Krisis, S. 32, der seine Untersuchung der Staatsauffassung Smends bewußt auf die „grundsätzliche Haltung" beschränkt, die darin zutage tritt und darüber hinaus offenbar der Ansicht ist, einer anderen Betrachtung sei die Integrationslehre überhaupt nicht zugänglich. 30 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 233. 26
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
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Sicht wird in einem Brief Smends aus dem Jahre 1967 noch einmal bekräftigt: die Integrationslehre habe sich nicht „in ihrem Prinzip, sondern in ihrer Anwendung rechtfertigen" sollen 32 . Der Hinweis Baduras auf den „unerklärbaren Rest" 3 3 , den bisherige Interpretations versuche der Integrationslehre zurückgelassen haben, ist jedenfalls ungeeignet, die Lehre vor ihrem eigenen Anspruch in Schutz zu nehmen, für jedes staatstheoretische Problem zumindest die Voraussetzungen der Lösung angeben zu können. Die Überprüfung dieses Anspruchs soll hier damit beginnen, daß die Integrationslehre bis zu dem Punkt verfolgt wird, von dem aus Smend die Ableitung seines Bundesstaatsbegriffs und die Erklärung des „Wesens des Bundesstaates"34 unternimmt. Die Verfassungstheorie Smends braucht hierbei noch nicht berücksichtigt zu werden. Das hängt mit einer Eigenart der Integrationslehre zusammen, die darin besteht, Staat und Recht in eigenwilliger Art zu trennen. Die Staatslehre wird zunächst in der Integrationslehre von der normativen Staatsrechtslehre in dem Sinne emanzipiert, daß die „Wirklichkeit", das „Leben" des Staates ganz unabhängig von der normativen Rechtsordnung beschrieben werden müsse 35 ; der Staat existiere unabhängig von der normativen Ordnung als eine Integrationsordnung. Erst danach werden beide Sachbereiche miteinander verklammert 36 . Diese Form der dualistischen Auffassung von Staat und Recht schaltet, was näher zu zeigen sein wird, für die Staatstheorie und folglich die Bundesstaatstheorie den Rechtsbegriff aus. Erst die Untersuchung der positivrechtlichen Ergebnisse Smends auf dem Gebiet des Bundesstaatsrechts bedarf deshalb einer gesonderten Grundlegung im Hinblick auf Smends verfassungstheoretische Prämissen. In diesem Zusammenhang wird dann auch zu untersuchen sein, inwieweit von den verfassungsstrukturellen und methodischen Erkenntnissen der im ersten Teil der vorliegenden Arbeit untersuchten Studie des Jahres 1916 eine Linie zu der Konzeption von „Verfassung und Verfassungsrecht" gezogen werden kann. I I . Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre 1. Der Anlaß für die Entwicklung der Integrationslehre Die Integrationslehre ist das ganz persönliche Werk Rudolf Smends und bis heute untrennbar mit seinem Namen verbunden. Ihr nachhaltiger, in ausgestal31
So auch M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 10. Der Brief ist abgedruckt bei M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 25 f. 33 Badura, Der Staat 16 (1977), S. 307. 34 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 223. 35 Vgl. vorab Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 207: Staat und Recht seien „je in sich geschlossene, der Verwirklichung je einer besonderen Wertidee dienende Provinzen des geistigen Lebens". 32
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Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 209: Staat und Recht seien „ineinander verwachsen". 7 Korioth
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
teter Form geschehener Eintritt in Staatslehre, Verfassungslehre und Staatsrechtslehre geschah mit dem Buch „Verfassung und Verfassungsrecht", dessen Erscheinen in das Jahr 1928 datiert. Vorausgegangen waren kürzere Abhandlungen Smends, in denen der Gesichtspunkt der Integration bereits zur Lösung einzelner staatsrechtlicher Probleme herangezogen worden war 3 7 . Die Wirksamkeit der Integrationslehre, die unmittelbar von „panegyrischem Lob und leidenschaftlicher Ablehnung" 38 begleitet war, beginnt damit in jenem Zeitabschnitt der Weimarer Republik zwischen 1925 und 1930, der die eindringlichsten vom juristischen Standpunkt aus unternommenen Untersuchungen zu dem durch die Novemberrevolution des Jahres 1918 völlig veränderten deutschen Staat und seinem Staatsrecht hervorgebracht hat. Allesamt fühlten sich diese Untersuchungen verpflichtet, die Grundannahmen der Staatsrechtslehre der Kaiserzeit einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Die revolutionären Wirren des Jahres 1919 hatten in exemplarischer Weise verdeutlicht, daß scheinbar festgefügte Staats- und Rechtsordnungen plötzlich umgewälzt, Besitz- und Machtverhältnisse aufs äußerste gefährdet werden können. Das beherrschende Lebensgefühl war das der Unsicherheit aller Lebensbereiche; nicht ohne Grund ist das Wort „Krise" eines der Modeworte der zwanziger Jahre 39 . Auf die Staats- und Rechtslehre konnte dies nicht ohne Auswirkungen bleiben. Es wurde zum Gemeinplatz, daß der bisherige staatsrechtliche Positivismus mit seiner bewußten Beschränkung auf dogmatische Untersuchungen, mit seinen Grundannahmen der Identität von Recht und Gesetz und dem Dogma von der Geschlossenheit der Rechtsnormen historisch bedingt war, indem er eine beständige und im wesentlichen als richtig empfundene Staats- und Gesellschaftsordnung voraussetzte. Nach Wegfall dieser Bedingungen war die Rechtstradition der Kaiserzeit nicht ohne weiteres fortsetzbar. Erich Kaufmann sagte auf der Staatsrechtslehrertagung des Jahres 1926: „Die Erlebnisse, die unser Volk, und wir mit ihm, im Kriege, im 37 So zu einer inhaltlichen Bestimmung des Politischen und des Bereichs der Regierung {Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, S. 68 ff.), wobei Smend die Eigentümlichkeit der politischen Aktionen darin sieht, daß „sie alle Vorgänge der staatlichen Integration" sind (a.a.O., S. 80); ferner diente die Integrationsbetrachtung einer Erarbeitung des Problems, welche Bedeutung den Grundrechten der Weimarer Verfassung zukam {Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 89 ff.). Die sachlichen Differenzen zwischen dieser frühen Integrationsbetrachtung und der voll ausgebildeten Integrationslehre, die H. Mayer, Die Krisis, S. 47ff., Smend vorhält, können hier außer Betracht bleiben. Vgl. hierzu auch Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 140f. 38
KaegU S. 142. Vgl. Forsthoff\ Verfassungsgeschichte, S. 186; ferner die Belege bei Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 41 ff.; Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, S. XVI, 38 ff., 59 ff.; ferner H. Mayer, Die Krisis, S. 3 f., 23 ff., 96. E. Hirsch, Staat und Kirche, S. 32, bemerkte: „Das Wort von der Kulturkrise ist in aller Mund, so sehr, daß man es fast nicht mehr hören mag. Es ist fast der Mumie gleich geworden, die nach Herodot in Ägypten bei großer Tafel zur Erhöhung des Lebensgenusses herumgereicht zu werden pflegte." 39
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
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Zusammenbruche, in der Revolution und unter dem Versailler Vertrag innerund äußerpolitisch gehabt hat, haben uns gewaltig aufgerüttelt und zu einer großen Selbstbesinnung geführt. Diese Erlebnisse haben uns den Zwang auferlegt, unsere Gedanken über Recht und Staat einer neuen Prüfung zu unterwerfen" 40 . Im Bereich der Staatslehre lautete die von vielen gestellte Frage nunmehr, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Zielen angesichts der Zerrissenheit der Lebensverhältnisse politische Selbstgestaltung und Einheitsbildung im demokratischen Massenstaat möglich sein konnte 4 1 . Die Integrationslehre hat Smend bewußt in den Zusammenhang dieser Fragestellung gerückt. Seine Lehre möchte den staatsrechtlichen Positivismus nicht nur durch eine Weiterbildung des Staatsrechts aufgrund neugewonnener methodischer Orientierung und nach dem Maßstab des neuen Verfassungszustandes überwinden, sondern auf die Staatsgestaltung einwirken 42 . Smend sieht die Schwierigkeit darin, daß die „Massenbürgerschaft heutiger Demokratien" von den „zarten und ein wenig literarischen Lebensformen des bourgeoisen Repräsentativstaates nicht recht erfaßt w i r d " 4 3 . Manfred Friedrich hat deshalb treffend bemerkt, daß der Entwurf der Integrationslehre für Smend auch ein Akt des staatsbürgerlichen Engagements gewesen sei 44 . In einem privaten Brief aus dem Jahre 1967 bekannte Smend über sein politisches Erleben in den Jahren nach 1918, daß ihm die politische Einheit des deutschen Volkes damals „wie eine umgefallene Mauer aus Lehm erschienen" 45 sei. Der unmittelbare wissenschaftliche und polemische Anlaß aber für die Entwicklung der Integrationslehre war nach Smends eigenem Zeugnis das Erscheinen der „Allgemeinen Staatslehre" Hans Kelsens im Jahre 1925. Deren konsequent normlogische Grundlegung deutete Smend nur als Symptom der Krise von Staatsrecht und Staatslehre, die mit Kelsen bereits zum Schlußpunkt, und, in bezug auf das sachliche Ergebnis der Staatslehre, zum „bewußt erreichten Nullpunkt" 4 0 gelangt sei. Als „Nullpunkt" mußte Smend die Auffassung Kelsens deshalb erscheinen, weil dieser die Trennung Georg Jellineks zwischen einem soziologischen und einem juristischen Aspekt des 40
E. Kaufmann, VVDStRL 3 (1927), S. 3. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 37, betont mit Recht „das Weltanschauungsproblem der geistigen Zerrissenheit der jungen Republik" als einen der „wissenschaftsexogenen" Gründe für die Loslösung vom staatsrechtlichen Positivismus. 41 So beginnt Laun seine 1922 veröffentlichten Überlegungen zu dem Thema „Der Staatsrechtslehrer und die Politik" mit dem programmatischen Bekenntnis: „Der Staatsrechtslehrer steht an einem Punkte, wo die Wissenschaft, nämlich die Philosophie, die Staatslehre und die Rechtswissenschaft, in die praktische Politik ... eingreift und von diesem Ringen unmittelbar beeinflußt wird" (Laun, AöR 43 (1922), S. 145). 42 43 44 45 46
7*
Vgl. Badura, Der Staat 16 (1977), S. 308. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 157. M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 11. Die Briefstelle ist abgedruckt bei M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 25. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 124.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Staates auf die Spitze getrieben hatte, indem er den Staat mit seinem jeweils geltenden Rechtssystem identifizierte. In diesem Konzept konnte die von Smend geforderte Besinnung der Staatslehre auf das Problem politischer Einheitsbildung keinen Platz finden. Bei Kelsen wurde der Staat zu einem rein rechtlichen Anknüpfungspunkt. Das inhaltliche Moment der politischen Gestaltung des Staates war ausgeschaltet. Aus dieser „Sackgasse"47 soll die ganz anders geartete Grundlegung Smends von Verfassung und Verfassungsrecht in der Integrationslehre herausführen. Sie ist deshalb als ausgeführtes theoretisches Konzept ohne die grundverschiedene Ineinssetzung von Staat und Rechtsordnung durch Kelsen kaum denkbar 48 . In der Wendung gegen staatsrechtlichen Positivismus und Normlogik wiederum berührt sich Smends Arbeit, ungeachtet der später noch zu behandelnden kontroversen Ausgangspositionen 49, mit dem Denken Carl Schmitts; das Erscheinen der „Verfassungslehre" Carl Schmitts allerdings fallt ebenso wie Smends Hauptwerk in das Jahr 1928 — beide Autoren haben also ihre Bücher ohne Kenntnis des jeweils anderen Werkes verfaßt 50 . In Ablehnung und Zustimmung ist die Integrationslehre zu einer Art „Wasserscheide" 51 innerhalb der Staatsrechtslehre geworden 52 . In dem Dezennium ihrer Entstehung galt sie als eine engagierte Stellungnahme zu dem als drängend empfundenen Problem staatlicher Einheitsbildung 53 , und noch fast sechzig Jahre nach ihrer grundlegenden Ausarbeitung bildet sie einen Gegenstand immer neuer Reflexion 54 . Unlängst stellte Karpen im Hinblick auf die staatsrechtliche Diskussion nach 1945 fest, daß die Integrationslehre „allgemein akzeptiert" 55 werde. Schon eine solche schlagwortartige Beschreibung der 47
So die spätere Einschätzung dieser Art der wissenschaftlichen Betrachtung des Staates bei Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 501. Vgl. auch Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 124. 48 Auch Kelsen, Der Staat als Integration, S. 2, vermerkt, daß Smends Lehre „in polemischem Gegensatz" zu seiner eigenen entwickelt worden sei. 49 Vgl. hierzu auch v. Oertzen, S. 20; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 65 f. 50 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, Vorwort, S. X I I I , wo Schmitt bedauert, die Arbeit Smends über Verfassung und Verfassungsrecht, deren Erscheinen während der Abfassung der Verfassungslehre angekündigt war, noch nicht habe kennenlernen und verwerten können. 51 Badura, Der Staat 16 (1977), S. 306; vgl. auch Scheuner, FS Smend (1952), S. 440. 52 Die Schrift „Verfassung und Verfassungsrecht" deshalb jedoch als den „bedeutendsten staatstheoretischen Versuch der zwanziger Jahre" einzuschätzen (so Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 10), erscheint als eine zu sehr persönlichen Präferenzen verhaftete Wertung. 53 Aufschlußreich ist hierzu die Bemerkung Carl Schmitts, der 1930 die „vielgenannte" Integrationslehre als die „modernste deutsche Staatslehre" bezeichnete (C. Schmitt, Hugo Preuß, S. 21). 54 Vgl. zuletzt etwa Poeschel, S. 42 ff.; Ladern, in: Ordnungsmacht?, S. 112 ff.; ders., Der Staat 21 (1982), S. 391 ff., 396ff.; Wendenburg, S. 157ff.; M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. Iff.
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
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Wirkungsgeschichte, mag sie zutreffend sein oder nicht, weckt das Interesse an dieser Lehre, der von anderer Seite nachgerühmt wird, sie habe nach 1945 als „Initiator neuer Erkenntnisse und Arbeitsansätze" 56 wirken können. Die vorliegende Arbeit verzichtet auf den Versuch, den zahlreichen Ausdeutungen der Integrationslehre eine weitere hinzuzufügen; zur Interpretation im einzelnen darf auf die reichhaltige Literatur verwiesen werden 57 . Die Untersuchung der Integrationslehre soll hier, entsprechend der Problemstellung der Arbeit, allein im Hinblick auf ihren Zusammenhang mit der Bundesstaatslehre Smends geschehen. Es geht um die Verdeutlichung derjenigen Elemente der Integrationslehre, die Smends Anschauungen über den Bundesstaat bestimmen. 2. Die Quellen und der sachliche Bezug der Integrationslehre Die wesentliche Quelle der Integrationslehre ist die Schrift „Verfassung und Verfassungsrecht" geblieben. Obwohl dieses Buch zunächst nur Arbeitsprogramm und skizzenhafter Aufriß der behandelten Probleme sein sollte, welche nach Smends Bekunden der Ausarbeitung und Vertiefung bedürften 58 , hat Smend bis zu seinem Tode im Jahre 1975 die angekündigte Fortbildung und Vertiefung der Integrationslehre nicht vorgenommen. Seine späteren, nach 1945 entstandenen Äußerungen lassen zwar Verschiebungen erkennen und behandeln Einwände, derentwegen „gewisse Einseitigkeiten und Mängel" und das Bedürfnis „nachdrücklicher Richtigstellung" der Integrationslehre „schon im Ansatz" 5 9 eingeräumt werden. Dennoch beziehen sich die späteren Darlegungen Smends immer wieder auf das Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht" zurück, dessen Grundthesen referiert, kommentiert und gelegentlich gegen Angriffe verteidigt werden 60 . Dem ist zu entnehmen, daß dieses Buch, entgegen seinem ursprünglichen Auftreten, für Smend im nachhinein die wesentliche und in ihren Grundzügen verbindliche Ausprägung der Integrationslehre enthielt 61 . Einer Darstellung seiner Lehren kann es zugrundegelegt werden, ohne den Rückgriff auf weitere Schriften Smends auszuschließen, insbesondere dort, wo 55
Karpen, JZ 1987, S. 441. M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 18. 57 Die ertragreichsten Erarbeitungen der Integrationslehre finden sich bei Kelsen, Der Staat als Integration, insbes. S. 45 ff.; H. Mayer, Die Krisis, S. 32ff.; Badura, Der Staat 16 (1977), S. 305 ff.; Bartlsperger, S. 4ff. 58 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, insbes. S. 120, 180, 187, 273. 59 Smend, Art. Integrationslehre, S. 480. 60 Vgl. vor allem Smend, Art. Integrationslehre, S. 447; ders., Art. Integration, S. 484. Hier wendet sich Smend, ohne Namen der Kritiker seiner Lehre zu nennen, insbesondere gegen die von Heller, Staatslehre, S. 187, und H. Mayer, Die Krisis, S. 53, geäußerte Kritik, die Integration, verstanden als einigender Zusammenschluß, sei ein selbstverständliches Prinzip jeder menschlichen Gruppenbildung. 61 Ähnlich Badura, Der Staat 16 (1977), S. 306; Bartlsperger, S. 2; M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 9; Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 56 Fn. 5. 56
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
spätere Arbeiten ergänzen, Hauptprobleme deutlicher formulieren oder Widersprüchlichkeiten der Hauptschrift zur Integrationslehre auszuräumen helfen. Zugleich weist der Umstand, daß trotz gegenteiliger Ankündigungen eine Fortbildung der Integrationslehre von Smend nicht mehr vorgenommen wurde, auf ihren sachlichen Bezug hin. Nach Smends später eigener Einschätzung handelt es sich bei der Integrationslehre im Ursprung um eine nicht nur aus Anlaß der Weimarer Krise entstandene Lehre, sondern überhaupt um eine zeitgebundene Lehre, die direkt auf die geschichtliche Lage des deutschen Staates unter der Weimarer Verfassung zielte. 1975 bemerkte Smend: „Die Krise der Weimarer Verfassung war die Lage, für die die Integrationslehre eine juristische Lösung suchte" 62 . In einem lexikalischen Beitrag aus dem Jahre 1956 hieß es ferner, der Integrationslehre sei es darum gegangen, den „eigentlichen Sinn" 6 3 dieser Weimarer Verfassung zu bestimmen. Danach sollte also die Integrationslehre in der von scharfen weltanschaulichen Gegensätzen gekennzeichneten Lage der Weimarer Republik wieder einen Sinn und Inhalt dieses Staates und seiner Verfassung finden helfen. Diese klare geschichtliche Gebundenheit der Lehre erscheint jedoch eher als nachträgliche Eigenkorrektur, wenn ihr einige Bemerkungen aus der Hauptschrift des Jahres 1928 entgegengesetzt werden. Die Integrationslehre liefere, so hatte Smend hier bemerkt, eine Staatstheorie, „die für alle Kultursysteme mit beliebigen ,Grundvariablen'oder ,Primatfaktoren' vermöge der Elastizität des Systems der Integrationsfaktoren ... Geltung beanspruche(n)" 64 könne. Die Abstrahierung von den historischen Besonderheiten eines bestimmten Staates, der weite Geltungsanspruch der Integrationslehre wird hier bereits nahegelegt. Zumindest aber wird Smends Bemühen erkennbar, die Bedeutung der Integrationstheorie nicht nur an den Erscheinungen der politischen Gegenwart der zwanziger Jahre zu messen. Mag dies noch damit erklärt werden können, daß das Ziel staatlicher Einheitsbildung im „Chaos des kranken Verfassungsstaates der 1920er Jahre" 65 von Parteinahmen für bestimmte politische Bestrebungen freigehalten werden sollte, so finden sich doch weitere Belege für die zunächst intendierte Allgemeingültigkeit der Charakterisierung des Staates als eines Integrationssystems, etwa die Betonung formaler Verfahrensweisen inner62 Smend, Art. Integration, EvStL, 2. Aufl., Sp. 1025f.; vgl. auch dens., Art. Integrationslehre, S. 478 ff. 63 Smend, Art. Integrationslehre, S. 479. Vgl. auch Smend, in: Nuscheler/Steffani, Pluralismus, S. 27: „Damals lag meine polemische Spitze gegen den juristischen Positivismus und Formalismus; ihr (seil, der Integrationslehre) Anliegen war ein richtiges, volleres Verständnis des Rechts und zumal des Staatsrecht überhaupt, allerdings mit der politischen Pointe gegen den chaotischen Zerfall des Weimarer Staates, daher der Akzent auf Integration' ". 64 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 186. Vgl. hierzu die Feststellung von Häußling, Art. Integration, Sp. 345: Smends Staatslehre biete sich „jeglichem Inhalt als Realisierungsraum an". 65 Smend, Art. Integrationslehre, S. 481.
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halb eines Staates als funktionelle Integrationsfaktoren 66 . Die von Smend darunter gerechneten Wahlen, Abstimmungen, parlamentarischen Verhandlungen und Kabinettsbildungen integrieren nach Smends Auffassung, weil sie die „jeweilige" 67 politische Individualität des Staates schaffen, unabhängig von der konkreten Form des Staates, mag er Parlamentsstaat oder in anderer Form gestaltet sein. Die verschiedenen Staatsformen, etwa der „demokratische Massenstaat" oder die Monarchie werden als jeweils ein Typus unter mehreren möglichen Strukturtypen staatlicher Integration erfaßt 68 . Die von Smend vorgenommene Untersuchung der verschiedenen Staatsformen und ihre Gruppierung nach den jeweils vorherrschenden Integrationstypen setzt geradezu voraus, daß die Integration ein durchgängiges Merkmal jeder staatlichen Organisation ist. Zur Bestimmung des „eigentlichen Sinnes" der Weimarer Reichsverfassung wäre jedenfalls eine solche auf Allgemeingültigkeit zielende Untersuchung nicht geboten gewesen. Bezogen auf die Weimarer Reichsverfassung erwecken diese Äußerungen eher den Eindruck, als beziehe Smend ein Versagen der Integrationskraft des demokratischen Staates in seine Überlegungen ein, indem die politische Einheit des Staates auch durch solche Vorgänge herstellbar ist, die der Demokratie fremd sind. Auch der Monarch integriert, indem er das „Volksganze" in „der eigenen Person" 69 verkörpert. Die „monarchische Integration" 70 gilt sogar als eine besondes wertvolle und wirkungsvolle Form der Integration durch sachliche Werte. Jedoch wird der aus den angeführten Zitaten sprechende weite Geltungsbereich der Integrationslehre für Vorgänge eines Staates schlechthin sogleich wieder eingeschränkt werden müssen: Die nachdrückliche Hervorhebung der „geschichtlichen Konkretheit" 7 1 des Staates, verbunden mit der Konzeption auf die Verfassungstheorie hin, kennzeichnet die Integrationslehre als eine Theorie des modernen Verfassungs- und Nationalstaates 72 . 3. Das Ziel der Theorie der Integration Den Anspruch und die Vorgehensweise der Integrationslehre hat Smend im Rückblick aus der Sicht des Jahres 1973 in folgender Weise dargelegt: Die Integrationslehre habe versucht, „durch radikale und ausschließliche Zurückführung aller staatlichen Wirksamkeit und Rechtsordnung auf einen immanen66 67 68 69 70 71
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 148 ff. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 154. Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 148, ferner S. 172 f. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 144. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 145. Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 167ff., S. 132; ders., Art. Staat, S.
524. 72
Vgl. Badura, Der Staat 16 (1977), S. 314 Fn. 31; Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 16f.; Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 192; ders., AöR 94 (1969), S. 547.
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ten Lebensvorgang alle heteronomen Reste monarchischer Ordnung aus dem nunmehr geforderten Verfassungsdenken auszuschließen"73. Auch diese nachträgliche Eigendeutung wird jedoch mit Vorsicht aufgenommen werden müssen. In den grundlegenden Schriften zur Integrationslehre aus den zwanziger Jahren findet sich eine klare Formulierung dieses Zieles nicht, trotz des ausdrücklich programmatischen Charakters dieser Schriften. Hier fehlt es vielmehr nicht an kritischen Spitzen gegen den Staat der Weimarer Verfassung 74, während die Bismarcksche Verfassung zuweilen von Smend in ein überaus positives Licht gestellt wird 7 5 . Diese sei „in völliger, wenn auch unreflektierter Klarheit" 7 6 über die Integrationsaufgabe einer Verfassung entstanden; das Integrationsgebäude der früheren Verfassung sei durch die Weimarer Reichsverfassung zum Teil „zerstört" 77 worden. Ob die Integrationslehre Ausdruck genuin demokratischen Denkens ist 7 8 , oder doch, entgegen ihrer Beteuerung, den „Resten monarchischer Ordnung" in mancher Hinsicht verhaftet ist 7 9 , gehört zu den immer wieder aufgegriffenen Kontroversen innerhalb der Smend-Interpretation. Angesichts der Vielgestaltigkeit des Integrationsbegriffes ist die Frage nur mit Schwierigkeiten zu beantworten. Eine eigene Stellungnahme hierzu kann an dieser Stelle noch nicht begründet werden; es wird sich jedoch bei der Erörterung des Begriffs des Politischen und der Bundesstaatslehre Smends zeigen, daß die häufig diskutierte Alternative von obrigkeitsstaatlichem oder demokratischem Fundament den weltanschaulichen Kern der Smendschen Überlegungen nicht trifft. Smends eigenartiges Demokratiedenken orientiert sich an den Formen und Vorbildern 73
Smend, FS Scheuner, S. 585; vgl. auch dens., Art. Integrationslehre, S. 479 Anm. 3, wonach sich die Lehre polemisch an der „obrigkeitsstaatlichen und der begriffsjuristischen Verkrustung des Verfassungsdenkens" ausgerichtet habe. 74 Z.B. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 231, ferner S. 141,217f. und davor bereits ders., Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, S. 66f. 75 Z.B. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 141, 190, 227; ders., Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, S. 309, 315. 76 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 190. 77 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 231. 78 So etwa Badura, Der Staat 16 (1977), S. 307; Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 67; Hesse, In memoriam Rudolf Smend, S. 574 f.; Leibholz, Rudolf Smend, S. 28 f.; Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 134 Fn. 5; C. Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 99 Fn. 67. Siehe auch Ossadnik, Liberalismusfremdheit, S. 134ff., 140ff.; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 46 f. 79 In diesem Sinne insbes. W. Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit, S. 324: „Smends Staatsanschauung ist bis in den Kern mit antidemokratisch-konservativem Gedankengut durchtränkt". Ferner Hill, S. 160ff.; Kelsen, Der Staat als Integration, S. 58; H. Mayer, Die Krisis, S. 90; Rohatyn, Zeitschrift für öffentliches Recht IX (1930), S. 275; ähnlich Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 72 Fn. 46, ferner S. 83. Unentschieden ist die Deutung bei Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 84 f., der einen „antiliberalen Grundzug" der Integrationslehre feststellt, jedoch betont, sie habe zugleich Wege gewiesen, wie der parlamentarische Staat vor einem Zerfall durch Desintegration bewahrt werden könne.
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des monarchischen Staates, dessen weltanschauliche Homogenität und Harmonie zuweilen fast verklärt und der geistigen Zerrissenheit des Weimarer Staates gegenübergestellt wird; daraus, nicht aus einer betont obrigkeitsstaatlichen Haltung, resultieren Smends distanzierte und auffallend zurückhaltende Beobachtungen zum plebiszitären Massenstaat. M i t Sicherheit läßt sich den zitierten Äußerungen Smends bereits hier eines entnehmen: Die Integrationslehre betrifft, da sie ihren Ursprung von der Krise der Verfassung nahm, im Kern das Verfassungsdenken. Sie ist ihrem Autor zufolge eine juristische Theorie der Verfassung 80, keine Staatslehre und keine politische Theorie schlechthin 81 . Dieser Zusammenhang darf nie, will man der Integrationslehre gerecht werden, aus dem Blickfeld geraten 82 . Nicht ohne Grund führt Smends Hauptschrift nicht die Begriffe der Integration oder der Staatslehre, sondern das Wort Verfassung in ihrem Titel. Soweit es um den staatlichen Lebensprozeß geht, den die Integrationslehre umschreibt, ist er unmittelbar auf die Verfassung selbst zu beziehen. In der Vorbemerkung von „Verfassung und Verfassungsrecht" heißt es dazu: „Das hier entwickelte Sinnprinzip der Integration, des einigenden Zusammenschlusses, ist nicht das des Staates überhaupt, sondern das seiner Verfassung" 83 . Wenn dennoch die Aussagen der Integrationslehre über die Verfassung auf einer ganz bestimmten Staatstheorie gründen, innerhalb derer der Begriff der Integration einen grundlegenden Vorgang des Staatslebens beschreibt, so sind diese Bruchstücke der Staatstheorie „nicht Selbstzweck" 84 . A u f ihrer Grundlage werden die rechtlichen Folgerungen gezogen und wird die Bedeutung des mit dem Begriff Integration Gemeinten für das Staatsrecht bestimmt. Staatstheorie betreibt Smend nach eigenem Bekunden somit als Jurist und zweckbezogen. Es geht ihm 80
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120; ders., Bürger und Bourgeois, S.
310f. 81 Vgl. Smend, Art. Integration, EvStL, 2. Auflage, Sp. 1026: „Die Integrationslehre ist keine soziologische, sondern eine juristische Theorie richtiger und vollständiger Auslegung der Verfassung". 82 Kaum zutreffend daher Rohatyn, Zeitschrift für öffentliches Recht IX (1930), S. 264, der meint, die Integrationslehre habe sich zur „Hauptaufgabe" die Bemühung um den Staatsbegriff gesetzt. Mit Rohatyn übereinstimmend Zech, Die Rechtfertigung des Staates, S. 43. Eine Verschiebung des verfassungsjuristischen Anspruchs Smends stellt es deshalb dar, daß die politische Wissenschaft nach 1945 die Integrationslehre vornehmlich im Bereich der Staatstheorie diskutiert, so z.B. ausdrücklich Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 24 Anm. 13, S. 128 ff., aber auch Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 74, 83 f.; ferner Ossadnik, Die Liberalismusfremdheit, insbes. S. 67 ff. Auch Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 65, meint, Smend sei es um die allgemeine Staatslehre, nicht aber um eine Staatsrechtstheorie gegangen. 83 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120. Richtig daher Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 299, der in den Beiträgen zur Verfassungstheorie und Verfassungsrechtstheorie die eigentliche wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung Smends erblickt. 84 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120.
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um die Frage, von welcher staatstheoretischen Sicht her die Bedeutung der Verfassung und das positive Staatsrecht verständlich werden. In der Staatslehre müsssen die materialen Voraussetzungen des Verfassungsrechts gewonnen werden 85 . Im Ergebnis allerdings gibt die Integrationslehre doch mehr, als die Vorbemerkung zu ihrer Hauptschrift ankündigt 86 . Ihr Staatsbild ist ein sie konstituierendes Element 87 . Die Integration ist nicht nur Sinnprinzip der Verfassung, sondern bereits als Zusammenfassung tatsächlicher Vorgänge ein Schlüssel zur vollwertigen Erklärung der staatlichen Wirklichkeit 8 8 . Die Integrationslehre ist damit als eine Verfassungslehre 89 auf der Grundlage bestimmter staatstheoretischer Prämissen einzuordnen. Rein äußerlich zeigt das auch die Untergliederung der Darstellung durch Smend in einen jeweils der Staatstheorie, Verfassungstheorie und den positivrechtlichen Fragen gewidmeten Teil in dem Buch „Verfassung und Verfassungsrecht". In diesem Dreischritt hebt der jeweils nachfolgende Abschnitt die Ergebnisse des vorangehenden auf eine neue Ebene 90 , ohne ihre Eigenständigkeit im Sinne eines Zwischenergebnisses zu relativieren. Insgesamt jedoch läßt Smend keinen Zweifel daran, daß die positivrechtlichen Folgerungen für ihn das zentrale Stück sind, obwohl sie, am Umfang des Buches „Verfassung und Verfassungsrecht" gemessen, am kürzesten ausgefallen sind. „Denn gerade aus der Beschäftigung mit dem positiven Staatsrecht sind", so bemerkt Smend, seine Anschauungen zur Staats- und Verfassungstheorie „herausgewachsen — am positiven Recht müssen sie sich also wiederum bewähren" 91 .
85 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120, wonach er seine Verfassungstheorie auf staatstheoretischer, nicht rechtstheoretischer Grundlage entworfen habe. 86 Vgl. Tatarin-Tarnheyden, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 85 (1928), S. 1; H. Mayer, Die Krisis, S. 32 ff. 87 Vgl. Badura, Der Staat 16 (1977), S. 309; M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 12. 88 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 138: „Der Staat ist nur, weil und sofern er sich dauernd integriert". 89 Zur Etablierung dieser neuen Disziplin in der Rechtswissenschaft, zu der neben den Arbeiten Smends insbesondere die Verfassungslehre von Carl Schmitt beitrug, vgl. M . Friedrich, AöR 102 (1977), S. 161 ff., 178 ff.; ferner Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 42. 90 Diese strenge Systematik wird allerdings von Smend nicht ohne Durchbrechungen eingehalten. So finden sich in der staatstheoretischen Grundlegung bereits Ausblicke auf die Funktion des Verfassungsrechts (Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 139), eine recht ausführliche Stellungnahme zum Parlamentarismusstreit der zwanziger Jahre (a.a.O., S. 152ff.) und Bemerkungen zum Geltungsgrund einer bestimmten staatlichen Rechtsordnung (a.a.O., S. 166). 91 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 233. Vgl. zur Betonung des verfassungsjuristischen Standpunktes auch Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 500 f.
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4. Die dogmengeschichtlichen Hintergründe Bartlsperger hat mit Recht daraufhingewiesen, daß das Konzept Smends, erst nach einer eigenständigen Grundlegung der Staats- und Verfassungstheorie auf positivrechtliche Probleme einzugehen, eine historische, genauer dogmengeschichtliche Ursache hat 9 2 . Die positivistische Staatsrechtslehre, die Smend zu überwinden suchte, hatte ihre juristische Methode mit einer Bestimmung des Staates als einer begrifflichen Rechtspersönlichkeit verbunden. Als deren zentrale Eigenschaft wurde die Innehabung der umfassenden Staatsgewalt bestimmt. An diesen Lehren mußte folglich die Kritik ansetzen, um die von Smend konstatierte „begriffsjuristische Verkrustung des Verfassungsdenkens" 93 auflösen zu können. Ein kurzer Überblick über das Staatsdenken der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre verdeutlicht, woran genau die Überlegungen Smends polemisch ausgerichtet sind. Der Staatsbegriff ist für die positivistischen Lehren ein abstrakter Rechtsbegriff, der bewußt auf die Erfassung des politischen Lebens verzichtet. Das zeigt sich am deutlichsten bei Laband. Vom Handelsrecht herkommend, hat sich Laband zunächst mit dem Begriff der juristischen Person des Privatrechts befaßt. Er findet den Inhalt dieses Begriffs in der Abstraktion der Rechtsfähigkeit von allen „anderen Kräften, Fähigkeiten und Eigenschaften" 94 der Person. Im Rechtssinne hat die Person keine andere Eigenschaft „als die eine, die ihr ganzes Wesen ausmacht, nämlich Rechtssubjekt zu sein" 95 . Diese Rechtspersönlichkeit wird von der Rechtsordnung verliehen, ohne Unterschied, ob es sich um eine juristische oder eine natürliche Person handelt. Folglich ist nur das Recht in der Lage, aus einer Personengesamtheit eine von der individuellen Existenz der Mitglieder losgelöste neue Einheit mit eigenen Rechten und Pflichten zu schaffen. Laband charakterisiert diesen Vorgang dahin, daß die „Durchdringung der Einheit durch die Vielheit" 9 6 logisch aufgehoben werde. Wird eine Personenmehrheit zu einer neuen selbständigen Person zusammengefaßt, so findet eine logische Gegenüberstellung statt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen der Korporation und ihren Mitgliedern beschäftigt den Juristen dagegen nicht. Sie liegt „zum größten Theil auf dem nichtjuristischen Gebiet" 9 7 . Diese Erkenntnis überträgt Laband in das Staatsrecht, was er mit der Einheitlichkeit der konstruktiven Methode für alle Rechtsgebiete begründet 98 . Auf diese Weise gelangt Laband zu der Definition, daß die juristische 92 Bartlsperger, S. 2. Ferner Tatarin-Tarnheyden, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 85 (1928), S. 2f.; Poeschel, S. 50f. 93 Smend, Art. Integrationslehre, S. 479 Anm. 3. 94 Laband, ZHR 30 (1885), S. 492. 95 Laband, ZHR 30 (1885), S. 492; ders. I, S. 84. 96 Laband, ZHR 30 (1885), S. 495. 97 Laband, ZHR 30 (1885), S. 495. 98 Siehe Laband I, Vorwort, S. VII; vgl. M. Friedrich, AöR 111 (1986), S. 208.
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Persönlichkeit des Staates darin besteht, daß „der Staat eigene Herrschaftsrechte behufs Durchführung seiner Aufgaben und Pflichten und einen selbständigen Herrschaftswillen hat" 9 9 . Der Staat ist für den Juristen allein der gedankliche Träger staatsrechtlicher Willens- und Handlungsfähigkeit; die Dogmatik des Staatsrechts umfaßt inhaltlich die Untersuchung und Systematisierung der einzelnen Tätigkeitsformen und Auswirkungen der Staatsgewalt. Dagegen fragt der Jurist nicht danach, ob der Staat ein sinnvolles und gerechtes politisches System ist; das Staatsrecht ist kein Versuch, zu einer gerechten politischen Ordnung beizutragen 100 . Die methodische Verfestigung dieser juristischen Sicht des Staates begründete, jetzt innerhalb eines Systems vom Staat, die „Allgemeine Staatslehre" Georg Jellineks, die in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in Deutschland einen übermächtigen Einfluß 1 0 1 ausübte. In sachlicher Übereinstimmung mit Laband bestimmt Jellinek den Staat als Rechtsbegriff als „die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Körperschaft eines seßhaften Volkes" 1 0 2 . Wichtig ist allerdings, daß keiner der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehrer soweit gegangen ist, dem Staat ausdrücklich eine auch metajuristische Realität abzusprechen. Nur als Gegenstand des Staatsrechts sollte diese Staatswirklichkeit nicht in Betracht kommen. Schon Gerber, der Begründer der juristischen Methode des Staatsrechts, stellt eine juristische und eine „natürliche" 1 0 3 Betrachtung des Staates nebeneinander. Für die natürliche Betrachtung ist der Staat ein „persönlich gedachter sittlicher Organismus", das heißt eine Gliederung, „welche jedem Teil seine eigentümliche Stellung zur Mitwirkung für den Gesamtzweck aufweist" 104 . Gerber kommt zu dem Ergebnis, „dass die sogenannte organische und die rechtliche Staatsauffassung sich zu einander verhalten wie zwei Betrachtungen desselben Gegenstandes von verschiedenen Standpunkten aus" 1 0 5 . Bei Laband wird dann zwar eine außerrechtliche Realität des Staates nicht erwähnt, aus den methodischen Erörterungen im Vorwort zu seinem Werk über das Staatsrecht des deutschen Reiches, die jenseits der staatsrechtlichen Dogmatik auch historische, politische und philosophische 99
Laband I, S. 57. 100 Ygi Smend, Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre, S. 335. Auch der heftige Angriff gegen die Persönlichkeitskonstruktion des Staates durch Haenel, Staatsrecht I, S. 99ff., der vor allem kritisiert hat, daß damit nur eines der für den Staat charakteristischen Merkmale hervorgehoben werde, welches das „soziale Substrat" als die innere Natur des Staates ausklammere, ist bei Haenel selbst ohne dogmatische Folgerungen für den Aufbau und den Gegenstand der Staatsrechtslehre geblieben. 101 Vgl. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 115; Nawiasky, Allgemeine Staatslehre I, S. 2. 102 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 183. 103 Gerber, Grundzüge, S. 221, 224f., vgl. auch S. l f . Hierzu Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 375; v.Oertzen, S. 176. 104 Gerber, Grundzüge, S. 19. 105 Gerber, Grundzüge, S. 218.
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Erkenntnisse über Staat und Recht zulassen und in ihrem Eigenwert anerkennen 1 0 6 , geht jedoch hervor, daß es für Laband durchaus eine wissenschaftliche Betrachtung des Staates als politischer Realität geben konnte. Georg Jellinek schließlich entfaltet in seiner Zwei-Seiten-Lehre vom Staat die nichtjuristische Staatsbetrachtung als gleichberechtigten Gegenstand der Staatslehre. Nach Jellineks Ansicht kann der Staat zu einer Fülle von Erkenntnisarten Anlaß geben 107 . Den soziologischen Staatsbegriff will Jellinek empirisch, durch Induktion aus der Erfahrung, gewinnen 108 . In der sozialen Staatslehre erscheint der Staat als eine Funktion, deren Bestandteile die Willensverhältnisse einer Vielzahl von herrschenden und beherrschten Menschen sind 1 0 9 . Überindividuelle Substanz spricht Jellinek dem sozialen Staatsgebilde ab, denn Substanz kommt nur den einzelnen ihm angehörenden Menschen zu. Die Verbandseinheit des sozialen Staates ist demgegenüber eine rein psychische und teleologische Verbindung der Staatsangehörigen. Teleologisch ist die Verbindung, weil die Individuen durch beständige, innerlich übereinstimmende Zwecke miteinander verbunden sind. Psychischen Charakter hat die Verbindung deshalb, weil sie nur im Bewußtsein der Menschen existiert 110 . Erst Kelsen hat diesen Methodendualismus in der Staatslehre unter umfassender Kritik Georg Jellineks 111 aufgehoben und zu einer restlosen Verneinung der soziologischen Staatswirklichkeit fortgeführt. Der neukantianisch geprägte erkenntnistheoretische Grundsatz Kelsens lautet, daß die Methode die Gegenstände der Erkenntnis hervorbringe. Daraus folgt die Ablehnung jedes Methodendualismus. Der erst durch das Denken erzeugte Gegenstand kann nicht unter zwei Denkgesichtspunkten betrachtet werden. Allein die Kategorien, die den Erkenntnisprozeß leiten, bestimmen das Erscheinungsbild des Objektes wissenschaftlicher Erkenntnis. Kelsen stellt fest, daß „die Identität des Erkenntnisgegenstandes nur durch die Identität des Erkenntnisprozesses, das heißt die Identität der Erkenntnisrichtung, die Identität der Erkenntniswege gewährleistet i s t " 1 1 2 . Als solche Erkenntniskategorien kennt Kelsen nur zwei, die der naturwissenschaftlichen Kausalität und die des geisteswissenschaftlichen Sollens. Die Staatslehre kann sich nur einer dieser Kategorien bedienen und deshalb nicht zwei Seiten desselben Erkenntnisobjektes zum Gegenstand haben. Die Grund these Georg Jellineks, die Soziologie des Staates und die Staatsrechtslehre seien dadurch miteinander verbunden, daß sie das eine Erkenntnisobjekt Staat 106
Vgl. Laband I, Vorwort, S. IX. Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 10f., 136ff.; ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 13. 108 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 36ff., 156 Fn. 2; ders., Staatenverbindungen, S. 11. 109 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 168 ff. 110 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 174 f. 111 Vgl. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 114 ff. 112 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 7; vgl. Badura, Die Methoden, S. 32 f. 107
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hätten, verwirft Kelsen als unhaltbar. Denn die Soziologie ist nach seiner Auffassung Naturwissenschaft, sie arbeitet mit der Kategorie der Kausalität, während die Rechtswissenschaft als Wissenschaft vom Sollen Geisteswissenschaft ist. In einem weiteren Schritt sichert Kelsen der Rechtswissenschaft den Vorrang bei der Staatserkenntnis. Da die staatliche Gemeinschaft nach Kelsen nur durch die Rechtsordnung geschaffen wird, vermag sie nicht Gegenstand einer nichtnormativen Betrachtung zu sein. Die Vorstellung des Staates als eines selbständigen, von aller juristisch-normativen Betrachtung unabhängigen Objektes soziologischer Erkenntnis gibt es nicht 1 1 3 . Diese Entwicklung des Staatsdenkens bei Kelsen verdeutlicht, daß sich die Auseinandersetzung über die richtige Grundlegung des Staatsrechts in den zwanziger Jahren vollends auf die Wesensbestimmung des Staates verlagern mußte. Da Smend die positivistische staatsrechtliche Methode überwinden wollte, war die Fundierung des neuen Konzepts in einer neuen Staatslehre gefordert. Dabei war die polemische Ausrichtung eine doppelte. Zum einen mußte eine überzeugende Widerlegung des ausdrücklich oder zumindest theoretisch zugelassenen Methodendualismus, insbesondere eine Widerlegung der Theorie Georg Jellineks gelingen 114 . Zum anderen stand Smend vor der Aufgabe, ein Gegenkonzept zur monistischen Weiterführung des positivistischen Staatsbegriffes durch Kelsen zu entwerfen, um dessen Identifizierung des Staates mit der Rechtsordnung zu entgehen. U m dieses Ziel zu erreichen, folgt Smend in einem ersten gedanklichen Schritt Kelsen in der Ablehnung des „Methodensynkretismus" 115 Jellinekscher Prägung und konzediert, daß „seit Kelsens großer Kritik jene Naivetät, jenes Arbeiten ohne völlige Klarheit der methodischen Voraussetzungen nicht mehr möglich i s t " 1 1 6 . Die durch Kelsen in der Staatslehre vollzogene Wendung hin zu erkenntnistheoretischen Fragestellungen war auch für Smend eine Verpflichtung, hinter die kein neuer Entwurf zurückfallen durfte. Der positive Neuaufbau des Staatsdenkens gegen Kelsen sodann ist der kontradiktorische Gegensatz zu dessen Kritik an der Begriffsbildung des Staates in der spätkonstitutionellen Lehre. An die Stelle der radikalen Zuspitzung der normativen Staatsbetrachtung setzt Smend den Versuch, den Staat als Teil der Wirklichkeit unter Emanzipation von der Soziallehre des Staates bei Jellinek methodisch klar und widerspruchsfrei zu begründen und diesen monistisch gewonnenen Staatsbegriff der verfassungsrechtlichen Dogmatik zugrundezulegen. Smend setzt sich den Nachweis zum Ziel, daß der von ihm gewonnene „soziologische" Staat mit dem 113
Vgl. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 75 ff., 117; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 16 f. 114 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 115, zeigt von seinem Standpunkt aus diesen Zusammenhang am deutlichsten auf, indem er bemerkt: „ M i t der Theorie Jellineks muß die herrschende Lehre fallen". 115 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 183. 116 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 124.
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Gegenstand des Staatsrechts identisch ist 1 1 7 . Kelsens Weiterführung der Staatslehre zu einer ausschließlich normativen Disziplin erscheint Smend unhaltbar, weil sie auf einem verengten, naturwissenschaftlich-kausalwissenschaftlichen Verständnis von Staatssoziologie beruhe. Der Ansatz, den Staat als Wirklichkeit zu begreifen, soll zudem in praktischer Hinsicht Möglichkeiten aufzeigen, wie der Staat als politische Einheit jenseits der Zerrissenheit der individuellen Lebensverhältnisse und Interessen verstanden werden könne. In der Integrationslehre tritt also neben die methodische Frage nach der Erkennbarkeit staatlicher Einheit die praktisch-politische nach der Organisierbarkeit der Einheit in der Weimarer Republik. Zu diesem Zweck muß die Staatstheorie aus der formalistischen Isolation der reinen Rechtsbegriffe herausgeführt und den Kräften des geistigen und politischen Lebens verbunden werden. Darin liegt die „politische Pointe" 1 1 8 der Integrationslehre. 5. Begriff und Eigenart der Integration: Der geisteswissenschaftliche Staatsbegriff Smends a) Das Grundproblem: Die Gewinnung der staatlichen Wirklichkeit aus dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft
„ I n der deutschen Staatstheorie seit Mitte des 19. Jahrhunderts steht die hier vertretene Anschauung, soweit ich sehe, allein." 1 1 9 Diese Worte Smends zur Einordnung oder vielmehr Nichteinordnung seiner eigenen Staatsbetrachtung in den vorhandenen Gedankenbestand der Staatslehre und die gleichzeitige Anknüpfung an Schichten des Staatsdenkens, die zeitlich der spätkonstitutionellen Lehre vorgelagert sind, lassen ungewöhnliche Wurzeln und weitgehend neuartige Ergebnisse erwarten. Tatsächlich ist der Staatsbegriff — vielleicht besser: das Staatsbild — der Integrationslehre von einer bewußten Neubegründung geprägt. Smends Absicht ist es, eine „materiale" 120 Staatstheorie auf „geisteswissenschaftlicher" 121 Grundlage zu entwerfen. Die Entwicklung dieser Staatstheorie beschränkt sich auf ein Hauptproblem. Die Grundfrage Smends lautet, wie der Staat als eine reale Vereinigung von Menschen, als ein „realer Willensverband" 122 erfaßt werden kann. Zur Vorbereitung des eigenen Standpunktes dient Smend eine Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Staatsdenkens. Hier ist Smends Schrift ablehnende Kritik gegenüber aller Staatstheorie, wie sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt worden ist. Insbesondere diejenigen Entwürfe werden 117 118 119 120 121 122
Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend,
Verfassung und Verfassungsrecht, S. 132, ferner S. 137. in: Nuscheler/Steffani, Pluralismus, S. 27. Verfassung und Verfassungsrecht, S. 183, vgl. auch S. 140. Verfassung und Verfassungsrecht, S. 124. Verfassung und Verfassungsrecht, S. 125 ff. Verfassung und Verfassungsrecht, S. 127.
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zurückgewiesen, die den Staat als ein herstellbares und statisches Gebilde betrachten, das als Instrument zur Verwirklichung von außen auferlegter Zwecke dient. Smend lehnt es weiter ab, den einzelnen und den Staat zunächst getrennt zu denken und erst dann in Beziehung zueinander zu setzen, sei es in individualistischer Betonung des einzelnen oder in einem entgegengesetzten Hervorheben des Staates als allumfassenden Machtgebildes. Die Integrationslehre richtet sich gegen den Rationalismus und Individualismus des politischen Liberalismus im 19. Jahrhundert. Alle die Aufklärung vorbereitenden und sich von ihr ableitenden Bewegungen werden von Smend als Irrweg für die Staatslehre verworfen 123 . Die „aufklärerische Zerstörung der sachgemäßen Sicht der Einordnung des Menschen in die Gemeinschaft, vor allem den Staat, durch die Objektivierung des Gemeinwesens einer-, des Menschen anderseits" 124 müsse überwunden werden. Der einzelne sei kein „starrer Rechtsträger", der Staat kein „starres herrschendes Rechtssubjekt" 125 . An den mit den Namen Georg Jellinek, Hans Kelsen, aber auch Max Weber verbundenen Staatstheorien meint Smend die unausbleibliche Folge des soeben geschilderten Grundfehlers der objektivierenden Gegenüberstellung von Staat und Individuum zu entdecken: Diese Staatstheorien seien Ausdruck „echt deutscher Staatsfremdheit" und „liberal im Sinne letzter innerer Unbeteiligung am Staat" 1 2 6 . Dieser Einschätzung läßt sich zweierlei entnehmen. Smend sieht zum einen die Ursache des Liberalismus in einem Mißtrauen des einzelnen gegenüber dem übermächtigen Staat, was zum Postulat einer staatsfreien Sphäre des Individuums führt. Eine gefühlsmäßige Bindung des Bürgers an den Staat, aktive Beteiligung an ihm, kann es unter diesen Voraussetzungen nicht geben. Zum anderen will Smend diesen Zustand der fehlenden Identifikation des Bürgers mit dem Staat überwinden. Aus diesem Grund ist der Staat in der Integrationslehre keine an sich bestehende Person, die mit technischen und mit Machtmitteln bestimmte Aufgaben zu erfüllen sucht und dadurch in einen Gegensatz zum Einzelmenschen tritt. Das Problem der Fremdheit zwischen Staat und einzelnem 127 kann gelöst werden, wenn der Staat nicht als eine reine Zweckschöpfung, sondern als eine Existenzweise und geistige Lebensgemeinschaft von Menschen erkannt 123 Nach 1945 dazu noch einmal in aller Deutlichkeit Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 500 f. 124 Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 501 f.; hierzu Badura, Der Staat 16 (1977), S. 309 f. 125 Smend, Art. Integrationslehre, S. 479. 126 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 122. Zu Max Weber heißt es später bei Smend, Staat und Politik, S. 370f., daß dessen Haltung die innere Entfremdung zu der Welt des Politischen deutlich spiegele. Zu Smends Haltung gegenüber dem Liberalismus vgl. Ossadnik, Liberalismusfremdheit, S. Iff., 134ff. 127 Der Bürger des modernen europäischen Staates ist für Smend der „geistig atomisierte, entsubstanzialisierte, funktionalisierte" Mensch (Verfassung und Verfassungsrecht, S. 172).
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
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wird. Die Integrationslehre unternimmt es, die Spannung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft zu überwinden, indem der Staat als wesensnotwendige Lebensform des menschlichen Geistes betrachtet wird. Demzufolge ist das Hauptproblem der Staatstheorie weder die Grenzziehung zwischen der Sphäre des einzelnen und der des Staates noch die Rechtfertigung und Zweckbestimmung des Staates 128 . Der Staat liegt nicht „in jenem Bereich des Habens, Verfügens, Veranstaltens, in den ihn das mechanistische und auch das formaljuristische Denken verlegt, sondern in dem einer uns umgreifenden Vorgegebenheit" 129 . Die erste staatstheoretische These der Integrationslehre lautet deshalb: Der Staat ist „ein sinnvolles Gefüge menschlicher Beziehungen, sinnvoll sowohl als Ganzes in sich als auch von den in ihn eingeordneten Einzelnen her" 1 3 0 . Den Staat als ein solches sinnvolles Gefüge menschlicher Beziehungen zu beschreiben, ist die wesentliche Aufgabe der im ersten Teil von „Verfassung und Verfassungsrecht" ausgeführten staatstheoretischen Grundlegung. Die darin liegende thematische Eingrenzung ist die erste ausdrückliche Selbstbeschränkung der Integrationslehre, die in ihren staatstheoretischen Aussagen kein System einer allgemeinen Staatslehre zu sein beansprucht. Die zweite Beschränkung der staatstheoretischen Grundlegung folgt aus der verfassungstheoretischen und staatsrechtlichen Zielsetzung Smends: Die Erlebniseinheit Staat wird nur insoweit charakterisiert, als es im Hinblick auf die Erforschung der sich daraus ergebenden Besonderheiten der Verfassung erforderlich ist. b) Die Wurzeln: Die phänomenologische Methode Theodor Litts und seine soziologischen Grundbegriffe
Bevor auf die nähere Charakterisierung des Staates in der Integrationslehre einzugehen ist, muß jedoch kurz die von Smend gegebene Begründung für seine hier an den Anfang gestellte These vom Wesen des Staates als geistiger Lebensform nachgezeichnet werden. Diese Begründung besteht im wesentlichen in einer Übertragung der methodischen Postulate der Lebens- und Kulturphilosophie Theodor Litts für die Geisteswissenschaften in die Staatslehre 131 und in einer gleichzeitigen Rezeption der sachlichen Grundannahmen Theodor Litts über den Aufbau sozialer Gebilde aus dessen Buch „Individuum und 128 Die von diesen Problemstellungen geprägte Allgemeine Staatslehre Georg Jellineks wird von Smend in diesem Zusammenhang mit dem Verdikt belegt, Jellinek habe hier rein „mechanistisch" gedacht und die eigentlichen Lebensgehalte des Staates vernachlässigt (Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 140f., vgl. auch S. 160). 129 Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 508. 130 Smend, Art. Staat, S. 520. 131 Die philosophische Fundierung der Integrationslehre in der Lebensphilosophie hat Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 145 ff., umfassend untersucht.
8 Korioth
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Gemeinschaft" 132 . Thema dieses Buches ist die Struktur des Geistes, die Darlegung der Struktur menschlichen Lebens und Erlebens in der Gesellschaft als geistige Erlebnisse und die philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften. Ziel Litts ist es, mit diesen Untersuchungen für die Soziologie und Psychologie Klarheit über den ihr jeweils eigenen wissenschaftlichen Bereich und ihre Begriffsbildung zu verschaffen 133 . Warum Smend gerade die Philosophie Litts zur Grundlegung der Staatstheorie rezipierte, bleibt in seinen Ausführungen ohne tiefergehende Rechtfertigung. Smend erklärt lakonisch, daß seine Untersuchung für die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen „nicht die Beweislast trage" 1 3 4 . Die erkenntnistheoretische Grundlage seiner Lehre habe er nicht „auf eigenen philosophischen Wegen" erarbeitet, sondern er habe versucht, „unter den vorhandenen Versuchen philosophischer Grundlegung den praktisch fruchtbarsten und brauchbarsten auszuwählen und seine Verwendbarkeit für die besonderen Bedürfnisse der Staatslehre darzutun" 1 3 5 . Der Rekurs auf lebensphilosophische Ansätze ist auf diese Weise leicht erklärbar: In der Philosophie Litts hoffte Smend eine Stütze gegen die neukantianische Erkenntnistheorie zu finden, die der Staatslehre Kelsens zugrundeliegt 136 . Gleichzeitig konnte mit der Anwendung der Littschen Wissenschaftstheorie in der Staatslehre die von Kelsen auferlegte Verpflichtung erkenntnistheoretischer Fundierung eingelöst werden 137 . Die Methode Theodor Litts 1 3 8 , von Smend als die „geisteswissenschaftliche Methode" 1 3 9 bezeichnet, ist zunächst phänomenologisch bestimmt. Anders als die induktive Methode versucht sie nicht, Gesetzmäßigkeiten geistiger Phänomene als innerer Wirklichkeiten durch Vergleich vieler Einzelerscheinungen zu gewinnen. Geistige Phänomene als innere Wirklichkeiten nämlich seien nur 132 Bei Bartlsperger, S. 4ff., finden sich Erläuterungen zu den von Litt geprägten und von Smend übernommenen Grundbegriffen „geschlossener Kreis", „Gesamterlebnis", „Sozialität des Sinnerlebens". 133 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 1, 3. 134 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 124f.; kritisch hierzu Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 143 ff. 135 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119. 136 Vgl. Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 52ff.; Göldner, S. 10; Kelsen, Der Staat als Integration, S. 6. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 38,62,69, sieht in der Wahl Smends mehr als den hier angegebenen, zugegebenermaßen etwas prosaischen Grund, nämlich das Bemühen, in der geistigen Zerrissenheit der Weimarer Republik sich auf die Tradition des klassischen deutschen Idealismus zu besinnen und diesen mit zeitgenössischen lebensphilosophischen Ansätzen zu verbinden, die der „eigenen Grundhaltung gemäß" erschienen — doch woher stammt diese eigene Grundhaltung? 137 Unzutreffend ist deshalb die Behauptung von Koch, S. 98, die Lehre Smends könne auch „in Unkenntnis der sogenannten geisteswissenschaftlichen Methode 4 " verstanden werden. 138 vgl. L i t t f Individuum und Gemeinschaft, S. 5, 8 f. 139
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120, 126.
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
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bedingt einer einzelnen empirischen Wissenschaft, etwa der Psychologie, zugänglich. Spezialwissenschaftliche Analyse kann nicht am Einzelfall die Wesensstruktur eines Phänomens sichtbar machen. Stattdessen wendet sich die Methode Litts unmittelbar den intuitiv und erlebnishaft gegebenen Phänomenen zu, um aus deren Formen das Wesen der Erkenntnisgegenstände zu gewinnen. Innere Wirklichkeiten sind nach Litt von der Art, „daß schon am einzelnen Erlebnis als solchem eine Gliederung sichtbar wird, die der Analyse ihren Weg vorzeichnet — eine Gliederung überdies, die sich in unmittelbarer Evidenz als eine solche zu erkennen gibt, die nicht an den gerade betrachteten Einzelfall gebunden ist, sondern generelle Bedeutung h a t " 1 4 0 . Die Analyse eines beliebigen Moments beliebigen menschlichen Lebens ist somit geeignet, die Struktur von Erlebnissen verschiedenster Art deutlich zu machen. Phänomenologische Analyse deckt „die wesenhafte Struktur einer ganzen Klasse von Erlebnissen" 141 auf und kann deshalb die geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen erkenntnistheoretisch fundieren. Neben dem phänomenologischen Sein kennt die Erkenntnistheorie Litts ein überempirisches Wesen ihrer Objekte, eine eigene Wertgesetzlichkeit der Sozialgebilde, die Litt als Sinnsphäre bezeichnet 142 . Jedes Erlebnis ist sinnliche, lebendige Wirklichkeit, aber auch erlebter Sinn. Im Erlebnismoment können die Erlebnissphären des Seins und des Sinns zwar gedanklich geschieden werden, mit der gedanklichen Trennung aber muß das Bewußtsein einer ursprünglichen höheren Einheit verbunden sein. Die einzelnen Momente sind „vom höheren Betrachtungsort aus auf (ihr) relatives Recht zurückzuführen" 143 . Litt beruft sich hierfür auf das Prinzip der Hegeischen Dialektik 1 4 4 . Geisteswissenschaftliches Denken hat es also mit Erlebnissen zu tun, die nur als Ganzes erfaßbar sind. Daraus aber resultiert die Schwierigkeit geisteswissenschaftlichen Erkennens. Denn wie alles Erkennen ist es auf Begriffe verwiesen, begriffliches Denken aber verfährt zergliedernd. Diese Problematik löst Litt durch die Einsicht, daß ein geistiges Objekt nichts vom erkennenden Subjekt Verschiedenes, sondern „er selber, seine eigenste Welt ist, die Sphäre, mit der er gerade als ein denkender und erkennender solidarisch i s t " 1 4 5 . Geisteswissenschaft ist Selbstreflexion des erkennenden Subjekts, gleichzeitig Erkenntnis und Erlebnis. Objektivierendem Denken ist die geistige Wirklichkeit nicht zugänglich. „Wo immer der Geist seine eigene Wirklichkeit denkend ins Auge faßt, baut er zugleich an dieser Wirklichkeit weiter" 1 4 6 . Damit ist die geistige Wirklichkeit wesentlich Bewegung und Veränderung. 140 141 142 143 144 145
*
Litt, Litt, Litt, Litt, Litt, Litt,
Individuum Individuum Individuum Individuum Individuum Individuum
und und und und und und
Gemeinschaft, Gemeinschaft, Gemeinschaft, Gemeinschaft, Gemeinschaft, Gemeinschaft,
S. S. S. S. S. S.
5. 6. 315 ff., 375. 17. 18f., vgl. auch S. 315. 16.
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Durch die von Smend vorgenommene Übertragung dieses methodischen Ansatzes in die Staatstheorie soll diese von einer konstruierenden zu einer verstehenden Wissenschaft werden, die das Grundproblem des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft nicht als kausale und starre Verknüpfung dieser beiden Pole begreifen kann, sondern von vornherein als Zusammenhang des lebendigen Ich und der erlebten Welt. Es gibt für Smend kein erkenntnistheoretisches Ich, das als Subjekt der Erkenntnis seinen Objekten in scharfer Gegenüberstellung entgegentritt. Die methodische These Smends lehnt sich eng an die Grundannahmen Theodor Litts an: „Die phänomenologische Struktur des Ich der Geisteswissenschaften ist nicht die eines objektivierbaren Elements des geistigen Lebens, das zu diesem Leben in kausalen Beziehungen stände. Es ist nicht an und für sich, vorher, und dann als kausal für dieses Leben denkbar, sondern nur, sofern es geistig lebt, sich äußert, an der geistigen Welt Anteil hat, d.h. auch in irgendwelchem allgemeinsten Sinne Gemeinschaftsglied, intentional auf andere bezogen i s t " 1 4 7 . Aus diesem Grund kann sich das Ich im Erkenntnisakt nicht von der Welt distanzieren, um sie von außen her zu erfassen. Es muß sich vielmehr als Teil der Welt wissen, die von ihm in ihrer Struktur hingenommen und nachgezeichnet wird, nicht aber im Denken erst ordnend hergestellt wird 1 4 8 . Smend folgt damit ganz der Annahme Litts von der Identität von Subjekt und Objekt der Erkenntnis 149 . Methodische Anerkennung durch Smend findet ferner die Littsche Unterscheidung zwischen dem überempirischen Wesen und der empirischen Verwirklichung der Sozialgebilde. Der Staat ist für Smend überempirische „Aufgabe" 1 5 0 , für den Menschen wesensgesetzlich vorgegeben. Nur die „Faktoren" der Verwirklichung dieses „überempirisch aufgegebenen Wesens" 151 des Staates sind Objekt empirischer Beschreibung. Mit diesem phänomenologischen Verständnis von Geisteswissenschaft ist Smends erkenntnistheoretische Grundlegung von dem neukantianischen Ansatz Kelsens grundlegend verschieden, für den die Erkenntnisgegenstände erst im Vorgang der Erkenntnis Gestalt gewinnen und der für die Geisteswissenschaften fordert, daß das erkennende Ich im Erkenntnisakt sich von der Welt distanziert 152 . Kelsen hat zwar in seiner Auseinandersetzung mit der Integra146 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 412. Vgl. auch Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 73 ff. und die dort (S. 74) zitierte Formel Dilthey s : „Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er". 147
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 125. Vgl. Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 58 f. 149 Vgl. hierzu W. Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit, S. 268; Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 67. 150 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 139. 151 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 139. 152 Vgl. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1. Auflage, S. VI: „ . . . in meinem Denken sehe ich keinen Weg, der über den unleidlichen Zwiespalt hinwegführt zwischen 148
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tionslehre festgestellt, daß er selbst es doch gewesen sei, der den geisteswissenschaftlichen Charakter der Staatslehre als einer der normativ verfahrenden Rechtswissenschaft zuzuordnenden Disziplin geklärt habe, weshalb Smends ausdrücklich geisteswissenschaftlicher Ansatz gegenüber der Reinen Rechtslehre keine Neuerung sei 1 5 3 ; diese Feststellung zeigt jedoch nur, daß Kelsen die tiefgreifenden Unterschiede zwischen der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Integrationslehre und seiner eigenen Staatslehre und die daraus folgenden unterschiedlichen Verständnisweisen von Geisteswissenschaft nicht wahrgenommen hat. Smends Grundanliegen ist es, das Theorem von der gegenstandskonstituierenden Funktion des Denkens in der neukantianischen Tradition der Staatslehre zurückzunehmen. Der Methodenmonismus, so wie ihn Kelsen geprägt hat, erscheint ihm für die Staatslehre als „unangemessen" 154 . Für Smend kann es keine rein formalistische, wertfreie Staatstheorie geben, weil das erkennende Subjekt kein isolierbares Element der Erkenntnis ist, sondern immer nur seinen eigenen Lebenszusammenhang reflektieren kann. Wissenschaftliche Aussagen über den Staat lassen sich nicht von der inneren Beteiligung am Staat trennen. Smends Erkenntnishaltung ist „verstehendes Beschreiben, nicht ... Erklären im geläufigen Sinne" 1 5 5 . In sachlicher Hinsicht greift Smend die Littsche Beschreibung menschlicher Sozialgebilde als „geschlossener Kreis" und „soziale Verschränkung" auf. Mit diesen Begriffen hat Litt versucht, seine grundsätzliche Klärung der Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis zu den Grundbegriffen einer geisteswissenschaftlich orientierten Soziologie und Gesellschaftslehre weiterzuentwickeln. Die Struktur der sozialen Wirklichkeit folgt für Litt unmittelbar aus der geschilderten Struktur geistiger Erlebnisse. Die Grundform des sozialen Lebens ist das Ich-Du-Verhältnis, das sich in Perspektiven zerlegt, die das Ich vom Du und das D u vom Ich hat. Phänomenologische Vorgehensweise legt bei der Erkenntnis dieser Perspektiven die Betonung auf den Zusammenhang beider, nicht auf die relativen Perspektiven als absolute Momente. Erst die Wechselbezüglichkeit von Ich und Du bildet die geistige Realität, das Lebenszentrum der Ich-Du-Beziehung 156 . Diese Wechselbezüglichkeit setzt sich fort, bei entsprechender Vervielfältigung der Perspektiven, wenn sich die Zahl der Personen steigert, die untereinander in Verbindung treten. Es entsteht ein „geschlossener Kreis". Dieser bezeichnet eine Gemeinschaft, in der jeder ihr angehörende mit
Ich und Welt, Seele und Leib, Subjekt und Objekt, Form und Inhalt — oder in welche Worte sich sonst die ewige Zweiheit verbergen mag." 153 Kelsen, Der Staat als Integration, S. 3 ff. 154 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 183. 155 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 130. Zu den Wurzeln in der geisteswissenschaftlichen Lebensphilosophie Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 74. 156 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 111.
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jedem in wesensgestaltendem Zusammenhang steht 157 . Litt schreibt: „Wir bezeichnen das gesellschaftliche Phänomen, das seine grundsätzliche Struktur schon mit der Einbeziehung des Dritten offenbart, als den geschlossenen Kreis 4 . Er liegt in reiner Gestalt überall dort vor, wo von einer Vielheit von Lebenszentren gleichviel welcher Zahl oberhalb von zwei jedes mit jedem in wesensgestaltendem Zusammenhang steht, mithin ein jedes sein Relief nach der Seite aller übrigen hin rundet, wie umgekehrt alle übrigen seine formgebenden Einwirkungen erfahren" 158 . In den geschlossenen Kreisen sieht Litt die Erkenntnis vom geistigen Wesen jeder menschlichen Gemeinschaft bereits begründet 159 . Das soziale Leben hat geistigen Charakter, weil die Lebensäußerungen des geschlossenen Kreises nicht in Reden, Tun und Unterlassen der einzelnen Mitglieder aufgespalten werden können, sondern als Einheit im Miterleben erscheinen. Das Ich erlebt sich in seinen Äußerungen den anderen gegenüber, aber auch in deren Reaktionen, den Gegenäußerungen, und in dem Miterleben der anderen auf die Handlungen des Ich. Die Einzelerlebnisse korrelieren mit dem einheitlichen Gesamtgeschehen innerhalb des geschlossenen Kreises, weil an diesem die Mitglieder aktiven und passiven Anteil haben. Im Gesamtgeschehen erscheint das eigene Ich fremd. Das Gesamtgeschehen wandelt sich aus der Sicht der einzelnen zum Sinnerlebnis, weil Äußerungen und Gegenäußerungen die gleiche Symbolik zugrundelegen 1 6 0 . Das Einheitsgefüge der Sinnerlebnisse nennt Litt Gesamterlebnis. Es macht das geistige Sein jeder Gemeinschaft aus. Das Gesamterlebnis fällt aber nicht nur mit der geistigen Wirklichkeit der Gemeinschaft zusammen, sondern verursacht auch seinerseits die Herausbildung fester Sinngehalte, die die Individuen zu einer „Werkgemeinschaft der K u l t u r " 1 6 1 verbinden. Aus den geschlossenen Kreisen ersten Grades, überschaubaren sozialen Kleingruppen, entstehen durch Ausdehnung des Gesamterlebnisses geschlossene Kreise zweiten Grades, umfängliche Sozialkörper. Der Weg hierzu führt über die von Litt so bezeichnete „soziale Vermittlung" 1 6 2 . Die geistige Wirklichkeit der Gemeinschaft umfaßt nicht nur die gegenwärtigen Mitglieder. Prägend wirken auch die bereits Ausgeschiedenen und solche Individuen, die nicht mit jedem Glied des geschlossenen Kreises in unmittelbarer Beziehung stehen. Durch diese „sukzessive" und „simultane" Vermittlung von Erlebnissen wird die persönliche Verklammerung des Kreises vervielfältigt. Der wesensgestaltende Zusammenhang für die Konstitution einer Gemeinschaft entsteht auch dort, wo der Verstehenshorizont eines einzelnen verlassen wird. Litt geht soweit, die 157 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 234ff.; vgl. hierzu Bartlsperger, Häußling, Art. Integration, in: StL, IV. Band, Sp. 343. 158 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 239. 159 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 241. 160 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 240 f. 161 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 317f., 320ff. 162 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 265 ff.
S. 6;
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Geschlossenheit des Kreises in Frage zu stellen. Der Vervielfältigung der persönlichen Verklammerung sind „grundsätzlich" 163 keine Schranken gezogen. „Der Möglichkeit nach geht die Ausdehnung des Kreises wie in der zeitlichen Folge so in der Breitendimension ins Grenzenlose" 164 . Nach Litts eigener Einschätzung war mit der Theorie der „geschlossenen Kreise" die Versöhnung von Individualismus und Kollektivismus gelungen: Der geschlossene Kreis ist Ausdruck des Ganzheitscharakters des sozialen Lebens, ohne daß diese Gesamtheit ein verselbständigtes Aktzentrum überpersonaler Art ist. Eine Auflösung des Subjekts in der Gesamtheit des geschlossenen Kreises findet nicht statt. Indem das soziale Leben als geistige Gemeinschaft gedeutet wird, braucht die Gesellschaft nicht zu einem überpersonalen Zentrum fingiert zu werden, insbesondere nicht zu einem Machtzentrum, das einseitig auf die ihm angehörenden Individuen einwirkt. Gemeinschaft ist kein überpersonales Kollektiv-Ich, sondern das Einheitsgefüge, das sich aus den Erlebnissen der einzelnen zusammensetzt165. Individuum und Gemeinschaft sind „sozial verschränkt" 166 . Diese Sicht sozialen Lebens als geistiges Leben begründet die „Einheit des Ganzen, die vermeintlich nur als ,Gesamtperson' vor individualistischer Zertrümmerung gesichert werden konnte, in einer ebenso wirksamen, dabei aber von bedenklichen Folgerungen freien Form ... : in einer Form nämlich, die, wie sie dem Ganzen sein Recht wahrt, so auf der anderen Seite die individuelle Existenz vor der Aufsaugung in das Kollektivum schützt" 1 6 7 . M i t der Deutung sozialen Lebens als Zusammenfassung geistiger Erlebnisse geraten menschliche Gemeinschaften ausschließlich zu einem Erkenntnisproblem. Der geistige und der soziale Aufbau der Wirklichkeit sind identisch. Auf die Fragen der faktischen Organisation von Gesellschaften kommt es Litt nicht an 1 6 8 . Diese Konzeption Litts enthält eine Schwäche, die sich — was noch zu zeigen sein wird — in der Integrationslehre Smends ausgewirkt hat. Indem die Realität der Sozialgebilde ausschließlich aus der Strukturgesetzlichkeit des Geistes selbst hergeleitet wird, neigt Litt zu einer „Entwirklichung des Sozialen" 169 . Faktische Herrschaftsverhältnisse kennt die Gruppensoziologie Litts nicht; soziale Realität ist für sie ohne Ausnahme harmonisch aufgebaut aus den wechselbezüglichen Erlebnissen der einzelnen. Jedes Ich geht mit den 163
Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 271. Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 271, vgl. auch S. 396f.: der geschlossene Kreis findet seine „vollkommenste Erfüllung" in der „Kulturmenschheit". 165 Vgl. Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 164f. 166 Vgl. Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 246 ff. 167 Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 260. les Ygi n t t Individuum und Gemeinschaft, S. 260; kritisch zu dieser Deutung sozialen Lebens W. Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit, S. 270; ferner Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 66 f. 169 So die treffende Beurteilung bei Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 66. 164
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anderen eine „verständnisgetragene Verbindung" 170 ein. Besteht diese Verbindung nicht, so besteht kein geschlossener Kreis. Bei Litt ist diese Sichtweise in der ausdrücklichen Beschränkung seiner Kulturphilosophie begründet. Nach seinem eigenen Bekunden will die Lehre vom Individuum und der Gemeinschaft lediglich den allgemeinen Aufbau des sozialen Lebens darstellen, die Formen nachweisen, die allen geistigen Gebilden zukommt. „Über ihre ganze Ausdehnung hin sucht unsere Erörterung nur allgemeine Bestimmungen, Wesensaussagen, die nicht den einzelnen Fall, sondern die in ihm repräsentierte Klasse betreffen" 171 . Konkrete Sozialgebilde, die Umstände ihrer Entstehung und die Bedingungen ihrer Erhaltung, problematisiert die Lehre Litts nicht. Smend unternimmt es nun, diese recht fragmentarische Gesellschaftskonzeption auf den Staat zu übertragen 172 , weil auch dieser ein geschlossener Kreis, ein Teil der sozialen Wirklichkeit in dem von Litt beschriebenen Sinne sei 173 . Dazu muß nachgewiesen werden, daß ein wesensgestaltender Zusammenhang jedes Bürgers mit jedem anderen Bürger innerhalb des Staates besteht. Hier trifft Smend auf einen Einwand, den Kelsen bereits in seiner 1922 erschienenen Abhandlung „Der soziologische und der juristische Staatsbegriff" gegen den Aufbau einer sozialen Realität des Staates aus der geistig-psychischen Wechselwirkung von Menschen geltend gemacht hat. Kelsen bezweifelt, daß eine geistige Verbindung von Menschen eine so dauernde, feste und überschaubare Gruppe schaffen könne, um von einer soziologischen Einheit des Staates sprechen zu können 1 7 4 . Zudem gäbe es Individuen, die zwar kraft ihrer Staatsbürgerschaft zur juristischen Einheit Staat zählten, denen aber das Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit des soziologischen Verbandes fehle, darunter „Kinder, Wahnsinnige und Schlafende" 175 . Smend begegnet diesen Einwänden zum einen mit dem Hinweis darauf, daß die staatliche Gemeinschaft zumindest unendliche Verstehensmöglichkeiten bereithalte 176 und kann sich hierbei auf Litt berufen, der beim Übergang von den geschlossenen Kreisen ersten Grades zu den umfänglicheren Sozialkörpern den wesensgestaltenden Zusammenhang eines jeden mit jedem anderen durch das Phänomen der sozialen Vermittlung gesichert sah. Zum anderen kann die aktuelle seelische Wechselwirkung bei den Staatsangehörigen, die kein Zugehörigkeitsbewußtsein haben, ersetzt werden. 170
Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 267. Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 88. Vgl. auch H. Mayer, Die Krisis, S. 41: Die Lehre Litts sei eine „rein formale Soziologie". 172 Diese Übertragung findet die Kritik Kelsens, Der Staat als Integration, S. 35. Kelsen vernachlässigt dabei, daß Litt zwar nicht selbst den Versuch unternimmt, seine Erkenntnisse auf den Staat zu übertragen, die Strukturanalyse der Sozialgebilde durch Litt aber Geltung für jede menschliche Gemeinschaft beansprucht. 173 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 126ff., insbes. S. 131; ders., Art. Integrationslehre, S. 475. 174 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 7 ff. 175 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 9. 176 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 133. 171
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Jeder Erlebnisgehalt der Vergangenheit kann nach Smends Ansicht genügen. Wer irgendwann einmal vom staatlichen Lebenszusammenhang erfaßt war, „etwa durch Teilnahme an den Weltkriegsschicksalen" 177 , ist Glied des geschlossenen Kreises Staat geblieben. Bei den völlig Vernunftlosen genügt die fiktive tatsächliche und die rechtliche Zuordnung zur staatlichen Lebensgemeinschaft, aus „Achtung vor dem Fragment von Menschlichkeit" 178 , das sie darstellen. Diese Verteidigung Smends auf die Einwände Kelsens zeigt jedoch, wie schwierig es ist, allein aus der Strukturlehre Litts ohne Widersprüche und Rückgriffe auf weitere Kriterien den Staat als soziale Realität des geschlossenen Kreises zu begründen. Die Schwierigkeit beruht zunächst darauf, daß die Lehre Litts geistige Einwirkungen in einer überschaubaren Gruppe von Menschen verständlich machen kann, jedoch als eine Theorie der Gesellschaft kaum ausreicht. Trotz des Phänomens der „sozialen Vermittlung" sind die Lehren Litts, soweit sie eine Gemeinschaft von Menschen dartun wollen, an die Chance der individuellen Überschaubarkeit der sozialen Situation gebunden. Denn die soziale Vermittlung kann den geschlossenen Kreis ins Grenzenlose erweitern, das heißt mit anderen Worten, die Geschlossenheit und Verstehbarkeit aufheben. Übertragen auf den Staat bedeutet dies, daß seine Einheit und Geschlossenheit notwendig verloren gehen muß. Staatliche Einheit ist aber auf Grenzen zeitlicher, territorialer und personeller Art angewiesen. Wenn Smend in anderer Richtung von dem Erfordernis des tatsächlichen Zusammenhangs aller mit allen anderen absieht und die Möglichkeit, bei Vernunftlosen sogar die „ F i k t i o n " 1 7 9 gegenseitigen Verstehens genügen läßt, dann ist im Grunde das als nichtbestehend anerkannt, was als bestehend gezeigt werden soll. Die Möglichkeit oder sogar die Fiktion der realen Verknüpfung ist eben nicht gleichbedeutend mit der tatsächlichen geistigen Verbindung aller Staatsbürger. Treffend ist die Bemerkung Kelsens hierzu: ein potentieller Erlebniszusammenhang kann alle auf der Welt lebenden Menschen verbinden, während diese Möglichkeit nichts über die soziologische Einheit eines bestimmten Staates aussagt 180 . Smend hat diese Schwierigkeiten offensichtlich gesehen. Seine Versuche, die soziologische Einheit des Staates dennoch zu retten, verstricken seinen Ansatz jedoch in eine weitere Problematik. Smend stellt apodiktisch fest: „ A n der Tatsächlichkeit des Staates als des Verbandes der ihm rechtlich Angehörenden ist nicht zu zweifeln" 181 . Es gibt also nun nicht nur eine tatsächliche, sondern auch eine rechtliche Einheit des Staates, wobei der das staatliche Erlebnisgefüge tragende geschlossene Kreis mit der Summe der Staatsangehörigen im Rechtssinne übereinstimmen soll. Smend bekräftigt diese durch das Recht geschaffene 177 178 179 180 181
Smend, Smend, Smend, Kelsen, Smend,
Verfassung und Verfassungsrecht, Verfassung und Verfassungsrecht, Verfassung und Verfassungsrecht, Der Staat als Integration, S. 38 f. Verfassung und Verfassungsrecht,
S. 134. S. 134. S. 134. S. 134.
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Einheit an einer weiteren Stelle: „Selbstverständlich ist die hier darzulegende Wirklichkeit des Staates zugleich eine rechtlich normierte. Aber es ist unrichtig, ... die reale Beziehung aller Staatsangehörigen ... zu bestreiten" 182 . Man mag diese Feststellungen auf verschiedene Weise daraufhin befragen, ob Möglichkeiten bestehen, sie mit der ausschließlichen Erklärung des Staates als geschlossener Kreis zu vereinbaren. Das Ergebnis ist jedoch negativ: von seinem Programm einer rein geistig-sozialen Deutung der staatlichen Einheit und Gemeinschaft hat sich Smend mit dem ergänzenden Rückgriff auf rechtliche Kriterien entfernt. Darüber hinaus weckt die von Smend behauptete Identität der tatsächlichen Gemeinschaft und der Gemeinschaft in ihrer rechtlichen Normiertheit ein weiteres Bedenken. Diese Identität entspricht der Zwei-Seiten-Lehre des von Smend so heftig bekämpften Georg Jellinek, nach der eine Kongruenz zwischen dem Staat als realem Verband und als Rechtsbegriff besteht 183 und nur die verschiedene Betrachtungsweise verschiedene Seiten des Staates unterscheiden läßt. Smends Rückfall in den verpönten Synkretismus zeigt, daß es nicht gelungen ist, die Einheit des Staates aus der Strukturlehre Litts zu begründen. Rechtliche Kriterien müssen zur Hilfe kommen, um den soziologischen Verband einerseits einzugrenzen, wo er durch die soziale Vermittlung ins Unendliche sich auszuweiten droht, rechtliche Kriterien dienen aber auch andererseits dazu, den geschlossenen Kreis mit seinem Erfordernis des aktuellen geistigen Zusammenhangs auf Kinder und Vernunftlose ausdehnen zu können. Trotz der geschilderten Brüche und Ausweitungen der Argumentation auf rechtliche Argumente hält Smend die Tatsächlichkeit des Staates als geschlossener Kreis für erwiesen. Im folgenden soll unterstellt werden, daß der Nachweis gelungen sei. Bereits diese kulturphilosophische Deutung des Staates ist mehr als eine bloße Rezeption der Gesellschaftsphilosophie Litts, denn dessen Grundbegriffe intendieren nicht, das spezielle Sozialgebilde Staat beschreiben zu können. Die Gründe, die Smend trotz der entstehenden Schwierigkeiten bewogen haben, neben der Erkenntnistheorie Litts auch dessen sachliche Grundannahmen zum Wesen menschlicher Gemeinschaft auf den Staat anzuwenden, lassen sich unschwer erschließen. Da es Smends Bemühen ist, die Einheit des Staates in der soziologischen Wirklichkeit des Staates nachzuweisen, bei der Beschreibung der Staatswirklichkeit also nicht von vornherein in eine Teilkonstruktion des Staates auszuweichen, etwa im Sinne der sozialen Staatslehre Georg Jellineks, so mußte die geisteswissenschaftliche Erklärung sozialen Lebens bei Litt besondere Attraktivität besitzen. I m geschlossenen Kreis ist das soziale Leben als Gesamtheit gedeutet, ohne daß diese Gesamtheit zu einer überindividuellen 182
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 135 Fn. 34. Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 12, und hierzu Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 114ff. 183
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
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Person erhoben werden müßte. Die Einheit baut sich vielmehr—wenngleich mit den geschilderten Brüchen — aus den Erlebnissen der einzelnen auf. Der Vorstellung des Staates als der verselbständigten „Verbandseinheit", der „ursprüngliche" 184 Herrschaftsmacht zugesprochen wird, bedarf es nicht. Der soziale Staat Smends ist darüber hinaus nicht eine psychische Funktion 1 8 5 , sondern geistiges Leben der Menschen selbst. M i t der Sicht des Staates als geschlossener Kreis ist also eine Gegenposition zu jeder individualistischen oder kollektivistischen Staatstheorie erreicht. Die These, daß der Staat eine von allen Staatsangehörigen erlebte geistige und soziale Wirklichkeit ist, formuliert zudem, über den methodischen Gegensatz hinaus, auch in sachlicher Hinsicht den Gegenstandpunkt zu der als Sackgasse empfundenen Staatslehre Kelsens. Das aber ist zunächst nur der erste Schritt. Für eine positive Erkenntnis der Besonderheiten des Sozialgebildes Staat ist mit der Anwendung der formalen Kategorien Litts noch nicht viel gewonnen 186 , wenngleich die Einfügung des einzelnen in die staatliche Wirklichkeit nunmehr mit Grund entsprechend der bereits genannten These geschehen kann, daß Staat und Bürger nicht in harter, „substanzieller" Gegenüberstellung verharren, insbesondere nicht in der seit Laband für Juristen geläufigen Gegenüberstellung von juristischer Person und natürlicher Person mit je eigenen Willenssphären 187 , sondern als untrennbarer Zusammenhang begriffen werden müssen. c) Der Staat als Integration
In einem weiteren Schritt gelangt Smend von seinem kulturphilosophischen Ansatz aus zu einer vertieften Ansicht des Staates, die seine Tätigkeitsformen einbezieht, die herkömmlich als Willensäußerungen des substanzhaft gedachten Staates kraft seiner Staatsgewalt gedeutet wurden: „So ist insbesondere der Staat nicht ein ruhendes Ganzes, das einzelne Lebensäußerungen, Gesetze, diplomatische Akte, Urteile, Verwaltungshandlungen von sich ausgehen läßt. Sondern er ist überhaupt nur vorhanden in diesen einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhanges sind, und in den noch wichtigeren Erneuerungen und Fortbildungen, die lediglich diesen Zusammenhang selbst zum Gegenstande haben" 1 8 8 . Daß der Staat hiernach keine starre, ruhende Substanz, sondern geistige Gemeinschaft ist, entspricht zunächst der Littschen Lehre vom Erlebnisgefüge als Wesen des geschlossenen Kreises. Wenn außerdem der Staat von Smend nicht allein als Lebens- und Erlebniszusammenhang gedeutet wird, der hierin 184 So die Definitionselemente in der Bestimmung des sozialen Staates bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 181. 185 So der soziale Staat bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 174. 186 Vgl. zur Kritik H. Mayer, Die Krisis, S. 60f. 187 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 125. 188 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
seine Existenz überhaupt erst gewinnt, vielmehr das Vorhandensein des Staates einen geistigen Gesamtzusammenhang voraussetzt, so ist hierin unschwer die Lehre Litts vom Gesamterlebnis wiederzuerkennen: Der Staat ist nicht die ruhende geistige Gemeinschaft, sondern selbst Ausgangspunkt für Vorgänge, welche die Gemeinschaft weitergestalten. Neben die gegenseitige Prägung von Individuum und Gemeinschaft tritt dann aber bei Smend in besonderer Betonung die formende, willensgetragene Leistung des Staatsbürgers. Der Staat ist nur vorhanden, „sofern" die Betätigungen auf die Herstellung des geistigen Gesamtzusammenhanges abzielen. Litt hatte ausdrücklich davon abgesehen, daß die sozialen Verbindungen „eines auf sie gerichteten Wissens und Wollens der beteiligten Individuen bedürfen" 189 und zur Begründung eine empirische Beobachtung angeführt: Was der einzelne in Richtung auf die sozialen Zusammenschlüsse leiste, gehe in der Regel nicht über ein — möglicherweise sogar egoistisch geprägtes — Teilengagement hinaus 190 . Für die Theorie des Staates setzt Smend hiergegen den bewußten, aktiven Staatsbürger, der in voluntaristischer Weise zum Staat als dem „realen Willensverband" 191 beiträgt, für den der Staat die Möglichkeit „geistiger Auswirkung und damit zugleich persönlicher Selbstgestaltung" 192 ist. Der Staat ist keine „natürliche Tatsache", sondern eine „Kulturerrungenschaft", nicht deshalb, weil seine Wirklichkeit erkenntnistheoretisch in Frage stände, sondern weil sie ein „praktisches Problem" ist 1 9 3 . Die erkenntnistheoretische Wirklichkeit des Staates ist etwas anderes als die Wirklichkeit eines konkreten Staates. Das Gebilde Staat erscheint als Ergebnis einer „dialektischen Zusammenordnung" 1 9 4 des einzelnen, der Gemeinschaft und des beide verbindenden Gesamtzusammenhanges . Die sich immerfort wiederholende Vereinheitlichung der Einzelwillen zum Gesamtwillen, die individualisierende Selbstgestaltung des Staates bedeutet, läßt sich empirisch aufweisen. Die empirische Wirklichkeit des Staates besteht in seinen faktischen Lebensäußerungen; in Gesetzen, diplomatischen Akten und anderen Äußerungen spiegelt sich der Erlebniszusammenhang. Der Staat „lebt und ist nur da in diesem Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens" 195 . Die „Substanz" des Staates — Smend gebraucht mißverständlicherweise dieses Wort, obwohl er alle substanzialisierenden Staatstheorien strikt zurückweist — ist „fließendes, sich immerfort erneuerndes Leben" 1 9 6 . 189
Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 408. Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 409. 191 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 127; vgl. auch dens., Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 91. 192 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 131. 193 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 134; vgl. auch Poeschel, S. 45: Die Existenz des Staates in der Integrationslehre ist immer „prekär". 194 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 126. 195 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136. 190
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
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An dieser Stelle unternimmt Smend den Versuch, dieses spezifische Merkmal des Aufbaues staatlicher Wirklichkeit in den einzelnen und aus den einzelnen, das alles staatliche Sein begründet und in aller staatlichen Tätigkeit sich ausdrückt, begrifflich zu bezeichnen. Smend faßt diesen „Kernvorgang" des Staates mit dem Begriff „Integration" zusammen. Der staatstheoretische Kernsatz der Integrationslehre lautet: „Der Staat ist nur, weil und sofern er sich dauernd integriert, in und aus den Einzelnen aufbaut — dieser dauernde Vorgang ist sein Wesen als geistig-soziale Wirklichkeit" 1 9 7 . Hier liegt für den Staat sein Angelpunkt im Bereich der Wirklichkeit. Zur Verdeutlichung wendet Smend die berühmte Charakterisierung der Nation durch Erneste Renan 198 auf den Staat an: der Staat sei ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederhole 199 . Die Entschlüsselung des Bedeutungsgehaltes des fast metaphorisch anmutenden Wortes „Integration" macht Smend seinen Lesern nicht leicht. Schon die vorläufige Übersetzung, die Smend in der Vorrede zu „Verfassung und Verfassungsrecht" bereithält, verhilft kaum zu einer Annäherung. Dort wird Integration mit „einigender Zusammenschluß" 200 übersetzt. Das ist ein Pleonasmus. Jeder Zusammenschluß wirkt einigend oder setzt eine Einigung voraus. Selbst wenn das Beiwort die Intensität des Zusammenschlusses unterstreichen soll, bleibt offen, was und mit welchem Erfolg in dem geschlossenen Kreis Staat noch zusammengeschlossen werden kann. Feststeht nach dem zuletzt zitierten Satz allein, daß Integration nicht Element einer begrifflichen Definition ist, sondern einen spezifisch staatlichen Vorgang beschreiben möchte, der erforderlich ist, weil die staatliche Gemeinschaft kein in sich ruhendes kollektives Ich, keine kollektive Substanz ist. Darüber hinaus ist die Vielfalt der Verwendungen und Zusammenhänge der Integration bei Smend schillernd 201 . Smend unterscheidet die empirischen „Integrationsfaktoren", den Vorgang der Integration selbst und das „Integrationssystem". 196 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 91; ders., Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136. 197 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 138. 198 Das Zitat stammt aus einer Rede Renans in der Sorbonne am 11. März 1882. Die Nation bezeichnet Renan hier als einen „plébiscite de tous les jours" (Renan, Qu'est-ce qu'une Nation? Paris 1882, S. 20). Eine deutsche Übersetzung findet sich bei Gall/Koch, S. 132 ff. In der Übersetzung lautet der von Smend teilweise übernommene Satz Renans: „Die Existenz einer Nation (verzeihen sie mir diese Metapher) ist ein alltägliches Plebiszit, wie die Existenz des Individuums eine ewige Bejahung des Lebens ist" (a.a.O., S. 148). 199
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136; ders., Art. Integrationslehre, S. 474; ders., Art. Integration, S. 483. 200 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120. 201 Kelsen, Der Staat als Integration, S. 62, spricht von dem „proteushaften" Begriff der Integration, der zu einer Begriffsverwirrung auch innerhalb der Integrationslehre führe. Vorsichtige Vorbehalte gegen die Verwendung des Begriffes Integration für „viele und verschiedenartige Fragen und Antworten" äußert Badura, Der Staat 16 (1977), S. 307. Vgl. auch W. Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit, S. 263: Die schillernde Figur der Integration sei ein „Universalbegriff'.
