Institutionen und Geschichte: Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde 9783412315115, 341206291X, 9783412062910


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Institutionen und Geschichte: Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde
 9783412315115, 341206291X, 9783412062910

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NORM UND STRUKTUR STUDIEN ZUM SOZIALEN W A N D E L IN MITTELALTER U N D F R Ü H E R N E U Z E I T

IN VERBINDUNG MIT GERD ALTHOFF, HEINZ DUCHHARDT, PETER LANDAU KLAUS SCHREINER, WINFRIED SCHULZE HERAUSGEGEBEN VON GERT MELVILLE Band 1

INSTITUTIONEN UND GESCHICHTE Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde

herausgegeben von

GERT MELVILLE

® 1992

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG W O R T GmbH, München

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Institutionen und Geschichte : theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde / hrsg. von Gert Melville. - Köln ; Weimar; Wien : Böhlau, 1992 (Norm und Struktur; Bd. 1) I S B N 3-412-06291-X N E : Melville, Gert [Hrsg.]; G T

Copyright © 1992 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten

Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung mechanischer, elektronischer und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung - auch von Teilen des Werkes - auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der tontechnischen Wiedergabe, der Ubersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung.

Satz: S A T Z P U N K T Ewert, Braunschweig Gesamtherstellung: Richarz Publikations-Service, Sankt Augustin ISBN 3-412-06291-X

VORWORT ZUR REIHE Der vorliegende Band eröffnet eine neue geschichtswissenschaftliche Schriftenreihe. Sie wird herausgegeben von Mediävisten, Neuzeithistorikern und Juristen, die sich mit der Erforschung vormoderner Gesellschaften und ihren Strukturen befassen. Die Herausgeber sind der Meinung, daß es sich lohne, langfristige Prozesse gesellschaftlichen Wandels noch intensiver zum Gegenstand historischer Forschung zu machen. An Langfristigkeit interessierte Zugriffe lassen Anfänge und Wirkungen struktureller Veränderungen schärfer sichtbar werden als historische Momentaufnahmen. Sie bieten überdies Kriterien, um Grundlagen „langer Dauer" sowie Formen und Ausmaße der Veränderlichkeit geschichtlicher Erscheinungen genauer zu bestimmen. Maßgebend für die Thematik der Reihe ist die Leitfrage: Wie handeln Menschen und soziale Gruppen unter der Vorgabe von Strukturen, Institutionen und Verhaltensmustern? Es sollen damit Rahmenbedingungen geschichtlichen Handelns erschlossen werden, die gleichermaßen aus rechtlichen wie sozialen Normen, aus anthropologischen Konstanten, aus Erfahrungswissen, „Konventionen", symbolischen und rituellen Formen und nicht zuletzt aus Selbstdeutungen sozialer Gruppen und politischer Korporationen bestehen. Es wird um die Untersuchung sowohl von Kontinuitäten als auch von Veränderungsprozessen, Krisenphänomenen, Reform- und Stabilisierungsbemühungen gehen. Worauf die Reihe im allgemeinen und im besonderen zielt, sind Entstehung, Dauer und Wandel von Normen und Strukturen, das Mit-, Neben- und Gegeneinander von sinnorientierten Erwartungen und die Dynamik geschichtlicher Lebenswirklichkeiten. Von diesen Fragestellungen erhoffen sich die Herausgeber Anstöße, welche die Wissenschaft von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte im Methodischen und Sachlichen weiterbringen. Viel wäre schon gewonnen, wenn es gelänge, neue, bislang wenig bearbeitete Forschungsfelder zu erschließen, die mit dem Interesse der Fachwissenschaft und einer breiteren, historisch aufgeschlossenen Öffentlichkeit rechnen können. G. Althoff • H. Duchhardt • P. Landau • G. Melville • K. Schreiner • W. Schulze

VORWORT ZUM BAND Auf Anregung des Herausgebers hin hatte sich in der Werner-Reimers-Stiftung (Bad Homburg) 1986 und 1987 eine Gruppe von Mediävisten, Soziologen, Rechtswissenschaftlern und Philosophen zu Gesprächen zusammengefunden. Die Teilnehmer gingen von der Erkenntnis aus, daß die Geschichtlichkeit von .Institutionen' als Forschungsobjekt noch weitgehend im Dunklen liegt. Zudem wurde als bedauerlicher Mangel empfunden, daß die Begriffe Institution' oder .Institutionalisierung' zwar in der geschichtswissenschaftlichen U m gangssprache eine selbstverständliche Gängigkeit besitzen, daß sie sich bei einer genaueren Analyse jedoch der exakten Definition ihres Bedeutungsfeldes entziehen. Grundlegende Rahmenbedingungen des sozialen Lebens bleiben somit unscharf. Vor diesem Hintergrund war man sich einig, erste Ansätze einer näheren Klärung zu versuchen. In den nun vorliegenden Abhandlungen von Karl Acham, Wolfgang Balzer und Hans Michael Baumgartner werden unter soziologischer und philosophischer Perspektive generelle Kategorien des .Institutionellen' vorgelegt, abstrakte Modelle für Entstehung und Wandel von Institutionen entwickelt und der intendierten Dauerhaftigkeit von Institutionen das Phänomen .Krise' gegenübergestellt. Den Historikern möchten damit theoretische Aspekte als hilfreiche Ordnungsraster für den recht amorphen und heterogenen Geschichtsbefund angeboten werden. Untersuchungsfeld der geschichtswissenschaftlichen Beiträge ist das Mittelalter als ein Zeitraum, der in besonderem Maße von institutionellen Neuschöpfungen sowie von originären Institutionalisierungen mit epochenübergreifender Fortdauer geprägt ist. Jänos Bäk widmet sich mit seinen Darlegungen über Zeichen und Symbole einem Grundproblem des Institutionellen: der Präsentation von Identität über den geschichtlichen Wandel hinaus. Johannes Fried und Peter Landau behandeln das Problem rechtlicher Normsetzung und Verfestigung als kennzeichnende Grundelemente einer Institutionalisierung. Jürgen Miethke und Philippe Contamine befassen sich mit der politischen Theorie als Reflexionsebene institutioneller Zuständlichkeit in Krisensituationen und als Entwurf institutioneller Idealität. Bernhard Schimmelpfennig und Brigide Schwarz wenden sich dem Papsttum zu und stellen einer scheinbaren institutionellen Festig-