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Angesichts der Vielgestaltigkeit überrascht es nicht, daß Sinn und Brauchbarkeit des Integrationsbegriffes die verschiedensten Deutungen erfahren haben. Sie reichen von der Behauptung, es liege eine schlechthin nichtssagende, triviale Phrase vor, die nichts anderes umschreibe als die allgemeinste soziale Kategorie, die Verbindung von Menschen 202 , über die Ansicht, Smend sei es nicht gelungen, mit Hilfe der Integrationsbetrachtung aus den allgemeinen Prinzipien allen sozialen Lebens das besondere Lebensprinzip des Staates zu entwickeln 203 , bis hin zu der eher positiven Interpretation, daß der Begriff kaum entbehrlich sei, um einen für die Staatsrechtsdogmatik brauchbaren Staatsbegriff zu begründen 2 0 4 . U m Klarheit über den Kern der Integrationslehre zu gewinnen, erscheint es geboten, die Interpretation des staatstheoretischen Bedeutungsgehaltes der Integration mit der Herkunft und wissenschaftlichen Verwendung des Begriffes Integration außerhalb der Schriften Smends in Beziehung zu setzen. „Integration" ist keine sprachliche Neuschöpfung Smends, sondern seine Lehre greift bewußt 205 einen Begriff auf, der bereits in die wissenschaftliche Fachsprache, aber auch in die Alltagssprache Eingang gefunden hatte. Auf der Grundlage der Begriffsklärung kann die Frage gestellt werden, in welcher Weise Smend mit der Integrationsbetrachtung die Besonderheiten des geschlossenen Kreises Staat gegenüber anderen geschlossenen Kreisen zu präzisieren versucht hat. aa) Wort und Begriff Integration Die Analyse des Staates als geschlossener Kreis hat Smend nicht vollständig eigengelehrig, sondern in bewußter Anlehnung an das System Theodor Litts vorgenommen. Es liegt die Vermutung nahe, daß auch mit dem Begriff Integration fremde wissenschaftliche Erkenntnisse in die Staatslehre transponiert werden. Ein kurzer Überblick über die Begriffsgeschichte zeigt jedoch, daß dies nicht der Fall ist 2 0 6 .
202
Kelsen, Der Staat als Integration, S. 45 ff.; ferner Rohatyn, Zeitschrift für öffentliches Recht IX (1930), S. 267: „Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein: Integration". 203 So vor allem H. Mayer, Die Krisis, S. 53, 55, 56f.; ferner Badura, Die Methoden, S. 187; Heller, Staatslehre, S. 187; Klinghoffer, Die Justiz 5 (1930), S. 419; Nawiasky, Allgemeine Staatslehre I, S. 18; Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 72. 204 So etwa Scheuner, Art. Staat, S. 25. Vgl. auch Zech, Die Rechtfertigung des Staates, S. 51, nach dessen Einschätzung mit der Integrationslehre „ganz neue, bisher kaum geahnte Bereiche staatlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit wissenschaftlicher Betrachtung eröffnet werden". Dazu auch Poeschel, S. 48 ff. 205 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136 Fn. 3; ders., Art. Integration, EvStL, 2. Auflage, Sp. 1026. 206 Zu den lateinischen Wurzeln des Lehnwortes Integration (integer und die Ableitungen in den Verben integrascere, redintegrare und in den Substantiven integratio und integritas) Rassem, Zeitschrift für Politik 34 n.F. (1987), S. 101.
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Der Begriff „Integration" wurde zuerst in der Mathematik verwendet, um die Methode der Vereinigung von Differentialen zu einem Ganzen im Gegensatz zur einfach summierenden Addition zu bezeichnen. Später fand der Integrationsbegriff Eingang in die Psychologie und vor allem in die Soziologie 207 . In der Soziologie besteht bereits der Zusammenhang zu den Prozessen innerhalb menschlicher Sozialgebilde. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hat der englische Soziologe Herbert Spencer mit dem Begriff Integration einen grundlegenden Entwicklungsprozeß innerhalb der menschlichen Gesellschaft bezeichnet. Die Gesellschaft wird als dem biologischen Organismus ähnlich aufgefaßt. Sie entwickelt sich, entsprechend dem Entwicklungsgesetz Darwins für die Biologie, von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit. Zunehmende funktionale Differenzierung der gesellschaftlichen Struktur verläuft gleichzeitig mit einer Integration der immer ungleichartiger werdenden Teilsysteme, etwa der Religion, Wissenschaft und Kunst 2 0 8 . Diese Erkenntnis wendet Spencer auch auf den Staat an. „Political Integration" bedeutet Einbeziehung des einzelnen in die staatliche Organisation, verstanden als Wechselwirkung zwischen dem Staat und den Individuen 209 . Als Beispiel für ein Integrationsproblem führt Spencer das Anwachsen der Bevölkerungsdichte in England an. In der soziologischen Beziehungslehre Leopold von Wieses, die sich zum Ziel setzt, die Verknüpfungen des gesellschaftlichen Lebens systematisch, in formale Kategorien einteilend aufzuweisen 210 , heißt Integration die Einigung eines Sozialgebildes, eine Kooperation, deren Gegensatz die soziale Differenzierung ist. Die Integration setzt dem durch Individuation, Entfremdung und Absonderung bedrohten sozialen Gebilde einen „Prozeß des Zueinander" entgegen, um die Verbindungen der Individuen „innerlicher zu gestalten (zu sozialisieren)" 211 . Hierbei steht neben der rational-technischen Integration durch zunehmende wirtschaftliche Verflechtung und Arbeitsteilung die ideell-geistige Integration, vermittelt durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl im Wege der Anerkennung der für das Sozialgebilde geltenden Normen 2 1 2 . Eine Anknüpfung Smends an den Integrationsbegriff, so wie ihn Spencer und von Wiese geprägt hatten, war jedoch nicht möglich. Beide Soziologen fassen die integrierten Sozialgebilde als selbständige überpersonale Einheiten, die im Wege 207
Vgl. die Nachweise bei Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136 Fn. 3; Bartlsperger, S. 14f.; Häußling, Art. Integration, in: StL, IV. Band, Sp. 341. 208 Ygi Neuendorff, Art. Soziologie, EvStL, 3. Auflage, Sp. 3300; Rassem, Zeitschrift für Politik 34 n.F. (1987), S. 103. 209
Spencer II, S. 29 f. L. ν . Wiese I, Vorwort, S. VII. 211 L. v. Wiese I, S. 214ff. 212 Die Weiterentwicklung des Begriffs Integration zu einer zentralen Kategorie der Soziologie, insbesondere innerhalb des von T. Parsons entwickelten Modells eines „sozialen Systems", beschreibt Bernsdorf, Art. Integration, S. 469 ff. 210
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
rationaler Einigung entstehen und immer wieder durch Differenzierungsprozesse bedroht sind 2 1 3 . Ein solches Verständnis der sozialen Gliederung versteht die sie verbindenden Vorgänge als Wechselwirkung, als gegenseitige Beeinflussung. Soziale Prozesse sind, soweit sie auf Integration abzielen, Kooperationen vorgegebener Personen, die mittels der Kategorie der Kausalität untersucht werden können. Die von Smend als Anknüpfungspunkt gewählte geisteswissenschaftliche Soziologie Litts dagegen versteht soziale Gebilde als Zusammenfassung von Erlebnissen, als geistige Einheitsbildung. Der Erlebniszusammenhang schafft die soziale Wirklichkeit — das Problem des Zerfalls oder der Differenzierung dieser Wirklichkeit beschäftigt Litt nicht. Dementsprechend weist Smend die Soziologie der Wechselwirkungen zurück: „Nur als ein dialektisches Gefüge wird das Ganze der geistigen Welt verständlich, das in Beziehungen' oder ,Wechselwirkungen' zwischen festen Punkten aufzulösen der vergebliche Versuch der herrschenden Soziologie gewesen i s t " 2 1 4 . Es gebe keine ^substanziellen Stützpunkte' für die Kraftlinien des geistigen und sozialen Lebens" 215 . In der Rechtswissenschaft hat, soweit ersichtlich, zuerst Otto von Gierke in seiner Rede aus dem Jahre 1902 über „Das Wesen der menschlichen Verbände" den Begriff der Integrierung aufgenommen, wenngleich in mehr beiläufiger Weise. Der Zusammenhang bei von Gierke ist ebenfalls die Beschreibung von Vorgängen innerhalb menschlicher Sozialgebilde, wobei aber dem Begriff der Integrierung kein wesentlicher Erkenntniswert zugesprochen wird. Gierke stellt fest, daß soziale Organismen „in einem Prozeß fortschreitender Differenzierung und Integrierung hervorgebracht" 216 würden. Eine Aussage über das Wesen des Staates sollte damit nicht getroffen werden. Soweit die Ausführungen von Gierkes den Staat betreffen, geht es ihm um das Merkmal aller Gemeinschaften, dasjenige, „das die erhabenen Erscheinungen des Staates und der Kirche mit der kleinsten Gemeinde und der losesten Genossenschaft teilen" 2 1 7 . Dieses gemeinsame Merkmal erblickt Gierke nicht in einem Vorgang, der mit dem Begriff der Integrierung umschrieben werden könnte, sondern in der "realen leiblichgeistigen Einheit" 2 1 8 aller menschlichen Verbände, also in der Existenz eines überindividuellen Kollektivs. Das nähert sich der Soziologie Spencers, hat dagegen mit den Lehren Litts keine Berührungspunkte. 213
Vgl. Häußling, Art. Integration, in: StL, IV. Band, Sp. 342; Zech, Die Rechtfertigung des Staates, S. 46. 214 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 127. 215 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 129. Dementsprechend hat Smend bei seinen Verweisen auf das soziologische Schrifttum das Werk von Wieses, dessen erster Teil 1924 erschienen war, nur kurz und ablehnend erwähnt (Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 131). Im zweiten Teil seiner Beziehungslehre hat dies von Wiese kritisch vermerkt (L. v. Wiese II, S. 273), wobei er den prinzipiell anderen Ausgangspunkt Smends nicht berücksichtigt hat. 216 217 218
O. v.Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, S. 33. O. v.Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, S. 6. O. v. Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, S. 26.
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Etwa ab dem Jahre 1920 häuft sich die Verwendung des Wortes „Integration" in der juristischen Literatur. Wittmayer konstatierte bereits 1923, es handele sich um einen „Modeausdruck" 2 1 9 . Angesichts der Schwierigkeit, den Ausdruck Integration in einem Wort erschöpfend zu verdeutschen, ist der Bedeutungsgehalt des mit ihm Gemeinten bereits vor den Arbeiten Smends schillernd. Hugo Preuß spricht in seinem nachgelassenen Fragment zu einem Kommentar der Weimarer Reichsverfassung davon, daß Klassen und Stände, also gesellschaftliche Gebilde, sich zwar im demokratischen Staat integrieren, gleichzeitig aber auch die Differenzierung des einzelnen immer größer werde 220 . Preuß knüpft hier deutlich an den Entwicklungsgedanken Spencers an. Kelsen bezeichnet mit dem Wort Integration einen Vorteil der Demokratie gegenüber anderen Staatsformen. Sie könne „bei größtmöglicher Einfachheit der Organisation doch immerhin eine gewisse politische Integration der Staatsgesellschaft" 221 gewährleisten. Meint Integration bei Preuß und Kelsen damit ein Kennzeichen der Demokratie, nämlich die Selbstorganisation des Staates aus der Gesellschaft heraus, so möchte Wittmayer mit dem Begriff Integration den Aufbau des Bundesstaates aus den Einzelstaaten verdeutlichen. Wittmayer verlangt für den Bundesstaat einen „Integrationsprozeß" 222 , ohne das damit Geforderte näher zu umschreiben. Das Merkmal, das die Begriffsverwendung bei den genannten Autoren nach 1920 verbindet, ist der Bezug auf politische Vereinheitlichungsvorstellungen und Vereinheitlichungskräfte. Ein speziell staatstheoretischer oder staatsrechtlicher Gebrauch des Wortes Integration läßt sich jedoch vor den Arbeiten Smends nicht nachweisen. bb) Der staatstheoretische
Bedeutungsgehalt der Integration
Vereinheitlichung und Einheitsbildung meint auch Smend mit dem Begriff Integration. Darüber hinaus aber hat die Integrationslehre Smends mit den früheren Verwendungen des Wortes nicht mehr als terminologische Berührungspunkte. Bei Smend soll die Integration die besondere Art bestimmen, wie der Staat sein Leben als einheitliches und geistiges Gefüge verwirklicht. Die methodische und inhaltliche Zusammenfassung des staatstheoretischen Integrationsbegriffes enthält — in einer dem Verständnis nicht förderlichen sprachlichen Zusammenfassung 223 — folgender Satz Smends: „Wenn das überempirisch aufgegebene Wesen des Staates sein Charakter als souveräner Willensverband und seine dauernde Integration zur Wirklichkeit als solcher sind, so ist es Sache 219
Wittmayer, Zeitschrift für öffentliches Recht I I I (1922/1923), S. 530 Anm. 4. H. Preuß, Reich und Länder, S. 41 f. Dort S. 41: „Die wirtschaftliche Entwicklung integrierte die Stände und differenzierte die Individuen ...." 221 Kelsen, Archiv für Soz.-Wiss. und Soz.-Politik 47 (1920), S. 75. In der späteren Buchausgabe des Textes fehlt dieser Satz. 222 Wittmayer, Zeitschrift für öffentliches Recht I I I (1922/1923), S. 530 Anm. 4. Vgl. auch dens., Fischers Zeitschrift für Verwaltungsrecht 57 (1925), S. 145 Fn. 1. 223 Vgl. Poeschel, S. 48. 220
9 Korioth
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empirischer Beobachtung, die Faktoren dieser Verwirklichung aufzuzeigen" 224 . Smend kennt in methodischer Hinsicht die überempirisch, das heißt erkenntnistheoretisch erschlossene Wirklichkeit des Staates, zu der die Integration gehört, daneben die empirisch aufweisbaren Faktoren, das heißt die verursachenden Prinzipien für den Integrationsprozeß zur staatlichen Wirklichkeit. Die theoretisch erschlossene Integration, der Aufbau staatlicher Wirklichkeit in und aus den einzelnen, hat sich empirisch auszuweisen. Die Integration ist in einer ersten Sicht der einigende Zusammenschluß der Einzelmenschen, durch den der Staat soziale Realität gewinnt. Das Wort beschreibt einen Erlebniszusammenhang, in dem sich die Zusammenfassung aller einzelnen Faktoren und individuellen Erlebnisse zur staatlichen Einheit vollzieht. Das ist der unmittelbar auf die Wirklichkeit des Staates bezogene Aspekt der Integration, die hier nichts anderes als die Zusammenfassung der Soziallehre Litts für den Bereich des Staates darstellt. Würde Smend hierbei stehenbleiben, so wäre ihm tatsächlich vorzuwerfen, die nicht widerspruchsfreie Erklärung des Staates als geschlossener Kreis nur mit einer neuen Bezeichnung versehen zu haben — einer nicht recht glücklichen zudem, wie die enge frühere Verbindung des Integrationsbegriffes zu der naturwissenschaftlich-kausalwissenschaftlich orientierten Soziologie Spencers zeigt 2 2 5 . Integration meint jedoch mehr. Smend entfaltet seine Staatsbetrachtung mit dem Integrationsbegriff in zwei Richtungen, die über die Strukturanalyse als geschlossener Kreis hinausgehen. Zum einen lehrt Smend, daß erst durch den Vorgang der Integration der Staat zu einem „politischen Körper" 2 2 6 werde. Die Integrationsbetrachtung soll das Verhältnis von Staat und Politik und den Begriff des Politischen klären helfen. Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein 227 . Zum anderen ist Integration das, was die Wirklichkeit des Gruppenlebens im Staat mit seinem überempirisch aufgegebenen Sinnzusammenhang verbindet. Diese Wirklichkeit ist von der „Wertgesetzlichkeit des Geistes" 228 abhängig. Der Staat existiert nicht aus sich selbst, er hat aber auch nicht kausale Bedingungen in sozialen Tatsachen. Nur als stets erneuerter Teil der kulturellen Lebens weit wird er wirklich. Deshalb gehört zu dem überempi224
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 139. Auch Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136 f. Fn. 3, hat eingeräumt: „Ein geeigneteres Wort wäre erwünscht, ist aber nicht leicht zu finden." Zur Kritik an der Übernahme des Integrationsbegriffs angesichts der Prägung außerhalb der Staatswissenschaften vgl. Hintze, Staatslehre und Staatstheorie, S. 235. 226 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 177. 227 Vgl. unten, 2. Teil, II. 6. a). 228 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 139. Diesen Begriff übernimmt Smend von Spranger, der damit die Voraussetzungen des „Verstehens" als geisteswissenschaftlicher Grundkategorie bezeichnet. „Der Angelpunkt des Verstehens liegt ... in der Wertgesetzlichkeit des Geistes. Verstehen heißt in die besondere Wertkonstellation eines geistigen Zusammenhanges eindringen" (Spranger, Lebensformen, S. 413); vgl. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 224. 225
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risch aufgegebenen Wesen des Staates die Integration zur Wirklichkeit 2 2 9 . Der Staat enthält „zwei Elemente aus verschiedenen Welten als Momente in sich" 2 3 0 , das zeitlich reale Element, das in den sozialen Beziehungen der Bürger zutage tritt, und das Element des ideell-zeitlosen Sinnes. Die Zusammenordnung dieser Momente darf nur dialektisch verstanden werden. Jeder vitale geistige Austausch führt zum zeitlosen Sinn, den er zugleich voraussetzt. Als geistiges Wesen ist der einzelne nicht denkbar ohne den dauernden Zusammenhang mit anderen Menschen und deren Sinn- und Wertstreben. Da der Staat sich aus den einzelnen aufbaut, ist er eine Synthese von realem Handeln und Erleben und den vorgefundenen Handlungs- und Erlebniszielen. Der staatskonstituierende „Lebensvorgang" 231 der Integration gelangt zur Wirklichkeit, wenn er als reales Geschehen der objektiv aufgegebenen Wertgesetzlichkeit folgt. Integration versteht Smend aus diesem Grund „unvermeidlich bald mehr intransitiv als Erlebniszusammenhang, bald mehr transitiv als Tätigkeit oder Wirkung der diese Realisierung des Staates tragenden Faktoren" 2 3 2 . An dieser Stelle ist ein Mißverständnis klarzustellen, das, im Anschluß an die Untersuchungen Hans Mayers, die Smend-Interpretation beherrscht. Hans Mayer hat die Integrationsbetrachtung des Staates als den Versuch Smends gedeutet, aufbauend auf der Erklärung des Staates als geschlossener Kreis den spezifischen Vorgang zu erklären, der den Staat von allen anderen denkbaren geschlossenen Kreisen unterscheidet 233 . Diesen Versuch sieht Mayer als fehlgeschlagen an: „Dazu ist zunächst zu sagen, daß der Integrationsprozeß an sich zwar einen lebendigen sozialen Prozeß darstellt, daß aber ein besonderer Charakter des Staatlichen dem Vorgang der Integration nicht ohne weiteres aufgeprägt i s t " 2 3 4 . Diese Feststellung, von Mayer als Vorwurf gegen die Integrationslehre gemeint, würde Smend aber gar nicht bestreiten. Integration ist tatsächlich ein Strukturprinzip jeder Gruppenbildung, dasjenige, was die geistige Wirklichkeit einer Mehrheit von Menschen ausmacht und sich deshalb als „notwendiges M i n i m u m " 2 3 5 auch im Staat auswirkt. Gerade aus diesem Grund behauptet Smend, daß in der Integration „der Angelpunkt des Staatlichen im Bereich der Wirklichkeit" 2 3 6 liege. Der Angelpunkt bezeichnet nicht den 229
Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 139. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 138; hierzu Poeschel, S. 43 f. 231 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 141, 159; ders., Art. Integration, S. 483 f. 232 Smend, Art. Integrationslehre, S. 476. 230
233
H. Mayer, Die Krisis, S. 52ff.; ihm folgend Heller, Staatslehre, S. 187; Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 195; Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 72; Zech, Die Rechtfertigung des Staates, S. 51. Vgl. auch C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 207, der der Kategorie der Integration zwar die Tauglichkeit zuspricht, einen politischen Vorgang zu erfassen, jedoch bestreitet, daß sie ein spezifisch staatliches Prinzip bezeichne. 234 H. Mayer, Die Krisis, S. 52. 235 So Poeschel, S. 52. 236 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 137. *
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spezifischen Charakter des Staates, sondern die Verbindungslinie zu anderen Bereichen geistiger Wirklichkeit. Smends Schriften sind häufig vieldeutig, an dieser Stelle aber nicht. „Die Integration ist ein grundlegender Lebensvorgang aller gesellschaftlichen Gebilde" 2 3 7 . Staatslehre und Staatsrechtslehre haben es mit einem „Teil" 2 3 8 der geistigen Wirklichkeit zu tun. Die Sonderstellung des Staates liegt in einer Besonderheit seines Integrationsvorganges. Die Integration des Staates wird nicht durch eine außer ihm liegende Macht gewährleistet 239 , insbesondere nicht durch das Recht. Das ist eine Konsequenz des Versuchs Smends, den Staatsbegriff geisteswissenschaftlich verstehend ohne Berücksichtigung des Rechts zu bestimmen. Die Integration aller übrigen Gruppen ist dem freien Belieben überlassen oder wird durch das Recht gewährleistet, in einem privaten Verein etwa durch das Vereinsrecht mit der Möglichkeit, eine verbindliche gerichtliche Entscheidung über eine Streitfrage der Mitglieder herbeizuführen 240 . Im Staat bestehen solche heteronome Garantien der Gemeinschaftserhaltung nicht. Er ist zwar als überempirischer Sinn aufgegeben, in seiner faktischen Verwirklichung aber auf die Anstrengungen der Staatsbürger angewiesen. Die Gravitation des staatlichen Integrationsprozesses ruht in sich selbst 241 . Geisteswissenschaftliches Verstehen berücksichtigt mögliche Garantien des Sozialverbandes Staat nicht. Diese klare Einordnung staatlicher Wirklichkeit als prekärer Wirklichkeit relativiert Smend jedoch mit der Forderung, nicht nur das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, sondern auch den Zusammenhang von Sinnordnung und Verwirklichung als dialektisch bestimmt anzusehen. Damit verwischen sich die Grenzen zwischen dem von Smend behaupteten empirisch aufweisbaren Zusammenhang der Staatswirklichkeit und dem überempirisch aufgegebenen Wesen des Staates als ideeller Sinnordnung. Smend erklärt nicht, warum die staatliche Wirklichkeit eine Errungenschaft ist, die immer wieder durch Integrationsvorgänge gesichert werden muß, obwohl kraft des überempirischen Wesens des Staates diese Vorgänge „sich immer wieder von neuem automatisch zu einheitlicher Gesamtwirkung" 242 zusammenschließen. Zuweilen ist der Staat für Smend wirklich, zuweilen dagegen nur möglich. Lebt aber der Staat von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt, dann muß er seine Lebenswirklichkeit aus sich selbst heraus erzeugen, aus den realen staatlichen Integrationsvorgängen, ohne daß es verursachender überempirischer Zusammenhänge bedürfte. Das geisteswissenschaftliche Sollen des Staates und sein 237
Smend, Art. Integration, S. 483. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136, vgl. auch S. 192, wo die Konstituierung einer Versammlung als Integrierung zur Gruppe beschrieben wird. 239 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 195. 240 Smend, Art. Integrationslehre, S. 477; ders., Art. Integration, S. 483. 241 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 195; vgl. hierzu Poeschel, S. 48 ff. 242 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 171; vgl. auch die Kritik H. Mayers, Die Krisis, S. 50f. und v.Oertzens, S. 19. 238
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empirisches Sein gehen ein unklares Miteinander ein. Die späteren Äußerungen Smends haben an dieser Stelle zwar korrigierend angesetzt, jedoch keine Klärung bringen können. Das Postulat des Nebeneinanders der „zeitlichrealen" Existenz des Staates in seinen Lebensäußerungen und des „Anteils am Reich des ideell-zeitlosen Sinnes" 243 hat Smend lediglich in bezug auf den letzteren Bereich mit dem der evangelischen Ethik entnommenen Begriff des „Berufes" zu verdeutlichen und aus seiner einseitig philosophischen Begründung herauszulösen versucht. Der Staat, so heißt es später bei Smend, ist „unverfügbarer B e r u f des Menschen 244 ; das Staatsleben ist als Beruf „aufgegeben" 245 . Offen ist auch danach, wer diesen Beruf aufgegeben hat und warum dies so ist. Die im Staat wirksame Herrschafts-, Entscheidungs- und Ordnungseinheit bleibt bei Smend „kraft primärer Geistesgesetzlichkeit notwendig" 246 . Nach seinem eigenen Bekunden ist sie einer rationalistischen Rechtfertigung nicht zugänglich und nicht bedürftig. Die von Smend zunächst als praktisches Problem begriffene Gefahr der Fremdheit zwischen dem Staat und dem einzelnen, die sich in der Angewiesenheit staatlicher Wirklichkeit auf das Engagement des Staatsbürgers äußert, löst sich damit plötzlich auf: Dem Staat als Träger objektiver Wertgesetzlichkeit ist die Tendenz zur optimalen Verwirklichung durch Integrationsvorgänge immanent — „trotz aller Passivität und allen Widerstandes Einzelner und ganzer Gruppen, ja überwältigender Mehrheiten" 247 . Diese Feststellung überrascht, schließlich hatte Smend bei der Begründung staatlicher Wirklichkeit durch Aufbau in und aus den einzelnen die bewußte Aktivität des Bürgers in den Vordergrund gerückt. Integration ist also nicht nur ein Prozeß beständiger Erneuerung, sondern ein den einzelnen zwingend ergreifender Vorgang 248 . 243
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 138. Smend, Bürger und Bourgeois, S. 315. 245 Smend, Staat und Politik, S. 369; ders., Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 500ff., insbes. S. 508; ders., Art. Staat, S. 524. Zu der theologischen Staatsethik lutherischer Theologen der zwanziger Jahre und zu den Übereinstimmungen mit den Grundlagen der Staatslehre Smends vgl. jetzt Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, S. 186 ff. 240 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 196. Insofern hat das von Kelsen, Der Staat als Integration, S. 33, vernichtend gemeinte Wort seine Berechtigung, Smend sei „seiner innersten Natur nach ein Staatstheologe". Ungleich positiver bewertet Scheuner, FS Smend (1952), S. 436, die von Smend nicht näher beschriebene überempirische Vorgegebenheit des Staates. Gerade deshalb sei für Smend der Staat nicht nur eine „formale Einheit", sondern eine Kraft, mit der sich „bleibende Werte und hohe sittliche Forderungen verbinden". 244
247
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 171. Vgl. hierzu die Bemerkungen von C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26; ferner ders., Hugo Preuß, S. 21: Das Prinzip der Integration bestehe darin, daß das deutsche Bürgertum nicht mehr in einen bestehenden Staat hineinintegriert werde, sondern daß sich der Staat selbst integriere. Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 80, meint kritisch: „Nicht die Individuen integrieren den Staat, sondern der Staat integriert die Individuen". 248
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Damit wird das durch Integration geschaffene Einheitsgefüge in doppelter Weise überschätzt: Der geschlossene Kreis der Staatsbürger läßt die Einordnung des einzelnen in den Staat in harmonischer Weise zu einer „existenziellen Identifikation" 2 4 9 geraten; die einmal geschaffene Gemeinschaft ist sodann in der Lage, auch widerstrebende Individuen zu integrieren. Die Integrationslehre ist die Lehre von einer vorgegebenen Gemeinschaft: Trotz des Aufbaues in und aus den einzelnen steht der Staat dem Zugriff des einzelnen Staatsbürgers nur sehr eingeschränkt offen. Dem Menschen als Gemeinschaftswesen ist es unverfügbar aufgegeben, in Staaten zu leben; soweit die Staatslehre wirklichkeitswissenschaftliche Analyse ist, hat sie empirisch die Erfüllung dieses Auftrages nachzuzeichnen250. Diese Beschreibung bedeutet Beschreibung der Integrationsvorgänge. Die volle Bedeutung der Integration kann deshalb erst ein Schema der empirisch aufweisbaren Integrations Vorgänge ergeben. cc) Die empirisch aufweisbaren
Integrationsfaktoren
Smend konzentriert aus diesem Grunde die weitere staatstheoretische Grundlegung von Verfassung und Verfassungsrecht darauf, die empirischen Faktoren aufzuzeigen, die zur Verwirklichung des Staates als realem Sozialgebilde, als „Integrationssystem" 251 , zusammenwirken. Unter diesen einheitsbildenden Faktoren stellt Smend drei Typen heraus: die persönliche, die funktionelle und die sachliche Integration 252 . Diese Typen sollen als idealtypische Abstraktionen verstanden werden, die in reiner Form in der Wirklichkeit nicht auftreten; erst in ihrem gleichzeitigen Zusammenwirken konstituieren sie den Staat. Das Gemeinsame der empirischen Integrationsfaktoren besteht darin, daß sie verständlich machen sollen, wie alle scheinbar nur technischen Einrichtungen des Staates zugleich den Sinn haben, die lebendige Einordnung in die staatliche Wirklichkeit „anzuregen und zu gewährleisten" 253 . Die persönliche Integration beschäftigt sich mit den Problemen der staatlichen Führung, der Repräsentation und mit der Herstellung staatlicher Einheit durch die integrierende Wirkung von Personen der Staatsleitung. M i t den Begriffen der überkommenen Staatsrechtslehre spräche man von einer Lehre der Staatsorgane. In Smends Lehre rückt jedoch der Gesichtspunkt der konkreten Amtsträger in den Vordergrund. Die Hauptaufgabe dieser Personen erblickt Smend nicht in der technischen Bewältigung von Regierung und Verwaltung, sondern darin, sich als Führer der von ihnen Geführten zu bewähren 254 . Darin 249
So v.Oertzen; zustimmend aufgenommen von Smend, Art. Integrationslehre, S.
480. 250
Vgl. Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 191. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 170. 252 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 142ff.; vgl. hierzu Bartlsperger, lOff., 17 ff. 253 Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 505. 254 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 144. 251
S.
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
135
besteht ihre eigentliche „Berufsleistung". „Es gibt kein geistiges Leben ohne Führung — am wenigsten im Bereich der Bildung und Normierung von kulturellem Gemeinwillen" 255 . Für die Staatshäupter kommt eine zusätzliche Aufgabe hinzu: Der Sinn ihrer Stellung ist es, Symbol der Einheit des Staatsvolkes zu sein 256 . Unter die funktionellen Integrationsfaktoren faßt Smend die kollektivierenden Lebensformen. Es handelt sich um „Vorgänge, deren Sinn eine soziale Synthese ist, die irgendeinen geistigen Gehalt gemeinsam machen oder das Erlebnis seiner Gemeinsamkeit verstärken wollen" 2 5 7 . Hierzu gehören etwa Wahlen, Abstimmungen, parlamentarische Verhandlungen, Kabinettsbildungen oder Demonstrationen, vor allem also Vorgänge der staatlichen Willensbildung. Ihre Wirkung ist eine doppelte: Sowohl das Leben der Gemeinschaft als auch des einzelnen werden gesteigert und bewußt gemacht. Besondere Bedeutung gewinnt die funktionelle Integration dadurch, daß die säkularisierten modernen Staaten sich nicht mehr auf eine gewachsene und unproblematische Wertegemeinschaft berufen können. Der Bürger des demokratischen Zeitalters wird stattdessen durch formale Vorgänge, durch die „plebiszitären Lebensformen des Massenstaates"258 integriert. In diesem Zusammenhang finden sich dann Ansätze zu einer integrationstheoretischen Erklärung des parlamentarischen Staates. So bemerkt Smend, daß im parlamentarischen Staat das Volk sein Dasein als politisches Volk gerade immer wieder in den Vorgängen der Willensbildung erfährt 259 . Der Sinn des Parlaments liegt in der durch seine Verfahrensweisen erzielten „bestimmten politischen Gesamthaltung" 260 . Die Parlamentarismuskritik Carl Schmitts, nach der die mit „Diskussion" und „Öffentlichkeit" zu bezeichnenden Prinzipien des klassischen Parlamentarismus in der identitären Demokratie nur als liberale Antiquiertheiten erscheinen können 2 6 1 , weist Smend daher zurück. Der politische Kampf, sofern alle an ihm teilhaben, er nach festen Regeln ausgeführt und nicht im Wege der Obstruktion unterlaufen wird, verstärkt das Erlebnis der Einheitsbildung; er führt zur „wohltuenden Entladung von Spannungen" 262 . Zudem könnten die verfassungsmäßig vorgesehenen politischen Kämpfe und parlamentarischen Auseinandersetzungen verhindern, daß bestimmte Volksteile in eine dauernde Minderheitsstellung geraten. Unter der dritten Gruppe der Integrationsfaktoren, den sachlichen Integrationsfaktoren, versteht Smend diejenigen Werte, in deren Namen ein Volk einig 255 256 257 258 259 260 261 262
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 143. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 145. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 149. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 172. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 155. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 154f. C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 35 ff. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 151.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
sein will und seine Homogenität findet. „Vermöge des Erlebnisses dieser Wertfülle oder einzelner Momente daraus als Wesenselemente des Staates selbst erlebt man den Staat, wird man staatlich integriert" 263 . Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß der einzelne die Totalität des sachlichen Lebens der Staatsgemeinschaft nicht übersehen und nicht erfassen kann. U m vom einzelnen erlebt zu werden, bedarf es der Repräsentation der staatlichen Werte in Symbolen, in Fahnen, Wappen, politischen Zeremonien, aber auch in den Staatsoberhäuptern, besonders den Monarchen. Diese Symbole schaffen den Erlebniszusammenhang der Staatsangehörigen und verstärken ihre gegenseitige Bindung — Smend konstatiert eine „Verwandtschaft zwischen der Integrationsbindung an den Staat und der religiösen an die Gottheit" 2 6 4 . Der Bereich der sachlichen Integration gehört in historischer Einordnung zu der Lehre von den staatlichen Zwecken und Aufgaben. Sie sind für Smend sachliche Momente des staatlichen Integrationsprozesses 265, keine im Sinne der bisherigen Staatslehre dem Staat äußerlich auferlegten Zwecke, denen er als Mittel zu dienen hat. „So ist auch der Staat nicht ein reales Wesen an sich, das dann als Mittel benützt würde, um außer ihm liegende Zwecke zu verwirklichen. Sondern er ist überhaupt nur Wirklichkeit, sofern er Sinnverwirklichung i s t " 2 6 6 . Durch teleologische Beziehungen auf außer ihm liegende Zwecke ist der Staat nicht zu erklären und zu rechtfertigen. 6. Die Integration des Staates als Begriff des Politischen a) Die gegenseitige Erklärung von Staat und Politik durch Smend
Die bisherige Darstellung der Integrationslehre hat den in einer späten Zusammenfassung seiner Lehre formulierten Anspruch Smends erwähnt, im „Chaos des kranken Verfassungsstaates der 1920er Jahre" 2 6 7 eine Staatstheorie formuliert zu haben, welche die Voraussetzungen und Möglichkeiten staatlicher Einheitsbildung in diesem Staat zu ihrem zentralen Gegenstand erhob. Die geisteswissenschaftliche Grundlegung der Staatstheorie durch Smend zeigt hierzu die allgemeinen Voraussetzungen auf. Sie ist die ganz abstrakte Theorie der geistig-sozialen Wirklichkeit des Staates, die in polemischer Auseinandersetzung mit der Staatslehre Kelsens entwickelt worden ist. Derjenige Teil der Integrationslehre, in dem das Thema staatlicher Einheitsbildung als praktischpolitisches Problem ganz in den Vordergrund rückt, wurde bislang nur am Rande angesprochen.
263 264 265 266 267
Smend, Smend, Smend, Smend, Smend,
Verfassung und Verfassungsrecht, Verfassung und Verfassungsrecht, Verfassung und Verfassungsrecht, Verfassung und Verfassungsrecht, Art. Integrationslehre, S. 481.
S. S. S. S.
162. 164 Fn. 15. 165. 160.
II. Die staatstheoretische Grundlegung der Integrationslehre
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Es handelt sich darum, daß Smend den Begriff der Integration ausdrücklich als Begriff des Politischen verstanden wissen möchte 268 . Die theoretisch gewonnene Begrifflichkeit wird zum Kriterium politischen Handelns und Verhaltens 269 . Die damit eröffnete Beziehung zwischen Staat, Integration und Politik soll im folgenden näher untersucht werden. Im Hinblick auf die Bundesstaatslehre Smends ist das deshalb geboten, weil Smend den Bundesstaat als ein Integrationssystem besonderer Art begreift, dessen zentrales Problem darin besteht, ob die staatliche Organisation in der Form des Bundesstaates in einer bestimmten geschichtlichen Situation ein sinnvolles politisches System sein kann 2 7 0 . Im Bundesstaat stellt sich hiernach in verstärkter Weise die Frage staatlicher Einheitsbildung. Neben der Festlegung ihrer Bedingungen überhaupt bedarf es der Rechtfertigung dafür, daß der staatliche Lebensprozeß sich in der Zusammenordnung einer Vielzahl von Staaten vollzieht, anstatt auf die einfachste staatliche Organisation des Einheitsstaates zurückzugreifen. Es überlagern sich zwei Integrationssysteme, der Aufbau des Staates aus den einzelnen Staatsangehörigen und der Aufbau des Bundesstaates aus der Zusammenordnung von Gesamtstaat und Einzelstaaten. An dieser Stelle geht es jedoch zunächst nur um die grundlegende Frage nach der Integration als Begriff des Politischen und der staatlichen Einheitsbildung überhaupt. Die Begründungsschritte für die Entfaltung der Integration als Begriff des Politischen fallen denkbar knapp aus: Die Integration ist der „Kernvorgang des staatlichen Lebens". In ihm schließt sich der Staat immer wieder zur Einheit zusammen, getragen durch die Abläufe der ihn konstituierenden Handlungen und das Bewußtsein der Sachgehalte, welche die Staatsbürger verbinden. Die empirisch aufgezeigten Integrationsfaktoren sind unter dem Gesichtspunkt der einigenden Wirkung, des „Gemeinschaftszieles" und der „Integrationswirk u n g " 2 7 1 politische Vorgänge. Als Kreis der Politik ist der Bereich zu bezeichnen, in dem der Staat „sich und sein Wesen bestimmt und durchsetzt" 272 . Die Bereiche der Integrationsvorgänge und der politischen Vorgänge eines Staates fallen zusammen. „Das sozusagen freischwebende System der Integrationsfaktoren hat immerfort die Grundlage des staatlichen Lebens zu gewährleisten. Darin liegt inhaltlich sein politischer Charakter" 273 . Der Begründungsschritt Smends besteht also darin, den Begriff des Politischen aus dem des 268 So bereits Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, S. 79; ders., Verfassung und Verfassungsrecht, S. 176ff., 199,218 ff., 238; ders., Art. Integrationslehre, S. 477; vgl. Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 25, 194ff.; Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 77. 269 Badura, Die Methoden, S. 199, spricht von der „Politisierung der Staatslehre". 270 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 225. 271 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 159. 272 Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, S. 79. 273 Smend, Art. Integrationslehre, S. 477.
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Staatlichen abzuleiten und umgekehrt. Das Politische ist stets auf den Staat bezogen. Außerhalb dieser Relation findet sich nichts Politisches 274 . Bereits hieraus ist immer wieder gegen die Integrationslehre der Einwand abgeleitet worden, sie beruhe mit ihrer Erklärung des Politischen auf einem unzulässigen Zirkelschluß 275 . Die Feststellung eines Zirkelschlusses ist sicherlich zutreffend, trifft jedoch die Integrationslehre nicht in ihrem Kern, denn die Identifizierung der Bereiche von Staat und Politik ist für eine politische Theorie nichts Ungewöhnliches 276 . Zur Begründung eines Einwandes gegen die Integrationslehre genügt die Feststellung, Staat und Politik würden durch gegenseitige Verweisung erklärt, nur auf der Grundlage eines ausschließlich juristischen, von Smend als „statisch" 277 bezeichneten Staatsbegriffes, den die Integrationslehre gerade zugunsten einer „dynamischen" Betrachtungsweise überwinden will. Wird unter dem Staat als Gegenstand der Staatsrechtslehre im Sinne der Auffassung Labands die durch begriffliches Denken konstruierte juristische Person verstanden, dann können tatsächliche politische Vorgänge keine Aufnahme in den Staatsbegriff finden. Staatliche Rechtsverhältnisse tragen nicht zur Klärung des Politischen bei 2 7 8 . In polemischer Entgegensetzung zu diesem Staatsbegriff ist Smend jedoch der Ansicht, daß der Staat als existentiell notwendige Lebensform begriffen werden muß, die nur durch die Lebensäußerungen der Staatsbürger hervorgebracht wird. Der Staat existiert, wenn die Staatsbürger ihn bejahen 279 . Die häufig kritisierte gegenseitige Erklärung der Begriffe Staat und Politik sieht die Integrationslehre gerade als notwendig an: „Das politische Leben ... ringt um Lebensmöglichkeiten und Leben des Staates überhaupt... Es geht im Staat nicht nur um sein Werk, sondern vor allem auch um sein Wesen, seins und das aller, die an ihm Anteil haben. Und theoretisch gewendet: er ist nicht ein Instrument, das zu Zwecken verwendet würde — das ist ein falscher Ontologismus und zugleich ein falsches Kausalitätsdenken —, sondern er ist in seinem Wesen identisch mit seiner Sinnverwirklichung — er gestaltet und realisiert in seinem Tun zugleich sich selbst und alle zu ihm Gehörenden, nicht nur in seiner ausdrücklichen Selbstgestaltung, etwa in seiner Verfassungs- und Machtpolitik, sondern in seiner Tätigkeit, in seinem Leben 274 So die treffende Beschreibung Bilfingen, Zeitschrift für Politik 18 (1928), S. 286. Ablehnend zu dieser Relation Rohatyn, Zeitschrift für öffentliches Recht IX (1930), S. 275. 275 Etwa Koellreutter, Integrationslehre und Reichsreform, S. 7; Quaritsch, Staat und Souveränität I, S. 21. 276 Vgl. die begriffsgeschichtlichen Ausführungen von Sellin, Art. Politik, in: Geschichtliche Grundbegriffe IV, S. 865 ff.; ferner Sternberger, Begriff des Politischen, S. 14 ff., 16, 19. 277 Smend, Art. Staat, S. 520. 278 Auch Georg Jellinek versuchte, innerhalb seines sozialen Staatsbegriffes die Politik auszuklammern und der Lehre von der Politik ein eigenes Arbeitsfeld jenseits der Staatslehre zuzuweisen (G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 13, 15, 21). 279 So die Charakterisierung der Position Smends durch Draht, EvStL, Art. Staat, Sp. 2463.
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überhaupt" 280 . Staatstheorie muß deshalb, will sie ihre Aufgabe nicht verfehlen, politische Theorie sein, verstanden als die Lehre von der Gestaltung menschlichen Zusammenlebens unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen. Die Integrationslehre weist den Versuch zurück, abstrakte Bestimmungen je für Staat und Politik finden zu wollen. In ihrem Ansatz umfaßt sie die Forderung nach Klärung der historischen Situation. Konsequent weitergedacht führt das dazu, daß die Staatstheorie eine Stellungnahme zu der politischen Situation enthalten muß 2 8 1 — Staatstheorie ist als wertfreie Wissenschaft nicht möglich, sondern zu ihrem Teil verantwortlich für Gestaltung und Existenz des Staates. Aus der korrelativen Zuordnung von Staat und Politik ergeben sich weitere Folgerungen. Wenn die staatlichen Integrations Vorgänge solche der Einheitsbildung „in und aus den Einzelnen" 282 sind, dann gilt diese Bestimmung vom Ziel eines Verhaltens her auch für die Politik. Politik kann in ihrem Wesen nicht die mit dem Mittel der Herrschaft ausgeübte Leitung eines als bestehend vorausgesetzten Staates sein 283 , sondern überhaupt erst Begründung des Staates. Politik ist der Inbegriff aller Handlungen und Prozesse, durch die sich ein Volk als Willenseinheit konstituiert und erhält. Daraus folgt, daß Smends Verständnis der Politik ein formales ist 2 8 4 . Vom Inhalt des politischen Handelns wird abstrahiert; es kommt allein auf die einheitsbildende Wirkung als das Ziel aller politischen Vorgänge an. Die Integration als Korrelatbegriff ist eine inhaltsfreie Kategorie. Smend selbst hat die sachliche Indifferenz seines Politikbegriffes betont. Als Charakteristikum aller politischen Aktionen hebt er ihre Objektlosigkeit hervor 2 8 5 : politische Aktionen erschöpften sich darin, eine einheitliche Willensrichtung für das staatliche Leben herauszubilden 286 . Willensbildungs280
Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 504f., hier in deutlicher Entgegensetzung zu Max Weber, wenngleich dessen Name unerwähnt bleibt. Max Weber ging davon aus, daß sich der Staat nicht am Inhalt dessen definieren lasse, was er tue, sondern durch das ihm eigentümliche Mittel der legitimen physischen Gewaltsamkeit bestimmt sei. „Wenn nur soziale Gebilde beständen, denen die Gewaltsamkeit als Mittel unbekannt wäre, würde der Begriff,Staat 4 fortgefallen sein..." (Max Weber, Staatssoziologie, S. 27). 281 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 121 ff.; ders., Das Problem der Presse, S. 380; ders., Staat und Politik, S. 375. Die scharfe Kritik der Kelsen-Schule hieran stellte sich prompt ein: „Wer innerhalb des wissenschaftlichen Arbeitens auf die politische Gestaltung des Staates hinzielt, hat den die abendländische Kultur beherrschenden Wissenschaftsbegriff eines zweckfreien Zusammenhanges verlassen" (Rohatyn, Zeitschrift für öffentliches Recht I X (1930), S. 262). 282 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 138. 283 So die Bestimmung des Politischen bei Max Weber, Politik als Beruf, S. 7. 284 Vgl. etwa Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, S. 55; Sellin, Art. Politik, in: Geschichtliche Grundbegriffe IV, S. 872. Anders Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 195, der zu Unrecht in den Integrationsarten „sehr konkrete, auf den Staat bezogene Inhalte" entdecken will, die das Verständnis Smends von Politik inhaltlich ausgestalteten. 285 Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, S. 80. 286 Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, S. 80.
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prozesse innerhalb des Staates schaffen die „jeweilige politische Individualität des Volksganzen" 287 — über den sachlichen Inhalt der auf diese Weise entstehenden Individualität läßt sich nichts sagen. Smend geht aber noch einen Schritt weiter. Bestimmte sachliche Entscheidungen sind nur „vordergründ i g " 2 8 8 der Sinn der Willensbildungsprozesse; deren eigentliches Ziel bleibt, auch wenn Entscheidungen getroffen werden, die „Herbeiführung politischer Gesamthaltung und aktiver Gemeinschaftswirklichkeit" 289 . Auch wenn Smend von der sachlichen Wertgemeinschaft spricht, die durch die Homogenisierung der politischen Grundvorstellungen entsteht, so kommt es doch nur auf die „Wertgemeinschaft überhaupt" 2 9 0 an, nicht auf das Bekenntnis zu bestimmten Werten. Die weitere Untersuchung des Integrationsbegriffes ist deshalb auf die Frage verwiesen, durch welche näheren Merkmale die formalen Vorgänge der Einheitsbildung nach Smends Auffassung ausgezeichnet sind, worin die integrierende Wirkung politischer Vorgänge besteht. Exakte Antworten darauf finden sich im Werk Smends allerdings nicht. Erst aus verstreuten Einzelbemerkungen läßt sich die nähere Vorstellung Smends von dem Ablauf politischer Vereinheitlichungsvorgänge erschließen. Einschlägig ist vor allem die Beschreibung der funktionellen Integrationsfaktoren, denn sie zielen am unmittelbarsten auf die „Herstellung, Fortbildung, Erneuerung der politischen Gemeinschaft durch Meinungs-, Gruppen-, Partei- (und) Mehrheitsbildung" 291 . Die einheitsstiftende Wirkung funktioneller Integration beruht also auf der Vergemeinschaftung individueller Willen durch Auseinandersetzung, die sich äußert in „einer wohltuenden Entladung von Spannungen, einer Katharsis, ähnlich wie beim Ausgang eines Spieles ... unabhängig von der Genugtuung über ein sachlich richtiges Ergebnis" 292 , unabhängig aber auch „von der Befriedigung über die Herstellung und Bewährung der formalen Einheit" 2 9 3 . Das bedeutet: Nicht nur die Ergebnisse der integrierenden Funktionen sind für die Integration unwichtig, auch auf das nähere was oder wie der politischen Vorgänge kommt es nicht an. Politik ist ein „ K a m p f 2 9 4 , der bereits dann integriert, wenn und soweit jeder die Möglichkeit hat, an ihm teilzunehmen oder auch nur von ihm erfaßt zu werden. Deutlich wird das etwa an der Einschätzung Smends, worin der Sinn der 287 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 154, vgl. auch S. 177: Politik ist „Selbstgestaltung der staatlichen Individualität, d.h. Integration", S. 178: „Bei der Rheinfrage handelt es sich weniger um die Rheingrenze als um die Gesamtgeltung des deutschen und des französischen Volkes". 288 Smend, Art. Integrationslehre, S. 477. 289 Smend, Art. Integrationslehre, S. 477. 290 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 154. 291 Smend, Art. Integrationslehre, S. 477. 292 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 151. 293 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 151. 294 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 156.
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Beratung und des Zustandekommens eines förmlichen Parlamentsgesetzes besteht. Allein wesentlich ist für die Integrations Wirkung die Auseinandersetzung, die dem Beschluß des Gesetzes vorangeht. Dagegen ist es für Smend unerheblich, ob ein Beschluß überhaupt zustandekommt oder ob das Parlament sachlich gute Beschlüsse faßt. Der „letzte Sinn" des Parlamentsstaates liegt vielmehr darin, „daß die parlamentarische Dialektik innerhalb des Parlaments und in dem miterlebenden Staatsvolk Gruppenbildung, Zusammenschluß, Bildung einer politischen Gesamthaltung herbeiführt" 295 . Die schlichte psychologische Tatsache des Miterlebens aller Beteiligten in aktiver oder passiver Weise ist also das Entscheidende des politischen Vorgangs. Interessant ist allerdings, daß Smend im Widerspruch hierzu die Integrationswirkung der parlamentarischen Verhandlung dann in Frage gestellt sieht, wenn einige Beteiligte die Regeln des politischen Kampfes nicht anerkennen oder mit dem Gesetz als Ergebnis der parlamentarischen Willensbildung nicht einverstanden sind, obwohl es für die Integrationswirkung nur auf die Beteiligung als solche ankommen soll. „Die Wirksamkeit ... jeder ... integrierenden Funktion hängt von zwei Momenten ab: davon, daß ihr Prinzip (hier das der Mehrheit) überhaupt integrierende Kraft, und daß es diese Kraft für das ganze Staatsvolk hat. Daß es diese Wirkung hat, wird bedingt durch eine vom politischen Kampf nicht in Frage gestellte Wertgemeinschaft, vorbehaltlich deren dieser Kampf geführt wird, die diesem Kampf selbst Regeln und den Sinn gibt, eine Funktion integrierenden Gruppenlebens zu sein ... Die zweite Voraussetzung sinngemäßer Integrationswirkung des Verfassungslebens ist die Beteiligung aller daran. Wenn Staat und Staatsform ebenso wie das Recht von der Anerkennung der ihnen Unterworfenen leben, so wird sich diese Anerkennung des Staates dadurch vollziehen, daß der Einzelne sich der Auswirkung der wesentlichsten Integrationsfakoren unterwirft" 2 9 6 . Unter diesen Umständen allerdings drängt sich die Frage auf, ob Smend nicht den politischen Vorgängen letztendlich die Möglichkeit der Vergemeinschaftung durch integrierende Wirkung völlig genommen hat. Wenn der politische Kampf eine Wertgemeinschaft schon voraussetzt, die er nicht in Frage stellen darf und die dem Kampf seine Regeln vorgibt, dann setzt er das schon voraus, was er nach Smends Auffassung doch erst bewirken soll, nämlich eine vollständig integrierte Gemeinschaft. Die Integrationswirkung ist abhängig von „gesunden politischen Verhältnissen" 297 , die aber auch am Ende der Integrationsvorgänge als von ihnen bewirkt stehen sollen. Die Integrationswirkung politischer Aktionen für die Bildung des Staates müßte sich in ein Nichts auflösen. Dieses Ergebnis wäre nur dann vermeidbar, wenn Smend der Auffassung wäre, daß die Gemeinschaft, die durch politisches Handeln geschaffen werden soll, von der verschieden ist, 295
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 154f. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 155 f. 297 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 151. Vgl. hierzu auch Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes, S. 129; Göldner, S. 10, 19, 29. 296
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die für dieses Handeln vorausgesetzt wird. Die Gemeinschaft, die der politische Kampf stiftet, könnte fester verbunden, stärker integriert sein. Dann allerdings bleibt immer noch die Frage, auf welche Weise die am Anfang vorausgesetzte Gemeinschaft zustande gekommen ist, die dann durch Integration fester verbunden wird. Nur wenn diese Ausgangslage bekannt wäre, könnte dann die integrierende Wirkung des politischen Kampfes bestimmt werden. Die Integrationslehre allerdings beschreibt eine Ausgangslage, in der die Integrationsvorgänge einsetzen, nicht. Von ihrer grundlegenden Aussage her, daß die staatliche Gemeinschaft sich ständig neu aufbaut, dieser Vorgang sich in jedem Moment neu vollzieht, kann die Integrationslehre gar nicht in der Lage sein, Steigerungen im Integrationsgrad des Staates festzustellen. Wenn das Wesen des Staates nicht allein Integration, sondern dauernde Integration ist 2 9 8 , dann ist ihre Betrachtung punktuell, nur auf den Moment der Einheit gerichtet. Für die Integrationslehre ist der Staat keine statische Substanz, die als „ruhendes Ganzes" Staatsakte von sich ausgehen läßt, sondern überhaupt nur existent in diesen „Lebensäußerungen" 299 . Für die Feststellung der Integrationswirkung beläßt es Smend bei der etwas unklaren Feststellung: „ I m politischen Kampf wirkt sich die soziale Wertgesetzlichkeit des Geistes am unmittelbarsten aus" 3 0 0 . Die „Besonderheit" der integrierenden Vorgänge besteht allein darin, daß sie „Erneuerungsprozesse" 301 des Sinngehalts sind, der den sachlichen Inhalt der staatlichen Gemeinschaft bereits bildet. Eine begriffliche Differenz zwischen der vorausgesetzten Gemeinschaft und der Gemeinschaft, die durch erneute Integrationsvorgänge geschaffen wird, besteht nicht. Dann aber ist der politische Kampf, der zur Gemeinschaftswirkung innerhalb des Staates führen soll, völlig sinnentleert. Er ist ein spielerischer Umweg 3 0 2 , der die vorausgesetzte Gemeinschaft nicht antasten und verändern darf. Smend selbst zieht den Vergleich zwischen dem politischen Kampf und dem Spiel: Das Erlebnis innerpolitischer Kämpfe sei ähnlich dem beim Ausgang eines Spieles 303 ; ebenso wie das Spiel setze die politische Auseinandersetzung die Einhaltung der „Spielregeln des Kampfes" 3 0 4 voraus — für den immerhin denkbaren Fall, daß sie nicht eingehalten werden, beläßt es Smend bei der Feststellung, daß dann die integrierende Wirkung eben ausbleibe. Eine ernsthafte Erörterung der Konsequenzen des Regelbruchs bezieht Smend damit nicht in seine Überlegungen ein. Versucht man, eine Zwischenbilanz der Ergebnisse zu ziehen, die Smends Inanspruchnahme der Integration als Begriff des Politischen zeitigt, so sieht sie recht ernüchternd aus. Die Integration, die zunächst als dynamischer Vorgang 298 299 300 301 302 303 304
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 135, 138, 171, 182. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 151. Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 150. Hierzu Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes, S. 130. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 151. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 155.
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und Produzent des Staatsaufbaues aus den einzelnen von Smend eingeführt wird, verwandelt sich in den statischen Zustand der bereits integrierten politischen Gemeinschaft, die mit dem Staat identisch ist. Es ist nicht die politische Auseinandersetzung, die integrierend wirkt, sondern die integrierte Gemeinschaft läßt diesen Kampf zu. Er ist ein Spiel für die gesunden politischen Verhältnisse 305 . Es zeigt sich, daß die Smend oft vorgeworfene Tendenz zur vorschnellen Harmonisierung des staatlichen Willensbildungsprozesses zu einem konfliktfernen Integrationsbild 306 tatsächlich ein Charakteristikum der Integrationslehre ist. Integration bedeutet eben „stetige Harmonisierung" 307 der Tätigkeit und Auswirkungen aller Integrationsfaktoren. Kennzeichnend ist auch die Bewertung von Wahlen und Abstimmungen bei Smend als „Endigungsformen" des „Kampfes mit Integrationstendenz" 308 . Hier stellt sich die Frage, ob Wahlen nicht vielmehr Momentaufnahmen in einem politischen Dauerkampf sind, die nicht eine Endigungsform darstellen, sondern angesichts der nachfolgenden Regierungs- und Oppositionsbildung die Aufgabe der politischen Gestaltung erst hervortreten lassen. Für eine abschließende Bewertung des integrativen Politikverständnisses soll im folgenden die andere Auffassung des Politischen zum Vergleich herangezogen werden, die in den zwanziger Jahren vom juristischen Standpunkt aus unternommen wurde. Es handelt sich um den Begriff des Politischen in der Staatslehre Carl Schmitts. b) Die Trennung von Staat und Politik im Begriff des Politischen bei Carl Schmitt
Der Einleitungssatz der Schrift „Der Begriff des Politischen" von C. Schmitt trifft die apodiktische Feststellung: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus" 3 0 9 . Bereits hiernach scheinen Berührungspunkte des integrativen Politikverständnisses mit der Lehre Carl Schmitts ausgeschlossen zu sein, denn dieser Satz besagt, daß das Politische nicht identisch mit dem Staat ist. 305 Zu Recht hat Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 66f., kritisiert, die Integrationslehre enthalte eine unzulässige Vereinseitigung der staatlichen Wirklichkeit und eine unzulässige Vereinheitlichung politischer Lebensvorgänge. W. Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit, S. 263, nennt die Integrationslehre deshalb eine „geisteswissenschaftliche Flucht in die Generalklausel der Staatsgemeinschaft". Kaum haltbar ist aus den genannten Gründen die Interpretation der Integrationslehre bei M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 13, der ihre Besonderheit darin erblickt, die politischen Gegensätze des demokratischen und parlamentarischen Staates zu bewältigen, „ohne seiner Heterogenität irgendein statisches Einheitskonzept entgegenzustellen". 306 V g l e t w a Heller, Staatslehre, S. 259ff.; Göldner, S. 73ff., 78; H. Mayer, Die Krisis, S. 86; v.Oertzen, S. 18 ff.; Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 68 f.; Vorländer, S. 288. 307 308 309
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 175. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 150 f. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 20.
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Die Relation beider Begriffe muß in anderer Weise als bei Smend bestimmt sein, für den Staat, Integration und Politik Wechselbegriffe sind. Wenn nach Schmitt die Vergewisserung über den Staat die Klärung des Politischen voraussetzt, das Politische der zentrale Begriff jeder Staatslehre ist 3 1 0 , dann ist das Politische zwar ein konstituierendes Merkmal des Staates, doch läßt sich diese Erklärungsreihe nicht umkehren. Anders als in der Integrationslehre können staatliche Vorgänge den Bereich des Politischen nicht erschöpfen. Angesichts dieser grundlegenden Differenz überrascht es deshalb nicht, wenn Smend die Schmittsche Prägung des Politikbegriffes „nicht für glücklich" 3 1 1 hält, ohne diese Bewertung jedoch näher zu begründen. Die Bestimmung des Politischen vom Staat her ist für Schmitt nur solange berechtigt, wie der Staat als eine „klare, eindeutig bestimmte Größe" 3 1 2 den nichtstaatlichen Gruppierungen der Gesellschaft gegenübersteht, sei es in der Weise, daß der Staat überhaupt keine Gesellschaft als Gegenspieler anerkennt, oder daß er wenigstens als stabile und unterscheidbare Macht über der Gesellschaft steht 313 . Ein solches unumstrittenes Monopol des Staates sieht Schmitt allein im klassischen europäischen Staat des 17. und 18. Jahrhunderts verwirklicht, dem es nach Beendigung der konfessionellen Bürgerkriege gelungen war, innerhalb des staatlichen Territoriums Ruhe, Sicherheit und Ordnung herzustellen. Innerhalb dieser geschlossenen Einheit Staat gab es nurmehr „Polizei und nicht mehr Politik" 3 1 4 . Das Monopol des Staates über das Politische bedeutete, daß politisch nur die Beziehung des nach innen befriedeten Staates zu anderen Staaten sein konnte. Wenn Staat und Politik identifiziert werden, dann ist für Schmitt Politik identisch mit Außenpolitik. Die Situation des 20. Jahrhunderts ist für ihn aber eine andere. Die Gleichsetzung von staatlich und politisch ist unrichtig geworden, weil Staat und Gesellschaft sich gegenseitig „durchdringen" 315 . An die Stelle der prinzipiellen Entgegensetzung von staatlicher Herrschaft und Volk ist die politische Partizipation der Gesellschaft im Staat getreten, die in einem „demokratisch organisierten Gemeinwesen notwendigerweise eintritt" 3 1 6 . Die bislang staatlichen Angelegenheiten werden zu gesellschaftlichen und umgekehrt die gesellschaftlichen zu staatlichen. In dieser Vermischung des Staates mit der Gesellschaft verliert der Staat sein politisches Monopol. Es wird erforderlich, den Begriff des Politischen staatsunabhängig, aus eigenständigen Kategorien zu gewinnen. Carl Schmitt führt ihn als eine Bewertungskategorie nach Analogie anderer Sachgebiete menschlichen Denkens und Handelns ein. Die eigenständige politische 310 311 312 313 314 315 316
C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 45. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 219 Fn. 11. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 23. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 24. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Vorwort 1963, S. 10. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 24. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 24.
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Kategorie ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie hat den Sinn, „den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen" 317 . Der Feind ist „der andere, der Fremde" 3 1 8 , mit dem im Extremfall Konflikte möglich sind, die weder durch eine feststehende generelle Normierung noch durch den Richterspruch eines unbeteiligten Dritten entschieden werden können. Die Freund-Feind-Gruppierung ist keine Anordnung nach irgendeinem antagonistischen Moment, sondern in einem konkreten, existenziellen Sinn der Gegensatz von Menschengesamtheiten, die der realen Möglichkeit nach gegeneinander kämpfen können 3 1 9 . A u f welchem sachlichen Grund die Kontroverse beruht, ist für den unmittelbaren politischen Gegensatz irrelevant; es handelt sich bei ihm lediglich um einen besonderen, nämlich den stärksten Intensitätsgrad der sachlichen Kontroverse: die politische Entscheidung ist in diesem Sinne unsachlich, weil sie kein eigenes Sachgebiet kennzeichnet 320 . Der Begriff des Politischen ist bei Schmitt ein formaler 321 , er ist abgeschnitten von jeder inhaltlichen Erfüllung. „Jedes Sachgebiet kann politisch werden, wenn aus ihm der Gegenstand einer Freund- und Feindgruppierung entnommen w i r d " 3 2 2 . Solche konkreten Gegensätzlichkeiten sind heute nicht mehr nur im Verhältnis der Staaten untereinander, sondern auch innerhalb des Staates möglich. Der Staat als organisierte und maßgebende politische Einheit ist potentiell vom Verfall bedroht. Es droht die Gefahr des Bürgerkrieges, wenn gesellschaftliche Kräfte den Staat überwältigen. Gleichzeitig besteht aber die Notwendigkeit staatlicher Einheitsbildung, denn der Staat kann nur als Einheit gedacht werden. „Die Leistung eines normalen Staates besteht darin, die gegensätzlichen Gruppierungen innerhalb seiner selbst zu relativieren und ihre letzte Konsequenz, den Krieg, zu verhindern" 323 . Das verlangt das Recht des Staates zur innerstaatlichen Feinderklärung gegenüber der politischen Gesellschaft 324 , die das Herrschaftssubjekt Staat bei Konflikten mit der Gefahr des Unterliegens einleiten muß, um sich selbst zu bewahren. Die politische Einheit ist zerfallen, wenn der Staat nicht mehr über die Kraft verfügt, die nach innen gerichtete 317
C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 27; ders., Hugo Preuß, S. 26 Anm. 1. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 27. 319 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 28 ff. 320 Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 32,37 f., 62; ferner ders., Kantstudien 35 (1930), S. 37: „Weil das Politische keine eigene Substanz hat, kann der Punkt des Politischen von jedem Gebiet aus gewonnen werden, und jede soziale Gruppe, Kirche, Gewerkschaft, Konzern, Nation, wird politisch und damit staatlich, wenn sie sich diesem Punkt der höchsten Intensität nähert". 321 So insbesondere die Interpretation bei v. Krockoxv, Die Entscheidung, S. 55 f.; ferner Sellin, Art. Politik, in: Geschichtliche Grundbegriffe IV, S. 873 f.; H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 116ff. Siehe auch V. Neumann, NVwZ 1985, S. 630. 322 C. Schmitt, Hugo Preuß, S. 26 Anm. 1. 323 C. Schmitt, Hugo Preuß, S. 26 Anm. 1. 324 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 46ff. 318
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Feinderklärung im erfolgreichen Kampf durchzustehen, „ . . . und das bedeutet eben latenten oder akuten Bürgerkrieg" 325 . In diesem Fall besteht die Möglichkeit, daß eine gesellschaftliche Gruppe sich des Staates bemächtigt und ihrerseits die neue Substanz der staatlichen Einheit bildet 3 2 6 . Die Freund-Feind-Theorie muß von hier aus noch einen Schritt weitergehen: Auch wenn der Staat aus dem Bürgerkrieg gestärkt hervorgeht, ist eine dauernde Befriedung nicht möglich. In den Randbereichen der staatlichen Einheit bleibt der versteckte Widerstand, der sich jederzeit zur offenen Rebellion verstärken kann, um dem Staat das Monopol des Politischen streitig zu machen. Der Prozeß der Freund-FeindGruppierung ist ewig und könnte nur durch die Eliminierung des Politischen beendet werden, was aber unmöglich ist 3 2 7 . Nach Carl Schmitt läßt sich also das Politische nur gewinnen, wenn die Destruktion des Staates, die Auflösung seiner politischen Einheit, als Möglichkeit einbezogen wird. Letztendlich stellt diese Theorie des Politischen den Staat zur Disposition 328 . Das Verbindende und Trennende zu Smend wird hier deutlich. Beiden geht es um staatliche Einheitsbildung durch politische Vorgänge. Schon dieses Thema ist als Gegenstand rechtswissenschaftlicher Abhandlungen auf dem Hintergrund der staatsrechtlichen Tradition des Kaiserreiches bemerkenswert. Dabei konstatiert Schmitt zwar einen Zustand, in dem der Staat das Monopol des Politischen verloren hat; der zu erstrebende Idealzustand bleibt aber die Übereinstimmung von Staat und Politik, wovon Smend als einer gegebenen, nicht weiter problematisierten Voraussetzung ausgeht. Jenseits dieser Übereinstimmung beginnen die Unterschiede in der Frage, wie die politische Einheit sich begründet. Schmitts Theorie will das Vorhandensein der politischen Einheit von außen her, von der erfolgreichen Abgrenzung zum existenziell anderem, dem Feind, bestimmen. Es ist ausschließlich der Ernstfall, der Kampf auf Leben und Tod, an dem die politische Einheit sich orientieren muß. Das ist ein Verständnis der politischen Gruppe, das ihr das Recht zur physischen Bedrohung anderer einräumt. Smend sieht im politischen Handeln allein das Vergemeinschaftungshandeln, das von innen heraus auf die Herstellung einer friedlichen Assoziation gerichtet ist. Die Integrationslehre ist Ausdruck eines Immanenzdenkens 329 , den „kritischen Fall der Auflösung der Einheit Staat" 3 3 0 problematisiert sie nicht. Der Staat ist eine friedliche, keine kämpferische Einheit, während in der FreundFeind-Unterscheidung der existenzielle Konflikt unausweichlich ist. Die Möglichkeit staatlicher Einheit umfaßt nach Schmitt heute die Eventualität eines 325
C. Schmitt, Hugo Preuß, S. 26 Anm. 1. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 39. 327 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 19: Wenn ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, „sich in der Sphäre des Politischen zu halten", so verschwindet dadurch nicht das Politische aus der Welt. „Es verschwindet nur ein schwaches Volk". 328 Vgl. V. Neumann, Der Staat im Bürgerkrieg, S. 89, 98. 329 Vgl. Smend, Art. Integration, EvStL, 2. Auflage, Sp. 1027. 330 So V. Neumann, Der Staat im Bürgerkrieg, S. 45, zu Carl Schmitt. 326
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innerstaatlichen Krieges. Dem liegt die Ansicht zugrunde, daß im Extremfall alle denkbaren Integrationsmechanismen versagen müssen, die der Staat aus sich heraus zur friedlichen Absorption von Konflikten entwickeln kann. Mißtrauen gegenüber den Fähigkeiten des Staates beherrscht das Staatsdenken. Die Desintegration, zumindest die Infragestellung der Möglichkeit staatlicher Einheit, charakterisiert die politische Theorie Carl Schmitts 331 . A m Ende steht die Infragestellung des Staates überhaupt: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren" 332 . Smends Integrationslehre formuliert dagegen das Bekenntnis, daß der Aufbau staatlicher Einheit in und aus den einzelnen nicht nur nötig, sondern auch möglich ist — auch und gerade in der modernen Welt mit ihrem Verlust der umfassenden Einheitsbezüge. Während in Carl Schmitts Theorie der moderne Staat, Ergebnis der konfessionellen Bürgerkriege, als ein vorübergehendes geschichtliches Phänomen erscheint, rückt Smend den Staat als eine die gesamte menschliche Geschichte begleitende Lebensform in den Vordergrund. Politik als Gestaltung menschlicher Lebensverhältnisse kann deshalb in Smends Denken nicht den offenen oder latenten Kriegszustand zu ihrem Gegenstand haben. Das in dieser Hinsicht Trennende zu Schmitt hat Smend so gefaßt: Die Integrationslehre „ist — im Gegensatz zu Carl Schmitts Orientierung am Grenzfall — um die normale staatliche Wirklichkeit bemüht" 3 3 3 . Daß diese durch Staatsbejahung der einzelnen sich immer wieder herstellen kann und muß, erscheint Smend fraglos. Mit der Integrationslehre will Smend eine Vergemeinschaftungslehre der einzelnen und eine Staatsentstehungslehre durch eine vorgegebene Gemeinschaft geben. Alles politische Leben kommt „aus der Totalität der Einzelpersönlichkeit", die politischen Lebensfunktionen des Staates „wirken in jedem Augenblick zu der überpersönlichen Totalität des Staates zusammen" 334 . In diesem letzten Satz klingt ein weiterer Unterschied zwischen beiden Autoren an. Smends Staatslehre kennt die Einzelpersönlichkeit, die Gemeinschaft und den Staat. Die beiden letzten Begriffe werden häufig als Synonyme oder in einer Zusammenstellung verwendet, in der das Wort Gemeinschaft oder Gruppe das mit dem Begriff Staat Gemeinte unterstreicht. So spricht Smend vom Staat als der „geistigen Lebensgemeinschaft" 335, vom Leben der „staatlichen Gemeinschaft" 336 , vom Staat als der „geschlossenen Gruppe" 3 3 7 der ihm Angehörenden. Das Wort Gesellschaft findet sich in Smends Instrumentarium der Integrationslehre nicht 3 3 8 . Individuum und 331 V. Neumann, NVwZ 1985, S. 631, hat deshalb zu Recht festgestellt, daß bei Carl Schmitt die Beschreibung der Dissoziation des Staates im Vordergrund steht. 332 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Vorwort 1963, S. 10. 333 Smend, Art. Integrationslehre, S. 480. 334 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189. 335 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 161. 336 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 161, 162. 337 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 132.
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Gemeinschaft sind in der Integrationslehre unmittelbar, ohne Dazwischentreten nichtstaatlicher Interessenverbände, verknüpft. Der Staat bedeutet für den einzelnen eine Möglichkeit direkter „geistiger Auswirkung" und „persönlicher Selbstgestaltung" 339 , Staatsbürgerschaft ist „persönliche Einbezogenheit" 340 in den Staat. Eine Überwältigung des Staates durch organisierte gesellschaftliche Gruppierungen kennt die Integrationslehre nicht, weil sie keine dem Staat gegenüberstehende Gesellschaft kennt: staatliche Integration schließt gesellschaftliche Gruppenbildung aus. Staatliche Gemeinschaft bedeutet Homogenität im Gegensatz zu gesellschaftlicher Heterogenität 341 . Carl Schmitt hat diese Besonderheit der Integrationslehre gesehen, wenn er sie in historischer Einordnung in das Staatsdenken dahin versteht, daß in ihrem Konzept nicht mehr — wie dies nach Schmitts Einschätzung im 19. Jahrhundert der Fall war — auf der Grundlage der Trennung von Staat und Gesellschaft die Gesellschaft in den Staat integriert werde, sondern jetzt der Staat selbst integriert w i r d 3 4 2 . Insbesondere im parlamentarischen Staat ist für Smend das Volk „nicht schon an sich politisch vorhanden..., sondern es hat sein Dasein als politisches Volk... in erster Linie vermöge der jeweiligen politischen Synthese, in der es immer wieder von neuem überhaupt als staatliche Wirklichkeit existent w i r d " 3 4 3 . Außerhalb und gegen den Staat gibt es also kein politisches Erleben. Carl Schmitt dagegen lehrt, das Volk könne „in seiner unmittelbaren Identität mit sich selbst eine politische Einheit" 3 4 4 sein. Bei ihm ist der Staat in Gefahr, weil der Pluralismus der sozialen und wirtschaftlichen Gruppen eigene Interessen an den Staat heranträgt und diese den Staat „durchdringen" 345 . Der Gegensatz sei 338 Das gilt jedenfalls für die Zeit zwischen 1918 und 1945. Danach ist zwar die Rede von der „modernen Gesellschaft" {Smend, Art. Staat, S. 524; ders., Art. Integration, S. 482 f.), Smend nimmt dazu jedoch nicht weiter Stellung. Das Hauptproblem der Staatstheorie bleibt nach seiner Sicht die Frage der Einordnung des einzelnen in den Staat {Smend, Art. Staat, S. 524). Vor 1918 ist Smend stillschweigend von einer Trennung von Staat und Gesellschaft ausgegangen. In einer Bewertung der verschiedenen Theorien des Wahlrechts aus dem 19. Jahrhundert heißt es, daß der Staat „von der Anerkennung und Mitarbeit der gesellschaftlichen Gruppen" getragen sein muß und im Parlament ein Organ dieser Anerkennung und Zustimmung schafft {Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts, S. 36). Jeder gesellschaftlichen Gruppe billigt Smend das Recht zu, sich zur Verfolgung des Gruppeninteresses „dem Staat gegenüber" (a.a.O., S. 35) zu organisieren. Der Staat jedoch bestimmt, wie er der Gesellschaft Einfluß auf sein Leben gewähren will. Regulator hierzu ist die Gestaltung des Wahlrechts. Smend steht hier noch ganz im Banne der Lehren von Lorenz v. Stein. 339 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 131, ferner S. 132. 340 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 163. 341 Insoweit zutreffend W. Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit, S. 263; ferner Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, S. 53. 342 C. Schmitt, Hugo Preuß, S. 21. 343 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 155. 344 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 205. 345 C. Schmitt hat sich nach 1945 gerühmt, bereits in den zwanziger Jahren als einer der ersten die Probleme des gesellschaftlichen Pluralismus gesehen zu haben (C. Schmitt, Der
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an dem Beispiel der Einschätzung der politischen Parteien verdeutlicht. Während Smend deren Existenz und Wirkungsweise innerhalb seiner Integrationstheorie keine Beachtung schenkt 34 *, bildet Schmitt im Hinblick auf die Parteien einen sekundären Begriff zu dem Wort politisch, nämlich „parteipolitisch" 347 . Parteipolitik ist eine Ausdrucksform der allgemeinen Politisierung, Parteien gehören zu den Trägern der „Selbstorganisation der Gesellschaft" 348 , die den Staat zum Verschwinden bringen möchten. Aus den Parteien des 19. Jahrhunderts, lockeren Assoziationen, die auf freier Werbung beruhten, sind „feste durchorganisierte Gebilde" 3 4 9 geworden, die Menschen mit gleichen Interessen geistiger, sozialer oder wirtschaftlicher Art fest an sich binden. Parteipolitik ist der politischen Einheit gefährlich, weil sie eine Steigerung erfahren kann, die das Vorhandensein eines umfassenden, innerpolitische Gegensätze relativierenden Staates auszuhöhlen droht. Für Carl Schmitt scheint sich diese Gefahr in der Weimarer Republik bereits verwirklicht zu haben. Seine Analyse führt zu dem Ergebnis, daß die Parteien in der Lage sind, je ihre eigene Totalität gegen den Staat zu bilden 3 5 0 . Diesem Befund kontrastiert die auffallende Nichtbeachtung der Parteien in Smends Hauptwerk zur Integrationslehre 351 . Diese Nichtbeachtung entspricht Begriff des Politischen, Vorwort 1963, S. 12f.; vgl. die Definition des Pluralismus bei dems., Der Hüter der Verfassung, S. 99; hierzu Steff ani, in: Nuscheler/Steffani, Pluralismus, S. 15). 346 Anders ist dies in einer Abhandlung Smends aus dem Jahre 1919 zu dem im Reich anstelle des früheren Mehrheitswahlsystems eingeführten Verhältniswahlrechts. Das Urteil über die Parteien ist unter dem Blickpunkt des Wahl Vorganges ein negatives. Seitdem die großen Parteien die Wahlhandlungen beherrschen, werde die parlamentarische Entscheidung „mehr und mehr eine Fassade, hinter der die entscheidenden Auseinandersetzungen der Parteien in aller Stille vor sich gehen" (Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, S. 62). Damit werde die „Öffentlichkeit um ein Stück ihres Anteils am politischen Leben gebracht, der ihr von der Verfassung zugedacht war" (Smend, a.a.O., S. 62). Diese Aussage ist in manchem ein Auftakt zu der späteren „geistesgeschichtlichen Todeserklärung des Parlamentarismus" (so Thoma, Archiv f. Soz.Wiss. u. Soz.-Pol. 53 (1925), S. 216) durch C. Schmitt. Um so erstaunlicher ist es, daß dieser Gesichtspunkt in „Verfassung und Verfassungsrecht" keine Rolle mehr spielt. 347
C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 32. C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 82. 349 C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 83. 350 Vgl. die Ausführungen Schmitts zu dem Konflikt zwischen Preußen und dem Reich im Jahre 1932 (in: Preußen contra Reich, S. 39). 351 Abgesehen von ganz beiläufigen Bemerkungen bei Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 190, 241. Man hat diese Nichtbeachtung mit dem in der Weimarer Verfassung bestehenden „extrakonstitutionellen" Status der Parteien zu erklären versucht (so M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 18), was jedoch nicht überzeugen kann. Gerade die Arbeiten C. Schmitts, vgl. auch neben den bereits angeführten dens., Verfassungslehre, S. 242ff., insbes. S. 248, ferner die berühmte Rede Triepels über „Die Staatsverfassung und die politischen Parteien" (1928) zeigen das neuerwachte große Interesse der Staatsrechtslehre der 348
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der unmittelbaren Verbindung zwischen dem einzelnen und dem Staat, die gesellschaftliche Differenzierungen nicht in das Blickfeld geraten läßt. Dennoch: die pluralistischen Gestaltungskräfte haben zwar in den zentralen Aussagen der Integrationslehre keine Beachtung gefunden, außerhalb des eigentlichen Kernbereiches der Lehre haben sie aber im politischen Denken Smends eine Rolle gespielt. Hier stimmt Smend der Carl Schmittschen Analyse des Pluralismus als staatsgefährdend zu. In seiner Rede zur Reichsgründungsfeier am 18. Januar 1933 warnt Smend davor, den Weimarer Staat und seine Verfassung als die Ordnung einer Lage zu sehen, „in der jeder nur das Seine und nicht das Ganze sucht" 3 5 2 . Dann nämlich wäre die Verfassung nur eine „Organisation des Pluralismus, d.h. des letzten Endes anarchischen Nebeneinanders der politischen Gruppen ..., ein Waffenstillstand oder eine taktische Lage im Klassenkampf' 353 . Auch hier bedeutet also eine politisierte, in Gruppen organisierte Gesellschaft eine Gefahrdung staatlicher Einheit. Im Unterschied zu Carl Schmitt erscheint die paralysierende Wirkung des Pluralismus allerdings noch nicht als die gegebene Situation, die es nur noch in ihren Einzelheiten zu analysieren gilt, sondern es handelt sich um eine drohende Gefahr, aus der Smend — zwei Wochen vor der Machtübernahme Hitlers! — noch einen Ausweg sieht. Dem in völlige politische Gegensätzlichkeiten zerfallenen Volk hält er das Leitbild des „sittlich an den Staat gebundenen Bürgers" 354 entgegen, das heißt mit anderen Worten, des integrierten Staatsbürgers, der seine politische Existenz unmittelbar im Staat und nicht in außerstaatlichen Gruppierungen mit ihren „absorptiven Ansprüchen" 355 erfahrt. zwanziger Jahre an der Rolle der Parteien, wobei die im Gegensatz zur tatsächlichen Bedeutung stehende verfassungsgesetzliche Ignorierung häufig beklagt wird. „Es herrscht ... noch immer die Regel, daß Verfassungen und Gesetze die Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit, das Parteiwesen, mit keiner Silbe erwähnen" {Hugo Preuß, Reich und Länder, S. 269). Spätestens zu Ende der zwanziger Jahre hat die staatsrechtliche Beschäftigung mit dem Parteienwesen dann auch die ersten umfassenden Analysen hervorgebracht, so etwa Leibholz' „Wesen der Repräsentation" (1929) mit der Unterscheidung zwischen dem repräsentativen und parteienstaatlichen Parlamentarismus. Im übrigen kann der „extrakonstitutionelle" Status der Parteien für Smend kein Hinderungsgrund eingehender Beschäftigung gewesen sein, denn gerade Smend war es doch, der die Verfassungsrechtswissenschaft aus der Fixierung auf die Verfassungsurkunde herausführen wollte — extrakonstitutionell im Sinne von ungeschrieben ist auch die Bundestreue, der dennoch große Aufmerksamkeit gewidmet wird. 352 Smend, Bürger und Bourgeois, S. 323. 353 Smend, Bürger und Bourgeois, S. 323. Smend hat sich in einem Brief vom 10. Februar 1972 an die Herausgeber eines Quellenbandes zum Thema Pluralismus von dieser Sichtweise distanziert: „ . . . Sachlich würde ich heute das Wort Pluralismus in diesem Zusammenhang nicht mehr gebrauchen. Es sollte damals eine ordnungswidrige, chaotische Lage bezeichnen, und vielleicht schwang dabei noch halbbewußt das Erbe eines älteren, substanziellen Staats- und Verfassungsbegriffes mit" {Smend, in: Nuscheler/Steffani, Pluralismus, S. 27). 354 355
Smend, Bürger und Bourgeois, S. 322. Smend, Bürger und Bourgeois, S. 324.
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Daß Smend im Winter 1932/1933 noch an diese Möglichkeit der Rettung des Weimarer Staates geglaubt hat, belegt seine Grundüberzeugung, daß das Phänomen Staat nach wie vor in der Lage ist, „ein Volk in die Form zu bringen, in der es handelnde Einheit" 3 5 6 ist. Die Integrationslehre ist eine Theorie der Wiederherstellung staatlicher Normalität in einer politisch chaotischen Zeit. Wo Carl Schmitt die Ausnahmesituationen analysiert, sucht Smend einen Ausweg aus dieser Lage. Doch ist der Integrationslehre entgegenzuhalten, daß sie an keiner Stelle darüber hinausgelangt, bereits bestehende Integrationsleistungen und Integrationsmechanismen aufzuzeigen, auf die es sich zurückzubesinnen gilt: wie bereits gezeigt wurde, setzt Integration eine im Grunde bereits bestehende Gemeinschaft voraus, und der „sittlich an den Staat gebundene Bürger" ist kein Bürger eines neuen Typs des 20. Jahrhunderts, sondern eine Beschwörung des als beispielhaft angesehenen Bürgers des 19. Jahrhunderts 357 . A m 18. Januar 1933 sagte Smend: „Unsere bürgerliche Vergangenheit hat aus den Untertanen Staatsbürger gemacht, sie hat Idee und Typus des deutschen Bürgers geschaffen und damit der Zukunft kein geringes politisches Erbe hinterlassen" 358 . Mehr als eine Verwaltung dieses Erbes allerdings gibt die Integrationslehre nicht 3 5 9 . Für sie ist die Reichsgründung vom 18. Januar 1871 „die Erfüllung der Sehnsucht der bürgerlichen nationalen Bewegung" schlechthin und zugleich „das Ereignis, in dem das deutsche Bürgertum und der deutsche Staat einander endgültig gefunden haben" 3 6 0 . Trotz der genannten Differenzierungen zwischen den Auffassungen Smends und Schmitts ist eine interessante Nachbarschaft im Ergebnis nicht zu übersehen. M i t der Orientierung am Konfliktfall zielen alle Überlegungen Carl Schmitts auf einen entscheidenden Gesichtspunkt. Entweder stellt sich die politische Einheit in der Freund-Feind-Gruppierung als existierend heraus, oder sie ist überhaupt nicht vorhanden. Nur die Tatsache, daß die politische Einheit besteht, erscheint wesentlich, nicht die weitere Beschaffenheit dieser Einheit. „Jede existierende politische Einheit", bemerkt Schmitt, „hat ihren Wert und ihre Existenzberechtigung' nicht in der Richtigkeit oder Brauchbarkeit ihrer Normen, sondern in ihrer Existenz. Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert" 361 . Smend geht einen anderen Weg, 356
Smend, Bürger und Bourgeois, S. 323. Vgl. auch die Feststellung von Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 320, wonach Smend mit dem gehobenen Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts rechne. 358 Smend, Bürger und Bourgeois, S. 324; vgl. hierzu v. Oertzen, S. 20. 359 Dem entspricht es, daß die Integrationslehre soziale Konflikte nicht thematisiert, was ihr in der Kritik von Draht, Art. Staat, EvStL, Sp. 2463, die Bezeichnung als „ausgesprochene Mängellehre" eingetragen hat. 360 Smend, Bürger und Bourgeois, S. 312, 310. Daß 1871 die Reichsgründung durch die Monarchien bewerkstelligt wurde und eher die gescheiterte Reichsgründung der Jahre 1848/1849 von der Sehnsucht einer bürgerlichen nationalen Bewegung getragen war, bleibt bei Smend unerwähnt. 361 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 22, vgl. auch S. 89. 357
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indem er bei der Konstituierung und Erhaltung der politischen Einheit den politischen Kampf als spielerischen Umweg nicht wirklich ernst nimmt, am Ende steht aber auch bei ihm das Absehen von allen weiteren Merkmalen der Gemeinschaft, sofern sie nur besteht. Integration oder Nichtintegration ist die Alternative, einen spezifischen Inhalt hat die Integration nicht. So wie Bestimmung des Freundes der äußerste Intensitätsgrad der Verbindung einer Menschengruppe ist, bedeutet Integration die Intensität des Gemeinschaftserlebnisses, das keiner weiteren Legitimierung bedarf. Die Integrationslehre soll nach Smends Auffassung nicht ein „Wert-, sondern ein Strukturproblem" lösen, unabhängig von „jeder Legitimierung des Staates" 362 . Erich Kaufmann, der „manche ,Berührungen' mit Carl Schmitt" 3 6 3 bei Smend feststellt, hat dieses Ergebnis der Integrationslehre auf eine sehr krasse Formel gebracht. Wegen des Mangels jeglicher Legitimierung des Staates könne „auch der brutalste Unrechtsstaat zu einer politischen Einheit integriert" sein, denn der „Integrationswert ist eben kein Wert" 3 6 4 . Gegenüber diesem krassen Urteil kann Smends Herleitung des Politischen aus der Integration nur teilweise in Schutz genommen werden. Sicherlich ist es nicht der autoritäre Unrechtsstaat, der Smend als Modell eines integrierten Staates vorschwebt 365 . Der Aufbau des Staates aus den harmonischen Erlebnissen der einzelnen, in praktischer Hinsicht der Appell an die bürgerlichen Tugenden des 19. Jahrhunderts, zeigt dies deutlich. Doch es bleibt der Mangel, daß die staatstheoretischen Aussagen der Integrationslehre dort abbrechen, wo es um die Organisation vielfaltiger gesellschaftlicher Interessen geht und die von Smend geforderte Staatsbejahung nur mit Vorbehalten vorhanden ist. Wie der Staat eine politisch desintegrierende Gesellschaft integrieren könnte, bleibt offen. I I I . Die Bundesstaatslehre Smends als Anwendungsfall der Integrationslehre 1. Die bisherigen Untersuchungen zu den Anwendungsmöglichkeiten des Integrationsgedankens Die staatstheoretischen Prämissen Smends lassen sich so zusammenfassen: Der Staat als vorgegebene Lebensform setzt sich aus den Erlebnissen und 362
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 125, 186. E. Kaufmann, Ges. Schriften III, S. X X X V . Berührungspunkte der politischen Theorien von Schmitt und Smend hat ebenfalls — bereits in einer frühen Studie aus dem Jahre 1937 — Ernst Fraenkel angedeutet und darin gesehen, daß beide Autoren die Objektlosigkeit der politischen Aktion zum Zentralbegriff des politischen Denkens machten (Fraenkel, in: Reformismus und Pluralismus, S. 235 f.). 364 E. Kaufmann, Ges. Schriften III, S. X X X I V ; vgl. auch Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, S. 53; Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 74. 365 Keinesfalls kann daher Smend als einer der staatsrechtlichen Wegbereiter des nationalsozialistischen Gewaltregimes angesehen oder ihm besondere Sympathie für den 363
III. Smends Bundesstaatslehre als Anwendungsfall der Integrationslehre
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Betätigungen der einzelnen Staatsbürger zusammen. Die Staatslehre hat dementsprechend die unmittelbaren Beziehungen des Staates zu den Individuen, die Integrations Vorgänge, zu ihrem Gegenstand. M i t Recht ist deshalb i n manchen Untersuchungen zu Smend das „ E r l e b n i s " als zentrale Kategorie seiner Staatslehre herausgestellt w o r d e n 3 6 6 . D e m Anspruch nach ist die Staatstheorie Smends nicht korrigierende Weiterentwicklung des bisherigen juristischen Denkens über den Staat, sondern ein Neuaufbau nach der Zurückweisung aller überkommenen Begrifflichkeit 3 6 7 . Der Staat ist weder juristische Person, noch machtvoller soziologischer Verband, noch N o r m o r d n u n g , sondern Selbstgestaltung der i h m Angehörenden u n d Ergebnis der politischen W i l l e n s e i n i g u n g 3 6 8 . Folgerichtig w i r d der Staat v o n Smend nicht v o n der A u s ü b u n g der Staatsgewalt u n d der Tätigkeit der Staatsorgane her u n t e r s u c h t 3 6 9 , sondern i m Erlebnis der staatlichen Gemeins c h a f t 3 7 0 . A u f b a u u n d Zusammenhang der staatlichen Tätigkeit müssen als Gegenstand der Staatslehre z u r ü c k t r e t e n 3 7 1 . Erst der Erlebniszusammenhang der staatlichen Gemeinschaft n i m m t die Tätigkeit der Staatsorgane als Betätigungen des geistigen Gesamtzusammenhanges i n sich auf. I n d e m Smend die
Faschismus nachgesagt werden, so aber vor allem Hill, S. 160ff.; W. Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit, S. 263, 321 ff.; hiergegen zu Recht Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 46. 366 J.H. Kaiser, AöR 108 (1983), S. 16; E. Kaufmann, Ges. Schriften III, S. X X X I , X X X I I I ; Kelsen, Der Staat als Integration, S. 28; H. Mayer, Die Krisis, S. 52; Nawiasky, Allgemeine Staatslehre I, S. I l l ; Poeschel, S. 140ff. Mehr als fünfzig Jahre nach der Entstehung seiner vorgenannten Untersuchung hat der inzwischen zum Germanisten gewordene H. Mayer in seinen Erinnerungen diese Einschätzung bekräftigt und den Vorwurf erneuert, Smends Staatslehre sei eine „Neuauflage einer politischen Romantik" (H. Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. 1, S. 145). Siehe zu dieser Kritik auch Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 220 ff. Zu bemerken ist allerdings, daß es in den zwanziger Jahren auch andere Versuche gab, die Erlebnisse des Staatsbürgers in die Staatslehre einzubeziehen. So hat Waldecker, Allgemeine Staatslehre, S. 89, 437, betont, daß die „Assoziation" im Staat nicht in einer „Summierung, sondern Potenzierung der einbezogenen Kräfte" bestehe, wodurch die „staatliche Zusammenfassung" zum „Erlebnis" werde. 367 In diesem Sinne wurde die Integrationslehre sogleich in der zeitgenössischen Diskussion aufgefaßt, am deutlichsten bei Kelsen, Der Staat als Integration, S. 1. Siehe auch M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken, S. 11, der gleichzeitig auf die Gefahr dieser radikalen Neubegründung, nämlich den darin angelegten zwangsläufigen Abbau des allgemeingültigen dogmatischen Kanons, hinweist. 368
Hierzu Scheuner, Der Beitrag der deutschen Romantik, S. 71 m. Anm. 229. Vgl. die späte Äußerung Smends aus dem Jahre 1969: „ . . . eine demokratische Staats- und Verfassungslehre kann nicht am formalen Staatswillen einsetzen, sondern nur am Menschen in seiner gesellschaftlichen, politischen Lage..." (Smend, FS Arndt, S. 460). Ferner ders., Art. Integration, S. 485. 370 Vgl. Smend, in: Nuscheler/Steffani, S. 26: „Aber der Angelpunkt meines Denkens war der Mensch, als sozialer, politischer ...". 371 Vgl. H. Mayer, Die Krisis, S. 52. 369
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Staatsbetrachtung auf den einen Punkt der Integration in und aus den einzelnen „zusammenzwingen" 372 möchte, muß das Moment der Organisation aus der Staatslehre hinausfallen. Dynamische Integration und organisierte Staatlichkeit schließen sich gegenseitig aus 3 7 3 . Die Aufnahme normativ-juristischer Elemente in den Staatsbegriff ist zudem nicht vorgesehen. Damit aber stellt sich die Frage, ob die Zurückführung der Staatsbetrachtung auf den einzigen, wenngleich beziehungsreich entwickelten Vorgang der Integration tatsächlich ein brauchbarer juristischer Ausgangspunkt für die Lösung von Einzelproblemen der Staatslehre sein kann. Erstaunlicherweise hat es die bisherige Diskussion der Integrationslehre kaum unternommen, dieser Frage nachzugehen. Stattdessen hat sie sich, soweit nicht die Verfassungslehre Smends Gegenstand der Kritik war, auf die Erörterung der grundsätzlichen Staatsauffassung Smends konzentriert 374 . Das ist um so erstaunlicher, weil Smend beansprucht, gerade in der Anwendung auf Einzelprobleme die Fruchtbarkeit seiner Lehre darzutun 375 . Die vereinzelten Ansätze, die Einlösung dieses Anspruchs Smends nachzuprüfen, brechen nach andeutenden Bemerkungen ab oder bleiben bei Behauptungen stehen. So äußert sich Stier-Somlo zu der Behandlung der Einzelprobleme bei Smend sehr kritisch: „Alle Beispiele seines Buches (seil. Smends ,Verfassung und Verfassungsrecht') haben mit der Lösung jener Probleme nichts zu tun, sondern führen nur tiefer in eine philosophisch-romantische Mystik hinein" 3 7 6 . Warum dies so ist und worin genau die tiefe Mystik der Smendschen Gedanken liegt, erläutert Stier-Somlo nicht. Kaegi konzediert demgegenüber zwar, daß die Staatslehre durch die Integrationstheorie reiche Förderung in einzelnen Problemen erfahren habe 3 7 7 , aber auch Kaegi unterläßt es, den Nachweis hierfür zu führen. In ähnlicher Weise gehen Ehmke und Scheuner vor. Ehmke sieht die besondere Stärke der Integrationslehre in ihrer Förderung staatstheoretischer Einzelfragen 378 , während Scheuner für den Bereich der Bundesstaatslehre „Anregungen" bei Smend zu entdecken vermag 379 . Worin allerdings Förderung und Anregung genau bestehen, lassen beide Autoren offen. 372
So die treffende Bezeichnung bei Badura, Der Staat 16 (1977), S. 307. Trotz der Bemerkung Smends, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 186, die Integrationslehre habe das Problem der „Vergemeinschaftung der individuellen Willen zur Wirkungseinheit eines Gemeinwillen lösen" wollen. 374 So ausdrücklich H. Mayer, Die Krisis, S. 32, der überhaupt nur die „grundsätzliche Haltung" in der Staatsauffassung Smends einer Untersuchung zugänglich und für kritisierbar hält; charakteristisch ferner Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 181 ff. 375 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 233 ff. 376 Stier-Somlo, Art. Verfassung, Verfassungsrecht, in: HWdRW VI, S. 387ff., das Zitat auf S. 390. 377 Kaegi, S. 142. 378 Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 67. 379 Scheuner, DÖV 1962, S. 642. 373
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Dieser eher verhaltene bis kritische Umgang mit den von Smend selbst gezogenen Folgerungen des Staatsbegriffes der Integrationslehre könnte auf den ersten Blick zu der Vermutung führen, daß trotz Smends Bemühen von dem integrationstheoretischen Staatsbegriff kaum positive Anstöße für seine Erkenntnis der Einzelprobleme der Staatslehre ausgegangen sind. Für den Bereich der Bundesstaatstheorie verstärkt sich diese Vermutung dadurch, daß die fast enzyklopädische Auflistung der Theorien zum Bundesstaat von Martin Uster i 3 8 0 den Namen Smend nicht erwähnt 381 . Im folgenden soll den damit aufgeworfenen Fragen nach den sachlichen Ergebnissen Smends in der Bundesstaatslehre nachgegangen werden. 2. Staatsgewalt, Herrschaft und Macht in der Staatslehre Smends Smends Ausführungen zum „Wesen des Bundesstaates" beginnen mit dem Ergebnis, oder genauer, mit Smends eigener Bewertung des Ergebnisses: „Die hier zugrundegelegten staatstheoretischen Anschauungen führen ... zu einer von der herkömmlichen abweichenden Bundesstaatstheorie" 382. Es erscheint jedoch zunächst überraschend, daß Smend allein auf der Grundlage seiner integrationstheoretischen Betrachtungsweise die Begründung einer Bundesstaatslehre unternehmen möchte. Vorrangiges Problem des Bundesstaates ist nicht das von Smend unter verschiedenen Gesichtspunkten thematisierte Verhältnis von einzelnem und Staat, sondern die Zuordnung mehrerer Staaten. Smends Versuch der Neubegründung setzt deshalb, soll er zum Erfolg führen, zweierlei voraus. Zum einen muß die Integrationslehre geeignet sein, auch die Beziehungen zwischen Staaten mit der Kategorie der Integration zu erfassen. Zum anderen muß sich Smend mit der überkommenen Prägung des Bundesstaatsbegriffes auseinandersetzen. Aus der Sicht der traditionellen Lehre des 19. Jahrhunderts geht es beim Bundesstaat um die als Rechtsprobleme begriffenen Fragen der Verteilung von Herrschaft, um Probleme der bundesstaatlichen Souveränität und der Staatlichkeit der Länder. Übereinstimmender Ausgangspunkt ist, so weit die Bundesstaatstheorien im einzelnen auch auseinandergehen, die Anerkennung einer von der Gliedstaatsgewalt unterschiedenen Zentralgewalt 383 . Als Aufgabe wird es angesehen, die Entstehung dieser übergeordneten Staatsgewalt zu erklären und ihre Auswirkungen für das zusammengesetzte Staatswesen zu beschreiben. Der 380
Usteri, Theorie des Bundesstaates (1954). Vgl. auch Herzog, Art. Staatenverbindung, EvStL, Sp. 2490, wonach dem Versuch Smends zur integrationstheoretischen Deutung des Bundesstaates eine „größere Breitenwirkung zunächst versagt" blieb. 381 Ratlosigkeit zeigt auch der Systematisierungsversuch der Bundesstaatstheorien bei Vetter, S. 27, 30f., wo die Lehre Smends unter dem Oberbegriff „Sonderfalle der Bundesstaatstheorie" erörtert wird. 382 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 223. 383 Vgl. G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 253.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Bundesstaat ist danach kein vorrangig staatstheoretischer Begriff, sondern ein Rechtsbegriff 384 . Das zeigen auch die Versuche, das Phänomen des Bundesstaates in ein System der möglichen staatlichen Organisationsformen einzuordnen. Den bedeutendsten Systematisierungsversuch hat Georg Jellinek in seiner Monographie über „Die Lehre von den Staatenverbindungen" unternommen 3 8 5 . Jellinek unterscheidet Staatenverbindungen im weiteren Sinne und im engeren Sinne. Der erstgenannte Oberbegriff umfaßt alle dauernden, auf einem Rechtsgrund beruhenden Beziehungen zwischen Staaten, bis hin zu Allianzen und Bündnissen 386 . Staatenverbindungen im engeren Sinne sind völkerrechtliche und staatsrechtliche Verbindungen, die die beteiligten Staaten oder zumindest einige von ihnen „in ihrer ganzen Existenz" 387 betreffen oder einem Glied das Recht und die Macht zubilligen, „das Leben des anderen zu leiten" 3 8 8 . Im Bundesstaat herrscht ein Staat über den anderen oder die anderen. Der Bundesstaat gehört als ein Unterfall zu den Staatenverbindungen im engeren Sinne. Die zentralen Kategorien zur Erfassung des Bundesstaates sind mithin die der Staatsgewalt, der staatlichen Herrschaft und der rechtlichen Organisation, verbunden mit der Betrachtung des Staates als Subjekt der Staatstätigkeiten 389 . Der Bundesstaat ist nach der seit 1871 herrschenden Lehre ein aus einer Mehrheit von Staaten gebildeter souveräner Staat, dessen Staatsgewalt aus seinen zur staatlichen Einheit verbundenen Gliedern hervorgeht 390 . Wenn nach Kelsen die Frage nach dem Begriff des Staates untrennbar mit dem Verhältnis von Staat und Recht verbunden ist 3 9 1 , so gilt dies insbesondere für den Bundesstaat, der sich vom Einheitsstaat gerade durch die rechtlich bestimmte Beziehung von Staaten untereinander abhebt. In der Staatslehre Georg Jellineks ist der Bundesstaat ausschließlich Gegenstand der Staatsrechtslehre 392. Die soziale Existenz des Bundesstaates demgegenüber unterscheidet sich nicht von 384 Bezeichnenderweise führt das die Erkenntnisse der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre zusammentragende und vorsichtig weiterentwickelnde Buch von Nawiasky den Titel „Der Bundesstaat als Rechtsbegriff 4 (1920). 385 G. Jellinek, Staatenverbindungen, insbes. S. 3 ff., 58 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 737 ff. Fast die gesamte Lehre ist den Einteilungsprinzipien Jellineks gefolgt, vgl. etwa Laband I, S. 57; Behnke, S. 24; Stier-Somlo, Art. Staatenverbindungen, in: HWdRW V, S. 610f. Herzog, Art. Staatenverbindung, EvStL, Sp. 2486f., bezeichnet aus heutiger Sicht trotz seines prinzipiell anderen Ansatzes die Typologie Jellineks als „nie grundlegend überwunden". 386 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 738. In der Terminologie noch abweichend ders., Staatenverbindungen, S. 58. 387 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 741. 388 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 741, ferner S. 769. 389 Vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 118; Herzog, EvStL, Art. Staatenverbindung, Sp. 2487; ders., JuS 1967, S. 193; Scheuner, DÖV 1962, S. 641. 390 G. Jellinek, Staaten Verbindungen, S. 278; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 769; Laband I, S. 59ff. 391 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 1.
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der des Einheitsstaates und ist deshalb zur Bestimmung seiner differentiae specificae nicht geeignet 393 . Das Smend vorrangig interessierende Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat gerät diesen Theorien nur als ein Reflex der Staatenverbindung in das Blickfeld. Aus der Sicht des Staatsbürgers ergibt sich im Gegensatz zum Einheitsstaat die besondere Lage, daß er verschiedenen Staaten mit je eigener Staatsgewalt unterworfen ist 3 9 4 . Daraus folgt für die Rechtsstellung der Staatsbürger etwa eine doppelte Staatsangehörigkeit: Die Einwohner des Bundesstaates sind sowohl Angehörige des Bundes als auch des Gliedstaates 395 . Angesichts dieser Prägung des Bundesstaatsbegriffes kann die Integrationslehre, da sie eine ausschließlich geisteswissenschaftlich-soziologisch bestimmte Staatstheorie aufstellt, die zwar einen Verweisungszusammenhang zwischen Staat und Politik enthält, jedoch Rechtsbegriffe und die Berücksichtigung des Rechts überhaupt meidet, nur dann zu einer eigenständigen Theorie des Bundesstaates führen, wenn sie sich den Problemen der staatlichen Herrschaft und des Staates als souveränen Willensverbandes stellt, ferner zu den nach traditioneller Auffassung den Bundesstaat konstituierenden Rechtsbeziehungen Position bezieht. Entsprechend dem Anspruch der Integrationslehre müßte das dadurch geschehen, daß das traditionelle Instrumentarium der Bundesstaatslehre generell verworfen wird und sodann der vollständige Neuansatz beginnt. Einen Ansatzpunkt, daß Smend tatsächlich so verfahren möchte, enthält der abschließende Satz der staatstheoretischen Grundlegung im ersten Teil von „Verfassung und Verfassungsrecht". Die „Besinnung auf den integrierenden Sinn aller staatlichen Ordnung", so bemerkt Smend hier, sei in Deutschland im Vergleich zu ausländischen Staaten aus zwei Gründen wichtiger als dort. Zum einen fehle dem deutschen Volk die selbstverständliche nationalstaatliche Geschlossenheit. Zum anderen sei der Bundesstaat „voller Spannungen zwischen Gesamtstaat und Einzelstaaten" 396 . Dieser Gedanke Smends, bezeich392 Dies gilt jedenfalls für den bestehenden Bundesstaat. Seine Entstehung entzieht sich demgegenüber nach G. Jellinek, Staaten Verbindungen, S. 264, der „juristischen Qualification" und stellt ein rein historisches Faktum dar. Gerade diese Unterscheidung stellt jedoch heraus, daß der fertige Bundesstaat ein Rechtsproblem ist. 393
Vgl. G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 262. Abweichend in dieser Hinsicht jedoch Laband I, S. 78 ff., insbes. S. 81 Anm. 1, wonach sich die Reichsgewalt regelmäßig nur an die Einzelstaaten wendet und erst durch deren Vermittlung den einzelnen Bürger beherrscht. Laband begründet dies damit, daß der zusammengesetzte Staat schlechthin nur als Staatenkorporation denkbar ist. Die Bürger gehören demzufolge dem Oberstaat nur durch das Mittelglied des Unterstaates an. Die herrschende Lehre hat sich in diesem Punkt Laband entgegengestellt und auch den einzelnen Untertan als direkten Adressaten der Reichsgewalt angesehen, vgl. O. v. Gierke, Schmollers Jahrbuch 7 (1883), S. 1098 ff.; G. Jellinek, Staaten Verbindungen, S. 282. 395 Vgl. Art. 3 RV, Art. 110 WRV. 396 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 186. 394
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
nend in seiner sprachlichen Verdichtung auf nur einen Satz, bedarf hier der näheren Ausführung. Die geforderte „Besinnung" ist als Neubesinnung zu lesen, schließlich hatte Smend zuvor seine staatstheoretische Grundlegung als von Vorbildern in der Staatslehre frei und allein dastehend bezeichnet 397 . Also muß auch die Bundesstaatstheorie als ein Anwendungsfall der allgemeinen Staatslehre ganz neue Wege einschlagen. Wenn dann die Integrationsbetrachtung des Staates angesichts der bundesstaatlichen Ordnung Deutschlands um so angebrachter ist, so beansprucht Smend, trotz der ursprünglichen Herleitung aller staatlichen Wirklichkeit in und aus den einzelnen, nicht nur das Verhältnis von Individuum und staatlicher Gemeinschaft, sondern auch das Verhältnis von Staaten untereinander erfassen zu können 3 9 8 . Denn nur unter dieser Voraussetzung kann eine Integrationsbetrachtung des Bundesstaates sinnvoll sein. An der hier herangezogenen Textstelle allerdings bleibt dieser Anspruch Smends noch ohne Nachweis und ohne Hinweis darauf, in welcher Hinsicht die Integrationslehre ihre Eignung für die Fragen des Bundesstaates unter Beweis stellen könnte. Erste Andeutungen zum Verhältnis von Staaten untereinander, die auch für den Bundesstaat Interesse beanspruchen können, finden sich jedoch bei Smend in einem anderen Zusammenhang, nämlich einer Erörterung außenpolitischtheoretischer Fragen 399 . Smend wendet sich hier gegen jeden Gedanken einer Trennung zwischen auswärtiger und innerer Politik und gegen jede „Alternative des Primats der äußeren oder der inneren Politik" 4 0 0 . Im ersten Fall werde der Staat als Machtkörper isoliert. Man lasse „von der Außenpolitik her die innere, insbesondere die Staatsformen" 401 bestimmen. Diese Denkweise verfestige die politischen Körper zu starren Gegebenheiten und entziehe sie damit dem geisteswissenschaftlichen Verstehen, obwohl doch auch „deren Beziehungen solche geistigen Austausche und Lebens, d.h. gegenseitiger Gestaltung und vor allem darin sich vollziehender Selbstgestaltung sind, nicht aber kausale, mechanische Verhältnisse zwischen substanziellen und isolierten Körpern" 4 0 2 . Daraus folgt, daß Integration und politische Wesensbestimmung des Staatsganzen nicht nur durch gemeinschaftsbezogene Akte innerhalb eines Staates hervorgebracht werden, die von innen heraus auf die Hervorbringung der 397
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 183. Ohne auf das Bundesstaatsproblem einzugehen, wird die Eignung hierzu der Integrationslehre abgesprochen von J.H. Kaiser, AöR 108 (1983), S. 20 ff. (im Hinblick auf das Völkerrecht), und von Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 272 ff. (in bezug auf die internationalen politischen Verflechtungen). „Die inhaltliche Grenze der Fruchtbarkeit der Integrationslehre fällt mit den Markierungssteinen des modernen nationalstaatlichen Denkens für die Politik zusammen" (Mols, a.a.O., S. 272). 398
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Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, S. 80f.; ders., Verfassung und Verfassungsrecht, S. 147, 176ff. 400 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 177. 401 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 177. 402 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 177 f.
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staatlichen Einheit zielen, sondern auch durch Beziehungen zu anderen Staaten. Dieser Gedanke leuchtet ein: Die von Smend hervorgehobene „geschichtliche Konkretheit" 4 0 3 eines bestimmten Staates konstituiert sich gerade dann, wenn er zu anderen Staaten in Beziehung tritt. Das muß auch für den Bundesstaat als organisatorische Zusammenfassung mehrerer Staaten gelten, obwohl Smend in diesem Zusammenhang das Bundesstaatsproblem noch nicht zur Sprache bringt. Der Bundesstaat ist ein Integrationsproblem jedenfalls dann, wenn er Ergebnis der Zusammenfassung vorher selbständig existierender Staaten ist, wie dies in Deutschland im Jahre 1871 der Fall war. Auf dieses Integrationsproblem deutet dann auch das zweite von Smend angeführte Argument für die Notwendigkeit der Integrationsbetrachtung des Bundesstaates, das der Spannungen zwischen Gesamtstaat und Einzelstaaten. Hiermit spielt Smend auf das an, was die politische Situation des Bundesstaates unter der Weimarer Reichsverfassung maßgeblich bestimmte, nämlich die zahlreichen politischen Auseinandersetzungen zwischen dem Reich und den Ländern, die insbesondere in den ersten Jahren der Weimarer Republik stattfanden 404 . Inwieweit aber die Integrationslehre tatsächlich eine juristisch brauchbare Theorie aufstellen und dabei auf das herkömmliche Instrumentarium der Bundesstaatslehre verzichten kann, muß sich daran zeigen, wie sie mit den Bestandteilen dieses Instrumentariums, insbesondere denen der Herrschaftsgewalt des Staates und seiner Souveränität umgeht. Vermag die Integrationslehre in bezug hierauf keine Neuansätze zu liefern, mit denen die herkömmliche Entwicklung aus dem Begriff der Staatsgewalt hinfällig wird, so steht zu vermuten, daß ihre Beiträge zum Bundesstaat hinter dem Anspruch Smends zurückbleiben, wesentliche Ansätze zu einer neuen Lösung geben zu können. Am Anfang steht Smends brüske Zurückweisung aller herkömmlichen Bundesstaatstheorien. Deren „verräumlichende und mechanisierende Gedankenbilder" zur Beschreibung der Zusammenordnung von Bundesstaat und Einzelstaaten seien „zur Erfassung geistiger Wirklichkeiten ungeeignet" 405 . Die Labandsche Zurückführung des Staatenverhältnisses auf die Kategorien des Handelsgesellschaftsrechts sei eine unbrauchbare juristische Konstruktion, die keine Theorie des Bundesstaates enthalte 406 . Bei der argumentativen Auseinandersetzung mit der prinzipiell verpönten Erfassung des Staates als dem souveränen Herrschaftszentrum allerdings bleibt 403 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 167; ders., Art. Staat, S. 524; vgl. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 16ff.; Hesse, In memoriam Rudolf Smend, S. 575. 404 Vgl. zu diesen politischen Krisen Apelt, Geschichte der Weimarer Reichsverfassung, S. 171; Bayer, S. 14f.; Flemming, S. 113; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 119ff., 343ff., 376 ff.; Poetzsch, JöR 13 (1925), S. Iff.; G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 174ff., 244ff., 320ff. 405 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 223. 406 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 223.
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die Integrationslehre bei wenigen Ansätzen stehen. Wenn für sie der einigende Zusammenschluß der einzelnen die Grundkategorie des staatlichen Lebens ist, so bedeutet dies negativ, daß jedenfalls die Herrschaft als Grundelement des Staates ausscheidet407. Das integrierte Individuum stimmt in seinen Interessen mit den anderen integrierten Individuen überein. Staatlicher Zwang ist nicht erforderlich. Erstaunlicherweise finden sich dennoch bereits in Smends Hauptschrift „Verfassung und Verfassungsrecht" Formulierungen, die, in Widerspruch zu den sonstigen Annahmen der Integrationslehre, eher an ein traditionelles Verständnis des Staates anknüpfen. So bezeichnet Smend den Staat als „souveränen Willensverband" 408 ; an anderer Stelle übernimmt er zustimmend die Formulierung Hermann Hellers vom souveränen Staat als der „gebietsuniversalen Entscheidungseinheit", die sich nach Smend immerfort aus dem Integrationssystem neu entwickelt 409 . Souveränität also ist für Smend die Eigenschaft eines als Subjekt — Smend spricht vom Willensverband — gedachten Staates. Damit schließt sich die Integrationslehre der herkömmlichen Verbindung der Souveränitätslehre mit der Vorstellung der Rechtspersönlichkeit des Staates a n 4 1 0 . Gleich im Anschluß an seine Erörterungen zur Souveränität verläßt Smend sogar ausdrücklich die ausschließliche Zurückführung aller staatlichen Wirklichkeit auf den Vorgang der Integration und konstatiert etwas unvermittelt, die Wirklichkeit des Staates bestehe „in seinem Leben als Integration und ordnende und gestaltende Machtentfaltung" 411 . Der zweite Teil des Satzes sagt im Grunde noch einmal das aus, was in der herrschenden Staatstheorie mit dem Begriff der Souveränität umschrieben wird 4 1 2 . Der Grundgedanke der Integrationslehre von dem Staat als dem Einheitsgefüge der Einzelakte einer großen Menschenzahl verbindet sich nun mit dem Begriff des Staates als dem eigenständigen Willensverband zu einem unklaren Nebeneinander. Ein Versuch, diese beiden disparaten Ansätze in eine Beziehung zueinander zu bringen, findet sich nicht 4 1 3 . Auch den Ausführungen Smends zur staatlichen Herrschaft gelingt es nicht, allein mit der Figur der Integration auszukommen. Zwar beschäftigt sich der Typus „der persönlichen Integration" ausdrücklich 407 Vgl. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 67; Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, S. 54. 408 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 139. 409 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 196; vgl. auch dens., Art. Staat, S. 521. 410 Ein interessanter Versuch, die Lehre vom Staat als Integrationssystem menschlicher Handlungen auch für den Begriff der Souveränität zu verwenden, findet sich bei Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 19. Bäumlin definiert Souveränität als „eine im Willensbildungsprozeß des pluralistischen Staates an die für diesen verantwortlichen Personen gestellte Forderung". Souveränität ist damit eine „andere Bezeichnung für die aufgegebene Einheit des geschichtlichen Staates". 411
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 207. Hierzu Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 77 ff. 413 Das hat vor allem Nawiasky, Allgemeine Staatslehre I, S. 135, kritisch vermerkt. Vgl. auch H. Mayer, Die Krisis, S. 55. 412
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mit dem Problem der staatlichen Führung, das aber nur insoweit, als es um die Führung durch integrierende Persönlichkeiten geht 4 1 4 . Die Kategorie der abstrakt gefaßten staatlichen Herrschaft versucht Smend dann zwar als einen Faktor funktioneller Integration zu erfassen, jedoch mit der wesentlichen Einschränkung, daß die im Staat verkörperte Wertgesetzlichkeit des Geistes in der Herrschaft nur vermittelt zum Zuge kommt. „Herrschaft ist nämlich als soziale Erscheinung nie etwas Letztes, sondern stets legitimierungsbedürftig ... Es stehen hinter ihr stets andere Werte und Ordnungen, ... integrierende Faktoren, die eine Gemeinschaft, innerhalb derer geherrscht werden kann, schon begründet haben und dauernd weiter begründen" 415 . Herrschaft gilt Smend als „die allgemeinste Form funktioneller Integration", „eine Lebensform des Ganzen wie des Einzelnen, der sie mitträgt und ermöglicht..., und gerade auch als Beherrschter in einer Beziehung integrierenden geistigen Austauschs steht" 4 1 6 . Staatliche Herrschaft ist damit im Grunde eine persönliche Beziehung, also persönliche Herrschaft, und führt auf das Problem der persönlichen Integration zurück. Die Grundannahme der gegen den Absolutismus gerichteten Staatstheorie des 19. Jahrhunderts, nach der die Erhebung des Menschen zur Person im Staat gerade die Befreiung des Menschen von persönlicher Herrschaft und ihre Ersetzung durch rechtlich gebundene Herrschaft der Staatspersönlichkeit zur Voraussetzung h a t 4 1 7 , läßt Smend unbeachtet. Damit ist sicherlich keine Rückkehr zur patrimonialen Theorie staatlicher Herrschaft als der persönlichen Herrschaft des Fürsten verbunden, denn Smend will den Staat aus den Erlebnissen aller einzelnen Staatsbürger begründen; daß jedoch staatliche Herrschaft im Sinne der Fähigkeit verstanden werden kann, verselbständigten staatlichen Willen anderen Willen unbedingt zur Erfüllung aufzuerlegen 418 , liegt außerhalb des Blickfeldes der Integrationslehre 419 . Smends Denken widerstrebt es ganz offensichtlich, staatliche Verhältnisse im Sinne eines Aufeinandertreffens verschiedener Willenssphären zu begreifen, die in Konflikt miteinander geraten können. Es handelt sich hier um einen grundsätzlichen Zug, der bereits im ersten Teil der vorliegenden Arbeit in dem ganz anderen Zusammenhang des monarchischen Bundesstaatsrechts deutlich geworden ist. Dort hatte Smend im Wege der Konstituierung einer rechtssatz414
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 143 ff. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 150. 416 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 158. 417 Vgl. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 28ff., 194; ders., Staatenverbindungen, S. 261. 418 So bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 180. 419 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 158, weist gleichzeitig diejenigen Begriffe von Herrschaft zurück, welche die von im bereits pauschal abgelehnten Staatstheoretiker geprägt und zu einem zentralen Element des Staatsbegriffes erhoben hatten. So hatte M. Weber in soziologischer Sichtweise staatliche Herrschaft als Gehorsamschance definiert, verbunden mit dem Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit (M. Weber, Staatssoziologie, S. 27). 415
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mäßigen Treuepflicht ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Gliedern eines Bundesstaates begründet, das die strengen verfassungsgesetzlichen Herrschaftsbeziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten kompensieren und umgestalten sollte. Indem die Adressaten dieser Treuepflicht vorrangig die einzelstaatlichen Monarchien waren, gelangte gleichzeitig ein Stück persönlicher Beziehungen in das Staatsrecht. Die Verwendung der Begriffe „Treue" und „Fühlungnahme" 420 war in diesem Zusammenhang bezeichnend. In den staatstheoretischen Aussagen der zwanziger Jahre verlegt Smend die größtmögliche Herrschaftslosigkeit der staatlichen Beziehungen, zusammengefaßt in dem Gebot des einigenden Zusammenwirkens, bereits in die allgemeine Staatslehre, noch jenseits aller Berücksichtigung des Rechts und der Besonderheiten der Staatenbeziehungen des Bundesstaates. Erst in einem späteren lexikalischen Beitrag hat Smend, ohne einen direkten Zusammenhang mit .der Integrationslehre herstellen zu können, die Ausübung und Innehabung von Macht als deutlich herausgehobenen Faktor in die Bestimmung des Staates einbezogen. Dort ist es sogar die „hervorragendste Eigentümlichkeit" des Staates, „Träger von Macht zu sein" 4 2 1 . Das Wort „Träger" zeigt an, daß hier die Grundlage der Integrationslehre verlassen ist. Als Machtträger ist der Staat nur denkbar, wenn er als verselbständigtes Subjekt gedacht wird, das anderen Subjekten gegenübertritt. Dennoch versucht Smend auch hier, Macht aus dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft herzuleiten. Er gelangt in Anlehnung an die frühere Deutung der Herrschaft dazu, daß die staatliche Macht „eine menschliche Beziehung" schafft, die in einem „steten Austausch zwischen dem Machtträger und seinem Partner besteht" 422 . Es bleibt also bei dem partnerschaftlichen Austausch statt des Aufeinanderpralls verschiedener Willenssphären mit dem Anspruch eines übergeordneten Willens, Befolgung verlangen und durchsetzen zu können. Insgesamt belegen die angeführten Zitate, daß die Begriffe der Herrschaft und der Staatsgewalt bei Smend keine eindeutige Klärung finden. Eine Staatslehre, die konsequent aus den Grundannahmen der Integrationslehre entwickelt wird, kann voraussetzungsgemäß mit ihnen nichts anfangen. Einem Verständnis des Staates als geschlossener Kreis, der sich in den realgeistigen Akten der ihm angehörenden einzelnen betätigt, ist nicht an einer Erfassung staatlicher Willens- und Einflußsphären gelegen. Staatliche Gewaltverhältnisse können nur als harmonische Beziehungen der Staatsbürger gedeutet werden, wobei nicht recht ersichtlich ist, worin der Unterschied zwischen dem „steten Austausch", der durch Machtausübung geschaffen wird, und dem im geschlossenen Kreis 420
Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 42. Smend, Art. Staat, S. 521. Trotz des referierenden Charakters dieses lexikalischen Beitrags sind Smends Ausführungen zum gegenwärtigen Stand des Staatsdenkens von der eigenen integrationstheoretischen Betrachtungsweise deutlich geprägt und können deshalb hier herangezogen werden. 421
422
Smend, Art. Staat, S. 521.
III. Smends Bundesstaatslehre als Anwendungsfall der Integrationslehre
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bereits angelegten dauernden Austausch bestehen könnte 4 2 3 . Welche Folgen sich daraus für die Bundesstaatslehre ergeben, wird zu zeigen sein. In bezug auf die allgemeine Staatslehre wird man jedoch noch einen Schritt weitergehen müssen. Die Erfassung staatlicher Herrschaft ist der Integrationslehre deshalb nicht möglich, weil der Begriff der Integration lediglich soziale Synthesen zu erfassen vermag. Seine Grenze liegt darin, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein festzustellen. Im letzteren Fall kann die Herstellung der sozialen Synthese gefordert werden, gestützt auf die überempirisch vorgegebene Notwendigkeit staatlicher Einheitsbildung. Damit unvereinbar ist das Verständnis des Staates als eines vorgegebenen „Machtzentrums" 424 oder verselbständigten Inhabers der Staatsgewalt. Der durch Herrschaft stabilisierte Staat wäre kein geschlossener Kreis im Sinne Litts 4 2 5 . In der Herausführung der Staatslehre aus der Fixierung auf den Begriff der „Staatsgewalt" liegt der Wert, gleichzeitig aber die Grenze der von Smend vorgenommenen staatstheoretischen Neubegründung. Vom juristischen Standpunkt aus erscheint sie deshalb problematisch, weil der Staatsbegriff Smends zwar soziale Eigenschaften des Menschen berücksichtigt und die Notwendigkeit des Staates für die menschliche Existenz bekräftigt, jedoch keinen spezifisch juristischen Aussagewert hat. Für den Juristen kann das Wort Staat nur als Begriff sinnvoll sein, der mit rechtlich relevanten Merkmalen definiert ist 4 2 6 . Indem Smend bewußt darauf verzichtet, fällt er im Grunde hinter die Erkenntnisse der konstitutionellen Staatslehre zurück. Dennoch ist Smend zu sehr Jurist, als daß seine radikale Zurückführung des Staates auf Integrationsvorgänge das letzte Wort wäre. Seine Neubegründung fällt in Wirklichkeit nicht so radikal ablehnend gegenüber dem vorgefundenen Staatsdenken aus, wie es die Vorbemerkung und die einleitenden Ausführungen der Schrift „Verfassung und Verfassungsrecht" vermuten lassen. Schon bei Smends Rückgriff auf rechtliche Kriterien zur Begründung des Staates als geschlossener Kreis konnte dies festgestellt werden. Die zitierten, zur radikalen „Zurückführung aller staatlichen Wirksamkeit auf einen immanenten Lebensvorgang" 427 der Integration nicht recht passenden Äußerungen Smends zum Staat als dem „souveränen Willensverband" zeigen weiter, daß sich die Integrationslehre durchaus nicht scheut, auf die Ergebnisse der sonst prinzipiell abgelehnten Staatstheorien zurückzugreifen. Dann erscheint der Staat doch als das, was vorher mit viel Aufwand durch die Begriffe des geschlossenen Kreises 423 Eine Fehldeutung ist es deshalb, wenn Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 79 ff., ganz im Bann der Kritik H. Hellers an Smend der Integrationslehre vorhält, sie schlage in eine nur „mühsam verharmloste Machtstaatstheorie" um. 424 In der Ablehnung dieser Denkweise noch einmal sehr deutlich Smend, Art. Integration, S. 485; ders., Art. Integrationslehre, S. 479. 425 Vgl. Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 218. 426 Vgl. Quaritsch, Staat und Souveränität I, S. 21. 427 Smend, FS Scheuner, S. 585.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
und der Integration zurückgewiesen wurde: als verselbständigtes organisiertes Gebilde. Zahlreiche polemische Überspitzungen im grundlegenden ersten Teil der Smendschen Schrift werden dadurch in späteren Anwendungsfallen wesentlich eingeschränkt. Wenn das Wesen des Staates nach der bereits angeführten, etwas versteckt getroffenen Feststellung Smends in der Integration und — zusätzlich — in der ordnenden und gestaltenden Machtentfaltung besteht 428 , dann kann die integrationstheoretische Betrachtung, wenngleich Smend diese Folgerung nicht zieht, auch nur einen Teil der Lehre vom Staat erschließen. Für die Begründung einer Bundesstaatslehre als einer Folgerung aus dem Staatsbegriff ist bereits hier festzustellen, daß der erste Teil von „Verfassung und Verfassungsrecht" nicht alle diejenigen Voraussetzungen selbständig entwickelt, die zu einer völlig neuen Theorie führen könnten. Eine widerspruchsfreie und begründete Loslösung von den Begriffen Souveränität, Herrschaft und Staatsgewalt fehlt, so daß die brüske Zurückweisung der bisherigen Rechtstheorien des Bundesstaates wenig überzeugend erscheint. 3. Die Integrationslehre des Bundes Die Natur des Bundesstaates möchte Smend einer Klärung mit der Fragestellung zuführen, wie dieser besondere Staatstypus mit den beiden politischen Polen des Gesamtstaates und der Einzelstaaten als einheitliches Integrationssystem verständlich wird 4 2 9 . Eine Bundesstaatstheorie habe zu erklären, warum der Bundesstaat in einer bestimmten geschichtlichen Situation ein sinnvolles politisches System sein kann 4 3 0 . Mit diesem Ansatz weist Smend das spezifisch juristische Interesse am Bundesstaat zurück, das geklärt wissen möchte, ob in rechtstheoretisch widerspruchsfreier Weise eine Zusammenordnung von Staaten zu dieser Organisationsform möglich ist. Smends Fragestellung ist eine historisch-politische, welche die Beziehungen von Bund und Ländern nicht in eine Summe von Rechten und Pflichten und sonstigen Rechtsverhältnissen auflöst, sondern darauf abzielt, Zustimmung zur Form des Bundesstaates zu schaffen. Es geht um den Sinn und die sachliche Legitimation dieser Staatsform, die ungeachtet der verfassungsgesetzlichen Anordnung von Smend nicht als unproblematisch gegeben, sondern als etwas Infragegestelltes angesehen wird 4 3 1 . Sinnvoll kann der komplizierte Aufbau des Bundesstaates nach Smends Ansicht nur sein, wenn sich zeigen läßt, daß die Gliedstaaten weder ein hemmendes Element auf dem Wege zu einem als Ideal zu wünschenden Einheitsstaat sind, noch lediglich nützliche Untergliederungen darstellen, die 428 429 430 431
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 207. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 224, 233. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 225. Vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 118.
III. Smends Bundesstaatslehre als Anwendungsfall der Integrationslehre
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der Gesamtorganisation die Erfüllung bestimmter Aufgaben abnehmen können. Entscheidend ist für die bundesstaatliche Zusammenordnung nicht der bestimmte normative Charakter von Reich und Ländern, sondern ihr Zusammenwirken. Auch hier kommt es also nicht auf die ruhende Substanz der Staaten an, sondern auf ihre Lebensäußerungen. Die Lösung des Bundesstaatsproblems leitet Smend dementsprechend aus der Funktion des bundesstaatlichen Aufbaus für die Integrationsaufgabe des Staates ab. Der Gesamtstaat und die Einzelstaaten sind Objekt, Subjekt und Mittel der staatlichen Integration 432 . Reich und Länder bilden eine „Lebenseinheit ..., eine Einheit, in der sie nicht zwei Bestandteile, sondern zwei Momente sind" 4 3 3 . Je nach der historischen Situation liegt dabei das Schwergewicht der Integration auf dem gesamtstaatlichen oder einzelstaatlichen Pol. Der Aufbau und die Stärkung des Gesamtstaates als Integrationssystem steht dann im Vordergrund, wenn der Bundesstaat aus bisher souveränen Einzelstaaten entsteht, wie dies in Deutschland 1871 und in der Nordamerikanischen Union 1787 der Fall war. Kennzeichnend ist für diese Lage, daß die Einzelstaaten in der Gestaltung ihrer inneren Verhältnisse durch die Verfassung des Bundes nicht beschränkt sind und als eigenständige politische Existenzen keines besonderen Schutzes bedürfen 434 . Auf die Erhaltung der Gliedstaaten als eigenständige Integrationssysteme kommt es demgegenüber an, wenn — wie in der Weimarer Republik — der bundesstaatliche Aufbau kraft eigener Entscheidung von der Zentralgewalt ausging und das entscheidende Merkmal darin liegt, daß kraft gesamtstaatlicher Anordnung — in der Weimarer Verfassung durch Art. 17 — den Einzelstaaten bestimmte Prinzipien ihrer Organisation verpflichtend vorgeschrieben sind. In diesem Fall droht die eigenständige Existenz der Gliedstaaten zugunsten einer Unitarisierung des Bundesstaates immer mehr eingeschränkt zu werden. Die staatsrechtliche Legitimität des echten Bundesstaates, die in der historischen Staatsindividualität der Einzelstaaten besteht, geht verloren. Das wichtigste Problem des Bundesstaates ist für Smend die — hier transitiv gemeinte — Integration der Gliedstaaten als Objekt: „Staatliche Lebenswirklichkeit ist Integration, und als nächstliegenden Sinn der bundesstaatlichen Integration hat man zunächst mit einem gewissen Recht die dauernde Einordnung des Lebens der Einzelstaaten in das Ganze angesehen" 435 . Im Kontext der Integrationslehre ist diese Feststellung bemerkenswert, denn mit der staatstheoretischen Grundlegung durch Smend ist sie kaum vereinbar. Der Staat als geschlossener Kreis ist nur als Verbindung von Menschen denkbar. Im Bereich der Bundesstaatslehre wird diese geisteswissenschaftliche Verknüpfung verlas432
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 225, 269f. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 225. 434 Folgerichtig enthielt die Reichsverfassung des Jahres 1871 keine an die Gliedstaaten gerichteten Normativbestimmungen betreffend die Gestaltung der einzelstaatlichen Verfassungen, vgl. Anschütz, Kommentar, Art. 17 Anm. 1. 435 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 223. 433
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
sen. Auch Staaten können als Objekt an einem Integrationsvorgang teilhaben, auch zwischen ihnen ist geistiger Austausch möglich. Die verschiedenen geschlossenen Kreise innerhalb des Bundesstaates verselbständigen sich, denn dessen übereinandergelagerte Staaten bedeuten zuallererst nicht eine Einbeziehung des Staatsbürgers in verschiedene Staaten, sondern eine Integration der Verbände. Das Wort Integration hat den komplexen staatstheoretischen Kontext abgestreift und ist zum Schlagwort geworden, das nicht mehr als die „Einordnung" der Einzelstaaten in das Staatsganze bezeichnet. Selbst in politischer Betrachtungsweise ist das eine überaus vage Kategorie, die zu den verschiedensten Folgerungen Anlaß geben kann, etwa der, daß das Reich berechtigt sein könnte, auf die politische Haltung der Länder Einfluß zu nehmen. Den Schlagwortcharakter an dieser Stelle belegt aber auch ein weiteres: „Man", also nicht erst Smend, hat bereits diese Einordnung der Gliedstaaten als den vorrangigen Sinn der bundesstaatlichen Integration erkannt 4 3 6 . Von dem Anspruch des völligen Neuaufbaues der Staatslehre durch die Integrationslehre ist kaum noch etwas zu spüren, wenn Smend sich hier auf frühere Überlegungen zur Bundesstaatsfrage stützen kann. Die Gliedstaaten sind aber nicht nur Objekt, sondern zugleich auch Subjekt und Mittel der staatlichen Integration. Das Reich, so läßt sich der Ansatz der Integrationslehre auf die Bundesstaatstheorie übertragen, besteht nur in und zusammen mit den Ländern. Hier gelingt Smend dann die Verbindung der bundesstaatlichen Idee mit dem praktischen Anliegen der Integrationslehre, den einzelnen wirkungsvoll als Staatsbürger einzubeziehen. Die sich überlagernden Staaten binden den Bürger in zweifacher Weise, durch die regionale, leichter überschaubare Staatlichkeit des Gliedstaates und die gleichzeitige Einbeziehung in den Oberstaat. Bundesstaatlichkeit erhöht die „politische Erfaßbarkeit" 437 der verschiedenen Landschaften. Nur die moderne städtisch-bürgerliche Gesellschaft könnte von einem deutschen Einheitsstaat wirksam als Staatsbürger erfaßt werden, während die übrige Bevölkerung, deren Zusammenhalt auf konfessionellen und territorialstaatlichen Momenten beruht, durch die Einzelstaaten als die „notwendige Integrationshilfe des Reichs" 438 politisch erfaßt wird. Die bundesstaatliche Struktur Deutschlands rechtfertigt sich also durch die Individualität der deutschen Länder. Deren Mannigfaltigkeit ist eine Voraussetzung staatlicher Einheit. Daß der Bundesstaat für Deutschland eine sinnvolle politische Idee darstellt und an welchen historischen Maßstäben dies erkannt werden kann, hat Smend damit jedoch noch nicht abschließend dargetan. Den Maßstab für den Sinn des 436 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 225, beruft sich auf die Arbeiten von Triepel (Die Reichsaufsicht, 1917) und von Bilfinger (Der Einfluß der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens, 1923). 437 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 226. Hier knüpft Smend an Überlegungen von Beyerle, Art. Föderalismus, Sp. 60, an. 438 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 226.
III. Smends Bundesstaatslehre als Anwendungsfall der Integrationslehre
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Bundesstaates soll ein Vergleich der staatlichen Ordnungen von 1871 und 1919 ergeben. Die Reichsgründung Bismarcks sieht Smend als den Versuch an, den Bundesstaat vor den bis dahin souveränen Einzelstaaten zu rechtfertigen, und zwar durch die rein „technische Notwendigkeit", das Gesamtvolk „außenpolitisch, militärisch, finanziell, handelspolitisch überhaupt aktionsfahig zu machen" 439 . Der Ausdruck eines gemeinsamen politischen Ethos habe diesem Staat gefehlt: Die Verfassung enthielt keine Bekenntnisse zu politischen Werten, kein ausdrückliches Bekenntnis zur Staatsform des Bundesstaates, keine Grundrechte. Der Bismarcksche Bundesstaat war ein „politischer Zweckverband", keine „geistige Zusammenfassung der Nation" 4 4 0 . Der Aufbau des Reiches war auf die Schonung der Einzelstaaten und ihrer Dynastien berechnet und sollte als eigenständige staatliche Individualität so wenig wie möglich in Erscheinung treten. In der Sprache der Integrationslehre handelte es sich im wesentlichen um ein „System funktioneller Integration" 4 4 1 . Das Funktionieren und der Bestand des Reiches wurde hauptsächlich auf die bundesfreundliche Zusammenarbeit der Reichszentrale, Preußens und der übrigen Einzelstaaten gestützt. Da aber nach dem theoretischen Konzept der Integrationslehre eine funktionierende Staatlichkeit auf dem Zusammenspiel funktioneller, persönlicher und sachlicher Integrationsfaktoren beruht 4 4 2 , kann erwartet werden, daß für Smend der rein technische, funktionelle Aufbau des Kaiserreiches, gemessen am Maßstab der Integration, unbefriedigend gewesen sein muß. Von einer solchen Einschätzung jedoch ist Smend weit entfernt: Das Kaiserreich habe das „Meisterwerk" 4 4 3 bundesstaatlichen Aufbaues dargestellt, es sei „gerade der erstrebte deutsche Nationalstaat" 444 gewesen, in dem sich die „legitimierende Kraft des nationalstaatlichen Gedankens und des nationalen Parlaments... von selbst" 445 habe einstellen können. Den Grund für diese Überzeugungskraft des Staates erblickt Smend in der verfassungspolitischen Kunst Bismarcks, in dessen „souveräner Beherrschung der integrierenden Mittel und der intuitiven Klarheit über die damalige Quelle staatlicher Legitimität" 4 4 6 . Im Vergleich hierzu schätzt Smend die Bewältigung der bundesstaatlichen Integration im Weimarer Staat als wenig gelungen ein. „Zerstört ist jenes 439
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 227. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 228, im Anschluß an eine Bemerkung Friedrich Naumanns. 441 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 229. 442 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 171, ferner S. 175: Es sei „daran festzuhalten, daß der Staatsverband seine Einheit hat vermöge sämtlicher Integrationsfaktoren, also vermöge seines Sachgehaltes und seines Willenslebens 443 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 229. 444 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 230. 445 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 231. 446 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 230. 440
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Integrationsgebäude, das beruhte auf der unerschütterlichen Solidarisierung der Reichsspitze und der Einzelstaaten im Kartell der Fürsten und Bürokratien, einig unter dem Druck der Hegemonie und des Reichstages, geschützt gegen Reichstag und öffentliche Meinung durch das Bollwerk des unverantwortlichen Bundesrats . , . " 4 4 7 . Die Integrationsformen des Kaiserreiches sind nur „in Resten erhalten geblieben", und beim Neuaufbau des Jahres 1919 sind „verfassungspolitische Rechenfehler" 448 gemacht worden, die im Grundsatz in einer Schwächung der Stellung der Länder im Reichsganzen bestehen und deshalb das bundesstaatliche Gleichgewicht empfindlich gestört haben. Das Reich, von dem im Gegensatz zu 1871 die bundesstaatliche Gliederung ausgegangen ist, bemüht sich weniger um die Einbeziehung als vielmehr um die politische Mattsetzung der Länder. Diese ihrerseits setzen ihre Eigenständigkeit und ihr politisches Gewicht durch einen eigenen Fehler aus Spiel, der darin besteht, auf ihrem Gebiet mehr Reichs- als Landespolitik zu betreiben, worin sie naturgemäß den Kräften des Reiches unterlegen sein müssen. Als Einschätzung der politischen Lage des Weimarer Bundesstaates waren diese Beobachtungen, angesichts der immer stärker werdenden zentralen Exekutive und Legislative 449 und angesichts der parteipolitisch gefärbten Auseinandersetzungen zwischen Reich und Ländern 4 5 0 , sicherlich zutreffend. Die politischen Konflikte, die ausnahmslos dann stattfanden, wenn völlig entgegengesetzte politische Gruppierungen im Reich und in den Ländern die Regierungsgewalt innehatten, bedrohten bislang sogar den Fortbestand des Reiches überhaupt 451 . Das zeigt ein Blick auf die gravierendsten Streitfalle, soweit sie in die Zeit vor dem Erscheinen von Smends „Verfassung und Verfassungsrecht" fallen. Im Frühjahr 1920 fanden im Anschluß an den gescheiterten Kapp-Putsch in Teilen Thüringens Aufstandsbewegungen statt, denen das Reich durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 WRV und eine Reichsexekution begegnete452. Im Herbst 1923 kam es zu Konflikten zwischen dem Reichskabinett Stresemann und der bayrischen Landesregierung in der Frage, wie ein in Bayern angesichts des massierten Auftretens von Kampfbünden drohender rechtsradikaler Putsch verhindert werden könnte. Hierzu erging am 23. September 1923 eine Notverordnung des Reichspräsidenten, die teilweise in 447
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 231. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 231. 449 Vgl. Anschütz, VVDStRL 1 (1924), S. 16ff.; ders., Kommentar, Einleitung, S. 2. 450 Vgl. Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 5; Apelt, Geschichte der Weimarer Reichsverfassung, S. 173 ff.; Bayer, S. Uf.;Bilfinger, DJZ1932,Sp. 1018, hat deshalb vom „Parteienbundesstaat" der Weimarer Republik gesprochen; siehe dazu auch C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 95. 451 Vgl. Bayer, S. 14 f. 452 Vgl. hierzu Apelt, Geschichte der Weimarer Reichsverfassung, S. 171; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 119ff.; Poetzsch, JöR 13 (1925), S. 91 ff. 448
III. Smends Bundesstaatslehre als Anwendungsfall der Integrationslehre
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Widerspruch zu den von der bayrischen Regierung ergriffenen Maßnahmen stand 453 . Die Spannungen erreichten ihren Höhepunkt, als Bayern sich weigerte, Reichsrecht auszuführen 454 . Dann begann der Widerstand Bayerns gegen den militärischen Oberbefehl des Reiches über die Reichswehr. Der bayrische Kommandeur der in Bayern stationierten 7. Reichswehrdivision weigerte sich, Reichsbefehle auszuführen. Als er daraufhin seines Amtes enthoben wurde, ging die Landesregierung zur offenen Meuterei gegen das Reich über 4 5 5 . Sie machte den Versuch, die 7. Division aus der Reichswehr herauszulösen. „Es war die dreisteste Auflehnung eines Einzelstaates, die in der ganzen Geschichte des deutschen Reichs jemals vorgekommen i s t " 4 5 6 . Zur gleichen Zeit schritt das Reich gegen Putschbewegungen von links ein: Nachdem das sozialdemokratisch-kommunistische Regierungsbündnis in Sachsen am 12. Oktober 1923 sein Regierungsprogramm vorgestellt hatte, das den Aufbau bewaffneter „proletarischer Hundertschaften" vorsah, wurde die Reichsexekution gegen Sachsen durch den Reichspräsidenten Ebert am 29. Oktober 1923 verhängt. Seine Verordnung vom gleichen Tage ermächtigte den Reichskanzler, Mitglieder der sächsischen Landesregierung ihres Amtes zu entheben und andere Personen mit der Führung der Regierungsgeschäfte zu betrauen 457 . Der vom Reichskanzler ernannte Reichskommissar griff hart durch. Unter Einsatz der Reichswehr wurden die sächsischen Ministerien geräumt. Es gelang jedoch, bis zum 31. Oktober 1923 die Krise einem Ende zuzuführen. An diesem Tag wählte der Landtag eine ausschließlich aus Sozialdemokraten gebildete Regierung. A m 1. November 1923 hob Ebert seine Verordnung vom 29. Oktober 1923 auf. Solche schwerwiegenden Auseinandersetzungen zwischen Reich und Ländern wären unter den weitgehend homogenen monarchischen Staaten des Kaiserreiches und der dort von Smend beobachteten Politik des gegenseitigen harmonischen Ausgleichs undenkbar gewesen. Bei einer Bestandsaufnahme des demgegenüber desolaten Zustandes der Weimarer Bundesstaatlichkeit und der Feststellung „verfassungspolitischer Rechenfehler" hätte Smend jedoch nicht stehenbleiben dürfen, um seinem Anspruch zu genügen, den politischen Sinn des Bundesstaates in der konkreten geschichtlichen Situation aufzuzeigen. Stattdessen wäre eine positive Darlegung gefordert gewesen, auf welche Weise bundes453
Siehe Flemming, S. 113; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 343 ff. Vgl. Bayer, S. 15; Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 188. Zu Recht weist jedoch Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 94 Fn. 3, daraufhin, daß es sich in diesem Fall nicht um einen Konflikt handelte, der das Weiterbestehen des Reiches in seiner bisherigen Form in Frage stellte. Auch auf bayerischer Seite wurde ausdrücklich an der Reichseinheit und der Einordnung Bayerns in das Reich festgehalten. 454
455
Eyck, Geschichte der Weimarer Republik I, S. 357. Eyck, Geschichte der Weimarer Republik I, S. 357. 457 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 376 ff.; Poetisch, JöR 13 (1925), S. 96ff.; Eyck, Geschichte der Weimarer Republik I, S. 359 ff. 456
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staatliche Integration unter den im Vergleich zum Kaiserreich völlig veränderten Bedingungen hätte funktionieren können. Der Weimarer Staat durfte nicht am monarchischen Bundesstaat Bismarcks gemessen werden, sondern Smend hätte zeigen müssen, worin ein neuer Sinn des veränderten bundesstaatlichen Aufbaues liegen könnte, trotz oder gerade wegen der verschiedenen Zerreißproben der Staatlichkeit während der zwanziger Jahre. Daran fehlt es der Bundesstaatslehre Smends jedoch völlig. Sie ist ausschließlich am historischen Modell der verfassungspolitischen Gestaltung des Jahres 1871 orientiert 458 , in deren Licht jede Veränderung als Verfall und geradezu als eine der Ursachen der bundesstaatlichen Krise erscheinen muß. Andererseits zieht Smend die letzte logische Konsequenz dieser retrospektiven Orientierung der Bundesstaatslehre nicht, die darin bestehen würde, die Bundesstaatlichkeit der Weimarer Republik überhaupt zu verneinen 459 . Das Versagen der Integrationslehre bei der Erklärung des republikanischen und konfliktgeladenen Bundesstaates beruht auf der unzureichenden Klärung des Politischen. Bei der Einbeziehung des Bürgers in den Staat gelangt Smend über die Hervorhebung bereits bestehender Integrationsleistungen nicht hinaus, der drohenden Desintegration durch den Zerfall in gegenseitig sich bekämpfende gesellschaftliche Gruppen kann er nicht wirksamer begegnen als durch die Warnung davor, sich politisch zu konfessionalisieren. Smends ausdrücklich sich politisch gebende Bundesstaatslehre zeigt den entsprechenden Mangel. Die weitgehend harmonischen Beziehungen von Reich und Gliedstaaten nach 1871 sind das Vorbild des bundesstaatlichen Integrationssystems — für die bundesstaatliche Desintegration der zwanziger Jahre hat Smend keine Lösung als die, an die frühere Harmonie des monarchischen Bundesstaates zu erinnern und die echte Legitimität des Bundesstaates in dem Aufbau aus starken Einzelstaaten zu erblicken. Es zeigt sich hier, daß Smends Denken in den zwanziger Jahren offenbar doch mehr der vergangenen monarchischen Ordnung verhaftet war 4 6 0 , als er dies später hat wahrhaben wollen 4 6 1 .
458
Vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 118 f. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 269 Fn. 3, hält ausdrücklich an der Staatlichkeit der Länder und der Bundesstaatlichkeit des Reiches fest. Andere Autoren, welche die streng bündnismäßige Struktur des früheren Reiches betonten, die durch die Revolution und die Weimarer Verfassung denaturiert worden sei, deuteten das Reich unter dieser Verfassung als Einheitsstaat, so Giese, Verfassung des Deutschen Reiches, S. 63: „Das Reich ist ein dezentralisierter Einheitsstaat geworden"; nicht ganz so deutlich Jacobi, Einheitsstaat oder Bundesstaat, S. 16ff.; Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 39ff., 128ff., 154ff. Siehe hierzu Anschütz,Kommentar, Art. 1 Anm. 4. 460 A u f Bedenken stößt angesichts dieser Bundesstaatslehre die Meinung Rennerts, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 48, wonach Smends Einstellung zur Weimarer Reichsverfassung nicht durch „kühle Reserviertheit" geprägt war, sondern zu einem verstärkten Engagement führte, „das Verfassungswerk umzusetzen in gelebte Verfassungswirklichkeit" . 459
III. Smends Bundesstaatslehre als Anwendungsfall der Integrationslehre
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Aufschlußreich ist es, an dieser Stelle die Weiterentwicklung der Gegensätze zwischen Carl Schmitt und Smend bei der Bestimmung des Politischen auch im Bereich der jeweiligen Bundesstaatslehre zu verfolgen, Übereinstimmend finden beide Autoren den Zweck der Bundesstaatlichkeit in der politischen Selbsterhaltung der beteiligten Staaten. Auch Schmitt hält eine theoretische Konzeption des Bundesstaates, die mit den Begriffen der Staatsgewalt und Souveränität operiert, für unbrauchbar 462 . Wo Smend aber an der Herstellung des bundesstaatlichen Ausgleichs durch Integration orientiert ist, analysiert die Bundesstaatslehre Carl Schmitts 463 das prekäre Gleichgewicht zwischen politischer Gliedstaatlichkeit und politischer Gesamtstaatlichkeit bis hin zu der ausdrücklich ausgesprochenen Konsequenz, daß die Weimarer Republik nur in einem sehr eingeschränkten Sinne als Bundesstaat bezeichnet werden könne 4 6 4 . Der Bund ist für Schmitt die Staatsform der Antinomien. Obwohl sich staatliche Einheit durch die kämpferische, politische Abgrenzung gegenüber anderen Einheiten herstellt, ist den Mitgliedern des Bundes diese Abgrenzung, soweit sie gegenüber den anderen Mitgliedern getroffen werden könnte, versagt: „innerhalb des Bundes und zwischen den Bundesmitgliedern darf kein Krieg mehr stattfinden" 465 . Dennoch, trotz des Verlusts der uneingeschränkten Möglichkeit zur Freund-Feind-Unterscheidung, sollen die Bundesglieder im Bund ihre Staatlichkeit nicht verlieren; der Bund muß sogar die Garantie der politischen Existenz jedes Bundesmitgliedes enthalten. „Das 461 Vgl. Smend, FS Scheuner, S. 585, mit dem bereits erwähnten Anspruch, durch die Integrationslehre „alle heteronomen Reste monarchischer Ordnung aus dem nunmehr geforderten Verfassungsdenken" ausgeschlossen zu haben. Erwähnenswert erscheint, obwohl ein direkter Rückschluß auf die wissenschaftliche Tätigkeit Smends daraus nicht gezogen werden kann, seine Mitgliedschaft in der Nachfolgepartei der Konservativen des Kaiserreichs, der DNVP, aus der Smend 1930, aus Protest gegen die Aktivitäten Hugenbergs, austrat (so Leibholz, Rudolf Smend, S. 18). In der verfassunggebenden Nationalversammlung von Weimar hatten bei der Schlußabstimmung vom 31. Juli 1919 37 von 43 Abgeordneten der DNVP gegen die Annahme der Verfassung gestimmt (vgl. Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 29; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1178ff., 1204f.). In der Folgezeit rang sich die DNVP zwar zur Anerkennung der parlamentarischen Regierungsform durch, stand jedoch unverändert zu dem Programm einer zu restaurierenden Monarchie (hierzu Heiber, Die Republik von Weimar, S. 35; Nawiasky, Grundprobleme I, S. 85). Daß auch Smend der Übergang in die neuen politischen Verhältnisse nicht ohne Schwierigkeiten gelang, belegt seine erste Arbeit zur Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahre 1919, die sich mit den Auswirkungen des neu eingeführten Verhältniswahlrechts beschäftigt, welches Smend heftig kritisiert und als Ausdruck „unklare(n) verfassungspolitische(n) Streben(s) der Gegenwart" bewertet (Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, S. 66f.). 462
Vgl. Herzog, Art. Staatenverbindung, EvStL, Sp. 2489. Die Schmitt ohne Rücksicht auf die Unterscheidung zwischen Staatenbund und Bundesstaat als „Verfassungslehre des Bundes" entwickelt (C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 366). 464 Siehe C. Schmitt,Verfassungslehre, S. 388 f., mit der Begriffsprägung des „Bundesstaates ohne bündische Grundlage". 465 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 369. 463
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Wesen des Bundes liegt in einem Dualismus der politischen Existenz, in einer Verbindung bundesmäßigen Zusammenseins und politischer Einheit auf der einen Seite mit dem Weiterbestehen einer Mehrheit, einem Pluralismus politischer Einzelexistenzen auf der anderen Seite" 466 . Diesen Zustand bewertet Schmitt als logischen Widerspruch: mehrere politische Existenzen kann es auf die Dauer auf demselben Territorium nicht geben, denn das Wesen der Einheit besteht gerade darin, Einheit zu sein. Auch wenn in der Praxis eine friedliche Selbstbeschränkung der beteiligten Staaten durch politische Homogenisierung gelingt, so bleibt ein Schwebezustand, der die Möglichkeit zu Konflikten immer in sich trägt. Dieser Schwebezustand kann zu einem Auseinanderbrechen des Bundes führen, wenn ein Mitgliedsstaat die Frage der existenziellen Abgrenzung zu einem anderen Mitglied stellt, so wie dies im Deutschen Bund im Jahre 1866 im Verhältnis zwischen Preußen und Österreich der Fall war. Demnach kann der Bund nur existieren, wenn die Frage der souveränen politischen Entscheidung offen bleibt. Das Vorhandensein des Bundes kann Schmitt damit nur negativ, durch die Bezeichnung des nicht zugelassenen Konflikts, angeben. Auch diese Bundesstaatslehre hat ein historisches Modell vor Augen, von dem aus die Begriffe des Bundes entwickelt werden: Schmitt orientiert sich deutlich, wenngleich unausgesprochen, am Vorbild des Deutschen Bundes des Jahres 1815 467 . Hier konnte der Schwebezustand der politischen Existenzen noch am leichtesten gewahrt bleiben. Ähnlich wie Smend stellt Schmitt dann bei der Betrachtung des Weimarer Bundesstaates eine Inkongruenz zwischen dem historisch entwickelten Begriff des Bundes und seiner Verwirklichung fest. Auf der Grundlage der Bündnismäßigkeit erscheinen die Formprinzipien der Demokratie und des Bundes auf Dauer als unvereinbar 468 . Im Unterschied zu der auf Wiederherstellung harmonischen Ausgleichs zielenden Lehre Smends, die in Weimar noch die Reste bundesstaatlicher Integration wiedererkennt, ist Schmitt jedoch bereit, aus der festgestellten Inkongruenz von Wesen und Wirklichkeit des Bundes die Konsequenz zu ziehen. Das Deutsche Reich der Weimarer Republik ist nach der von Schmitt entwickelten Begrifflichkeit kein Bund mehr. „Denn Staat ist die politische Einheit eines Volkes, und in einem Staat, dessen Art und Form der politischen Existenz auf dem verfassunggeben466 461
C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 371. Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 376, 388; Hesse, Der unitarische Bundesstaat,
S. 119. 468 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 388: Es liege „in der natürlichen Entwicklung der Demokratie, daß die homogene Einheit des Volkes über die politischen Grenzen der Gliedstaaten hinweggeht und den Schwebezustand des Nebeneinanderbestehens von Bund und politisch-selbständigen Gliedstaaten zugunsten einer durchgängigen Einheit beseitigt". Vgl. auch dens., Der Hüter der Verfassung, S. 94ff., wo diese These deutlich eingeschränkt wird: „Demokratie und Föderalismus sind, wenn man sich an die Vorbilder der Vereinigten Staaten und der Schweizerischen Eidgenossenschaft hält, unter gewissen konkreten Voraussetzungen miteinander vereinbar..." (a. a. O., S. 96). Kritisch zur These der Verfassungslehre Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 92 ff.; Lerche, VVDStRL 21 (1964), S. 86 Fn. 73.
III. Smends Bundesstaatslehre als Anwendungsfall der Integrationslehre
173
den Willen des ganzen Volkes beruht, kann nicht mehr als eine politische Einheit bestehen" 469 . Folglich haben die früheren Gliedstaaten aufgehört, politische Einheiten, impermeable Gebilde, zu sein 470 . Im Gegensatz zu den Staaten des Deutschen Bundes haben sie nicht einmal mehr aus eigener Kraft die Möglichkeit, die bundeswidrige Frage der existenziellen Abgrenzung zu stellen. Die Bezeichnung der Weimarer Republik als Bundesstaat beruht allein auf der verfassungsgesetzlichen Anordnung des Art. 2 WRV, die den bundesstaatlichen Charakter im Sinne einer Beibehaltung der bundesstaatlichen Organisation wahren w i l l 4 7 1 . So einleuchtend diese Argumentation auf den ersten Blick erscheint, zumal sie ausdrücklich an die Analyse einer politischen Lage anknüpfen möchte, es bleibt doch ein Einwand: Auch nach dem Wegfall der dynastischen Grundlagen in den einzelnen Ländern und damit dem Wegfall der bündisch-monarchischen Homogenität erwies sich in der Weimarer Repubik der politische Eigencharakter der Länder als überraschend lebenskräftig. Gerade die Auseinandersetzungen zwischen der Reichszentrale und den Ländern zeigen dies 472 . Warum dennoch bundesmäßige und demokratische Homogenität mit der „notwendigen Folge" 4 7 3 zusammenfließen müssen, daß die demokratische Homogenität übrigbleibt, erklärt Schmitt nicht. Seine vorgeblich begriffsrealistische Analyse beruht hier in Wirklichkeit auf unbewiesenen Prämissen, die angesichts der stabilen demokratischen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten und der Schweiz um so fragwürdiger erscheinen müssen. Die politische Integrationslehre des Bundes bei Smend erweist sich demgegenüber als beweglicher und weicht den klaren, aber kompromißlosen Unterscheidungen der Lehre Carl Schmitts aus. Der Bundesstaat besteht, sofern es gelingt, das Gesamtinteresse und die partikularen Einzelinteressen in Einklang zu bringen. Integriert wird der Bundesstaat, wenn gleichartige politische Interessen und Bedürfnisse der Bundesstaaten vorliegen. Zwar sind auch in dieser Lehre die Möglichkeiten des demokratischen Bundesstaates das thema probandum, doch Smend vermittelt: wenngleich die eigentliche Legitimität des Bundesstaates, beruhend auf der Individualität der monarchischen Einzelstaaten, verloren gegangen ist, so bleibt als eingeschränkte Legitimitätsform die demokratische 469
C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389. Insoweit folgt E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 59, für die Weimarer Republik der These Carl Schmitts. 471 C. Schmitt,Verfassungslehre, S. 389; vgl. auch W. Weber, Fiktionen und Gefahren, S. 58. 472 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 57, sieht den Grund für das Beharrungsvermögen der Länder in ihrer „bürokratisch-administrativen Kraft" begründet, die das Kaiserreich überdauern konnte. Vgl. auch W. Weber, Fiktionen und Gefahren, S. 57 ff., 62 f.; Dennewitz, Der Föderalismus, S. 13; ebenso bereits Bilfinger, Der Einfluß, S. 82; G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 26 f. 470
473
C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 388.
174
2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Legitimität des Ganzen 474 . „ . . . Jetzt ist es das Reich, das in Präambel, Staatsformbestimmung, Symbolisierung des Staatsethos durch die Farben, im Grundrechtskatalog usw. die letzten Grundlagen und Rechtfertigungen des deutschen Staatslebens selbst bestimmt und sie den Ländern aufzwingt" 475 . Doch mit dieser Feststellung ist die sachliche Grenze der Lehre Smends erreicht. Sie ist, da sie sich nicht vom historischen Vorbild des Bismarckreiches zu lösen vermag, Verfallsgeschichte des Bundesstaates und versperrt sich dadurch den Weg zu neuen Sinngebungen dieser Staatsform. Für Carl Schmitt dagegen eröffnen sich, nachdem die Weimarer Republik für unvereinbar mit dem Modell des Bundes erklärt worden ist, Möglichkeiten, der in der Verfassung beibehaltenen Organisationsstruktur des Bundesstaates einen neuen Sinn zu geben. In Vorwegnahme eines erst nach 1945 vieldiskutierten Gedankens 476 will Schmitt die Organisation des Bundesstaates für die Formprinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates nutzbar machen und diesem dadurch neue Sicherungen und Garantien geben. Die dezentralisierende Wirkung der bundesstaatlichen Organisation kann, so der Ansatz bei Schmitt, die Ebenen der Gewaltenteilung vervielfältigen 477 . Das ist ein Weg zu dem, was Smend fordert, selbst aber nicht durchführt, nämlich die politische Berechtigung des Bundesstaates aus der bestehenden geschichtlichen Situation zu bestimmen. 4. Die Integrationslehre als Paradigma antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik? Dieses Ergebnis der Bundesstaatslehre Smends ermöglicht auch eine Bewertung seiner Haltung gegenüber dem demokratischen Massenstaat der Weimarer Republik. Die lebensphilosophische Neubegründung der Staatsbetrachtung, die nach Smends Anspruch gerade zur Beantwortung der nach 1918 aufgeworfenen Probleme der neuen Staatsform beitragen soll, bleibt im wesentlichen ohne die von Smend angekündigten Konsequenzen. Der soziologisch und sozialpsychologisch geprägte Staatsbegriff scheint sogar eine Ursache für die Tendenz Smends zu sein, die Denkformen der Kaiserzeit in den neuen Staat hinüberzuführen. Zwar geht Kelsens Deutung, es sei die Absicht Smends, den bestehenden Staat im Sinne des vergangenen Obrigkeitsstaates umzugestalten, die Integrationslehre sei also eine Kampftheorie gegen die Weimarer Reichsverfassung 478, fehl, weil Smend nicht zur Änderung der neuen Ordnung aufruft 4 7 9 . Smend 474 475
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 232. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 232.