VIII keit das Element von personalen Beziehungsgeflechten gegenüber, die zu Aushöhlungen von Organisationsnormen führen konnten und die eine strikte Anwendung des Begriffes .Institution' in Frage stellen lassen. Josef Semmler, Klaus Schreiner, Eva-Maria Pinkl und Franz J. Feiten behandeln mit den religiösen Verbänden einen historischen Komplex, der aufgrund seiner strikten Regelhaftigkeit nahezu ein Musterbeispiel von .Institutionalität' darstellen dürfte. Eingehend analysiert werden die Entstehung von klösterlichen Gruppierungen, mentale Verhaltensmechanismen, die Reaktion auf Krisensituationen, Reformstrategien und vor allem auch die Selbstdeutung der Betroffenen in ihrer jeweiligen institutionellen Befindlichkeit. Vollständigkeit in der Erfassung institutioneller Formen ist nicht angestrebt worden und hätte auch in einem Bande nicht geleistet werden können. Gemeinsam ging es um theoretische Vorgaben und um exemplarische Befunde. Ziel der Bemühungen war, auf die eingangs umrissene Problematik aufmerksam zu machen und ,Institutionalität' als einen entscheidenden Parameter geschichtlichen Lebens in mancher Hinsicht zu verdeutlichen. Der Herausgeber hat der Werner-Reimers-Stiftung sehr zu danken, daß sie die anfänglichen Aussprachen in großzügiger Weise ermöglichte. Bei der Erstellung des Registers und dem Lesen der Korrekturen wirkten Michael Grottendieck und Kay Jankrift (Münster) mit; auch ihnen gilt besonderer Dank. Gert Melville

INHALT

Vorwort zur Reihe

V

Vorwort zum Band

VII

Gert Melville (Münster) Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema. Eine Einleitung

1

Karl Acham (Graz) Struktur, Funktion und Genese von Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht

25

Wolfgang Balzer (München) Kriterien für Entstehung und Wandel sozialer Institutionen. Implikationen eines axiomatischen Modells

73

Hans Michael Baumgartner (Bonn) Institution und Krise

97

Jdnos Bäk (Vancouver, B. C.) Symbol - Zeichen - Institution. Versuch einer Systematisierung

115

Johannes Fried (Frankfurt a. M.) Überlegungen zum Problem von Gesetzgebung und Institutionalisierung im Mittelalter

133

Peter Landau (München) Die Durchsetzung neuen Rechts im Zeitalter des klassischen kanonischen Rechts

137

Jürgen Miethke (Heidelberg) Politische Theorie in der Krise der Zeit. Aspekte der Aristotelesrezeption im früheren 14. Jahrhundert

157

X Philippe Contamine (Paris) »Le royaume de France ne peut tomber en fille.« Une théorie politique à la fin du Moyen Âge

187

Bernhard Schimmelpfennig (Augsburg) Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution?

209

Brigide Schwarz (Hannover) Die römische Kurie im Zeitalter des Schismas und der Reformkonzilien

231

Josef Semmler (Düsseldorf) Benediktinische Reform und kaiserliches Privileg. Zur Frage des institutionellen Zusammenschlusses der Klöster um Benedikt von Aniane

259

Klaus Schreiner (Bielefeld) Dauer, Niedergang und Erneuerung klösterlicher Observanz im hoch- und spätmittelalterlichen Mönchtum. Krisen, Reform- und Institutionalisierungsprobleme in der Sicht und Deutung betroffener Zeitgenossen

295

Eva-Maria Pinkl (München) Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes (1146-1314) in der Reflexion der Betroffenen

343

Franz J. Feiten (Berlin) Die Ordensreformen Benedikts XII. unter institutionengeschichtlichem Aspekt

369

Sachregister

437

(Die in den Beiträgen verwendeten Abkürzungen richten sich nach dem Lexikon des Mittelalters)

INSTITUTIONEN

ALS GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHES T H E M A E I N E EINLEITUNG

GERT MELVILLE

Die gemeinsame Motivation zum Unternehmen dieses Buches lag in der Erkenntnis, daß .Institutionen' als Instanzen zur Regelung sozialer Interaktionen zwar von seiten der Soziologie, der philosophischen Anthropologie und der Rechtswissenschaft bereits eingehender systematischer Analysen unterzogen worden sind 1 , daß jedoch das Phänomen .Institution' andererseits als bestimmender Faktor der Geschichte noch weitgehend im Dunklen liegt. Dies bezieht sich sowohl auf das Spektrum konkreter, historischer Einzelbefunde wie ebenso auf theoretische Bemühungen um methodische Zugriffsmöglichkeiten und gilt gerade auch angesichts der Tatsache, daß von seiten der Geschichtswissenschaft in einer bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Tradition bereits profunde Beiträge zur Erforschung von .Institutionen' geleistet worden sind. Über die dabei gewonnenen Ergebnisse wird in jüngerer Zeit zu Recht mehr und mehr Unbehagen artikuliert. Man wendet sich vor allem gegen die Überbetonung der Wirkungskraft von formellen Verfassungsorganen, Normengefügen oder Rechtssystemen im politischen Alltag. Diese Kritik jedoch führt (in einer nicht unberechtigten Reaktion) zu einem Forschungsinteresse, das sich nunmehr verstärkt auf solche geschichtliche Bereiche verlegt, in denen soziale Interaktionen weitgehend ohne Determinierung durch feste institutionelle Formen ausgekommen sind bzw. in denen informelle Beziehungsgeflechte einen handlungsbestimmenden Vorrang innerhalb bestehender institutioneller Rahmenbedingungen besessen haben. Ziel dieser neueren Forschungsrichtung ist - vereinfacht gesagt - , jenseits von formalrechtlich erstarrten Normsystemen offene Handlungsstrukturen aufzufinden und damit zu Charakterisierungen von So1 Konzise Uberblicke bei S. N . E i s e n s t a d t, Social Institutions, in: International Encyclopedia of the Social Sciences 14 (1968), S. 409-429; H . D u b i e 1, Institution, in: H W P 4 (1976), Sp.418-424; H . H o f m a n n - C h . H u b i g - W . L i p p , Institution, in: Staatslexikon 3 (1987 7 ), Sp. 99-109; vgl. besonders auch H . S c h e i s k y (Hrsg.) Zur Theorie der Institution (Düsseldorf, 1970).