476 Grundlegend Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 116ff.; vgl. die Zusammenfassung bei Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20, IV Rn. 74-78. 477 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389; ders., Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates, S. 53. 478 Kelsen, Der Staat als Integration, S. 76f., 90, 91.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
175
bemüht sich vielmehr um die Begründung ihrer Legitimität, wenngleich auf dem besonderen Weg, eine Kontinuitätslinie zu dem alten Staat zu finden. Damit aber ist die integrationstheoretische Betrachtung des Staates in der ihr von Smend gegebenen Ausformung keine moderne Staatslehre 480 . Es fehlen ihr originelle Ansätze für eine Theorie des pluralistischen Staates. Die bewußte Begrenzung der Staatslehre durch die geisteswissenschaftliche Methode führt zu einem theoretischen Begriff des Politischen, verzichtet aber im Gegensatz zur eigenen Zielsetzung auf Untersuchungen der konkreten politischen Fragen 481 . Mit dieser Wirklichkeitsverkürzung ist die Theorie Smends in letzter Konsequenz eine wenig konstruktive Negierung der konfliktgeladenen und interessenpluralen politischen Gegenwart des Weimarer Staates. IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre am Beispiel der Bundestreue Im Anschluß an die Bundesstaatstheorie sollen die positivrechtlichen Folgerungen untersucht werden, die Smend aus seiner Integrationslehre für das Bundesstaatsrecht der Weimarer Republik gezogen hat. Hier gilt es, an die im ersten Teil der vorliegenden Arbeit angestellten Überlegungen zu dem von Smend in das monarchische Staatsrecht eingeführten Rechtsprinzip der Bundestreue anzuknüpfen. Smends Interesse am Bundesstaatsrecht richtet sich auch in den zwanziger Jahren in erster Linie auf dieses Prinzip. Smend hat das Fortbestehen einer Rechtspflicht zu bundestreuem Verhalten im demokratischen und republikanischen Staat der Weimarer Republik, wenngleich mit einigen Nuancierungen gegenüber dem Kaiserreich, zu begründen versucht 482 . Diese Übertragung auf die neue Staatsform überrascht auf den ersten Blick. Im Jahre 1916 hatte Smend das Rechtsprinzip der Bundestreue in betonter Anlehnung an die als ganz besonders empfundenen damaligen politischen Umgangsformen von Reich und Einzelstaaten entwickelt. Die Bundestreue erschien als Spezifikum gerade des deutschen monarchischen Staates im Gegensatz zu den republikanischen Bundesstaaten. Nach 1918 waren aber mit den Monarchien die Voraussetzungen des dynastisch geprägten Föderalismus, das heißt auch die bisherigen Voraussetzungen der Bundestreue, weggefallen. Um die positivrechtlichen Thesen Smends näher analysieren und in die verfassungsrechtliche Diskussion der zwanziger Jahre zum Bundesstaat einord479
Gegen Kelsen bereits H. Mayer, Die Krisis, S. 91. Vgl. auch die Bemerkung bei Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 320, wonach Smend dem 19. Jahrhundert näher stehe als dem zwanzigsten. 461 H. Mayer, Die Krisis, S. 86, 89, hat ferner darauf hingewiesen, daß Smend ökonomische und soziale Probleme des Weimarer Staates nicht einmal erwähnt; ebenso v. Oertzen, S. 18 ff.; Vorländer, S. 289. 482 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 269, 271. 480
2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
176
nen zu können, empfiehlt es sich, vorab einen Überblick über die Entstehung und die Grundstrukturen des von der Weimarer Verfassung angeordneten bundesstaatlichen Aufbaues zu geben. Sodann soll die Staatspraxis des Verhältnisses von Reich und Ländern aus dem Blickwinkel betrachtet werden, ob hier Umgangsformen entwickelt wurden, die sich möglicherweise unter den Begriff der Bundestreue fassen lassen. Aus beidem können sich Anhaltspunkte ergeben, ob und gegebenenfalls wie das Prinzip der Bundestreue in der Lage war, sich aus seiner Verbindung mit dem monarchischen Bundesstaat zu lösen. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage zu stellen sein, ob Smend attestiert werden muß, er habe, entsprechend seiner im vorstehenden untersuchten Theorie des Bundesstaates, die Denkmuster des monarchischen Staatsrechts in die neue Staatsform erstreckt. 1. Die Neuorientierung der bundesstaatlichen Verfassung in den Jahren 1918/1919 a) Politische Voraussetzungen der Reform — Föderalismus und Unitarismus im Übergang von der Monarchie zur Demokratie
Bereits oben wurde beschrieben, daß die bundesstaatliche Entwicklung der Jahre nach 1871 von einer fortschreitenden Unitarisierung geprägt war. Das kam vor allem in der Erweiterung der Gesetzgebungszuständigkeiten des Reiches und im beschleunigten Aufbau von Reichsverwaltungsbehörden zum Ausdruck 4 8 3 . Während des Ersten Weltkrieges setzte sich diese Entwicklung fort. Bedingt durch die Anspannung aller staatlichen Kräfte in der Auseinandersetzung mit den Kriegsgegnern wurde das Eigenleben der Länder und ihr Einfluß auf das Reich weitgehend zurückgedrängt 484 . Neue staatliche Aufgaben zog sofort das Reich an sich. So wurden vor allem die wirtschaftspolitischen Lenkungsmaßnahmen der Kriegszeit reichseinheitlich durchgeführt. Die Landesregierungen wurden zu „bloßen Ausführungsorganen" 485 , während die politische Macht bei der obersten Heeresleitung lag. Auch eine mehr gefühlsmäßige Unitarisierung darf nicht unterschätzt werden: Das deutsche Feldheer stand nach der Zusamenfassung des Heerwesens als einheitliche Kriegsmacht unter dem Oberbefehl des Kaisers 486 . Die Schlußpunkte der unitarischen Entwicklung des Kaiserreiches setzten dann die vom Reichstag erzwungene Parlamentarisierung der Reichsleitung und die preußische Wahlreform der Jahre 1917/191 δ 4 8 7 . 483
Vgl. oben 1. Teil, III, 4. f) dd). Für die kriegsbedingte Verschiebung der Kräfteverteilung prägte Anschütz, in: Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, S. 48, den Satz: „Die Reichsflut ist im Steigen". Vgl. auch Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 29; Deuerlein, Föderalismus, S. 171 f. 485 G. Mann, Deutsche Geschichte, S. 602. 486 Vgl. W. Becker, Föderalistische Tendenzen, S. 34. 487 Die unitarische Wirkung beider Ereignisse hat Anschütz, VVDStRL 1 (1924), S. 15f., beschrieben. 484
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
177
Die Revolution des Jahres 1918, die den Untergang des monarchischen Staates beschleunigte und zur Weimarer Republik überleitete, war — aus dem Blickwinkel der Bundesstaatlickeit betrachtet — ebenfalls unitarisch bestimmt. Die sozialistischen Arbeiter- und Soldatenräte, die sich im Herbst 1918 überall in Deutschland bildeten, beanspruchten zielbewußt die Reichsgewalt. Von dort aus, nicht aus einzelstaatlichen Bewegungen, sollte die Neugestaltung Deutschlands ihren Ausgang nehmen. Dieses Ziel schien bereits teilweise erreicht, als es den revolutionären Kräften gelang, die Macht im Reich zu übernehmen. A m 9. und 10. November 1918 wurde die Organisation der Reichsgewalt völlig verändert. Mit der Abdankung Wilhelms II. fiel das preußische Königtum und das mit ihm verbundene Kaisertum in sich zusammen. Friedrich Ebert, der am 9. November durch den letzten kaiserlichen Reichskanzler, Prinz Max von Baden, zum neuen Kanzler ernannt und an die Spitze des bisherigen Kabinetts gestellt worden war, formte schon am 10. November 1918 das Kabinett in einen sechsköpfigen Rat der Volksbeauftragten um, dessen Mitglieder paritätisch von den Mehrheitssozialisten und der USDP gebildet wurden. Nach den Erklärungen des Rates der Volksbeauftragten lag die „politische Gewalt" nunmehr in der Hand der Arbeiter- und Soldatenräte 488 . Die in diesen Vorgängen zutage tretende unitarische Ausrichtung der Revolutionäre erklärt sich bereits daraus, daß ihre politischen Vorstellungen in einem krassen Gegensatz zu den bisher das föderalistische Element des Reiches tragenden und betonenden einzelstaatlichen Monarchien standen. Demokratische Politiker sahen nach dem 9. November 1918 die Gelegenheit, einen einheitlichen und von dynastischen Belastungen freien Volksstaat zu schaffen. Die Opponenten des wilhelminischen Reiches, sowohl von Seiten der Sozialdemokratie als auch der liberalen Strömungen, hatten wenig Sinn für länderstaatliche Kontinuitäten 4 8 9 . Nur konsequent war es, daß bereits im November 1918, während die Reichsverfassung formell noch weitergalt 490 , der Bundesrat als Konzentrationspunkt des politischen Einflusses der ehemals monarchischen Einzelstaaten unter Abänderung seiner verfassungsrechtlichen Stellung ausgeschaltet wurde. Die vom Rat der Volksbeauftragten erlassene Verordnung vom 14. November 1918 491 ermächtigte den Bundesrat lediglich dazu, die ihm nach Gesetz und Verordnung zustehenden Verwaltungsbefugnisse weiter auszuüben. 488 Vgl. E. R. Huber,Verfassungsgeschichte V, S. 714; W. Jellinek, JöR 9 (1920), S. 6ff. Der „Rat der Volksbeauftragten" verstand sich als Vollzugsorgan der lokalen Räte und ließ sich schon am 10. November 1918 von der Großberliner Räteversammlung in seinem Amt bestätigen. 489
Vgl. G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 101 ff. Weder war die Reichsverfassung durch die Revolution ipso iure weggefallen, noch hatten die revolutionären Gewalten sie ausdrücklich außer Kraft gesetzt, vgl. E. R. Huber,Verfassungsgeschichte V, S. 728. Das geschah erst durch Art. 178 I WRV (hierzu Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 4 mit Fn. 7). 490
491
Abgedruckt bei E. R. Huber, Dokumente 3, Nr. 10; vgl. auch W. Jellinek, JöR 9 (1920), S. 17 f. 12 Korioth
178
2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Die in der Reichsverfassung dem Bundesrat gegebenen Mitwirkungsrechte im Bereich der Regierung und bei der Ausübung der ordentlichen Gesetzgebungsgewalt waren ihm damit entzogen 492 . Diese Zuständigkeiten übte nunmehr der Rat der Volksbeauftragten aus, der auf diese Weise die gesamten gesetzgebenden und regierenden Funktionen des Reiches innehatte. Dadurch war das Reich in der Revolution zwar nicht zum Einheitsstaat zusammengewachsen, vielmehr blieben die deutschen Einzelstaaten bis hinab zu den kleinsten zunächst bestehen, jedoch konzentrierte sich das revolutionäre Geschehen auf die Reichsgewalt. Die deutschen Einzelstaaten waren nach dem Wegfall der Dynastien für eine kurze Übergangszeit, nämlich während der Dauer der Räterepublik vom 9. November 1918 bis zum 16. Dezember 1918, fast nur Zuschauer des politischen Geschehens493. So nahmen die Länder die Entmachtung des Bundesrates zunächst ohne Gegenwehr und spürbaren Protest h i n 4 9 4 . Der Grund hierfür mag allerdings auch darin liegen, daß jeder Einzelstaat im November 1918 mit seiner eigenen partikularen Revolution beschäftigt war. Auch Erhebungen gliedstaatlicher Gewalten gegen das Reich fanden in diesem Zeitraum nicht statt, weder in Richtung einer Loslösung vom Reichsverband noch in einem Versuch, die Bundesverträge von 1870/1871 durch neue Staatenverträge zu ersetzen und somit von der Ebene der Einzelstaaten aus die politische Neugestaltung des Reiches in Angriff zu nehmen. Lediglich Absichtserklärungen Bayerns forderten Vereinbarungen zwischen den Ländern auf den zentralen Gebieten der Reichspolitik. Diese Vorschläge wurden sofort vom Rat der Volksbeauftragten mit der Begründung abgewiesen, von ihm selbst seien bereits die Grundsätze der Innen- und Außenpolitik festgelegt 495. Stattdessen ging, in Umkehrung des Entstehungsweges des Deutschen Reiches im Jahre 1871, vom Reich die Bestimmung über die Zukunft des Gesamtstaates und der Einzelstaaten aus. In seiner Rede vor der von den Volksbeauftragten einberufenen Konferenz der Regierungen der Einzelstaaten betonte Ebert am 25. November 1918, für das Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaaten müsse zunächst eine provisorische Regelung geschaffen werden 4 9 6 . Preußen stand hier im Mittelpunkt des Interesses. Die beiden sozialistischen Parteien SPD und USPD hatten sich darauf geeinigt, auch in Preußen gemeinsam die Staatsführung an sich zu nehmen 497 . Unabhängig davon scheute 492 Das war in der Verordnung vom 14. November 1918 zwar nicht ausdrücklich ausgesprochen, ergab sich aber nach einhelliger Meinung im Umkehrschluß aus ihr, vgl. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 45. 493 Dennewitz, Der Föderalismus, S. 145. 494 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 730. 495 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1025. 496 Vgl. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 45. Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, S. 38, schildert als auffälliges Merkmal der deutschen Revolution, daß sie die „überlebte Kleinstaaterei" beibehielt und die Volksbeauftragten vor jeder entschiedenen Neugestaltung Deutschlands zurückschreckten.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
179
sich Reichskanzler Ebert nicht, unter Durchbrechung des überkommenen bundesstaatlichen Kompetenzgefüges Anordnungen auf dem Gebiet des Polizeirechts und Justizwesens für Preußen zu treffen 498 . Die Reichsgewalt griff in unitarischem Sinne in Preußen ein. Föderalistische Tendenzen lassen sich für den Herbst 1918 nur in Bayern feststellen 499 . Das am 8. November 1918 vom Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat eingesetzte Revolutionskabinett unter dem Ministerpräsidenten Eisner zeigte sogleich, daß es entschlossen war, Separatrechte gegenüber dem Reich geltend zu machen: so schuf Eisner ein Außenministerium, dessen Leitung er selbst übernahm. Für kurze Zeit brach Bayern sogar die Beziehungen zur Reichsregierung ab, empfing ausländische Gesandte und schickte einen bayerischen Gesandten nach Bern 5 0 0 . Das Programm der Regierung Eisner vom 15. November 1918 enthielt dann aber bereits die Kompromißbereitschaft andeutende Forderung, die „Selbstbestimmung Bayerns" innerhalb der Gesamtheit des Reiches zu wahren; soweit Maßnahmen „vernünftiger Einheit" notwendig seien, müßten sie „ohne Antastung der Freiheit und Selbständigkeit Bayerns" getroffen werden 501 . Immerhin wurde damit die Suprematie des Reiches nicht länger in Frage gestellt; die Forderung nach Wahrung des bisherigen Besitzstandes zeigt an, wie sehr auch die lautstärksten Ansprüche der Föderalisten aus einer relativ schwachen Position vorgetragen wurden. Nicht leicht zu erklären ist allerdings, warum der Sozialist Eisner mit allen Kräften sich bemühte, die Stellung des sozialistischen Rates der Volksbeauftragten in Berlin zu schwächen. Am meisten plausibel erscheint die von Rosenberg gegebene Deutung: Eisner habe angesichts der unklaren Verhältnisse der revolutionären Reichsleitung gerade im Interesse der Revolution geglaubt, die Sonderstellung Bayerns verteidigen zu müssen 502 . A m 16. Dezember 1918 fiel dann im Reich eine Entscheidung, mit der das unitarische Element in der Bestimmung über die politische Zukunft Deutschlands sich endgültig den Vorrang verschaffte. Die an diesem Tag in Berlin stattfindende Reichskonferenz sämtlicher Arbeiter- und Soldatenräte wies nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Stimmen der Mehrheitssozialisten die Beibehaltung eines Rätesystems zurück 5 0 3 . Stattdessen wurden Wahlen für eine 497 498
Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1003. Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1003; W. Jellinek,
JöR 9 (1920),
S. 28 f. 499
Ausdruck des Partikularismus waren dagegen die in dieser Zeit aufkommenden Bestrebungen nach einem Sonderstaat im Rheinland. 500 v g l Dennewitz, Der Föderalismus, S. 148. 501
Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1019f. Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, S. 38; siehe auch Eyck, Geschichte der Weimarer Republik I, S. 82. Preuß, U m die Reichsverfassung von Weimar, S. 94, bemerkte über Eisner, er geriere sich, als „wäre er ein Sproß des Hauses Wittelsbach". 503 V g L Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 41; Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 13 f.; Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, S. 41 f. 502
12*
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
verfassunggebende Nationalversammlung beschlossen und auf den 19. Januar 1919 festgesetzt. Auf diese Weise wurde nicht das Gliedstaatenvolk, sondern das einheitliche deutsche Volk zum Träger der verfassunggebenden Gewalt bestimmt. Die unmittelbare Folge für die Stellung der Länder lag darin, daß nun über sie hinweg eine Reichsverfassung vorbereitet wurde, und dies noch bevor die Länder selbst an die Ausarbeitung eigener neuer Verfassungen gingen. Die Möglichkeit eines Neuaufbaues der staatlichen Organisation des Reiches aus den Ländern im Sinne eines neuen deutschen Bundes schien endgültig ausgeschlossen. b) Bundesstaatliche Elemente der Verfassungsentwürfe und der Weimarer Verfassung
Bereits vor der ersten Sitzung der Nationalversammlung am 6. Februar 1919 wurden Entwürfe über die Gestaltung einer zukünftigen Reichsverfassung erarbeitet. Im Vordergrund standen die amtlichen Entwürfe 504 des Staatsrechtslehrers Hugo Preuß, der am 15. November 1918 vom Rat der Volksbeauftragten zum Staatssekretär des Reichsamtes des Innern ernannt worden war 5 0 5 . A m 3. Januar 1919 Schloß Preuß einen aus 68 Paragraphen bestehenden ersten Vorentwurf ab, der unveröffentlicht blieb 5 0 6 . Hauptkennzeichen dieses Entwurfs war die konsequente Umgestaltung des bisherigen bundestaatlichen Systems in Richtung eines dezentralisierten Einheitsstaates. Preuß ließ sich von dem auf dem Hintergrund des monarchischen Bundesstaates naheliegenden Gedanken leiten, daß mit dem Wegfall der Monarchien auch die letzten Hindernisse der deutschen Einheit beseitigt seien 507 . Das Reich sollte sich nach Auflösung der bestehenden Einzelstaaten, was natürlich vor allem eine Zerstückelung Preußens bedeutet hätte 5 0 8 , in 16 „Gebiete" gliedern. Unter ihnen befanden sich, in Abkehr von der Bismarckschen kleindeutschen Lösung des Jahres 1871, auch „Deutschösterreich" und „Wien". Das Ziel der Neugliederung umschrieb Preuß so: „Alle der nationalen Gemeinschaft als solcher natürlich zufallenden staatlichen Funktionen muß die Verfassung der Republik im Reiche konzentrieren,... innerhalb dessen der Eigenart und dem Eigenleben der engeren Gemeinschaften freier Spielraum zu fruchtbarer und ihren Empfin-
504 Daneben gab es zahlreiche private Vorschläge, vgl. die Auflistung bei W. Jellinek, JöR 9 (1920), S. 123; ferner Stier-Somlo I, S. 236; zu den Vorarbeiten von Preuß vgl. H. Schneider, in: HdStR, Band 1, S. 91 f. 505 Zur Vorgeschichte dieser Berufung Ziekow, JuS 1986, S. 108. 506 Abgedruckt bei Triepel, Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, Nr. 7. Zu diesem Entwurf W. Jellinek, JöR 9 (1920), S. 46f.; ders., in: HbdStR I, S. 128 ff. Die von Preuß später vorgelegte ausführliche Denkschrift zu diesem Entwurf wurde veröffentlicht in: Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 368 ff. so? y g l Flemming, S. 97; G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 31,128 ff. 508 So ausdrücklich Preuß, in: Staat, Recht und Freiheit, S. 374ff.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
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düngen entsprechender Tätigkeit zu geben i s t " 5 0 9 . Das bedeutete, daß gegenüber der Bismarckschen Reichsverfassung die Kompetenzen des Reiches stark ausgedehnt wurden (vgl. §§ 3, 4 des Vorentwurfs). Das von den Gebietsparlamenten zu beschickende „Staatenhaus" sollte sich als zweite Kammer des Reichstages ganz dem vom Volk zu wählenden „Volkshaus" unterordnen (§§ 25, 26). Die Gesandtenkonferenz nach dem Vorbild des Bundesrates der Kaiserzeit fiel weg. Gegenüber pflichtwidrig handelnden Gebieten sollte der Reichspräsident weitgehende Exekutionsbefugnisse erhalten. Durch Überarbeitung entstand aus diesen ersten Überlegungen 510 ein zweiter Entwurf, der am Tage nach den Wahlen zur Nationalversammlung, am 20. Januar 1919, im Reichsanzeiger veröffentlicht wurde 5 1 1 . Ausgehend von dem in nationalem Selbstbewußtsein sich selbst organisierenden Staatsvolk zielte auch dieser Entwurf auf die Herstellung eines dezentralisierten Einheitsstaates, wenngleich die unitarische Tendenz bereits erkennbar abgeschwächt war. An dem überlieferten bundesstaatlichen Aufbau wird jetzt, wenngleich nach der Absicht von Preuß nur der Form nach, festgehalten: Das Reich sollte weiterhin „aus seinen bisherigen Gliedstaaten" (§ 1 des Entwurfes) bestehen, die im weiteren Entwurf als „Freistaaten" bezeichnet wurden. Die bestehenden Gliedstaaten sollten jedoch stärker an das Reich gebunden werden. Dem sollte eine umfassende Neugliederung ihrer Gebiete durch Nivellierung der Ländergrößen dienen (§ 11), daneben die Aufstellung bis in Einzelheiten gehender Grundsätze für die Landesverfassungen (§ 12). Soweit den Einzelstaaten ein eigenverantwortlicher Bereich staatlicher Tätigkeit belassen wurde, bezeichnete ihn die dem Entwurf beigefügte Denkschrift als „höchstpotenzierte Selbstverwaltung" 512 . Auch eine vollwertige Beteiligung der Länder an der Bildung des Reichswillens, den Rechten des vormaligen Bundesrates entsprechend, wurde den Ländern versagt. Das Grundprinzip des Preußschen Entwurfes war, in Entgegensetzung zum monarchischen Föderalismus des Kaiserreiches, der demokratische Unitarismus 5 1 3 . Die Denkschrift zu dem Entwurf faßt dies prägnant zusammen: „Der neue Bau des Deutschen Reiches muß also ganz bewußt auf den Boden gestellt werden, den Bismarck bei seiner Reichsgründung ganz bewußt nicht betreten hat. Das neue Reich kann selbstverständlich kein Bund der Fürsten und einzelstaatlichen Regierungen sein; aber es kann ebensowenig aus einem Bunde der bisherigen Einzelstaaten in ihrer neuen Gestalt als Freistaaten hervorgehen. 509
Preuß, in: Staat, Recht und Freiheit, S. 379, 382. Preuß, Reich und Länder, S. 165, sprach später selbst von einer versuchsweisen Skizzierung . 511 Abgedruckt bei Triepel, Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, Nr. 10. Vgl. zu diesem Entwurf W. Jellinek, JöR 9 (1920), S. 47. 512 Zitiert nach Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 17. 513 Stier-Somlo I, S. 236, 248; ferner Anschütz, DJZ 1919, Sp. 199: „Das Werk des Staatssekretärs ist ausgeprägt und un verschleiert unitarisch". 510
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Nicht das Dasein dieser Einzelstaaten, weder in ihrer monarchischen noch in ihrer freistaatlichen Form, ist das Erste und Entscheidende für die politische Lebensform des deutschen Volkes; vielmehr das Dasein dieses Volkes selbst als eine geschichtlich gegebene politische Einheit" 5 1 4 . Die späteren Verfassungsberatungen haben von diesem mutigen und klaren Konzept vieles zurückgenommen. Man bemühte sich, stärker an die Traditionen des bundesstaatlichen Aufbaues des Kaiserreiches anzuknüpfen. Entscheidend für diese den Bundesstaat bejahende Ausrichtung war, daß die Einzelstaaten entgegen den ursprünglichen Absichten des Rates der Volksbeauftragten an der Schaffung der neuen Reichs Verfassung beteiligt wurden 5 1 5 . Daß dies den Ländern gelang, hängt mit ihrem politischen Wiedererstarken in den ersten Monaten des Jahres 1919 zusammen. Der am 20. Januar 1919 veröffentlichte Verfassungsentwurf stieß in den süddeutschen Staaten auf einhellige Ablehnung. Eisner verlangte die Einberufung einer Ministerpräsidentenkonferenz. Die Reichsleitung mußte nun ein Scheitern der Verfassungspläne befürchten, falls es nicht gelänge, die föderalistischen Bestrebungen aufzufangen. Sollte der Nationalversammlung ein möglichst weitgehend ausgearbeiteter Entwurf vorgelegt werden und ihre Erörterungen in einigermaßen geordneten Bahnen verlaufen, so mußte jetzt eine Vorentscheidung von Gewicht fallen. Ebert entschloß sich, mit den Ländern und nicht gegen sie die Vorarbeiten möglichst weit voranzubringen 516 . Worum es den Ländern ging, zeigt ein von den Vertretern Bayerns, Württembergs und Badens in einer Aussprache mit der Reichsleitung am 25. Januar 1919 vorgelegter Antrag bezüglich des Eingangs der neuen Reichsverfassung. Er sollte lauten: „Die vereinigten Republiken Deutschlands bilden auch fernerhin einen Bund" 5 1 7 . Es sollte also doch der bündische Gedanke die alte und neue Grundlage des Reiches sein. Kurze Zeit später erhielten die Länder ein offizielles Vertretungsorgan zur Teilnahme an den Verfassungsberatungen. M i t Gesetz vom 10. Februar 1919 wurde ein „Staatenausschuß" gebildet, in den die Länder Regierungsbeauftragte entsandten. Vor allem Preußen, Württemberg und Bayern widersetzten sich in den Beratungen des Ausschusses dem von Preuß erarbeiteten Konzept. Sein Entwurf wurde unter ihrem Einfluß zum „Entwurf I I I " entscheidend umgestal514
Zitiert nach Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 18. Vgl. Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 19; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1181 f.; Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 142ff. 516 Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, S. 86, hat dies treffend so kommentiert: „Der Anlauf der Paulskirche in der Richtung auf den Einheitsstaat hatte sich gebrochen an den Dynastien; der Anlauf der Volksbeauftragten brach sich an den neuen sozialdemokratischen Einzelregierungen". 517 Zitiert nach Bilfinger, Der Einfluß, S. 60. Dem trat Preuß noch am 25. Januar 1919 in einer Erklärung vor der Länderkonferenz entgegen (abgedruckt bei E. R. Huber, Dokumente 3, Nr. 40). 515
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tet 5 1 8 . Preuß nahm resignierend von dem Plan Abschied, „den großzügigen Gedanken einer vollkommenen deutschen Einheit zu verwirklichen, weil die Verwirklichung an den Tatsachen scheitern müßte" 5 1 9 . An die Stelle des von Preuß vorgeschlagenen Staatenhauses trat die neugeschaffene Institution des Reichsrates, der in teilweiser Fortsetzung der Tradition des Bundesrates ein exekutives Element repräsentierte, indem er aus Bevollmächtigten der Landesregierungen gebildet werden sollte (Art. 21). Die Aufteilung Preußens wurde nicht mehr erwähnt, die Neugliederung des Reiches war den Einzelstaaten vorbehalten (Art. 15). Mit einer Forderung konnten sich dagegen die Länder gegenüber der Reichsleitung nicht durchsetzen: der vom bayerischen Ministerpräsidenten Eisner gestellte Antrag, die von der Nationalversammlung zu beschließende Reichsverfassung solle erst durch die Zustimmung der Einzelstaaten im Staatenausschuß Gesetzeskraft erlangen, wurde entschieden zurückgewiesen 520. Diesen insgesamt bereits durch eine starke Berücksichtigung des bundesstaatlichen Gedankens geprägten 521 sogenannten „Regierungsentwurf" legte Preuß am 21. Februar 1919 der Nationalversammlung vor, nicht ohne in der mündlichen Begründung vom 24. Februar 1919 sein Bedauern darüber auszudrücken, daß zu viele föderalistische Zugeständnisse hätten gemacht werden müssen 522 . Die endgültige verfassungsrechtliche Gestaltung des Verhältnisses von Reich und Ländern stellte neben der Ausarbeitung eines Grundrechtskataloges die schwierigste Aufgabe der Nationalversammlung dar 5 2 3 . Für den Gang der Beratungen der organisationsrechtlichen Bestimmungen war es von großer Bedeutung, daß es auch in der Nationalversammlung selbst den Regierungsvertretern der Einzelstaaten gelang, auf die direkt vom Volk gewählten Abgeordneten Einfluß zu nehmen: In ihrer ersten Sitzung am 6. Februar 1919 übernahm die Nationalversammlung die Geschäftsordnung des früheren Reichstages in wesentlichen Punkten. Nach deren § 29 hatten die Mitglieder des Bundesrates das Recht, den Reichstagsausschüssen, nunmehr den Ausschüssen der Nationalversammlung, mit beratender Stimme beizuwohnen. 518
Abgedruckt bei Triepel, Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, Nr. 13. Vgl. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 71 f.; Becker, Föderalistische Tendenzen, S. 50f.; W. Jellinek, in: HbdStR I, S. 131 f. 519 Zitiert nach G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 143. 520 Bilfinger, Der Einfluß, S. 41 ff.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1185 ff. 521 W. Jellinek, in: HbdStR I, S. 133: „Stand der Entwurf Preuß unter dem Zeichen des deutschen Einheitsstaates, so steht der Regierungsentwurf unter dem Zeichen des Bundesstaates und der Sonderrechte". 522 Y gi pre ußt j n : Staat, Recht und Freiheit, S. 400 ff. Zu dieser Rede siehe Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 82ff. 523 v g L piemming,S. 98; Boldt, in: Bracher / Funke/ Jacobsen, Die Weimarer Republik 1918-1933, S. 54; zu den Arbeiten der Nationalversammlung H. Schneider, in: HdStR, Band 1, S. 93 ff.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
In den maßgebenden Parteien der Nationalversammlung (SPD, Deutsche Demokratische Partei, Zentrum) war jedoch die unitarische Ausrichtung stärker als die föderalistische 524 . Das kam in den Beschlüssen des Verfassungsausschusses deutlich zum Ausdruck. Die Zuständigkeiten der Reichsgewalt auf dem Gebiet der Gesetzgebung (Art. 6-11 WRV) und der Errichtung reichseigener Verwaltungen wurden erheblich erweitert 525 . In die Zuständigkeiten der unmittelbaren Reichsverwaltung (Art. 78-101 WRV) fielen neben den Zuständigkeiten der alten Reichsverfassung (Außenpolitik, Verteidigung, Kolonialwesen, wobei letzteres der Tradition zuliebe mitgeschleppt wurde) die neuen Bereiche der Verwaltung von Zöllen und Verbrauchssteuern, Abgabenverwaltung, Postund Telegraphenwesen. Art. 18 WRV enthielt als Novum eine „ernste Bedrohung des historischen Staatenföderalismus" 526 . Er ließ eine Neugliederung des Reichsgebietes selbst gegen den Willen des betroffenen Landes durch verfassungsänderndes Gesetz zu. Ein einfaches Reichsgesetz genügte bei Zustimmung der betroffenen Länder. Die Beratungen der Nationalversammlung in den Ausschüsssen und im Plenum dauerten bis zum 31. Juli 1919. An diesem Tage wurde der endgültige Entwurf einer Verfassung in namentlicher Abstimmung mit 262 gegen 75 Stimmen bei einer Stimmenthaltung angenommen 527 . Die Verfassung trat nach der Verkündung durch den Reichspräsidenten Ebert am 14. August 1919 in Kraft. c) Neubeginn und Kontinuität des bundesstaatlichen Systems
Der wesentliche Unterschied im bundesstaatlichen System der Verfassungen von 1867/1871 und 1919 leitet sich bereits aus ihren Grundlagen her. Die Verfassung des Kaiserreiches beruhte auf einem kompromißartigen Zusammenwirken der untereinander vertraglich verbundenen Bundesfürsten mit der parlamentarischen Vertretung des ganzen Volkes. Zeitlich voran gingen die Verträge der Einzelstaaten; aus diesen Staaten wuchs die Einheit des Reiches hervor. Dieser Weg zur Einheit kehrte sich 1919 um. Die nationalstaatliche Einheit war die Grundlage der neuen Verfassung. Die Vielheit des bundesstaatlichen Aufbaues war nicht mehr Voraussetzung des Reiches, sondern sie wurde kraft Entscheidung der Nationalversammlung beibehalten. Daneben fiel die eigentümliche doppelte Paktierung des Jahres 1871 weg. Die Weimarer Reichsverfassung beruhte allein auf dem demokratischen Selbstbestimmungsrecht des Volkes, das sich im Entscheid der Nationalversammlung dokumentierte 528 . Der 524 Ygi ψ Becker, Föderalistische Tendenzen, S. 52 ff. 525 Der scharfe Widerspruch des bayerischen Regierungsvertreters hiergegen wurde mit „kühler Ablehnung" seitens des Verfassungsausschusses zurückgewiesen (Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 120). 526 G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 204. 527 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1204 f. 528 Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 168; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S.5f., 59f.; Preuß, Reich und Länder, S. 3: „Daß diese Republik eben nicht eine
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umständliche Bericht in der Verfassungspräambel des Jahres 1871, „Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern... schließen einen ewigen Bund... Dieser Bund ... wird nachstehende Verfassung haben" — eine Wendung, die an die beurkundenden Eingangsformeln völkerrechtlicher Verträge erinnert — konnte durch die nüchterne Formel „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen ... hat sich diese Verfassung gegeben" ersetzt werden. Die Länder wurden hier nicht erwähnt. Damit war, unbeschadet der Frage, ob die Präambeln beider Verfassungen einen Rechtssatz enthielten oder nicht 5 2 9 , die staatsrechtliche und politische Lage des Reiches grundsätzlich neu formuliert. Das Element des Bruches kommt sehr deutlich in dem von Becker 1928 gezogenen Resümee zum Ausdruck: „Es gibt zwei Arten von Verfassungen, solche, die nur einen tatsächlichen staatsrechtlichen Zustand beschreiben, und solche, die einen Weg in die Zukunft weisen. Zu den letzteren gehört die Weimarer Verfassung. Sie bildet nicht die naturnotwendige Fortsetzung einer gradlinigen historischen Entwicklung, sondern einen Sprung auf den Einheitsstaat z u . " 5 3 0 Mit dem Wegfall der bündischen im Sinne von vertragsmäßigen Grundlagen der Verfassung 531 und der nach einem kurzen Zögern von der Nationalversammlung getroffenen Entscheidung für den Bundesstaat als der rein zweckmäßigen Organisation des Staatsganzen scheint jede Anknüpfungsmöglichkeit an die aus der vertragsmäßigen, auf gegenseitige Rücksichtnahme bedachten Zusammenarbeit der Bundesfürsten des Kaiserreiches abgeleiteten Bundestreue abgeschnitten zu sein. Jeder Neuanfang enthält aber Elemente der Kontinuität. Darauf bestanden auch die demokratischen Politiker und Verfassungsgeber des Jahres 1919. M i t dem Sturz der Monarchie waren nicht nur starke, bisher oppositionelle Kräfte zur Regierung gelangt; sie hinterließ auch widerstandsfähige Traditionsbestände und Institutionen, auf welche die Parteien der Republik zurückgriffen, um die Krise des Übergangs zu verkürzen 532 . Die in der Nationalversammlung 533 und
Vereinigung, ein Bund der deutschen Staaten ist, vielmehr der deutsche Staat, die politische Organisation des einheitlichen deutschen Staatsvolkes ist und sein soll, das ist Grundlage und Leitgedanke der ganzen Reichsverfassung von Weimar". 529 Ablehnend zur Weimarer Verfassung Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 127; Anschütz, Kommentar, S. 31; Preuß, Reich und Länder, S. 17; Stier-Somlo I, S. 295. 530 W. Becker, Föderalistische Tendenzen, S. 81. 531 Preuß, Reich und Länder, S. 18, sprach mit Nachdruck davon, daß „jedes Rudiment vertragsmäßiger Entstehung" der Weimarer Verfasung fehle. 532 G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 21. Zum Traditionsbestand vgl. ferner E.-W. Böckenförde, in: Bracher/Funke/Jacobsen, Die Weimarer Republik 19181933, S. 17ff., 28, 37. 533 Ygi Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 8 f.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 24ff.; Preuß, in: Staat, Recht und Freiheit, S. 394ff.
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im Anschluß daran in der Staatsrechtsliteratur 534 geführte Diskussion, ob das Deutsche Reich unter der Weimarer Verfassung identisch mit dem Reich der Kaiserzeit oder aber dessen Rechtsnachfolger sei, endete mit dem klaren Bekenntnis zur Identität des Reiches, das nur seine Organisationsform gewechselt habe 535 . Dementsprechend bekundet die Präambel der Weimarer Verfassung das Bestreben, den nationalen Staat des deutschen Volkes „zu erneuern und zu festigen". Das Wort „festigen" zeigt, daß nicht an einen vollständigen Neuaufbau des Reiches gedacht war, denn „festigen" konnte man nur etwas Bestehendes536. In der Bundesstaatlichkeit wichen zwar die bündisch-gemeinsamen Elemente einem mehr formal und als zweckmäßig verstandenen staatlichen Gliederungssystem, doch waren damit Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung und den Grad der Verwirklichung des Föderalismus keineswegs ausgeräumt. Trotz des unitarischen Beginns der Republik ist um die Frage Unitarismus oder Föderalismus bis in die letzten Tage Weimars immer wieder gestritten worden 5 3 7 . Als Ergebnis allerdings läßt sich eine durch den Widerstand der Länder nur teilweise abgemilderte unitarische Konzentration feststellen. Die Geschichte des Problems „Reich und Länder" in dem kurzen Zeitabschnitt von 1918 bis 1933 läßt sich als die Geschichte eines fortgesetzt abnehmenden Föderalismus charakterisieren 538 . Gerade deshalb aber hatte die Diskussion um die bundesstaatliche Gliederung besondere Bedeutung. Die im Kaiserreich noch selbstverständliche Existenz und Legitimität des bundesstaatlichen Aufbaues war in Frage gestellt. Sie mußte sich permanent, von den Anfangstagen der Republik bis hin zu der Diskussion um die „Reichsreform" in den Jahren von 1926 bis 1932, gegenüber der Möglichkeit des Einheitsstaates rechtfertigen. Thoma prägte hierfür den treffenden Begriff vom „labilen Föderalismus" 539 der Weimarer Republik. Weil aber das Regelwerk des organisationsrechtlichen Teils der Weimarer Reichsver534 Eine Auflistung der einschlägigen Literatur findet sich bei E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 26 Fn. 7 und S. 27 Fn. 8; vgl. ferner Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 35 f. 535 So vor allem Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 2f.; Bilfinger, Der Einfluß, S. 40f.; Hatschek, Staatsrecht I, S. 11; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 95ff.; Thoma, in: HbdStR I, S. 169. Vertiefende Überlegungen zum Verhältnis von Kontinuität und Wandel bei diesem Wechsel der Staatsform, insbesondere in Auseinandersetzung mit den Begriffen „Reich" und „Republik", finden sich jetzt bei Grawert, Der Staat 28 (1989), S. 481 f., 484, 495 ff. 536 Kritisch hierzu jedoch Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 6, der fragt, ob das Kaiserreich für das deutsche Volk tatsächlich „sein" Reich gewesen sei, das es 1919 habe festigen können. 537 Dennewitz, Der Föderalismus, S. 147; Flemming, S. 120ff.; Nawiasky, Grundprobleme I, S. 11; G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 196ff., 214ff., 477ff. 538 G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 7; Thoma, in: HbdStR I, S. 170. 439 Thoma, in: HbdStR I, S. 184.
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fassung eher nüchtern war, verlangte die politische Verwirklichung in anderer, aber nicht weniger intensiven Weise als im Bismarckreich den Verständigungswillen der Länder und der Reichszentrale. 2. Die Bundestreue in der politischen Praxis der Jahre 1918-1925 Die Verfassungsstruktur Weimars gibt bereits einen Grund dafür, daß sich die politische Praxis im Bundesstaat der Weimarer Republik zuweilen auf das Prinzip der Bundestreue berief. Das geschah jedoch mit drei charakteristischen Unterschieden im Vergleich zur Kaiserzeit. Der erste Unterschied folgt daraus, daß diese Berufung nicht mehr auf der Grundlage eines im wesentlichen konfliktfreien und homogenen Bundesstaates erfolgen konnte. Die bereits erwähnten politischen Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre zwischen Reich und Ländern zeigen, warum der Versuch, die politische Gegenseite auf eine harmonische Zusammenarbeit zu verpflichten, in Streitfällen immer mit der Gefahr des Scheiterns bedroht war. Was von Fall zu Fall Inhalt der bundesstaatlichen Verständigung sein sollte, ließ die formale Struktur der Weimarer Verfassung offen, während Bundestreue im Kaiserreich kraft ihrer historischen Herkunft im Zweifel für die Berücksichtigung der Länderinteressen stritt. Die zweite neue Problematik der Bundestreue fand ihren Grund in dem durch die Weimarer Verfassung nicht abschließend gelösten Problem einer Neuordnung des Verhältnisses zwischen Preußen und dem Reich. Die nach früherem Verfassungsrecht enge Verklammerung beider, insbesondere die Personal- und Realunion zwischen preußischer Staatsleitung und Reichsleitung und die daraus folgende Bevorzugung Preußens im Reich 5 4 0 , fiel in der neuen Verfassung ersatzlos weg 5 4 1 . Preußen wurde rechtlich vom Reich abgekoppelt und den übrigen Ländern gleichgestellt. Deutlichste Ausprägung fand diese Wandlung zum „gleichgewichtigen Föderalismus" 542 in den Bestimmungen der Art. 611S. 4, 63 I S. 2 WRV. Hier wurden die preußischen Stimmen im Reichsrat auf zwei Fünftel der Gesamtstimmen beschränkt. Sie waren überdies je zur Hälfte auf die preußische Landesregierung und Vertreter der nicht immer regierungskonformen preußischen Provinzen aufgeteilt. Weil jedoch alle Pläne zur Aufteilung des flächen- und kräftemäßig stärksten Gliedstaates scheiterten — dies nicht nur während der Revolution, sondern auch später trotz der Neugliederungsmöglichkeit nach Art. 18 W R V 5 4 3 — blieb es bei einer fortdauernden faktischen 540
Vgl. Anschütz, Das preußisch-deutsche Problem, S. 3, der von der bevorzugten, „in gewissen Fällen maß- und ausschlaggebenden Beteiligung Preußens bei der Bildung des Reichswillens" in der Kaiserzeit spricht. 541
Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 377; Behnke,S. 65, 67. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 62 ff. 543 Art. 18 WRV betraf zwar das gesamte Reichsgebiet, richtete sich im Ergebnis aber allein gegen Preußen. „Art. 18 will die Auflösung Preußens in selbständige Länder begünstigen" {Anschütz, VVDStRL 1 (1924), S. 19). 542
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Vormacht Preußens 544 . Es entstand ein zeitweise latenter, zeitweise aber auch offen ausgetragener Dauerkonflikt zwischen dem starken, aber auf seine Stellung als Gliedstaat zurückgeworfenen Preußen und dem Reich 5 4 5 . Die Entlassung aus der Verantwortung für das Reich führte Preußen verstärkt zur Wahrnehmung seiner Sonderinteressen 546. Die möglichen Reibungsflächen zwischen dem Reich und den Einzelstaaten wurden dadurch vergrößert. Belastend kam hinzu, daß die politischen Ausrichtungen von Reichsleitung und preußischer Staatsregierung fast während der gesamten Zeit der Weimarer Republik auseinanderfielen. Während die SPD bis zum „Preußenschlag" im Sommer 1932 dreizehn Jahre lang unangefochten die Regierung Preußens stellen konnte, war sie im Reich nur insgesamt fünf Jahre lang an der Regierungsgewalt beteiligt. Das alles erschwerte das einverständliche Handeln, im Konfliktfall die Streitbeilegung durch bundestreues Verhalten der beteiligten Regierungen, insbesondere der „zwei Großregierungen" 547 in Berlin. Die dritte unterschiedliche Voraussetzung für die Berufung auf bundestreues Verhalten im Vergleich zum Kaiserreich lag darin, daß es die Weimarer Reichsverfassung zum erstenmal unternahm, verfassungsrechtliche Streitigkeiten, vorrangig bundesstaatsrechtliche, einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen 548 . Durch Gesetz vom 9. Juli 1921 549 wurde der nach Art. 108 WRV zu errichtende Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich konstituiert. Gemäß Art. 19 WRV war dem Staatsgerichtshof der gerichtsförmige Austrag von Rechtsstreitigkeiten nicht privatrechtlicher Art zwischen Reich und Ländern, Ländern untereinander und Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes zugewiesen, sofern nicht für letztere Landesstaatsgerichtshöfe zuständig waren 5 5 0 . Es zeigte sich sehr schnell, daß damit nicht nur eine Ausdehnung des Bereiches echter Rechtsprechung durch eine justizförmige Kontrolle bundesstaatlicher Rechtsbeziehungen erreicht war. In die Streitfälle wurden immer wieder auch politische Elemente hineingetragen. Der politische Prozeß wurde verrechtlicht, wenngleich wegen der eng umgrenzten Kompetenzen des Staatsgerichtshofes in noch zurückhaltendem Umfang 5 5 1 . Diese Verrechtlichung 544 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 62. Vgl. auch W. Vogel, Deutsche Reichsgliederung, S. 92, der die preußische Regierung die „eigentliche Reichsregierung für zwei Drittel des Deutschen Reiches" nannte. 545 G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 498. 546 Das hat bereits Anschütz, Das preußisch-deutsche Problem, S. 7, im Jahre 1922 herausgestellt; ferner Bilfinger, Der Einfluß, S. 12f.; Ehni, Bollwerk Preußen?, S. 18 ff. 547 So Friedrich Meinecke, zitiert nach Anschütz, Das preußisch-deutsche Problem, S. 7. 548 Die Reichsverfassung des Jahres 1871 eröffnete nach Art. 76 lediglich den Weg, bei Streitigkeiten zwischen den Bundesstaaten den Bundesrat zur Streiterledigung anzurufen. Dieses gerichtsähnliche Verfahren war bei Streitigkeiten zwischen Reich und Gliedstaaten nicht möglich. 549 Abgedruckt bei E. R. Huber, Dokumente 3, Nr. 189. 550 Hierzu Stier-Somlo I, S. 399ff.
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veranlaßte den seit 1922 an der Spitze des Staatsgerichtshofes stehenden Reichsgerichtspräsidenten Simons zu der Mahnung an die Politiker, den politischen Verhandlungen mit dem Ziel eines Kompromisses den Vorzug vor dem gerichtsförmigen Verfassungsstreit zu geben. In hochpolitischen Konflikten bedeute „die Anrufung des Richters nicht weniger eine Bankerotterklärung des Staatsmannes als die Anrufung des Feldherrn" 552 . Deshalb sei es besser, „wenn sich das Reich mit den Ländern und die Länder untereinander, wenn sich Regierungen, Fraktionen und Parteien weniger auf ihr Recht versteiften und mehr den gütlichen Ausgleich suchten" 553 . Diese Ende 1928 im Vorwort zu einer Sammlung der Entscheidungen des Staatsgerichtshofes geschriebenen Sätze geben in erster Linie die in der Entscheidungspraxis dieses Gerichts gewonnenen persönlichen Erfahrungen wieder. Schon die bloße Existenz des Verfassungsgerichts bedeutete den Anreiz, politisches Nachgeben zu vermeiden und stattdessen den Verfassungsrichter anzurufen. Hinter der Hoffnung auf den Prozeßgewinn stand dabei die Einstellung, bessser durch ein Gerichtsurteil gezwungen zu werden als freiwillig nach Wegen der Verständigung zu suchen. Insofern können die zitierten Sätze von Simons aber auch als Mahnung eines prominenten Richters auf die politische Praxis des Bundesstaates der zwanziger Jahre insgesamt bezogen werden. Die Versuche nämlich, hier auf eine bundestreue Zusammenarbeit hinzuwirken, waren nur gelegentlich erfolgreich. Meist blieb es beim Appell an die jeweils andere Seite oder bei gutgemeinten Absichtserklärungen. Beispielhaft seien hier Geschehnisse angeführt, die zeigen, daß das Prinzip der Bundestreue zwar Eingang in das Verfassungsleben der Weimarer Republik fand 5 5 4 , dort aber insgesamt kaum die Bedeutung eines allseits anerkannten politischen Leitbildes gewann. Erfolg hatte die Berufung auf die Bundestreue vor allem im Winter 1923/1924. Damals gelang es, die schweren Konflikte zwischen dem Reich auf der einen Seite, Thüringen und Bayern auf der anderen Seite gütlich beizulegen. M i t Thüringen traf das Reich eine Vereinbarung, durch die dem Reich eine weitgehende Kontrolle der beanstandeten thüringischen Finanz- und Beamtenpolitik eingeräumt wurde. Im Gegenzug verzichtete das Reich auf ein Einschreiten im Wege der Reichsexekution 555 . In Bayern schienen zunächst nach dem Münchener Putsch vom 8./9. November 1923 und nach der Veröffentlichung 551
Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 39. Triepel, VVDStRL 5 (1929), S. 8, sah hierin das Grundproblem der Staatsgerichtsbarkeit: „Die Verfassungsgerichtsbarkeit bezieht sich auf Streitigkeiten, die ihrer Natur nach, weil sie politisch sind, einer Entscheidung in prozeßförmiger Art widerstreben". 552 Simons, Vorwort zu Lammers/Simons I, S. 14. 553 Simons, Vorwort zu Lammers/Simons I, S. 15. 554 Bayer, S. 17. 555 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 467 ff. Das Abkommen vom 12. Januar 1924 ist abgedruckt bei E. R. Huber, Dokumente 3, Nr. 277.
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einer bayerischen Verfassungsdenkschrift vom 9. Januar 1924 die Beziehungen zum Reich dem offenen Konflikt zuzusteuern. Die Denkschrift verlangte nicht weniger als die Revision der gesamten bundesstaatlichen Verfassung Weimars mit dem Ziel der Stärkung der Länder im Reich. „Die mehr als vierjährigen Erfahrungen staatlichen Lebens unter der Weimarer Verfassung haben", so hieß es in der Denkschrift, „den untrüglichen Beweis geliefert, daß dieses Verfassungswerk sein Ziel verfehlt hat... Die neue Lebensform des Reiches hat sich als unfruchtbar erwiesen" 556 . Die Länder, bei denen in Deutschland traditionell der Schwerpunkt der Staatlichkeit liege, seien, auch zum Schaden des Reiches, über Gebühr geschwächt worden. Insbesondere die eingeschränkte Finanzhoheit der Länder sollte nach den bayerischen Überlegungen entsprechend der Verfassung des Kaiserreiches wieder in vollem Umfang hergestellt werden 557 . Trotz der Veröffentlichung dieser Denkschrift kam es noch im Januar 1924 in Verhandlungen mit dem Reich zu entscheidenden Fortschritten, möglicherweise dadurch begünstigt, daß auf beiden Seiten bayerische Juristen beteiligt waren, auf der Reichsseite Reichsjustizminister Emminger, auf der Landesseite der bayerische Justizminister Gürtner 558 . In den Besprechungen beklagte zwar der bayerische Gesandte die einseitige „unitarische Überspannung" der Reichsverfassung, bekannte sich aber zur „Reichstreue" Bayerns 559 . Reichskanzler Marx begrüßte dies und wies seinerseits auf die Notwendigkeit einer alsbaldigen Verständigung mit Bayern hin. Diese wurde dann schon am 14. Februar 1924 in der „Homburger Vereinbarung" 560 gefunden. Inhaltlich betraf diese Vereinbarung, die weder Vertrag noch Rechtsetzungsakt war, sondern eine Verständigung protokollierte 561 , die Handhabung des Wehrverfassungsrechts im Hinblick auf weitere mögliche Putschversuche in Bayern. Man versprach gegenseitiges „SichIns-Benehmen-Setzen" und „Tunlichst-Rücksichtnehmen" auf die Belange des Partners 562 . Auf dieser Grundlage gelang es dann tatsächlich, die Konflikte Bayerns mit dem Reich für die folgenden Jahre auszuschließen.
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Denkschrift „Zur Revision der Weimarer Reichsverfassung" (Reichsrats-Drucksache 1924 Nr. 5 vom 8. Januar 1924), S. 169 ff., in Auszügen abgedruckt bei v. Puttkamer, Föderative Elemente, S. 169 ff. 557 Zu dieser Denkschrift und der dadurch auch in anderen Ländern in Gang gesetzten Diskussion Ehni, Bollwerk Preußen?, S. lOOff. 558 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 471. 559 Vgl. Bayer, S. 17; Ρ Oetzsch, JöR 13 (1925), S. 95; G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 440 ff. 560 Abgedruckt bei E. R. Huber, Dokumente 3, Nr. 330. 561 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 475, spricht von einer „administrativen Verständigung". 562 Wegen dieses ausdrücklich festgestellten Vorrangs des politischen Ausgleichs vor der rein staatsrechtlichen, an der Kompetenzverteilung der Verfassung orientierten Bewertung, hat W. Becker, Föderalistische Tendenzen, S. 92, die Homburger Vereinbarung als verfassungswidrig bezeichnet. Das ist sicherlich zutreffend — erstaunlich ist nur, daß dies nicht die einhellige Meinung in der Staatsrechtslehre war. Offenbar hatte man
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Auch in Staatsverträge fand das Prinzip der Bundestreue, wenngleich mehr in Absichtserklärungen als in klar umrissenen Vertragspflichten, Eingang. So lautete § 13 des Reichsgesetzes über den Staatsvertrag betreffend den Übergang der Wasserstraßen von den Ländern auf das Reich vom 29. Juli 1921: „Unbeschadet der einheitlichen Verwaltung der Reichswasserstraßen wird das Reich die Eigenart der einzelnen Flußgebiete unter Beobachtung des Artikels 97 Abs. 3 der Reichsverfassung berücksichtigen und auf eine möglichste Dezentralisierung der Verwaltung bedacht sein. Es wird insbesondere auf die verkehrsund volkswirtschaftlichen und politischen Interessen des Landes unter Abwägung der verschiedenen Verhältnisse bedacht sein und bei widerstreitenden Interessen zwischen Reich und Land oder zwischen mehreren Ländern einen gerechten Ausgleich herbeiführen" 563 . Schließlich sei als ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Berufung auf das Prinzip der Bundestreue die von den Ländern durchgesetzte Ausweitung der Verhandlungspraxis des Reichsrates genannt. Als Sprecher sämtlicher Länder forderte Preußen im Jahre 1926 den Reichsinnenminister auf, regelmäßig Informationssitzungen mit dem Reichsrat abzuhalten, ihn grundsätzlich von allen wichtigen Maßnahmen der Reichsinnenpolitik zu unterrichten und ihn dazu anzuhören. Mehr widerstrebend als einer eigenen Überzeugung folgend, veranlaßte daraufhin Reichsinnenminister Külz die Reichsminister und den Staatssekretär in der Reichskanzlei durch ein Schreiben vom 8. Juli 1926, „den Wünschen des Reichsrats ... Rechnung zu tragen" und „vor wichtigen Entscheidungen in der äußeren und inneren Politik nach Möglichkeit vor der Entscheidung zu beteiligen ohne Rücksicht darauf, ob der Reichsrat im Einzelfalle einen formellen verfassungsmäßigen Anspruch hieraufhat" 5 6 4 . Das gab dem Reichsrat bald eine größere Bedeutung als sie die seltener werdenden Konferenzen der Ministerpräsidenten unter dem Vorsitz des Reichskanzlers hatten. Bezeichnend dagegen für einen Vorfall, in dem es nur zum erfolglosen Appell an die Bundestreue der anderen Seite kam, ist ein Geschehen aus den Anfangstagen der Republik, das ebenfalls das Verhältnis zwischen dem Reich und Bayern betrifft. Im November 1918 veröffentlichte der bayerische Ministerpräsident Eisner in eigener Verantwortung bayerische Dokumente, insbesondere einen Bericht des bayerischen Geschäftsträgers in der Schweiz aus dem Juli 1914, die zur Frage der deutschen Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges Aufschluß geben sollten 565 . Während die Reichsregierung jedes Eingeständnis deutscher Schuld vermieden hatte, wollte Eisner die deutsche Kriegsschuld umfassend bekennen. Das geschah in der Absicht, bei den Regierungen der sich damit abgefunden, daß im Verhältnis zwischen dem Reich und Bayern anderes Recht als das geschriebene der Reichsverfassung zur Anwendung kam. 563 Zitiert nach Bilfinger, Der Einfluß, S. 52. 564 Zitiert nach G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 496. 565 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1021 ff.
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Siegerstaaten mehr Entgegenkommen gegenüber Deutschland zu erzielen. Eisner begründete sein Vorgehen damit, „daß nur durch die volle Wahrheit jenes Vertrauensverhältnis zwischen den Völkern wiederhergestellt werden kann, das Voraussetzung für einen Frieden der Völkerversöhnung i s t " 5 6 6 . Die Publikation, in der die in bayerischer Hand befindlichen Aktenstücke des Sommers 1914 zusammengefaßt waren, enthielt jedoch verhängnisvolle Auslassungen betreffend die deutschen Versuche zur Vermeidung oder zumindest Lokalisierung des österreichisch-serbischen Konflikts. Der Leser mußte den Eindruck gewinnen, die Reichsleitung habe den Krieg mit voller Absicht herbeigeführt. Mit dieser Veröffentlichung setzte sich Bayern bewußt über die ausschließliche Kompetenz des Reiches hinweg, auswärtige gesamtstaatliche Angelegenheiten in eigener Verantwortung wahrzunehmen. Die Reaktion der Reichsleitung auf diesen eklatanten Fall der Bundes-Untreue durch Verletzung der Einordnungspflicht Bayerns in die auswärtige Politik des Reiches fiel zunächst dementsprechend hart aus. A m 26. November 1918 veröffentlichte das Auswärtige Amt eine Protesterklärung gegen die bayerische Publikation und verlangte Distanzierung hiervon. Darafhin nahm die Auseinandersetzung die für die Weimarer Republik charakteristische Wendung vom föderalistischen zum parteipolitischen Streit. Eisner beklagte den Versuch des Auswärtigen Amtes, „das deutsche Volk erneut um die Erkenntnis der Wahrheit zu bringen" und erklärte dies Bestreben damit, daß die „vom Geist des alten Systems" bestimmten leitenden Persönlichkeiten noch immer im Reich das Sagen hätten. Im gleichen Sinne telegraphierte der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat Münchens am 27. November 1918 an den Großberliner Vollzugsausschuß und beklagte die „unerhörte Tatsache", „daß noch immer die kompromittiertesten Vertreter des bisherigen Systems ... den entscheidenden Einfluß, besonders in der auswärtigen Politik, ausüben" 567 . Daraufhin verhielt sich die Reichsregierung abwartend. Den offenen Konflikt mit Bayern wollte man vermeiden. U m dem Angriff Bayerns auf die politische Linie der Reichsleitung die Schärfe zu nehmen, bereitete man eine eigene Dokumentation zur Kriegsschuldfrage vor. Der Konflikt fand dann wegen der im Dezember 1918 sich überschlagenden Ereignisse ein schnelles Ende. Diese hier exemplarisch angeführten Ereignisse zeigen die Veränderung in der politischen Geltendmachung bundesstaatlicher Pflichten im Hinblick auf bundestreues Verhalten. Der diplomatische Stil des Kaiserreiches war weggefallen, im Konfliktfall drohte die offene Auseinandersetzung, die im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof enden konnte. Die bundesstaatlichen Zwangsmittel der selbständigen Reichsaufsicht und der Reichsexekution, die im Kaiserreich nur ganz selten zur Anwendung kamen 5 6 8 , wurden zu einem wichtigen Instrument des Reiches gegenüber den Ländern. Im übrigen fallt auf, daß bei eher 566
Zitiert nach Eyck, Geschichte der Weimarer Republik I, S. 84. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1023 f. 568 Vgl. zu dem Fall des braunschweigischen Thronfolgekonfliktes im Jahre 1885 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte IV, S. 429f. 567
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zweitrangigen Fragen das Reich schnell bereit war, den Wünschen der Länder nachzugeben. Ähnlich wie Bismarck nach 1871 durch politische Gesten die einzelstaatlichen Fürsten mit dem Verlust ihrer Souveränität anzufreunden versuchte, so scheint die Reichsleitung in den zwanziger Jahren bemüht gewesen zu sein, die erhebliche Verschiebung verfassungsmäßiger Kompetenzen von den Ländern auf das Reich durch die Zusicherung ihrer schonenden Ausübung abzumildern. Die zitierte Gesetzesbestimmung über die in die Reichs Verwaltung übergegangenen Wasserstraßen ist ein Beispiel dafür. Die in umständlichen Wendungen versprochene länderfreundliche Verwaltungspraxis sollte einen Ausgleich für die ausschließliche verfassungsmäßige Zuständigkeit des Reiches geben 569 .
3. Das Problem der Bundestreue in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik Obwohl es zu Problemen des Bundesstaates — ähnlich wie in der Zeit des Kaiserreiches — eine Flut von Veröffentlichungen gab, hat sich die zeitgenössische Staatsrechtslehre nur sehr selten mit der Frage beschäftigt, ob es unter der Weimarer Reichsverfassung eine ungeschriebene Rechtspflicht zu bundestreuem Verhalten gebe. Wenn insgesamt eine dogmatische Etablierung der Bundestreue als eigenständiges Rechtsprinzip ausblieb, so kann jedoch keineswegs die Ursache hierfür in einem Bestreben der Staatsrechtslehre gesucht werden, zum Bundesstaatsrecht der Kaiserzeit einen deutlichen Trennungsstrich zu ziehen. Fast durchgängig berücksichtigen nämlich die Autoren der zwanziger Jahre eingehend den früheren Rechtszustand 570 , und das nicht so sehr, um aus der Entgegensetzung das neue Recht zu erklären, sondern um Elemente der Kontinuität aufzuzeigen. Zur Begründung hieß es etwa bei Behnke in einer Untersuchung über die Rechtsgleichheit der Länder, diese Vorgehensweise entspreche „dem Bedürfnis, auf die Quellen des heutigen Rechtszustandes zurückzugehen", und der Autor führt weiter aus: „Trotz des großen Unterschiedes zwischen dem alten und dem neuen Staatsrecht laufen doch zahlreiche Fäden hinüber und herüber, die das alte mit dem neuen verbinden" 571 . Das Beharrungsvermögen juristischer Dogmatik kommt hier deutlich zum Aus569
Bilfingen Der Einfluß, S. 53. Vgl. nur die Behandlung der „Grundzüge des Staatsrechts des Deutschen Kaiserreiches und seiner Einzelstaaten" im HbdStR I, S. 69 ff. durch Thoma und Gmelin; ferner die Referate von Anschütz und Bilfinger auf der ersten Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 1924 (VVDStRL 1 (1924), S. Iff., 35ff.) und Bilfinger, Der Einfluß, S. 42 ff. 570
57 1 Behnke, S. 12; Jeselsohn, S. 67: „Unser heutiges Staatsrecht beruht in seinen Begriffen unmittelbar auf dem Staatsrecht des alten Reiches". Vgl. auch M. Friedrich, AöR 102(1977), S. 185, wonach der Methodenstreit in der Staatsrechtslehre der zwanziger Jahre sich wegen der Vertrautheit des Bundesstaatsrechts nicht an dieser Materie entzündete.
13 Korioth
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druck. Der Wegfall der bundesmäßigen, das heißt vertragsmäßigen Grundlagen des Reiches konnte kein ernsthafter Hinderungsgrund für die Neubegründung einer Rechtspflicht zu bundestreuem Verhalten sein. a) Anschütz, Behnke, Triepel
Soweit das Problem der Bundestreue berührt und die Geltung eines solchen ungeschriebenen Rechtssatzes für die Weimarer Verfassung verneint wird, sind stattdessen methodische Bedenken ausschlaggebend. Zum Teil sind sie in ähnlicher Form schon unter der Verfassung des Kaiserreiches geäußert worden. Das gilt insbesondere für die Behandlung des Problems bei Anschütz, Triepel und Behnke. In Anschütz' Kommentar zur Reichs Verfassung, ebenso in seinem Referat über den deutschen Föderalismus auf der ersten Tagung der Staatsrechtslehrer im Jahre 1924, findet sich der Begriff der Bundestreue nicht. Der Vortrag des Jahres 1924 gibt aber einen Hinweis, daß Anschütz überhaupt ungeschriebenes staatliches Organisationsrecht unter der Weimarer Verfassung nicht anerkennen möchte 572 . Für die Existenz ungeschriebenen Verfassungsrechts wird — unter Berufung auf die Arbeit Smends aus dem Jahre 1916 — ausschließlich auf das Kaiserreich verwiesen: „Es ist nichts neues und muß doch immer wieder gesagt werden, daß im alten Reich neben dem geschriebenen mancherlei ungeschriebenes Staatsrecht in Kraft stand . . . " 5 7 3 . Für die Weimarer Verfassung ist bei Anschütz keine Rede von Rechtsquellen, die diesem früheren Zustand entsprechen würden. Die Gründe für die Zurückhaltung Anschütz' lassen sich nur erschließen. Die eine Ursache liegt wohl in der in seinem Kommentar deutlich spürbaren Tendenz, das durch die geschriebene Verfassung weit detaillierter als im Kaiserreich geregelte Verhältnis von Reich und Ländern 5 7 4 für abschließend normiert zu halten. „Der erste Hauptteil unserer Verfassung regelt den Aufbau und die Aufgaben des Reichs. Zum ,Aufbau' gehört nicht nur die Organisation 572
Dies jedoch mit einer Ausnahme. Anschütz kennt ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen des Reiches aus der „Natur der Sache". Sie ergeben sich aus dem „ungeschriebenen, im Wesen der Dinge begründeten, mithin einer ausdrücklichen Anerkennung durch die Reichsverfassung nicht bedürftigen Rechtssatz, wonach gewisse Sachgebiete, weil sie ihrer Natur nach eigenste, der partikularen Gesetzgebungszuständigkeit a priori entrückte Angelegenheiten des Reichs darstellen, vom Reiche und nur von ihm geregelt werden können", Anschütz, in: HbdStR I, S. 367. 57 3
Anschütz, VVDStRL 1 (1924), S. 13. Demgegenüber bezeichnet Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 42, die Weimarer Verfassung als „unvollständig und lückenhaft"; die Vertreter der juristischen Methode hätten sich „erstmals" mit dem Problem interpretierender Konkretisierung des Verfassungsrechts konfrontiert gesehen. Das ist zumindest ungenau: die inhaltlich weitaus knappere Bismarcksche Verfassung hätte dann noch weit stärker zu einer solchen interpretierenden Konkretisierung führen müssen, während in Wirklichkeit die positivistische Konstruktionsmethode ihre Leistungsfähigkeit gerade an dieser Verfassung unter Beweis stellte. 574
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der Reichsgewalt..sondern vor allem auch die Gliederung des Reichs, als eines zusammengesetzten Staatswesens, in partikulare Staatsgebilde, ,Länder 4, und die rechtliche Ordnung des Verhältnisses von Reich und Ländern zueinander" 575 . Damit wird das gesamte Organisationsrecht auf die Autorität des Verfassunggebers zurückgeführt. Nur ganz am Rande spricht Anschütz von einer „Treuepflicht" 576 der Länder, die sie verpflichte, nicht gegen die verfassungsgesetzlich bestehenden Pflichten zu verstoßen. Das aber ist nichts anderes als eine Umschreibung der allgemeinen Pflicht, die Rechtssätze der Verfassung zu beachten; mit einem ungeschriebenen Prinzip der Bundestreue, das in der Lage wäre, materielle Rechte oder Pflichten zu begründen oder umzugestalten, hat dies nichts zu t u n 5 7 7 . Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Problem der Bundestreue findet sich bei Behnke, der sie als Rechtsprinzip vor allem deshalb ablehnt, weil sie neben der geschriebenen Verfassung keinen Platz mehr finden könne. „Alle Versuche, eine von der Reichsregierung dahin geübte quasi-bündische Form im Verkehr mit den Einzelstaaten in ein rechtliches System zu bringen und als ungeschriebenes Verfassungsrecht neben das geschriebene zu setzen, muß heute an der Starrheit der Verfassungsnormen scheitern" 578 . Die Konstruktion eines besonderen ungeschriebenen Verfassungssatzes der Bundestreue sei nach dem Sinn der neuen Reichsverfassung aber auch nicht nötig, denn diese Verfassung habe konsequent das beseitigt, was im Kaiserreich zu einem unausgewogenen Verhältnis von Reich und Einzelstaaten geführt habe, nämlich die preußische Hegemonie. Zum einen seien nunmehr die Länder rechtlich untereinander und zum Reich gleichgestellt, zum anderen sei die Reichsgewalt scharf getrennt von den Landesregierungen, insbesondere also von der preußischen. Der „gleichmäßige Abstand" 5 7 9 der Reichsgewalt von jeder Landesgewalt schaffe den „echten" Föderalismus, der nicht mehr durch ungeschriebene Rechtssätze postuliert werden müsse. Wenn dennoch die politischen Kräfte sich in Einzelfällen auf die Bundestreue beriefen, dann bedeutet das nach Behnke nicht mehr als die Anerkenung eines politischen Prinzipes 580 . 57 5
Anschütz,Kommentar, S. 36. Vgl. Anschütz, Kommentar, Art. 15 Anm. 1 b m. Fn. 2 (S. 114), Art. 17 Anm. 1-3. 577 Ganz auf der Linie von Anschütz liegt die Beschreibung des Treueverhältnisses von Reich und Ländern in der Weimarer Republik bei E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 80: „Die wechselseitige Treuepflicht von Reich und Ländern war zur reinen Verfassungspflicht geworden". Auch Nawiasky, Grundprobleme I, gebraucht bei seiner umfassenden Darstellung des Rechtszustandes der bundesstaatlichen Verfassung den Treuebegriff nicht. Anders ist dies erst in mündlichen Äußerungen Nawiaskys als Prozeßvertreter Bayerns in den Verhandlungen des Staatsgerichtshofes im Oktober 1932 in Sachen Preußen gegen das Reich. Dort gilt ihm der „Gesichtspunkt der Bundesfreundlichkeit" als „Rechtsanspruch der Länder" und Nawiasky fuhr fort: „Ich muß betonen, daß dieser Gedanke der Bundesfreundlichkeit aus dem Wesen des Bundesstaates hervorgeht" (Nawiasky, in: Preußen contra Reich, S. 173). 576
57 8 57 9
1
Behnke, S. 67. Behnke, S. 69.
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Interessant ist hieran das von Behnke nicht weiter begründete Verständnis der Bundestreue als ein die Länder begünstigendes Prinzip. Das entspricht exakt der von Smend vor 1918 diesem Rechtsinstitut gegebenen Ausprägung und erklärt zu einem Teil die auffallend geringe Bedeutung der Bundestreue in den zwanziger Jahren: Die frühere Alternative von Staatenbund oder Bundesstaat hatte sich zu der zwischen Bundesstaat und Einheitsstaat verschoben 581 . Diese neue Alternative drehte die Fragestellung für die meisten Autoren um. Nicht Begünstigungen der Länder standen in Rede, sondern die Möglichkeiten und Vorteile einer weitgehenden Unitarisierung des Reichs. Problematisch erscheint die Ansicht Behnkes, mit der Beseitigung der verfassungsmäßigen Hegemonie Preußens sei das Problem der Ungleichbehandlung der Länder, das durch die Bundestreue zu korrigieren sei, weggefallen. Gerade das nach wie vor politisch ungeklärte Verhältnis zwischen dem größten Bundesstaat und dem Reich hätte einen Ansatzpunkt für die Bundestreue geboten, denn zumindest einen „politischen Rest" 5 8 2 der Hegemonie gab es noch. Ähnlich wie bei Behnke ist für Triepel der politische Gehalt des Begriffs der Bundestreue ausschlaggebend dafür, daß keine Norm des Verfassungsrechts vorliegt. In der ersten umfassenden Untersuchung der Stellung des Staatsgerichtshofes bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Reich und Ländern betont Triepel zwar, daß jede politische Frage auch eine Rechtsfrage sei, weil der politische Charakter einer Streitigkeit ihre Beurteilung nach Rechtsnormen nicht ausschließe 583 , doch eine Rechtspflicht zur Herstellung eines „bundesfreundlichen Einvernehmens" zwischen Reich und Ländern weist Triepel ausdrücklich zurück 5 8 4 . Insgesamt zeigt sich, daß die von den Kritikern vorgebrachten Argumente ganz auf dem Verständnis der Verfassung und des Rechtssatzes beruhen, die der staatsrechtliche Positivismus geprägt hat. Wenn der Rechtssatz eine Abgrenzung von Willenssphären bewirkt 5 8 5 , dann läßt sich dem die Bundestreue nicht zuordnen, die keine exakte Zuweisung von Rechten oder Pflichten bewirkt, sondern eine allgemeine Regel für die Zusammenordnung von Rechtssubjekten angibt. In der Ablehnung ungeschriebenen Verfassungsorganisationsrechts mit Hinweis auf den abschließenden Charakter der geschriebenen Verfassung klingt daneben das vom staatsrechtlichen Positivismus in das Verfassungsrecht übertragene Kodifikationsprinzip an. Dem entspricht es, daß die Arbeiten von 580 Behnke, S. 62. Ebenso Ficker, S. 177. Nach Bilfinger, ZaöRV 1, Teil 1 (1929), S. 74, entsprach diese Einschätzung der Bundestreue der überwiegenden Auffassung in der Staatsrechtslehre. 581 Vgl. Thoma, in: HbdStR I, S. 170 m. Fn. 3 u. 4. 582 So die Formulierung bei Bilfinger, Der Einfluß, S. 130. 583 Triepel, FS Kahl, S. 17. 584 Triepel, FS Kahl, S. 24ff., 29. 585 So vor allem Laband II, S. 73, 181; G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 240; Anschütz, Art. Gesetz, S. 213 f.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
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Anschütz und — mit Einschränkungen — von Triepel 586 aus den zwanziger Jahren der „positivistischen Richtung" 5 8 7 innerhalb der Vielfalt der damals vertretenen methodischen Ansätze zugerechnet werden. b) Die Anerkennung einer „republikanischen Bundestreue" bei Lassar, Thoma und Bilfinger
Soweit von anderer Seite die Bundestreue als Rechtsprinzip anerkannt wird, geschieht dies zumeist in Form unergiebiger Behauptungen oder pauschaler Verweise auf die Arbeit Smends aus dem Jahre 1916. So bemerkt Lassar bei der Behandlung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung des Reiches, daß für die Ausübung der Zuständigkeiten der „Rechtssatz der bundesfreundlichen Haltung für Reich und Länder unter Vorrang des Reichsinteresses" 588 gelte. Das ist in mehrfacher Hinsicht unpräzise. Weder erklärt Lassar den Inhalt des von ihm gefundenen Rechtssatzes, noch wird der Vorrang des Reichsinteresses begründet. Thoma bemerkt, daß auch die neue Ordnung der Weimarer Verfassung auf die „Loyalität" und „Reichstreue" der Länderregierungen rechne. Der stark unitarisierte Gesamtbau der Verfassung beruhe nicht nur auf eigener Kraft, sondern auch auf der „eidgenössischen Gesinnung" 589 der Länder. Doch das ist als eine einseitige Pflicht der Länder gedacht, denn nach Thoma entbehren die föderalistischen Elemente der Verfassung jeder juristischen Verbürgung. Im Wege der Verfassungsänderung könnten die föderalistischen Bestandteile ohne jeden Rechtsbruch aufgehoben werden 590 , die Länder müßten sich dem fügen: „Juristisch sind jeder im nationalen Interesse notwendigen Reform die Tore geöffnet" 591 . Schon nach dem geltenden Recht könne das Reich keinesfalls als ein auf der „Vertragstreue der Landesregierungen beruhender Bund" begriffen werden. „Es besitzt eine so reich entwickelte, unmittelbar eigene Organisation und ist den Ländern mit so umfassenden Befugnissen übergeordnet, behauptet sich überdies, soziologisch gesehen, über einer so zusammenhängenden Volks586 Zur Würdigung der methodischen Überlegungen Triepels vgl. Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 429f., und bereits oben, 1. Teil, II.3.c). 587 Vgl. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 42f., 51 f.; M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 185. Zum staatsrechtlichen Positivismus in der Weimarer Republik Heun, Der Staat 28 (1989), S. 377 ff. Aufschlußreich ist die Selbsteinschätzung Anschütz' in einem Diskussionsbeitrag im Streit zwischen den Vertretern der formalistischen Staatsrechtslehre und den antipositivistischen Neuerern während der Staatsrechtslehrertagung des Jahres 1927: „Ich fühle mich als Konservator einer Anschauung, die lange Zeit für richtig galt und nie angefochten wurde . . . nun soll plötzlich das Meiste davon falsch sein" (Anschütz, VVDStRL 4 (1928), S. 74). 588 599 590 591
Lassar, in: HbdStR I, S. 304. Thoma, in: HbdStR I, S. 184. Thoma, in: HbdStR I, S. 182. Thoma, in: HbdStR I, S. 184.
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Wirtschaft und einer psychisch so überwiegend unmittelbar dem Reiche zugewendeten Bevölkerung, wie nur eben ein auf sich gestellter Staat" 5 9 2 . Einen interessanten und differenzierten Versuch zur Begründung der rechtssatzmäßigen Geltung der Bundestreue im republikanischen Bundesstaat hat dagegen Bilfinger, der „bedeutendste Kenner des Weimarer Föderalismus" 593 , in seiner 1923 erschienenen Monographie über den Einfluß der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens unternommen. Bilfingers Ausgangspunkt ist eine methodische Überlegung, die sich aus der Fragestellung ergibt, wie sich der Einfluß der Einzelstaaten auf die Reichswillensbildung juristisch analysieren läßt. Den Begriff des Einflusses, der selbst — anders als etwa die gegenläufige Erscheinung der Reichsaufsicht — kein Rechtsinstitut ist, zerlegt Bilfinger in die tatsächliche Einflußausübung als „Lebensäußerung" des Einzelstaates und das Einflußrecht 594 . Gefordert ist wegen dieser Zweiteilung, soll der Ländereinfluß umfassend erkannt werden, die „Verbindung von staatsrechtlicher und staatspolitischer Betrachtung" 595 . Die Lehre des Staatsrechts muß Zweckmäßigkeitserwägungen, Werturteile und beobachtete tatsächliche Vorgänge in sich aufnehmen. „Kommt nun bei diesem Verfahren die Feststellung des Tatsächlichen und seiner Bedeutung zu kurz, so wird dadurch auch die Objektivität der Darstellung des Staatsrechts selbst als geltendes Recht beeinträchtigt" 596 . Die staatspolitische Betrachtung hat es nicht mit der banalen Erörterung politischer Tagesfragen zu tun, sondern mit den typischen, in ihrem Wesen sich immer wiederholenden Erscheinungen. Zu diesen Erscheinungen gehört die sich im Bundesstaat immer stellende Frage des Ausgleichs zwischen Reich und Einzelstaaten. Aus der Verbindung und „Wechselwirkung" 597 zwischen dem formalen Verfassungsrecht und den tatsächlichen Machtverhältnissen, den tatsächlich feststellbaren Formen des Ausgleichs von Reichs- und Länderinteressen, gewinnt Bilfinger Sätze des von ihm so bezeichneten materiellen Verfassungsrechts. So sind tatsächliche bündische Umgangsformen nicht allein äußere Spuren politischer Kompromisse, Ergebnis von Tradition und Konvention, sondern in ihnen wird, so formuliert Bilfinger, Recht angedeutet 598 . Damit ist gemeint, daß einerseits das formale geschriebene Organisationsrecht keine erschöpfenden, im Einzelfall handhabbaren Regeln angeben kann, während das politische Verfahren Spannungen zum geschriebenen Recht vermeiden muß. „Die Mittel, die Wege, welche dem Einfluß der Einzelstaaten zur Verfügung stehen, müssen sich auch als
592 593 594 595
Thoma, in: HbdStR I, S. 171. So die Einschätzung bei E. R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 59 Fn. 12. Bilfinger, Der Einfluß, S. 5, 8, 21, 72. Bilfinger, Der Einfluß, S. 4; ders., ZaöRV I, Teil 1 (1929), S. 74. Vgl. hierzu Bayer,
S. 28. 596 597 598
Bilfinger, Bilfinger, Bilfinger,
Der Einfluß, S. 6. Der Einfluß, S. 20. Der Einfluß, S. 9, 51.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
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politische ... immer wieder mit den einzelnen organisatorischen Rechtsinstituten des Reiches wie des eigenen Staates berühren." 599 Diesen methodischen Ansatz der Verbindung politischer und staatsrechtlicher Betrachtung überträgt Bilfinger im Rahmen seiner auf das Einflußrecht begrenzten Fragestellung auf die Bundestreue. Die zunächst zu konstatierende Zugehörigkeit der Bundestreue zu dem politischen Bereich schließt für ihn die zugleich rechtliche Bindung nicht aus 6 0 0 . Die Bundestreue ist deshalb ein „materiellrechtliches Prinzip" 6 0 1 ; gerade dieses materielle Verfassungsprinzip ist ganz von politischen Gesichtspunkten durchsetzt. Insoweit akzeptiert Bilfinger ausdrücklich die von Smend für die alte Reichsverfassung angestellten Überlegungen 602 . Bilfingers zweite Stütze für den Nachweis der Rechtspflicht zu bundestreuem Verhalten ist die auf den ersten Blick kühn wirkende Behauptung, die bündische Idee des Kaiserreichs sei sowohl in der neuen Reichsverfassung, hier entgegen der ursprünglichen Absicht der maßgebenden Redaktoren, als auch in den politischen Handlungen und Zielsetzungen der Weimarer Politiker nicht völlig verlassen 603 . Hinsichtlich der Reichsverfassung stützt sich Bilfinger auf den Verlauf der Verfassungsverhandlungen, in denen die Kontinuität des bündischen Gedankens als eines materiellen föderativen Elements bestätigt worden sei. Mangelnde Beteiligung der Einzelstaaten an der Verfassunggebung und die fehlende vertragliche Grundlage könne demgegenüber nicht ins Gewicht fallen. In Form einer wenig überzeugenden Folgerung schlägt Bilfinger die Brücke von der Reichsgründung des Jahres 1871 zur Weimarer Republik: „Wer den bündischen Gedanken als Grundsatz, nicht als Rechtsgrundlage, für die Zeit vor der Umwälzung bejaht, muß ihn auch für die neue Verfassung bejahen" 604 . Von hier aus läßt sich nun auch die rechtssatzmäßige Bedeutung der Bundestreue ohne weiteres erklären. Bilfinger entfaltet aus dem weiterwirkenden bündischen Gedanken den „bundesstaatlichen Rechtsgedanken" 605 , dessen eine Seite die Wahrung der Selbständigkeit der Einzelstaaten verlangt und dessen andere Seite das einzelstaatliche Einflußrecht auf die Bildung des Reichswillens darstellt. M i t Hilfe des Begriffs der Bundestreue findet Bilfinger einen Maßstab für den Umfang des Einflußrechts der Länder 6 0 6 . Es hat sich an der Pflicht zu 599
Bilfinger, Der Einfluß, S. 20. Bilfinger, Der Einfluß, S. 59; ders., ZaöRV I, Teil 1 (1929), S. 74. 601 Bilfinger, in: HbdStR I, S. 550 Fn. 30; ders., Der Einfluß, S. 62f. 602 Bilfinger, Der Einfluß, S. 8; vgl. Bayer, S. 19. 603 Bilfinger, Der Einfluß, S. 39 ff.; ihm folgend Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 152 f. 604 Bilfinger, Der Einfluß, S. 44, vgl. auch S. 78; ders., VVDStRL 1 (1924), S. 35ff. Auch Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 153, läßt es bei seiner kursorischen Behandlung der Bundestreue bei der pauschalen Behauptung bewenden, daß „die geschichtlichen Zusammenhänge noch weiter fortwirken". 600
605
Bilfinger,
Der Einfluß, S. 45; vgl. Bayer, S. 19.
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„bundesfreundlicher Verständigung" 607 und „bundesfreundlicher Behandlung" 6 0 8 auszurichten. Die Bundestreue ist damit die allgemeinste Formulierung des von Bilfinger als nach wie vor geltend eingeführten bündischen Rechtsgedankens; sie bildet die Grundnorm 6 0 9 der Zusammenordnung der Rechtssphären des Reiches und der Länder. Diese Überlegungen Bilfingers zeigen deutlich die Schwierigkeiten auf, den Begriff der Bundestreue in die dogmatische Bearbeitung der Weimarer Verfassung einzubauen. Der zentrale Gedanke von der Weiterwirkung der bündischen Grundlagen mag dem Denken solcher Politiker oder Historiker entsprochen haben, die dem Föderalismus mit Sympathie gegenüberstanden, als juristische These war sie mit der geschriebenen Verfassung nicht vereinbar 610 . Zur Begründung der Rechtspflicht zu bundestreuem Verhalten enthalten die Ausführungen Bilfingers nichts anderes als die Übernahme von Smends Ergebnissen aus dem Jahre 1916. Die dortige Unterscheidung Smends zwischen organisatorischen und funktionellen Rechtssätzen kehrt in Bilfingers Trennung von formalem und materiellem Verfassungsrecht wieder. Die Forderung nach der Verbindung von staatspolitischer und staatsrechtlicher Betrachtungsweise ist die explizite Formulierung des Vorgehens, das Smend bereits 1916 ohne nähere methodische Begründung angewandt hat 6 1 1 . Bezeichnenderweise besteht Bilfingers Untersuchung dann auch zum größten Teil aus der Sammlung geschichtlichen Materials zur Verfassungspraxis des Kaiserreichs und der Bestimmung ihrer Bedeutung für die neue Verfassung. Die Frage nach der Bundestreue bewegt sich damit nach wie vor im Bezugsrahmen des kaiserlichen Staatsrechts, das durch die These von der Weitergeltung des bündischen Gedankens in die Weimarer Zeit erstreckt wird 6 1 2 . Daß auf diese Weise bereits das Problem einer allgemeinen Verständi606
Vgl. Bilfinger, Der Einfluß, S. 63. Bilfinger, in: HbdStR I, S. 550 Fn. 30. 608 Bilfinger, Der Einfluß, S. 57. 609 Bayer, S. 19. 610 Thoma, in: HbdStR I, S. 170f., bemerkte 1930, ohne allerdings Bilfinger dabei zu erwähnen: „Versuche, das Reich auch jetzt noch als einen vertragsmäßigen Staatenbund zu konstruieren . . . , müßten ja auch angesichts der Tatsachen der Geschichte und des positiven Rechts dem spitzfindigsten Konstrukteur mißlingen." 611 Wobei allerdings in Bilfingers Kennzeichnung der politischen Betrachtungsweise als einer abstrahierenden, typisierenden auch das Verständnis Georg Jellineks von der wissenschaftlichen Behandlung der Politik (vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 16) anklingt. 612 Im Ergebnis stimmt mit Bilfinger weitgehend überein, wenngleich ohne genauere Begründung für die Weitergeltung der Bundestreue, Schule, Das Problem der einstweiligen Verfügung, S. 58 f. m. Fn. 22,23. Schüle geht jedoch insoweit über Bilfinger hinaus, als er dessen problematische Kontinuitätsthese durch die Behauptung ersetzt, das Prinzip der Bundestreue gelte deshalb „noch ebenso wie früher", weil es jedem föderativen Staatsgebilde „immanent" sei. 607
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
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gungspflicht zwischen Reich und Ländern gelöst erschien, mag damit zu erklären sein, daß die Bundesstaatlichkeit immerhin das einzige verfassungsrechtliche Strukturprinzip war, das unbeschadet aller Veränderungen im einzelnen aus der Reichsverfassung des Jahres 1871 beibehalten wurde. Bundesstaatsrecht war eine vertraute Materie — im Gegensatz zu den durch die Weimarer Verfassung neu aufgeworfenen Problemen etwa der Demokratie und der Grundrechte — wodurch die mehr pauschale Rezeption früherer Erkenntnisse nahegelegt worden sein mag 6 1 3 . 4. Die Übertragung der Bundestreue aus dem monarchischen Staat in die Weimarer Republik bei Rudolf Smend Auf dem Hintergrund dieser hier grob umrissenen Diskussion verdient nun die von Smend gegebene Begründung für die Weitergeltung der Bundestreue besonderes Interesse. Sie setzt sich behutsam, bei näherer Betrachtung aber dennoch deutlich von Bilfingers Vorgehensweise und damit auch von der eigenen des Jahres 1916 ab. Dies allerdings läßt der Abschnitt in „Verfassung und Verfassungsrecht", der sich mit den positiv-rechtlichen Folgerungen der Integrationslehre für das Bundesstaatsrecht beschäftigt 614 , für sich betrachtet noch nicht in vollem Umfang erkennen. Hier beschränkt sich Smend im wesentlichen auf das Ergebnis: die oberste Rechtspflicht von Bundesstaat und Einzelstaaten zu bundesfreundlichem Verhalten sei nicht auf das monarchische Bundesstaatsrecht zu beschränken 615 . Da der staatstheoretische Grundgedanke der bundesstaatlichen Gliederung nach der von der Integrationslehre entwickelten Anschauung in der Zusammenordnung der beteiligten Staatsindividualitäten zu dem gesamtstaatlichen Integrationssystem besteht, könne folglich der Rechtsstoff des Bundesstaatsrechts nicht die formale und zergliedernde Aufzählung einzelner Rechte und Pflichten zum Gegenstand haben, womöglich sogar mit der von Laband ausdrücklich gezogenen Konsequenz, daß verfassungsmäßige Rechte den beteiligten Subjekten bis hin zur egoistischen, partikulären Interessenverfolgung zur Verfügung ständen 616 . Die erforderliche Zusammenordnung von Reich und Ländern prägt vielmehr den „allgemeinen bündischen Rechtssatz" — Smend greift insoweit zustimmend die von Bilfinger geprägte Formel auf— der bundesfreundlichen Haltung: die „Verfassung verpflichtet Reich und Länder nicht nur zu formaler Korrektheit gegeneinander in Erfüllung ihrer staatsrechtlichen Pflichten und allenfalls rücksichtsloser Anwendung formal 613
Vgl. auch die aufschlußreiche Beobachtung von M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 184f., wonach der „Methodenstreit" der zwanziger Jahre sich gerade bei der Bearbeitung der grundsätzlich neuen Teile der Weimarer Verfassung entzündete. 614 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 268 ff. 615 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 269. 616
Vgl. Laband I, S. 246; hierzu Bilfinger,
Der Einfluß, S. 48 f.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
gegebener Befugnisse, unter eventueller Anrufung der verfahrensmäßigen Garantien durch Reichsaufsicht und Staatsgerichtshof, sondern verpflichtet zur Einigkeit, zu stetem Suchen und Herstellen guten bundesfreundlichen Verhältnisses" 617 . Nunmehr liegt also der Bezugspunkt der Pflicht zu bundestreuem Verhalten unmittelbar in der Verfassung — im Gegensatz zur Arbeit des Jahres 1916 wird von Smend weder die Rechtsquelle des ungeschriebenen Verfassungsrechts als der rechtssatzmäßige Niederschlag bemüht, noch findet sich der Versuch, direkt aus der politischen Praxis diesen Rechtssatz abzuleiten, was nach dem Vorbild von Bilfingers vorausgegangener Arbeit immerhin möglich gewesen wäre. Letzteres betreffend scheint Smend jedoch davon auszugehen, daß der Brückenschlag Bilfingers von den bündischen Formen des Kaiserreichs zur Weimarer Republik keinen geeigneten Begründungsweg zu geben vermag; im Unterschied zu Bilfinger deutet Smend auch immer wieder die konfliktgeladene Atmosphäre des Weimarer Bundesstaates a n 6 1 8 , in dem Verständigungspolitik oder bündische Umgangsformen nur eine geringe Rolle spielten. Der Zurückhaltung gegenüber der Behandlungsweise Bilfingers entspricht es ferner, daß Smend dessen Forderung nach einer Verbindung formaljuristischer und politischer Betrachtungsweise als unausgeglichen und mißverständlich zurückweist. Stattdessen verlangt er eine einheitliche „juristische, insbesondere bundesstaatsrechtliche Methode" 6 1 9 . Damit konzentriert sich das Problem der Bundestreue auf die Frage, welches ihr zugrundeliegende Verständnis der Verfassung und des Verfassungsrechts die Integrationslehre hervorgebracht hat. Von dort aus müssen die bundesstaatsrechtlichen Folgerungen, die Smend nur in knapper Form und weiterer Begründung nicht bedürftig vorstellt, verständlich und beurteilbar werden. a) Smends Bemühung um den Verfassungsbegriff auf dem Hintergrund der spätkonstitutionellen Lehren
Die Bemühung um den Verfassungsbegriff stellt das Kernstück der Integrationslehre dar. Smend selbst hat seine Lehre in einer rückblickenden Charakterisierung als den Versuch eines neuen VerfassungsVerständnisses 620 bezeichnet, und bereits in der Vorbemerkung zu „Verfassung und Verfassungsrecht" heißt es zur Betonung des Schwerpunktes der Integrationslehre: „Das hier entwickelte Sinnprinzip der Integration, des einigenden Zusammenschlusses, ist nicht das des Staates überhaupt, sondern das seiner Verfassung" 621 . Integration ist also 617 618 619 620 621
Smend, Smend, Smend, Smend, Smend,
Verfassung und Verfassungsrecht, S. 271. Verfassung und Verfassungsrecht, S. 232, 269, 272. Verfassung und Verfassungsrecht, S. 268. FS Scheuner, S. 586. Vgl. auch bereits oben 2. Teil, II. 2. Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120, vgl. auch S. 180.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
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nicht ein nur auf die Staatslehre zu beschränkender Begriff, innerhalb derer er die auf die staatliche Einheitsbildung zielenden tatsächlichen Vorgänge meint, sondern der Begriff der Integration soll, indem er das Sinnprinzip der Verfassung bezeichnet, die Verbindung zwischen Staat und Verfassung herstellen. Dieser Intention korrespondiert ein weiterer Satz aus der Einleitung zu „Verfassung und Verfassungsrecht". Smend bemerkt, er habe seine allgemeine Verfassungstheorie auf staatstheoretischer, nicht auf rechtstheoretischer Grundlage entworfen 622 . Die Entwicklung des Verfassungsbegriffs sucht hiernach in erster Linie die Verbindung zur Staatslehre, nicht zum Recht. Unabhängig vom sachlichen Ergebnis seiner Lehren hat Smend bereits mit der Forderung nach Etablierung einer „Verfassungstheorie" als eigenständiger, der Staatsrechtslehre vorgelagerter Disziplin in den zwanziger Jahren Neuland betreten 623 . Das Neue der Fragestellung verdeutlicht ein Rückblick auf die innerhalb der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre vorherrschenden Auffassungen zum Begriff der Verfassung. Labands Darstellung des Reichsstaatsrechts enthält überhaupt keine allgemeine begriffliche Bestimmung der Verfassung. Nur an einzelnen Stellen, vornehmlich im Kapitel über die Gesetzgebung des Reiches, werden Besonderheiten der Verfassung gleichsam als Anhang zur Gesetzeslehre erörtert 624 . Die zentrale Eigenschaft der Verfassung besteht für Laband nicht in einem nur ihr zukommenden Spezifikum, sondern sie besteht darin, Gesetz zu sein. „Die Verfassung ist keine mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates .. . " 6 2 5 . Der Zusammenhang zwischen Staat und Verfassung liegt demnach schlicht darin, daß der Staat als Gesetzgeber ihr Urheber ist. Als Gesetz enthält die Verfassung Rechtssätze, grenzt also, entsprechend der Labandschen Definition des Rechtssatzes626, 622
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120. Vgl. M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 202; ders., AöR 112 (1987), S. 12; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 302f., 42; anders offenbar Hsü Dau-Lin, AöR 61 (1932), S. 29, 40, der jedoch von einem weiten Begriff der Verfassungstheorie ausgeht, indem er darunter jede, sei es auch nur unreflektierte Vorstellung über das Wesen der Verfassung versteht, nicht aber eine spezielle wissenschaftliche Disziplin. Als gleichgerichteter Versuch, ungeachtet aller sachlichen Unterschiede zu Smend (vgl. M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 202ff.), ist die Verfassungslehre Carl Schmitts zu nennen, die sich eine systematische Darstellung des Verfassungstyps des bürgerlichen Rechtsstaats zum Ziel setzt (C. Schmitt, Verfassungslehre, Vorwort, S. IX, XI). 623
624
Vgl. Laband II, S. 38 f. Laband II, S. 39. Vgl. auch dens., Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 1 ; im gleichen Sinne Meyer/Anschütz, S. 743: Die Verfassung erscheine „nicht als Ausdruck eines von der Legislative verschiedenen, ihr übergeordneten staatlichen Organwillens, sondern sie ist und gilt als Akt der Legislative selbst ... Die Verfassung ist für die gesetzanwendenden Instanzen, auch für die Gerichte, nicht mehr und nichts anderes als ein einfaches formelles Gesetz". 625
626
Laband II, S. 2, 181; vgl. E.-W. Böckenförde, 227, 233 ff.
Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Willenssphären verschiedener Rechtssubjekte ab. Das Unterscheidungskriterium zwischen der Verfassung und den übrigen Gesetzen erblickt Laband lediglich in dem formalen Merkmal ihrer erschwerten Abänderbarkeit. Ob dies ein Merkmal ist, das für jede Staatsverfassung zutrifft, wird jedoch offengelassen. Es genügt Laband der Hinweis auf die für Änderungen der Verfassungsurkunde qualifizierte Mehrheiten verlangende Vorschrift des Art. 78 I der Reichsverfassung des Jahres 1871 627 . Dieser Hinweis ist bezeichnend: Laband spricht von der Verfassung nur im Sinne der positiv geltenden Verfassungsurkunde; eine weitere Vertiefung des Verfassungsbegriffes nimmt er nicht v o r 6 2 8 , nicht einmal die Gründe, warum und zu welchem Zweck die Vorschrift über ihre erschwerte Abänderbarkeit in die Verfassung aufgenommen wurde, werden erörtert. Die Ursache für diese Behandlungsweise liegt darin, daß Laband eine allgemeingültige Definition der Verfassung nicht benötigt. Seine Darstellung des Reichsstaatsrechts ist die unmittelbare Umsetzung der Verfassungsurkunde in die Dogmatik des Staatsrechts, Systematisierung der Verfassungsbestimmungen, die kraft der Entscheidung des Verfassunggebers vorhanden sind. Wenngleich Laband nicht verkennen möchte, daß es zahlreiche Begriffe des öffentlichen Rechts gibt, die den deutschen Staaten gemeinsam sind und schon deshalb der „theoretischen Erörterung" 629 bedürfen, so zählt die Verfassung nicht hierzu. Die Verfassung ist das Gesetz, das nur unter erschwerten Voraussetzungen abänderbar ist. Jeder andere Gehalt ist bei der Exegese der Einzelbestimmungen herauszuarbeiten, gehört jedoch nicht zum Begriff der Verfassung. Die Konsequenz ist also die völlige Formalisierung des Verfassungsbegriffs 630. Auch Georg Jellinek, der einen Verfassungsbegriff ohne Bezug auf eine bestimmte positive Verfassungsurkunde gewinnen möchte, hebt die Strukturgleichheit von Gesetz und Verfassung hervor 6 3 1 . Das „wesentliche rechtliche Merkmal von Verfassungsgesetzen" liegt für ihn „ausschließlich in ihrer erhöhten formellen Gesetzeskraft" 632 . Die darin, ebenso wie bei Laband, zum Ausdruck kommende relativierende Gleichsetzung 633 von Verfassung und Verfassungsgesetz verfestigt Jellinek noch dadurch, daß er, entsprechend der Unterteilung des Gesetzesbegriffs in einen formellen und materiellen, die 627
Laband II, S. 38. Vgl. auch M. Friedrich, AöR 111 (1986), S. 206ff. Verallgemeinernd aber Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 1: „Für Verfassungsänderungen bestehen überall Erfordernisse, welche im Vergleich mit den Erfordernissen anderer Gesetze Erschwerungen darstellen und Garantien des Bestandes der Verfassungen sind." 629 Laband I, Vorwort, S. VII. 630 Vgl. Hsü Dau-Lin, AöR 61 (1932), S. 40; Badura, FS Scheuner, S. 19; Kaegi, S. 60. 631 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 531 f.; ders., Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 8. 632 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 520. 633 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 19. 628
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
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Unterscheidung zwischen der Verfassung im formellen und materiellen Sinne einführt 634 . Die Terminologie ist insofern irreführend, als der Unterschied zwischen beiden nicht in einem materialen, inhaltlichen Moment liegt, sondern wiederum in einem rein formalen. Die formelle Verfassung ist im Gegensatz zur materiellen in der Verfassungsurkunde enthalten, während inhaltlich beide Regelungsgruppen die Organisation des Staates und die Stellung seiner Mitglieder in ihm und zu ihm betreffen 635 . Unter diesem inhaltlichen Gesichtspunkt betrachtet, betreffen letztendlich die formelle und die materielle Verfassung dasselbe; die erhöhte formelle Gesetzeskraft der Verfassungsurkunde ist kein Ausdruck der Wesentlichkeit ihres Inhalts. So ist auch die Feststellung Jellineks zu verstehen, daß jeder Staat, da er der rechtlichen Ordnung bedarf, notwendig eine Verfassung habe, sei sie nun in einer Verfassungsurkunde enthalten oder nicht 6 3 6 . Daraus aber folgt ein weiteres: mit dem umfassenden materiellen Verfassungsbegriff hat Jellinek im Grunde das einzige besondere juristische Merkmal der Verfassungsurkunde, nämlich ihre erschwerte Abänderbarkeit, insoweit preisgegeben, als es um den Verfassungsbegriff insgesamt geht. Die materielle Verfassung nämlich kennt keine ihre Bestandskraft sichernden formellen AbänderungsvorSchriften. Weil dies so ist, muß die Abgrenzung zwischen den materiellen Verfassungsgesetzen und den übrigen Gesetzen der gesamten Rechtsordnung bedeutsam werden, um den Bereich der Verfassung zu bestimmen. Hier könnte man erwarten, daß Jellinek ein besonderes inhaltliches Kriterium zu Bestimmung des Kreises der Verfassungsgesetze sucht. Das geschieht jedoch nicht, abgesehen von der grundsätzlichen Bezeichnung des Regelungsgegenstandes der Verfassungsgesetze. Der inhaltlichen Ausdehnung der Verfassung, so erläutert Jellinek am Beispiel der gliedstaatlichen Verfassungen der Nordamerikanischen Union, läßt sich „praktisch keine Grenze setzen" 637 . Damit endet die Verfassungstheorie Jellineks in materialer Indifferenz und Skepsis 638 . Der Hinweis auf die theoretische Grenzenlosigkeit zeigt, daß auch Jellinek es offenbar für müßig hält, über den Verfassungsbegriff zu sprechen, ohne dabei eine bestimmte Rechtsordnung eines bestimmten Staates im Auge zu haben. Insgesamt ist festzustellen, daß sich die spätkonstitutionelle Lehre über die Aussage hinaus, daß Inhalt und Aufgabe der Verfassung die Schrankenziehung 634
Zuerst G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 262: „Der Begriff der Verfassungsgesetze ist ein doppelter: ein materieller und formeller"; sodann ders., Allgemeine Staatslehre, S. 508, 532 ff. 635 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 505, 508, 534ff.; vgl. Hsü Dau-Lin, AöR 61 (1932), S. 44 636 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 505; vgl. ferner Hatschek, Staatsrecht I, S. 8 f. 637 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 534. 638 Noch deutlicher als in seiner Allgemeinen Staatslehre bei G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 2.
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
und die Organisation der staatlichen Willensbildung und Willensbetätigung ist 6 3 9 , nicht mit substanziellen Besonderheiten der Verfassung beschäftigt hat; die formelle Gesetzeseigenschaft der Verfassung steht ganz im Vordergrund. Das erklärt das Fehlen einer selbständigen Theorie der Verfassung: Verfassungslehre ist Gesetzeslehre. Dieses Ergebnis mag aus heutiger Sicht befremdlich wirken, zumal die Stellung der Verfassung als Norm sui generis innerhalb der Gesamtrechtsordnung heute als unverrückbare Einsicht der Staatsrechtslehre festzustehen scheint 640 . Dennoch darf die Errungenschaft, die in der konsequenten Behandlung der Verfassung als Gesetz und der formalen Einbindung des Verfassungsrechts in die Gesamtrechtsordnung liegt, nicht unterschätzt werden. Zunächst ist darin von der spätkonstitutionellen Lehre das Verständnis der Verfassung als Ergebnis einer Gewährung des Landesfürsten endgültig überwunden worden. Die Norm ist das Mittel der Emanzipation gegenüber dem Herrscherwillen 641 . Die Verfassung als Gesetz verweist auf den Staat als ihren Urheber und die Rechte der an der Gesetzgebung beteiligten Organe bei der Festsetzung und Abänderung einzelner Bestimmungen. In Verbindung mit der Qualifizierung des Staates als juristische Person dokumentiert sich darin ein geistiger Angriff auf die monarchische Staatsform. Der Monarch wird zum Organ der juristischen Person Staat herabgestuft, seine Herrschaftrechte verwandeln sich in organschaftliche Befugnisse, die das Verfassungsgesetz definiert und begrenzt 6*2. Gleichzeitig wird die Staatsordnung selbst dem rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff mit seinen Elementen der Dauer, Festigkeit und Allgemeinverbindlichkeit 643 unterworfen 644 .
639 Vgl. neben Laband und G. Jellinek etwa Haenel, Staatsrecht I, S. 125; Hatschek, Staatsrecht I, S. 8; Piloty, Art. Verfassung, S. 656, definiert kurz und bündig, entsprechend seiner herrschaftsorientierten Staatslehre wie folgt: „Verfassung ist die rechtliche Ordnung der Herrschaft. Durch die Verfassung wird das im Staat vorhandene Gewaltverhältnis zwischen Herrscher und Untertan rechtlich geordnet." 640 Dreier, in: Dreier/Schwegmann, S. 14; Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 25, 39 ff.; Hesse, Grundzüge, Rn. 16ff.; Kaegi, passim; Lerche, DVB1.1961, S. 690 ff. 641 Vgl. etwa ν . Herrnritt, Staatsform, S. 43, der 1901 feststellte: „Der in den modernen Verfassungen zum Durchbruche gelangte Gedanke, dass die Verfassung ein Staatsgesetz, also eine Willensäußerung des Staates selbst ist, bedeutet die Überwindung der individualistischen Staatsauffassung der naturrechtlichen Staatslehre durch die kollektivistische, welcher der Staat als persönliche Verbandseinheit, als Rechtssubjekt erscheint". 642
Vgl. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 13. Vgl. Stier-Somlo, Art. Verfassung, in: HWdRW VI, S. 391: „Der Kernpunkt (der Verfassung) aber ist die Absicht, eine grundsätzlich dauernde rechtliche Ordnung zu schaffen." 644 Vgl. Forsthoff, FS C. Schmitt (1959), S. 36; C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 73, hebt die „Statik und Permanenz" als notwendiges Attribut der rechtsstaatlichen Verfassung hervor. 643
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
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Daraus folgt ein weiteres: Die in der strikten Gesetzesform der Verfassung auftretende „Tendenz zum Normativen" 6 4 5 bedeutet einen Gewinn an Berechenbarkeit und Klarheit bei der Feststellung der Rechtslage im konkreten Streitfall. Kraft ihres Gegenstandes Gesetz konnte die Staatsrechtslehre in ihrer Arbeitsweise Anschluß an die gesicherte juristische Methodik des Zivilrechts gewinnen; Beliebigkeit der Ergebnisse ihrer Systematisierungs- und Interpretationsbemühungen war durch die Bindung an den autoritativen Text und die in dieser Bindung liegende verbindliche Grundlage der Dogmatik ausgeschlossen. Das hatte die Objektivierung und Berechenbarkeit des Politischen einerseits, eine fortschreitende Rationalisierung der staatlichen Machtausübung andererseits zur Folge 6 4 6 . So wie sich die Norm vom Herrscherwillen verselbständigte, tat dies die Staatsrechtslehre von der Politik. Am wichtigsten aber erscheint ein letzter Gesichtspunkt. Das formale Verfassungsverständnis ist Ausdruck eines Vertrauens in das Gesetz, das es erlaubte — ohne mit Gleichgültigkeit in Fragen der Gerechtigkeit und sachlichen Richtigkeit gleichgesetzt werden zu können — bereits in der Legalität den Legitimitätsgrund politischer Herrschaft zu erblicken. Solches Gesetzesvertrauen war auch die Grundlage, der rechtswissenschaftlichen Arbeitsweise Eigenständigkeit zu geben. Ist die Verfassung nicht mehr und nicht weniger als ein Gesetz, dann ist die Rechtswissenschaft die zur Behandlung aller Verfassungsfragen berufene Disziplin. Strikte Legalität der Verfassung bietet eine „Sicherung dagegen an, daß private Meinungen und Ideologien ... in das Rechtswesen Eingang finden und eine ihnen nicht zukommende Verbindlichkeit ... gewinnen" 647 . b) Die Bestimmung des Status der Verfassungstheorie
An der fehlenden Heraushebung eines besonderen juristischen im Sinne von spezifisch verfassungsjuristischen und materialen Gehaltes der Verfassung im Vergleich zur übrigen Rechtsordnung setzt die Kritik Smends an. Schon 1919 verlangt er eine eigenständig begründete 648 Verfassungstheorie. Smend bestimmt deren Aufgaben dahin — im Hinblick auf die spätere Ausarbeitung des Integrationsgedankens noch unscharf—, die Verfassung als rechtliche Regelung des Spiels der politischen Kräfte zu verstehen, um auf dieser Grundlage die „funktionelle Bedeutung" der einzelnen positivrechtlichen Verfassungsinstitute feststellen zu können 6 4 9 . Verfassungstheorie hat es demnach nicht unmittelbar 645
Kaegi, S. 28. Hierzu Kaegi, S. 27 ff., 127. Vgl. auch Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 1. 647 Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 36; siehe auch Tsatsos, S. 17 f. 648 Vgl. Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, S. 67, wo eine soziologisch begründete Verfassungstheorie verlangt wird. 649 Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, S. 67. 646
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
mit der Einzelexegese von Verfassungsartikeln zu tun, sondern mit der Klärung der dabei zutagetretenden Grundanschauungen. Die geforderte neue Disziplin mit ihrer bewußten Konzentration auf Begriff und Wesen der Verfassung ist von der Lehre des positiven Staatsrechts zu trennen. Dennoch bezieht sie sich auf das positive Recht. Die Klärung dessen, was die Verfassung ist, erscheint als eine notwendige Voraussetzung, um Fragen des geltenden Rechts beantworten zu können. Bedeutsam und wegweisend für die späteren Arbeiten Smends ist der bereits an dieser Stelle unternommene Versuch, die Verfassung nicht als ruhenden Bestand von Rechtssätzen zu verstehen, die allein unter dem formellen Gesichtspunkt der Kodifikation zu einer Einheit zusammengeordnet sind oder sein können, sondern den Begriff der Verfassung ganz von ihrer Funktion und Aufgabe her zu gewinnen. Die funktionelle Betrachtung läßt die Verfassung unter einem neuen Gesichtspunkt zum System werden 650 , nicht zu einem logisch-axiomatischen, sondern zu einem System, dessen durchgängiges Kriterium die besondere Gegenstandsbezogenheit der Verfassung auf das Spiel der politischen Kräfte ist 6 5 1 . U m einiges präziser und zum erstenmal in Beziehung zum Begriff der Integration entwickelt Smend dann seine Vorstellung in seinem Vortrag über das Grundrecht der freien Meinungsäußerung, der während der Staatsrechtslehrertagung des Jahres 1927 gehalten wurde. Zunächst wird die Gegenstandsbezogenheit der Verfassung weiter gefaßt, wobei auffallt, daß Smend den früheren pauschalen Verweis auf den Bereich des Politischen vermeidet. Die Verfassung regele den Lebensvorgang des Staates im ganzen, das heiße die dauernde Erneuerung und Weiterbildung des staatlichen Willens ver bandes. Darin liege die integrierende, das Staatsganze konstituierende Funktion der Verfassung 652 . Schon an dieser Stelle wird deutlich, daß Smend mit seiner Frage nach der Verfassung nicht auf Besonderheiten ihrer formalen Struktur zielt. Smends Verfassungsbegriff ist vielmehr ganz vom Telos des Staatsrechts geprägt. Nach Smends Auffassung besteht dieses Telos darin, den Staat als Integration, als Zustand politischer Einheit zu erhalten und zu unterstützen. Verfassungsrecht hat es direkt mit dem Bestand und der Form der politischen Einheit zu tun. Dieser Gedanke von der besonderen sachlichen Funktion wird dann von einem weiteren Ansatz zur Klärung dessen, was eine Verfassung bedeutet, überlagert. Smend stellt fest, daß die Verfassung keineswegs den Staat als eine feste Gegebenheit voraussetzen könne, ihn deshalb nur noch mit rechtsgeschäftlichen Willensorganen ausstatten und ihm grundrechtliche Schranken ziehen 650
Vgl. die erstmalige Verwendung des Wortes „System" in diesem Zusammenhang bei Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung, S. 62. 651 Vgl. auch Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, S. 82: Das „Staatsrecht hat das Politische zum Gegenstande, es ist politisches Recht im Gegensatz zum Verwaltungsrecht, das technisches Recht ist". 652
Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 94.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
209
müsse?53. Diese der spätkonstitutionellen Lehre zugrundeliegende Ansicht stuft Smend als Unterschätzung der Verfassung ein 6 5 4 . Unterschätzen aber läßt sich nur etwas, das in Wirklichkeit eine weit größere Bedeutung hat. Smend geht es also um eine Hervorhebung, eine Aufwertung der Verfassung. Die Betonung des Besonderen findet jetzt jedoch nicht mehr nur in der Gegenstandsgerichtetheit der Verfassung ihre Rechtfertigung, darin, daß die Verfassung mit dem staatlichen Prozeß etwas „spezifisch anderes" 655 betrifft als die übrigen Rechtsgebiete und für den Bereich des Staates deshalb eine besondere Funktion hat. Smend erkennt, daß die Einsicht in die Besonderheit des Regelungsobjektes der Verfassung nicht genügen kann, um das Fundament eines neuen Verfassungsverständnisses abzugeben. Auch Laband hätte wohl nicht bestritten, daß der Regelungsgegenstand der Verfassung ein von den übrigen Gesetzen verschiedener ist. Dennoch hat Laband sich nicht gezwungen gesehen, die Verfassung aus den übrigen Rechtsgebieten herauszuheben. Seine Lehre von der Verfassung als Gesetz verweist sie vielmehr in eine Reihe mit der übrigen Rechtsordnung. Smend koppelt demgegenüber die Verfassung nunmehr auch in ihrer formalen Struktur von den übrigen, als „technisch" eingestuften Rechtsgebieten ab. Jedes übrige Rechtsgebiet verfolgt mit dem Mittel der Schrankenziehung Sonderzwecke, allein die Verfassung errichtet keine Schranken, sondern gibt dem staatlichen Leben überhaupt erst Formen, einen äußeren, nicht starr und rechtssatzmäßig gezogenen Rahmen. Die Verfassung ordnet die einzelnen Integrationsfaktoren innerhalb des Staates einander zu, so daß die rechtssatzmäßige Deutung der Verfassung ihren Charakter von vornherein verfehlen muß. Im Lichte dieses Ansatzes läßt sich der Inhalt der Weimarer Reichsverfassung so umschreiben: „ I m Spiel der im ersten Hauptteil geordneten Funktionen und in der Realisierung der im zweiten Hauptteil normierten Sachgehalte soll das deutsche Volk seine Einheit haben" 6 5 6 . Smend kommt so zu einer Neubestimmung der Bedeutung der Grundrechte innerhalb der Weimarer Verfassung: diese sind nicht lediglich verfassungskräftige Novellen zu vorhandenen privatrechtlichen, verwaltungsrechtlichen oder strafrechtlichen Gesetzen657 und deshalb nicht reine Abwehrrechte. Grundrechte sind „nicht Schranken, sondern Verstärkungen des Staates" 658 . Diese zunächst verblüffende Deutung 6 5 9 läßt 653
Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 91. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 91. 655 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 91. 656 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 91. 657 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 90f. 658 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 93. 659 Ladeur, in: Ordnungsmacht?, S. 117, hält Smends Ansatz für „wenig problemangemessen", vernachlässigt dabei jedoch den sachlichen Zusammenhang der Überlegungen. Smends Vortrag nimmt unausgesprochen zu dem Meinungsstreit der zwanziger Jahre Stellung, ob es sich bei einigen Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung (insbesondere Art. 109 III, 113, 119, 120, 121, 122, 142 S. 2, 146) nur um Programmsätze statt 654
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Korioth
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
sich nur aus der neuen Sicht der Verfassung erklären. Verfassungsrecht ist für Smend, so läßt sich überspitzt sagen, nicht so sehr Recht, sondern in erster Linie Rahmenordnung für die beteiligten Integrationsfaktoren. Nur so können auch die Grundrechte Orientierungspunkt der Integration sein, gerade diejenigen sogar, denen als Programmsatz die dem Rechtssatz eigene unmittelbare Vollziehbarkeit fehlt. Charakteristisch ist ferner in der Smendschen Umschreibung des Inhaltes der Weimarer Reichsverfassung die Verwendung des Wortes Spiel für die Tätigkeit der Staatsorgane. Es impliziert harmonisches Zusammenwirken, nicht aber starre Trennung nach verfassungsmäßig zugeordneten Rechten. Inwieweit die Verfassung Willens- und Einflußsphären rechtlich festlegt, erweist sich auch im Organisationsrecht für ihre zentrale Aufgabe der Zusammenordnung der Integrationsfaktoren als zweitrangig. c) Der Verfassungsbegriff der Integrationslehre
Die Äußerungen der frühen zwanziger Jahre — die immer im Zusammenhang mit der Exegese einzelner Verfassungsbestimmungen stehen — sind insofern der Auftakt für die umfassende Heraushebung der Verfassungstheorie in Smends Hauptwerk, als sie bereits die Aufgaben der Verfassungstheorie umreißen. Nur in groben Umrissen läßt sich ihnen jedoch die sachliche Bestimmung dessen entnehmen, was für Smend die Verfassung nun tatsächlich ist. Diese Bestimmung findet sich erst in „Verfassung und Verfassungsrecht". M i t den einschlägigen Teilen dieses Buches wurde, das hat auch einer der schärfsten Kritiker der Smendschen Lehren, Ernst Forsthoff, angemerkt 660 , eine neue Richtung in der deutschen Staatsrechtswissenschaft deutlich sichtbar. Im folgenden soll versucht werden, die im einzelnen sehr verschachtelten Äußerungen Smends 661 nach den zwei Gesichtspunkten zu ordnen und zu untersuchen, von denen aus die positivrechtliche Folgerung zu erklären ist, daß die Bundestreue weitergelte. Es geht um die Verbindung zwischen dem von Smend als Integrationsprozeß beschriebenen Staat und seiner Verfassung (dazu nachfolgend aa) und um die teilweise Herauslösung der Verfassung aus dem Gesamtzusammenhang des Rechts (bb). subjektiv-öffentlicher Rechte handelte (vgl. hierzu Anschütz, Kommentar, S. 514 ff.), oder ob es jenseits dieser Alternative von Sätzen, die ein subjektives öffentliches Recht verleihen, und Rechtssätzen im objektiven Sinne noch einen anderen juristischen Gehalt dieser Verfassungsbestimmungen geben könnte. Diesen anderen Gehalt findet Smend in der Funktion der Grundrechte, zur sachlichen Integration der staatlichen Gemeinschaft beizutragen. Noch deutlicher Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 256: „Ganz abgesehen von aller positiven Rechtsgeltung proklamieren die Grundrechte ein bestimmtes Kultur-, ein Wertsystem, das der Sinn des von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens sein soll." Ganz ähnlich C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 161. 660 Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 31, 14; vgl. ferner Bartlsperger, S. 126; M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 12, 18. 661 Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 199: Smends Verfassungsbegriff sei „in einem Labyrinth übervorsichtiger Formulierungen" eingeschlossen.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
aa) Die Verfassung
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als Ordnung des Integrationsprozesses
„Die Verfassung ist die Rechtsordnung des Staates, genauer des Lebens, in dem der Staat seine Lebenswirklichkeit hat, nämlich seines Integrationsprozesses. Der Sinn dieses Prozesses ist die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates, und die Verfassung ist die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses" 662. Diese Formulierung Smends enthält in knapper Zusammenfassung 663 die wesentlichen Elemente seines Verfassungsbegriffs. Sie zeigt zunächst den funktionellen Zusammenhang von Staat und Verfassung auf. Die Summe der dynamischen Integrationsvorgänge, die den Staat ausmachen, prägen die Verfassung, denn diese ist auf den Staat bezogen, indem sie seine Rechtsordnung ist. Umgekehrt prägt die Verfassung, weil sie Ordnung ist, den Staat. Nach Smend kann die Verfassung nicht ohne Wechselwirkung mit der staatlichen Wirklichkeit gedacht werden 664 ; Verfassungstheorie hat es mit dem Verhältnis von Verfassung und Verfassungswirklichkeit zu tun. Ohne Bezugnahme auf die vorgefundene Lebenswirklichkeit sind Verfassungsnormen in ihrem Sinngehalt nicht zu verstehen 665 . Diese Wechselwirkung von Staat und Verfassung ist jedoch keine vollständige in dem Sinne, daß die Verfassung mit ihren abstrakten Normierungen vieler Anwendungsfälle für jedes Element des Integrationsprozesses die Verhaltensanweisung enthielte, die es nur noch im Einzelfall zu beachten gälte. Die Verfassung ist vielmehr nur die Normierung „einzelner Seiten" des Integrationsprozesses. Nur auf einen Ausschnitt von Staat und Politik scheint sich demnach die Verfassung zu beziehen. Das bedarf jedoch der Präzisierung. Die Formulierung „einzelne Seiten" meint nicht, daß die Verfassung sachlich auf ganz bestimmte Teilbereiche staatlichen Lebens zu beschränken wäre. Smend will vielmehr eine gleichsam überschießende Tendenz aller tatsächlichen staatlichen Vorgänge gegenüber der Verfassung zum Ausdruck bringen. Hier zeigt sich ein skeptisches Element seiner Verfassungslehre: die Verfassung gilt als unvermögend, sämtliche Lebensfunktionen des Staates vollständig zu erfassen. Die staatliche „Lebensfülle kann von wenigen, noch dazu meist recht schematischen, auf immer neuen Rezeptionen aus dritter oder vierter Hand beruhenden Verfassungsartikeln nicht voll erfaßt und normiert, sondern nur angedeutet" werden 666 . Der Integrationserfolg ist etwas, zu dem die 662
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189. Störend wirkt die Tautologie vom Leben, in dem der Staat seine Lebenswirklichkeit habe, vgl. Kelsen, Der Staat als Integration, S. 88. 664 Smend,Verfassung und Verfassungsrecht, S. 188, spricht in diesem Zusammenhang vom „Oszillieren" des Gedankens. Vgl. auch dens., Art. Integrationslehre, S. 478: „Die Norm hat ihren Geltungsgrund, ihre Geltungsqualität, ihren Geltungsinhalt vom Leben und dessen aufgegebenen Sinn her, wie umgekehrt das Leben nur aus der Beziehung zu seinem aufgegebenen und normierten Lebenssinn zu verstehen ist." 663
665
Leibholz, Rudolf Smend, S. 23, nennt das Verhältnis der durch die Integration erfaßten Lebensvorgänge zur Verfassungsnorm ein dialektisches. 1
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Verfassung nur i n beschränktem U m f a n g beitragen kann. D a aber befriedigende Integration oberstes Ziel der politischen Einheitsbildung ist, muß sich die Verfassung dem unterordnen. Das Schwergewicht der Verfassungstheorie verlagert sich v o n der N o r m zur W i r k l i c h k e i t . „ A l s positives Recht ist die Verfassung nicht nur N o r m , sondern auch W i r k l i c h k e i t ; als Verfassung ist sie integrierende W i r k l i c h k e i t " 6 6 7 . Wenn der politische Lebensstrom die Integrat i o n „vielfach i n nicht genau verfassungsmäßigen B a h n e n " 6 6 8 erreicht, bedeutet das nicht Verfassungswidrigkeit, sondern sinngemäße Erfüllung der Verfassung. Das aber hat zur Folge, daß die Verfassung ihre Eigenschaft als starre Rechtsordnung verlieren muß. Sie w i r d stattdessen f u n k t i o n a l ganz a u f den Staat u n d seine Integrationsaufgabe bezogen.Das wesentliche M e r k m a l der Verfassung ist schon ihre I n t e n t i o n u n d Aufgabe, zur Integration beizutrag e n 6 6 9 . I n der Zusammenordnung „lebendiger Menschen zu einem politischen G e m e i n w e s e n " 6 7 0 liegt ihr Sinn. Verständnis der Verfassung setzt deshalb Verständnis des v o n ihr geregelten Lebens v o r a u s 6 7 1 . Die Struktur der Verfassung verliert dadurch aber an Festigkeit, die D y n a m i k der Integration überträgt sich a u f sie: die Verfassung gewinnt „ E l a s t i z i t ä t " 6 7 2 , ihr System ergänzt u n d wandelt sich m i t den jeweiligen Integrationsaufgaben. Weil der Staat dynamische Integration ist, bildet die Verfassung nicht die Regel 666
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189f.; ders., Art. Staat, S. 523 f. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 192; Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 201 ff., unterscheidet im Anschluß daran einen soziologischen und einen juristischen Verfassungsbegriff bei Smend. Soziologisch betrachtet handele es sich bei der Verfassung um den „institutionalisierten Integrationsvorgang" (a.a.O., S. 203), rechtlich sei die Verfassung für Smend die „Organisation extensiver Seiten des Integrationsvorganges" (a.a.O., S. 204). Abgesehen davon, daß diese Zweiteilung keine sachlichen Differenzen der beiden Verfassungsbegriffe erkennen läßt (vgl. zur Kritik auch Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 302 Fn. 17), unterläuft sie den Versuch Smends, einen einheitlichen juristischen Verfassungsbegriff zu finden und diesen am Schnittpunkt von Staat, Integration und Recht anzusiedeln. 667
668
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 190. Das erklärt, warum auch die Soziologie, soweit sie sich mit dem Gesamtbereich des Staates beschäftigt, Interesse an der Theorie Smends bekundet hat. Schelsky, Jahrbuch für Sozialwissenschaften 3 (1952), S. 11, deutet die Verfassung im Anschluß an Smend als Faktor der Stabilisierung des Staates, indem sie politisches Verhalten institutionalisiert: „Sieht man, wie Smend es tut, die Wirklichkeit des Staates in den von ihm ausgehenden und beeinflußten Akten und Vollzügen handelnder Menschen, so ist in der Tat der dauernde Führungs- und Steuerungsvorgang, die stete Vereinheitlichung der Verhaltensweisen durch institutionalisierte Einwirkung, die zugleich ein Handeln auf den Bestand der Institutionen hin erzeugt, eine wesentliche Funktion des Staates und jeder politischen Organisation". Schelsky folgend Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 202. 669
67 0
Smend, Bürger und Bourgeois, S. 320 Fn. 15; ders., Art. Integration, EvStL, 2. Auflage, Sp. 1025. 67 1 M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 205; Fiedler, S. 37. Unzutreffend ist daher die Ansicht von V. Hartmann, in: JöR 29 n.F. (1980), S. 55, daß der Verfassung in der Smendschen Begriffsbildung ein eigentlicher Sinn fehle. 67 2 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 191.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
213
für einen festen, dauernden Bestand, sondern die „ F o r m " 6 7 3 , in der sich die dauernde Integration vollzieht. Die Verfassung ist somit auch der Teil des Rechts, der sich am schnellsten erneuert 674 . Die Problematik dieses Ansatzes liegt darin, daß mit dem Schwerpunkt auf der Verfassungswirklichkeit das Verhältnis zwischen dieser Wirklichkeit und der Norm einseitig zugunsten der „LebensWirklichkeit der soziologischen Kräfte" 6 7 5 aufgelöst wird. Spannungsverhältnisse zwischen Norm und Wirklichkeit werden von Smend unterschätzt 676 , weil sich die Verfassung kraft ihrer Integrationsaufgabe der gleichgerichteten politischen Aufgabe anpassen muß. Immer wieder wird die „Elastizität, Wandlungs- und Ergänzungsfahigkeit" der Verfassung, ihre „Veränderlichkeit" 677 hervorgehoben — die Beständigkeit der Norm geht durch den dauernden Wandel der politischen Verhältnisse verloren 6 7 8 . Diese Ineinssetzung von Norm und Faktum hat jedoch noch eine besondere Pointe. Das zeigt sich, wenn der besondere Charakter der von Smend gegebenen Deutung der staatlichen Wirklichkeit berücksichtigt wird. Da diese Wirklichkeit im wesentlichen harmonische Vereinheitlichung durch Integrationsvorgänge ist, wird mit der Anbindung der Verfassung an die staatliche Wirklichkeit die Integration normativ gewendet. Integration ist ein Verfassungsgebot, „Gegenstand oberster Verfassungspflichten" 679, wie Smend es nach 1945 formuliert hat. Das Integrationsgebot ist ein Bestandteil, der als gleichsam ungeschriebenes Element in jede Bestimmung der Verfassung hineingelesen werden muß 6 8 0 . Nicht solches Handeln, das gegen den Wortlaut der Verfassung verstößt, ist verfassungswidrig, sondern desintegrierendes Handeln, das auch in Untätigkeit bestehen kann. „Sich am Verfassungsleben nicht tragend zu beteiligen und es dadurch zu untergraben, ist die schwerste Verletzung der konstitutionellen Spielregeln" 681 . Von hier aus gewinnt das Organisationsrecht der Verfassung eine ganz neue Bedeutung. Während die positivistische Auffassung die Verfassung darauf beschränkt, den Staat durch die Einrichtung von Organen handlungsfähig zu machen, das gegenseitige Verhältnis und die Zuständigkeit dieser Organe 673 67 4 67 5 676
So bereits Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 91. Smend, Art. Staat, S. 523. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 188. Vgl. aber den späteren Ansatz zur Selbstkritik bei Smend, Art. Integrationslehre, S.
480. 67 7
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 191; vgl. Fiedler, S. 34ff. Vorländer, S. 290 m. Fn. 42. 67 9 Smend, Art. Integration, S. 485; ders., Art. Integrationslehre, S. 479; vgl. Badura, Der Staat 16 (1977), S. 308. 680 Vgl. Bartlsperger, S. 21 f.; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 302f.; Wendenburg, S. 160. 681 Smend, Art. Integration, S. 485. 67 8
214
2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
festzulegen, orientiert Smend die Organisationsfunktion der Verfassung, die auch er als wesentlich anerkennt 682 , an der Integrationsaufgabe. Das Recht der verfassungsmäßigen Organe hat einen anderen Sinn als den, lediglich die Vollmachtträger für die Akte der Gesetzgebung und Vollziehung hervorzubringen 6 8 3 . Organisation ist vielmehr funktionelle Integration, hinsichtlich derer die Verfassung die vorhandenen staatlich-politischen Kräfte zusammenfassen und vereinheitlichen soll. Auch hier soll die Verfassung zur Schaffung derjenigen Voraussetzungen beitragen, die für die ständige politische Einheitsbildung erforderlich sind. Gelegentlich kann sich sogar überhaupt erst aus der Integrationsabsicht die Rechtfertigung für das verfassungsrechtliche Vorhandensein eines Organs ergeben 684 . Die einmal geschaffenen Organe sind verpflichtet zum harmonischen Zusammenwirken und möglichst spannungsfreien Funktionieren 6 8 5 . Der Integrationswert bildet das normative Prinzip der Verfassung, weil sie den Bereich des Politischen regelt 686 . Organisationsrecht ist somit nicht das formelle Recht der Organe, das ihre sachliche Tätigkeit jenseits der Umschreibung von Kompetenzen unberücksichtigt läßt, sondern das Organisationsrecht enthält immanente Verhaltensanforderungen und wird dadurch zum materiellen Recht 6 8 7 . Es verlangt „pflichtmäßige, integrierende Verständigung" 688 der Beteiligten. Dementsprechend ist der Begriff der materiellen Verfassung bei Smend nicht wie bei Jellinek durch die Entgegensetzung zum formellen Verfassungsbegriff als der Kodifikation von Normen in der Verfassungsurkunde bestimmt, sondern ganz allein auf die sachliche Aufgabe der Verfassung bezogen. Das gilt auch, soweit es Organisationsrecht im herkömmlichen Sinne betrifft. Aus der Eigenart der Verfassung als Integrationssystem folgt die Integrationsfunktion aller einzelnen Institute 6 8 9 , die also Faktoren zur Durchsetzung politischer Integration sind 6 9 0 . Die Verfassung im materiellen Sinne bedeutet für Smend das „System derjenigen Normen ..., die wesentlicher 682 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 198 ff.; ders., Art. Integrationslehre, S. 480; ders., Art. Staat, S. 522f.; Hierzu Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 302. 683 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 242. 684 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 245, nennt als Beispiel den 1919 eingesetzten Untersuchungsausschuß zur Kriegsschuldfrage, dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit umstritten war. Smend bejaht die Verfassungsmäßigkeit des Ausschusses unter Hinweis auf seine Integrationsfunktion und Integrationswirkung. 685 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 243, 251; hierzu Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 303. 686 Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 204. 687 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 198, 243, wo die Zweiteilung der Verfassung in formelles Organisationsrecht und einen materiellen Grundrechtsteil zurückgewiesen wird. 688 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 247. 689 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 252, 272. 690 Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 205; Bartlsperger, S. 126.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
215
Bestandteil des positivrechtlichen Lösungsversuchs der einem Staatsvolk gestellten Aufgabe seiner Integrationsordnung sind" 6 9 1 . Es ist nicht zu übersehen, daß mit dieser Begriffsbestimmung jedoch die Verfassung in die Abhängigkeit subjektiver Bewertung durch den Interpreten gerät. Wesentlicher Bestandteil des Verfassungsrechts kann nach ihr nur sein, was tatsächlich zur Erfüllung der Integrationsaufgabe beiträgt. Die notwendige Feststellung dieser Integrationstendenz bestimmt die Verfassung — zumindest insoweit, als für die Integration wertvolle und wertlose Sachgehalte unterschieden werden können. Diese Unterscheidungsmöglichkeit aber läßt die Verbindlichkeit der geschriebenen Verfassung hinter sich. Der argumentative Bezugspunkt der Integration ersetzt die positivistische Normativität mit ihren Elementen der Dauerhaftigkeit und Festigkeit durch Offenheit und Beweglichkeit 692 , durch die „fließende Geltungsfortbildung" 693 der Verfassung. Es ergibt sich nach Smend eine Rangverschiedenheit unter den Verfassungsnormen, bestimmt durch ihren jeweiligen Wert für das Sinnsystem des staatlichen Integrationszusammenhangs 694. Zugleich können die Normen, die sich kraft ihrer Fähigkeit zur Integration als Bestandteil der Verfassung ausweisen, weder vom Staat gewährleistet werden noch gegen den Staat geschützt sein. Ändern sich nämlich die Schwerpunkte des Integrationssystems, dann ändert sich die Verfassung mit ihnen. Im Ergebnis wird die Verfassung von einer heteronomen, Kontinuität gewährleistenden Rechtsordnung zu einer Instanz innerhalb des Integrationsprozesses mit der diesem immanenten Aufgabe, staatliche Einheit herzustellen. Die Verfassung ist Ordnung und zugleich Teil des Integrationsprozesses. bb ) Die Loslösung der Verfassung
aus dem Gesamt Zusammenhang des Rechts
Neben das durch die Aufgabe der Integrationswirkung bestimmte Element des Verfassungsbegriffs tritt bei Smend ein weiteres, das im Ergebnis auf eine Abkoppelung der Verfassung von der übrigen Rechtsordnung hinführt, wenngleich die Ablösung nicht in allen Konsequenzen vollzogen wird. Das Recht konstituiert bei Smend eine von der politischen, an der Integration orientierten Volksgemeinschaft zumindest theoretisch zu trennende besondere Rechtsgemeinschaft. Staat und Recht sind je in sich geschlossene Provinzen des 691
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 239. In der Offenlegung des Sachgesichtspunktes der Integration erblickt M. Friedrich, AöR 106 (1977), S. 206f., eine ausreichende Kenntlichmachung des „Vorverständnisses" verfassungsrechtlicher Arbeit. Kritisch zur „Emanzipation vom Normativen" Kaegi, S. 53, der dies als eine Kapitulation vor dem jeweiligen politischen Willen einschätzt. 693 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 242. Diese vielzitierte Formel ist sprachlich verunglückt. Smend meint nicht die Fortbildung der Geltung, sondern des Norminhalts, vgl. Quaritsch, Der Staat 1 (1962), S. 302 m. Fn. 111. 694 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 241. Zur Kritik Koch, S. 102. 692
216
2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
geistigen Lebens. Das Rechtsleben entwickelt eine Eigengesetzlichkeit695, auch wenn es sich mit dem Integrationsleben des Staates überschneiden kann. Die einer bestimmten Rechtsordnung Unterworfenen bilden einen gesonderten „geschlossenen Kreis". Nur in den vom Staat selbst übernommenen und geordneten Tätigkeiten der Justiz und Gesetzgebung berührt sich dieser Kreis institutionell mit dem geschlossenen Kreis des Staates. Trotz dieser Überschneidung bleiben Rechtsetzung und Rechtsprechung innerhalb des Staates „Fremdkörper" 6 9 6 . Recht ist etwas anderes als Integration. Dem liegt, auch wenn Smend in seiner knappen, oft apodiktisch gehaltenen Darstellung des Problems dazu nicht weiter Stellung nimmt, der Gedanke zugrunde, daß staatlich gesetztes Recht bereits durch den Prozeß der politischen Willensbildung hindurchgegangen ist. In diesem Stadium war es Teil des Integrationssystems. Nachdem aber das Ergebnis der gesetzgeberischen Entscheidung feststeht, ist es dem Prozeß politischer Einheitsbildung entzogen. Die Justiz hat das Gesetz aus sich heraus auszulegen und anzuwenden. Das Verständnis der Rechtsprechung ist dabei in Smends Lehre durchaus konventionell. Rechtsprechung ist durch die Rechtsnorm determinierte Entscheidungstätigkeit, Erkenntnisakt im Gegensatz zum staatlich-politischen Tätigwerden, das Gestaltung des Integrationsprozesses ist. Auch das zeigt die tiefe Kluft, die für Smend zwischen der Verfassung und der übrigen Rechtsordnung besteht. Sein Verständnis der Rechtsprechung beruht auf dem Subsumtionsideal, daß der Richter die durch das Gesetz bereits getroffene Entscheidung im Einzelfall nur zur Anwendung bringt. Das Verfassungsrecht als Integrationsordnung ist nach Smends Vorstellung dieser juristischen Handhabung entzogen. Da das Recht gegenüber dem Staat eigenständig bleibt, ist der moderne Staat zwar Gesetzgeber, deshalb aber nicht die einzige und letzte Entstehungsquelle des Rechts. Das Recht umgekehrt könnte es auch in nichtstaaatlich verfaßten Ordnungen geben 697 . Die Wirklichkeit des Staates besteht „einerseits in seinem Leben als Integration und ordnende und gestaltende Machtentfaltung, die Wirklichkeit des Rechts anderseits in seiner Positivierung, Sicherung, Anwendung durch Gesetzgebung, Gericht und Leben" 6 9 8 . Die Eigengesetzlichkeit des Rechtslebens zeigt sich vor allem in der ausschließlichen Ausrichtung des Rechts am Gerechtigkeitswert 699 . Diesen zu verwirklichen, ist die Aufgabe des Rechtssystems; der Struktur nach akzeptiert 695
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 207, 214; ders., Das Bundesverfassungsgericht, S. 583; vgl. Badura, Der Staat 16 (1977), S. 312f., 316ff., 322. 696 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 207; ders., Das Bundesverfassungsgericht, S. 582 f. 697 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 583. 698 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 207. 699 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 209ff.; ders., Das Bundesverfassungsgericht, S. 592: Das Recht ist die „materiale Macht des Rechten und Guten". Hierzu Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 300 f.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
217
Smend für die Rechtsordnung abgesehen von der Verfassung den schrankenziehenden Charakter der Rechtssätze. Indem der Verfassung die Verbindung mit der staatlichen Integrationsordnung zugewiesen wird, fällt sie aus dem übrigen Rechtsleben heraus. Material muß sich die Verfassung kraft des Zusammenhangs mit den ihr eigenen sachlichen Lebensgebieten des Staates von der Ordnung der Rechtsgemeinschaft abheben 700 . „Das Kriterium, das die Verfassung von der übrigen Rechtsordnung unterscheidet, ist immer wieder der ,politische4 Charakter ihres Gegenstandes."701 Das hat gewichtige Auswirkungen: rechtstheoretisch ist die Verfassung kein wesentliches Element jeder Rechtsordnung; es ist deshalb ausgeschlossen, sie als Bedingung der Geltung der Rechtsordnung zu setzen 702 . Eine weitere rechtstheoretische Konsequenz ist die Zurückstellung der personellen Bezogenheit jeder Verfassungsnorm zugunsten des in ihr enthaltenen Integrationswertes, der subjektsindifferent ist 7 0 3 . So wirft Smend dem herrschenden Rechtsbegriff „individualistische Einseitigkeit" vor, soweit er den Rechtsgehalt von Rechtssätzen nur in der unmittelbaren Abgrenzung von Willenssphären erblicken möchte 704 . Dennoch zerschneidet Smend nicht alle Verbindungslinien von Verfassung und Recht, denn nach der bereits zitierten Begriffsbestimmung ist die Verfassung die „Rechtsordnung des Staates" 705 , und an anderer Stelle heißt es, Staat und Recht seien zwar je in sich geschlossen, aber dennoch untrennbar verbunden 706 . Während die übrigen Gesetze in dem von ihnen geregelten Lebensbereich Schranken ziehen, gewinnt die Verfassung eine doppelte Aufgabe. Sie ist für die staatliche Integrationsordnung sowohl Schranke als auch Anregung 707 , mit anderen Worten, sie ist Integrationswert und Rechtswert zugleich verpflichtet. Das Verhältnis beider in der Verfassung bleibt jedoch bei Smend weitgehend ungeklärt, weshalb die Beziehung von Staat, Verfassung und 700 701
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 192. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 238; Mols, Allgemeine Staatslehre, S.
203. 702 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 192. Hiergegen richtet sich der Protest Kelsens, Der Staat als Integration, S. 65 f. 703 Das zeigt sich am klarsten im Grundrechtsverständnis Smends. Grundrechtsauslegung habe nicht formalistisch nach den beteiligten Rechtssubjekten zu fragen, sondern nach dem „inhaltlichen Gut", das ein Grundrecht verwirklichen wolle, Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 266 Fn. 17. Vgl. auch den Hinweis bei Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, S. 53. 704
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 261. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189. 706 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 193 f., 255 f. Dabei läßt sich jedoch schwer vorstellen, wie die Kreise des Rechts und des Staates in sich geschlossen, also abgeschlossen, und doch untrennbar verbunden sein können. Im Ergebnis kann damit nur ein Nebeneinander von Staat und Recht intendiert sein. 707 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 195. 705
218
2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Recht insgesamt problematisch wird 7 0 8 . Allein eines läßt sich mit Sicherheit feststellen. Da die Integrationsaufgabe das zentrale Merkmal jeder Verfassung ist, kommt das Recht für sie nur insoweit in Betracht, als es selbst, seine Setzung und Beachtung, integrierend wirkt. Im politisch relevanten Fall muß sich das Recht der Integration unterordnen. Nur so läßt sich die Feststellung Smends verstehen, seine Verfassungstheorie sei auf staatstheoretischer — und das heißt integrationstheoretischer —, nicht dagegen auf rechtstheoretischer Grundlage entworfen 709 . Also steht auch die Funktion der Verfassung, Anregung des politischen Prozesses zu sein, im Vordergrund, nicht dagegen ihr schrankenziehender Charakter. Daneben muß der Begriff der Verfassung als Schranke auf den Integrationsprozeß bezogen bleiben; als Schranke ordnet die Verfassung Kompetenzen und Befugnisse innerhalb des Integrationsprozesses z u 7 1 0 . Jedoch bezeichnet Smend auch die Grenze der möglichen Vernachlässigung des Rechts für den Staat. Der Verstoß gegen elementare Gerechtigkeitswerte ist die Grenze, ihnen darf keine integrierende Tätigkeit zuwiderlaufen 711 . Umgekehrt jedoch kann das Verfassungsrecht die Integrationsvorgänge nicht garantieren. „Die soziologische und juristische Sonderart dieser Integrationsordnung beruht in ihrem paradoxen Charakter, einerseits schlechthin aufgegeben und andererseits ohne alle sonst geläufigen Rechtsgarantien zu sein" 7 1 2 . Dieser bewußte Verzicht auf das Recht als Element der Stabilisierung des Staates, das durch die Suche nach außerjuristischen Garantien innerhalb des Integrationsprozesses selbst ersetzt wird, ist ein nicht unproblematisches Ergebnis 713 . Mit der Verknüpfung von Staat und Verfassung einerseits, der apodiktischen Trennung der staatlichen Integrationsordnung vom Recht andererseits, unterschätzt Smend die Fähigkeit des Rechts für den Bereich des Staates. Gerade von dem Ansatz aus, innerhalb des Staates bestimmte Faktoren der Integration zu unterscheiden, hätte das Recht als ein solcher Faktor berücksichtigt werden können 7 1 4 . So bemerkt Dietrich Schindler, das Wesen des 708
Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 301; Kaegi, S. 144. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120, ferner S. 186: die Integrationslehre sehe „von der Legitimierung des Staats ... durch den Rechtswert" ab. 710 Vgl. Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 205. 711 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 210. 712 Smend, Art. Integrationslehre, S. 477. Diese Eigenart vernachlässigt Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 203, indem er die Verfassung bei Smend primär als Institution deutet, die dem politischen Prozeß „Zusammenhalt, Stabilität, Dauer im Wechsel der Vorgänge" verleihen könne. 713 Smend hat sich in diesem Punkt später selbst kritisiert (Art. Integrationslehre, S. 480f.). Zur Kritik ferner Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 6 f.; Kaegi, S. 144. 714 Andeutungen hierzu finden sich bei Smend, freilich in Widerspruch zu seinen Grundannahmen. So kann die Justiz, obwohl sie „Fremdkörper" im Staat ist (Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 207), „praktisch ... zugleich der staatlichen Integration dienen"; das Gesetz ferner erscheint als eine den Staat legitimierende Gewalt (a.a.O., S. 211). Kritisch zur Vernachlässigung des Normativen bei Smend insbesondere 709
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
219
Verfassungsrechts könne nicht nur darin liegen, „die Integration zu erzeugen oder selbst Erzeugnis der Integration zu sein, sondern auch darin, dort Form und Regel zu schaffen, wo eine Integration nicht mehr stattfindet" 715 . Daß Smend diese Möglichkeit nicht ernsthaft erwägt, ist nur damit zu erklären, daß seine Zuordnung der Verfassung zu dem materialen Bereich der Integration kraft der von ihm mit der Trennung von Staats- und Rechtsgemeinschaft vorgegebenen Unvereinbarkeit von Recht und Politik es verbietet, die Verfassung als heteronome Rechtsordnung zu begreifen. Dem liegt ein in die Abkehr vom Positivismus eingeschlossenes Mißtrauen Smends gegen eine legitimitätsverbürgende Legalität der Verfassung zugrunde: nur sinnstiftende politische Integration, nicht das Recht, kann die Gefahr einer staatlichen Desintegration abwenden — und diese Integration muß deshalb, nach Smends kurzer und bündiger Formulierung, vor Recht gehen 716 . Daß damit das Problem gelöst erscheint, rechtfertigt sich aus Smends Vertrauen in die Tatsächlichkeit des sich immer wieder von neuem herstellenden Lebensprozesses der Integration. Indem diesem Sinnsystem Totalität und Eigengesetzlichkeit zugeschrieben wird, bedarf es der rechtsnormativen Steuerung nicht mehr. Die Brüchigkeit dieses staatstheoretischen Konzepts konnte bereits gezeigt werden. Auch die davon abgeleitete Verfassungstheorie unterfällt der Kritik. Weil Beispiele der Desintegration die Annahme widerlegen, der Staat integriere sich „automatisch" in einem „ i n sich gravitierenden Integrationssystem" 717 , kann auch die Verfassung nicht darauf beschränkt werden, lediglich Anregung und Schranke „einzelner Seiten" 718 des Integrationsprozesses zu sein. Die Verfassung will die sich wandelnde Wirklichkeit nicht nur begleiten, sondern gestalten, den Staat „in seinem Sein und Werden grundlegend bestimmen" 719 . Aus diesem Grund darf sie nicht vom Rechtssystem getrennt werden 720 . d) Die Bundestreue als Anwendungsfall der verfassungsrechtlichen Integrationslehre
Die verfassungs- und verfassungsrechtstheoretischen Prämissen erklären, warum Smend das Prinzip der Bundestreue ohne tiefergehende zusätzliche Heller, Staatslehre, S. 220, Kaegi, S. 142ff.; Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 65 f. 715 Schindler, Verfassung und soziale Struktur, S. 122. 716 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 273. 717 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 171, 195. 718 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189. 719 Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 66. 720 In seinen vor der Entwicklung der Integrationslehre entstandenen Arbeiten hat Smend die normativen Momente der Verfassung stärker betont; so ist von der „Schutzmauer" der Verfassung die Rede (Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 111), ferner davon, daß die „Gesamthaltung des Staates" nicht nur tatsächlich bestimmt, „sondern durch die Verfassung zugleich normativ bestimmt sei" (Smend, Die politische Gewalt, S. 83).
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Begründung aus dem Zusammenhang des monarchischen Verfassungsrechts in den demokratischen Bundesstaat zu übertragen vermochte. Integration ist der Schlüsselbegriff, um das Staatsrecht insgesamt von einem System der formalrechtlichen Willensverhältnisse in ein Verständnis als sachliche Ordnung eines „nach Sinn und Wesen richtig verstandenen politischen Lebens" 721 zu verwandeln. Damit waren nach einer Äußerung Smends aus dem Jahre 1973 „alle Bestandteile der politischen Ordnung" nach dem „neuen Struktursystem" umzudenken 722 . Der Begriff der Bundestreue leistete die konkrete Ausprägung des Integrationsprinzips für den bundesstaatlichen Teilbereich des Staatsrechts. Die Integrationsfunktion der Verfassung gebietet das möglichst harmonische Zusammenwirken aller am politischen, das heißt staatlichen Prozeß Beteiligten — Bundestreue besagt, daß dieses Leitbild auch die wechselseitigen Beziehungen von Reich und Ländern und von den Ländern untereinander zu beherrschen hat. Die in der vormaligen Staatsrechtslehre als formalrechtliche Begrenzung von Willenssphären erfaßten rechtlichen Beziehungen der bundesstaatlichen Subjekte waren umzudenken in ihre am Integrationsziel orientierte Zusammenordnung. Dazu benötigte Smend die an der Rechtsquellenlehre orientierte juristische Einkleidung des ungeschriebenen Verfassungsrechts nicht mehr, anders als in der induktiv, aus den Einzelerscheinungen der Politik den Grundsatz ableitenden Arbeit des Jahres 1916. Seine juristische Grundlage und Rechtfertigung findet das Prinzip der Bundestreue jetzt unmittelbar in dem der Verfassung kraft ihrer Orientierung auf den staatlichen Integrationsprozeß innewohnenden Integrationsgebot. Weil die Verfassung Anregung und Schranke des politischen Prozesses ist, gilt dies auch für die Bundestreue bei dem Aufbau des bundesstaatlichen Prozesses. Aus der Herauslösung der Verfassung aus dem Gesamtzusammenhang des Rechts folgt für die Bundestreue dann ein weiteres. Smend muß ihre rechtssatzmäßige, auf die Abgrenzung der bundesstaatlichen Subjekte bezogene Bedeutung zugunsten ihrer Orientierung am Integrationswert in Frage stellen. Das geschieht auf etwas verstecktem Wege, nämlich im Rahmen der Erörterung, welche Bedeutung der Staatsgerichtsbarkeit im Verhältnis von Reich und Ländern zukommt. Nur konsequent ist es, wenn Smend zunächst aus der Orientierung der Verfassung an der staatlichen Wirklichkeit der Integration die Möglichkeiten der Staatsgerichtsbarkeit innerhalb dieses Prozesses gering einschätzt 723 . Denn auch Staatsgerichtsbarkeit ist Justiz, die Justiz aber ist als Fremdkörper im staatlichen Funktionensystem Instanz der verbindlichen Entscheidung eines Streitfalles nach Rechtsnormen, die in Smends Lehre einen grundsätzlich anderen geschlossenen Kreis konstituieren als die staatlichpolitischen Faktoren. Um dennoch der Staatsgerichtsbarkeit einen sinnvollen 721 722 723
So noch einmal zusammenfassend Smend, FS Arndt, S. 459. Smend, FS Scheuner, S. 586. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 247.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
221
Aufgabenbereich zuzuweisen, versucht Smend, sie aus dem Zusammenhang der übrigen Rechtsprechung herauszuheben 724. Ihr Tätigwerden darf nicht am Ziel einer verbindlichen Entscheidung eines Konflikts nach dem Maßstab von Rechtssätzen orientiert sein — analog etwa der zivilgerichtlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts —, sondern sie muß darauf abzielen, die Parteien zu integrierendem Zusammenwirken zu führen 725 . Das allein vermag den justiziellen Eingriff in den durch rechtliche Garantien nicht sicherbaren Integrationsprozeß zu rechtfertigen. Weil in ihm nichts erzwungen werden kann, stellt die Staatsgerichtsbarkeit aber auch nur „ein Mittel und Stadium der Verständigung ... als gutwillig vorauszusetzender Parteien" 726 dar. Angemessen kann die kraft der Funktion der Verfassung geforderte „pflichtmäßige, integrierende" Verständigung durch eine „subsidiäre Gerichtsentscheidung" 727 nicht ersetzt werden. Gerichtsschutz der Länder gegen das Reich oder umgekehrt ist also zwar eine Möglichkeit der Verständigung, doch die unmittelbar staatlich-politische Integration geht vor. Bei Differenzen zwischen den Beteiligten des bundesstaatlichen Integrationsprozesses ist der Ausgleich im Verhandlungswege das zuerst Geforderte 728 . Demgegenüber verkörpert das Urteil des Staatsgerichtshofes nur einen „Schiedsspruch", einen „Einigungsersatz" 729 . Verfassungsgerichtsbarkeit muß sich der materiellen Verständigungspflicht unterstellen — nur in dem dadurch gezogenen Rahmen kann sie zur Festigung des staatlichen Integrationsverbundes beitragen 730 . Grundlage der Entscheidung des Staatsgerichtshofes darf also nach Smends Verständnis nicht die Rechtsnorm sein, mit der im Einzelfall verbindlich festgestellt wird, welche Partei des Rechtsstreits welche Handlungen vornehmen darf oder durfte. Stattdessen müßte der Staatsgerichtshof das Verhalten der Parteien unter dem Gesichtspunkt der Integrationstendenz untersuchen. Da 724
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 240; vgl. Wendenburg, S. 164. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 272, dort lehnt Smend das Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit als Rechtskontrolle des „formalistischen Verbands- und Mitgliedsrechts nach Labandschem Muster" ab. 726 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 240. 727 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 247. 728 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 272. 729 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 240. 730 Eine vorsichtige Veränderung dieser Auffassung läßt Smends Vortrag aus dem Jahre 1962 erkennen, der anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts gehalten wurde. Nach wie vor gilt zwar die Verfassungsgerichtsbarkeit als nur schwer in den staatlichen Zusammenhang einfügbares Element der Gewaltenteilung, doch konzediert Smend ihr nunmehr die Fähigkeit, ein „Weg der Werbung und Inanspruchnahme", der „politischen Erziehung des Bürgers" zu sein (Smend, Das Bundesverfassungsgericht, S. 586). Deutet dies auf eine konsequente Einbindung des Gerichts in den staatlichen, d.h. nichtrechtlichen Bereich der Integration hin, so stellt Smend klar, daß die Streitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach rechtlichen Kriterien erfolgen muß. Damit wird die Feststellung, daß Integration vor Recht gehe, für den Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit ausdrücklich aufgegeben. 725
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
aber ein feststellendes Urteil bei Anrufung des Staatsgerichtshofes unumgänglich ist, kann diese Instanz nur mittelbar der materiellen Verständigungspflicht förderlich sein. Umfassend kann die Sicherung des staatlichen Integrationsprozesses nicht einem Gericht anvertraut werden. Gleichzeitig ist, wenngleich Smend diesen Punkt nicht anspricht, damit klargestellt, daß Integration auch nicht eine Aufgabe ist, die durch Verfassungsinterpretation gelöst werden kann: Als originär politische Aufgabe bleibt sie dem politischen Prozeß vorbehalten. Für die Bundestreue muß dies letztlich bedeuten, auch wenn Smend diese Folgerung nicht ausdrücklich zieht, daß sie nur begrenzt justiziabel ist. Was im Einzelfall dem Integrationsgebot entspricht, müssen die den politischen Prozeß tragenden Faktoren in eigener Verantwortung erkennen und durchsetzen — Integration geht auch in dieser Hinsicht vor Recht 7 3 1 . e) Die Bundestreue im Zusammenhang der bundesstaatsrechtlichen Dogmatik
M i t der soeben beschriebenen Herleitung der Bundestreue erfüllt Smend die selbstgestellte Forderung nach wissenschaftlicher Zusammenschau von Staatstheorie, Verfassungstheorie und Verfassungsrecht, die eingangs des zweiten Teils dieser Arbeit bereits erörtert wurde. Zu fragen bleibt jedoch, welche konkreten Folgerungen für die bundesstaatsrechtliche Dogmatik Smend der sehr allgemein formulierten Verständigungspflicht der Bundestreue entnehmen kann. Hier ist das Ergebnis recht dürftig. Smend gibt den Hinweis, „alle staatsrechtlichen Einzelheiten" seien „nicht an sich und isoliert zu verstehen ..., sondern nur als Momente des durch sie zu verwirklichenden Sinnzusammenhanges, der funktionellen Totalität der Integration" 7 3 2 . Was dies heißen soll, erläutert Smend an einigen Beispielen. So ist die Reichsaufsicht nicht die Inpflichtnahme eines Landes durch das Reich, sondern in der integrationstheoretischen Umdeutung des Verfassungsrechts „Moment der fließenden Zusammenordnung von Reich und Ländern, stets zusammenzusehen mit der gegenläufigen Bewegung des verfassungsmäßigen Einflusses der Länder auf das Reich" 7 3 3 . Die von führenden Repräsentanten des Reiches in den Jahren 1921 bis 1923 betriebene Verständigungspolitik gegenüber Bayern durch Kontaktaufnahme in Bahnen, die von der Verfassung nicht vorgesehen waren, bedeutete keine permanente Verfassungsverletzung, sondern folgerichtige Erfüllung des Prinzips der „bundesstaatlichen bona fides" 734. Ebenso verhält es sich mit Verständigungen zwischen Reich und Ländern, wenn sie sogar die Ausübung der Reichsgewalt betreffen 735 , denn Reich und Länder 731 732 733 734 735
Smend, Smend, Smend, Smend, Smend,
Verfassung Verfassung Verfassung Verfassung Verfassung
und und und und und
Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht,
S. 273. S. 239, ferner S. 234. S. 239. S. 272. S. 271.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
223
sind verpflichtet zur „Einigkeit, zu stetem Suchen und Herstellen guten bundesfreundlichen Verhältnisses" 736 . Diese eher kasuistischen Hinweise zu dem von Smend geforderten Verständnis des Bundesstaatsrechts deuten auf eine Schwäche der Integrationslehre, wenn nicht sogar auf die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit hin. Die Anwendungen im Einzelfall erschöpfen sich in der Variation der einen Erkenntnis, das Verfassungsrecht habe zur staatlichen Integration beizutragen. Zum positiven Aufbau einer staatsrechtlichen Dogmatik ist die Integrationslehre dagegen offensichtlich nicht in der Lage. Der komplizierte staats- und verfassungstheoretische Boden, der den Bruch mit den herkömmlichen juristischen Denkbahnen durchführen will, erweist sich bei den Fragestellungen der Staatsrechtslehre als wenig brauchbar 737 . Eine wirkliche fruchtbare Auseinandersetzung mit den aus der Periode des Spätkonstitutionalismus stammenden Begriffsbildungen bleibt, ebenso wie in der Staatstheorie Smends, aus. Die Ursache liegt in folgendem. Aufgabe der juristischen Dogmatik ist die Erkenntnis und Systematisierung des in einem Staat geltenden, von zuständigen Organen in dafür bestimmter Weise gesetzten Rechts 738 . Eine wesentliche Funktion dogmatischer Theorien liegt darin, eine Ordnung des Rechtsstoffes über den geschriebenen Text der Gesetze hinaus zu ermöglichen 739 . Die Integrationslehre kann hierzu kaum beitragen 740 . Weil sie die begriffliche Systematisierung des geltenden Rechts nicht als ihre Aufgabe ansieht, setzt sie im Grunde eine ausgearbeitete Dogmatik voraus. Dann erst kann sie ihre Wirkungen entfalten, indem sie das Recht und die einzelnen dogmatischen Erkenntnisse über das Recht wertend nach ihrer Integrationsfunktion und Integrationswirkung befragt und eventuell umdeutet. Bezeichnenderweise äußert Smend mehrfach Vermutungen, wie sich seine theoretischen Anschauungen „in der Auslegung des positiven Staatsrechts auswirken dürften" 7 4 1 . Auswirkung bei der Auslegung—genau das ist das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Integrationslehre 742 . Mehr als ein regulatives Prinzip bedeutet Integration, im Bundesstaat Bundestreue, nicht. 736
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 271. Vgl. auch Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, S. 53, der die Integrationslehre für die Fragestellungen einer begriffsscharfen Staatsrechtslehre als wenig ergiebig betrachtet. 738 Dreier, in: Dreier/Schwegmann, S. 21. 739 Podlech, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 492 ff. 740 Vgl. Schnur, DVB1. 1960, S. 125 Fn. 15. 741 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 273, ferner S. 235; ders., Art. Integration, EvStL, 2. Auflage, Sp. 1025: „Die Integrationslehre ist ... eine juristische Theorie richtiger und vollständiger Auslegung der Verfassung". 742 Teilweise ist der Integrationslehre sogar diese Fähigkeit komplett abgesprochen worden. Thoma, in: Grundrechte und Grundpflichten, Bd. I, S. 11, bezeichnet Smends Annahme, daß aus der Integrationslehre Fingerzeige für die Auslegung einzelner Rechtssätze gewonnen werden könnten, schlicht als „Irrtum". 737
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
Insofern ist die Integrationslehre zwar Ausdruck des Bedürfnisses, der zu bewältigenden neuen politischen Wirklichkeit durch eine die positiven Normen überschreitende Betrachtungsweise gerecht zu werden 743 ; diese neue Betrachtungsweise bleibt aber juristisch unvollständig. Es überrascht daher nicht, daß die Integrationslehre sofort nach dem Erscheinen von „Verfassung und Verfassungsrecht" Gegenstand theoretischer Erörterungen des Problemkreises Staat und Verfassung wurde, für die Staatsrechtslehre aber, die verbindlicher Stellungnahme zu Einzelproblemen verpflichtet ist, zunächst weitgehend folgenlos blieb 7 4 4 . Anschütz' maßgeblicher Kommentar zur Weimarer Verfassung nahm von ihr keine Notiz. Thoma hat auf die Verunsicherung aufmerksam gemacht, zu der die Argumentation mit dem Gesichtspunkt der Integrationsfunktion der Verfassung beitragen kann und auch verdeutlicht, daß im bereits begrenzten Bereich der Auslegung des Verfassungsrechts die Integrationslehre der Staatsrechtslehre wenig Hilfe zu geben vermag: „Integrationswirkung hat ein Verfassungssatz gleichermaßen, ob er nun in diesem oder jenem Sinne auszulegen ist, es kann also mit der Integrationstheorie keine Einzelfrage der Auslegung beantwortet werden" 7 4 5 . Diese mit Blick auf die Grundrechtslehre Smends getroffene Feststellung gilt entsprechend auch für den Rechtsbegriff der Bundestreue. Die Integrationslehre gibt hier weder eine dogmatisch schlüssige und konkretisierbare Formel, an die einzelne Tatbestände zur Lösung herangetragen werden könnten, noch kann die Bundestreue im republikanischen Bundesstaat ein verfassungsrechtlicher Auslegungsmaßstab dergestalt sein, daß er eindeutige Ergebnisse verbürgte 746 . Integration bedeutet Orientierung an dem Ziel staatlicher Einheit. Dieses Ziel kann nur als ein mehreren Integrationssubjekten gemeinsames gedacht werden. Im monarchischen, dem bündischen Gedanken verpflichteten Bundesstaat mit seiner Nähe zum Staatenbund konnte die Feststellung oder Postulierung solcher Interessen noch möglich sein. Die Staatlichkeit des Reiches von 1871 beruhte zu einem guten Teil auf der Verbundenheit der homogenen Einzelstaaten. Die politischen Kräftefelder versammelten die monarchischen Kräfte in Reich und Ländern auf der einen Seite, die bürgerlich-parlamentarischen Kräfte auf der 743
Vgl. Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, S. 24. M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 199, 208 ff. 745 Thoma, in: Grundrechte und Grundpflichten, Bd. I, S. 11. Vgl. auch Schwinge, Der Methodenstreit, S. 30; ferner M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken, S. 12; Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, S. 23 f., der zu Recht fragt, ob die Mittel des staatsrechtlichen Positivismus nicht besser als die in den zwanziger Jahren neuen Richtungen die normative Verbindlichkeit der Weimarer Verfassung hätten stärken können. In die gleiche Richtung jetzt Heun, Der Staat 28 (1989), S. 399 ff. 744
146 Bezeichnend ist etwa die Ratlosigkeit Koellreutters, Integrationslehre und Reichsreform, S. 26, der der Integrationslehre vor allem Unentschiedenheit in der Auslegung der positiv-rechtlichen Gestaltung des Bundesstaates vorhält.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
225
anderen Seite. Hier war es, wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte, zumindest möglich, dem Begriff der Bundestreue konkrete Folgerungen zu entnehmen, auch wenn gegen diese zahlreiche Einwände zu erheben waren. Die homogenen Interessen waren im republikanischen Bundesstaat weggefallen. Hier verläuft die politische Trennungslinie nicht innerhalb eines jeden Staates, sondern die bundesstaatlichen Subjekte gruppieren sich nach ihrer jeweiligen politischen Ausrichtung; Streitigkeiten sind nicht „echte föderalistische Streitigkeiten, sondern Streitigkeiten zwischen politischen Richtungen innerhalb des Gesamtstaates" 747 . Die parteipolitisch motivierten Konflikte zwischen Reich und Ländern während der Weimarer Republik belegen dies. Daraus folgt, daß es im republikanischen Bundesstaat nur von Fall zu Fall, nicht dagegen als generelles Prinzip gemeinsame Interessen von Bundesstaat und Gliedstaaten gibt 7 4 3 ; in der Regel stoßen hier entgegengesetzte Interessen aufeinander, die nicht mit spezifisch bundesstaatlichen Mitteln zu vereinen sind. Welche von diesen Interessen wichtig sind, sagt die Bundestreue nicht. Sie kann inhaltlich kaum weiter konkretisiert werden. Besonders deutlich erwies sich dies am Ende der Weimarer Republik, als der Staatsgerichtshof im Verfassungsstreit zwischen dem Reich und Preußen über die Rechtmäßigkeit des „Preußenschlages" vom Sommer 1932 zu befinden hatte. Alle in der mündlichen Verhandlung gehörten Gutachter und Prozeßvertreter 749 , sowohl auf der Seite Preußens als auch der des Reiches, beriefen sich, wenngleich in keinem Punkt als Hauptstütze der Argumentation, auf die Bundestreue. Das geschah, um entweder die auf Art. 48 WRV gestützten Exekutions- und Diktaturmaßnahmen des Reiches als bundesstaatliche Pflichtverletzung erscheinen zu lassen, oder um Pflichtverletzungen Preußens darzutun 7 5 0 . In seiner Entscheidung in der Hauptsache anerkannte der Staatsgerichtshof zwar eine bundesstaatliche Treuepflicht, im konkreten Fall ausgestaltet als Pflicht der Länder zur Rücksichtnahme auf Interessen des Reiches. Sachlicher Inhalt und Grenzen der Rechte und Pflichten der Länder im zur Entscheidung stehenden Streitfall wurden jedoch nicht mittels der Bundestreue bestimmt. So urteilte der Staatsgerichtshof auf den Vorwurf der Reichsregierung, daß der preußische Minister des Innern Severing Pflichten im Sinne des Art. 48 I WRV verletzt habe, indem er die Politik der Reichsregierung öffentlich in einer der Treuepflicht Preußens gegenüber dem Reich widersprechenden Weise bekämpft 747
Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 124; vgl. auch Grewe, Antinomien des Föderalismus, S. 16, der vom „parteipolitisch verfälschten Pseudo-Föderalismus" spricht. 748 Hier liegt der richtige Kern der von C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 375ff., aufgestellten These der Unvereinbarkeit von Demokratie und Föderalismus. 749 Smend war weder als Gutachter oder Prozeßvertreter am Prozeß beteiligt, noch hat er später literarisch zu dem Urteil des Staatsgerichtshofes Stellung genommen. 750 Ygi Preußen contra Reich, darin vor allem Nawiasky, S. 173; Heller, S. 169; Bilfinger, S. 150f.; Peters, S. 140; C. Schmitt, S. 176ff. 15 Korioth
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2. Teil: Bundesstaatstheorie und -recht in der Integrationslehre
habe 7 5 1 : „Es mag zugegeben werden, daß in Zeiten höchster politischer Spannung in besonders scharfen öffentlichen Angriffen von Ministern auf die Politik des Reiches unter Umständen eine Verletzung der Treuepflicht gefunden werden kann. Die Möglichkeit, in solchen Angriffen eine Pflichtverletzung des Landes zu erblicken, wird auch dadurch nicht ohne weiteres ausgeschlossen, daß der Minister nicht in seiner amtlichen Eigenschaft, sondern als Privatmann oder Parteimitglied handelt. Die Prüfung der Äußerungen des Ministers Dr. Severing ergibt aber, auch wenn man sie im Lichte der gesamten damaligen Lage vornimmt, daß sie die Grenzen der gebotenen Zurückhaltung nicht derartig überschreiten, daß darin eine Pflichtverletzung des Landes gegenüber dem Reich erblickt werden kann" 7 5 2 . Die Zurückhaltung des Staatsgerichtshofes gegenüber der Bundestreue ist deutlich spürbar und erscheint verständlich. Ein näheres Eingehen auf das Problem der Bundestreue hätte — als Folge der Einkleidung parteipolitischer Konflikte in bundesstaatliche Auseinandersetzungen — eine Gesamtbewertung der preußischen Politik und der Reichspolitik erfordert. Gerade das aber wollte der Staatsgerichtshof vermeiden 753 . Somit bestätigt der Verfassungsstreit um den Preußenschlag folgendes: Im republikanischen Bundesstaat muß die Bundestreue zum Einfallstor werden, durch das die eigentlich relevanten Gesichtspunkte erst eingeführt werden 754 . f) Smends Bundesstaatstheorie und die Bundestreue
Dieses Resultat deutet bereits die Antwort auf die Frage an, ob sich die in der Bundesstaatstheorie Smends feststellbare Erhöhung des im Kaiserreich organisierten Bundesstaates zum Modell des deutschen Bundesstaates überhaupt, in dessen Licht der Bundesstaat Weimars als eine Verfallsform erscheint, auf Smends Begriff der Bundestreue im republikanischen Staat ausgewirkt hat. Eine unmittelbare und als solche auch gewollte Auswirkung, entsprechend dem von Bilfinger unternommenen Versuch, mit der Erstreckung des bündischen Gedankens auf die Weimarer Republik auch die Bundestreue aus dem früheren Reich pauschal zu rezipieren, läßt sich nicht nachweisen. Die Erkenntnis Smends, daß sich im Weimarer Staat die Legitimität des Bundesstaates von den Einzelstaaten auf das Reich verlagert hat, daß der „Instanzenweg der Legitimität" 7 5 5 sich umgekehrt hat, errichtet eine Trennwand zwischen dem 751
Es handelte sich vorrangig um eine Wahlrede, die Severing am 14. Juli 1932 gehalten hatte. Unter anderem hatte er dort gesagt: „Jagen wir am 31. Juli die Regierung von Papen und ihre nationalsozialistischen Helfershelfer davon" (Vorwärts vom 15. Juli 1932, zitiert nach: Preußen contra Reich, S. 32). 752 Zitiert nach Vetter, S. 137. Ebenso abgedruckt in: Preußen contra Reich, S. 512. 753 Vgl. zu diesem Aspekt des Urteils insbes. Vetter, S. 139 ff. 754 Vgl. auch Fuß, DÖV 1964, S. 38, zur Bedeutung der Bundestreue im Staatsrecht der Bundesrepublik; ferner Bayer, S. 75; Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 124f. 75 5 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 231 f.
IV. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht in der Integrationslehre
227
monarchischen und dem republikanischen Bundesstaat 756 . Doch wird, jetzt ausgehend vom Begriff der Integration, der früher aus den politischen Einzelerscheinungen abgeleitete Rechtsbegriff der Bundestreue zum „Grundgedanken" des „deutschen Bundesstaatsrechts" 757 erhoben. In dieser Verallgemeinerung mit der Folge, die Verfassung verpflichte Reich und Länder „zur Einigkeit, zu stetem Suchen und Herstellen bundesfreundlichen Verhältnisses" 758 , bleibt mittelbar der Grundgedanke des „Meisterwerkes" 759 der Integration, des Bismarckreiches, trotz der veränderten Grundvoraussetzungen des Bundesstaates erhalten. Zwar ist diese Übertragung des im Kaiserreich entwickelten Ansatzes noch kein hinreichender Beleg dafür, daß Smends bundesstaatsrechtliches Denken der zwanziger Jahre von einer unkritischen Weiterführung des monarchischen Staatsrechts beherrscht ist. Wird aber weiter berücksichtigt, daß Smend einerseits die neuartigen Probleme des demokratischen und von parteipolitischer Zerrissenheit beherrschten Bundesstaates als politische Ausgangslage durchaus sieht, andererseits dennoch mit einem Begriff der Bundestreue zu lösen sucht, der die nicht'mehr bestehende politische Homogenität der beteiligten Subjekte zur Voraussetzung hat, so bleibt nur folgendes Ergebnis: Auch im Bereich der Verfassungstheorie und des Verfassungsrechts steht Smend dem 19. Jahrhundert näher als dem zwanzigsten — entgegen seiner Selbsteinschätzung, mit dem Begriff der Integration „alle heteronomen Reste monarchischer Ordnung aus dem ... Verfassungsdenken auszuschließen"760.
756 Anders Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 123, der die Auffassung vertritt, Smend sei auch in den zwanziger Jahren von der Voraussetzung ausgegangen, die Grundgedanken der bundesstaatlichen Ordnung Weimars seien mit denen des Kaiserreiches „identisch". 75 7 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 271. 75 8 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 271. 75 9 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 229. 76 0 Smend, FS Scheuner, S. 585.
15'
3.
Teil
Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945 I . Einleitung Der dritte Teil der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich, entsprechend der gewählten chronologischen Betrachtungsweise, mit der Staats- und Staatsrechtslehre Smends nach 1945, dies wiederum unter besonderer Beachtung des Bundesstaatsrechts. Der bislang in dieser Arbeit eingeschlagene Weg, den jeweiligen Teil aus Smends Werk im Bezugsfeld der zeitgenössischen verfassungsrechtlichen Lehren und der politischen Ereignisse zu sehen, kann jetzt allerdings kaum mehr weiterführen. Der Schwerpunkt der Publikationen Smends hat sich nach 1945 auf das Staatskirchenrecht und das evangelische Kirchenrecht verlagert. Seine in diesem Zeitraum bis zum Tode im Jahre 1975 veröffentlichten wenigen staatsrechtlichen Arbeiten umfassen im wesentlichen lexikalische Zusammenfassungen der Integrationslehre, die bereits in den vorstehenden Abschnitten berücksichtigt worden sind. Stellungnahmen und Anmerkungen zum Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz sind in diesen zumeist rückblickenden Darstellungen nur spärlich zu finden. Selbständige Abhandlungen zum Staatsorganisationsrecht hat Smend, mit Ausnahme eines sogleich zu besprechenden Gutachtens, nicht mehr verfaßt. Schon angesichts dieses Befundes verlagert sich das Interesse von der Interpretation des Werkes auf seine Wirkungsgeschichte. Es geht um die Smend-Rezeption einerseits in der staatsrechtlichen Literatur nach 1945, andererseits — infolge der Etablierung einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik im Jahre 1951 — um die Auswirkungen des Werkes in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. An dieser Stelle liegt ein lohnendes Arbeitsgebiet. „Die Beschreibung der Smendschen Wirkungsgeschichte in der deutschen Staatsrechtslehre steht noch aus" 1 . Diese vor knapp zehn Jahren von Vorländer getroffene Feststellung kann nach wie vor Gültigkeit beanspruchen. Das Fehlen einer Beschreibung der Smend-Rezeption2 steht in auffälligem Kontrast dazu, daß den Arbeiten Smends mannigfach, teilweise auch ohne weitere Begründung, großer Einfluß auf die bundesrepublikanische 3 Staatsrechtslehre zugesprochen worden ist. Die 1
Vorländer, S. 288. Vgl. auch Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 311. Hinweise und Ansätze finden sich allenfalls bei Göldner, S. 19ff.; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 303, 309, 311 ff. 3 Die Smend-Rezeption zwischen 1933 und 1945, die sich in ihrer führerstaatlichen Ideologisierung völlig aus dem sachlichen Zusammenhang des Integrationsansatzes bei 2
II. Eine Arbeit Smends zum Grundgesetz
229
Integrationslehre sei, so meint Konrad Hesse, zu einem „bestimmenden Faktor der neueren Entwicklung der deutschen Staats- und Verfassungslehre geworden" 4 . Tatsächlich hat sich zwar, das kann als Faktum vorangestellt werden, in der Staatsrechtslehre nach 1945 eine Richtung herausgebildet, die inzwischen als „Smend-Schule"5 bezeichnet wird und vor allem mit den Namen Ulrich Scheuner, Konrad Hesse, Horst Ehmke, Richard Bäumlin, Henning Zwirner, Peter Häberle und Friedrich Müller verbunden ist 6 . Über den Gegenstand und die besondere Art und Weise der Annäherung an das Smendsche staatsrechtliche Gedankengut ist damit allerdings noch nichts gesagt. Ähnliches und Entsprechendes gilt hinsichtlich der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, wenn von ihr behauptet wird, sie zeige „in vielfältigem Maße die Wirkungen der Integrationslehre" 7 . Angesichts dessen erscheint der Versuch lohnend, die wichtigsten Verbindungslinien zwischen dem integrationstheoretischen Staats- und Verfassungsverständnis Smends und der heutigen Lehre unter den Gesichtspunkten der Kontinuität und Abweichung aufzuspüren. Dann läßt sich die Frage beantworten, inwieweit die Integrationslehre, so wie sie im wesentlichen in „Verfassung und Verfassungsrecht" niedergelegt ist, tatsächlich zu den „Wurzeln der bundesrepublikanischen Staatsrechtslehre" 8 gehört. I I . Eine Arbeit Smends zum Grundgesetz: Das Gutachten im „Kampf um den Wehrbeitrag" Bevor die eigentliche Wirkungsgeschichte Smends untersucht wird, soll jedoch eine bemerkenswerte Arbeit erwähnt werden, mit der Smend in die Smend gelöst hat, bleibt hier unberücksichtigt. Ihre Beschreibung erscheint schon deshalb unergiebig, weil sie Smend selbst nicht zugerechnet werden kann. Zu Scheuners Versuch, die Smendsche Lehre der politischen Einheitsbildung mit dem Prinzip autoritärer Staatsführung zu der Lehre des „autoritären Volksstaates" zu verbinden, vgl. Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, S. 63 ff. 4
Hesse, Art. Smend, Sp. 1184. E.-W. Böckenförde, AöR 106 (1981), S. 601; J.H. Kaiser, AöR 108 (1983), S. 21 ff.; Poeschel, S. 19 Anm. 4. Siehe auch Lerche, DVB1. 1961, S. 694, der von einer das Staatsrecht „eindrucksvoll belebenden Richtung" spricht, die „mehr oder weniger im Zugwind Smends" stehe. 6 Vgl. Badura, Der Staat 16 (1977), S. 305; M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 19; Göldner, S. 19ff.; Poeschel, S. 19 Anm. 4. 7 Badura, Der Staat 16 (1977), S. 305. 8 Diesen Titel hat Häberle, Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, S. 110, der dort wiederabgedruckten Rezension Günther Holsteins aus dem Jahre 1928 zu dem Buch „Verfassung und Verfassungsrecht" gegeben. Siehe auch Hesse, Art. Smend, Sp. 1184: Bei der Schaffung der neuen Verfassungen hätten „sowohl der Grundgedanke der Integration als auch einzelne Ausformungen der Integrationslehre Bedeutung gewonnen und später Eingang in die Verfassungsrechtsprechung gewonnen". 5
230
3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Diskussion eines staatsrechtlichen Problems unter dem Grundgesetz eingegriffen hat. Die Eigentümlichkeiten dieser Arbeit, insbesondere Smends Verarbeitung der eigenen Lehren der zwanziger Jahre, können helfen, die Fragestellungen in bezug auf die Wirkungsgeschichte zu präzisieren. 1. Rückkehr zur Legalität der Verfassung? Bei dieser Arbeit handelt es sich um ein Gutachten nebst Ergänzungen, das Smend 1952 im Auftrag der Niedersächsischen Landesregierung zur Vorlage beim Bundesverfassungsgericht erstattet hat. Es betraf die Frage, ob eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich sei, um die Voraussetzungen eines deutschen Wehrbeitrages zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen. Zeitgeschichtlicher Hintergrund ist die seit 1950 in der Bundesrepublik intensiv geführte politische Auseinandersetzung um eine deutsche Wiederbewaffnung 9 . Die Frage eines Wehrbeiträges zur westlichen Verteidigung stellte die deutsche Politik bereits im ersten Jahr des Bestehens der Bundesrepublik vor die Notwendigkeit einer Entscheidung mit schwer abschätzbaren Folgen. Die dem politischen Geschehen seit 1945 vielfach lethargisch gegenüberstehende Bevölkerung wurde durch die Notwendigkeit, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, aufgerüttelt. So überrascht es nicht, daß die politische Auseinandersetzung um Für und Wider der Wiederbewaffnung teilweise mit großer Schärfe geführt wurde. Zum zentralen politischen Problem entwickelte sich die Wehrfrage dann seit Ausbruch des Korea-Krieges. Sie enthielt nun eine grundsätzliche politische Weichenstellung, vor allem — ohne daß dies den Handelnden schon in vollem Umfang bewußt war — eine Vorentscheidung darüber, ob die Bundesrepublik ein nur provisorisches Gebilde bleiben oder sich zu einem souveränen Staat entwickeln würde. Gleichzeitig stand damit in Rede, ob dem Ziel der Wiedervereinigung oder dem der Westintegration der Bundesrepublik der Vorrang eingeräumt werden sollte 10 . Die an der Jahreswende 1951/1952 von der Bundesregierung geplante Paraphierung eines Vertrages über die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft deutete die geplante Weichenstellung an und führte im Jahre 1952 zu drei Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Am 31. Januar 1952 wurde beim Bundesverfassungsgericht ein Antrag gemäß Art. 93 I Nr. 3 GG erhoben. 144 oppositionelle Abgeordnete des Bundestages, darunter sämtliche Abgeordnete der SPD, begehrten die Feststellung, „daß Bundesrecht, welches die Beteiligung an einer bewaffneten Streitmacht regelt oder Deutsche zu einem Wehrdienst verpflichtet, ohne vorangegangene Ergänzung und Abänderung des Grundgesetzes weder förmlich noch sachlich mit dem 9
Vgl. dazu die eingehende Darstellung bei Baring, Am Anfang war Adenauer, S. 132ff., 378 ff. 10 von Schubert, Wiederbewaffnung und Westintegration, S. 7 ff.