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zialgefügen in einer Weise zu gelangen, die dem Geschichtlichen wesentlich gemäßer zu sein scheinen. Dies hat zur Folge, daß heute .Institutionen' als traditionelles Thema der Geschichtswissenschaft an Relevanz stark zu verlieren scheinen. So bedarf es wohl einer näheren Begründung, wenn hier ein Band mit dem Titel „Institutionen und Geschichte" vorgelegt wird, der sogar mit dem Anspruch auftritt, von einem Forschungsdesiderat angeregt worden zu sein. Es scheint jedoch nur die Frage zu sein, wie man Institution' definiert, um eine Position aufzubauen, die den institutionellen Faktor wiederum in einer erheblichen Eigengewichtung sehen läßt. Allen Teilnehmern an den Vorgesprächen zu diesem Band war klar, daß es dabei keineswegs um eine Rehabilitierung jenes alten Institutionenbegriffs der klassischen Verfassungsgeschichte 2 gehen dürfe. Vielmehr schien eine wesentlich erweiterte Definition erforderlich, - eine Definition, die .Institution' letztlich sogar als eine anthropologische Konstante längs durch die Geschichte verstehen und sie von daher (zumindest zunächst hypothetisch) als ein unausweichliches Ordnungs- und Bezugsraster jeglichen sozialen Handelns begreifen läßt. Zu dieser Uberzeugung führten Beobachtungen anhand der gängigen Verwendung des Begriffes .Institution' in der Geschichtswissenschaft. Mehr oder weniger nur umgangssprachlich benutzt, entzieht er sich einer genaueren Abgrenzung seines Bedeutungsumfangs und bleibt dadurch in seinen konkreten Referenzmöglichkeiten unscharP. Andererseits liegt in ihm ein recht präzis faßbarer Bedeutungskern, auf den es in pragmatischen Gebrauchszusammenhängen wesentlich mehr anzukommen scheint, und der nicht unmittelbar historische Einzelheiten bezeichnet, sondern vorderhand eine geschichtliche B e f i n d l i c h k e i t . Kurz zur Veranschaulichung: So spricht man z. B. Klöster, Orden, Städte, Universitäten etc. als .Institutionen' an und meint damit organisierte Sozialgefüge, die gemeinsam die gleichen zeitüberdauernden Merkmale wie etwa körperschaftliches Vermögen, Führungsinstanzen, explizites Normengefüge, geregelte Mitgliedschaft und transpersonale Handlungsziele aufweisen. Man gebraucht mit .Institution' also einen sehr abstrakten Begriff, der sich nur auf bestimmte Formalkriterien be2 Siehe dazu F. G r a u s , Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in: H Z 243 (1986), S. 529-589. 3 Dieser Sachverhalt trifft durchaus auch auf andere Disziplinen zu; D u b i e 1 (wie Anm. 1), Sp. 418, unterstreicht: „Die Verwendung des Begriffes ,I[institution]' in der wissenschaftlichen Umgangssprache ist von kaum präzisierbarer Allgemeinheit."

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zieht und von daher erlaubt, strukturell vergleichbare historische Sachverhalte generalisierend zu umgreifen. Die Kombinationsbreite dieser Formalkriterien ist aber offensichtlich nicht festgelegt. Bezeichnet man z. B. das jährliche Generalkapitel eines mönchischen Verbandes4 als eine .Institution', so geht es sachlich nur um das Organ eines Sozialgefüges - und dennoch scheint die Begriffsverwendung ihre Berechtigung zu haben. Analog zur Evozierung von zeitübergreifenden Merkmalen eines organisierten Sozialgefüges als Ganzem wird hier mit .Institution' die kontinuierliche Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit des Generalkapitels als Charakteristikum hervorgehoben. Auf dieser Sinnebene liegt auch, wenn z. B. (in Unterscheidung zum „institutionellen Flächenstaat" des späteren Mittelalters) über den früh- und hochmittelalterlichen „Personenverbandsstaat" unter Bezugnahme auf die .Institution' Königtum gesagt wird5: „er .hat' ... Institutionen, ist aber, im Gegensatz zum .modernen* Staat, noch nicht selbst zur Institution entpersönlicht worden." Hier wird nur eine bestimmte Instanz in ihrem transpersonalen und zeitlich fortdauernden Wesen gekennzeichnet. Nicht anders verhält es sich mit dem analogen, die Prozeßhaftigkeit ausdrückenden Begriff .Institutionalisierung'. Man kann ihn sowohl anwenden etwa auf den Übergang von einer religiösen Bewegung zum Orden, wie er z. B. am Anfang der Geschichte der Minoriten stand6, als auch - um willkürlich ein anderes Beispiel herauszugreifen - auf jene Entwicklung, die zur Entstehung des französischen parlement führte7. Gemeint ist einmal das Einmünden in einen organisatorischen Rahmen, 4 Vgl. J. H o u r 1 i e r, L e chapitre général jusqu'au moment du grand schisme (Paris, 1936). 5 H. B e u m a n n , Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, in: Th. M a y e r (Hrsg.), Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen ( = V u F , Bd. 3, Sigmaringen, 1956), S.214; vgl. dazu jetzt auch H . K e l l e r , Z u m C h a r akter der .Staatlichkeit' zwischen karolingischer Reichsreform und hochmittelalterlichem Herrschaftsausbau, in: F M A S t 24 (1990), S. 2 4 8 - 2 6 4 ; G. A 11 h o f f, Verwandte, Freunde und Getreue. Z u m politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter (Darmstadt 1990). 6 Vgl. K. E s s e r , Anfänge und ursprüngliche Zielsetzung des Ordens der Minderbrüder (Leiden, 1966). 7 V g l . J . - F . L e m a r i g n i e r , L a France médiéval. Institutions et société (Paris, 1970), S. 347 ff. Sehr illustrativ hinsichtlich eines spezifisch geschichtlichen Verständnisses von Institutionen sind auch folgende Vorbemerkungen zu diesem Buch: „,La France médiévale: institutions et société', ce titre signifie que les institutions y sont considérées moins dans leur technique que dans leur évolution: en relation avec les mutations de la société, de son économie, avec le mouvement des idées, de celles des penseurs et des dirigeants qui donnent l'impulsion au sommet, eu aussi, à la base, des mentalités du c o m m u n qu'on ne saurait négliger." (S. 5 f.).

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den man dann, erfolgreich verfestigt, als ,Institution' im Sinne einer Körperschaft bezeichnen kann, das andere Mal die Verfestigung von formal geregelten Interaktionen hin zur Gestalt etwa eines dauerhaften Entscheidungsorgans. Etwas polemisch überspitzt möchte man sagen: .Institution' oder,Institutionalisierung' sind im Jargon der Geschichtswissenschaft zumeist nur etikettierende Schlagworte, mit denen bestimmte historische Gegebenheiten vornehmlich nach erfolgreicher Bearbeitung belegt werden. - Vielleicht könnte man genauso gut auf sie verzichten 8 ? Denn angesichts ihres so hohen Abstraktionsgrades und damit auch ihrer Inhaltsleere wäre entgegenzuhalten, daß nur mit Hilfe von konkreter bestimmten Begriffen (wie z. B. Körperschaft, Behörde oder Konstitutionalisierung, Verrechtlichung) eine historische Sachlage erst einigermaßen adäquat zu kennzeichnen sei. Doch ein solcher Verzicht wie aber auch eine Benutzung nur als Schlagwort heißt nichts anderes, als sich grundsätzlich eine wesentliche Möglichkeit zur Charakterisierung geschichtlicher Strukturen entgehen zu lassen. Denn das, was als Inhaltsleere zu bemängeln aufscheint, ist in Wirklichkeit gerade die Stärke jener beiden Begriffe. Daß unterschiedliche historische Sachverhalte einheitlich als .Institution' oder ,Institutionalisierung' bezeichnet werden, gewinnt deshalb Sinn, weil damit jeweils nur eine ganz bestimmte Eigenschaft von Sachverhalten oder Abläufen angesprochen wird. Mit .Regelmäßigkeit', .Gleichförmigkeit', .Bestand', .Festigkeit' bzw. .Verfestigung' ist diese Eigenschaft in wesentlichen Spielarten eben schon umrissen worden. Es sind Spielarten, die alle auf e i n e grundlegende Form der Geschichte verweisen: auf die Dauerhaftigkeit von sozialen Gefügen im vergänglichen Fluß der Zeit. Unter Evozierung anthropologischer Bedingtheit hat dies der Historiker Alfred Heuss einmal in folgender Richtung präzisiert 9 : „Ordnungsnormen und Institutionen bestehen darin, daß gleiche Akte wiederholt werden und deshalb auch wiederholbar sein müssen. Sie bestehen geradezu in der Wiederkehr des Gleichen. Es ist bezeichnend,

8 Auf alle Sozialwissenschaften bezogen stellt die gleiche Frage L. v. W i e s e , Institutionen, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 5 (1956), S. 298, um sie dann zu verneinen. 9 A. H e u s s , Z u m Problem einer geschichtlichen Anthropologie, in H . - G . G a d a m e r - P . V o g l e r (Hrsg.), Kulturanthropologie (= N e u e Anthropologie, Bd 4, München, 1973), S. 171. Zur hier besonders einschlägigen Exemplarität des Geschichtlichen siehe P. v o n M o o s , Geschichte als Topik. D a s rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policraticus" Johanns von Salisbury (Hildesheim/ Z ü r i c h / N e w York, 1988), insbes. S. 516 ff.

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daß der Mensch, den wir ein geschichtliches Wesen nennen, sich vorwiegend nach dieser Gleichheit verhält und sich aufgrund der Gleichheit von Situationen zurechtfindet." Allein von daher dürften .Institution' und .Institutionalisierung' als ein zentraler Gegenstand der Geschichtswissenschaft zu verstehen sein. Gerade weil nun zurückgeführt auf eine formal nicht mehr hintergreifbare Position, die gewissermaßen (nur) einen Aggregatzustand in der Geschichte umreißt, bieten sich diese Begriffe als Arbeitsinstrumente zur Analyse von konkreten Sachverhalten an. Das will heißen: Ein zunächst abstrakt gefaßter Definitionsrahmen dieser Begriffe eignet sich im besonderen für eine inhaltliche Besetzung mit weiteren Formalkriterien, die das Phänomen „Dauerhaftigkeit" differenzieren lassen und insgesamt zu einem Raster führen, anhand dessen historische Ausformungen des Institutionellen dann sowohl spezifiziert als auch typologisch miteinander verglichen werden können. Diese Gedankenführung möchte sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt wissen, nur einen Weg angestrengter methodischer Konstruktionen zu beschreiten. Vielmehr soll mit ihr ein forschungspragmatischer Ansatz gewonnen werden, der nicht bestimmt ist vom Zugriff sogleich auf die scheinbare Stabilität von systemhaft verstandenen Organisations- und Normkomplexen, sondern dem es zunächst darauf ankommt, die historischen Grundelemente, Bedingungen, wie auch Grenzen und Gegensätze von sozialer Stabilität herauszuarbeiten, - anders gesagt: der nicht ausgeht von der historischen Entität einzelner Institutionen (im oben umrissenen umgangssprachlichen Sinne), sondern sozusagen von der .Institutionalität' als generellem geschichtlichen Faktor. Dabei darf man sich als Historiker angesichts der zwar in vieler Hinsicht divergierenden, aber dennoch im Ganzen recht tief dringenden soziologischen und philosophisch-anthropologischen Begriffsbestimmung 10 noch nicht einmal sicher sein, ob das, was dort unter .Institution' verstanden wird, in der Kontingenz des geschichtlichen Wandels überhaupt eine reale Existenz besitzt oder ob es nicht vielmehr - wie Wolfgang Balzer in seinem Beitrag kritisch hervorhebt 11 - nur zu einem konstruierten Ordnungsbegriff für die Veranschaulichung von einigermaßen gleichförmigen Handlungsmustern führt. Nichtsdestoweniger muß man sich angeraten sein lassen, sich zunächst gleichsam in Form eines heuristischen Vorgriffs auf entsprechende Überlegungen von 10 Vgl. Anm. 1; siehe auch die Beiträge (mit weiteren Literaturangaben) von Karl A c h a m, Wolfgang B a 1 z e r und Hans Michael B a u m g a r t n e r in diesem Band. 11 Siehe hier unten S. 73.

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Seiten der Soziologie und philosophischen Anthropologie zu stützen, nicht nur aus Gründen einer notwendigen interdisziplinären K o m patibilität, sondern vor allem wegen des eigenen Mangels an einem ausreichenden begrifflichen Repertoire und an gedanklicher Vorarbeit. Denn man weiß noch recht wenig Bescheid über die typischen Formen institutioneller Entwicklung, Bestandswahrung, Krise und Reform, die man jedoch kennen müßte, um die entsprechenden historischen Sachverhalte adäquat zu analysieren, bzw. man kann noch nicht anhand von konkreten geschichtlichen Befunden zu Parametern gelangen, die bei einem Institutionalisierungsprozeß generelle Gültigkeit besitzen und ihn von daher erst definieren lassen. In diesem knappen Abriß soll nun nicht eine im Detail umfassende Strukturierung der Formalkriterien von .Institution' bzw. ,Institutionalisierung' erfolgen, die zwangsläufig zu einer ausführlicheren Reflexion über Wesenszüge des Normativen, der Vergemeinschaftung, der Individualität wie der Gesellschaft führen würde. Dafür ist dieser Abriß, der nur Einleitung sein will, nicht der geeignete Ort. Manches kann zudem unter Verweis auf eine ausführlichere Behandlung in den theoretischen Beiträgen von Karl Acham, Wolfgang Balzer und Hans Michael Baumgartner bewußt ausgeklammert werden. Als Aufgabe stellt sich, kurz e i n i g e Gesichtspunkte zu erläutern, die für den praktischen Umgang in der Geschichtswissenschaft wesentlich zu sein scheinen. Hierbei wird es zunächst darauf ankommen, den Bezugsrahmen, die Voraussetzungen und Elemente dessen zu umreißen, was institutionelle Dauerhaftigkeit im veränderlichen Fluß der Geschichte überhaupt begründet. Das verlangt dann zwangsläufig auch eine Gegenüberstellung dieser Dauerhaftigkeit mit Veränderlichkeit, d. h. erfordert Beobachtungen, worin die Beharrungskraft des Institutionellen ihre Grenzen findet und angesichts dieser Grenzen zu Reaktionen führt mit dem Ziel, sich dennoch zu erhalten. Gerade unter diesem Gesichtspunkt leuchtet .Institution' als geschichtliche Größe auf. Der Soziologe Karl Acham charakterisiert in diesem Bande Institutionen folgendermaßen 1 2 : „Institutionen sind relativ dauerhafte, durch Internalisierung ausgebildete Verhaltensmuster und Sinnorientierungen, denen in ihrer vollentwickelten Form Organisationen und sie legitimierende ideelle Objektivationen entsprechen, und die bestimmte - den individuellen Akteuren keineswegs immer bewußte - re12 Siehe hier unten S. 33.