II. Eine Arbeit Smends zum Grundgesetz
231
Grundgesetz vereinbar ist" 1 1 . Ein zweites Verfahren über die Wiederbewaffnung wurde eingeleitet, als Bundespräsident Heuss am 10. Juni 1952 das Bundesverfassungsgericht um ein Gutachten über die verfassungsrechtliche Frage ersuchte, ob der geplante Vertrag zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Widerspruch zum Grundgesetz stehe 12 . Schließlich erhoben am 6. Dezember 1952 die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU, FDP und DP Klage gegen die SPD-Fraktion mit dem Antrag auf Feststellung, die SPD-Fraktion verletze das Grundgesetz, indem sie der Mehrheit des Bundestages das Recht bestreite, Gesetze über den Vertrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit der einfachen Mehrheit des Art. 42 I I GG zu verabschieden 13. Die Verfahren brachten das soeben erst konstituierte Bundesverfassungsgericht in eine schwierige Lage. Erwartet wurde von ihm die Entscheidung über eine fundamentale Frage der politischen Weiterentwicklung der Bundesrepublik. Es stand vor folgender Alternative: Eine Bestätigung der Verfassungsmäßigkeit der Wiederbewaffnung hätte der Bundesregierung eine gerichtliche Legitimierung ihres außenpolitischen Konzepts verschafft und damit wohl die politische Auseinandersetzung abrupt beendet; das Verdikt der Verfassungswidrigkeit der Wiederbewaffnung hätte auf der anderen Seite die damalige deutsche Außenpolitik ihres Fundamentes beraubt 14 . Zu einer Entscheidung in der Sache kam es jedoch nicht, was vielleicht ein Glücksfall für die politische Entwicklung und die Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts war. Das französische Parlament verweigerte im Jahre 1953 die Zustimmung zum Beitritt Frankreichs zur EVG. Damit war das gesamte Projekt gescheitert, die Klagen in Deutschland wurden gegenstandslos. Die Niedersächsische Landesregierung nahm am 21. August 1952 zum Gutachtenverfahren Stellung und legte hierbei das Gutachten Smends betreffend die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung vor. 11
Zitiert nach: Der Kampf um den Wehrbeitrag I, S. 4. Die genaue Fassung der Fragestellung des Bundespräsidenten findet sich in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 2. Der bis 1956 geltende §97 BVerfGG gab dem Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeit zur Erstattung von Gutachten über eine bestimmte verfassungsrechtliche Frage auf Antrag des Bundestages, des Bundesrats und der Bundesregierung gemeinsam und des Bundespräsidenten. 13 Vgl.: Der Kampf um den Wehrbeitrag III, S. 5. Zum weiteren Fortgang der Verfahren vgl. Baring, A m Anfang war Adenauer, S. 383 ff. 14 ' Der Verfassungsrichter Leibholz schlug seinen Kollegen vor, eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Wiederbewaffnung unter Hinweis auf die in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung entwickelte „political question doctrine" abzulehnen, weil es sich um eine rein politische Frage handele. Diese Überlegung setzte sich nicht durch, vgl. Baring, A m Anfang war Adenauer, S. 405. Bryde, S. 39, erwähnt die Verfahren um die Wiederbewaffnung zu Recht als Beispiel für die Neigung der politisch Handelnden, Konflikte mit juristischen Mitteln auszutragen und meint sogar, daß der Kampf um den Wehrbeitrag „die bis heute größte Mobilisierung juristischen Scharfsinns zur Verfolgung politischer Ziele brachte." 12
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945 a) Das „Wort des Grundgesetzes"
Unter den insgesamt 23 im Laufe der Verfahren erstatteten Gutachten ragt dasjenige Smends bereits durch einen eigenwilligen Umgang mit den verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkten im Grundgesetz hervor. Ausführungen zur kontrovers diskutierten prozeßrechtlichen Zulässigkeit der Anträge macht Smend nicht; die Ausführungen zur materiellen Verfassungsmäßigkeit leitet er mit der Bemerkung ein, er beschränke sich „auf eine Auswahl der in Betracht kommenden Streit- und Gesichtspunkte" 15 — eine zumindest ungewöhnliche Vorgehensweise für ein juristisches Gutachten. Dann folgen Aussagen, die auf dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Integrationslehre überraschend sind. Während die Weimarer Verfassung nach Smends Lehre der zwanziger Jahre ein einheitliches System von politischen Gütern und Kulturwerten normierte 16 , zentriert um die Integrationsfunktion der Verfassung, die eine Auslegung der Verfassung als Ganzes verlangte 17 , zerschneidet Smend das Grundgesetz in den „stark naturrechtlich" begründeten Grundrechtsteil und den organisatorischen Teil, der die „Interimsordnung eines Staatsfragments" darstelle 18 . In einer „gewissen Zeitlosigkeit und einer gewissen Liquidierungstendenz gegenüber Mißbräuchen des Dritten Reichs" sei „der Grundrechtsteil nicht technisch verzahnt mit dem positiveren Organisationssystem der folgenden Teile" 19 . Sodann folgt eine weitere interessante Aussage zum Grundgesetz. Hatte es in der am 18. Januar 1933 gehaltenen Rede „Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht" geheißen, es sei nicht der Sinn einer Verfassung, „Entscheidung im Sinne irgendeines sachlich folgerichtigen Denksystems zu sein" 20 — die polemische Spitze gegen die Verfassungslehre Carl Schmitts war unübersehbar — so möchte Smend im Jahre 1952 einer Zusammenschau der Grundrechtsartikel und der Art. 20-22, 24-26 des G G 2 1 eine entschiedene Bestimmung des „politischen Gesamtcharakters der Bundesrepublik im Sinne der Anpassung und der virtuellen Eingliederung in die Welt der westlichen Demokratien" 22 entnehmen. Schließlich scheint sich Smend in einer dritten Aussage ganz von den eigenen verfassungstheoretischen Prämissen der zwanziger Jahre zu lösen. Davon 15
Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 559. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 91. 17 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 233 ff. 18 Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 560. 19 Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 560. 20 Smend, Bürger und Bourgeois, S. 320 Fn. 15. 21 An der Smend sich nicht — insoweit in Widerspruch zu seinen vorhergehenden Ausführungen — durch die von ihm postulierte strikte Trennung zwischen Grundrechtsteil und organisatorischem Teil des Grundgesetzes gehindert sieht. 22 Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 561. 16
II. Eine Arbeit Smends zum Grundgesetz
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ausgehend, daß die Wehrhoheit ein neues, im bisherigen System der Verfassung nicht vorgesehenes Hoheitsrecht ist, schließt Smend auf die Notwendigkeit einer Änderung des Grundgesetzes zur Einführung der Wehrhoheit. Es handele sich um eine „Wesensänderung der Verfassung selbst" 23 . Im Jahre 1949 habe das Grundgesetz nicht mit der Möglichkeit einer künftigen Wehrhoheit rechnen können. Ihre Einfügung verschiebe das Verfassungssystem des Grundgesetzes in wesentlichen Bereichen. Weil das Grundgesetz aber in allen Belangen „Klarheit" und „Rechtssicherheit" 24 verlange, sei eine solche Verschiebung der konstitutionellen Gewichtsverhältnisse von einer vorgängigen Verfassungsänderung abhängig. Dann folgt der Satz Smends, der bei dem Befürworter der „fließenden Geltungsfortbildung des gesetzten Verfassungsrechts", die ohne Textänderung „schrittweise das Rang- und Gewichtsverhältnis der verfassungsmäßigen Faktoren, Institute und Normen" bis zur Einführung eines „neuen Faktors des Verfassungslebens" 25 verschieben könne, wie eine Rückkehr zum Normativismus des staatsrechtlichen Positivismus anmutet: „Der Verfassungsgesetzgeber soll nach dem Grundgesetz klar reden, die Auslegung des Grundgesetzes muß daher sorgfältig und restriktiv sein, damit die Bürger der Bundesrepublik sich auf das Wort des Grundgesetzes verlassen können — ein gerade in einer die Seele des deutschen Volkes so aufrührenden Frage wie der des Wehrbeitrages besonders dringendes Gebots der Verfassungsmoral" 26. Jetzt ist es also die strikte Legalität, in deren Beachtung die Moral der Verfassung liegt. Nicht Integration mit oder nötigenfalls auch gegen den Verfassungstext ist das Ziel der verfassungsrechtlichen Argumentation, sondern Berechenbarkeit und Rechtssicherheit im Umgang mit der Verfassungsurkunde. Die Verfassung erscheint im Gutachten nicht als „Anregung und Schranke" des politischen Prozesses, gleichzeitig Ordnung und Bestandteil des staatlichen Integrationsprozesses, die sich ungeachtet des Verfassungstextes mit diesem Prozeß ändern kann. Stattdessen wird die Verfassung zu einer heteronomen Rechtsordnung zurückgenommen, die dem Staat gegenübersteht und von den politischen Faktoren unbedingte Beachtung verlangt. Das ist eine deutliche Akzentverschiebung im Verhältnis zur Integrationslehre in der Weimarer Republik. Nunmehr wird dem Verfassungsrecht des Grundgesetzes ein Geltungsanspruch zugemessen, der seine Begründung nicht in dem staatlichen Integrationsprozeß findet; indem die Verfassung im Gutachten nicht aus dem Blickwinkel der Staatstheorie interpretiert wird, läßt Smend ein Grundelement seiner früheren Verfassungstheorie, die Bezogenheit der Verfassung auf den politischen Prozeß, außer acht. Der Bereich des Staates wird nicht als substanzhafte Größe vorausgesetzt, als „in sich gravitierendes Integrations23 24 25 26
Smend, Smend, Smend, Smend,
in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 561. in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 569. Verfassung und Verfassungsrecht, S. 241. in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 569.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
system" 27 , sondern er unterliegt der Formung durch die Verfassung. Ein Satz aus einer Zusammenfassung der Integrationslehre, erschienen 1956, wendet diese Vorgehensweise des Gutachtens ins Allgemeine: Die Integrationslehre lehne „jedes Verfassungsdenken ab, das auf eine hinter oder über der Verfassung bestehende Faktizität ausgerichtet ist, sei es im Sinne des Vorbehalts außerkonstitutioneller ,souveräner Entscheidung4, sei es im Sinne der Kontrastierung pluralistischen 4 Verfassungslebens mit einer willkürlich angenommenen statischen Einheit irgendwelcher Art . . . " 2 8 . Genau dieser Forderung Smends entspricht sein Gutachten. Die Faktizität der politischen Schicksalsfrage des Wehrbeitrages wird beschrieben, bleibt aber bei der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Lage unberücksichtigt. Smend irrt allerdings, wenn er in der lexikalischen Darstellung der Integrationslehre dieses Charakteristikum bereits für die ursprüngliche Gestalt seiner Lehre der zwanziger Jahre in Anspruch nimmt. Damals war es gerade die Tatsächlichkeit der politischen Integration, hinter der die Verfassung als Rechtsordnung zurücktrat. Der im Jahre 1956 abgelehnten Bestimmung der Verfassung von der Ausnahmelage her hat sich Smend im Jahre 1928 bezeichnenderweise nicht ganz verschlossen. Auch in der Gestalt der Diktaturgewalt des Art. 48 I I WRV war die Ausnahmelage einer Wesensbestimmung durch Bezug auf den „Integrationswert als ihr regulatives Prinzip" 2 9 zugänglich. b) Erklärungsversuche
Es stellt sich Frage, wie die offensichtlichen Abweichungen Smends von den eigenen Lehren der zwanziger Jahre zu erklären sind. Handelt es sich im Gutachten um den kaum verhüllten Versuch, der eigenen politischen Auffassung in der emotional stark aufgeladenen Diskussion um die deutsche Wiederbewaffnung die juristische Grundlage zu verschaffen, also schlichte Situationsjurisprudenz, möglicherweise auch im Sinne der Auftraggeber des Gutachtens? Wohl kaum — es kann unterstellt werden, daß ein Verfassungstheoretiker vom Range Smends nicht zugunsten eines gewünschten Ergebnisses die eigenen verfassungstheoretischen Grundüberzeugungen über Bord wirft. Zudem hätte sich das Ergebnis der Notwendigkeit einer Verfassungsänderung auch auf anderen Wegen begründen lassen, ohne die Grundlagen und das „Wesen" 30 der Verfassung der Bundesrepublik zu erörtern 31 . Die Erklärung für die Rückkehr Smends zur strikten Legalität der Verfassung ist also in anderen Zusammenhängen zu suchen. 27
So Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 195. Smend, Art. Integrationslehre, S. 478 f. 29 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 212. 30 Vgl. Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 562. 31 Wie dies hätte geschehen können, zeigt das ebenfalls für die Niedersächsische Landesregierung in derselben Sache erstattete Gutachten von Kraus, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag I, S. 139ff. 28
II. Eine Arbeit Smends zum Grundgesetz
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Als erstes muß die staatsrechtliche Verarbeitung der besonderen Situation, aus der heraus das Grundgesetz entstanden ist, berücksichtigt werden. Das hier interessierende Charakteristikum der Entstehung des Grundgesetzes besteht darin, daß es als demokratische Verfassung ohne eine bewußt getroffene Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Kraft gesetzt worden ist. War die Ausschreibung für Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung in Weimar eine politische Entscheidung, die im Winter 1918/1919 in der Auseinandersetzung der politischen Kräfte erkämpft wurde, so fehlte diese klare Willensäußerung im Jahre 1949. Der Anstoß zur Beratung des Grundgesetzes und zur Gründung der Bundesrepublik kam in den Jahren 1947/1948 von den westlichen Besatzungsmächten. Den inhaltlichen Rahmen gaben die westlichen Alliierten den Beratungen der Verfassung mit auf den Weg. Das am 1. Juli 1948 den Ministerpräsidenten der Länder übergebene sogenannte „Frankfurter Dokument Nr. 1" „ermächtigte" zu folgendem: „Die Verfassunggebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft.. die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält" 3 2 . Damit fehlte von vornherein eine wirkliche Entscheidungsfreiheit des parlamentarischen Rates und anschließend der Länderparlamente, verstanden als Möglichkeit, zwischen verschiedenen politischen Organisationsformen des zu errichtenden Staates zu wählen. „Das Grundgesetz ist nicht das Ergebnis einer politischen Entscheidung, sondern das Produkt einer Lage, genauer eines Zustandes beispielloser Schwäche als Folge der Verwüstungen des verlorenen Krieges" 33 . Eine Wechselwirkung zwischen politischer Wirklichkeit und Verfassung hat es in dem Sinne gegeben, daß das politische Vakuum in Deutschland auf Seiten der Alliierten die Möglichkeit schuf, die Entstehung einer ganz bestimmten Verfassung zu forcieren. Dagegen ist das Grundgesetz nicht das vollkommen autonome Produkt eines innerstaatlichen Integrationsprozesses gewesen. Die von Smend in einer Rede aus dem Jahre 1945 den Deutschen zugewiesene Aufgabe, sich mit dem „politischen Lebenswillen der Nation" 3 4 an den Neuaufbau des Staates und seiner Verfassung zu begeben, ist in den Jahren von 1945 bis 1949 nur teilweise erfüllt worden. Sie konnte auch nur teilweise 32
Zitiert nach Wagner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat I, S. 31; zu den Reaktionen der deutschen Seite auf die Frankfurter Dokumente vgl. AK-GG-Denninger, Einleitung I, Rn. 10 ff. 33 Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 61; H.P. Ipsen, DÖV 1974, S. 290. Analysen im außerjuristischen Schrifttum kommen zu demselben Ergebnis, so etwa Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik, S. 176: „Die Bundesrepublik Deutschland ist zwar durch Deutsche, aber im Auftrag der Alliierten, errichtet. Einige Deutsche wurden von ihnen, nicht durch das deutsche Volk, ermächtigt". 34 Smend, Staat und Politik, S. 379. Vgl. auch dens., Art. Staat, S. 524: „Der Staat ist der Staat eines bestimmten Volkes, das in dieser staatlichen Form seinen geschichtlichen Beruf, die ihm aufgegebene Lebensbewältigung zu erfüllen versucht".
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
erfüllt werden. Nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes war, anders als 1918, nicht nur die staatsrechtliche, sondern auch die staatliche Kontinuität unterbrochen. Kelsen ging 1945 so weit, die These aufzustellen, das Deutsche Reich sei durch die Vorgänge der Kapitulation als Völkerrechtssubjekt untergegangen 35 . Politischer Lebenswille der Nation konnte sich kaum entwickeln, solange Entsetzen oder Verdrängungsbemühungen angesichts der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, materielle Not, Vertreibung, physische und psychische Erschöpfung die Stimmung prägten 36 . In den 1945 nachfolgenden Jahren steuerten äußere Bedingungen die Betätigung und den Wiederaufbau des politischen Lebens. Schließlich wurde 1948 nicht die Nation, sondern nur ihr westdeutscher Teil in die Lage versetzt, e^ne demokratisch-rechtsstaatliche Verfassung aufzubauen. A m Ende der Verfassungsberatungen stand deshalb, nach Smends späterer Einschätzung des Jahres 1962, die „Treibhauspflanze" Grundgesetz, die „nicht in der freien Luft eines souveränen Staates und Volkes" 37 entstanden ist. Diese zwangsläufige Unzulänglichkeit mag der erste Grund für Smend gewesen sein, im Jahre 1952 nicht die Integrationsfunktion der Verfassung in den Mittelpunkt der Argumentation zu rücken, sondern die Eigenschaft des Grundgesetzes als starre, in seinem Organisationsteil durchaus technische Rechtsordnung. Denn zumindest die rechtstechnische und rechtsstaatliche Qualität des Grundgesetzes blieb von den Schwächen seiner Entstehung unberührt. Eine weitere Überlegung kommt hinzu. Im Gegensatz zu den Verfassungen der Jahre 1871 und 1919 schränkt das Grundgesetz in seiner Präambel und in Art. 146 seine Geltungsdauer ausdrücklich ein. Es will keinen ewigen Bund begründen, kein Reich festigen und erneuern, sondern nach seiner Eingangsformel dem „staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung" geben. Die Präambel schließt mit dem Appell an das gesamte Deutsche Volk, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Das Grundgesetz sollte Organisationsstatut des „Transitoriums" 38 Bundesrepublik sein. Es sollte nicht Wiedervereinigungsbemühungen, wenngleich diese möglicherweise schon damals unrealistisch waren, behindern. Wenn Smend dieses Grundgesetz im Gutachten als „Interimsordnung eines Staatsfragments" 39 35
Kelsen, in: American Journal of International Law (39) 1945, p. 518ff., dort p. 519: „Germany has ceased to exist as a state in the sense of international law". Zu dieser These Kelsens und ihrer Diskussion in Deutschland Diestelkamp, JuS 1980, S. 481 ff. 36 Vgl. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 586. 37 Smend, Das Bundesverfassungsgericht, S. 585; vgl. auch dens., Art. Staat, S. 524. 38 So das berühmte Wort von Theodor Heuss auf dem 41. Deutschen Juristen tag 1955. Im parlamentarischen Rat hat Heuss allerdings auch davor gewarnt, das „Provisiorische" des zu schaffenden Staates überzubetonen und „provisorisch" anders als im geographischen Sinne zu verstehen. So schlug Heuss vor, die Bezeichnung „Verfassung" statt „Grundgesetz" zu wählen und führte dazu aus: „Aber strukturell wollen wir etwas machen, was nicht provisorisch ist" (zitiert nach JöR n.F. 1 (1950), S. 16). Vgl. zum Provisoriumskonzept auch Bryde, S. 70ff.
II. Eine Arbeit Smends zum Grundgesetz
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bezeichnet, so ist darin gleichzeitig seine mangelnde Eignung als vollgültige Integrationsordnung festgestellt — Ausweg für den Juristen ist auch hier der Rückzug auf die Behandlung der neuen Verfassung als Gesetz. Einen weiteren Grund für den legalistischen Umgang mit dem Grundgesetz deutet Smend ebenfalls selbst an. Es handelt sich um die größere Formenstrenge, die für das Konzept des Grundgesetzes, in bewußter Entgegensetzung zur Weimarer Verfassung, charakteristisch ist. Wirkliche oder vermeintliche verfassungspolitische Baufehler der Weimarer Verfassung, die für die Machtübernahme Hitlers mitverantwortlich gemacht wurden, sollten im Grundgesetz nach dem Willen des Parlamentarischen Rates vermieden werden. Die Sicherung vor der Überrumpelung durch totale Herrschaft stand im Vordergrund. Inwieweit der Parlamentarische Rat hier von der Vorstellung geleitet war, eine geschickt konzipierte Verfassung könne ein wirksamer Riegel gegen das Vordringen eines totalitären Staates sein, läßt sich nicht mehr klären. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, der Parlamentarische Rat habe die Verfassung bewußt als Mittel und sogar Ausgangspunkt der politischen Gestaltung begriffen. Im hier interessierenden Zusammenhang handelt es sich vor allem um die ohne Vorbild in der deutschen Verfassungsgeschichte dastehende Vorschrift des Art. 79 GG. Konnten nach Art. 76 WRV verfassungsändernde Gesetze, auch außerhalb der Verfassungsurkunde, nach der damals herrschenden Lehre bis zur völligen Umgestaltung der grundlegenden Prinzipien der Verfassung führen 40 , so verlangt Art. 79 I GG zur Verfassungsänderung eine ausdrückliche Änderung des Textes des Grundgesetzes und scheint die Einheit von Verfassungsrecht und Verfassungstext festzulegen; Art. 79 I I I GG enthält Prinzipien, die einer Abänderung durch den Verfassungsgesetzgeber gänzlich entzogen sind. Als weitere Eigenart der neuen Verfassung kam hinzu, daß — anders als in der Weimarer Verfassung — die rechtlichen Bindungen und inhaltlichen Verpflichtungen der Staatsgewalt am Anfang des Grundgesetzes stehen. Art. 1 I I I GG verpflichtet jegliche Betätigung der Staatsgewalt auf die Beachtung der Grundrechte; der Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gesetz ist ausdrücklich in Art. 20 I I I GG ausgesprochen. Offensichtlich hat Smend zu Beginn der fünfziger Jahre sich die Frage gestellt, ob für die Theorie von der „fließenden Geltungsfortbildung des gesetzten 39
Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 560, vgl. auch S. 563. Der vorläufige Charakter des Grundgesetzes konnte auch seine Änderung und Ergänzung als „selbstverständliches Handhaben eines Provisoriums" (Robbers, NJW 1989, S. 1325) erscheinen lassen. Der Ruf nach Ergänzung der Verfassung bei entscheidenden Positionsbestimmungen des Staates lag nahe, weil die Interimsordnung nicht den materialen Gehalt eines selbstbewußten Staates enthielt. 40 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 19, zog daraus die Folgerung, daß nach dieser herrschenden, von ihm abgelehnten Auffassung die Weimarer Verfassung im Grunde nur aus einem Artikel, nämlich Art. 76, bestünde. Jeder andere Verfassungssatz stünde unter dem Vorbehalt der Abänderung im Wege des Art. 76 WRV.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Verfassungsrechts" 41 durch den Integrationsprozeß überhaupt noch Raum sein kann, wenn das Grundgesetz strenge Formvorschriften und materielle Grenzen bei Verfassungsänderungen festlegt und dadurch zu erkennen gibt, daß es das staatliche Leben nicht nur andeuten 42 will. Art. 79 GG läßt erkennen, daß die Regelungsformen vor allem des demokratischen und bundesstaatlichen Systems der Disposition der politischen Kräfte entzogen sind. Ganz in diesem Sinne spricht Smend im Gutachten davon, daß es in der Frage der Wehrverfassung zwar naheliege, eine sich den „Umständen anpassende Wandlung der Verfassung in Anspruch zu nehmen", denn es werde zu „Recht mit einer gewissen Elastizität der Verfassungen gerechnet" 43 ; es sei aber letztendlich „an die Grenzen zu erinnern, die das Grundgesetz selbst einer allzu elastischen Auslegung" 44 ziehe. Das heißt im Klartext: Die Integrationstheorie der Verfassung könne für Verfassungen nach Art des Grundgesetzes nur eingeschränkt Geltung beanspruchen. Es kann nicht mehr Integration vor Recht gehen, sondern nach der neuen Verfassungslage hat sich Integration dem Recht ein- und unterzuordnen — nur so kann die von Smend aufgestellte Forderung nach „Klarheit und Rechtssicherheit" 45 im Umgang mit dem Grundgesetz verwirklicht werden. Verlangte die relativistische Verfassung der Weimarer Republik nach Smend die Verlagerung des Integrationsprozesses in den Staat und seine politischen Vorgänge, so zieht das Grundgesetz diese Integration in die Verfassungsordnung. Positiv gewendet bedeutet dies allerdings, daß nunmehr das Recht nicht länger als grundsätzlich dem Staat fremder Faktor vom Integrationssystem des Staates und seiner Verfassung zu trennen sein muß, sondern — insoweit anders als in Smends Lehre der zwanziger Jahre — als Integrationsfaktor in Betracht kommt. Tatsächlich finden sich, zwar noch nicht im Gutachten des Jahres 1952, wohl aber in späteren Arbeiten Smends aus den fünfziger und sechziger Jahren, Belege für diese neue Sichtweise. So heißt es selbstkritisch in der ersten lexikalischen Zusammenfassung der Integrationslehre aus dem Jahre 1956, in dieser komme die Spannung zwischen politischer Wirklichkeit und Verfassungsnorm und die Eigenart des Rechts zu kurz 4 6 . Diese knappe Anmerkung muß dahin verstanden werden, daß Smend die einseitig staatstheoretische Entwicklung des Verfassungsbegriffs der Integrationslehre für korrekturbedürftig hielt. M i t der größe41
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 242. So zur Bedeutung der geschriebenen Verfassung Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189 f. 43 Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 569. Unverkennbar ist die Anspielung Smends auf eine der eigenen Hauptthesen der zwanziger Jahre, vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 190 f. 44 Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 569. 45 Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag II, S. 569. 46 Smend, Art. Integrationslehre, S. 480. 42
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ren Betonung des normativen Charakters der Verfassung rückt dann auch die Verfassungsgerichtsbarkeit in ein neues Licht. In der Rede des Jahres 1962 über das Bundesverfassungsgericht hat sich Smend mit der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit versöhnt und ihre Bedeutung ausdrücklich anerkannt. In den zwanziger Jahren galt ihm der Staatsgerichtshof noch als untergeordneter, keineswegs befriedigender Faktor der Integration, seine Entscheidungstätigkeit als minderwertiger „Einigungsersatz" 47 , demgegenüber das originär politische Zusammenwirken der Exekutiv- und Legislativorgane Vorrang verdiente. 1962 ist die Verfassungsgerichtsbarkeit in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts zu einer entscheidenden Integrationsinstanz aufgestiegen: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne ... Es geht in der Arbeit des Bundesverfassungsgerichts zugleich um eine ,Gründung und Festigung' der Verfassung in einem tieferen Sinne" 48 . Damit wird der Verfassungsgerichtsbarkeit ein besonderer Stellenwert in der Entwicklung des verfaßten politischen Gemeinwesens zugewiesen. Sie aktualisiert die Verfassung für den gesamten staatlichen Prozeß und steuert ihn dadurch auch. Ein dritter Erklärungsversuch für Smends normativen Umgang mit dem Grundgesetz entfernt sich von textlichen Anhaltspunkten im Gutachten von 1952 und knüpft an die Ausführungen im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit an, die sich am Beispiel der Bundestreue mit der Ergiebigkeit der Integrationslehre für die staatsrechtliche Dogmatik beschäftigten. Es konnte dort festgestellt werden, daß die Integrationslehre mit ihrem Rekurs auf die Integrationsfunktion eines jeden Verfassungssatzes nicht in der Lage ist, die Grundlage einer neuen, den Positivismus überwindenden staatsrechtlichen Dogmatik abzugeben. Vielleicht bestätigt sich dies im Gutachten zum Wehrbeitrag. Das grundsätzlich Neue der an Smend herangetragenen Aufgabe bestand darin, eine verbindliche Stellungnahme zu einem verfassungsrechtlichen Einzelproblem im Rahmen eines anhängigen Verfassungsprozesses abzugeben. Das hätte ein Prüfstein sein können; hier hätte die dogmatische Ergiebigkeit der Integrationslehre unter Beweis gestellt werden können. Smend hat den Beweisantritt jedoch nicht versucht. Das erlaubt zwar keinen zwingenden Schluß auf die fehlende praktische Anwendbarkeit der Integrationslehre und ihre mangelnde Fähigkeit, im konkreten Fall angeben zu können, was rechtens ist. Doch läßt sich die Zurückhaltung Smends, das konkrete verfassungsrechtliche Problem mit den eigenen verfassungstheoretischen Prämissen aus den zwanziger Jahren zu lösen, nicht allein mit den bereits angeführten Gründen erklären. Ein Hinweis auf die Schwierigkeit, die verfassungsrechtliche Streitfrage auf der Grundlage der Integrationslehre zu lösen, wird der Zurückhaltung Smends entnommen werden können. Insofern mag das Gutachten auch ein früher Anhalt dafür sein, daß die gerichtliche Praxis des Verfassungsrechts wissenschaftliche Theorien in 47 48
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 240. Smend, Das Bundesverfassungsgericht, S. 582, 584.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. Denn was hätte die Integrationslehre zur Lösung der Frage beisteuern können, ob die Schaffung eines deutschen Wehrbeitrages der vorgängigen Abänderung des ursprünglichen Grundgesetzes bedurfte oder nicht? Hätte das Integrationsgebot bei der Lösung der stark umstrittenen politischen Frage dazu verpflichtet, den juristischen Weg zur Beendigung des Konflikts durch den Versuch zu beschreiten, eine Verfassungsänderung zu bewerkstelligen, dies mit der Gefahr, bei einem Verfehlen der nötigen Mehrheit den politischen Dauerkonflikt in Kauf zu nehmen — oder hätte, was sicherlich der ursprünglichen Tendenz der Integrationslehre mehr entsprochen hätte, die Verpflichtung bestanden, die Entscheidung der Frage des Wehrbeitrages von Verfassungs wegen allein dem Für und Wider des politischen Prozesses mit der ihm nach Smends Lehre schon von Natur aus innewohnenden Integrationstendenz zu überlassen? Eine eindeutige Antwort darauf wäre nicht möglich gewesen. Aus dem Gebot der Integration hätte sich lediglich ableiten lassen, das Verfahren der Entscheidungsfindung soweit als möglich für alle in Betracht kommenden Gruppen und Argumente offenzuhalten. Dieses formelle Gebot der Konfliktminimierung hätte aber noch keine verbindliche Antwort auf die materielle Frage der Notwendigkeit einer Verfassungsänderung gegeben. 2. Ausgangspositionen und Fragen zur Smend-Rezeption a) Widerruf der Integrationslehre durch Smend?
Die Überlegungen zu Smends Gutachten zum zentralen verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Problem der frühen Bundesrepublik lassen sich dahin zusammenfassen, daß in diesem Gutachten, zwar nicht ausdrücklich, dennoch deutlich erkennbar, Smends eigene verfassungsrechtliche Lehren der zwanziger Jahre problematisiert werden. Das darf allerdings nicht vorschnell zu der Annahme verleiten, Smend habe die Integrationslehre im ganzen oder auch nur in Teilaspekten revozieren wollen. Spätere Arbeiten aus den fünfziger und sechziger Jahren bestätigen, daß dies nicht der Fall war 4 9 . Diese späteren Texte drängen die im Gutachten eingenommene Position zum Verhältnis von politischem Prozeß und Verfassungsordnung, wonach der Staat in ein striktes Organ- und Kompetenzrecht des Grundgesetzes eingebunden war, wieder zurück. Das staatliche Integrationssystem gewinnt seine Eigengesetzlichkeit, der gegenüber die Verfassung nur einzelne Seiten betrifft 50 , zurück. Der Staat, so betont Smend 1956, liege „das Leben der Menschen in seiner Breite umfassend" im Bereich „einer uns umgreifenden Vorgegebenheit" 51 . Damit besitzt der Staat ein Eigenrecht, an 49
Insbesondere die lexikalischen Zusammenfassungen der Integrationslehre; ferner Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 500ff., 506ff. 50 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189. 51 Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, S. 508.
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dem sich die Verfassung zu orientieren hat. Vielleicht ist diese Rückverschiebung des Interesses Smends von der starren Rechtsordnung des Grundgesetzes auf den staatlichen Lebensprozeß Ausdruck der sich in den fünfziger Jahren festigenden Staatlichkeit der Bundesrepublik, für die im Jahre 1952 noch vieles offen war. Überspitzt ließe sich sagen, Smend habe die ursprüngliche Integrationslehre für die Bundesrepublik restauriert. Feststeht, daß es auch schon im Gutachten des Jahres 1952 Elemente gibt, die Kontinuität im Denken Smends anzeigen. Smends normativem Umgang mit dem Grundgesetz liegt, im Text des Gutachtens nur andeutungsweise in den zitierten Passagen erkennbar, eine Analyse der politischen Wirklichkeit vor und nach Inkrafttreten des Grundgesetzes zugrunde. Hiermit bleibt Smend seiner Grundanschauung treu, die schon seit den Arbeiten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg festgestellt werden konnte, nämlich das Staatsrecht nicht als reine Sollensordnung zu interpretieren, sondern im Hinblick auf die staatlichpolitische Wirklichkeit, der verfassungsrechtliche Relevanz zugebilligt wird. Das wird nur scheinbar dadurch verdeckt, daß diese Methode jetzt dazu führt — anders als unter den Verfassungen der Jahre 1871 und 1919 — mit dem Wortlaut der Verfassung zu argumentieren. Paradoxerweise ist die tiefere Begründung für die normative Behandlung des Grundgesetzes nach wie vor nichtnormativer A r t 5 2 ; es handelt sich um die besonderen Entstehungsbedingungen des Grundgesetzes. Ein weiterer Gesichtspunkt zeigt ebenfalls ein Moment der Kontinuität zur Integrationslehre der zwanziger Jahre. Smend sieht die Wiederbewaffung als ein grundlegendes politisches Problem an, läßt sich aber mit keinem Wort auf die damalig umstrittene Frage ein, ob der Streit auch typisch verfassungsrechtlicher Natur und damit für das Bundesverfassungsgericht ohne weiteres justiziabel sei. Das wird von Smend als offenbar selbstverständlich vorausgesetzt und ist damit Ausdruck des integrationstheoretischen Verfassungsverständnisses, für das die Verfassung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem politischen Prozeß steht. Insgesamt betrachtet lassen sich bestimmte Grundbedingungen erkennen, die für den Umgang mit der Integrationslehre unter dem Grundgesetz — zumindest 52 Das bestätigt der Blick auf eine wichtige staatskirchenrechtliche Arbeit Smends aus der gleichen Zeit (Smend, Staat und Kirche, S. 411 ff.), die eine umfassende Diskussion des Verhältnisses von Staat und Kirche unter dem Grundgesetz auslöste. Smend kritisiert den Art. 140 GG, der die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz übernimmt, als „notgedrungene Kompromißformel" (a.a.O., S. 411), als „Verlegenheitsergebnis verfassunggebender Parlamentsarbeit" (a.a.O., S. 418). Die daran anschließende berühmte These, es sei nicht dasselbe, wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagten (a.a.O., S. 411), begründet Smend ebenfalls, in dieser Arbeit ausdrücklich, mit nichtnormativen Erwägungen: Das tatsächliche Verhältnis von Staat und Kirche sei im Verlauf der Ereignisse dieses Jahrhunderts in eine neue, andersartige Phase eingetreten und „nur der Bonner Gesetzgeber" habe es „nicht bemerkt" (a.a.O., S. 411). An seiner Stelle muß der Verfassungsjurist die Wandlungen in der Bedeutung der staatskirchenrechtlichen Grundordnung mit dem unveränderten Verfassungstext in Einklang bringen.
16 Korioth
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
in den Anfangstagen der Bundesrepublik — ausschlaggebend sind und so auch für die Smend-Rezeption Beachtung verdienen. Bonn ist nicht Weimar — das gilt offenbar auch für die Integrationslehre. Die offene Frage läßt sich so formulieren: Welche Elemente sind an der Integrationslehre möglicherweise doch zeitgebunden, auf die besondere Situation der Weimarer Republik und ihrer Verfassung zugeschnitten und deshalb unter dem Grundgesetz zumindest zu überprüfen? Was wiederum ist für die juristische Bewältigung der Verfassungsordnung des neuen deutschen Teilstaates attraktiv an der Lehre Smends gewesen? Smend selbst hat auf die Frage der Zeitgebundenheit seiner Integrationslehre keine klare Antwort gegeben. Einerseits findet sich die Feststellung, die Integrationslehre habe in einer Zeit der Krise den eigentlichen Sinn der Weimarer Verfassung zu bestimmen versucht 53 . Deutet dies auf eine gewisse Zeitgebundenheit der Lehre hin, so heißt es an anderer Stelle, geschrieben 1956, daß nach der erzwungenen Pause während des Dritten Reiches die Auseinandersetzung um die Integrationslehre in Deutschland „im Flusse" sei und „zu entsprechender Fortbildung der Integrationslehre führen" 5 4 werde. Im Jahre 1975 schloß Smend sogar seine letzte zusammenfassende Äußerung zur Integrationslehre mit der in die Zukunft blickenden Einschätzung, man werde in der Auseinandersetzung von Verfassungsrechtslehre und Sozialwissenschaft „an den Argumenten der Integrationslehre nicht ganz vorbeigehen können" 5 5 . Im Anschluß daran läßt sich die Frage nach dem zeitlichen Bezug der Integrationslehre auch dahingehend stellen, ob nach 1945 eine Verfassungstheorie und Staatstheorie sich hat herausbilden können, die unmittelbar an Smend anknüpft. b) Die Ausgangslage der Staatsrechtslehre nach 1945
Die Ausgangsposition für eine Smend-Rezeption war günstig. Das zeigt ein Vergleich der Ausgangslagen, in denen sich die Staatsrechtslehre nach 1918 und 1945 jeweils befanden. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war die methodische Herrschaft des staatsrechtlichen Positivismus für eine kurze Zeit noch ungebrochen 56 . Der Wechsel der Verfassung und der Übergang von der Monarchie zum demokratischen Staat schien zunächst keine grundsätzlich neue Behandlungsweise des neuen Rechtsstoffes zu verlangen. Die ersten Kommentierungen und Bearbeitungen des neuen Verfassungsgesetzes stammten von bereits im Kaiserreich hervorgetretenen Autoren, welche die bewährte Methode zugrundelegten 57. 53 54 55 56 57
Smend, Art. Integration, EvStL, 2. Auflage, Sp. 1025 f. Smend, Art. Integrationslehre, S. 481. Smend, Art. Integration, EvStL, 2. Auflage, Sp. 1027. Vgl. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 22. Vgl. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 24, 27.
II. Eine Arbeit Smends zum Grundgesetz
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Erst ab Mitte der zwanziger Jahre, vollends nach Erscheinen der Allgemeinen Staatslehre Kelsens im Jahre 1925, die eine in sich geschlossene Darstellung der Staatslehre als reiner Normwissenschaft bot, brach im „Methoden- und Richtungsstreit" 58 die antipositivistische Richtung hervor 59 , repräsentiert vor allem durch Smend, Erich Kaufmann, Hermann Heller und Carl Schmitt. Bereits vor 1930 hatte die neue Lehre — in sich nur in der Opposition gegen die alte Methode einig — ihre wichtigsten Ansätze und Schriften hervorgebracht. In den Folgejahren bis zum Ende der ersten Republik, in die mit dem „Handbuch des Deutschen Staatsrechts", 1930 bis 1932 von Gerhard Anschütz und Richard Thoma herausgegeben, noch einmal eine geschlossene Darstellung des geltenden Rechts aus positivistischer Grundlegung fiel, kühlte sich der Methodenstreit bereits wieder ab. Für das geltende Staatsrecht blieben die neuen Lehren — am Beispiel der Bundestreue wurde dies bereits erwähnt 60 — weitgehend folgenlos 6 1 . In diesem Zusammenhang der Weimarer Diskussion erscheint Smends „Verfassung und Verfassungsrecht" als vorrangig oppositionelle Schrift, deren Grundhaltung die polemische Ausrichtung an den bestehenden Denkmustern war. Das mag auch den charakteristischen Zug der Smendschen Hauptschrift erklären, der darin liegt, aus dem Schlüsselbegriff der Integration eine neue Verfassungslehre zu entwickeln, zugleich aber ihre Brauchbarkeit für die gesamten Probleme des Staatsrechts mehr zu behaupten als im einzelnen darzutun. Mit der bekämpften positivistischen Lehre teilte Smend aber immerhin noch die Fixierung auf die juristische Begriffs- und Systembildung 62 , wenngleich der damit verbundene Anspruch — am Beispiel der Bundestreue konnte es gezeigt werden — von der Integrationslehre nicht eingelöst wurde. Nach 1945 entfiel dagegen die Notwendigkeit, gegen eine etablierte wissenschaftliche Methode mit einer methodisch neufundierten, komplexen Ausarbeitung der Sachprobleme anzugehen. Die Frühzeit der bundesrepublikanischen 58 Die Bezeichnung „Richtungsstreit" findet sich bei Smend, FS Scheuner, S. 578; vorsichtige Zustimmung zu dieser Terminologie äußert M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 208 ff. Ursprünglich sprach Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 121, vom „Richtungsgegensatz". 59 Vgl. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 41 ff. 60 Vgl. oben, 2. Teil, IV. 4. e). 61 M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 199, 208 ff., will das karge Ergebnis des Methodenstreits vor allem damit erklären, daß, abgesehen von Kelsen, schon kaum mehr positivistische Gegner vorhanden gewesen seien. Das ist sicherlich nicht richtig. Schon die stürmisch verlaufenen Diskussionen während der Staatsrechtslehrertagungen belegen den Widerstand der positivistischen Gegner. Selbst wenn es diese Gegner tatsächlich nicht mehr gegeben haben sollte, wäre dies keine Erklärung für den mangelnden Ertrag der neuen Lehren. 62
Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 120; ferner ders., DJZ 1932, Sp. 124, wo Smend sein Wissenschaftsverständnis offenlegt: „Niemand zweifelt..., daß unser Staatsrecht lebt und sich wandelt in den Denkformen der gelehrten Theorie und im Wandel dieser Denkformen". 16*
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Staatsrechtslehre ist die Zeit der fast einhelligen und „summarischen Diskreditierung des Positivismus" 63 . Riezler klagte im Jahre 1951: „Unter den Juristen schwimmt der Positivist heute gegen den Strom. Zugleich gilt er vielen als ein minderwertiges Mitglied seiner Zunft" 6 4 . Eine Wiederholung oder Weiterführung des Methodenstreits der zwanziger Jahre fand nicht statt. Was die heftigen Angriffe der staatsrechtlichen Neuerer der zwanziger Jahre nicht erreicht hatten, gelang der unmittelbar nach 1945 vorgetragenen These, die positivistische Fixierung und Verblendung der deutschen Juristen habe die legale Überwältigung des Staates durch das nationalsozialistische Unrechtsregime mitermöglicht 6 5 ; formales Staats- und Verfassungsverständnis habe den Problemen am Ende der Weimarer Republik hilflos gegenübergestanden. Es kann hier dahinstehen, ob dieser schwere Schuldvorwurf tatsächlich berechtigt war 6 6 . Entscheidend ist, daß diese Auffassung nach 1945, nachdem das juristische Denken durch die Tatsache, daß Hitler die Macht ergreifen konnte, erschüttert worden war, allgemeine Zustimmung fand und deshalb der Positivismus restlos erledigt schien. In dieser Situation mußte die Staatsrechtslehre nach anderen Orientierungen suchen 67 . Weil die nach 1945 einsetzende Naturrechtsrenaissance 68 nur eine kurze Episode darstellen konnte 6 9 , blieben als Anknüpfungspunkte die antipo63 Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 37; ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 35: „Positivismus ist eine Art von Schimpfwort geworden." Schnur, DVB1. 1960, S. 123, sprach von der „Jagd auf den Positivismus". Siehe auch Tsatsos, S. 25. 64 Riezler, FS F. Schulz, Bd. 2, S. 330. 65 So insbesondere Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 352: „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ,Gesetz ist Gesetz4 den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen oder verbrecherischen Inhalts", ferner S. 354f.: „ . . . aber für alle möglichen Fälle haben wir uns durch die grundsätzliche Überwindung des Positivismus, der jegliche Abwehrfähigkeit gegen den Mißbrauch nationalsozialistischer Gesetzgebung entkräftete, gegen die Wiederkehr eines solchen Unrechtsstaates zu wappnen"; ferner Roemer, SJZ 1 (1946), S. 9. Kritisch Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 98 f.; Forsthoff, Die Problematik der Verfassungsauslegung, S. 35. 66 Ablehnend dazu, insbesondere in Auseinandersetzung mit den Thesen Radbruchs, Walther, KJ 21 (1988), S. 263 ff. 67 Bezeichnend ist die Bemerkung, mit der Walter Jellinek die Diskussion der Staatsrechtslehrertagung des Jahres 1951 beschloß: „Übrigens sollten wir einmal auf die Tagesordnung unserer Vereinigung die Frage setzen: Was ist Positivismus? mit der Unterfrage: Ist die Bezeichnung ,Positivist' eine Beleidigung?" (VVDStRL 10 (1951), S. 73). 68 Vgl. vor allem Süsterhenn, Die Kirche in der Welt 1 (1947), S. 55 ff.; ferner Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, S. 7: „Es ist auch verständlich, daß die Erschütterungen unserer Zeit (seil. 1947), wo sie nicht zu Verzweiflung und Skepsis gegenüber dem Recht überhaupt führen, zu naturrechtlichen Überzeugungen drängen; sie allein scheinen gegenüber den Ansprüchen der politischen Macht und der nackten Gewalt dem Recht einen Halt zu gewähren." Näheres zur Naturrechtsdiskussion findet sich bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 603 ff. 69
Vgl. Forsthoff, Zur heutigen Situation einer Verfassungslehre, S. 223; Schnur, DVB1. 1960, S. 124. Siehe auch Karpen, JZ 1987, S. 441.
III. Auswirkungen der Integrationslehre
245
sitivistischen Neuerungsversuche der zwanziger Jahre. Dazu zählte vorrangig die Integrationslehre Smends, zumal Carl Schmitt wegen seiner Verbindung zum nationalsozialistischen Regime persönlichen und wissenschaftlichen Angriffen bis hin zur Diffamierung ausgesetzt war 7 0 , die Schriften Hermann Hellers, insbesondere die in den Niederlanden 1934 posthum erschienene Staatslehre, noch kaum Verbreitung gefunden hatten 71 , und Erich Kaufmann keinen in sich geschlossenen und griffigen Ansatz zur Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus entwickelt hatte. Zudem wurde die Frage der Mitverantwortung der Staatsrechtslehre für das Versagen des Weimarer Staates nach 1945 häufig holzschnittartig beantwortet: sie wurde danach entschieden, welcher Vertreter welcher Lehre sich wann mit den braunen Horden oder Machthabern eingelassen hatte. Unter diesem Gesichtspunkt gehörte Smend zu den Unschuldigen. Es gibt keine Zeile von ihm, die als Anbiederung oder als Apologie des Faschismus verstanden werden konnte. Angesichts der Diskreditierung des Positivismus stand Smends Lehre nach 1945 nicht mehr auf Seiten der Opposition gegen die überkommene Methode. Sie mußte jetzt vielmehr als Ausdruck derjenigen Kritik der Unzulänglichkeiten positivistischer Staats- und Verfassungslehre erscheinen, deren Berechtigung sich nach den Erfahrungen mit dem Dritten Reich bestätigt hatte 72 . Das alles beschreibt aber nur die Ausgangslage, die eine Rezeption Smends nach 1945 begünstigen konnte, keineswegs zwangsläufig aber begünstigen mußte. Soweit sich ein Einfluß Smends auf die bundesrepublikanische Staatsrechtslehre und die Verfassungsrechtsprechung nachweisen läßt, wird jeweils weiter zu fragen sein, aus welchen inhaltlichen Gründen Elemente der Integrationslehre beachtenswert und in der verfassungsrechtlichen Diskussion unter dem Grundgesetz attraktiv erschienen. I I I . Auswirkungen der Integrationslehre auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Verfassungsgerichtsbarkeit und Staatsrechtslehre Im folgenden soll zunächst die Rezeption Smends in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet des Bundesstaatsrechts verfolgt 70 Vgl. V. Neumann, Der Staat im Bürgerkrieg, S. 201. Repräsentativ ist Erich Kaufmanns Brief an Forsthoff, Carl Schmitt und seine Schule (in: Deutsche Rundschau 84 (1958), S. 1013 ff). Dort heißt es, „daß die große Leuchtkraft von Carl Schmitt die schimmernde und flimmernde Leuchtkraft eines Irrlichtes war, das die, die ihm folgten, in den Sumpf des Nihilismus und seiner Spielart des Nationalsozialismus geführt hat" (a.a.O., S. 1015). 71 Vgl. Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 9, 12; Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, S. 10. 72 So heißt es bei Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 6 Fn. 6: „Zur Kritik von Formalismus und Positivismus ist bereits während der Weimarer Zeit alles Notwendige gesagt worden." Hesse verweist dabei unter anderem auf Smend.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
werden. Diese Voranstellung der Verfassungsrechtsprechung hat ihren besonderen Grund. Die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit verschiebt die Gewichtsverteilung der staatlichen Organe und Gewalten durch Einfügung eines justiziellen Elements als Verfassungsorgan in die verfassungsmäßige Ordnung 73 . Indem das Verfassungsgericht im Streitfall den Inhalt der Verfassungsnormen autoritativ feststellt, bringt es die Maßstäbe und Anforderungen des Verfassungsrechts insbesondere gegen Gesetzgeber und Regierung und deren politische Entscheidungen zur Geltung. Schon zu Beginn seiner Rechtsprechung, im Urteil vom 20. März 1952 zum Umfang des richterlichen Prüfungsrechts, hat das Bundesverfassungsgericht seine Aufgabe dahingehend beschrieben, „Hüter der Verfassung" 74 zu sein und damit eine Stellung für sich in Anspruch genommen, die in der Weimarer Republik von Carl Schmitt charakteristischerweise noch dem Reichspräsidenten, einer politischen Instanz, zugesprochen worden war 7 5 . Die Existenz der Verfassungsgerichtsbarkeit verändert aber auch die Bedingungen, unter denen sich die Dogmatik des Verfassungsrechts entfaltet 76 . Staatsrechtliche Meinungsbildung vollzieht sich nicht mehr nur innerhalb der Staatsrechtslehre, sondern zugleich in der Fallpraxis der Gerichtsbarkeit. Das Verfassungsgericht wirkt rechtsbildend, weil es die ihm vorgegebenen Rechtssätze der Verfassung nach den Grundsätzen der juristischen Begründung und Argumentation auslegt. Die Wechselwirkung von Theorie und Praxis des Staatsrechts beruht darauf, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Entscheidung des Einzelfalles auf dogmatische Lösungsversuche der Literatur zurückgreifen kann, während die Rechtslehre in eine engere Beziehung zur Praxis rückt 7 7 . Ihr Gegenstand sind nicht mehr allein die Interpretation der Normen, die Arbeit an dogmatischen Theorien und Begriffsbildungen. Es kommt hinzu, 73 Leibholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, S. 172, hat von einer „Machtkonzentration" beim Bundesverfassungsgericht gesprochen; zum ersten Mal im deutschen Verfassungsleben sei „die rechtsprechende Gewalt zu einer den anderen ebenbürtigen Gewalt, d.h. einer echten Dritten Gewalt geworden", vgl. auch ebenda, S. 174. — Demgegenüber wächst seit geraumer Zeit das Unbehagen an der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts als eines den politischen Gewalten zur Seite tretenden justiziellen Organs, zur Kritik insbesondere Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 101 ff., 132ff.; ders., Das Bundesverfassungsgericht, S. 230, S. 23: „Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner Funktion materiell ein Gericht... Es ist zusätzlich nicht noch etwas anderes". 74
BVerfGE 1, 184 (195, 197). C. Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 69ff., 74, 98; ders., Der Hüter der Verfassung, S. 132ff. Dem liegt die These Schmitts zugrunde, Hüter der Verfassung könne nur eine hochpolitische Instanz mit besonders intensiver politischer Kraft sein. Wolle dies ein Gericht sein, übe es nicht mehr Gerichtsbarkeit aus, sondern Gesetzgebung in Form eines justizförmigen Verfahrens. Im Kaiserreich hatte Laband 11(4. Auflage), S. 46, den Begriff des „Hüters der Verfassung" verwendet, um die Zuständigkeit des Kaisers zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der von ihm auszufertigenden Gesetze zu begründen und das materielle richterliche Prüfungsrecht abzulehnen. 75
76
Vgl. Schnur, DVB1. 1960, S. 123; Bryde, S. 108 ff.
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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daß sie zur kritischen Begleitung der Anwendung des Verfassungsrechts in der konkreten Streitentscheidung durch das Verfassungsgericht aufgerufen ist. Durch die gerichtliche Praxis des Verfassungsrechts erhält dessen wissenschaftliche Theorie eine neue Ausrichtung. Dabei scheint sich im Laufe der Entwicklung in der Bundesrepublik ein Vorrang der Verfassungsrechtsprechung bei der Herausbildung dessen, was als herrschende Meinung zu einzelnen verfassungsrechtlichen Problemen bezeichnet werden kann, herausgebildet zu haben 78 . Schon 1962 konnte Smend feststellen, das Grundgesetz gelte „praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt" 79 . Das beschreibt die veränderte Ausgangslage der Verfassungsrechtswissenschaft. Sie mag die Rechtsprechung kritisieren, bedauern, abweichende Auffassungen entwickeln oder weiterhin vertreten, die Autorität des Bundesverfassungsgerichts, mit letzter rechtlicher Verbindlichkeit die ihm zur Beurteilung zugewiesenen Streitigkeiten zu entscheiden, die weitgehenden Befugnisse des Gerichts bis hin zur Möglichkeit, die Nichtigkeit eines förmlichen Gesetzes mit Gesetzeskraft festzustellen und andere Staatsorgane nach § 31 I BVerfGG an seine Entscheidung, sowohl an den Tenor als auch die tragenden Gründe 80 , zu binden, schaffen Tatsachen, an denen die Staatsrechtslehre nicht vorbeigehen kann. Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben eine in die Zukunft weisende Bedeutung, die über die Entscheidung des einzelnen Falles hinausgeht 81 . Dieses Gewicht des Gerichts bringt die Verfassungsrechtswissenschaft in die Gefahr, in die Rolle des Kommentators gedrängt zu werden, der zwar Entscheidungen verallgemeinert und in einen systematischen Zusammenhang einordnet 82 , an Eigenständigkeit und Bemühen um theoretische Grundlegung aber einbüßt. 77
Zu ersterem Starck, Das Bundesverfassungsgericht im politischen Prozeß, S. 12; zu letzterem Schlink, Der Staat 19 (1980), S. 73, 76, 107. 78 Vgl. Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 16: „Die Existenz von Verfassungsgerichtsbarkeit hat qualitative Auswirkungen auf die Verfassungsinterpretation. Es kommt praktisch zu einer Art Führungsstellung des Verfassungsgerichts in der,Sache Verfassungsinterpretation 4 — aber nicht zu einem Monopol!". Das Bundesverfassungsgericht hat für sich selbst eine Vorrangstellung bei der Verfassungsentwicklung in Anspruch genommen: Verfassungsfortbildung sei „in erster Linie" Sache des Verfassungsgerichts, BVerfGE 6, 222 (240). Vorsichtiger jetzt BVerfGE 62, 1 (2, 38 f.). 79 Smend, Das Bundesverfassungsgericht, S. 582. 80 Vgl. vor allem das Grundvertragsurteil (BVerfGE 36, 1 ff.), in dem der Umfang der Bindung an die Gründe in der Entscheidungsformel ausdrücklich festgelegt wird, BVerfGE 36, 1 (3). Zur Bindungswirkung der „tragenden Gründe" siehe auch Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 236ff.; Bryde, S. 413 ff. 81 Dazu auch die prägnante dreifache Funktionsbestimmung der Verfassungsgerichtsbarkeit bei Lerche, DVB1. 1961, S. 700f.: Neben die streitschlichtende trete die rechtserklärende Funktion, bei der es um Klarstellung der Rechtslage für die Zukunft gehe. Die dritte Funktion liegt für Lerche in der Normverwirklichung; bei ihr liegt der Akzent auf der Anwendung und Durchsetzung des Verfassungsrechts im Einzelfall. 82 Vgl. Schlink, NJW 1989, S. 16: „Unter dem Bundesverfassungsgerichtspositivismus, der an die Stelle früherer Rechts- und Gesetzespositivismen getreten ist, werden die Entscheidungen des BVerfG akzeptiert und mittels einer harmonisierenden und ziselieren-
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Eine Untersuchung der Smend-Rezeption nach 1945 kann angesichts dieser Lage die Verfassungsrechtsprechung voranstellen. Die literarische Aufnahme Smendscher Lehren kann möglicherweise nicht nur eine direkte, sondern auch eine durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vermittelte sein. 2. Die Rezeption der Integrationslehre am Beispiel der Bundestreue In der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind es meist die im Wege der Verfassungsbeschwerde und der abstrakten Normenkontrolle entschiedenen Streitfalle, welche die größte Tragweite haben und auf das größte Interesse in der Öffentlichkeit stoßen. Das war im ersten Jahrzehnt des Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, bis hin zum sogenannten Neugliederungsurteil vom 11. Juli 1961 83 , anders. In diesem Zeitraum führten Auseinandersetzungen zwischen dem Bund und den Ländern zu den bedeutenden Verfassungsprozessen mit der größten öffentlichen Resonanz und leidenschaftlichen Beteiligung weiter Kreise 84 . Schon sechs Jahre nach der Errichtung des Gerichts konnte der Bundesverfassungsrichter Geiger feststellen, eines der zentralen Verfassungsprobleme, zu denen sich das Bundesverfassungsgericht „schon mehrfach grundsätzlich und in folgenreichen Thesen geäußert hat, bildet das bundesstaatliche Prinzip in seiner grundgesetzlichen Ausprägung" 85 . In der föderalen Rechtsprechung des ersten Jahrzehnts des Bundesverfassungsgerichts, später immer mehr abgeschwächt, hat die Argumentation mit dem Begriff der Bundestreue eine große Bedeutung erlangt. Schüle hat die Bundestreue als einen der „tragenden Pfeiler" 86 der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet und zu Recht festgestellt, sie bilde hier ein fundamentales Rechtsprinzip im Bereich der Beziehungen zwischen Bund und Ländern 87 . Die „unerwartete Aktualisierung und Ausdehnung" 88 dieses Rechtsprinzips überrascht auf dem Hintergrund der Tatsache, daß die Bundestreue im Staatsrecht des republikanischen Bundesstaates der Weimarer Republik eher ein Schattendasein führte. Im Zusammenhang der Überlegungen dazu, ob die in Smends Integrationslehre der Bundestreue gegebene Ausprägung ihren Niederden Kritik in ein kohärentes dogmatisches Korpus gearbeitet"; zu der damit verbundenen Veränderung der Stellung der Staatsrechtslehre ders., Der Staat 28 (1989), S. 161 ff., 168; siehe auch H.-P. Schneider, FS Zeidler I, S. 311. 83 BVerfGE 13, 54ff. 84 Vgl. Smend, Das Bundesverfassungsgericht, S. 587. 85 Geiger, BayVBl. 1957, S. 301. 86 Schüle, in: Bayer, S.V. Geiger, Treuepflicht, S. 117f., will dementsprechend dem Grundsatz eine „fundamentale, umfassende, das ganze Verfassungsleben tiefgreifend gestaltende Bedeutung" zumessen. 87 Der Bundesverfassungsrichter Geiger ist sogar soweit gegangen, der Bundestreue eine größere theoretische und praktische Bedeutung als dem föderalistischen Prinzip beizumessen (Geiger, Treuepflicht, S. 123). 88 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 121; vgl. auch Flemming, S. 174f.
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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schlag in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefunden hat, sind die Vorfragen zu berücksichtigen, ob für die Renaissance der Bundestreue Besonderheiten der bundesstaatlichen Struktur des Grundgesetzes und des richterlichen Umgangs mit der Verfassung ursächlich gewesen sind. a) Föderalismus und Grundgesetz
aa) Die Entwicklung
der Jahre 1945-1949
Das nationalsozialistische Regime hatte in knapp einem Jahr seiner Herrschaft den Weimarer bundesstaatlichen Aufbau zerstört und den Einheitsstaat verwirklicht. Das „Reichsstatthaltergesetz" vom 7. April 1933 ermächtigte zur Gleichschaltung der Länder durch Entsendung von Reichskommissaren als Ersatz für Landesregierungen nationalsozialistischer Zusammensetzung. Durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches" vom 30. Januar 1934 wurden die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich übertragen, die Volksvertretungen in den Ländern beseitigt und die Landesregierungen der Reichsregierung unterstellt. Den Schlußpunkt der Entwicklung setzte die Auflösung des Reichsrates mit dem Gesetz vom 14. Februar 1934 89 . Die Staatlichkeit der Länder war beseitigt, sie waren zu bloßen Selbstverwaltungsbezirken in einem dezentralisierten Einheitsstaat her abgesunken. In bewußter Abkehr von diesem einheitsstaatlichen Interim stand nach 1945 für alle politischen Kräfte fest, daß der künftige deutsche Staatsaufbau föderalistischen Charakter haben sollte 90 . Insbesondere in Süddeutschland hatte der Untergang des Dritten Reiches eine fast „eruptive Renaissance"91 des Föderalismus als politische Idee zur Folge. Man hegte die Hoffnung, das föderalistische Prinzip könne am besten in der Lage sein, die politischen, konfessionellen und sozialen Gegensätze des deutschen Volkes in einer demokratischen Verfassung zu überbrücken. So schrieb Hylander, der Gedanke der Freiheit verbinde Föderalismus und Demokratie: letztere sei die Freiheit von der Willkürherrschaft gesellschaftlicher Gruppen, Föderalismus bedeute Freiheit von Zentralismus und Machtmonopolismus 92 . Hylander hob auch das Merkmal hervor, das für das Verständnis und die positive Einschätzung des Föderalismus kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges typisch war: „Ein föderalistisch gegliedertes Deutschland mit selbständigen Gliedstaaten ist der Möglichkeit, Kriege zu führen, für immer beraubt. Ein zentralistisch regierter Einheitsstaat ist stets eine Gefahr für den Frieden" 93 . 89 Vgl. Deuerlein, Föderalismus, S. 196f.; Flemming, S. 127f.; Menger, Verfassungsgeschichte, Rn. 377. 90 Vgl. die Belege bei Flemming, S. 135ff.; ferner Menger, Verfassungsgeschichte, Rn. 402 ff. 91 Lindemann, Das antiquierte Grundgesetz, S. 43. 92 Hylander, Universalismus und Föderalismus, S. 71 f. 93 Hylander, Universalismus und Föderalismus, S. 72.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Das Frankfurter Dokument Nr. 1 der westlichen Alliierten verlangte von der einzuberufenden verfassunggebenden Versammlung die Ausarbeitung einer Verfassung föderalistischen Typs 94 . Ausschlaggebend hierfür war die Initiative des selbst streng zentralistischen Frankreich, das vor allem aufgrund machtpolitischer Befürchtungen Einwände gegen die Errichtung eines geschlossenen deutschen Staates geltend machte 95 . In den Beratungen des Parlamentarischen Rates über die bundesstaatliche Verfassungsgestaltung war der leitende Gesichtspunkt, die wirklichen oder vermeintlichen Fehler der Weimarer Verfassung, die eine Entwicklung zum „Parteienbundesstaat" begünstigt hatten, zu vermeiden. So überrascht es kaum, daß bei keinem anderen Teil der Grundgesetzgebung Vorurteile und historische Reminiszenzen eine so große Rolle spielen konnten wie bei den Bestimmungen über den bundesstaatlichen Charakter des zu schaffenden Staates. Über seine Ausgestaltung im einzelnen bestanden allerdings mannigfache Meinungsunterschiede. Sie traten insbesondere bei den Beratungen über die Frage zutage, durch welche Ausgestaltung einer zweiten Kammer die Länder auf die Willensbildung des Bundes Einfluß nehmen sollten 96 . Die Militärgouverneure griffen wiederholt, offensichtlich unzufrieden mit dem Gang der kontroversen Diskussionen des Parlamentarischen Rates, in die Beratungen ein und verlangten einen streng föderalistischen Aufbau des zu schaffenden Staates97. Auch das Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zu dem beschlossenen Grundgesetz vom 12. Mai 1949 stellte in den Punkten 6 und 7 einige betont föderalistische Vorbehalte heraus 98 .
94
Vgl. Wagner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat I, S. 31; ferner Morsey, DÖV 1989, S. 472f. 95 Vgl. W. Weber, Fiktionen und Gefahren, S. 58; Grewe, Antinomien des Föderalismus, S. 27. Virally, Die internationale Verwaltung Deutschlands, S. 149 ff., beschreibt die ursprünglich noch weitergehenden Vorstellungen Frankreichs: Es befürwortete die Errichtung eines losen deutschen Staatenbundes, in dem die Gliedstaaten ihre sämtlichen Befugnisse bis auf diejenigen behalten sollten, die durch die Verfassung ausdrücklich dem Staatenbund übertragen wären. 96 Zum Gang der Beratungen und insbesondere der Alternative von „Senatslösung" und „Bundesratslösung" Deuerlein, Föderalismus, S. 258 f.; Flemming, S. 151 ff.; zu den politischen Hintergründen Morsey, DÖV 1989, S. 477 f. 97 Insbesondere das Memorandum vom 22. November 1948 enthielt entschiedene Anweisungen über die zu beachtenden Punkte: „.. .a) Ein Zweikammersystem, bei dem die eine Kammer die einzelnen Länder vertreten und genügend Befugnisse haben muß, um die Interessen der Länder wahren zu können; ... c) Die Befugnisse der Bundesregierung müssen auf diejenigen beschränkt sein, die in der Verfassung ausdrücklich aufgezählt sind und auf jeden Fall sich nicht erstrecken auf Erziehungswesen, kulturelle und kirchliche Angelegenheiten, Selbstverwaltung und öffentliches Gesundheitswesen ... f) Die Befugnisse der Bundesregierung zur Schaffung von eigenen Bundesbehörden für die Ausführung der Verwaltung ihrer Aufgabenbereiche müssen klar umrissen und auf diejenigen Gebiete beschränkt sein, bei denen die Verwaltung durch Landesbehörden offensichtlich untunlich ist" (zitiert nach Deuerlein, Föderalismus, S. 258).
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Das belegt den Versuch, in der Gewichtsverteilung zwischen Bund und Ländern hinter die Entwicklung Weimars zurückzugehen, die Zentralgewalt in engen Grenzen zu halten und die Länder durch Übertragung wichtiger Staatsaufgaben nach Möglichkeit wieder aufzuwerten". Schon in der gewählten Staatsbezeichnung „Bundesrepublik" kommt neben dem republikanischen Element das bundesmäßige, betont föderalistische zum Ausdruck 1 0 0 . Von den tragenden Verfassungsgrundsätzen ist das bundesstaatliche Prinzip am nachhaltigsten akzentuiert. Das Wort „Bund" kommt in Art. 20 I GG gleich in doppelter Verwendung vor: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat". Schließlich hielt der Grundgesetzgeber das bundesstaatliche Prinzip für so wichtig, daß er „die Gliederung des Bundes in Länder (und) die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung" jeder Verfassungsänderung entzog (Art. 79 I I I GG). Das erweckt den Anschein eines ursprünglichen und fundamental begründeten Föderalismus, an den das Rechtsprinzip der Bundestreue nahezu nahtlos anknüpfen könnte. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, daß es die von 1945 bis 1947 entstandenen Länder waren, aus denen die Bundesrepublik hervorwuchs — der Parlamentarische Rat wurde von den Landtagen der beteiligten Länder gewählt; das Grundgesetz konnte nach Art. 144 I GG erst nach „Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder" in Kraft treten. Die Länder übten also maßgebende Funktionen bei der Verfassungsgebung aus. Schließlich bringen alle Verfassungen der Länder, die vor 1949 entworfen und angenommen wurden, den Willen zum Ausdruck, das Land wolle künftig Teil eines deutschen Staatsgebildes sein 101 . Trotz dieser bündischen Proklamationen und Ansätze sind aber andere Verfassungsgrundlagen und Verfassungsentscheidungen maßgebend. Das Grundgesetz ist das Produkt einer einheitsstaatlichen Verfassungsgebung. Der Parlamentarische Rat betrachtete sich als Beauftragter des gesamten deutschen Volkes. Die Präambel des Grundgesetzes beruft sich auf die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, also auf eine gesamtstaatliche Legitimation. „Das Bonner Grundgesetz ist damit im Entstehungsakt von bündisch-vertraglicher 98 „.. .6. Wir sind fünftens der Auffassung, daß Artikel 84, Absatz 5, und Artikel 87, Absatz 3, dem Bund sehr weitgehende Befugnisse auf dem Gebiet der Verwaltung geben. Die Hohen Kommissare werden der Ausübung dieser Befugnisse sorgfaltige Beachtung schenken müssen, um sicherzustellen, daß sie nicht zu einer übermäßigen Machtkonzentration führen" (VOB1. BZ 1949, S. 416). Der weitere Vorbehalt der Nr. 7 betraf die Auslegung des Art. 72 I I GG. 99
Vgl. Bayer, S. 21 f.; Menger, Verfassungsgeschichte, Rn. 420. Aufschlußreich dazu sind die Beratungen des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates am 6. Oktober 1948, wiedergegeben in: JöR n.F. 1 (1951), S. 17f. 101 Noch weitergehend war der Anspruch einiger früher Landesverfassungen, etwa der Bayerns von 1946 (Art. 178) und der Badens von 1947 (Art. 50,52), die auf den Neuaufbau Deutschlands duch Bundesvertrag abzielten. 100
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Fundierung nicht weniger weit entfernt als die Verfassung von Weimar" 1 0 2 . Das belegte vor allem Art. 29 GG a.F., der mit seinem bindenden Auftrag zur Neugliederung des Bundes durch Bundesgesetz die Länder von vornherein zur Disposition stellte 103 . Auch die in dieser Vorschrift aufgezählten Gesichtspunkte der durchzuführenden Neugliederung sind aufschlußreich. Neben den föderalistischen Gesichtspunkten der landsmannschaftlichen Verbundenheit und der geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge sollten die „wirtschaftliche Zweckmäßigkeit" und das „soziale Gefüge" maßgebend sein. Hier geht es nicht mehr um historische, eigenständige Staatlichkeit der Länder, sondern die Existenz und Gestaltung der Länder wird nach ihrer verwaltungsmäßigen Zweckmäßigkeit eingestuft. Dem Status, der Hugo Preuß 1919 als Stellung der Länder vorschwebte, nämlich der Status „höchstpotenzierter Selbstverwaltungskörperschaften" 104 in Analogie zum Verhältnis von Staat und Gemeinde, hat sich das Grundgesetz mit der Disponibilität der Länder angenähert 105 . Das ist eine folgerichtige Konsequenz der Tatsache, daß die nach 1945 entstandenen Länder — von den Hansestädten und Bayern abgesehen — in ihrer gebietsmäßigen Gestaltung Schöpfungen der Besatzungsmächte waren, nicht aber historisch gewachsene Staatswesen. „ I n der Tat, der Versuch, einen echten Bundesstaat zu begründen, mußte schon an den Voraussetzungen, nämlich am Fehlen wirklicher Staaten als des Substrats eines Bundes ... scheitern" 106 . Auch die Einführung einer Auftragsverwaltung der Länder für den Bund, historisch ohne Vorbild, ist ein Beleg für die labile staatsrechtliche Stellung der Länder. Dieser 102 ψ Weber> Fiktionen und Gefahren, S. 61; vgl. auch Rudolf, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 235. Demgegenüber entdeckt Bayer, S. 22, bündische Züge des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hat sich im sog. Konkordatsurteil (BVerfGE 6, 309 ff.) mit der Entstehung des Bundesstaates des Grundgesetzes auseinandergesetzt. Der These bündischer Entstehung wird im Ergebnis eine klare Absage erteilt. Zwar bestanden die Länder zeitlich vor dem Bund, so daß der Grundgesetzgeber vor die vollendete Tatsache des politischen Gewichts der Länder gestellt war, aber eine Abhängigkeit des Bundes von den Ländern, die aus den Gründungsvorgängen der Bundesrepublik hergeleitet werden könnte, gebe es nicht, BVerfGE 6, 309 (360); vgl. auch Geiger, BayVBl. 1957, S. 301. 103
Das Bundesverfassungsgericht hat zur Frage nach der „labilen" oder „stabilen" Struktur des Bundesstaates des Grundgesetzes bereits im Südweststaats-Urteil vom 23. Oktober 1951 festgestellt, das Grundgesetz habe sich zum „labilen Bundesstaat" im Sinne von Thoma bekannt, BVerfGE 1, 14 (48). Später erfolgte die Klarstellung, daß die Labilität nur die Existenz und den Gebietsbestand der einzelnen Länder betreffe, die Beseitigung der bundesstaatlichen Struktur dagegen ausgeschlossen sei, BVerfGE 5, 34 (38). 104 Vgl. Anschütz, Kommentar, Einleitung, S. 17. 105 K. Schmid, DÖV 1949, S. 204, bezeichnete die Länder dementsprechend als „mehr oder weniger autonome Gebietskörperschaften". Anders Rudolf, Bund und Länder im aktuellen deutschen Verfassungsrecht, S. 8, der Art. 29 GG als Bestätigung für einen „stabilen und zugleich dynamischen Bundesstaat" deutet, der Entwicklungsmöglichkeiten hin zu starken und ausgewogenen Ländern offenhält. 106 ψ Weber, Fiktionen und Gefahren, S. 60. Kritisch Rudolf, Bund und Länder im aktuellen deutschen Verfassungsrecht, S. 5 ff.
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neue Verwaltungstyp teilt ihre Verwaltungsaufgaben, entsprechend der Einordnung der Gemeinden in die staatliche Verwaltung, in eigene und übertragene und modifiziert dadurch einen der überkommenen Grundsätze des deutschen Bundesstaates, wonach die Exekutive, soweit sie Sache der Länder ist, von ihnen in eigener Verantwortung geführt wird, auch soweit sie bundesgesetzlich gestellte Aufgaben ausführt 107 . bb) Die Bundesstaatlichkeit
im Spiegel der Staatsrechtslehre
Werner Weber hat in einer Untersuchung über „Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem" daraus die Folgerung gezogen, der Föderalismus des Grundgesetzes sei nur fiktiv, ebenso wie die Staatlichkeit der dem Besatzungsregime entstammenden Länder eine bloß fiktive Größe sei 108 . Nur im Rahmen des Als-Ob-Föderalismus habe das Grundgesetz das Verfassungssystem mit föderalistischen Elementen durchdrungen, weil es von den Besatzungsmächten so gefordert worden sei. In diese quasi-föderalistischen Einflußmöglichkeiten drängten nicht nur echt föderalistische Kräfte, sondern auch andere politische Interessenten. Manche Befürworter der Föderativverfassung hätten diese nur als zusätzliches Mittel der Gewaltenteilung begrüßt. „Aus prinzipiellem Mißtrauen gegen den Staat an sich ist ihnen die föderalistische Ordnung wegen ihrer zernierenden Wirkung ... willkommen" 1 0 9 . Das Ergebnis seiner Untersuchungen zu einzelnen föderalistischen Elementen des Grundgesetzes faßt Weber so zusammen: „ I m ganzen ein verwirrendes Bild, das der konstruierte Föderalismus des Grundgesetzes bietet ... Das Grundgesetz schwankt zwischen Konzessionen an die Forderungen der Besatzungsmächte, eigener Anerkennung maßvoll föderalistischer Konstruktionsgedanken und der Einsicht, daß es im Grunde einen Atavismus bedeutet, das heutige, kleingewordene Deutschland als einen Bund von Staaten zu begreifen. Im Ergebnis hat es den Ländern die Rolle von Verwaltungseinheiten ... zugewiesen ... Was das Grundgesetz sonst an wiederbelebten föderalistischen Einrichtungen aufweist, kommt weniger echt föderalistischen Kräften und Anliegen als dem Gewaltenteilungsprinzip an sich, den parteipolitischen Gruppen... und der Verwaltungsbürokratie zugute" 1 1 0 .
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Die unitarisch ausgestaltete Weimarer Verfassung kannte nicht einmal ein den Befugnissen des Art. 84 I GG entsprechendes Ingerenzrecht des Reiches in die Organisations- und Verfahrenshoheit der Länder. Soweit die Ausführung von Reichsgesetzen den Ländern oblag, konnte das Reich nach Art. 15 I I WRV lediglich „allgemeine Anweisungen" den Landesbehörden erteilen. los ψ w eber, Fiktionen und Gefahren, S. 63. Maßstab ist für Weber dabei, ohne daß er es deutlich ausspricht, Carl Schmitts Kriterium des Bundes in der Verfassungslehre des Bundes (C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 363 ff.). 109 W. Weber, Fiktionen und Gefahren, S. 63. 110 W. Weber, Fiktionen und Gefahren, S. 82.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Diese Kritik aus dem Jahre 1951 ist charakteristisch für einen Wandel in der Einschätzung des bundesstaatlichen Gedankens. Galt in den ersten Jahren nach 1945 der Föderalismus als eines der zukunftweisenden politischen Prinzipien, zumal es durch die Jahre des Dritten Reiches nicht diskreditiert war, so griff nach Inkrafttreten des Grundgesetzes in der staatsrechtlichen und politischen Einschätzung des Sinnes und der Zweckmäßigkeit bundesstaatlicher Ordnung eher Nüchternheit Platz. Das Unbehagen der Staatsrechtslehre äußerte sich, von der mehr grundsätzlichen Kritik an der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes abgesehen111, vor allem in der Beurteilung des Bundesrates und des ursprünglichen Systems des Finanzausgleichs im Grundgesetz 112 . Fast schon eine Bilanz der Ernüchterung und der Versuch eines Neubeginns ist die Schrift Konrad Hesses über den unitarischen Bundesstaat aus dem Jahre 1962. Die grundsätzliche Frage nach Sinn, Wesen und Aufgabe des heutigen Bundesstaates ist für Hesse hier in der bisherigen Entwicklung der Bundesrepublik ohne Antwort geblieben 113 . Es gebe „eine Fülle von scharfsinnigen und sorgfaltigen Erörterungen bundesstaatsrechtlicher Einzelfragen", aber „nirgends eine Bundesstaatslehre" 114. Gerade die aber sei gefordert, weil nur eine adäquate Bundesstaatslehre ein befriedigendes Verständnis der Institute der bundesstaatlichen Ordnung und ihrer Verfassungssätze ermögliche. Dabei verbiete sich ein Rückgriff auf ältere Theorien des Bundesstaates von Laband bis Smend. „Denn ebenso wie die Wirklichkeit des Bundesstaates ist das bundesstaatliche Prinzip, das sich ja nicht von dieser Wirklichkeit ablösen läßt, etwas Geschichtliches" 115 . Die Wirklichkeit der Bundesrepublik besteht für Hesse aber in einem Schwund der Gehalte überkommener Bundesstaatlichkeit mangels echter historisch gewachsener Staatlichkeit der Länder. Stattdessen machten sich unitarisierende Momente geltend, von denen Hesse die Parteien, die Ausschöpfung der legislativen und exekutivischen Kompetenzen des Bundes und die Selbstkoordinierung der Länder nennt. Charakteristischerweise kann es von dieser Grundlage aus auch Hesse nicht gelingen, das Vakuum um das bundesstaatliche Prinzip mit einer spezifisch bundesstaatlichen Theorie zu füllen. Das Wesen bundesstaatlicher Ordnung liegt für Hesse nicht mehr im Bereich föderalistischer Ideen. Der „Föderalismus als integrierendes Prinzip hat 111
Vgl. Herzog, JuS 1967, S. 195 ff. Vgl. Deuerlein, Föderalismus, S. 266. 113 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S.116. 114 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 116. Damit übereinstimmend Scheuner, DÖV 1962, S. 641; siehe auch Stern, Staatsrecht I, § 19 I 1 a (S. 647): Eine neue Bundesstaatstheorie jenseits der Begriffsjurisprudenz „beginnt sich erst abzuzeichnen". 115 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 119; ders., Grundzüge, Rn. 217. Siehe auch Scheuner, DÖV 1962, S. 641: „Der Bundesstaat ist dank seiner komplizierten Bauart und seiner engen Bindung an wandelbare geschichtliche Gegebenheiten ein Staatsgebilde, dessen Wesen und Eigenart immer nur am konkreten Einzelfall wirklich erfaßt werden kann"; ferner Herzog, JuS 1967, S. 193; Rudolf, Bund und Länder im aktuellen deutschen Verfassungsrecht, S. 9; Stern, Staatsrecht I, § 19 I 1 a (S. 648). 112
III. Auswirkungen der Integrationslehre
255
im nationalen Rahmen die Bedeutung einer geschichtswirksamen Kraft verloren" 116 . Funktion und Wesen der bundesstaatlichen Struktur lassen sich weitgehend nur noch aus dem engen Zusammenhang mit dem Prinzip der Gewaltenteilung erklären: die Ebene der Länder fügt in Verstärkung der horizontalen Gewaltenteilung und Abschwächung der unitarisierenden Tendenzen die vertikale Gewaltenteilung ein 1 1 7 . Für Hesse scheint der Bundesstaat damit in die Nähe eines Kunstgriffes zu rücken, mit dem die Verfassungsprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gefestigt werden können 1 1 8 . Hesses Schrift ist mit den hier nur grob skizzierten Grundgedanken durchaus repräsentativ für die Einschätzung der Bundesstaatlichkeit unter dem Grundgesetz 119 . Sein Leitbegriff des „unitarischen Bundesstaates" beherrschte die Diskussionen um die Wandlungen der bundesstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik in den letzten 25 Jahren, im Verlauf der Entwicklung ergänzt um die Begriffe des „kooperativen Föderalismus" und der „Politikverflechtung" 120 . Das, was die Weimarer Verfassung schon klar normierte, in der Staatsrechtslehre aber nur zögernd verarbeitet wurde 1 2 1 , kam in der Bundesrepublik in vollem Umfang zum Tragen: der Übergang der Bundesstaatlichkeit von einer historisch verwurzelten, von Stämmen und Dynastien geprägten Bundesstaatlichkeit mit erheblicher staatlicher Substanz der Einzelstaaten zu einem nüchternen verfassungsrechtlichen Organisationsprinzip. Daß die ursprünglichen Motive für die föderalistische Staatsstruktur, der Wunsch nach Beibehaltung der Monarchien trotz staatlicher Einigung und das Ziel der Erhaltung und Integration der historischen Staatsindividualitäten, weggefallen waren, mündete erst jetzt in die mit aller Deutlichkeit gestellte Frage, warum es notwendig oder jedenfalls sinnvoll sein konnte, den westdeutschen Staat als Bundesstaat zu organisieren. 116
Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 144; ders., Grundzüge, Rn. 220ff. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 139ff., zu den weiteren Wirkungen des bundesstaatlichen Aufbaues, S. 142 ff. Mit der gewaltenteilenden Wirkung der Bundesstaatlichkeit rechnet auch das Bundesverfassungsgericht, erstmals im 1. Fernsehurteil. Dort spricht es von der „Grundentscheidung der Verfassung... zugunsten des föderalistischen Staatsaufbaus im Interesse einer wirksamen Teilung der Gewalten", BVerfGE 12, 205 (229). Siehe auch W. Weber, Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus, S. 292f., 294; Stern, Staatsrecht I, § 1911 a (S. 647). Kritisch hierzu Scheuner, DÖV 1962, S. 645. 117
118
Zur Kritik Lerche, VVDStRL 21 (1964), S. 73f., 80ff. Als Beleg sei Herzog, JuS 1967, S. 194, angeführt: „Es ist kaum zu bezweifeln, daß die von Hesse vorgetragene Deutung des modernen Bundesstaates den Kern der Dinge weitgehend trifft 120 Vgl. E.-W. Böckenförde, FS Schäfer, S. 182 m.w.N. in Fn. 2 und 3; Schenke, JuS 1989, S. 698 ff. 121 Eine Ausnahme bildet hier insbesondere die Abhandlung von Thoma über das „Reich als Bundesstaat", in: HbdStR I, S. 169 ff., mit der Begriffsprägung des „labilen Bundesstaates" (a.a.O., S. 184). Daneben war vor allem die Verfassungslehre des Bundes von Carl Schmitt bedeutsam, innerhalb derer er das Deutsche Reich unter der Weimarer Verfassung als „Bundesstaat ohne bündische Grundlage" bezeichnete, C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389. 119
256
3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Dieses Bewußtwerden hängt mit der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zusammen. Die ersten Nachkriegsjahre hatten die Länder als Verwaltungseinheiten ohne nennenswerte Kontinuität zu den früheren Staaten hervorgebracht. Die teils von den Besatzungsmächten auferlegte, teils von den verfassungsberatenden Gremien gewollte Bundesstaatlichkeit mußte mit neuem Sinn erfüllt werden. „Wer heute für den Föderalismus eintritt, kann sich nicht mehr auf eine historische gliedstaatliche Eigenständigkeit und eine traditionsbegründete politische Besonderung der Bundesländer berufen, wie es bei der Reichsgründung 1871 natürlich und bei der Verfassungserneuerung 1919 noch möglich w a r " 1 2 2 . Das Problem der Integration von Ländern mit selbständiger historischpolitischer Individualität stellte sich nicht mehr 1 2 3 . Um so mehr überrascht die Wiederkehr der Bundestreue. Aus einer bündnismäßigen, historisch gewachsenen Bundesstaatlichkeit war sie nicht mehr herleitbar 124 . Vielleicht aber, so läßt sich vermuten, ist es gerade die besondere Entstehung des Grundgesetzes, verbunden mit dem Fehlen einer überzeugenden Theorie des Bundesstaates auf seinem Boden, was für den Juristen den atavistisch anmutenden Rückgriff auf das Prinzip der Bundestreue nahelegte, gleichsam als Brücke zum traditionellen Bestand des deutschen bundesstaatlichen Denkens 125 ; Lerche hat das einen „naturrechtlich beseligten Bundesmythos" 126 genannt. Bundestreue wäre dann ein teilweises Surrogat einer Theorie des Bundesstaates, deren Etablierung angesichts der Zementierung der Bundesstaatlichkeit durch Art. 79 I I I GG nicht zu umgehen war und ist. Vielleicht aber lag auch die Wiederbelebung der Bundestreue deshalb nahe, weil die damit verbundene Integrationslehre Smends — trotz der bereits geschilderten Zurückhaltung ihres Urhebers — als die Staats- und Verfassungslehre erschien, die geeignet war, die der Kontinuität entbehrende Staatlichkeit der Bundesrepublik mit der „Treibhauspflanze" Grundgesetz mit Leben zu erfüllen. Aufschluß darüber verspricht eine Analyse der Verwendung der Bundestreue in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, auch im 122 ψ Weber, Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus, S. 292. 123
Vgl. E.-W. Böckenförde, FS Schäfer, S. 187. Siehe auch Smend, Art. Integration, EvStL, 2. Auflage, Sp. 1026, der kritisch vermerkt, das Institut der Bundestreue habe dem Grundgesetz nicht „ganz ohne weiteres" entnommen werden können. 125 Politiker und Sozialphilosophen haben versucht, andere Brücken zu bauen. Zu nennen ist vor allem die Anknüpfung an das der katholischen Soziallehre entstammende Subsidiaritätsprinzp; dazu Süsterhenn, Föderalismus und Freiheit, S. 27ff., 37ff.: Das Verwiesensein des Einzelmenschen auf die Gemeinschaft begründe nicht nur eine Beziehung des Individuum zum Staat, sondern fordere und rechtfertige zahlreiche menschliche Gemeinschaftsbildungen als Zwischenglieder zwischen einzelnem und Staat, zu denen auch die Gliedstaaten gehörten. Kritisch dazu, soweit das Subsidiaritätsprinzip an die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes herangetragen wird, Lerche, VVDStRL 21 (1964), S. 74ff.; Herzog, JuS 1967, S. 194; Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 116 f. 124
126
Lerche, VVDStRL 21 (1964), S. 66.
III. Auswirkungen der Integrationslehre
257
Zusammenhang mit den Versuchen des Gerichts, zu einer Theorie des Bundesstaates zu gelangen. b) Bundesverfassungsgericht und Bundesstaatstheorie
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat es mit der Bewältigung der „Tagesprobleme des Föderalismus" 127 zu tun. Das ist die Folge der im Bereich der Auseinandersetzungen von Bund und Ländern vorrangigen Aufgabe des Gerichts, im Streitfall den Inhalt der Verfassungsnormen autoritativ festzustellen; Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern sind Meinungsverschiedenheiten zwischen politisch Handelnden, bei denen die Streitschlichtung gegenüber der Fortbildung des Verfassungsrechts 128 in den Vordergrund tritt. Über den sachlichen Bereich seiner bundesstaatlichen Rechtsprechung stellte das Gericht fest, daß das Verhältnis von Bund und Ländern im Bundesstaat rechtlich nicht im ungewissen bleiben könne. Für diesen Bereich habe das Grundgesetz in Art. 93 I Nr. 3 und 4 die Verfassungsgerichtsbarkeit so ausgestaltet, „daß für alle ihrer Natur nach einer Rechtsentscheidung zugänglichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht eröffnet i s t " 1 2 9 . Theoretische Aussagen in dieser Rechtsprechung müssen zuallererst als gedankliche Brücken zur Lösung des streitigen Einzelfalles verstanden werden. Einer vorschnellen Verallgemeinerung und Systematisierung sind sie nicht zugänglich. Insbesondere dürfen feststellbare Grundlinien der Rechtsprechung nicht in isolierter Abstraktheit an dem Anspruch einer Theorie des Bundesstaates und seiner Verfassung gemessen werden; relevant bleibt immer der praktische Zusammenhang 130 . Das ist ein unvermeidlicher Vorbehalt, der die Analyse gerichtlicher Erkenntnisse von der literarischer Äußerungen unterscheidet, auch dann, wenn die Rechtsprechung möglicherweise theoretische Vorarbeiten bei ihrer Rechtsprechung verwertet. Geschieht dies, so läßt es sich als Erscheinungsweise solcher Lehren in der Gerichtspraxis beschreiben, welche die juristische Arbeitsweise des Richters übergreifen. Nur mit diesen Vorbehalten kann sich der folgende Abschnitt mit den wichtigsten Urteilen des Bundesverfassungsgerichts beschäftigen, in denen die Argumentation mit der Bundestreue eine Rolle spielt. 127 ψ Weber, Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus, S. 311. 128 Im Sinne der rechtserklärenden, normative Klarstellung für die Zukunft bezweckenden Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit nach Lerche, DVB1. 1961, S. 700. 129 BVerfGE 11, 6 (13 f.); vgl. bereits vorher BVerfGE 3, 267 (279). Zu diesem Prinzip der Lückenlosigkeit des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes vgl. Bauschke, Bundesstaatsprinzip, S. 21 f. no vgl. a u c h Rudolf, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 234: Es könne nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, „sich eine eigene umfassende Bundesstaatstheorie zuzulegen". 17 Korioth
258
3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945 c) Die Entwicklung der Bundestreue in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat das Problem der Bundestreue erstmals im Urteil vom 20. Februar 1952 131 im Zusammenhang des bundesstaatlichen Finanzausgleichs gestreift, an dieser Stelle in dem besonderen Zusammenhang des horizontalen Finanzausgleichs zwischen finanzstärkeren und finanzschwächeren Ländern. Das Gericht will den Ausgleich der Unterschiede in Finanzkraft und Belastung zwischen den Gliedstaaten „in Auswirkung des bundesstaatlichen Gedankens" 132 beurteilen. Es weist auf die dem „bundesstaatlichen Prinzip" entspringende Pflicht hin, „daß die finanzstärkeren Länder den schwächeren in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten haben. Diese Pflichtbeziehung führt nach der Natur der Sache zu einer gewissen Beschränkung der finanziellen Selbständigkeit der Länder" 1 3 3 . Diesen Maßstab der bundesstaatlichen Pflichtbeziehung hat das Bundesverfassungsgericht neben geschriebenen Verfassungsnormen zur Überprüfung bundesgesetzlicher Maßnahmen zur Regelung des Finanzausgleichs im Jahre 1950 herangezogen und im Ergebnis gutgeheißen. Ein Verstoß gegen das bundesstaatliche Prinzip könne nur dann in Betracht kommen, wenn der vorgesehene Ausgleich „die Leistungsfähigkeit der gebenden Länder entscheidend schwächte oder zu einer Nivellierung der Länderfinanzen führte" 1 3 4 , was im konkreten Fall verneint wurde. In dieser Argumentation klingt der Rechtsgrundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens bereits an. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß die Statuierung der verfassungsrechtlichen Hilfeleistungspflicht der finanzstärkeren gegenüber den finanzschwächeren Ländern auf zwei ungewissen Prämissen fußt. Die erste dieser Prämissen ist das „bundesstaatliche Prinzip", das als Datum gesetzt, aber nicht näher bestimmt wird. Auch der Rückgriff auf das Südweststaatsurteil vom 12. Oktober 1951 135 , in dem das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal zum bundesstaatlichen Prinzip Stellung genommen hat, erbringt keinen Aufschluß. Das „bundesstaatliche Prinzip (Art. 20,28, 30 GG)" sei, so heißt es dort, eine „Grundlage der Verfassung" 136 . Das bedeutet jedoch nicht, daß das Bundesverfassungsgericht ein allgemeingültiges Prinzip entwickeln und seiner Rechtsprechung zugrundelegen wollte. Die Formulierung „Grundlage der Verfassung" läßt allenfalls den Rang des Prinzips erkennen. Es ist mehr als eine schlichte Verfassungsnorm, etwas den Verfassungsnormen Vorausliegendes, als deren Grundlage möglicherweise Höherrangiges. Im übrigen wird das Prinzip in Anlehnung an Verfassungsnormen des Grundgeset131 132 133 134 135 136
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
1, 1, 1, 1, 1, 1,
117 ff. 117 (119). 117 (131). 117 (131). 14 ff. 14 (34).
III. Auswirkungen der Integrationslehre
259
zes nicht definiert, sondern in unmittelbaren Folgen vorgestellt. So heißt es im Südweststaatsurteil sogleich mit Blick auf die entscheidungserheblichen Einwirkungsbefugnisse des Bundes auf ein Land: „Die Länder sind als Glieder des Bundes Staaten mit eigener — wenn auch gegenständlich beschränkter — nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter staatlicher Hoheitsmacht ... Solange die Länder bestehen und ihre verfassungsmäßige Ordnung sich im Rahmen des Art. 28 I GG hält, kann der Bund ohne Verletzung des im Grundgesetz garantierten bundesstaatlichen Prinzips in ihre Verfassungsordnung nicht eingreifen" 137 . Das nur wenig später ergangene Urteil zum Finanzausgleich verfährt methodisch in ähnlicher Weise. Dem unbestimmt belassenen Bundesstaatsprinzip der Verfassung wird eine konkrete Rechtspflicht entnommen. Darin, daß die Folgerung aus dem Prinzip sodann auch als zwingend eingeführt wird, liegt die zweite nicht näher begründete Prämisse. Den in diesem Argumentationszusammenhang sich abzeichnenden Rechtsgrundsatz der Bundestreue hat das Bundesverfassungsgericht dann im Urteil vom 21. Mai 1952 138 , wiederum im Zusammenhang mit finanziellen Maßnahmen des Bundes, hier der Mittelverteilung für den sozialen Wohnungsbau, eingehender ausgeführt: „Dem bundesstaatlichen Prinzip entspricht ... die verfassungsrechtliche Pflicht, daß die Glieder des Bundes sowohl einander als auch dem größeren Ganzen und der Bund den Gliedern die Treue halten und sich verständigen. Der im Bundesstaat geltende verfassungsrechtliche Grundsatz des Föderalismus enthält deshalb die Rechtspflicht des Bundes und aller seiner Glieder zu,bundesfreundlichem Verhalten'; d.h. alle an dem verfassungsrechtlichen ,Bündnis' Beteiligten sind gehalten, dem Wesen dieses Bündnisses entsprechend zusammenzuarbeiten und zu seiner Festigung und zur Wahrung seiner und der wohlverstandenen Belange seiner Glieder beizutragen (so schon R. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, in der Festgabe für Otto Mayer, 1916, S. 247 ff, 261). Der in dieser Rechtspflicht liegende Zwang wirkt zwar nicht so automatisch wie das demokratische Mehrheitsprinzip. Er ist jedoch stark genug, um die notwendigen gemeinsamen Entscheidungen sachgerecht herbeizuführen" 139 . An diesen Aussagen in der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bereits zu erkennen, daß das Gericht das Prinzip der Bundestreue als unmittelbaren Ausdruck des Bundesstaatsprinzips begreift 140 , nicht dagegen als 137 BVerfGE 1, 14 (34). Diese Argumentation mit dem bundesstaatlichen Prinzip hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder aufgegriffen. Zuweilen hat es auch, noch weiter ausgreifend, mit dem Wesen des Bundesstaates operiert. So werden in BVerfGE 36, 342 (360) die Grenzen der Verfassungsautonomie der Länder nicht positivrechtlich begründet, sondern dem „Eigentümlichen" des Bundesstaates entnommen. 138 BVerfGE 1, 299 ff. 139 BVerfGE 1, 299 (315). 140 Vgl. auch Hesse, Grundzüge, Rn. 269; Rudolf, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 235.
17*
3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
260
einen Grundgedanken, der anhand einzelner Bestimmungen des Grundgesetzes entwickelt wird. Positivrechtlich ist diese Argumentation nur insoweit, als sie sich auf die Festlegung des bundesstaatlichen Prinzips in Art. 20,28 GG berufen kann. Warum aber Bundestreue als Ausprägung dieses Prinzips neben den geschriebenen Organisationsbestimmungen der Verfassung steht und mehr bedeutet als die Pflicht, sich entsprechend diesen Bestimmungen zu verhalten, bleibt noch offen. Spätere Entscheidungen verfestigen lediglich diese Herleitung, tragen aber zur Begründung nichts Neues bei. Das Volksbefragungsurteil vom 30. Juli 1958 141 leitet den Grundsatz aus dem „Wesen des Bundesstaates"142 her; in weiteren Entscheidungen heißt es kurz und bündig, der Grundsatz der Bundestreue entspringe dem „bundesstaatlichen Prinzip" 1 4 3 . Diese Ableitung hebt den Grundsatz der Bundestreue in den Rang eines unmittelbaren verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabes der streitgegenständlichen Hoheitsakte. Es handelt sich nicht um einen Grundgedanken, der zur Auslegung einzelner Bestimmungen des Grundgesetzes herangezogen wird. Das Konkordatsurteil vom 26. März 1957 enthält die Einordnung, der „Verfassungsgrundsatz der Bundestreue" gehöre zu den „dem Grundgesetz immanenten Verfassungsnormen" 144. Zum richtigen Verständnis der Bundestreue sei aber — dies ist zum erstenmal der Versuch, zu einer klareren positivrechtlichen Herleitung zu gelangen — die „Zusammenschau" mit allen anderen Verfassungsnormen erforderlich, die das Verhältnis von Bund und Ländern regeln 145 . Die These der erforderlichen Zusammenschau nimmt dabei unausgesprochen auf das bereits im Südweststaatsurteil aufgestellte „Prinzip der Einheit der Verfassung" Bezug: „Eine einzelne Verfassungsbestimmung kann nicht isoliert betrachtet und allein aus sich heraus ausgelegt werden. Sie steht in einem Sinnzusammenhang mit den übrigen Vorschriften der Verfassung, die eine innere Einheit darstellt" 140 . Auf diese Weise scheint die Bundestreue in ihrer Herleitung nun doppelt abgesichert zu sein: nach der unmittelbaren Ableitung aus dem Wesen und dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Bundesstaates wird sie eingebunden in den Zusammenhang der geschriebenen Normen. Unklar bleibt jedoch, warum die Bundestreue als Teil des bundesstaatlichen Prinzips und damit einer Grundlage der Verfassung noch der systematischen Einbindung in die geschriebenen Normen bedürfte. Möglicherweise ist diese Verbindung aber bereits im Zusammenhang der inhaltlichen Konkretisierung im Einzelfall vorgenommen worden. Darauf ist 141 142 143 144 145 146
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
8, 122ff. 8, 122 (138). 31, 314 (354); 34, 9 (20). 6, 309 (361). 6, 309 (361). 1, 14 (32); ferner 19, 206 (220); 30, 1 (19); 34, 165 (183); 44, 37 (49f.).
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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einzugehen, bevor die Frage gestellt werden kann, inwieweit der Begriff der Bundestreue und das zugrundeliegende Verfassungsverständnis des Bundesverfassungsgerichts von der Integrationslehre Smends beeinflußt sind. d) Die Konkretisierung der Bundestreue
U m eine allgemeingültige Definition der Bundestreue hat sich das Bundesverfassungsgericht bislang nicht bemüht. Es konkretisiert ihren rechtlichen Gehalt erst bei der Entscheidung des bundesstaatlichen Sachverhalts 147 . Nur auf diese Weise hat sich das Bundesverfassungsgericht dem Problem der inhaltlichen Konkretisierung und Konkretisierbarkeit der Bundestreue gestellt. Das Gericht hat die Inhaltsbestimmung zunächst mit dem Rückgriff auf die Figur des unbestimmten Rechtsbegriffs und damit einer geläufigen Kategorie des öffentlichen Rechts zu lösen versucht. „Die Entscheidung mag im Einzelfall schwierig sein, sie ist jedoch nicht wesentlich verschieden von den Fällen, in denen andere — im Verfassungsrecht häufige — unbestimmte Rechtsbegriffe anzuwenden sind" 1 4 8 . Bemerkenswert ist daran der Rückgriff auf eine Rechtsfigur, deren Dogmatik im Bereich des Verwaltungsrechts in den fünfziger Jahren, zusammen mit der Ermessenslehre, in Bewegung geriet. Ule etwa vertrat die Auffassung, unbestimmte Rechtsbegriffe seien nicht in dem Sinne eindeutig, daß sie in jedem Anwendungsfall nur zu einem bestimmten Ergebnis führen könnten 1 4 9 . Mehrere Rechtsanwender könnten bei der Beurteilung desselben Sachverhalts anhand desselben unbestimmten Rechtsbegriffs zu unterschiedlichen Lösungen kommen, die alle noch vertretbar seien 150 . Darauf aber spielt das Bundesverfassungsgericht nicht an. In der soeben zitierten Entscheidung und in fast allen nachfolgenden zur Bundestreue hält es daran fest, im Einzelfall klare und bestimmte Rechtspflichten mit der Bundestreue bestimmen zu können. Die anfangliche Verwendung der Kategorie des unbestimmten Rechtsbegriffs soll vielmehr eine eingeschränkte Kontrollkompetenz der Verfassungsgerichte begründen 151 . Jenseits konkreter und justiziabler Rechtspflichten zu bundestreuem Verhalten gebe es Bereiche, in denen den handelnden Organen in Bund und Ländern ein nicht kontrollierbarer politischer Entscheidungsspielraum zustehe. Besonders deutlich ist dies, ohne daß weiterhin die Kategorie des unbestimmten Rechtsbegriffs bemüht worden wäre, im Volksbefragungsurteil 147 148
Zu dieser induktiven Methode Bauschke, Bundesstaatsprinzip, S. 100; Bayer, S. 75 f. BVerfGE 1, 299 (316); zustimmend zu dieser Einordnung Spanner, DÖV 1961, S.
482. 149
Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 2. Auflage 1961, S. 6 f. Ule, Gedächtnisschrift f. W. Jellinek, S. 326f. 151 Insoweit in Entsprechung zu der von Bachof, JZ 1955, S. 98ff., entwickelten Lehre vom „Beurteilungsspielraum" der Verwaltung, bei dessen Einhaltung die auf die Beurteilung gestützte Entscheidung als rechtmäßig zu gelten hat, auch dann, wenn das überprüfende Gericht zu einer anderen Beurteilung gelangt. 150
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
vom 30. Juli 1958 zum Ausdruck gekommen. Im Streit stand dort die Pflicht der hessischen Landesregierung, Beschlüsse hessischer Gemeinden hinsichtlich der Durchführung von Abstimmungen über Atomwaffen aufzuheben. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, Hessen könne seine Pflicht zur Bundestreue jedenfalls nicht durch seinen Widerspruch und politischen Kampf gegen die Politik der Bundesregierung verletzt haben. Ob die Haltung der Bundesregierung in der Frage der Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen im wohlverstandenen Interesse der Bundesrepublik liege oder nicht, sei nicht justiziabel. Rechtlich faßbar und gerichtlich nachprüfbar sei allein die Weigerung des Landes, gegen grundgesetzwidrige Maßnahmen der Gemeinden im Aufsichtswege einzuschreiten 152 . Die eigentliche inhaltliche Konkretisierung des Grundsatzes der Bundestreue, den das Bundesverfassungsgericht nur in seiner frühesten bundesstaatlichen Rechtsprechung als unbestimmten Rechtsbegriff zu erfassen versuchte, hat sich später kasuistisch vollzogen 153 , wobei das verbindende Element der Bezug auf das Wesen und den Grundsatz des Bundesstaates bildet. Worum es geht, zeigt eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts in aller Klarheit: „ . . . Der vorliegende Fall gibt Veranlassung, den verfassungsrechtlichen Grundsatz von der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten nach einer anderen Seite weiter zu entwickeln: . , . " 1 5 4 . Es handelt sich nicht um dogmatische Ableitung, „Auswickeln" der konkreten Rechtspflicht aus einem vorgegebenen Allgemeinen, sondern um Konstituierung von Rechten und Pflichten am Einzelfall, eben um ein „Entwickeln". Das 1. Fernsehurteil vom 28. Februar 1961 enthält eine Zwischenbilanz der bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten konkreten Rechtspflichten. Nachdem das Gericht die Bedeutung des Grundsatzes im Zusammenhang des horizontalen Finanzausgleichs erwähnt hat, heißt es in den Urteilsgründen weiter: „Der Verfassungsgrundsatz kann ferner in Fällen, in denen das Gesetz eine Verständigung zwischen dem Bund und den Ländern fordert, eine gesteigerte Mitwirkungspflicht begründen und dazu führen, daß der einer allseitigen Verständigung entgegenstehende unsachliche Widerspruch eines der Beteiligten rechtlich unbeachtlich wird (BVerfGE 1, 299 (3150). Bei der Entscheidung über die Gewährung von Weihnachtszuwendungen an öffentliche Bedienstete haben die Länder Bundestreue zu wahren und deshalb auf das gesamte Finanzgefüge von Bund und Ländern Rücksicht zu nehmen (BVerfGE 3, 52 (57)). Noch stärker tritt diese Rechtsschranke aus dem Gedanken der Bundestreue bei der Ausübung von Gesetzgebungsbefugnissen zu Tage:,Bleiben die Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung nicht auf den Raum eines Landes begrenzt, so muß 152
BVerfGE 8, 122 (140f.). Vgl. auch Bayer, S. 75, der eine inhaltliche Konkretisierung der Bundestreue anhand begrifflicher Merkmale für ausgeschlossen hält und deshalb den induktiven Weg der Erfassung und Systematisierung einer größeren Zahl einschlägiger Präjudizien verfolgt. 154 BVerfGE 12, 205 (255). 153
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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der Landesgesetzgeber Rücksicht auf die Interessen des Bundes und der übrigen Länder nehmen' (BVerfGE 4, 115 (140)). Aus dem Verfassungsgrundsatz der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten kann sich weiter die Pflicht der Länder zur Beachtung von völkerrechtlichen Verträgen des Bundes ergeben (BVerfGE 6, 309 (328, 361 f))· Unter Umständen kann schließlich ein Land mit Rücksicht auf seine Pflicht zur Bundestreue verpflichtet sein, im Wege der Kommunalaufsicht gegen Gemeinden einzuschreiten, die durch ihre Maßnahmen in eine ausschließliche Bundeskompetenz eingreifen (BVerfGE 8, 122 (138 ff))" 1 5 5 . Zu diesem bunten Strauß verschiedenster Rechtspflichten kamen im Fernsehurteil zwei Ergänzungen hinzu. Die Wahrnehmung der Bundeskompetenzen auf dem Gebiet des Rundfunks nach Art. 73 Nr. 7 und Art. 871 GG stehe unter dem Vorbehalt der bundesfreundlichen Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Damit sei eine Benachteiligung der bestehenden Rundfunkanstalten bei der Verteilung von Sendefrequenzen nicht vereinbar 156 . Sodann folgt eine weitere Ausdehnung des Grundsatzes zu einer „anderen Seite" 157 : „Auch das procedere und der Stil der Verhandlungen, die zwischen dem Bund und seinen Gliedern und zwischen den Ländern im Verfassungsleben erforderlich werden, stehen unter dem Gebot bundesfreundlichen Verhaltens. In der Bundesrepublik Deutschland haben alle Länder den gleichen verfassungsrechtlichen Status; sie sind Staaten, die im Verkehr mit dem Bund Anspruch auf gleiche Behandlung haben. Wo immer der Bund sich in einer Frage des Verfassungslebens, an der alle Länder interessiert und beteiligt sind, um eine verfassungsrechtlich relevante Vereinbarung bemüht, verbietet ihm jene Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten, nach dem Grundsatz divide et impera zu handeln, d.h. auf die Spaltung der Länder auszugehen, nur mit einigen eine Vereinbarung zu suchen und die anderen vor den Zwang des Beitritts zu stellen. Jener Grundsatz verbietet es auch, daß die Bundesregierung bei Verhandlungen, die alle Länder angehen, die Landesregierungen je nach ihrer parteipolitischen Richtung verschieden behandelt , . . " 1 5 8 . Bereits dieser Überblick läßt zwei Arten der aus der Bundestreue entspringenden Pflichten erkennen. Es handelt sich zum einen um Pflichten, die als zusätzliche über die in der geschriebenen bundesstaatlichen Verfassung enthaltenen hinausgehen. A m deutlichsten und zugleich mit der darin liegenden Problematik zeigt sich dies in der Erstreckung der Bundestreue auf das „procedere" zwischen Bund und Ländern. Die Konstituierung der verfahrensrechtlichen Pflicht kann bei konsequenter Anwendung dazu führen, daß ein materiell verfassungsgemäßes Ergebnis der Verhandlungen von Bund und 155 BVerfGE aus dem Gebot (1981), S. 56ff. 156 BVerfGE 157 BVerfGE 158 BVerfGE
12, 205 (254 f.). Einen Überblick über die vom Bundesverfassungsgericht der Bundestreue abgeleiteten Rechtspflichten gibt Faller, FS Maunz 12, 205 (250). 12, 205 (255). 12, 205 (255 f.).
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Ländern nur deshalb verfassungswidrig wäre, weil ungeschriebene formelle Voraussetzungen verletzt worden sind. M i t dieser Ausprägung kann die Bundestreue in Widerspruch zum Grundgesetz geraten. Die Kritik des politischen Stils verwandelt sich in die Feststellung einer Verfassungsverletzung. Neben den zusätzlichen Pflichten aus der Bundestreue geht es zum anderen um „konkrete Beschränkungen in der Ausübung der dem Bund und den Ländern im Grundgesetz eingeräumten Kompetenzen" 159 . Dieser besonders im 1. Fernsehurteil vollzogenen Ausweitung der Bundestreue hat das Bundesverfassungsgericht — unter Hinweis auf Smend — die These zugrundegelegt, im „deutschen Bundesstaat" sei das „gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis" zwischen den Gliedern durch den „ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz" des bundesfreundlichen Verhaltens „beherrscht" 160 . Rückblickend läßt sich allerdings feststellen, daß die Bedeutung der Bundestreue in der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts im 1. Fernsehurteil des Jahres 1961 ihren Gipfelpunkt erreicht hat 1 6 1 , nachdem bereits die wichtigsten Grundsätze der Rechtsprechung in Entscheidungen enthalten waren, die im ersten Jahrzehnt der Tätigkeit des Gerichts von 1951 bis 1961 ergangen waren. Auch ist das 1. Fernsehurteil neben dem Volksbefragungsurteil des Jahres 1958 das bislang einzige Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts, das einen Verstoß gegen den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens festgestellt hat. In den zeitlich späteren Urteilen ist die Bundestreue, möglicherweise unter dem Einfluß zunehmender Kritik aus dem Schrifttum 162 , mit deutlichen Einschränkungen gehandhabt worden. Die von Geiger im Jahre 1961 geäußerte Erwartung, im Verfassungsgrundsatz der Bundestreue sei „noch einiges, bisher Unausgesprochenes" enthalten, „das aus gegebenem Anlaß neue Perspektiven unserer bundesstaatlichen Ordnung" 1 6 3 eröffnen könne, hat sich nicht bewahrheitet. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner neueren Rechtsprechung zwar nicht von früheren Konkretisierungen der Bundestreue distanziert, es hat den Grundsatz jedoch zunehmend restriktiv interpretiert oder seine Heranziehung von vornherein abgelehnt.
159
BVerfGE 12,205 (255); vgl. auch BVerfGE 43,291 (348f.); 34,9 (20f.). Insoweit mit dem Bundesverfassungsgericht übereinstimmend Scheuner, DÖV 1962, S. 646 Anm. 48. 160 BVerfGE 12,205 (254); vgl. auch 39,96 (108 f.); 41,291 (308). Was das Gericht unter einem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz versteht, hat es in anderem Zusammenhang erläutert: Das Verfassungrecht bestehe „nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung, sondern auch aus gewissen sie verbindenden, innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Leitbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat", BVerfGE 2, 380 (403). 161
Vgl. auch Faller, FS Maunz (1981), S. 54, 56, 59. Insbesondere Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 121 ff.; ferner Scheuner, DÖV 1966, S. 515; Fuß, DÖV 1964, S. 37; aber auch Spanner, DÖV 1961, S. 485. 163 Geiger, Treuepflicht, S. 115. 162
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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Die wichtigste Grenze des Bundestreuegebots zieht bereits das sogenannte Neugliederungsurteil vom 11. Juli 1961 164 . Hier wird betont, die Bundestreue komme nur im Rahmen eines bereits bestehenden verfassungsrechtlichen Verhältnisses zur Anwendung, selbständige Rechtsverhältnisse könne sie nicht begründen: die „wechselseitigen rechtlichen Beziehungen, innerhalb deren Treue zu wahren ist, müssen bestehen oder durch Verhandlungen begründet werden" 1 6 5 . Besonders deutlich wurde die restriktive Auslegung in der Entscheidung vom 11. April 1967 166 bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht stellte zwar einen Verstoß des Bundes gegen Art. 30, 83 GG bei der Ausführung hessischen Wasserrechts durch die Behörden des Bundes fest. Ein Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz der Bundestreue sei daneben aber nicht in Betracht zu ziehen. Bundestreue komme nur und erst dann ins Spiel, wenn zwischen Bund und Land ein konkretes verfassungsrechtliches Verhältnis bestehe, aus dem ein Recht des Bundes abzuleiten sei, von dem der Bund in Rücksicht auf die Pflicht zu bundestreuem Verhalten einen bestimmten Gebrauch nicht machen dürfe 1 6 7 . Damit war die „akzessorische N a t u r " 1 6 8 der Bundestreue klargestellt, gleichzeitig wurde die Möglichkeit, ohne zuverlässige Grenze mittels der Bundestreue neue Rechtspflichten zu konstituieren, stark eingeschränkt. Diese Tendenz zu vorsichtiger Zurückdrängung der Bundestreue hin zu einer Mißbrauchsschranke für die Kompetenzausübung von Bund und Ländern hat sich fortgesetzt 169 . In der einschlägigen Rechtsprechung seit 1961 findet sich kein Urteil, das diesen Verfassungsgrundsatz weiter ausgeschöpft hätte 1 7 0 . Im Jahre 1977 urteilte das Gericht, der Grundsatz enthalte einen nur „allgemeinen Maßstab" 1 7 1 , der es für sich allein nicht ermögliche, die rechtliche Tragweite bestimmter Maßnahmen der Länder zu beurteilen 172 . Im Urteil vom 19. Oktober 1982, das die Nichtigkeit des 1981 erlassenen Staatshaftungsgesetzes feststellte 173 , stieß das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Frage, ob der Bund unter Inanspruchnahme seiner Gesetzgebungsbefugnis aus Art. 74 Nr. 1 GG über eine Änderung des § 839 BGB in das ihm sonst kraft der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung verschlossene Gebiet des Staatshaftungsrechts der Länder hineinwirken könne, auf das Problem der Bundestreue. Vorrangig ist jedoch hier ein Argument aus den Art. 30, 70 I GG. Aus diesen Vorschriften ergebe sich ein enger Gestaltungsspielraum des Bundes auch im Bereich der 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173
BVerfGE 13, 54 ff. BVerfGE 13, 54 (75); vgl. auch 21, 312 (326); 42, 103 (117). BVerfGE 21, 312ff. BVerfGE 21, 312 (326). BVerfGE 42, 103 (117 f.). Vgl. BVerfGE 34, 165 (194f.); 43, 291 (348 ff.); 45, 400 (421). Vgl. Faller, FS Maunz (1981), S. 62. BVerfGE 43, 291 (348 f.). BVerfGE 43, 291 (348 f.). BVerfGE 61, 149 ff.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Staatshaftung. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern dürfe weder unterlaufen noch ausgehöhlt werden. Es folgt dann ein Satz, der keine neuen Gesichtspunkte der Argumentation beiträgt, sondern nur das bereits gefundene Ergebnis illustriert: „Der das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen Bund und Ländern beherrschende Grundsatz der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten verlangt gegenseitige Rücksichtnahme und schließt eine mißbräuchliche Interessenwahrnehmung aus" 1 7 4 . Im bislang letzten bedeutenden Urteil zu Fragen der Verfassung des Bundesstaates, dem Urteil vom 24. Juni 1986 betreffend die Durchführung des horizontalen und vertikalen Finanzausgleichs 175 , klingt die Bundestreue nur noch in einzelnen, für die Entscheidung nicht erheblichen Formulierungen an. Der horizontale Finanzausgleich werde in Art. 107 I I GG dem freien Aushandeln der Länder untereinander entzogen und in die Verantwortung des Bundesgesetzgebers gelegt, „der als solcher den Ländern insgesamt gegenübersteht und ihnen gegenüber zur Bundestreue verpflichtet i s t " 1 7 6 . Das „bündische Prinzip" des „Einstehens füreinander" 177 begründe dabei die Pflicht zum horizontalen Finanzausgleich. Den Gründen für den seit 1961 rückläufigen Rang der Bundestreue in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Es mögen die folgenden Bemerkungen genügen. Sicherlich hat — abgesehen von der literarischen Kritik, mit der das Bundesverfassungsgericht sich allerdings nie auseinandergesetzt hat — die insgesamt abnehmende Zahl derjenigen Prozesse eine Rolle gespielt, in denen Rechte und Pflichten der bundesstaatlichen Subjekte im Streit standen. Entscheidend ist aber ein Gesichtspunkt, auf den Hesse aufmerksam gemacht hat 1 7 8 . Auch die frühen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die mehr oder weniger deutlich die Argumentation mit der Bundestreue in den Vordergrund rücken, hätten der Begründung mittels dieses Grundsatzes im Sinne eines „übergreifenden, zentralen Strukturprinzips dieses Bundesstaates Bundesrepublik Deutschland" 179 nicht bedurft. Dafür gibt es einen Indikator: soweit die Rechtsprechung den Rechtsbegriff der Bundestreue als Maßstab verfassungsrechtlicher Beurteilung heranzog, hat sie, von den bereits genannten Ausnahmen des Volksbefragungsurteils und des Fernsehurteils abgesehen, keine Verletzung von Rechtspflichten feststellen können. Die Konkretisierung zu Rechtspflichten im Einzelfall scheint mit Blick auf den zu beurteilenden Sachverhalt so ausgefallen zu sein, daß die Bundestreue sich nicht als völlig von der geschriebenen Verfassung losgelöste, 174
BVerfGE 61, 149 (205). BVerfGE 72, 330ff. 176 BVerfGE 72, 330 (396). 177 BVerfGE 72, 330 (396). 178 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 121 ff.; siehe auch Spanner, DÖV 1961, S. 483; Fuß, DÖV 1964, S. 37, 40ff. 175
179
So Geiger, Treuepflicht, S. 114.
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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schon gar nicht sich als ihr widersprechende Verfassungsnorm entpuppte. Aber auch für die beiden Urteile, die eine Verletzung der Bundestreue angenommen haben, ist festzustellen, daß keine Notwendigkeit bestanden hätte, auf das Prinzip der Bundestreue zurückzugreifen. Das Bundesverfassungsgericht konnte nämlich bereits die Verletzung geschriebener Normen der Verfassung feststellen. Trotz des großen argumentativen Aufwands ist die Bundestreue in keinem Fall für die Entscheidung ausschlaggebend gewesen. Im Volksbefragungsurteil ist dies auch klar ausgesprochen. Dort stellt das Bundesverfassungsgericht fest, die Pflicht, die Verfassung zu respektieren, folge unmittelbar aus der Geltung der gemeinsamen Verfassungsordnung 180. Dennoch wird zur weiteren Begründung dieses im Grunde selbstverständlichen Satzes der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens herangezogen. Zu Recht rügt Hesse, daß unklar bleibt, warum diese zusätzliche Begründung erforderlich ist 1 8 1 . Die Argumentation mit dem Begriff der Bundestreue erscheint als eine gedankliche Begleitung der eigentlichen Entscheidungsfindung. Das weitgehende Leerlaufen der Bundestreue bedeutet allerdings auch, daß die mittels der Brücke der Bundestreue mögliche Rechtsfindung im Wege fallweiser richterlicher Interessenbewertung unterblieben ist. Die Befürchtung Scheuners, mit Hilfe der Bundestreue könne das von der Verfassung differenzierte System gegenseitiger Beziehungen von Bund und Ländern geändert oder sogar im Billigkeitssinne umgeschmolzen werden 182 , hat sich nicht bewahrheitet. So bleibt der Erklärungsversuch, das Bundesverfassungsgericht könnte bei seinen Rückgriffen auf die Bundestreue von der vorausschauenden Vorsorge geleitet gewesen sein, die kasuistisch entwickelbare Kategorie der Bundestreue für künftige denkbare Fälle in Reserve zu halten 1 8 3 . Das wiederum entspräche der Schwierigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit im Bereich der Streitigkeiten von Bund und Ländern, die darin liegt, regelmäßig eine mehr oder weniger singuläre Meinungsverschiedenheit juristisch auflösen zu müssen. e) Der Zusammenhang von Integrationslehre und Bundestreue in der Rechtsprechung
Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff der Integration in seine Rechtsprechung im Zusammenhang der Charakterisierung von Wahlen 1 8 4 , der 180
BVerfGE 8, 122 (138). Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 122 Fn. 36. 182 Scheuner, DÖV 1962, S. 642, 646. 183 Vgl. Fuß, DÖV 1964, S. 41 f. 184 Die Wahl sei „ein Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes", BVerfGE 6, 84 (93), ein auf „die Bildung funktionsfähiger Verfassungsorgane gerichteter Integrationsvorgang", BVerfGE 14, 121 (135), ferner BVerfGE 14, 121 (136): Es handele sich um den „entscheidenden Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes". 181
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politischen Parteien 185 und der Vorgänge politischer Willensbildung 186 aufgenommen. Im Kontext dieser Entscheidungen ist die Annäherung an Smend aber zumeist nur terminologischer A r t 1 8 7 . Sie ist mehr beiläufige Illustration des Gedankenganges als tragender Pfeiler der Argumentation; die Anführung von Schriften Smends als literarischer Beleg fehlt. Im Bereich der bundesstaatsrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts läßt sich die Verwendung des Integrationsbegriffes aus der Lehre Smends nicht nachweisen. Hier ist es ausschließlich die Bundestreue, die begrifflich auf Smend Bezug nimmt. Rein äußerlich wird die bewußte Aufnahme dadurch belegt, daß die einzigen literarischen Belege an den einschlägigen Passagen in den Urteilen zur Bundestreue Smends Festschriftenbeitrag aus dem Jahre 1916 und seine Ausführungen zur Bundestreue im Rahmen des Buches „Verfassung und Verfassungsrechts" sind 1 8 8 . Das sagt jedoch noch nichts über die Wirkungen der Integrationslehre auf die verfassungsgerichtliche Praxis. Maßgebendes Kriterium kann hier nur sein, wie die Elemente des Verfassungsbegriffs bei Smend und seine konkreten Ausprägungen in der Bundestreue in den die jeweilige Entscheidung tragenden Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts ihren Niederschlag gefunden haben. aa) Der unmittelbare Bereich der Bundestreue Anhand dieses Maßstabes lassen sich im unmittelbaren Bereich der Bundestreue mehrere Bezugnahmen auf Smend feststellen; dabei muß allerdings offen bleiben, ob sie bewußt oder unbewußt geschehen sind. Die erste Bezugnahme betrifft die Herleitung der Bundestreue. Da die Bundestreue nach dem Bundesverfassungsgericht direkter Ausdruck des Wesens des Bundesstaates ist, wobei dieses Wesen nicht näher reflektiert wird, da ferner der normative Bezugspunkt die bei der Entscheidungsfindung wenig aussagekräftigen Staatsstrukturbestimmungen der Art. 20, 28 GG sind, so liegt dieser Ableitung die Vorstellung zugrunde, das Auffinden und Formulieren von Sätzen des Verfassungsrechts müsse nicht seinen Ausgangspunkt von der geschriebenen Verfassung nehmen. Die Verfassung ist offenbar unvollständig, aber nach ganz bestimmten Regeln ergänzbar. Diese Regeln sind nicht allein die klassischen juristischen Mittel der Lückenfüllung, etwa die Analogie und der 185 BVerfGE 1, 208 (255); 13, 54 (81): Die Parteien seien „zu integrierenden Bestandteilen des Verfassungsaufbaus und des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens geworden"; sie sind nach BVerfGE 5, 85 (388) „in die Reihe der ,Integrationsfaktoren 4 im Staate eingerückt" oder „verfassungsrechtlich relevante Integrationsfaktoren", BVerfGE 12, 296 (306). 186 BVerfGE 8, 104 (113): Es sei ein „Integrationsprozeß", „der zur öffentlichen Meinung und politischen Willensbildung des Volkes führt". 187 Badura, Der Staat 16 (1977), S. 305, spricht von „eher verbalen Adaptionen". 188 Vgl. BVerfGE 1, 299 (315); 12, 205 (254).
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Umkehrschluß, sondern erlaubt ist auch die Anknüpfung an außerverfassungsrechtliche Gegebenheiten, an die Anforderungen, die der Staat an seine Verfassung stellt oder zu stellen scheint. Ganz im Sinne Smends bestimmt das Bundesverfassungsgericht dann auch das „Wesen der Verfassung" dahin, eine „einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft zu sein" 1 8 9 . Diese Bestimmung des Wesens mit der Funktion erlaubt es, trotz der Unvollständigkeit der geschriebenen Verfassung, das Verfassungsrecht als ein System — wiederum im Sinne der Integrationslehre Smends — vorzustellen, dessen Orientierungsgesichtspunkt die Verbindung der Verfassung mit dem staatlich-politischen Leben ist. Nicht zufallig findet sich im Zusammenhang dieser Ableitung der Bundestreue der Hinweis auf die Einheit der Verfassung, die der Sache nach von Smend bereits in „Verfassung und Verfassungsrecht" als Interpretationsprinzip proklamiert wurde 1 9 0 . M i t diesem Topos erscheint die Verfassung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „logisch-teleologisches Sinngebilde" 191 , in dem die Bundestreue als selbständiges Element ihren Platz finden kann, ohne den Bezug zu einzelnen Normen der geschriebenen Verfassung suchen zu müssen. Auch bei der inhaltlichen Konkretisierung der Bundestreue läßt sich das Bundesverfassungsgericht von Prinzipien leiten, die sich auf die Integrationslehre Smends zurückführen lassen. Normen des Verfassungsrechts werden nicht als starre Grenzziehungen zwischen Rechtssubjekten begriffen, sondern als Ordnung des Integrationsprozesses Staat. Das zeigt sich daran, daß das Bundesverfassungsgericht zur inhaltlichen Konkretisierung die Funktion der Bundestreue in den Vordergrund stellt. Diese Funktion bestehe darin, die Teile des Bundesstaates aneinander zu binden und dadurch zur Festigung dieses Staates beizutragen 192 . Der Grundsatz solle die „Egoismen des Bundes und der Länder in Grenzen" halten, soweit sie kraft der ihnen eingeräumten Kompetenzen die Freiheit und Möglichkeit hätten, eigene Vorstellungen rücksichtslos zu verwirklichen und ausschließlich eigenen Interessen zu folgen 193 . Bundestreue greife dort ein, wo die Interessen des Bundes und der Länder so auseinanderfallen, daß der eine Teil Schaden nimmt, wenn der andere Teil seine Maßnahmen nur in seinem Interesse treffen würde 1 9 4 . Hier wird die Verfassung ganz auf das Funktionieren des staatlichen Integrationsprozesses bezogen. „Die Länder haben ebenso wie der Bund die verfassungsrechtliche Pflicht, dem Wesen des sie verbindenden verfassungsrechtlichen Bündnisses' entsprechend zusammenzuwirken und zur Wahrung der wohlverstandenen Belange des Bundes und der 189
BVerfGE 19, 206 (220). Über Smend hinaus geht in dieser Formulierung allein die Einbeziehung auch des gesellschaftlichen Lebens in den Ordnungsbereich der Verfassung. 190 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 233 ff. 191 BVerfGE 19, 206 (220). 192 BVerfGE 8, 122 (140). 193 BVerfGE 34, 314 (355); 43, 291 (348). 19+ BVerfGE 43, 291 (348).
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Glieder beizutragen" 195 . Das ist, in der Formulierung Smends, die „durch die Wertgesetzlichkeit des Geistes wie durch die Artikel der Verfassung aufgegebene Erfüllung der Integrationsaufgabe" 196 . Die Bundestreue läßt sich also, das zeigt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, unter Anlehnung an den Integrationsgedanken auch in der richterlichen Entscheidungsfindung herleiten und im einzelnen Fall entwickeln. bb) Die Smend-Rezeption in der Verfassungstheorie und der StatusBestimmung des Bundesverfassungsgerichts Trotz dieses Befundes wird weiter gefragt werden müssen, ob die Integrationslehre einen substanziellen Einfluß auf die Entscheidungsfindung im Einzelfall ausgeübt hat. Denn es wurde bereits festgestellt, daß in lediglich zwei Fällen das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung des Prinzips der Bundestreue angenommen hat; nur im 1. Fernsehurteil ist es zu einem auch in der Anwendung wirklich selbständigen—und sogleich fragwürdigen — Maßstab verfassungsgerichtlicher Beurteilung aufgestiegen. Auf den ersten Blick scheint in offensichtlichem Widerspruch dazu der große Stellenwert zu stehen, den das Bundesverfassungsgericht im ersten Jahrzehnt seiner föderativen Rechtsprechung der Bundestreue eingeräumt hat. Es sei noch einmal an den bezeichnenden Satz aus dem ersten Fernsehurteil erinnert, wonach im deutschen Bundesstaat die Bundestreue das „gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis" zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten „beherrscht" 197 . Die Frage lautet, wie dieser Gegensatz von verbaler Proklamation und praktischer Bedeutung zu erklären ist, oder, bezogen auf die Rezeption Smends, worin die verbale Adaption bei gleichzeitig mangelnder Reflexion der besonderen historischen Bedingtheit des Begriffs der Bundestreue ihren Grund findet. Es liegt die Vermutung nahe, das Bundesverfassungsgericht könnte bereits, der konkreten Handhabung der Bundestreue vorgelagert, in die allgemeinen Prämissen seiner Rechtsprechung Grundgedanken der Integrationslehre aufgenommen haben, so daß der Rechtsbegriff der Bundestreue als mehr selbstverständliche Ausprägung erscheint und im Einzelfall auch dann mitgedacht wird, wenn er für die Entscheidung unerheblich bleibt. Tatsächlich läßt sich sowohl in der Methodik der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, soweit es um seine Prinzipien der Verfassungsinterpretation geht, als auch in den Dokumenten des Jahres 1952, in denen das Bundesverfassungsgericht seinen eigenen Status in der Auseinandersetzung mit anderen Verfassungsorganen zu bestimmen versuchte, der Einfluß der Integrationslehre erkennen. 195 196 197
BVerfGE 6, 309 (361). Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 190. BVerfGE 12, 205 (254).
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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(1) Die methodischen Ansätze zur Verfassungsinterpretation Die Methodenfrage hat sich dem Bundesverfassungsgericht vom Beginn seiner Rechtsprechung an mit besonderer Deutlichkeit und Dringlichkeit gestellt. Das folgt bereits aus den Besonderheiten seines Rechtsstoffes. Häufiger als in anderen Rechtsgebieten sind verfassungsrechtliche Normen ihrer Wortfassung nach generalklauselartige Vorschriften, Lapidarformeln und Zielformulierungen. Auch die herausgehobene Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Gerichtssystem und in der Staatsorganisation läßt die rechtliche Determinierung durch die Verfassung zum dringlichen Problem werden. Auf eine höhere Autorität kann das Gericht sich grundsätzlich nicht mehr berufen. Ausgangspunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Methode ist ein weiter Interpretationsbegriff, der sowohl für die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts als auch des formellen Verfassungsrechts 198, hier besonders des Verfassungsorganisationsrechts, Geltung beansprucht: „Die Interpretation ist Methode und Weg, auf dem der Richter den Inhalt einer Gesetzesbestimmung unter Berücksichtigung ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung erforscht, ohne durch den formalen Wortlaut des Gesetzes begrenzt zu sein" 1 9 9 . Dem Anspruch nach hat sich das Bundesverfassungsgericht zu den herkömmlichen Wegen der Gesetzesauslegung durch Textentfaltung mit dem Ziel bekannt, den objektiven Willen des Gesetzgebers zu ermitteln. „Diesem Auslegungsziel dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte"200. Die Frage, inwieweit dies nur methodisches Postulat ist, von dem die Methodenpraxis des Bundesverfassungsgerichts abweicht, ist häufig thematisiert worden 2 0 1 und kann hier offenbleiben. Feststeht, daß bei der Verfassungsinterpretation weitere Gesichtspunkte hinzutreten, die sich von der überkommenen Gesetzesauslegung entfernen und von einer ganz bestimmten Verfassungstheorie geleitet sind. Hier kehrt häufig die entschiedene Distanzierung des Bundesverfassungsgerichts von der „Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus"202 wieder. Die staatsrechtliche Begriffswelt wird vom 198
Vgl. BVerfGE 15, 167 (194); 3, 225 (230). BVerfGE 35, 263 (279). 200 BVerfGE 11, 126 (129f.). Insoweit ist die Feststellung von Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 47, zutreffend, das Bundesverfassungsgericht habe bei der Frage, wie Verfassungsnormen auszulegen seien, an die herkömmlichen gesetzespositivistischen Auslegungsregeln angeknüpft. 201 Vgl. etwa Roellecke, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 24ff.; Hesse, Grundzüge, Rn. 58; AK-GG-Stein, Einleitung II, Rn. 31 ff.; Stern, Staatsrecht I, § 8 I I I 4 (S. 131). Siehe allerdings auch Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 51, der der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Vorschriften des Bund/Länder-Verhältnisses attestiert, in ihr werde „mit nicht nachlassender Akkuratesse klassisch interpretiert". 199
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Gericht nicht aus sich selbst heraus konstruiert. Ablehnung des Positivismus bedeutet Loslösung von dem Axiom, daß die Verfassungsnorm ein eigenes, von der Wirklichkeit unabhängiges Sein hat 2 0 3 . Besonders deutlich ist dies schon in einer frühen beamtenrechtlichen Entscheidung geworden, die weithin Aufsehen erregte 204 . Im Gesetz zur Regelung der Rechtsstellung der unter Art. 131 GG fallenden Personen wurde insbesondere der beamtenrechtliche Status solcher Angehöriger des öffentlichen Dienstes geregelt, die nach 1945 wegen ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP ihre Beschäftigung verloren hatten. Die Entscheidung über Verfassungsbeschwerden, die gegen dieses Gesetz angestrengt wurden, hing wesentlich von der Frage des Weiterbestehens dieser Beamtenverhältnisse über den 8. Mai 1945 hinaus ab. Im Urteil vom 17. Dezember 1953 zum G 131 205 nahm das Bundesverfassungsgericht an, daß die Beamten Verhältnisse am 8. Mai 1945 erloschen sind. Die Begründung beginnt mit der Feststellung, daß der Wortlaut des Art. 131 GG für die Frage nichts hergebe. Gleiches gelte für die Entstehungsgeschichte. Klarheit lasse sich nur gewinnen, „wenn man die Ereignisse vom Mai 1945 in ihrer politisch-historischen und staatsrechtlichen Bedeutung erkennt" und dann prüfe, „ob die Annahme des unveränderten Weiterbestehens der Rechte der Beamten sich mit dem so gewonnenen Bilde vereinbaren" 206 lasse. Der Übergang vom Dritten Reich bis zur Rekonstituierung deutscher Staatlichkeit sei kein Wechsel der Staatsformen gewesen, sondern eine historisch-politische Umwälzung. Die Rechtsstellung der Beamten könne davon nicht im Sinne einer Kontinuität unberührt bleiben. Wer für die Ereignisse des Jahres 1945 lediglich von einem „Wechsel der Staatsformen" sprechen wollte und daraus nach vorgeblich anerkannten Regeln des Staatsrechts ein Weiterbestehen der Beamtenrechte folgern wollte, bleibe „an der Oberfläche der Dinge haften" 2 0 7 . Das Gericht rechtfertigte seine Einschätzung mit einer Analyse der politischen Praxis des Dritten Reiches, seiner „Rechtswirklichkeit", „denn die Einordnung eines staatsrechtlich relevanten Sachverhalts unter einen Rechtsbegriff kann nur aufgrund einer unmittelbaren und umfassenden Anschauung der tatsächlichen Verhältnisse und des politischen Zusammenhangs, in dem sie stehen, vollzogen werden" 2 0 8 . Danach ist die Tatsachenfeststellung nicht nur eine Sammlung der Fakten, die der Rechtsanwendung vorangeht, sondern die Tatsachen nehmen auf die Norm, die Beurteilungsmaßstab sein soll, Einfluß. Anders und im Sinne Smends formu202
BVerfGE 3, 225 (232); 23, 98 (106). So aber etwa G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 335: „Alles Recht ist Beurteilungsnorm und daher niemals mit den von ihm zu beurteilenden Verhältnissen zusammenfallend." 204 Vgl. Forsthoff, DVB1. 1954, S. 69. 205 BVerfGE 3, 58 ff. 206 BVerfGE 3, 58 (85). 207 BVerfGE 3, 58 (85). 208 BVerfGE 3, 58 (85). 203
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liert: Die Verfassungsnorm ist nur in wechselseitigem Bezug zum Integrationsprozeß richtig zu verstehen. Das Problem der Normativität ist die „Frage der spezifischen Substanz des Staates, als Gegenstand rechtlicher Regelung durch die Verfassung" 209 . Wirklichkeitsbedingtheit und Normativität der Verfassung lassen sich nicht unterscheiden. Verfassungsanwendung ist nicht allein logische Gedankenoperation, sondern auch wertende Stellungnahme zur politischen Lage. Der „politische Raum", so heißt es in einer anderen Entscheidung, dürfe nicht außer acht bleiben, denn auf ihn beziehe sich die Entscheidung und in ihm wirke sie sich aus 2 1 0 . Nicht zu Unrecht hat Forsthoff dem entgegengehalten, die Entscheidung zum G 131 entnehme den Rechtsspruch nicht einer Norm, sondern einer Deutung der Geschichte 211 . Sieht man in Zusammenhang damit, daß das Bundesverfassungsgericht nur kurz zuvor, im Urteil vom 21. Mai 1952, apodiktisch festgestellt hatte, es könne „nur Rechtsfragen" 212 entscheiden, so wird ein weites Hineinragen der Rechtsfragen in den Bereich des Politischen nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sichtbar. (2) Die Diskussion um den Status des Bundesverfassungsgerichts Mit diesen methodischen Aussagen korrelieren Äußerungen der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, die ihr Selbstverständnis 213 betreffen. Diese Äußerungen entstammen vor allem der sogenannten „Status-Diskussion" des Jahres 1952. Damals gab das Plenum des Bundesverfassungsgerichts, maßgeblich geprägt durch den zum Berichterstatter bestimmten Verfassungsrichter Gerhard Leibholz 2 1 4 , in Briefen an den Bundespräsidenten, den Bundeskanzler und den Bundesratspräsidenten eine Bestimmung seines eigenen Status 215 . Die Verfassungsrichter stellten sich auf den Standpunkt, das Bundesverfassungsgericht sei sowohl „eine echte richterliche Körperschaft" 216 als auch „ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan" 217. Beides war auf dem 209
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 188. BVerfGE 1, 208 (259). 211 Forsthoff, DVB1. 1954, S. 69. 212 BVerfGE 1, 299 (306). 213 Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 57, spricht kritisch von einer „Standesideologie" der Verfassungsrichter. 214 Vgl. JöR n.F. 6 (1957), S. 120; Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 281 m. Fn. 8, beruft sich auf eine Auskunft von Leibholz, wonach dieser allein den sogenannten „Statusbericht" entworfen habe, der nach Vorlage im Plenum des Bundesverfassungsgerichts diskutiert wurde. 215 Zum Verlauf der Diskussion vgl. auch Baring, Am Anfang war Adenauer, S. 391 ff. 216 So Leibholz als Berichterstatter, in: JöR n.F. 6 (1957), S. 120. 217 Einleitungssatz der Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts über seine Stellung, in: JöR n.F. 6 (1957), S. 144. Treffend beschreibt Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 101, diese Selbstcharakterisierung des Gerichts als handstreichartigen Einbruch in das Gefüge der Staatsfunktionen nach dem Grundgesetz. 210
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Korioth
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Hintergrund der Weimarer Lage des Staatsgerichtshofes nicht selbstverständlich. Dieser wurde fast unbestritten nicht zu den Organen des Reiches im Sinne des Art. 5 WRV gerechnet 218 . Große Teile der Staatsrechtslehre, allen voran Carl Schmitt, hatten dem Staatsgerichtshof zudem die Qualität eines echten Gerichts abgesprochen 219. Auch die Selbstbestimmung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan „mit höchster Autorität" ist keine Tautologie. Der Ausdruck soll besagen, es sei „ein den anderen obersten Bundesorganen ebenbürtiges Verfassungsorgan" 220. Insbesondere Leibholz hat in seiner Einleitung zur Materialsammlung über den Status des Bundesverfassungsgerichts daraus Folgerungen gezogen, die das Schwergewicht auf die Organstellung des Bundesverfassungsgerichts legen: „Das Bundesverfassungsgericht als Organ der allgemeinen Gewaltenkontrolle bewegt sich ... bei der Ausübung seiner rechtsprechenden Funktion innerhalb jenes Verfassungsrechtskreises, in dem der Staat sein spezifisches Wesen bestimmt und erst zur wirklichen Einheit sich konstituiert... Der Rechtsstaat des Bonner Grundgesetzes unterscheidet sich von dem der Weimarer Verfassung und der Bismarckschen Verfassung entscheidend dadurch, daß hier zum erstenmal in der deutschen Geschichte der Prozeß der staatlichen Integration selbst sich auch mit Hilfe der Rechtsprechung eines Gerichts vollzieht .. . " 2 2 1 . Damit hat das Bundesverfassungsgericht beansprucht, nicht lediglich „das Verfassungsrecht durch Entscheidungen zu entwickeln" 222 , zur „Fortbildung des Verfassungsrechts" berufen zu sein 223 , also in seinem besonderen Rechtsprechungskreis zur Rechtsfortbildung berufen zu sein, einer Aufgabe, die auch nach herkömmlichem Verständnis der Rechtsprechung zu den Aufgaben eines Gerichts gehört. Es hat seine Stellung und Aufgabe darüber hinausgehend dahin bestimmt, durch seine rechtsprechende Tätigkeit in den verfassungsmäßigen Prozeß der staatlichen Willensbildung eingeflochten zu sein. Es zählte sich zu den Verfassungsorganen, „deren spezifische Funktion und Wesensart einheitsbegründend oder ... integrierend auf den Staat wirken", weil es „in den verfassungsmäßigen Prozeß der staatlichen Willensbildung ... eingeschaltet" sei 224 . Das ist etwas prinzipiell neues: Verfassungsgerichtsbarkeit wird ihrer Funktion nach auf eine Ebene gehoben, die sich der politischen Gestaltung 218
Jerusalem, Die Staatsgerichtsbarkeit, S. 61 ff., anerkannte als Staatsorgane unter der Weimarer Verfassung lediglich das Staatsvolk, Reichstag, Reichsrat und Minister; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 117, sprach von „Hauptorganen" der Verfassung und ließ keinen Zweifel daran, daß er den Staatsgerichtshof nicht dazu zählte. Vgl. ferner Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 268 ff. 219 C. Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 74f., 98; Popitz, in: C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 101 ff. 220 Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR n.F. 6 (1957), S. 145. 221 Leibholz, in: JöR n.F. 6 (1957), S. 111. Die Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts hat sich diese Auffassung zu eigen gemacht, vgl. JöR n.F. 6 (1957), S. 144f. 222 BVerfGE 1, 351 (359). 223 BVerfGE 6, 222 (240).
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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durch Regierung u n d Gesetzgebung a n n ä h e r t 2 2 5 . Grundsätzlich jeder Vorgang des Verfassungslebens k a n n i n einen Prozeß vor dem Verfassungsgericht verwandelt w e r d e n 2 2 6 . Dieses Hineinragen der Verfassungsgerichtsbarkeit i n den Bereich des Politischen beruht auf einem Verfassungsverständnis, das unmittelbar auf Smend zurückführt u n d nur i n einem Punkt v o n der ursprünglichen Integrationslehre abweicht. D a ß Verfassungsgerichtsbarkeit i n den Bereich des Politischen ragt, ist zunächst keine ihr zukommende Besonderheit. Politische Bedeutung u n d Folgen können auch die Entscheidungen anderer Gerichte haben. Organ der staatlichen Willensbildung aber k a n n ein Gericht nur sein, wenn die N o r m e n , die i h m das M a ß des Richtens geben, politischen Charakter haben. Ansonsten wäre Verfassungsgerichtsbarkeit eine F o r m der Rechtsprechung, bei der es auf die Verfassungsorganstellung des Gerichts nicht ankäme. Gerade den politischen Charakter der Verfassungsnormen hat das Bundesverfassungsgericht i n der Status-Diskussion hervorgehoben. „ D a s Verfassungs224
Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma, in: JöR n.F. 6 (1957), S. 198 ff. Literarische Äußerungen einzelner Verfassungsrichter wiesen ebenfalls in diese Richtung einer weit über die Rechtsprechungsaufgabe im herkömmlichen Sinne hinausgehenden Funktion des Bundesverfassungsgerichts, so z.B. W. Geiger, DÖV 1952, S. 482: In der Hand des Bundesverfassungsgerichts liege „die Entwicklung unserer Verfassung (im dynamisch-politischen Sinne), der letztlich entscheidende Einfluß auf das Wollen und Können der übrigen Verfassungsorgane und die Begrenzung ihrer Zuständigkeiten und Macht". Eine dezidiert andere Auffassung zum Status des Bundesverfassungsgerichts hat von den Verfassungsrichtern der ersten Stunde, soweit ersichtlich, lediglich Friesenhahn, Zeitschrift für Schweiz. Recht n.F. 73 (1954), S. 129ff., vertreten. Das Verfassungsgericht fälle „eine normgebundene Entscheidung"; es nehme „nicht an der schöpferischen Gestaltung des politischen Lebens des Volkes teil" und trage „keine politische Verantwortung" (a.a.O., S. 158). Friesenhahn hat damit die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Damit einher geht bei Friesenhahn die Auffassung, auch weitgefaßte Verfassungsbestimmungen erlaubten die eindeutige und einzig richtige Entscheidung des gegebenen Falles. Das Verfassungsgericht könne „immer nur entfalten ..., was bereits in der Verfassung auch für die übrigen Verfassungsorgane erkennbar enthalten ist" (a.a.O., S. 158). 225 Vgl. Stern, Staatsrecht II, § 32 I I 4 (S. 347). Entschieden ablehnend zu dieser Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 132f.; ders., Das Bundesverfassungsgericht, S. 23, 230. Der im Jahre 1952 amtierende Justizminister Dehler hat den aus den StatusStellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts folgenden Anspruch sofort indirekt zurückgewiesen. Mit Blick auf die geplanten EVG-Verträge sagte Dehler in einer Rede vor Parteifreunden am 21. November 1952: „Sie wissen, die Barriere des Bundesverfassungsgerichts besteht für unsere Verträge... Ich möchte hoffen, daß in dem höchsten deutschen Gericht keine politischen Willensentscheidungen, sondern Rechtsentscheidungen fallen" (zitiert nach Baring, A m Anfang war Adenauer, S. 383). 226 Ygi ψ Weber, Weimarer Verfassung und Grundgesetz, S. 29. Schon in der 2. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 8. September 1948 äußerte der Abgeordnete Süsterhenn (CDU): „Wir haben keine Angst vor den ... Gefahren einer sogenannten justizförmigen Politik" (zitiert nach Schenke, NJW 1979, S. 1321).
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recht ... unterscheidet sich in seinem Wesen von dem des Zivil-, Straf- und Verwaltungsrechts dadurch, daß das Politische selbst hier inhaltlich zum Gegenstand rechtlicher Normierung gemacht w i r d " 2 2 7 . Verfassungsstreitigkeiten sind demnach politische Rechtsstreitigkeiten, weil Verfassungsrecht politisches Recht ist. Auch das ist zwar eine Grundvoraussetzung, aber noch keine der Integrationslehre spezifische Sichtweise. Ihre Rezeption zeigt sich erst im nächsten Schritt des Bundesverfassungsgerichts. Verfassungsrecht und Politik sind nicht nur durch die Beziehung von Norm und zu regelndem Gegenstand verbunden. Im Gegensatz zu anderen Rechtsgebieten ist die Beziehung hier wechselbezüglich. Das Verfassungsrecht ist Norm für den politischen Prozeß, aber auch Objekt des politischen Prozesses. Deshalb stellt sich das Problem der „rechtlichen Erfassung" der vitalen politischen Kräfte, dessen Bewältigung vom Verfassungsrecht verlangt, „dehnbare allgemeine Begriffe und weitgespannte Formeln" zu verwenden 228 . Bei der Auslegung der vagen Verfassungsbegriffe muß der Verfassungsrichter „dem objektiven politischen Sinngehalt der Verfassung gerecht" werden 229 . Da das „Wesen der Verfassung" darin besteht, eine „einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft zu sein" 2 3 0 , muß der Verfassungsrichter zwangsläufig durch seine Tätigkeit auf dieses Leben einwirken. Das ist die Erkenntnis Smends, der den Bereich der Politik als den Kreis bestimmt hat, „in dem der Staat sich und sein Wesen bestimmt und durchsetzt" 231 , und das Verfassungsrecht als Integrationsrecht wechselbezüglich mit dem dynamischen politischen Prozeß verknüpft hat 2 3 2 . Die bedeutsame Abweichung zur ursprünglichen Integrationslehre besteht darin, daß Smend den Integrationsprozeß allein den originär dazu berufenen politischen Instanzen überantwortete und die Verfassungsgerichtsbarkeit als Integrationsfaktor zunächst ausgeschieden hatte 2 3 3 , während das Bundesverfassungsgericht sich dazu bekannt hat, für diesen Kreis der Politik in besonderem Maße zu judizieren. Smends Trennung von Staat und Rechtsgemeinschaft fallt; oberster Maßstab des staatlichen Lebens ist nicht die von Smend in den zwanziger Jahren dem Integrationsprozeß selbst zugeschriebene Tendenz zur optimalen Verwirklichung staatlicher Einheit, sondern oberster Maßstab sind die Normen der Verfassung. Leibholz weist folgerichtig im Statusbericht dem 227 Leibholz, in: JöR n.F. 6 (1957), S. 121. Dazu auch Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht, S. 145 ff. 228 JöR n.F. 6 (1957), S. 122. 229 JöR n.F. 6 (1957), S. 122. 230 BVerfGE 19, 206 (220). 231 Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, S. 79. Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht, S. 146, aber auch S. 151, sieht darin den Rückgriff auf Triepels Überlegungen der zwanziger Jahre, vernachlässigt aber, daß Triepel seinerseits in diesem Punkt der Bestimmung des Politischen auf Smend zurückgreift. 232 Vgl. oben, 2. Teil, IV. 4. c) aa). 233 Vgl. oben, 2. Teil, IV. 4. d).
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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Bundesverfassungsgericht eine „politisch integrierende Funktion innerhalb des Staats- und Volksganzen" zu 2 3 4 . Deshalb ist der Leitgesichtspunkt bei der Auslegung vager Verfassungsbegriffe durch den Verfassungsrichter das Bemühen, „dem objektiven politischen Sinngehalt der Verfassung" gerecht zu werden 235 . Verfassungsgerichtsbarkeit ist nicht mehr allein rechtliche Kontrolle der anderen Staatsorgane, sondern Mitwirkung an der politischen Gestaltung 2 3 6 ; sie ist nach Leibholz „staatsmännische" Tätigkeit 2 3 7 . Dementsprechend lautet das Resümee von Stern zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts: „Verfassungsgerichtsbarkeit ist neben Rechtsetzung, Regierung und Verwaltung zu einem gestaltenden Faktor des staatlichen Lebens geworden" 238 . (3) Die Bundestreue und das Verfassungsverständnis des Bundesverfassungsgerichts Die Überlegungen des vorangehenden Abschnitts haben gezeigt, daß die Prämissen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter dem deutlichen Einfluß der Integrationslehre stehen. Die Aufnahme des Begriffs der Bundestreue, auch wenn er im Ergebnis vorsichtig gehandhabt wird, ist konsequenter Ausdruck dieses Verständnisses von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Begriff der Bundestreue verlagert den Bereich des justiziablen Rechts der Bund-Länder Beziehungen weit in den Kreis des politischen Prozesses hinein, bis hin zur rechtsförmigen Kontrolle des procedere der Verfassungsorgane von Bund und Ländern im 1. Fernsehurteil. Aus der Sicht der Politik auf der anderen Seite wird das Funktionieren des bundesstaatlichen Systems von einem extrakonstitutionellen Gesichtspunkt zu einem rechtlichen Kriterium. Die bewußte Unschärfe des juristischen Begriffs der Bundestreue ermöglicht dabei ein Offenhalten des materiellen Verfassungsrechts im Bereich der Beziehungen von Bund und Ländern. Verfassungsgerichtliche Entscheidungsfindung und politische Denkweise nähern sich, sobald die Bundestreue auf den Plan tritt, einander an. Das doppelte Dilemma dieses Verständnisses von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit liegt auf der Hand. Es besteht zum einen in der Annähe234
JöR n.F. 6 (1957), S. 132. Leibholz, in: JöR n.F. 6 (1957), S. 122; siehe dazu die Kritik von Thoma, in: JöR n.F. 6 (1957), S. 171. 236 Ygi Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht, S. 151. 235
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JöR n.F. 6 (1957), S. 122. Vgl. auch Leibholz, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 281 : Der Verfassungsrichter müsse in der Ausübung seiner „spezifisch richterlichen Funktion zugleich auch Qualitäten haben, die ihn in die Lage versetzen, in höherem Sinne politisch-staatsmännische Funktionen zu erfüllen". 238 Stern, Staatsrecht II, § 44 I I 1 (S. 951). Dagegen wiederum Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 230: „Das Bundesverfassungsgericht gewinnt nichts, wenn es sich mit seiner richterlichen Gewalt unter die Verfassungsorgane mischt und einen Anteil an der distribution der Staatsleitung erheischt."
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
rung an den in seiner Problematik bereits geschilderten Verfassungsbegriff der Integrationslehre 239 . Zum anderen ist die Neubestimmung der Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit bereits von ihren eigenen Prämissen aus in dem Punkt angreifbar, daß Verfassungsgerichtsbarkeit gleichzeitig „echte richterliche" Spruchtätigkeit 240 und Faktor innerhalb der politischen Gestaltung sein will. Wenn Rechtsanwendung vom Bundesverfassungsgericht als Erkenntnis aus vorgegebenen Normen, als determinierte Entscheidung im Sinne des objektiven Willens des Gesetzgebers verstanden wird, dann steht dazu die gleichzeitig von ihm okkupierte gestaltende Funktion des bewußten Einwirkens auf den politischen Prozeß im Widerspruch 241 . Die praktische Lösung dieses Dilemmas deutet sich in den meisten bundesstaatsrechtlichen Entscheidungen an. Die Bundestreue, die hier begriffliches Instrumentarium des Hineinragens in den politischen Bereich ist, wird bei der Entscheidungsfindung zurückgedrängt. Im Vordergrund steht die nach den klassischen Regeln vorgenommene Auslegung der geschriebenen Verfassung. Die dargestellte Restriktion der Bundestreue in der späteren Rechtsprechung korreliert bezeichnenderweise mit einer zunehmend auch ausdrücklich ausgesprochenen Zurückhaltung des Gerichts, auf den politischen Prozeß als Integrationsinstanz einzuwirken. Im Urteil vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der D D R bekennt sich das Bundesverfassungsgericht zum Grundsatz des „judicial self-restraint", der richterlichen Selbstbeschränkung. Das Verfassungsgericht habe sich selbst den Verzicht auferlegt, „,Politik zu treiben 1, d.h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen" 242 . Damit wird allerdings die Befugnis grundsätzlich aufrechterhalten, eine nicht rechtlich determinierte Entscheidung im Bereich des Verfassungsrechts treffen zu können. Die Befugnis wird lediglich mit der Selbstbeschränkung verbunden, sie im Verhältnis zum Gesetzgeber nur mit großer Zurückhaltung ausüben zu wollen. Judicial self-restraint in diesem Sinne ist keine rechtsmethodische, sondern eine verfassungspolitische Forderung 243 . Der Selbstbeschränkung entspricht es, den Grundsatz der Bundestreue von einem den föderalen Staatsaufbau beherrschen239
Vgl. dazu oben, 2. Teil, IV. 4. c). So Leibholz, in: JöR n.F. 6 (1957), S. 120. 241 Siehe auch Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht, S. 176 ff. 242 BVerfGE 36,1 (14). Zu früheren Ansätzen des Bundesverfassungsgerichts zu einem „judicial self-restraint" vgl. die Nachweise bei v.d.Heydte, FS W. Geiger, S. 909ff. Zum Begriff des „judicial self-restraint" auch Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht, S. 113 ff.; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 219 f. 243 Dieser Auffassung entsprechen in der Literatur etwa die Überlegungen von Schenke, NJW 1979, S.1322, für den die Auslegung der Verfassung einerseits „schöpferischen Charakter" hat, was den Gegensatz von gesetzgeberischer Entscheidung und gerichtlicher Verfassungsinterpretation auflockere, der andererseits aber gerade deshalb Gründe für das Gebot der richterlichen Zurückhaltung ins Feld führt. Die Übernahme einer „politischen Führungsrolle" durch das Gericht könnte die Integrationsbereitschaft 240
III. Auswirkungen der Integrationslehre
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den Grundsatz zu einem verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstab zurückzunehmen, der nur im Rahmen eines bereits bestehenden verfassungsrechtlichen Verhältnisses zur Anwendung kommen und nur bei mißbräuchlicher Kompetenzausübung verletzt sein kann. f) Gründe für die Anknüpfung an die Integrationslehre
Die bisherigen Überlegungen erlauben eine Antwort auf die Frage, woraus sich die Attraktivität der Integrationslehre für die Bestimmung der Funktion und der Methode der Verfassungsanwendung des Bundesverfassungsgerichts erklären läßt. Bei seiner Konstituierung fand das Gericht die ihm in Art. 93 GG eingeräumten umfassenden Kompetenzen vor. Das Bekenntnis zum politischen Prozeß als Integration und zur Integrationsfunktion der Verfassungsgerichtsbarkeit ermöglichte, wenngleich mit dem geschilderten Bruch zwischen rechtsanwendender und gestaltender Funktion, eine positive und machtvolle Bestimmung der Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Es kontrolliert nicht nur die Tätigkeit der übrigen Verfassungsorgane, insbesondere des Gesetzgebers, auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin, sondern es kann gleichzeitig kraft der von Smend übernommenen These der Wechselbezüglichkeit von Verfassung und politischem Prozeß den hinter dem Rechtsstreit stehenden politischen Konflikt mitentscheiden. Trotz des in jeder Hinsicht heiklen Streits um den Wehrbeitrag im Jahre 1952 hat das Gericht keinen Rückzug auf die Bestimmung als unselbständige, dem politischen Prozeß untergeordnete Instanz der Verfassungsanwendung unternommen. Der Verfassungsrichter Geiger hat darin im Jahre 1952 eine qualitativ neue und höhere Stufe der Entwicklung des demokratischen Staates gesehen: „Neben die parlamentarische Demokratie und die Präsidentschaftsdemokratie ist mit der Konstituierung der Bundesrepublik die freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie der dritten Gewalt getreten" 244 . Die Wünschbarkeit dieser justiziellen Demokratie ist auf dem Hintergrund der gescheiterten Weimarer Republik und des Dritten Reiches durchaus erklärbar. Die Verwendung eines bewußt unpräzisen Begriffs wie der Bundestreue dient dieser Funktionsbestimmung und unterstreicht sie. Er lockert die rechtliche Determinierung durch die Verfassung und gibt dem Gericht einen Maßstab an die Hand, bei dem es selbst entscheiden kann, ob er von der Rechtskontrolle in den Bereich politischer Gestaltung ausgreift; denn bei der Entfaltung der Bundestreue greifen die herkömmlichen juristischen Argumentationsregeln nicht, die eine rechtliche Determination vermitteln. Das Argumentationsmuster besteht stattdessen darin, einen Verfassungskonkretisierenden Rahmen zu entwickeln und diesem einzelne Falltypen und Anwendungsfalle unterzuordder politischen Kräfte schwächen und die Integrationsfahigkeit des Gerichts, verstanden im Sinne einer Befriedungsfahigkeit, vermindern (a.a.O., S. 1324). 244 W. Geiger, DÖV 1952, S. 481.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
nen. Die Offenheit der Argumentation, die den prinzipiellen Entscheidungsspielraum des Gerichts nicht verengt, ergibt sich daraus, die Bildung weiterer Anwendungsfalle ausdrücklich offenzuhalten 245 . Die Verwendung des in seiner Reichweite nicht abschließend bestimmten Begriffs der Bundestreue enthält also ein bewußtes nicht abschließendes Entscheiden der zugrundeliegenden Verfassungsfragen. Das kann durchaus ein Mittel der staatlichen Integration, zu der sich das Bundesverfassungsgericht als seiner Aufgabe bekannt hat, sein. Eine in anderem Zusammenhang von Isensee getroffene Feststellung gilt auch hier: „Das Unbestimmte ermöglicht Anpassungsfähigkeit. Das Sinnvariable wirkt integrierend, weil es eine Vielzahl von Erwartungen zu sammeln vermag" 2 4 6 . Der Begriff der Bundestreue vermeidet dogmatische Festlegungen, die vorschnell und in ihren Folgen für weitere Streitfälle unabsehbar dazu führen können, eine Seite der streitenden Parteien auf Dauer in die Rolle des Unterlegenen zu drängen. Trotz fehlender dogmatischer Festlegungen erlaubt aber die Bundestreue die Entscheidung des konkreten Verfassungskonflikts. Daraus folgt ein weiteres: das Bundesverfassungsgericht hat seine Spruchtätigkeit nicht nur unter den Gesichtspunkt der Befriedung kraft autoritativer Entscheidung gestellt, sondern es möchte auch durch sein Verfahren der Entscheidungsfindung überzeugen und befrieden. Offenheit des Ergebnisses durch Verwendung weitgefaßter Prinzipien macht das gefundene Ergebnis diskutierbar und angreifbar, während das Verfahren vermittels der Bundestreue unterschiedliche Interessen verarbeiten kann. Hier zeigt sich eine Parallele zur Staatstheorie Smends, die sich für den Vorgang der Integration interessiert, sein Ergebnis aber der zufriedenstellenden Integrationstätigkeit unterordnet 247 . I V . Die Integrationslehre in der bundesrepublikanischen Staatsrechtslehre Nach 1945 hat die literarische Auseinandersetzung um die Integrationslehre Smends mit einiger Verzögerung eingesetzt. Sie begann, von zwei Arbeiten Scheuners und Ehmkes 248 abgesehen, erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. 245
Siehe auch Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht, S. 69 ff., der ähnliche spielraumbewahrende und spielraumerzeugende Argumentationsweisen des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der vom Gericht entwickelten Fallgruppen der Zulässigkeit rückwirkender Gesetze erläutert. Zur Kritik dieser Art der Verfassungsanwendung hat bereits in den fünfziger Jahren Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 56ff., von der „Auflösung des normativen Rechts in Kasuistik" gesprochen. 246
Isensee, NJW 1977, S. 549. Siehe auch Bryde, S. 110: Die Übernahme des Konzepts der offenen Verfassung in ein System mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit führt dazu, daß das Verfassungsgericht „Hauptbegünstigter der,Öffnung' der Verfassungsauslegung" wird. 247 Vgl. oben, 2. Teil, II. 5. c) bb); II. 6. a).