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gulierende soziale Funktionen erfüllen." - Der Philosoph Hans Michael Baumgartner kommt hier zu folgender Bestimmung13: „Institutionen sind mittlere, in eine Gesamtgesellschaft eingebettete, funktionale Sozialgebilde, in denen sowohl das Dasein von Individuen für sich und im Rahmen einer Sozietät als auch die Sozietät selbst Zusammenhalt und Bestand hat. Sie sind bezogen sowohl auf Grund- und Sekundärbedürfnisse der Individuen wie auf Erfordernisse des sozialen Systems im ganzen. Gleichwohl lassen sie sich weder kausal aus basic needs noch final aus dem Zweck der Bestandserhaltung des Gesamtsystems herleiten. Institutionen sind vielmehr Gebilde eigener Dignität, sie sind zugleich .Ausdruck eines Kollektivbewußtseins' und .Inbegriff quasi dinghafter Realisation und Organisation elementarer Ordnungsgedanken'". - Und der Historiker Klaus Schreiner erläutert in seinem Beitrag14: „Institutionen begründen Dauer. Sie reduzieren die Unbegrenztheit möglicher Verhaltensweisen; sie verhindern die Beliebigkeit persönlichen und kollektiven Handelns und machen Handlungsabläufe, die für die Funktionsfähigkeit und den Bestand sozialer Systeme grundlegend sind, vorhersehbar. Institutionalisierung verweist auf die Bildung dauerhafter sozialer Beziehungen, die .sich von der je aktuellen Situation ablösen, so daß soziale Realitäten eigener Art entstehen, die Kommen und Gehen, Leben und Tod der einzelnen Individuen überdauern'. Institutionalisierung strebt als Prozeßergebnis eine sinnhafte Ordnung von Verhaltensregeln und konkreten Verhaltensweisen an, die einem Sozialgebilde Bestand geben." Die von Vertretern drei verschiedener Fächer erstellten Definitionen weichen im Kern nicht voneinander ab. Ihnen gemeinsam liegt der Gedanke zugrunde, daß Institutionen (und Institutionalisierung als entsprechender Formungsprozeß) Dauerhaftigkeit deshalb produzieren, weil sie sinnbezogene und ordnungsstiftende Determinierungen von sozialen Interaktionen sind. Das mag allzu lapidar erscheinen; es umgreift jedoch eine Fülle von - in den obigen Zitaten bereits angedeuteten spezifizierbaren Implikationen. Sinnbezogene und ordnungsstiftende Determinierung von sozialen Interaktionen kann - wie Karl Acham in seinem Beitrag hervorhebt 15 zunächst nur die Existenz von .normativen Verhaltensstrukturen' (.Institutionen im engeren Sinne') bedeuten, dann weiter auch von .organisierten Vereinigungen' als „gleichsam das Gehäuse der verschie13 Unter Einbezug eines Zitats von H. H o f f m a n n ; siehe unten S. 107. 14 Unter Einbezug eines Zitats von N . L u h m a n n ; siehe unten S. 296 f. 15 Siehe unten S. 25 ff. u. 33 ff.

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denen Formen regelgeleiteten Verhaltens" und schließlich - zu diesen beiden Formen in Reflexion auf sie hinzutretend - von .ideellen O b jektivationen' (insgesamt .Institutionen im weiteren Sinne'). Folgt man dieser Trennung von normativen Verhaltensstrukturen und organisierten Vereinigungen, so wird man auf einen wichtigen Umstand aufmerksam, der oben bereits angedeutet wurde: Entscheidende Elemente des Institutionellen lassen sich ohne Rückgriff auf die Ebene von bereits ausgebildeten Organisationsgefügen gewinnen. .Institution' bedeutet mehr als nur .Organisation', bzw. es ist auch forschungspragmatisch sinnvoll, mehr darin zu sehen als nur .Organisation'. Rückgreifend auf die Feststellung, daß .Institution' primär unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung von Dauerhaftigkeit zu definieren ist, können hier unter .normativen Verhaltensstrukturen' allerdings nur solche verstanden werden, die über eine Verhaftung im Moment hinausweisen. Dies betrifft nicht unbedingt die Entstehungsumstände, da in deren Singularität durchaus der Keim für Dauer liegen kann. Entscheidend ist die Gültigkeit über situative Strukturen hinweg, d. h. näherhin über Handlungszusammenhänge, die unter dem Druck fortwährender Neuentscheidungen angesichts sich laufend verändernder Handlungsziele geschehen (paradigmatisches Stichwort: .Charismatische Herrschaft' im Max Weber'schen Sinne 16 ). „Gültigkeit" von normativen Verhaltensstrukturen bedeutet hier die zwingende Vorgabe eines Orientierungsrasters für jetzt u n d künftig je mögliche Handlungsbedürfnisse. Damit scheint eine Ebene der Autonomie auf, einer Autonomie, die über fallspezifische Handlungsintentionen des einzelnen Individuums wie der Gemeinschaft steht. Normative Verhaltensstrukturen sind - um die Formulierung von Hans Michael Baumgartner, auf Institutionen allgemein bezogen, aufzugreifen - bereits „Gebilde eigener Dignität" 17 , die sich grundsätzlich von kontingenten Anforderungen und individuellen Handlungswünschen unberührt zeigen, mehr noch: die diese dergestalt kanalisieren, daß sie sich einpassen lassen in generelle Handlungsmuster. Eine derartige Kanalisierung verhindert „die Beliebigkeit persönlichen und kollektiven Handelns" - wie Klaus Schrei16 „Es gibt kein Reglement, keine abstrakten Rechtssätze, keine an ihnen orientierte rationale Rechtsfindung, keine an traditionalen Präzedenzien orientierten Weistümer und Rechtssprüche. Sondern formal sind aktuelle Rechts S c h ö p f u n g e n von Fall zu Fall, ursprünglich nur Gottesurteile und Offenbarungen, maßgebend. Material aber gilt für alle genuin charismatische Herrschaft der Satz: ,es steht geschrieben, - ich aber sage euch'"; M. W e b e r, Wirtschaft und Gesellschaft (Tübingen, 1 9 8 5 1 9 " 2 5 ) , S. 141. 17 Siehe unten S. 107.

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ner unterstreicht 18 - und lenkt Handeln in Bahnen der Wiederholung des Gleichförmigen. Wesenhafte Kennzeichen normativer Verhaltensstrukturen sind also - um es auf zwei Begriffe zu bringen - Formalität (im Sinne von objektiver Formvorgabe über geschichtliche Kontingenzen hinweg) und Transpersonalität (im Sinne von objektiver Geltung bei allen einschlägigen sozialen Interaktionen). Ein dritter Aspekt kommt hinzu: Normative Verhaltensstrukturen bedürfen wenigstens eines Mindestmaßes an expliziter Zugänglichkeit. Das heißt nicht unbedingt, daß ihr Schöpfungsakt und die ehemals damit verknüpften Intentionen in Erinnerung sein müssen 19 , - ja nicht einmal, daß sie zu irgendeinem bestimmten Zeitpunkt zielorientiert geschaffen worden sein müssen. Entscheidend ist allein, daß sie beim situationsgebundenen Handeln kognitiv präsent sind oder bei Bedarf präsent gemacht werden können. Somit umfassen sie über rational gesetzte Richtlinien hinaus ebenso Gewohnheit und Brauch, wenn diese tatsächlich in situativen Handlungslagen konkrete Entscheidungskriterien liefern. Mit der verwehrten Beliebigkeit des Handelns ist Freiheit genommen 20 : Freiheit des einzelnen vor allem, der sich zu einem Verhalten gezwungen sieht, in welchem letztlich nichts anderes zu liegen scheint als das soziale Rollenspiel, funktional der Gleichförmigkeit Genüge zu leisten; Freiheit jedoch auch der Gemeinschaft, die nicht umhinzukommen scheint, dieses Rollenspiel zu gewährleisten, mehr noch: sich in hohem Maße nur aus der Kohärenz von derartigen Rollen-

18 Siehe unten S. 2 9 6 f. Hier liegt auch der systematische O r t des Rituals, auf das mit Nennung von M . M a u s s , Die Gabe. F o r m und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: D e r s ., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2 (Frankfurt/Berlin/Wien, 1978), S. 9 - 1 4 4 , nur verwiesen werden kann. Vgl. auch jüngst G. A 1 1 h o f f, Huld. Ü b e r legungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung, in: F M A S T 2 5 ( 1 9 9 1 ) , S. 2 5 9 - 2 8 2 . 19 Allerdings ist es ein Wesenszug institutioneller Formen, daß von den Betroffenen nicht zuletzt aus Legitimierungsgründen - bewußt und oft auch fiktiv konstruierend nach den Ursprüngen gesucht wird; vgl. in Kürze G. M e 1 v i 11 e, Time and Duration. Aspects on Medieval Institutions and Their Historiography, in: M. M i y a k e (Hrsg.), Concepts of Time in Historical Writings of Europe and Asia (Oxford, 1992). Überlegungen, welche Rolle in diesem Zusammenhang die Denkform .Mythos' spielt, bei C . I. G u 1 i a n, Mythos und Kultur. Zur Entwicklungsgeschichte des Denkens (Frankfurt, 1981); K. H ü b n e r, Die Wahrheit des Mythos (München, 1985). 2 0 .Freiheit' darf hierbei allerdings nicht als eine absolute Größe angesehen werden, sondern ist in das historische Spektrum jeweils unterschiedlicher Verständnishorizonte zu stellen; vgl. Art. .Freiheit', in: Geschichtliche Grundbegriffe. Hist. Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2 (1975), S. 4 2 5 - 5 4 2 ; und jüngst J. F r i e d (Hrsg)., Die abendländische Freiheit v o m 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich ( = V u F , Bd. 39, Sigmaringen, 1991).

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spielen heraus begründet zu sehen. Gewiß, die soziale Rolle 21 ist allein aufgrund der Tatsache, daß sie objektivierbar ist, nicht identisch mit dem Subjekt des handelnden Individuums; die Rolle umfaßt immer nur einen Teil dessen, der sie trägt. Doch der Zwang zur Rollenübernahme impliziert, daß andererseits nur „zulässige" Handlungs- und - unter einem rigideren Zugriff - auch Gesinnungsweisen vorgesehen sind. Zulässig aber sind grundsätzlich wiederum nur solche, die die Erfüllung der Rolle nicht konterkarieren oder die in ihrer individuellen Sonderheit die institutionellen Vorgaben nicht berühren. Angesichts einer solchen Eingrenzung müßte man eigentlich davon ausgehen, daß Beschränkung von Freiheit eine Kompensation verlangt. Doch das trifft nur zum geringen Teil zu. Vielmehr steht den normativen, die Handlungsfreiheit eingrenzenden Verhaltensmustern deren Fundierung in Sinnvorstellungen gegenüber, die zu realisieren prinzipiell für notwendig gehalten wird. Hier ist nicht Raum, auf diese Fundierung, die zu generellen anthropologischen Konditionen führt 22 , näher einzugehen. Es mag genügen, ihre Unabdingbarkeit unter Verweis auf menschliche Grundbedürfnisse hervorzuheben (faßbar etwa im Malinowski'schen Begriff von „basic needs" 23 ; primär sind es z. B. Überleben, Bestandserhaltung, Kompensation des Wissens um den Tod, dann als Derivate z. B. Harmonisierung des gesellschaftlichen Miteinander, Zukunftsvorsorge, Verewigung der persönlichen Existenz usw.). Die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse stiftet Lebenssinn; sie ist aufgrund der Insuffizienz des einzelnen24 und angesichts der Tatsache, daß der einzelne immer einen anderen neben sich hat, jedoch nur im so-