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
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Den Umgang mit der Lehre Smends prägten, das wurde oben bereits angedeutet 249 , andere Rahmenbedingungen als in der Weimarer Republik. „Integration" war angesichts der summarischen Diskreditierung des juristischen Positivismus kein polemischer Begriff eines juristischen Neuerers mehr. Integration bedeutete stattdessen einen Orientierungspunkt für positive Anknüpfungen. Darüber schien man — die prinzipielle Gegnerschaft Ernst Forsthoffs 250 läßt dies um so deutlicher hervortreten — weitgehend einig zu sein 251 . Ein Anzeichen dafür ist, daß nach 1945 eine grundsätzliche Überprüfung der aus dem staatsrechtlichen Positivismus überkommenen Grundbegriffe, mit der die Weimarer Diskussion hätte fortgeführt werden können, zunächst nur zögernd in Gang kam. Umfassende Neubegründungsversuche der Staats- und Staatsrechtslehre blieben aus. Die Grundlinie bestand darin, vorsichtig die Neuansätze aus den zwanziger Jahren aufzunehmen, fortzuentwickeln, und, was in den Jahren der ersten Republik noch nicht oder nur in Ansätzen geschehen war, in die juristische Dogmatik einzubauen. Das Ausbleiben einer Grundsatzdiskussion hatte einen Grund, der nicht direkt auf die juristische Dogmatik zurückzuführen ist: Die Tatsache der beginnenden westdeutschen Staatlichkeit lenkte die Aufmerksamkeit auch der Verfassungsjuristen auf die Tagesaufgaben, deren Bewältigung notwendig war. „Die Tagesaufgaben, die der westdeutsche Neuaufbau mit sich bringt, sind groß, der westdeutsche Staat ist jung, noch wenig verwurzelt und eben doch ein halber" 2 5 2 . Erst mit Beginn der sechziger Jahre wurde das Fehlen der theoretischen Bemühung um Staat und Verfassung als Mangel empfunden. Hennis beklagte, das tief empfundene deutsche Staatsproblem habe nach 1945 keinen wissenschaftlichen Ausdruck, sondern eher wissenschaftliche Verdrängung erfahren 253 . Trotz des beeindruckenden Umfanges der staatsrechtlichen Literatur zu allen erdenklichen Einzelfragen suche man vergebens das „geistige Band" 2 5 4 . Damit übereinstimmend, fand Ehmke in der Staats- und Verfassungstheorie „nur Trümmer" 2 5 5 . Eine „volle Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaates" fehle 256 . Vielleicht aber hat sich die Staatsrechtslehre in den fünfziger Jahren ganz bewußt nicht erneut auf eine Grundsatzdiskussion mit der unvermeidlichen 248 Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung (1952), insbes. S. 61 ff.; Scheuner, FS Smend (1952), S. 253 ff. 249 Oben, 3. Teil, II. 2. b). 250 Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 39ff. 251 Karpen, JZ 1987, S. 441, meint, die Integrationslehre Smends sei nach 1945 von Verfassungsjuristen „allgemein akzeptiert" worden. 252 Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 3 f. 253 Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 11. 254 Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 11; Hesse, Rezension, S. 19. 255 Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 3. 256 Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 3.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Folge eines prinzipiellen Richtungsstreites eingelassen, dessen Ergebnis in Weimar eine Erschütterung des Legitimitätskernes der Verfassung gewesen war. Eine solche Erschütterung sollte unter dem Grundgesetz vermieden werden und wurde auch vermieden. Zu dem „Strohfeuer eines neuen Methodenstreits" 257 kam es nicht, und was die Legitimität der Verfassung betraf, so konnte Forsthoff im Jahre 1962 resümieren, es gebe „derzeit... keine grundsätzliche Gegnerschaft gegen das Grundgesetz, die ernsthaft ins Gewicht fiele" 258. Die Zurückhaltung bei der Behandlung von Grundsatzfragen charakterisiert den Zusammenhang, in dem die Integrationslehre Smends unmittelbar nach 1945 eine Wiederaufnahme, zumindest als Gegenstand der literarischen Auseinandersetzung, erfahren hat. Inwieweit die Smend-Diskussion zur SmendRezeption geworden ist, möchte der folgende Abschnitt in Grundzügen aufzeigen. 1. Die Weiterentwicklung des Integrationsansatzes in der Staatslehre Die Weimarer Diskussion hat — insbesondere in den Schriften Smends — zu den Versuchen einer antinormativistischen Begründung der Staatslehre und Staatsrechtslehre geführt. Nach 1945, auf dem Hintergrund der Erfahrungen des nationalsozialistischen Regimes, traten die Schwächen dieses Denkens hinsichtlich der Rationalisierung und Begrenzung politischer Macht ins Bewußtsein. Die Anknüpfung an Smend nach 1945 bestand darin, die Integrationstheorie von Staat und Verfassung zu einer Theorie des stabilen demokratischen und pluralistischen Verfassungsstaates weiterzuentwickeln. a) Der Staat als Aufgabe politischer Einheit
Diese Tendenz zeigt sich bereits in der Staatslehre, obwohl sie als Disziplin der Rechtswissenschaft nach 1945 kaum mehr eigenständige Bedeutung erlangte. Die Staatslehre ist nach 1945 in hohem Maße Verfassungslehre geworden oder durch diese ersetzt worden, womit an die in der Weimarer Zeit von C. Schmitt und Smend neubegründete Disziplin angeknüpft wurde. Den Staat als konkret wirkende Einheit politischen Geschehens hat die Rechtswissenschaft kaum mehr zu ihrem Gegenstand gemacht 259 . Hennis konstatierte sogar ein „völliges Absterben" 260 der Allgemeinen Staatslehre. Daran ist sicherlich richtig, daß 257
M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken, S. 12. Forsthoff, Der Staat 2 (1963), S. 385. 259 Vgl. Scheuner, Staatszielbestimmungen, S. 223; Ή.Ρ. Ipsen, DÖV 1974, S. 291 m. Fn. 15; Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13 Rn. 3, Rn. 144 m. Fn. 230. 260 Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 11. Einen entscheidenden Grund für den beginnenden Niedergang der Allgemeinen Staatslehre hat bereits in den zwanziger Jahren C. Schmitt, Verfassungslehre, S. IX, angegeben: „Eine bestimmte Auffassung von ,Positivismus4 diente dazu, verfassungstheoretische Grundfragen aus dem Staatsrecht in 258
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
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nach 1945 kein Werk mehr geschrieben wurde, das sich das Ziel gesetzt hätte, mit einem prinzipiellen Neuansetzen die Probleme des Staates zu erfassen oder eine systematische Ordnung des Diskussionsstandes zu geben 261 . Staatslehre wird heute mosaikartig geschrieben 262. Bei den von Juristen gelieferten Mosaiksteinen ist es Smends Erfassung des Staates als Summe dynamischer, zur Einheitsbildung führender Integrationsvorgänge, verbunden mit der Loslösung der Staatslehre vom Begriff des Staates als juristischer Person, die besondere Beachtung fand. Die Integrationslehre stellt sich der von Scheuner erhobenen Forderung, bei der rechtlichen Begriffsbildung des Staates nicht in „formale Realitätsferne" oder „bloße Normlogik" zu verfallen, sondern eine „dogmatische Abbreviation der Faktoren des Soziallebens und ihrer ideellen Bewertung" zu geben 263 . Für Scheuner ist der Staat in deutlicher Anlehnung an Smend ein „geistiger Lebensprozeß" 264 ; das „Wesen des Staates macht ... nicht etwas Seiendes, sondern seine Aufgabe aus" 2 6 5 . Auch Richard Bäumlin lehnt es ab, den Staat in statischer Betrachtungsweise als einen organisierten Verband zu verstehen, „als in sich und an und für sich bestehende körperhafte Wesenheit, die aus sich heraus tätig w i r d " 2 6 6 . Der Staat ist für ihn vielmehr — auch hier ganz im Sinne Smends — Inbegriff menschlicher Beziehungen und kann nicht außerhalb dieser
die allgemeine Staatslehre zu verdrängen, wo sie zwischen Staatstheorien im Allgemeinen und philosophischen, historischen und soziologischen Angelegenheiten eine unklare Stelle fanden." Die „allgemeine Staatslehre" war also ursprünglich der Versuch, den vom juristischen Positivismus des öffentlichen Rechts nicht behandelten Problemen einen wissenschaftlichen Ort innerhalb der Rechtswissenschaft zu erhalten. Indem die Grundfragen von Politik, Recht, Staat und Verfassung in der „Verfassungstheorie" der Prägung durch Schmitt und Smend wieder der Staatsrechtslehre angenähert und auf die Verfassung bezogen wurden, wodurch der Staatsbezug zurücktrat, mußte die juristische Grundlagenforschung in Gestalt der allgemeinen Staatslehre an Bedeutung verlieren. Die „Krise der Staatslehre" (Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 121) ist, so gesehen, Teil der Krise des Positivismus und die andere Seite des Aufstiegs der Verfassungstheorie. 261 Soweit es zu letzterem Ansätze gibt, handelt es sich nicht mehr um die hergebrachte Disziplin, sondern um eine Annäherung an die „political science" angelsächsischer Prägung, bezeichnend in diesem Sinne ist bereits der Titel des Buches von Zippelius: „Allgemeine Staatslehre (Politikwissenschaft)". Als Ausnahme von der geschilderten Tendenz ist allein zu nennen: H. Krüger, Allgemeine Staatslehre (19662). 262
Vgl. Häberle, AöR 102 (1977), S. 285; von Arnim, JZ 1989, S. 157 ff., dort aber auch die Forderung nach einer neuen holistischen Betrachtungsweise in der Staatslehre: „Nach dem historischen Prozeß der Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften aus einer früher einheitlichen Staatswissenschaft bedarf es heute des umgekehrten Prozesses hin zur Integration" (a.a.O., S. 159). 263 264 265 266
Scheuner, Art. Staat, S. 28. Scheuner, FS Smend (1952), S. 271. Scheuner, FS Smend (1962), S. 255. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 8.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
gedacht werden; der Staat „ist (Integra tions-)Prozeß" 267 . Ähnliche Formulierungen finden sich bei Hesse 268 . Diese Anknüpfungen an Smend haben durchaus eine faktische Basis. Die Krise des Staates, seit 1918 in Deutschland thematisiert und von Smend durch die Integrationslehre mit dem Versuch einer Antwort versehen, war nach 1945 nicht behoben. Auch die Bundesrepublik ist, wenngleich aus anderen Gründen als die Weimarer Republik, kein Staat im Sinne des überkommenen Verständnisses des Staates als starker, nach innen und außen souveräner Nationalstaat. Mangelnde Souveränität nach außen kraft des Einflusses der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, geographische Begrenzung und die ursprüngliche Konzeption der Bundesrepublik als Übergangsstadium deutscher Staatlichkeit lassen es verständlich erscheinen, daß Juristen nach 1945 nicht an einen Staatsbegriff anknüpften, dessen zentrale Merkmale die Eigenschaft des Staates als juristische Person und seine Innehabung der Staatsgewalt waren, sondern daß sie, Smend nachfolgend, dessen Antwort auf die Krise des Staates weiterdachten 269 . Gerade nach 1945 gab es die Möglichkeit, Smends Ansatz im positiven weiterzuentwickeln. Zwar ist die Entstehung der Bundesrepublik und ihrer Verfassung kein Ergebnis eines innerstaatlichen Integrationsprozesses gewesen, in den Jahren nach 1949 aber hat sich der westdeutsche Staat trotz mancher Krisen als Staat der Normallage erwiesen. Der permanente Ausnahmezustand der Weimarer Republik ist der Bundesrepublik erspart geblieben, womit sie weit mehr dem Leitbild der Integrationslehre entspricht als der politisch instabile Weimarer Staat. Die Deutung des Staates als Integration erschien so in einem neuen Licht: Anders als in Weimar ging es nicht mehr um den Appell zur Einheit in einem von innen bedrohten Staat, sondern um die Sicherung und Festigung der erreichten (Teil-)Einheit. Integration wandelte sich vom Zentralbegriff einer Staatslehre des Aufrufs zur Einheit zu einem teilweise den tatsächlichen Zustand beschreibenden Element einer Staatslehre. Doch im Zusammenhang der von Smend übernommenen Dynamisierung des Staatsbegriffes läßt sich auch die erste deutliche Abweichung vom Ansatz des Urhebers der Integrationslehre feststellen. Smend hatte, unter Berufung auf die lebensphilosophische Fundierung seiner Staatslehre, eine Automatik der „Verwirklichung der Lebensgesetzlichkeit des Geistes" 270 in der Herstellung staatlicher Einheit postuliert. Das konnte nur geschehen, indem die staatliche Wirklichkeit in ihrer Tendenz zur staatlichen Einheit als bereits vorgeformt begriffen wurde 2 7 1 . Gleichzeitig hatte Smend das herkömmliche juristische 267
Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 9. Hesse, Grundzüge, Rn. 6; ders., in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 16; ders., VVDStRL 17 (1959), S. 17f., 45. 269 Natürlich kam hinzu, daß der Staat als juristische Person untrennbar mit dem verpönten Positivismus verbunden war. 270 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 141. 271 Vgl. oben, 2. Teil, II. 5. c) bb); II. 6. 268
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
285
Staatsverständnis nicht völlig überwunden. In seinem Ansatz fand neben der Integration auch die „geordnete und gestaltende Machtentfaltung" 272 des Staates ihren Platz, wobei deren Verhältnis zur staatlichen Einheitsbildung kraft Integration weitgehend ungeklärt blieb. Beidem, sowohl der Automatik der Integration als auch dem komplementären Charakter des Staates als Machtentfaltung, begegnet die Smend-Schule nach 1945, unter völliger Absage an eine lebensphilosophische Begründung der Staatslehre, mit Skepsis. Der Faktor der Staatsgewalt wird zugunsten der Integration weitgehend ausgeschieden. Der Staat verliert den Charakter eines Herrschafts- und Willensverbandes 273 . Ganz bewußt wird er den gesellschaftlichen Kräften überantwortet. Den modernen Staat beschreibt etwa Hesse dahin, daß er „zu einem Stück Selbstorganisation der Gesellschaft" werde, „und in dem Maße, in dem er zum Produkt gesellschaftlicher Kräfte" werde, verliere „er seinen Charakter als vorgegebene Einheit" 2 7 4 . Die Abkehr von einem staatstheoretischen Denken, dessen Zentrum die Staatsgewalt bildet, erklärt dann auch den anhaltenden Niedergang der Disziplin der allgemeinen Staatslehre: Mit der verpönten Sicht des Staates als Rechtspersönlichkeit fallen zugleich die Begriffe der Souveränität, des obersten Staatsorganes, der Verteilung und Ausübung staatlicher Gewalt hinweg, die ein klassifikatorisches Erfassen im Rahmen einer allgemeinen Staatstheorie erlauben. Der Staat als Aufgabe der „Idee des Richtigen" 275 ist nur im Hinblick auf seine individuelle geschichtliche Wirklichkeit denkbar. Staatslehre kann, von dem Blankettbegriff der Integration abgesehen, nur beschreibende Staatslehre sein; zu einem abstrakten begrifflichen System kann sie von dieser Grundlage aus nicht weitergeführt werden. Die einseitige Betonung der Integration in der an Smend anknüpfenden Staatslehre nach 1945 verändert schließlich den Charakter der Integration selbst. An die Stelle des bei Smend vorherrschenden Erlebnisses der Integration, innerhalb dessen die „immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates" 276 zur „stetigen Harmonisierung" 277 gerät, tritt die bewußte Integrationshandlung, die gestaltende Tätigkeit. Damit wird auch die Gefahr des Verfehlens staatlicher Einheit von der Staatslehre stärker thematisiert. Für Scheuner ist der Staat nur insoweit ein geistiger Lebensprozeß, als in ihm „bewußtes menschliches Handeln eine Kollektiveinheit ... zu einheitlichem Wirken vereinigt" 278 . Der auf den Staat bezogene Begriff des Politischen bei 272
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 207; vgl. oben, 2. Teil, III. 2. So ausdrücklich Hesse, VVDStRL 17 (1959), S. 17 f., 45; Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 19, 38 ff. 274 Hesse, VVDStRL 17 (1959), S. 18. 275 Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 17. 276 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189. 277 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 175. 278 Scheuner, FS Smend (1952), S. 271; ders., Staatszielbestimmungen, S. 223: Der Staat ist „konkret wirkende Einheit politischen Lebens"; ferner ders., Art. Staat, S. 39, 26. 273
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Scheuner meint dementsprechend „spezifisch die auf die Verwirklichung" des staatlichen Prozesses „gerichtete Tätigkeit" 2 7 9 ; politisches Handeln ist auch schöpferische „Entscheidung" 280 . Die Gefahrdungen, die eine durchaus nicht harmonisch gedachte Suche nach der staatlichen Einheitsbildung mit sich bringt, beschäftigen Hesse und Ehmke. Die Existenz der „politischen Handlungseinheit" 281 Staat beschreibt Hesse dahin, daß sie „auf dem Erfolg des Prozesses staatlicher Integration" 2 8 2 beruht. Hesse begreift damit die Herstellung staatlicher Realität nicht im Sinne einer wertverwirklichenden staatlichen Lebenstotalität, sondern als Herstellung einer „Einheit funktioneller A r t " 2 8 3 . A n die Stelle der konfliktfernen Integration Smends tritt die Aufgabe der Regelung und Bewältigung sozialer und politischer Konflikte einer heteronomen pluralistischen Gesellschaft 284 . Das kann mißlingen: „Wo es nicht mehr möglich ist, aus der Vielheit der einzelnen Willensrichtungen einen verbindlichen Gesamtwillen zu bilden, wo es nicht mehr gelingt, im Wege der Verständigung oder der Mehrheitsentscheidung politische Ziele zu setzen und zu verwirklichen, zerbricht der Staat als politische Handlungseinheit" 285 . Die politische Einheit Staat als Ziel bewußten politischen Gestaltens scheint auch Ehmke im Rahmen einer Kritik der Smendschen Integrationslehre vorzuschweben. Der Staat sei kein Sinnsystem; es bedeute eine „unzulässige Vereinseitigung der staatlichen Wirklichkeit" und eine „unzulässige Vereinheitlichung politischer Lebens Vorgänge" 286 , wenn Smend die Realität des Staates allein als geistiges Phänomen auffasse. Die im Integrationsbegriff ursprünglich enthaltene Gewißheit der Herstellung der staatlichen Einheit ist der Smend-Schule also verloren gegangen. Damit verschiebt sich auch der Akzent bei der Dynamisierung des Staatsbegriffes. Bei Richard Bäumlin bezeichnet Dynamik die Geschichtlichkeit und Zeitgebundenheit des Staates 287 , bei Hesse liegt der Schwerpunkt auf der Bewältigung von politischen Konflikten ohne Aufhebung grundsätzlicher Differenzierungen. Aus der Verdrängung des Integrationserlebnisses durch die bewußte Gestaltung ergibt sich ein weiteres. Die Bestimmung des Staates von seinen Zwecken her, bei Georg Jellinek noch einer der tragenden Pfeiler der Staatslehre 288 , bei Smend dann an den Rand des Interesses gedrängt 289 , erlebt in der Smend-Schule 279
Scheuner, FS Smend (1962), S. 259. Scheuner, FS Smend (1952), S. 272. 281 Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 15, 16. 282 Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 16. 283 Hesse, Grundzüge, Rn. 6; vgl. hierzu Vorländer, S. 328. 284 Vgl. Hesse, Rezension, S. 22. 285 Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 16. 286 Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 66. 287 Vgl. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 9: „Staat und Recht stehen nicht bloß in der Zeit, die Zeit ist vielmehr eine Kategorie ihrer inneren Struktur". 288 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 230 ff. 289 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 127f., 153 f., ferner S. 129, 138. 280
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
287
eine erneute Hervorhebung. Es sei eine Bildung politischer Gemeinschaft notwendig, „die das friedliche und geordnete Zusammenleben der Menschen überhöht und schützt" 290 . Es sind die obersten Werte Frieden und Gerechtigkeit, „aus denen der Staat im sozialen Leben seine Bestimmung empfängt" 291 . Schließlich wird, anders als bei Smend, der Staat als Integrationssystem nicht mehr vom Recht getrennt. Für Hesse ist der Erfolg staatlicher Integration „notwendig auch eine Frage des Rechts" 292 . Das Zusammenwirken, das zur Bildung politischer Einheit führt, bedürfe des geordneten Verfahrens und der Organisation. Recht gilt als Instrument politischer Gestaltung und Erneuerung, als „politischer A k t " 2 9 3 . Sucht man nach den Gründen für die Skepsis gegenüber dem Teil der Staatslehre Smends, der Integration als sich selbst erfüllenden Vorgang begreift, der einer Stützung durch steuernde Faktoren wie das Recht nicht bedürfe, so darf man nicht bei dem Hinweis auf die theoretischen Schwächen und Brüche des Smendschen Staatsbegriffs, die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit bereits geschildert wurden, stehenbleiben. Die Lehren Weimars und die besondere geschichtliche Situation der Bundesrepublik sind vielleicht ebenso wichtige Ursachen bei der Verschiebung des Integrationsansatzes gewesen. Die Lehre Weimars war, daß dieser Staat gerade an der weltanschaulichen Zerrissenheit seiner Bürger gescheitert war. Smends Integrationslehre mit ihrem Appell an die Pflicht des einzelnen Bürgers zur konstruktiven Mitarbeit im Staat war wirkungslos verhallt. Prägend für das politische Leben in der Bundesrepublik war lange Zeit ebenfalls eine geringe Bewußtheit staatlicher Einheit, wenngleich aus anderen Gründen als in Weimar. Trotz mancher politischer Massenbewegungen, wie etwa in der Frage der Wiederbewaffnung, hat in der Bundesrepublik lange die politische Enthaltung der Bürger das staatliche Leben geprägt 294 . Wohl auch angesichts dessen stellt Hesse die Frage, ob die breite Zustimmung zum Grundgesetz die Bereitschaft umfasse, auch in Krisenlagen die verfassungsmäßige Ordnung zu bejahen und zu verteidigen 295 . Skepsis gegenüber geistiger Verbundenheit im Staat ist aber möglicherweise auch eine Antwort auf die frühere Übersteigerung des Staatsgedankens bis hin zum Nationalsozialismus. Das erklärt, warum ein Ansatz, der bei Smend bereits eine wichtige Stelle einnahm, nach 1945 sogar zum Charakteristikum der SmendSchule wurde 2 9 6 . Es handelt sich darum, daß der Staat nicht als gegeben, 290
Scheuner, FS Smend (1952), S. 271. Scheuner, FS Smend (1952), S. 271. 292 Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 16. 293 Scheuner, Art. Staat, S. 38. 294 Siehe etwa die Analyse aus der Sicht des Jahres 1967 bei Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik, S. 175 ff. 295 Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 21. Vgl. auch H. P. Ipsen, DÖV 1974, S. 289ff., 293, der nach 25 Jahren der Geltung des Grundgesetzes meinte, der „Basiskonsens" der ersten Jahre nach 1945 sei verlorengegangen. 296 Vgl. J.H. Kaiser, AöR 108 (1983), S. 21 ff. 291
288
3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
sondern als „aufgegeben" gilt. Diese Aufgegebenheit hatte Smend zunächst ganz wertphilosophisch verstanden: der Staat sei eine Kulturerrungenschaft, die wie alles geistige Leben steter Erneuerung bedürfe; integrierende Gehalte seien wie der Staat als Ganzes „dauernd aufgegeben" 297 . In der Smend-Schule wendet sich diese Aufgegebenheit von einem geistigen Phänomen zu einer realsoziologischen Aufgabe. Hesse versteht unter Aufgegebenheit des Staates, daß die politische Handlungseinheit der Herstellung bedarf. „Staat und staatliche Gewalt können nicht als etwas Vorfindliches vorausgesetzt werden. Sie gewinnen Wirklichkeit nur, wenn die in der Wirklichkeit menschlichen Lebens bestehende Vielfalt der Interessen ... zu einheitlichem Handeln und Wirken verbunden" 298 werde. Dies sei ein ständiger Prozeß und darum stets aufgegeben. Noch deutlicher kommt die Wendung zur Erfassung des sozialen Substrats bei Bäumlin zum Ausdruck. Für Bäumlin verdeutlicht die Sichtweise des Staates als Aufgabe die „heute zentrale Frage: wie, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen im pluralistischen Staate der Gegenwart das Volk unter Befriedung zunächst gegebener Gegensätze immer wieder zur Einheit gebracht werden könne" 2 9 9 . Gerade daran zeigt sich jedoch die Problematik dieses Ansatzes der Staatslehre, der in der Weiterführung der Integrationslehre noch deutlicher hervortritt als bei Smend selbst. Die geforderte Erfüllung der staatlichen Aufgabe ist von bestimmten politischen Prämissen abhängig. Der Staat darf in seinen Grundlagen nicht angezweifelt werden. Die Forderung aufgegebener Verständigung versagt bei fundamentalen politischen Gegensätzen. Denn auf welche Weise kann der Integrationsprozeß menschliches Verhalten verkraften, das nicht aufgegeben ist? Offensichtlich finden in der Integrationsgemeinschaft politische Minderheiten von vornherein keinen Platz, die irgendeine Form negativer Integration für sich in Anspruch nehmen. Wird das Verständnis des Staates als Wirkungseinheit aller Bürger konsequent weitergedacht, dann müssen auch Grundrechte ihren Charakter als Verbürgungen der Eingriffsfreiheit zunehmend verlieren. Und weiter: wer entscheidet überhaupt darüber, welches Verhalten aufgegeben ist? Solange darauf keine Antwort gefunden ist, verdient ein Einwand von Ladeur Beachtung, der auf die soziale Funktion der ursprünglichen Integrationslehre der zwanziger Jahre abzielt 300 . Auch die an sie anknüpfenden Staatslehren vermögen ideologischen 297
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 134f., 165 f., 190. Hesse, Grundzüge, Rn. 6; ders., in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 15 f. Siehe auch Scheuner, FS Smend (1962), S. 255; Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 18 f.; dazu Vorländer, S. 328. 299 Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 19. Bei der Beantwortung der Frage findet ein Problem zunehmend Beachtung, das von dem Urheber der Integrationslehre nicht erörtert wurde: das Problem der Formierung politischer Kräfte in der „Gesellschaft" zu „Verbänden" und „Interessengruppen" und ihre staatliche Relevanz, das Smends unmittelbares Aufgehen des einzelnen Bürgers im Staat zurücktreten läßt. 298
300
Ladeur, in: Ordnungsmacht?, S. 117 f.
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
289
„Zement" zum Aufbau eines „hegemonisch funktionierenden politischen Institutionensystems" 301 anzubieten. b) Der unitarische Bundesstaat
Die Verbindung aus Annäherung und Distanz zu Smend setzt sich in den Arbeiten der Smend-Schule zur Bundesstaatslehre fort. Hesses Schrift über den unitarischen Bundesstaat läßt sich als Aufgreifen und Versuch einer Antwort auf Smends Forderung der zwanziger Jahre lesen, eine Bundesstaatslehre müsse erklären, warum der Bundesstaat in einer bestimmten historischen Situation ein sinnvolles politisches System sein könne 3 0 2 . Hesse geht es um die Klärung des „Wesens heutiger Bundesstaatlichkeit" 303 . Zur juristischen Bestimmung des „heutigen Sinnes" 304 des bundesrepublikanischen Bundesstaates mustert Hesse die überkommenen Bundesstaatslehren und verwirft sie ohne Ausnahme als für die Erklärung des gegenwärtigen Bundesstaates unbrauchbar. Die formalistische Bundesstaatslehre Labands wird schon deshalb von vornherein zurückgewiesen, weil ihre formale, begriffliche Betrachtungsweise die „entscheidenden Fragen" unbeantwortet lasse 305 . Bei „aller Bedeutung der begrifflichen Klärung" könne sie nicht die Fragen nach dem „Sinn und der Rechtfertigung des Bundesstaates"306 beantworten. So bleibt auch die alte begriffliche Streitfrage, ob ein aus Staaten zusammengesetzter Staat überhaupt möglich sei, bei Hesse völlig unerwähnt. Diese Begründung der a-limine-Zurückweisung begrifflicher und konstruktiver Bundesstaatslehren ist nur auf der Grundlage der Staatslehre Smends verständlich. Hesse setzt die Forderung Smends an eine juristische Staatslehre, auf die realen politischen und historischen Gegebenheiten einzugehen und auf dieser Grundlage den Sinn der konkreten staatlichen Ordnung zu erklären, als selbstverständlich, nicht weiter der Begründung bedürftig voraus. Beifallig wird der Satz Smends zitiert, eine Bundesstaatstheorie müsse das Ganze verständlich machen 307 . Die „Wirklichkeit des Bundesstaates", aber auch das „bundesstaatliche Prinzip, das sich nicht von dieser Wirklichkeit ablösen" lasse, seien „etwas Geschichtliches" 308 . Damit übereinstimmend bemerkt Scheuner, das „Bild" des 301
Ladern, in: Ordnungsmacht, S. 118; vgl. auch Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, S. 79. 302
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 225; und dazu oben, 2. Teil, III. 3. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 120. 304 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 116,118. Im gleichen Sinne Scheuner, DÖV 1962, S. 641. 303
305
Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 118. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 117. 307 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 117, unter Verweis auf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 244. 308 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 119. Siehe auch Scheuner, DÖV 1962, S. 641 : „Der Bundesstaat ist dank seiner komplizierten Bauart und seiner engen Bindung an 306
Korioth
290
3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Bundesstaates müsse viel eher von einer historisch-pragmatischen Betrachtung als „von einer abstrakten Theorie her aufgebaut werden" 3 0 9 . Die formalen Fragen der Souveränität im Bundesstaat, der Herleitung der Staatsgewalt, erscheinen so als „Scheinprobleme" einer überholten Staats Vorstellung 310. Nur konsequent und kein Ausdruck der Abkehr von Smend ist es aber deshalb auch, wenn Hesse inhaltlich Smends Weimarer Lehre des Bundesstaates zurückweist, denn diese Lehre ist Ausdruck der damaligen geschichtlichen Situation und kann deshalb nach Hesses Prämisse zur Klärung der heutigen Bundesstaatlichkeit kaum etwas beitragen. Die Analyse der aktuell wirksamen politischen Kräfte ergibt, daß die Aufgabe des Bundesstaates heute nicht mehr darin bestehen kann, historisch gewachsene und politisch eigenständige Einzelstaaten in ein Staatsganzes zu integrieren, die Einheit des Gesamtkörpers zu erhalten und mit dieser Aufgabe, wie Smend dies noch getan hatte, den Bundesstaat gegenüber der Möglichkeit des Einheitsstaates zu rechtfertigen. „Die Individualität der deutschen Länder, die ,ganze Irrationalität ihrer geschichtlich-politischen Eigenart', und mit ihr die sachliche Differenziertheit des Gesamtkörpers sind bis auf wenige Reste dahin". Darin liege „die grundsätzliche Veränderung der Problemlage" 311 . Eine moderne Bundesstaatslehre hat sich für Hesse aber auch der Erkenntnis seiner Staatslehre zu stellen, daß staatliche Einheit kein automatisch sich vollziehender Vorgang ist, sondern des Konsenses der gesellschaftlichen Gruppen bedarf. Bundesstaatlichkeit bedeute auch Selbständigkeit und Vielfältigkeit der Initiativen, die es zu bewältigen gelte 312 . Vorrangiger Sinn des Bundesstaates ist seine Wirkungsweise im Rahmen der politischen Willensbildung und des Spiels der politischen Kräfte im Gesamtstaat 313 . So findet sich in der Bundesstaatslehre Hesses vorrangig die methodische Anknüpfung an Smend — den Versuch, den heutigen Bundesstaat mit Smends inhaltlicher Funktionsbestimmung zu erklären, unternimmt Hesse nicht. Indes zeigt sich, daß bereits diese methodische Anknüpfung an Smend zu einer grundsätzlichen Veränderung der Fragestellung einer staatsrechtlichen Abhandlung über den Bundesstaat führen konnte. Das belegt der Vergleich der Arbeit Hesses mit der zu Beginn des Jahrhunderts erschienenen Schrift Triepels über Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reich. Auch Triepel ging es um eine umfassende Beschreibung der Bundesstaatlichkeit seiner Zeit. Dabei wird jedoch sorgfaltig unterschieden: auf der einen Seite steht die Analyse der wandelbare geschichtliche Gegebenheiten ein Staatsgebilde, dessen Wesen und Eigenart immer nur am konkreten Einzelfall erfaßt werden kann". 309 Scheuner, DÖV 1962, S. 641. 310 Scheuner, DÖV 1962, S. 641 f. 311 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 126. 312 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 134. 313 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 139.
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
291
staatlichen Wirklichkeit, der politischen Kräfte, der Gefahren und Chancen in der Entwicklung des Bundesstaates; auf der anderen Seite steht die begrifflichjuristische Darstellung der Rechtsverhältnisse, wie sie sich aus der Reichsverfassung ergaben. Triepel hatte deshalb schon im Untertitel seiner Schrift angegeben, es handele sich um eine „staatsrechtliche und politische Studie". Diese Trennung spielt bei Hesse kaum eine Rolle mehr. Sein Weg zum juristischen Verständnis des Bundesstaates beginnt und ist untrennbar verknüpft mit den politischen und soziologischen „Voraussetzungen" der heutigen Bundesstaatlichkeit 3 1 4 . Auf dieser Grundlage stellt Hesse die Frage, wie der Wandel der tatsächlichen Erscheinungsformen der Bundesstaatlichkeit „theoretisch zu erfassen" 315 sei. An dieser Stelle gelangt die rechtliche Ordnung des Bundesstaates in der Verfassung in das Blickfeld: die Deutung des heutigen Bundesstaates als unitarischer Bundesstaat beruhe nicht „auf einer gedanklichen Konzeption, sondern auf der Erfassung eines vorgefundenen Tatbestandes", dessen „Eigentümlichkeit doch wesentlich durch die Art der normativen Ausgestaltung des bundesstaatlichen Prinzips in der Verfassung bestimmt" 3 1 6 sei. Das Recht ist also ein Teil des bundesstaatlichen Tatbestandes, ein Faktor unter mehreren, seine Eigenart liegt in der normativen Bestimmung. In der Funktionsbestimmung der Verfassung stimmt Hesse hier mit Smend überein: es handelt sich bei der Verfassung um die Rechtsordnung für den staatlich-politischen Prozeß. Mit der Betonung des normativen Charakters allerdings entfernt sich Hesse wiederum von Smend, nach dessen Auffassung die Verfassung nur Anregung und Schranke des politischen Prozesses sein konnte. Doch das führt bereits zur Verfassungstheorie der Smend-Schule, mit der sich der folgende Abschnitt beschäftigt. 2. Die Rezeption der Verfassungstheorie Smends Nach der Epoche des Unrechtsstaates des Dritten Reiches sahen sich die verfassungstheoretischen Bemühungen der Nachkriegszeit vor die Aufgabe gestellt, wissenschaftlich zu einer Fundierung des demokratischen Rechtsstaates beizutragen — eine Aufgabe, die in der Weimarer Republik erst zu einem geringen Teil angegangen worden war. Die verschiedenen nach 1945 entwickelten Ansätze sind der Aufgabe in ganz unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedlichen Wegen gerecht geworden. Die bundesrepublikanische verfassungsrechtswissenschaftliche Diskussion bietet, insoweit in Übereinstimmung mit der Weimarer Diskussion, ein buntes Bild. Schichten positivistischen Verfassungsdenkens werden überlagert durch soziologische, geisteswissenschaftliche, systemtheoretische und andere Ansätze. Übereinstimmung besteht lediglich darin, und das allerdings unterscheidet die 314 315 316
*
Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 139. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 139. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 146.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
heutigen Lehren von den der Weimarer Epoche in einem entscheidenden Punkt, die Legitimität der Verfassung und die von ihr getroffenen prinzipiellen Entscheidungen nicht in Frage zu stellen. In der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik ist dadurch das „normative Band" der Verfassung an die Stelle „geistiger, nationaler oder traditioneller Verbundenheit getreten" 317 . In der staatsrechtlichen Untersuchung nimmt die Verfassung den ersten Platz ein 3 1 8 . Das bedeutet jedoch nicht, daß sich die Verfassungsprobleme auf Verfassungsgesetzprobleme reduzierten und damit die Aufgabe der Verfassungsrechtswissenschaft gegenüber Weimar einfacher geworden wäre. Die hohe Ideologieanfalligkeit zentraler Gehalte des Verfassungsrechts ist ein Einfallstor verfassungstheoretischer Vorverständnisse. Das Kernproblem ist die verbindliche und dem Grundgesetz adäquate Verfassungstheorie 319. Der Rückzug in das „Wetterhäuschen des Positivismus" 320 ist angesichts dessen und auf dem Hintergrund des Richtungsstreits der zwanziger Jahre ausgeschlossen. Ein Blick auf zwei Hauptrichtungen der heutigen Diskussion um die Verfassungstheorie und den Verfassungsbegriff belegt dies. Die erste Richtung stellt sich ganz bewußt in die rechtsstaatlich-liberale Tradition des 19. Jahrhunderts, läßt aber auch Elemente dezisionistischen Verfassungsdenkens erkennen. Sie fragt nach den Möglichkeiten und der Bedeutung des Verfassungsgesetzes im Spannungsfeld von staatlicher Herrschaft und individueller Freiheit. Damit einher geht der weitgehende Verzicht auf neue inhaltliche Befrachtungen der Verfassung. Der formale Charakter der Verfassung als Organisation und Begrenzung der politischen Entscheidungsgewalt zugunsten der Freiheit der Bürger steht im Vordergrund 321 . Die Lebensordnung des Staates gilt nicht als durch die Verfassung normiert, sondern liegt ihr voraus. Die rechtliche Verfassung bringt die seinsmäßige politische Einheit des Staats nicht hervor, sondern der Staat ist die Voraussetzung für die Geltung der rechtlichen Verfassung. Der Sinn des Staatsrechts ist es, den Staat als politische Ordnung zu erhalten und zu stützen. Die Methodik der dogmatischen Bearbeitung der Verfassung ruht zuweilen auf der Grundlage eines ahistorisch anmutenden Normativismus 322 . Diese methodische Begrenzung trotz der weiten 317
Scheuner, Staatszielbestimmungen, S. 223. Vgl. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13 Rn. 3, Rn. 144 m. Fn. 230. 319 Vgl. E.-W. Böckenförde, NJW 1976, S. 2098. 320 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 64. 321 Vgl. E.-W. Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 58 m. Anm. 77f.; ders., Der Staat 9 (1970), S. 535; ders., NJW 1976, S. 2098: „Muß nicht ... die Verfassung gerade in einer demokratisch organisierten Staatsordnung und angesichts einer geistig-weltanschaulich wie ökonomisch pluralistischen Gesellschaft, als einheitsbegründende und -gewährleistende normative Festlegung von Organisation, Zielen und Grenzen der staatlichen Entscheidungsgewalt sowie des Grundverhältnisses von einzelnen, Gesellschaft und Staat angesehen und bestimmt werden?" 318
322
In pointierter Zuspitzung Leisner, Der Staat 7 (1968), S. 138: „Das öffentliche Recht ist normativ par excellence." „ . . . Das öffentliche Recht ist, es wird nicht. Sein Kern, das
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
293
Aufgabenbestimmung des Staatsrechts rechtfertigt sich für diese Richtung aus dem Zurücktreten grundlegender Verfassungsfragen, die durch das Grundgesetz entschieden sind und dadurch nicht länger zur Debatte stehen. Die Staatsrechtswissenschaft wird bezogen auf das Staatsrecht „als etwas normativ Gegebenes, substanziell bereits Entschiedenes", nicht auf eine „erst aufgegebene Ordnung" 3 2 3 . In radikaler Vereinseitigung und Verengung tritt diese Sichtweise bei Forsthoff in Erscheinung. Forsthoff rezipiert summarisch die Unterscheidung Carl Schmitts zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz 324, handelt unter dem Grundgesetz jedoch nur vom Verfassungsgesetz. Dabei wird das „institutionelle Gefüge" des Grundgesetzes am Modell der „strengen Formtypik" der rechtsstaatlichen Verfassung des 19. Jahrhunderts gemessen325. Die Einfügung neuer Elemente in die Verfassungslehre und in die Auslegung des Verfassungsrechts deutet Forsthoff als „Umbildung" 3 2 6 dieses Modells des Verfassungsgesetzes, die bei ihm nur zu einem geringen Teil als „notwendige Zugeständnisse an die veränderte soziale Wirklichkeit" Billigung finden, im Grundsatz aber als Infragestellung der „inneren Logik" der rechtsstaatlichen Verfassung zurückgewiesen werden 327 . Für das Grundgesetz ist nach Forsthoff kennzeichnend, „daß es strenges Gesetzesrecht enthält und auf die sachliche Integration durch programmatisch verheißende Normierungen verzichtet" 328 . Der Verfassungsstaat ist seinem Wesen nach Rechtsstaat; das Element der demokratischen Gestaltung des Staates durch das Verfassungsrecht tritt bei Forsthoff ganz in den Hintergrund. Eine zweite Richtung der heutigen Verfassungsrechtswissenschaft knüpft vorrangig an die von Heller und Smend entwickelten Neuansätze der zwanziger Jahre an. Für diese Richtung kennzeichnend sind Erweiterungen der klassischen Funktionsbestimmung der Verfassung, die aber auf eine vorpositive Zerlegung der Verfassung in Verfassung und Verfassungsgesetz verzichten; kennzeichnend für diese Richtung sind ferner die Fragen nach den Bedingtheiten des Verfassungsrechts in Wirtschaft, Kultur und Politik und den Wechselwirkungen zwischen verfassungsrechtlicher Norm und Faktum. Der Status der Staatsrechtslehre verändert sich dadurch: nach teilweise vertretener Auffassung kann sie der dogmatischen Einbindung durch verbindliche vorgegebene Normativität Staatsrecht, ist der Prototyp einer geschichtslosen, ja entwicklungsfeindlichen, weil im Grunde auch wirklichkeitsfremden Ordnung." 323 E.-W. Böckenförde, FS Scupin, S. 324f. 324 Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 36; ders., Der Staat 2 (1963), S. 385ff. Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 20ff. 325 Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 35; vgl. auch dens., Der Staat der Industriegesellschaft, S. 62. 326 327 328
So der programmatische Begriff bei Forsthoff, Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 35 f. Forsthoff, VVDStRL 12 (1954), S. 12.
FS C. Schmitt, S. 35.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
der Verfassung entsagen und sich als offene Wissenschaft verstehen, die variierende Sinnentwürfe für die jeweilige konkrete staatlich-politische Situation hervorbringt; das Verfassungsrecht gilt nicht als gegeben, sondern als aufgegeben. Die von dieser Sicht der Verfassung bestimmten Lehren sind es, die sich auf breiter Basis in der Verfassungsdiskussion als tonangebend erwiesen haben 329 . Dem entspricht es in gewisser Weise, daß sich innerhalb der von Smend beeinflußten Lehren eine aufschlußreiche Beobachtung machen läßt: von der Zurückhaltung, mit der Smend kurz nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in seinem Gutachten zur Wehrverfassung die Integrationslehre mit der neuen Verfassung in Verbindung gebracht hatte, ist in den Veröffentlichungen jüngerer Autoren mit zunehmender zeitlicher Entfernung vom Jahre 1949 immer weniger zu verspüren 330 . Das findet seinen Grund zunächst darin, daß nach 1949 schnell die Unsicherheiten und Provisorien der neuen Staatlichkeit überwunden waren, die für die Vorsicht Smends mitbestimmend waren. Daneben kommt darin aber ein verstärktes Interesse an der Integrationslehre zum Ausdruck. Es ist zu vermuten, daß dieses Interesse seinen Grund in wenigstens teilweisen subjektiven oder objektiven Entsprechungen der Problemlage finden konnte, die von der bundesrepublikanischen Staatsrechtslehre für die heutige Situation in Übereinstimmung mit der Weimarer Integrationslehre für den Weimarer Staat diagnostiziert wird. Tatsächlich läßt sich der Anknüpfungspunkt leicht finden. Es ist das Bewußtsein einer fortdauernden Krise von Staat und Verfassung im 20. Jahrhundert, die aber nicht mehr so sehr als Niedergang der überkommenen Formen, sondern als Herausforderung zur verfassungsjuristischen Bewältigung der neuen Gegebenheiten verstanden wird. Während diese Krise in den zwanziger Jahren noch als temporäre, von den Umwälzungen und Folgen des Ersten Weltkrieges untrennbare Erscheinung gedeutet wurde, so greift die Lokalisierung der Krise nach 1945 erheblich weiter aus 3 3 1 . Es ist das gesamte 19. Jahrhundert, dessen juristische Errungenschaften sich eine kritische Überprüfung, wenn nicht sogar eine brüske Zurückweisung gefallen lassen müssen. Die Diagnose lautet etwa bei Bäumlin, daß es sich um eine „Krise der konstitutionel329 Vgl. nur die Einschätzungen bei Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 64; Karpen, JZ 1987, S. 441; aber auch Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 35 ff.; Göldner, S. 2; ferner Häberle, JZ 1975, S. 688: „Forsthoff hat aber nicht verhindert, daß auf breiter Basis das Staats- und Verfassungsverständnis von R. Smend und H. Heller ... fortgeführt wurde"; Roellecke, Der Staat 26 (1987), S. 100. 330 Vgl. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 55 ff.; Hesse, Grundzüge, Rn. 4; Göldner, S. 4ff.; Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 180ff., 224ff. So konnte M. Friedrich, AöR 112 (1987), S. 18, resümieren: „Die Integrationslehre hat vor allem als Initiator neuer Erkenntnisse und Arbeitsansätze gewirkt". 331 Die Krise der klassischen Begriffswelt ist im übrigen weder auf die Verfassungslehre im engeren Sinne noch auf die deutsche Lehre beschränkt, vgl. dazu Offe, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1 (1987), S. 309 ff.
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
295
len Verfassungsidee" 332 überhaupt handele. Smend selbst hat in einer Abhandlung des Jahres 1959 dieser Einschätzung eher beiläufig seine Zustimmung gegeben. Man müsse, so heißt es hier im Zusammenhang einer kritischen Lagebeschreibung der deutschen Staatslehre, „aus den Sackgassen der Aufklärung" 3 3 3 zurückfinden. Das Nachdenken über die Verfassung findet damit eine neue Grundlage: gegen die individualistische, formelle und positivistische Betrachtungsweise wird die Forderung nach einer „materialen" 334 Theorie der „offenen Verfassung" 335 gesetzt — Begriffsbildungen, die sich bereits in Smends Schriften der zwanziger Jahre finden lassen 336 , wenn auch noch in untergeordneter Stellung, hinter dem Leitbegriff der Integration zurücktretend. Die Grundanschauungen, die hinter diesen schlagwortartigen Verdichtungen stehen, sollen im folgenden in ihrer Verbindung zu der Integrationslehre Smends umrissen werden. Dabei interessiert zweierlei: zum einen das, was die verfassungstheoretischen Ansätze der Smend-Schule von anderen nach 1945 entwickelten Ansätzen unterscheidet (dazu nachfolgend unter a), zum anderen, auf welchen Wegen die bei Smend unentschiedenen Fragen der Normativität der Verfassung und der dogmatischen Bewältigung positivrechtlicher Einzelfragen auf der Grundlage der Integrationslehre weitergedacht werden (dazu nachfolgend unter b). a) Die Verfassung als inhaltlich angereicherte Lebensordnung von Staat und Gesellschaft
Der Ausgangspunkt des von Smend beeinflußten verfassungstheoretischen Denkens, wonach ein Verständnis der Verfassung sich nicht durch begriffliche Präzisierungen gewinnen läßt, die an den Gesetzescharakter und die Gesetzesform der Verfassung anknüpfen, sondern das Verständnis der Verfassung „näherer Einsicht in die Aufgaben, die Funktion und die Eigenart der Verfassung in der Wirklichkeit heutigen konkret-geschichtlichen Lebens" 337 332
Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 15. Smend, Das Problem der Institutionen, S. 501; vgl. auch dens., Art. Staat, S. 525. 334 Besonders deutlich bei Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 51; ders., VVDStRL 20 (1963), S. 63; v.Pestalozza, Der Staat 2 (1963), S. 426; Wimmer, Materiales Verfassungsverständnis, S. 22 ff. 335 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 62; Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 9,11, 30; Hesse, Grundzüge, Rn. 19 ff.; ders., in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 18 f.; H.-P. Schneider, Opposition, Bd. I, S. 27; Häberle, JZ1975, S. 297ff.; ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß, S. 122ff.; vgl. ferner Schenke, AöR 103 (1978), S. 576ff.; Kloepfer, Der Staat 13 (1974), S. 457ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 76ff.; I. Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 20; kritisch Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 55: „Das Verfassungsrecht ist offen geworden. Was als Verfassungsrecht zu gelten hat, ergibt sich jeweils im konkreten Falle". Zur Kritik auch E.-W. Böckenförde, AöR 106 (1981), S. 598 ff. 333
336
523.
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 124,238; siehe auch dens., Art. Staat, S.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
bedürfe, kann noch der Zustimmung und des Konsenses auch außerhalb der Smend-Schule gewiß sein 338 . Dasselbe gilt für den nächsten Schritt: in voller Übereinstimmung mit der Integrationslehre Smends wird das Wesen der Verfassung heute mit ihrer Funktion und Aufgabe erklärt 3 3 9 , und es scheint allgemein anerkannt zu sein, die Aufgabe der Verfassung darin zu sehen, zur Bildung und Erhaltung politischer Einheit beizutragen und Rahmenordnung der Politik zu sein 340 . Jenseits dessen beginnen die Unterschiede. Wenn Lerche hervorgehoben hat, es gebe eine das bundesrepublikanische Staatsrecht „eindrucksvoll belebende Richtung", die im „Zugwind" Smends stehe 341 , dann zielt dies unausgesprochen auf die Beobachtung einer Gemeinsamkeit, die das verfassungsrechtliche Denken der Smend-Schule bestimmt und von anderen Ansätzen trennt. Diese Gemeinsamkeit besteht in einem besonders geprägten materialen Verfassungsverständnis. Es zeigt sich zunächst darin, daß durch eine inhaltliche Ausweitung von Aufgabe und Funktion der Verfassung der rechtsstaatliche Verfassungsbegriff überwunden wird, der heute nur noch eine „erste Orientierung" 342 über die Verfassung vermitteln könne. Die Verfassung enthält nicht nur das staatliche Organisationsrecht und die Bestimmung der Rechtsstellung des einzelnen im Staat, sondern sie ordnet durch die Positivierung von Leitmaßstäben auch die Grundlagen von Lebensbereichen, die nicht im engeren Sinne zum Staat gehören. Dadurch wird die Verfassung zur „rechtlichen Grundordnung nicht nur des Staates, sondern auch für das nichtstaatliche Leben innerhalb des Staatsgebietes: zur rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens" 343 . Die Wandlung der Verfassung von der Staatsordnung zur Lebensordnung der Bürger ist vollzogen 344 ; die Verfassung wird zu einer Angelegenheit der Gesellschaft. „Verfassung meint rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, sie bezieht also die — verfaßte — Gesellschaft ein. Dieser weite Verfassungsbegriff umschließt die Grundstrukturen der — pluralen — Gesellschaft" 345 . Diese Wandlung ist Konsequenz der veränderten Rolle des Staates: der plurale Staat als „Ergebnis des Ringens unterschiedlicher gesell337 Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 17; vgl. bereits dens., Der Rechtsschutz, S. 30; ferner dens., Die normative Kraft der Verfassung, S. 10; vgl. auch Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 65; Scheuner, Art. Verfassung, S. 172 f. 338 Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 3 I I I 1 (S. 78 ff.), § 3 I I 3 b (S. 75). 339 Vgl. Badura, FS Scheuner, S. 32: Die Teleologie der Verfassung sei der „eigentliche Gegenstand der Verfassungslehre"; Göldner, S. 14f. 340 Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 17; ders., Grundzüge, Rn. 17; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 65; E.-W. Böckenförde, FS Scupin, S. 322. 341 Lerche, DVB1. 1961, S. 694. 342 Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 15. 343 Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 17. 344 Vgl. die Anmerkungen von Quaritsch, Der Staat 1 (1962), S. 185. 345 Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, S. 190; ders., JZ 1975, S. 297 ff.
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
297
schaftlicher Kräfte" 3 4 6 verlangt eine Verfassung, welche dieser Ausweitung entspricht. Damit allerdings geht die Verfassung auch über die Regelung des Integrationsprozesses im Sinne Smends hinaus. Smend hatte die Verfassung allein auf den staatlich-politischen Bereich bezogen und die Verfassung von der übrigen Rechtsordnung abgekoppelt. M i t der nach 1945 vollzogenen Erweiterung der Verfassung ist demgegenüber der Weg frei, neue materiale Gehalte, Verheißungen und Aufträge im Wege der Aufgabenbestimmung an die Verfassung heranzutragen. So heißt es bei Hollerbach, die Verfassung habe auch den „Auftrag zu einer sinnvollen, daseinsgestaltenden Verwirklichung einer gerechten Sozialordnung zum Gegenstand" 347 . Der Begriff der materialen Verfassung wird zum Synonym für Bestrebungen, in der Verfassung eine Sammlung von Verfassungsaufträgen, von Befehlen an Parlament und Regierung, zu sehen 348 . Das ist das eine Moment, das auch mit dem Begriff der offenen Verfassung bezeichnet wird: die Verfassung als überstaatliche Wertgrundlage des Gemeinwesens349. Ob damit die Verfassung überstrapaziert wird und ihre Eigenschaften der Festigkeit und Konstanz preisgegeben werden, mag hier dahinstehen. Jedenfalls ist die Tendenz deutlich: noch stärker als bei Smend, der die Besonderheiten der Verfassung gegenüber den übrigen Bereichen des Rechts auf einen engen sachlichen Bereich beschränkt hatte, wird die Verfassung von der juristischen, mit dem Begriff des Gesetzes verbundenen Errungenschaft zu einer Kulturerrungenschaft ausgeweitet; Verfassungswissenschaft ist letztendlich bei Häberle „Kulturwissenschaft" 350 . Die Verfassung vermag sich unterschiedlichen materialen Gehalten anzunähern und sie zu verarbeiten. Die Verfassung „ermöglicht es, veränderten technischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gegebenheiten Rechnung zu tragen, sich dem geschichtlichen Wandel anzupassen"351, 346
Hesse, EuGRZ 1978, S. 438. Hollerbach, AöR 85 (1960), S. 250. 348 Scheuner, Staatszielbestimmungen, S. 223 ff. Bezeichnenderweise betreffen diese in das Grundgesetz hineingelesenen Zielbestimmungen meist Bereiche, die nicht zum engeren staatlichen Organisationsbereich zählen, sondern zum gesellschaftlichen Leben, so die Bereiche der Wirtschafts- und Arbeits„verfassung", die Spiegel der staatlichen Intervention in die Gesellschaft sind. Man hat etwa versucht, das System der sozialen Marktwirtschaft als durch das Grundgesetz geboten zu erweisen, vgl. Nipperdey, in: Die Grundrechte IV/2, S. 758 ff., 861 ff.; weitere Beispiele bei Stern, Staatsrecht I, § 3 I I I 3 (S. 85 m. Fn. 124). Kritisch dazu Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 19ff.; E.-W. Böckenförde, AöR 106 (1981), S. 598ff.; Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 147 ff. 347
349
Vgl. Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, S. 204. So Häberle, Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 9ff.; als Kulturwissenschaft integriere die Verfassungsrechtslehre „das von den einzelnen Geistes- und Sozial-, von den Norm- und Wirklichkeitswissenschaften allzu getrennt Gedachte — soweit es die Sache Verfassung betrifft" (a.a.O., S. 53). Zur Kritik dieses Verständnisses Schlink, AöR 109 (1984), S. 143 ff. 350
351
Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 18.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
kurz, die Verfassung ordnet „die Gegebenheiten der geschichtlichen Wirklichkeit" 3 5 2 . Diese über die Lehre Smends weit ausgreifende Funktionsbestimmung der Verfassung 353 steht in einem engen Zusammenhang mit der politischen Situation der Bundesrepublik. Während Smends Verfassungstheorie eine Antwort auf die Herausforderung der zwanziger Jahre suchte, indem sie der politisch zerrissenen Nation die Forderung nach staatlicher Einheitsbildung und Integration entgegenstellte, so war die Ausgangslage nach 1945 nicht so sehr die innerstaatliche Zerrissenheit, sondern der Verlust der nationalen Einheit und Identität. Hier lag es nahe, in der Verfassung nicht nur eine politische und staatliche Ordnung der Einheit zu sehen, sondern eine Ordnung aller gemeinsamen Werte überhaupt, die der staatlichen Einheit vorausliegt und sie überschreitet. Angesichts des Trümmerfeldes, welches das nationalsozialistische Regime hinterlassen hatte, sei, so meint Hesse, „dem Grundgesetz die Bedeutung einer geistigen Grundlegung der heutigen Staatlichkeit zugewachsen" 354 . Der Staat liegt danach nicht der Verfassung voraus, sondern die Verfassung konstituiert ihn. Nur konsequent ist es, wenn sich im Zuge der materiellen Ausweitung der Verfassung auch die Zahl der möglichen Integrationsinstanzen und Integrationsfaktoren vergrößert. Smend hatte die Verantwortung für das Gelingen des politischen Integrationsprozesses ursprünglich nur den originär am politischen Prozeß beteiligten Verfassungsorganen und politischen Instanzen zugebilligt. Nach 1945 hat die an Smend anknüpfende Lehre zunächst zusätzlich die Integrationsrolle, die sich das Bundesverfassungsgericht selbst zugeschrieben hatte, gebilligt 355 , dies im übrigen noch mit der Zustimmung Smends 356 . Diese Ausweitung war folgerichtig, weil eine material angereicherte Verfassung, die gleichwohl in ihren Normtexten noch weitgehend dem Typ der rechtsstaatlichen Verfassung des 19. Jahrhunderts entspricht, der Instanz bedarf, welche die dirigierende Wirkung der materialen Gehalte verbindlich feststellt. Der Zusammenhang zwischen einer offenen, material angereicherten Verfassung und der Existenz einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit als notwendigem Bewahrer der offenen Verfassung ist evident 357 . Sodann aber ist es auch die Verfassungsrechtswissenschaft selbst, die kraft der Offenheit der Verfassung durch deren Konkretisierung an der Integration teilhat 3 5 8 , schließlich ist es 352
Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 20. Die Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 144, zu der kritischen und ironischen Bemerkung veranlaßt hat, die Verfassung sei „das juristische Weltenei, aus dem alles hervorgeht". 354 Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, S. 32. 355 Vgl. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 70 f. 356 Vgl. oben, 3. Teil, II. 1. b). 357 Vgl. Forsthoff, FS C. Schmitt, S. 59ff. 358 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 70f.; ders., Wirtschaft und Verfassung, S. 51: Erkenntnisse der Verfassungstheorie sind „zugleich Momente des Integrationsprozesses 353
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
jeder, der unter der Verfassung lebt, der zur Gestaltung der beiträgt 359 . Eine solche Ausweitung mußte der Lehre Smends, einzelnen mehr das Erlebnis der Integration als die bewußte, Teilhabe am Integrationsprozeß in den Vordergrund stellte, noch
299
Verfassung der bei dem gestaltende fremd sein.
b) Die normative Kraft der Verfassung als Bezugspunkt verfassungsrechtlicher Dogmatik
Die erweiterte Funktions- und Aufgabenbestimmung der Verfassung ließ nach 1945 die bei Smend nur in Bruchstücken geklärte Frage der Normativität der Verfassung besonders dringlich erscheinen, denn die Verlagerung des Schwerpunktes staatlicher und gesellschaftlicher Integration in die Verfassung verlangt in besonderem Maße die Klärung ihrer normativen Kraft. Die Antworten umfassen sowohl konsequente Weiterführungen als auch Korrekturen der von Smend entwickelten Lehre, daß die Verfassung gleichzeitig als Norm und als integrierende Wirklichkeit zu verstehen sei 360 . Die Diskussion knüpfte meist an das polemisch gemeinte Begriffspaar von „Verfassung" und „Verfassungswirklichkeit" 361 an; die Lösung des Problems der Normativität des Verfassungsrechts liegt für die Smend-Schule in der Überwindung der Entgegensetzung von Norm und Wirklichkeit. „Wer vom Integrationsgedanken her denkt, faßt Wirklichkeit und Normativität unter einem einheitlichen Begriff zusammen" 362 . Anknüpfend an Smend wird das Verständnis der Verfassung als Mittel der Schrankenziehung, als Sollensordnung, die entweder gilt oder nicht gilt, jedenfalls aber intransigent für die Veränderung der sozialen Wirklichkeit ist, überwunden. Leibholz beschrieb das Ziel im Jahre 1955 so: „Gegenüber einer Haltung, die das Recht weitgehend der Wirklichkeit entfremdet und in zunehmendem Maße ein unzulängliches Bild von den rechtlich relevanten Verfassungszuständen vermittelt hat, ist es unsere Aufgabe, die Verfassung zugleich betont als sinn- und damit zugleich auch rechtserfüllte Wirklichkeit zu begreifen" 363 . des politischen Gemeinwesens"; ferner Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 14; Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 44. 359 Häberle, JZ1975, S. 297; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 19; ders., Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, S. 195: „Letztlich aber muß sich der Bürger selbst engagieren, um (sich) verfaßte Freiheit in Staat und Gesellschaft zu sichern. Das ist seine (unverzichtbare) Verfassungsinterpretation." 360 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 192. 361 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 6; Göldner, S. 47, bemerkt, der polemische Begriff der „Verfassungswirklichkeit" sei erst nach 1945 geprägt worden. Angelegt ist die polemische Dichotomie aber bereits bei G. Jellineks Lehre der Verfassungswandlung, vgl. dazu oben, 1. Teil, III. 4. f) bb). Heller, Staatslehre, S. 281 ff., unterscheidet zwischen „politischer Verfassung als gesellschaftlicher Wirklichkeit", „verselbständigter Rechtsverfassung" und „geschriebener Verfassung". 362 363
M . Friedrich, AöR 112 (1987), S. 19. Leibholz, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 278.
300
3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Eine weitgehende Entspannung des Verhältnisses von Norm und Faktum zugunsten der Wirklichkeit findet sich bei Bäumlin und Ehmke. Beide Autoren greifen Smends Beschreibung der Verfassung als Anregung und Schranke des politischen Prozesses auf, bei der nach Smend das „isolierte Verstehen der Norm einerseits, der Wirklichkeit andererseits" 364 aufgegeben werden müsse. Auf das Element der Schranke allerdings meinen beide verzichten zu können. Bäumlin löst den normativen Charakter der Verfassung und des Rechts überhaupt zugunsten völliger Dynamik auf: die Verfassung gerät zu einem in die Zeit hin offenen „Verhaltensentwurf" 365 . „Als stabilisierender Verhaltensentwurf... ist das Recht geschichtliche Verständigungsebene über die hic et nunc unbedingt maßgeblich sein sollenden Verhaltensweisen, deren menschliches Miteinander bedarf, damit es nicht entfügt werde, m.a.W. zeitliche Friedensordnung, zur Daseinsbewältigung in ihrer Endlichkeit gefährdeter Menschen notwendige Zuordnung von Verhaltensweisen für die Tätigung zwischenmenschlicher Beziehungen" 366 . Damit treten die vorgegebenen normativen Anforderungen des Rechts völlig zurück, Recht ist nur von seinem Vollzug her zu verstehen. Die Eigenart des Rechts wird nach Bäumlin verfehlt, wenn ihm die Eigenschaft einer gesetzten und objektivierten Ordnung zugeschrieben wird. Das Wesen des Rechts liegt in seinem „Angewiesen-Sein" ... „auf ständige Verwirklichung" 367 . Die Spannung von Verfassung und VerfassungsWirklichkeit löst sich damit ganz zugunsten der Wirklichkeit auf. In eine ähnliche Richtung weisen die Überlegungen Ehmkes. Für ihn ist die Verfassung „strukturell" offen, Bestimmungen der Verfassung bilden „Verfassungsrechtsmaterial" 368 unter anderem Material, dessen Funktion im „richtungweisenden Eindämmen" 369 besteht. Die Frage der Normativität verlagert sich in die mit „jeder Streitfrage neu aufgegebene Verständigung über die Werte, in denen sich das Gemeinwesen von Verfassungs wegen einig sein soll" 3 7 0 . Die Verfassung hat insofern materialen Charakter, weil sie nichts Vorgegebenes enthält, das von soziologischen Voraussetzungen freizuhalten ist, sondern weil sie sich erst in der Lösung der konkreten Streitfrage herauskristallisiert. Auch hier ist damit der Schrankenaspekt der Norm völlig verlorengegangen. Geltungsgrund und Inhalt der Verfassung ergeben sich aus der Aufgabe der Verständigung; die Verfassung selbst wird zur Aufgabe. Das ist, neben dem sachlichen Ausgreifen der Verfassungsfunktion, der zweite Aspekt der Offenheit 364
Smend, Art. Integrationslehre, S. 478. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 24, siehe auch S. 26: „Das Recht ist ein Inbegriff von je entwurfshaften Teilantworten". 366 Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 24; zustimmend v. Pestalozza, Der Staat 2 (1963), S. 426. 367 Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 18. 368 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 62. 369 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 65; vgl. Mols, Allgemeine Staatslehre, S. 205. 370 Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 51. 365
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
301
der Verfassung. Verfassungsnormen sind nicht aus sich heraus vollziehbar, sondern sie bedürfen der Konkretisierung. Auch Hesse knüpft an das Grundaxiom der Verfassungstheorie Smends an, die Dissoziierung von Norm und Wirklichkeit zu überwinden. „Das Recht, und insbesondere das Verfassungsrecht, ist mehr als ein Inbegriff positiver — vielleicht auch überpositiver — Normen. Es läßt sich nicht von seinen geschichtlichen Geltungsbedingungen ablösen .. , " 3 7 1 . Hesses Ansatz läuft aber auf eine teilweise Wiedergewinnung der von Smend zugunsten des politischen Prozesses preisgegebenen Normativität der Verfassung hinaus. Smends weitgehende Ineinssetzung von Norm und Faktum wird zugunsten der „notwendigen Spannung" 372 zwischen beiden korrigiert. Weder allein die Normativität, noch allein die Normalität der politischen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Situation erklären das Wesen des Verfassungsrechts. „Wirklichkeitsbedingtheit und Normativität des Rechts lassen sich nur unterscheiden; sie lassen sich weder voneinander trennen, noch miteinander identifizieren" 373 . Die Verfassung gilt nicht durch Setzung als Sollensordnung, sondern durch konkrete Verwirklichung. Das ist zwar in der Linie Smends gedacht, doch lassen sich zwei Veränderungen des ursprünglichen Integrationsansatzes erkennen. Die korrelative Zuordnung von Sein und Sollen ist für Hesse keine Besonderheit des Verfassungsrechts, sondern sie kommt dem Recht insgesamt zu. Die Smendsche Zerschneidung von Rechtsgemeinschaft und Integrationsgemeinschaft hebt Hesse wieder auf. So wie dadurch, im Gegensatz zu Smend, auch den Rechtsnormen, die nicht zum Verfassungsrecht gehören, Wirklichkeitsbedingtheit zugestanden wird, so kann, was das Verfassungsrecht anlangt, auf diese Weise das originär Normative, der „starre und relativ statische Charakter des Rechts" 3 7 4 , als Element der Integration anerkannt werden. Die Verfassung ist nicht „integrierende Wirklichkeit" 3 7 5 , sondern ihr Wesen besteht darin, das von ihr Normierte „in der Wirklichkeit verwirklichen" 376 zu wollen 3 7 7 . Auf diese Weise gelangt Hesse zum Verständnis der Verfassung als Aufgabe, wobei der Aufgabencharakter aber ganz anders als bei Ehmke und Bäumlin gefaßt wird. Die Verfassung ist nicht Spiegel der vom Staat gestellten Aufgaben, sondern die 371
Hesse, Der Rechtsschutz, S. 30. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 7 m. Fn. 7; dazu Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 309. 373 Hesse, Der Rechtsschutz, S. 30; ders., Die normative Kraft der Verfassung, S. 6f.; ders., VVDStRL 17 (1959), S. 12f. 374 Hesse, Der Rechtsschutz, S. 33. 375 So Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 192. 376 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 6. 377 Hier nimmt Hesse Kaegis Betonung der Verfassung als „rechtliche Grundordnung des Staates" auf. Für Kaegi ist die Verfassung „einheitsstiftende Ordnung" {Kaegi, S. 41), die dieser Funktion gerecht werden kann, weil sie auf dem „inneren, zwingenden Zusammenhang von Dauerhaftigkeit, Grundwert und Verfassungsnorm" beruht {Kaegi, S. 51 ff.). 372
302
3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
rechtliche Verfassung stellt aus sich selbst heraus Aufgaben an die normierte Wirklichkeit: „Die rechtliche Verfassung vermag selber tätige Kraft zu werden, die in der individuellen Beschaffenheit der Gegenwart angelegt i s t " 3 7 8 . Die optimistische Einschätzung Smends, wonach die Verfassung nur Anregung und Schranke des seinsgesetzlichen politischen Prozesses sein müsse, der aus sich selbst heraus zum Ergebnis befriedigender Integration führt, wird damit verlassen. Die erforderliche normative Kraft der Verfassung stellt aber auch Anforderungen an ihren Inhalt; der Gedanke der gerechten Ordnung, der in Smends Verfassungstheorie ganz in den Hintergrund gedrängt war 3 7 9 , wird besonders hervorgehoben. Die Stärkung der normativen Kraft der Verfassung dient als Begründung für ihre materiale Anreicherung. Die Verfassung muß, um wirkkräftig zu sein, die „geistige Situation ihrer Zeit" in sich aufnehmen und vom allgemeinen Bewußtsein als gerechte Ordnung bejaht werden 380 . Die Diskussion der Normativität der Verfassung mit der darin bekräftigten Einsicht in die Wirklichkeitsbedingtheit des Verfassungsrechts strahlt unmittelbar in die Dogmatik des Verfassungsrechts und in die Verfassungsinterpretation aus 3 8 1 . Hier hatte die Integrationslehre Smends weitgehend ungelöste Fragen hinterlassen: als Verfassungslehre hatte sie zwar beansprucht, die Voraussetzungen zur Lösung positivrechtlicher Fragen angeben zu können, sie hatte aber diesen Anspruch, wie bereits gezeigt 382 , in ihren positivrechtlichen Folgerungen nur teilweise einlösen können. Wer nach 1945 an die Integrationstheorie anknüpfte, sah sich deshalb gezwungen, den Ansatz Smends an dieser Stelle weiterzudenken. Das Problem der richtigen, oder besser verbindlichen Methode der Verfassungsinterpretation war jedenfalls in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik nicht zu umgehen: Die Bedeutung der Frage nach den Zielen und den zulässigen Argumenten der Verfassungsinterpretation 383, auf die noch immer keine konsensfähige Antwort gegeben wurde 3 8 4 , erklärt sich zum einen aus der Etablierung der mit umfassenden Kompetenzen ausgestatteten Verfassungsgerichtsbarkeit. Ein non-liquet bei der Rechtsfindung gibt es für das Gericht nicht; die Frage der richtigen Interpretation stellt sich angesichts des 378
Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 9. Vgl. oben, 2. Teil, IV. 4. c) bb). 380 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 10; ders., VVDStRL 17 (1959), S. 14. 381 Vgl. bereits Leibholz, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 278: „Praktisch läuft dies darauf hinaus, daß man die Normen und die von ihnen verwendeten Begriffe in steigendem Maße von der Wirklichkeit der Verfassung her zu begreifen und inhaltlich zu bestimmen suchen muß." Siehe auch Göldner, S. 24: Die Verfassungslehre darf die Zielrichtung auf den „Sinngehalt des historisch gewordenen positiven Verfassungsrechts nicht verleugnen"; ferner Wimmer, Materiales Verfassungsverständnis, S. 22 ff. 379
382
Vgl. oben, 2. Teil, IV. 4. d); 3. Teil, II. 1. b). Stern, Staatsrecht I, § 4 I I I 1 a (S. 123 f.), meint sogar, die Verfassungsauslegung sei zum „Kardinalproblem der Interpretation in der Rechtswissenschaft" geworden. 384 Vgl. Dreier, in: Dreier/Schwegmann, S. 37ff.; E.-W. Böckenförde, NJW 1976, S. 2089; Schlink, Der Staat 19 (1980), S. 73 ff., 91, 93. 383
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
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zwingenden Charakters des Verfassungsrechts in jedem zur Entscheidung stehenden Streit. Damit steht das Problem der Verfassungsinterpretation in einem weiteren Zusammenhang: „Die Frage nach der richtigen oder allein zulässigen Methode der Verfassungsinterpretation ist ... zugleich die andere Seite der Frage nach dem richtigen oder allein sinnvollen Kompetenzumfang der Verfassungsgerichtsbarkeit" 385. Zum anderen ist es das Problem der Weiterentwicklung und Erhaltung des politischen, sowohl staatlichen als auch gesellschaftlichen Systems, das aufgrund des materialen Verfassungsbegriffs auch als Problem der Verfassungsinterpretation in Erscheinung t r i t t 3 8 6 . Infolge der Methodendiskussion hat sich häufig der Bezugspunkt der verfassungstheoretischen Ansätze verändert. Gesamtkonzeptionen der Verfassung treten in einem Staat mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit zugunsten der Vorbereitung und Kritik letztverbindlicher justizieller Entscheidungen über die Verfassung zurück. Das hat auch in der Rezeption Smends zu Gewichtsverschiebungen innerhalb des Integrationsansatzes geführt. Smends Ausgangspunkt war die Etablierung einer Verfassungslehre; das Problem der Interpretation der Verfassung erschien als Folgerung der Wesensbestimmung der Verfassung 387. Dieses Verhältnis von Gesamtkonzeption und Interpretation der Verfassung hat sich in der Smend-Schule dann umgekehrt, wenn die Wirklichkeitsbedingtheit der Verfassung gegenüber ihrem normativen Anspruch betont wird. Das zeigt sich am deutlichsten bei Ehmke. Für ihn ist Verfassungstheorie Bestandteil und Mittel der Verfassungsinterpretation. Verfassungstheorie erschließt innerhalb des Interpretationsvorganges die „Problemhorizonte", sie verarbeitet die „Fall-Praxis" 3 8 8 , sie ist der die Verfassungsinterpretation leitende Gesichtspunkt. Diese Statusbestimmung der Verfassungstheorie beruht auf einer bestimmten verfassungsrechtlichen Methode. Angesichts der fragmentarischen Kürze der Verfassung, ihrer „strukturellen Offenheit" 389 hält Ehmke die von Theodor Viehweg für die Rechtswissenschaft wiederentdeckte antike Methode der Topik, des Problemdenkens, für die einzig angemessene und mögliche Methode der Verfassungsinterpretation und der Interpretation des Rechts überhaupt 390 . „Da der Jurisprudenz nicht das System, sondern die Probleme vorgegeben sind, kann nicht von einem vorweg konstruierten System eine Problemauslese erfolgen ... Es muß vielmehr vom jeweils vorgegebenen 385
E.-W. Böckenförde, NJW 1976, S. 2089f.; vgl. auch Hesse, Grundzüge, Rn. 49ff. Vgl. Ladern, Der Staat 21 (1982), S. 391. 387 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 238: „Noch wichtigere grundsätzliche Folgerungen (seil, aus der von Smend gewonnenen Verfassungstheorie) ergeben sich für die Auslegung des Verfassungsrechts". 388 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 64, ferner S. 62. 389 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 62; im Anschluß an Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, S. 27 ff. 390 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 62f. 386
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
Problem eine System-Auslese erfolgen" 391 . Das hat zur Folge, daß die Verfassungsinterpretation sich völlig von der Ermittlung des vorgegebenen Sinnes einer Norm entfernt. Interpretation ist Argumentation mit plausiblen, Anerkennung findenden Gesichtspunkten. Die geschriebene Verfassungsnorm und der klassische hermeneutische Kanon der Interpretation sind Material unter anderem, das ohne weiteres beiseitegeschoben werden kann, wenn es andere Argumente gibt, die auf mehr Anerkennung stoßen 392 . Das Verfahren zur Herbeiführung des Einverständnisses über vernünftige Argumente bildet das Kernstück der Topik 3 9 3 . Richtig ist das im Argumentationsprozeß gefundene Ergebnis, wenn es dem Konsens der „Vernünftig- und Gerechtdenkenden" entspricht 394 . Das ist ein formeller Begriff der Richtigkeit, die sachliche Rationalität und Begründbarkeit überläßt Ehmke der verfassungstheoretischen Aufgabenbestimmung. Topisches Verfassungsdenken beruht damit auf einem vorgegebenen Konsens, den es selbst allerdings nicht schaffen kann; fehlt der Konsens, dann — so die lakonische Feststellung Ehmkes — „läuft die Sache eben schief' 3 9 5 . Der Ansatz Ehmkes führt in konsequenter Weiterführung bei Häberle zu einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 396. Verfassungsinterpretation ist bei Häberle nichts anderes als der Umgang mit der Verfassung, ein Vorgang und Verfahren 397 , das Wandlungen reflektiert und Wandlungen bewirkt. An ihm hat die gesamte Öffentlichkeit teil 3 9 8 . Ehmkes Kreis der Vernünftig- und Gerechtdenkenden wird erweitert um die vernünftig und gerecht Handelnden. Die Summe „aller Staatsorgane, aller öffentlichen Potenzen, aller Bürger und Gruppen" 3 9 9 interpretieren die Verfassung, weil sie in ihr leben. Die Voraussetzungen, unter denen die topische Verfassungsinterpretation überhaupt gelingen kann, sind häufig beleuchtet, die Problematik dieser Methode ist eingehend kritisiert worden 4 0 0 . Dem soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Hier geht es allein darum, inwieweit sich in der Topik noch die Spuren der Integrationslehre wiederfinden lassen. Es zeigt sich dabei, daß die topische Verfassungsinterpretation die Verbindungslinie zu Smends 391
Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 55. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 55 ff. 393 Vgl. Wieacker, FS Zepos I, S. 406. 394 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 71 f. 395 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 72. 396 Häberle, JZ 1975, S. 297; hierzu Schlink, Der Staat 19 (1980), S. 82-86. 397 Häberle, ZfP 21 (1974), S. 119. 398 Vgl. Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, S. 190ff. 399 Häberle, JZ 1975, S. 297; siehe auch dens., ZfP 21 (1974), S. 129. 400 Vgl. E.-W. Böckenförde, NJW 1976, S. 2091 ff.; Ladern, Der Staat 21 (1982), S. 399ff.; Otte, Rechtstheorie 1 (1970), S. 183 ff.; Wieacker, FS Zepos I, S. 391 ff.; Zippelius, NJW 1967, S. 2229ff. 392
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
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Verfassungsinterpretation zerschneidet. Das Prozeßhafte des Verfassungsrechts findet bei Smend nur mittelbar in die Verfassungsinterpretation Eingang, dann nämlich, wenn die Auslegung der Verfassung Wandlungen und Verschiebungen einzelner Institute feststellt, die sich aus der Dynamik der Integration ergeben. Strukturell offen ist die Verfassung wegen ihrer Bezogenheit auf den politischen Prozeß, nicht aber deshalb, weil sie dem Zugriff jedweder Interpretation offen steht 401 . Zur Verschiebung der verfassungsmäßigen Faktoren, Institute und Normen ist der politische Integrationsprozeß befugt, nicht aber die Interpretation, die diese Veränderungen lediglich nachzeichnet und insofern nicht offen ist. Die Verfassung bleibt bei Smend Norm, wenn auch nicht im Sinne des objektivierten Willens eines Gesetzgebers, sondern als Ausdruck des ihr zugrundeliegenden Sinnsystems der Integration, um dessen Verständnis sich der Interpret, insoweit als Zuschauer, bemüht. Eine Unsicherheit des Interpretationsergebnisses ist nicht die Folge einer schwankenden Methode, sondern Auswirkung des gefährdeten Integrationsprozesses als Bezugspunkt der Interpretation. Charakteristisch für die Verschiebung des Interpretationsverständnisses ist die unterschiedliche Bewertung des Begriffs des „Verfassungswandels" bei Smend einerseits, Häberle andererseits. Wenn Smend gegenüber der statischpositivistischen Auffassung der Verfassung ihre Wandlungsfähigkeit betont, dann geht es ihm um die Anpassung des einmal vorgegebenen Norminhalts an gewandelte Verhältnisse 402 . Der Begriff des Wandels setzt den festen Ausgangspunkt voraus, eine feste normative Fixierung, die weiterentwickelt wird. Verfassungswandel ist in diesem Sinne kein Interpretationsproblem, sondern eine Erscheinung des Integrationsprozesses. „Es ist einfach der immanente und selbstverständliche Sinn der formulierten Verfassung, daß sie diese Elastizität hat und daß ihr System sich gegebenenfalls von selbst ergänzt und wandelt" 4 0 3 . Für Häberle dagegen ist das Problem des Verfassungswandels ausschließlich ein Interpretationsproblem, das den Begriff des Wandels entbehrlich werden läßt, weil er die Freiheit des Interpreten verschleiere: „Es gibt keinen Verfassungswandel — oder anders gesagt: Verfassungswandel geht in der republikanischen' Methodenlehre und ihrem sachlichen Gegenstand, der konstitutionellen Wirklichkeit und Öffentlichkeit, a u f ' 4 0 4 . Verfassungsinterpretation' bedeutet Verfassungswandel, weil sie überhaupt erst die Verfassung bestimmt. Insofern ist die Weiterverwendung des Begriffs der Interpretation irreführend, denn in ihm schwingt die Bindung an die normative Verfassung mit, während die Offenheit 401
Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 241; dazu auch AK-GG-Stein, Einleitung 2, Rn. 22. Unzutreffend daher Roßnagel, Die Änderungen des Grundgesetzes, S. 43, der Smend unterstellt, für diesen sei die Verfassungsauslegung „Mittel" des Verfassungswandels. 402 403 404
Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 241 f. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 190. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 130.
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
der Verfassung im Begriff der Rechtsschöpfung ihre Entsprechung findet 405. Bei Häberle ist der Interpret nicht der Mund der Verfassung, sondern ihr Gestalter. Im Gegensatz zu diesem allumfassenden Interpretationsbegriff hatte Smend daran festgehalten, trotz aller Betonung der Besonderheiten der Verfassungsinterpretation im Verhältnis zu der Interpretation einfachen Rechts, daß Interpretation der Verfassung die Ermittlung eines vorgegebenen, wenn auch möglicherweise fließenden, den Wortlaut der Verfassung übergreifenden Sinnes der Verfassung ist. Die topische Methode der Abwesenheit von Methode kennt Smend nicht. Es gibt für ihn feste Leitgesichtspunkte der Interpretation, die sich durch andere Argumente, auch wenn sie konsensfähig sein mögen, nicht beiseiteschieben lassen. Der wichtigste Leitgesichtspunkt der Interpretation ist die Integrationsfunktion der Verfassung. Verfassungsinterpretation bleibt damit bei Smend eine genuin juristische Aufgabe 406 , sie gerät nicht zu einer öffentlichen, potentiell jeden ergreifenden Argumentationstätigkeit. Insofern ist Smend noch durchaus dem überkommenen, auf Begriffe und Systeme ausgerichteten Denken der Rechtswissenschaft verpflichtet. Anders als die moderne Topik und die mit ihr verbundene Verfassungstheorie erscheint die Integrationslehre mit ihrer Fixierung auf das „Sinnganze" der Verfassung als ein Versuch, nach der Überwindung des Positivismus mit neuen Mitteln die überkommene Staatszentriertheit, den Zusammenhang des als feste Einheit gedachten Staates und seiner Verfassung, zu erhalten. Im Zentrum der Integrationslehre steht nicht die Verfassung als pluralistischer, öffentlicher Prozeß der Gesellschaft, sondern als „Rechtsordnung des Staates" 407 . Der Ausgangspunkt ist die staatliche Einheit, in die es den einzelnen einzuordnen gilt. Ehmkes Konsens der vernünftig und gerecht Denkenden verläßt demgegenüber den Staat und umgreift die Gesellschaft. Die Verfassungstheorie und Verfassungsinterpretation benötigen den Staat nicht mehr, sondern stützen sich auf die Gesellschaft, die dann als in sich einig, eben vernünftig und gerecht denkend, vorausgesetzt wird und werden muß. Hier ist die notwendige Vielfalt der Ausgangspunkt, von dem aus staatliche Einheit erst gewonnen werden kann, was mißlingen muß, wenn die Bündelung der Vielfalt nicht gelingt. Scheuner hat diesen neuen Bezugspunkt klar herausgestellt. Im Jahre 1964 bemerkte er, daß die pluralistische Gesellschaft der Bundesrepublik seit 1949 nur wenig Neigung dazu entwickelt habe, scharf gegensätzliche Auffassungen auszubilden, welche die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Verfassungsinterpretation erschweren würden 4 0 8 . 405 Vgl. auch /. Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 20; kritisch zum weiten Interpretationsbegriff Häberles auch Bryde, S. 21; Göldner, S. 52 Fn. 123. 406 Das räumt auch Forsthoff, Der Staat 2 (1963), S. 388 ff., ein. 407 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189, siehe auch S. 188: Kernproblem der Verfassungstheorie ist die „Frage nach der spezifischen Substanz des Staates als Gegenstand rechtlicher Regelung durch seine Verfassung". 408
Scheuner, VVDStRL 22 (1965), S. 62.
IV. Die Integrationslehre in der Staatsrechtslehre
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Hesse steht, was die vorgegebene Sinnorientierung der Verfassungsinterpretation anbelangt, seinem Lehrer Smend näher als der Teil der Smend-Schule, der sich der Topik angeschlossen hat und damit den Prinzipienmonismus Smends in eine Vielfalt der Topoi aufgelöst hat 4 0 9 . Bei Hesse bleibt die Vorstellung der normativen Gesamtordnung bestehen, die es im Einzelfall zu konkretisieren und zu aktualisieren gilt 4 1 0 . Der weite Interpretationsbegriff Ehmkes und Häberles wird zurückgewiesen: „Nicht jede Verwirklichung verfassungsrechtlicher Normierungen ist ,Interpretation"' 411 . Allerdings ist die Grundlage auch der Interpretationslehre Hesses, anknüpfend an die Einsicht in die Wirklichkeitsbedingtheit des Verfassungsrechts, daß der zu ermittelnde Inhalt der Verfassungsnorm nicht vorgegeben ist. Das Ziel der Interpretation ist nicht bereits real präsent, der Inhalt der interpretierten Norm „vollendet" sich erst in der Auslegung 412 . Die Verfassungsinterpretation hat damit rechtsschöpferischen Charakter. Geht Hesse auf diese Weise über Smend hinaus, so sucht er aber, anders als dieser, das Verfahren der Konkretisierung durch Leitgesichtspunkte und Prinzipien normativ, also nicht nur durch Orientierung am staatlichen Integrationsprozeß, zu steuern. Ausdrücklich genannt werden das Prinzip der Einheit der Verfassung, das Prinzip praktischer Konkordanz und der Maßstab integrierender Wirkung 4 1 3 . Nur in dem dadurch gezogenen Rahmen ist für Hesse auch topisches Argumentieren möglich, Hesse spricht von normativ gebundener Topik 4 1 4 , bei der nicht das Problem den Primat vor der Norm, sondern die Norm den Primat vor dem Problem hat 4 1 5 . Insgesamt zeigt es sich, daß die an Smend anknüpfenden verfassungstheoretischen Ansätze durch differenzierte Methoden der Verfassungsinterpretation auf die Dogmatik des Staatsrechts einwirken. Die mangelnde Eigenständigkeit und damit auch Berechenbarkeit der Verfassungsinterpretation bei Smend, dessen Verweis auf den Charakter der Verfassung als Gesetz der Integration, dem die Interpretation gerecht zu werden habe, keine sichere Grundlage einer verfassungsrechtlichen Methode abzugeben vermochte, wird korrigiert. Die Verfassungsinterpretation als Sinnbestimmung folgt in der Smend-Schule nicht unmittelbar dem politischen Prozeß als seinsgesetzlicher Ordnung, sondern wird 409
Vgl. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung", S. 315. Hesse, Grundzüge, Rn. 19ff., 41 ff. 411 Hesse, Grundzüge, Rn. 49. 412 Hesse, Grundzüge, Rn. 60. 413 Hesse, Grundzüge, Rn. 70 ff. 414 Hesse, Grundzüge, Rn. 67. 415 Zur immanenten Widersprüchlichkeit dieser Lehre E.-W. Böckenförde, NJW 1976, S. 2096. Hesse will die Interpretation einerseits normativ binden, andererseits aber soll die Interpretation rechtsschöpferische Ausfüllung sein. Der Begriff der „Konkretisierung" hält in der Schwebe, ob es sich um die Ermittlung der bereits getroffenen Entscheidung oder um diese Entscheidung selbst handelt. Weitergehend I. Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 20, der meint, hier werde die „Fiktion" der Anwendung bereits getroffener Entscheidungen aufrechterhalten. 410
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3. Teil: Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945
— in unterschiedlicher Weise — durch das gegenüber Smend veränderte verfassungstheoretische Vorverständnis bestimmt. Die weitgehende Auflösung der Normativität des Verfassungsrechts bei Ehmke und Bäumlin verlagert das Interpretationsproblem völlig von der Sinnermittlung der Norm in die Konsensbildung über das Vorverständnis der konkreten Aufgaben und Ziele der Verfassung. Hier ist die Integrationsfunktion der Verfassung allein das Einfallstor, durch das die unterschiedlichen Gesichtspunkte und Prinzipien der Verfassungsinterpretation einfließen und eine wirklichkeitsorientierte Interpretation bewirken. Die Betonung des materialen Charakters des Verfassungsrechts erlaubt eine inhaltliche Betrachtungsweise auch jenseits des expliziten Sinnes der einzelnen geschriebenen Normen; Ziel ist die Herstellung von Anerkennung und Konsensfahigkeit der Interpretationsergebnisse. Damit wird die Verfassungsnorm zwar offen, weitaus offener als bei Smend, der Vorgang der Problemlösung jedoch wird stärker eingebunden, wenn auch nicht normativ eingebunden. Ganz anders verläuft die methodische Disziplinierung der Problemlösung bei Hesse. Seine Betonung der Normativität des Verfassungsrechts läßt das Integrationsgebot als eines der materiellen Prinzipien der Interpretation bestehen, bindet es jedoch an enggezogene, am Normtext orientierte Grenzen. Während Smend den politischen Kräften erlaubt hatte, das Ziel der Integration auch „ i n nicht genau verfassungsmäßigen Bahnen" zu erreichen 416 , woran der Interpret der Verfassung gebunden sei, so ist für Hesse der gegen den Text der Verfassung erzielte Integrationserfolg nicht maßgebend. Hier ist die Materialität und der geschichtliche Bezug der Verfassung Deutungsprämisse für die Interpretation; eine Relativierung der normativen Verfassung durch eine vorausgesetzte Inhaltlichkeit findet jedoch nicht statt 4 1 7 . A u f ihre je eigene Weise führen damit beide Varianten innerhalb der Rezeption der Verfassungstheorie Smends die bei Smend problematisch gebliebene Umsetzung der vorpositiven Verfassungstheorie in jeweils in sich konsistente dogmatische Erklärungen des positiven Verfassungsrechts Lösungswegen zu — alle damit aufgeworfenen neuen Fragen sind nicht mehr Thema dieser Arbeit.
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Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 190. Bezeichnend sind die Vorbehalte Hesses gegenüber dem Versuch, mittels des Prinzips der Bundestreue Gesichtspunkte an die Verfassung heranzutragen, die in geschriebenen Normen keinen Anhalt finden (Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 122; ders., Grundzüge, Rn. 268ff.). 417
Schlußbemerkung Der Versuch, die wissenschaftliche Individualität eines Juristen zu erfassen, stellt eine heikle Aufgabe. Man mag ihre Berechtigung überhaupt bezweifeln: Rechtswissenschaft hat es mit vorgegebenen Sachproblemen und Normen zu tun; grundsätzliche Stellungnahmen und Thesen eines Juristen haben ihre Bedeutung nicht als solche der Person, sondern nur im Rahmen der Sachprobleme. Erfolgt der Zugang zu den Problemen über einen bestimmten Autor, besteht zudem die Gefahr, von dessen Sichtweise, vielleicht sogar Problemauswahl, affiziert zu werden. Smend schien es gelegentlich für fragwürdig zu halten, ein juristisches Lebenswerk als Einheit oder sogar im Regreß auf axiomatische, in einem Zentraldogma verwurzelte Prinzipien erklären zu wollen. In einem Brief aus dem Jahre 1967 äußerte er, es sei nicht zu bestreiten, „daß die eigentliche juristische Leistung in der Beantwortung der Fragenfülle eines größeren oder kleineren Bereichs" liege, „vom Pandektensystem bis herab zum Recht der Reklame .... Dabei kann eine bestimmte grundsätzlich-theoretische Ausgangssituation fruchtbar, schädlich oder indifferente Illusion sein." Was allerdings Smend selbst betrifft, so scheint seine theoretische Ausgangssituation eher fruchtbar gewesen zu sein. Die Beschäftigung mit seinem Lebenswerk vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland bedeutet die Beschäftigung mit einem wichtigen Stück der Entwicklung der deutschen Staatsrechtslehre dieses Jahrhunderts. Die rechtswissenschaftliche Individualität Smends läßt sich erfassen, weil sie ein individualisierbarer Teil der Entwicklung der staatsrechtlichen Disziplin ist. Die hier vorgelegten Untersuchungen zu den staatsrechtlichen Lehren Smends mußten zwangsläufig lückenhaft bleiben. Das hat seinen Grund nicht allein in der hier vorgenommenen Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes, die andere wichtige Arbeitsgebiete und Arbeitsergebnisse Smends, etwa seine Grundrechtskonzeption, ausgeklammert hat. Als weit wichtigere Ursache erscheint der eigenartig unabgeschlossene Charakter des Smendschen Werkes, den Smend selbst wiederholt mit dem Hinweis betont hat, seine Ergebnisse bedürften sorgfaltiger Weiterentwicklung, Näheres müsse einer vertieften Ausarbeitung vorbehalten bleiben. Daß es immer wieder bei der Ankündigung dieser näheren Ausarbeitung verblieben ist, hängt vielleicht unmittelbar mit dem Gegenstand und dem Anspruch der staatsrechtlichen Arbeiten Smends zusammen. Die grundlegende Orientierung seines juristischen Denkens hat Smend in aller Deutlichkeit zuerst
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Schlußbemerkung
im Jahre 1919 umrissen: es geht ihm um eine inhaltliche Sicht von Staat und Verfassung, um das „Funktionieren" der Verfassung und die „Physiologie" des Staates, nicht dagegen um die systematische und begriffliche Erklärung eines „ruhenden Bestandes" von Rechtssätzen als Teil der „Anatomie" des Staates. Diese Zielrichtung verlangte eine Neuorientierung der staatsrechtlichen Disziplin in Abkehr von der höchstgesteigerten Begriffstechnik der Labandschen Methode des staatsrechtlichen Positivismus: „Nicht Paragraphenauslegung und rechtsbegriffliche Systembauten, sondern soziologisch begründete Verfassungstheorie ist die notwendige Grundlage einer neuen Staatsrechtslehre ...". Das Versprechen der grundlegenden Verfassungstheorie hat Smend zehn Jahre später in „Verfassung und Verfassungsrecht" mit der Integrationslehre als einer geisteswissenschaftlichen Theorie von Staat und Verfassung eingelöst, unbeschadet aller in der vorliegenden Arbeit geschilderten Anfechtbarkeit dieses geisteswissenschaftlichen Ansatzes. M i t der Einführung der Verfassungstheorie war eine neue wissenschaftliche Teildisziplin begründet: Smend hat der Ebene der Interpretation und dogmatischen Bearbeitung des Staatsrechts eine Ebene vorgelagert, auf der abstraktere Überlegungen als verfassungsjuristische ihren Platz finden. Bedenken gegenüber Smend mußten erhoben werden, soweit sein Anspruch über die Staats- und Verfassungslehre hinausgeht, soweit die neue Grundlegung nicht Selbstzweck sein soll, sondern das positive Staatsrecht erklären und nach der bereits zitierten Äußerung Smends zu einer „neuen Staatsrechtslehre" führen soll. Wenn Smend meint, seine Staats- und Verfassungstheorie sei „gerade aus der Beschäftigung mit dem positiven Staatsrecht... herausgewachsen" — am „positiven Recht" müsse — und könne — sie sich also wiederum bewähren, so ist diese Bewährung in der Integrationslehre der zwanziger Jahre ausgeblieben. Bei der Bestimmung des Sinnes der Weimarer Verfassung ist die neue Orientierung gescheitert. Die Zurückstellung des normativen Anspruchs der Verfassung zugunsten der permanenten Staats- und Verfassungsbildung durch Integration und dem darin zu findenden lebendigen Inhalt des Staatsrechts versagte im desintegrierten Staat der Weimarer Republik. Sie versagte auch deshalb, weil die Staatsrechtslehre als juristische Disziplin ihre normative Vorgehensweise nicht, wie von Smend vorgeschlagen, zugunsten des Gelingens der Integration zurückstellen darf. Während der Krisenzeit der Weimarer Verfassung war die Integrationslehre nicht in der Lage, ein Konzept zu entwickeln, mit dem zumindest der verfassungsrechtliche Grundbestand hätte über die Krise gerettet werden können. Die dogmatische Relevanz der Integrationslehre blieb gering, was in dieser Arbeit für den Bereich des Bundesstaatsrechts mit dem Zentralbegriff der Bundestreue gezeigt werden konnte. Die spezifisch verfassungsjuristische Legitimierung der Weimarer Verfassung seitens der Integrationslehre blieb aus. Die Diskussion der Integrationslehre nach 1945 läßt sich als Antwort und Reaktion auf diese Schwäche der Lehre Smends verstehen. Nicht Integration als
Schlußbemerkung
Sinnerfahrung und Wertverwirklichung in der Gemeinschaft mit den daraus von Smend für das positive Staatsrecht gezogenen Folgerungen ist das Thema, sondern die Verfassung in ihrer zentralen Rolle als Rechtsordnung des demokratischen und pluralistischen Staates. Staatsrechtslehre wird, nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der Integrationslehre, vornehmlich zur Verfassungsrechtslehre; Verfassungstheorie ist nicht deren vorpositiver Teil, sondern die auf das Grundgesetz als konkret geltende Verfassung bezogene Verfassungstheorie. Diese Orientierung an der konkreten Verfassung, nicht am Integrationsprozeß, ist nunmehr für die Verfassungstheorie konstitutiv. In der Beschreibung der Verfassung als einer „das ganze Staatswesen gestaltenden Richtnorm" (U. Scheuner) erfahrt zudem die Normativität die notwendige Betonung, die in der Verfassungstheorie als Bemühung um die „normative Kraft der Verfassung" (K. Hesse) in Erscheinung tritt. Unangefochten von den zentralen Einsichten Smends bleibt nach 1945 im Grunde allein die Betonung des wirklichkeitsbezogenen Charakters von Verfassung und Verfassungsrecht. So liegt die bleibende wissenschaftliche Bedeutung Smends nicht in einzelnen sachlichen Ergebnissen seiner Arbeit, sondern in seiner Mitwirkung an der Neuausrichtung und Verbreiterung des staats- und verfassungsrechtlichen Denkens.
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