21 Es ist des näheren auf die luziden Darlegungen von R. D a h r e n d o r f , H o m o Sociologus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (Opladen, 1977 1 5 ), zu verweisen. 22 Vgl. zu dem gewiß nicht spannungsfreien, aber m. E. außerordentlichen fruchtbaren Verhältnis zwischen anthropologischen und geschichtswissenschaftlichen Ansätzen Th. N i p p e r d e y , Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropologie, in: V S W G 55 (1968), S. 145-164; H e u s s (wie Anm. 9), S. 150-195; O . K ö h 1 e r, Versuch einer „Historischen Anthropologie", in: Saeculum 22 (1974), S. 129-246; R. S p r a n d e l , Kritische Bemerkungen zu einer historischen Anthropologie, in: ebd., S. 247-250; A. B u r g u i è r e , L'anthropologie historique, in: J. L e G o f f (Hrsg.), La nouvelle histoire (Paris, 1988), S. 137-165. - Siehe zu soziologischen Definitionen von ,Sinn' N . L u h m a n n , Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Frankfurt, 1984), S. 92 ff. 23 B. M a 1 i n o w s k i, A Scientific Theory of Culture and Other Essays (Chapel Hill, 1944). 24 Diesen Aspekt hebt vor allem A. G e h l e n , Anthropologische Forschung (Hamburg, 1964 3 ), S. 69 ff., hervor; vgl. dazu S c h e 1 s k y (wie Anm. 1).

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zialen Konsens zu verwirklichen 25 . Es bedarf der Umsetzung der Sinnvorstellungen in .Leitideen' 26 des g e m e i n s a m e n Handelns, die wiederum zur Pragmatik normativer Verhaltensmuster führen. Hierin aber liegt umgekehrt die Transzendenz des Institutionellen. Institutionalität zeigt sich im wesentlichen als Instrument zur Verwirklichung von Sinnvorstellungen, indem es kontinuierlich dahinführende Interaktionen erwarten läßt. Da in den institutionellen Formen die beruhigende Perspektive „sinn"-vollen Handelns liegt, geben sie Halt in der Kontingenz des geschichtlichen Seins. Genau dies bewirkt die Akzeptanz, sich ihnen zu unterwerfen. Durch sie v o n der Banalität und Widrigkeit des Alltags f ü r das Eigentliche entlastet zu werden 27 , grenzt Freiheit nicht ein, sondern schafft sie. Diese Struktur macht auch deutlich, daß Institutionen im Grunde nur l e g i t i m i e r t sind, weil (und wenn) sie die Funktion erfüllen, Sinnvorstellungen durch dauerhaft geregelte Formen sozialen Handelns zu verwirklichen. Das heißt: Institutionen sind nie Selbstzweck, - auch wenn es dort den Anschein haben mag, wo der Anspruch auf Einhaltung von Normen um der Norm willen erhoben wird. Norm und Sinn - man kann auch sagen: Norm und Leitidee - sind nicht identisch. Folglich können durchaus unterschiedliche normative Verhaltensstrukturen der Verwirklichung von analogen Leitideen dienen. Die Unterschiedlichkeit ergibt sich aufgrund andersartiger konkreter Bedürfnislagen, die jeweils ganz bestimmte Handlungsstrategien als nützlich erscheinen lassen und von daher spezifische Zielvorgaben setzen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. , Für ein sachgemäßes Verständnis des geschichtlichen Befundes ist dieser Sachverhalt von maßgeblicher Bedeutung. Man ist angehalten, in Leitideen und Sinnmustern eine noch weiter gefaßte Permanenz zu sehen, die allerdings der Ebene der Potentialität verhaftet bleibt, bis sie sich in einzelnen, historische Dauer stiftenden normativen Verhaltensstrukturen aktualisiert. Von daher ergibt sich auch, daß normative Verhaltensstrukturen hinsichtlich ihrer Zuständigkeit immer einer Beschränkung unterliegen. Sie sind kompetent nur dort, wo sie einer Leitidee gemäß bestimmter Bedürfnislagen Realisierung verleihen, und sie betreffen aufgrund ihres Bezugs auf eine bestimmte Leitidee (die aller25 Z u m Konsensprinzip vgl. N . L u h m a n n, Institutionalisierung. Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, in: S c h e 1 s k y (wie Anm. 1), S. 27-41. 26 D a z u von rechtsphilosophischer Seite M. H a u r i o u, Die Theorie der Institution, in: R. S c h n u r (Hrsg.), Institution und Recht (Darmstadt 1968). 27 Vgl. G e h l e n (wie Anm. 24).

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dings auch in einem synthetischen Bündel von mehreren bestehen kann 28 ) nur umgrenzte Lebensbereiche. Es stellt sich die Frage der Akzeptanz somit nicht nur - wie schon bemerkt - auf der Ebene des übergeordneten Sinnes, sondern auch im Bereich der pragmatischen Effizienz von normativen Verhaltensstrukturen selbst - einer Effizienz, die sich eben darin zeigt, daß vor dem Hintergrund einer funktionalen Homogenität zwischen Leitidee und normativen Verhaltensstrukturen eine ebensolche zwischen normativen Verhaltensstrukturen und konkreten Bedürfnislagen besteht. Man kann also präzisieren: Die scheinbar Freiheit nehmende Einschränkung auf zu wiederholende Handlungsweisen ist akzeptabel, wenn sie überhaupt erst ermöglicht, Vorstellungen von Lebenssinn auf Dauer in ganz konkreten Zusammenhängen zu verwirklichen. Darin liegt letztendlich auch die Erklärung, daß sich Institutionalität als eine anthropologische Konstante u n d z u g l e i c h als eine Größe des Geschichtlichen zeigt. Die Schaffung von institutionellen Formen - und damit die Schaffung von Beständigkeit zielgerichteten Handelns, denn nichts anderes heißt dies - ist die einzige Möglichkeit des Menschen als Sozialwesen, jeweilig Identität im Wandel zu gewinnen, mehr noch: diese schon zu übernehmen und dann auch weiterzugeben 29 , nicht immer wieder von neuem anfangen und ausgestalten zu müssen, solange bestimmte Sinnmuster und Bedürfnislagen bestehen. ,Organisierte Vereinigungen* sind vor diesem Hintergrund nur soziale Objektivationen spezieller normativer Verhaltensstrukturen 30 , oder anders gesagt: anhand eines Bestandes von normativen Verhaltensstrukturen kann sich eine Organisation entwickeln, die zur Aufgabe hat, diesen Bestand zu erhalten bzw. dessen kontinuierliche Umsetzung in der Lebenspraxis zu präzisieren und zu gewährleisten. Eine Organisation hat prinzipiell immer den Charakter eines geschlossenen Systems. Sie besteht aus aufeinander bezogenen Funktionselementen, bindet alle von den zugrundeliegenden Normen Betroffenen in eine .Mitgliedschaft' ein31 und besitzt Identität in sich. Funktionselemente zumindest einer bereits hochentwickelten Organisation sind (zumeist hierarchisch geschichtete) Organe bzw. Instanzen, denen 28 Zum Aspekt der „Funktionssynthesen" von Institutionen siehe A c h a m, hier unten S. 52. 29 Zur Implikation eines Lernprozesses vgl. hier B a 1 z e r, unten S. 84 f. 30 A c h a m hier unten S. 26. 31 Modellhafte Strukturen (insbesondere z u m Phänomen der .Mitgliedschaft') zeichnet auf N . L u h m a n n, Funktionen und Folgen formaler Organisationen (Berlin, 1972 2 ).

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grundsätzlich fest umrissene Kompetenzen zugewiesen sind, die sich wiederum gegenseitig ergänzen sollten, und sind ferner Kommunikationsmittel, deren Spektrum approbiert sein muß, Verfahrensabläufe, die eine formale Identität über die einzelnen Konkretisierungen hinweg aufzuweisen haben, sowie materielle Ressourcen, deren Rechtssubjekt die organisierte Vereinigung als Ganzes bzw. ihr (hierarchischer) Repräsentant ist. Mitgliedschaft bedeutet nicht unbedingt aktive Teilnahme an einem der Organe, aber nichtsdestoweniger generell a b v e r l a n g t e Akzeptanz 32 der zugrundeliegenden normativen Verhaltensstrukturen sowie formelle Eingefügtheit in eine soziale Rolle gegenüber der Gesamtheit und gegenüber anderen Mitgliedern. .Identität in sich' heißt Existenz als besonderes (nicht unbedingt autonomes) Rechtssubjekt 33 und verdinglicht sich etwa in „ausweisenden" Zeichen (z. B. Siegel, Fahnen, Emblemen etc.) oder sinntragenden Symbolen 34 . Es versteht sich, daß zusätzlich besondere Regeln notwendig sind, die das Funktionieren der Organisation resp. die Erfüllung der verschiedenen Mitgliederrollen sichern. Sie haben möglichst detailliert festzulegen, was in der Pragmatik organisatorischen Geschehens zu tun oder zu unterlassen ist, - bis hin zur Aufstellung von Sanktionen oder Korrekturmittel bei Fehlverhalten der Organe oder der Mitglieder. Sie haben Kompetenzen zuzuweisen, Verfahrensprozeduren und Kommunikationsformen zu approbieren, die Aufnahme- bzw. Ausschlußbedingungen von Mitgliedern und die Lösungswege bei Konflikten zu fixieren. Derartige Regeln der Organisation sind also Instrumente, die der konkreten Umsetzung von Vorgaben aus dem Bereich der normativen Verhaltensstruktur in die Lebenspraxis des institutionellen Alltags dienen. Formalität, Transpersonalität und Explizität müssen ihnen in noch verstärkterem Maße zukommen, damit ihre Gültigkeit in allen eintretenden Situationen aufrechterhalten werden kann. Aufgrund ihrer sachlichen Differenziertheit - die erforderlich ist, um hinsichtlich der Komplexität dés einzukalkulierenden Handlungsbedarfs tatsächlich die einschlägigen Vorkehrungen zu treffen - verlangen sie ein beträcht32 Zur im Wesen des Institutionellen liegenden .Macht' siehe die Darlegungen von Wolfgang B a 1 z e r, hier unten S. 77 f. 33 Z u entsprechenden Reflexionen schon im Mittelalter, die grundlegenden Charakter behielten, vgl. E. H . K a n t o r o w i c z , Die zwei Körper des Königs (München, 1990), insbes. S. 279 ff.; P. M i c h a u d - Q u a n t i n, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le moyen âge latin (Paris, 1970). 34 Siehe dazu den Beitrag von Janos B ä k , hier unten S. 115 f.

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liches Maß an Einsatz von Rationalität, die konsequenterweise über eine gewohnheitsrechtliche Verankerung hinaus zur Kodifizierung, d. h. zur schriftlichen Verbindlichkeit eines approbierten Wortlautes führen kann35. Auf Rationalität gründet auch die Herausbildung von ,ideellen Objektivationen'. Als explizit formulierte Reflexion sollen sie den institutionellen Bestand „begründen, rechtfertigen und legitimieren"36. Sie umgreifen (zumindest) grundsätzlich die ganze Spannweite des Komplexes von Sinnbezug, Normensystem, Form und Zweck einer Organisation. Ihre methodische Ausrichtung kann retrospektiv affirmierend (.Historiographie'; z. B. der Liber pontificalis) oder prospektiv zielsetzend (,Programm'; z. B. Dantes De monarchia), wie auch analytisch feststellend (.Wissenschaft'; z. B. Thomas v. Aquin, De regimine principum) sein, wobei sich allerdings gegenseitige Uberlagerungen bzw. Umschläge von einer Ebene zur anderen ergeben. Obgleich im Prinzip nur stabilisierendes Element der Organisation, stehen die ideellen Objektivationen dieser dennoch in eigener Systemhaftigkeit gegenüber und sind durchaus offen, sich zu funktional gesonderten Institutionen auszuformen37 (z. B.: organisierte Kontrollinstanz Wissenschaft). Wenn nun aber organisierte Vereinigungen (und dazu zählen gleichermaßen hierarchisch wie genossenschaftlich strukturierte) tatsächlich als „Objektivationen der normativen Verhaltensstrukturen" zu verstehen sind, dann sollte folgendes noch einmal unterstrichen werden: Zwischen beiden besteht nur die Differenz einer Abstufung. Sie zeigt sich in unterschiedlichen Graden der Verfestigung kontrollierbarer (und kontrollierter) Interaktionen, der Formalisierung von Handlungen 35 Grundsätzliche Überlegungen dazu bei J. G o o d y, The logic of writing and the Organization of society (Cambridge, 1986). Einschlägige Verhältnisse anhand einer in sich besonders geschlossenen Organisationsform skizziert bei G. M e 1 v i 11 e, Z u r Funktion der Schriftlichkeit im institutionellen Gefüge mittelalterlicher Orden, in: F M A S t 25 (1991), S. 391—417; siehe zu einem anderen exemplarischen Bereich H . K e l l e r , O b e r italienische Statuten als Zeugen und als Quellen für den Verschriftlichungsprozeß im 12. und 13. Jahrhundert, in: F M A S t 22 (1988), S. 2 8 6 - 3 1 4 ; J. W . B u s c h, Z u m P r o z e ß der Verschriftlichung des Rechtes in lombardischen K o m m u n e n des 13. Jahrhunderts, in: F M A S t 25 (1991), S. 3 7 3 - 3 9 0 . - Wichtig wäre in diesem Zusammenhang auch die nähere Untersuchung einer Institutionalisierung dialogischer Kommunikation innerhalb von O r ganisationen, d. h. einer Institutionalisierung, die das eigentliche .Dialogische', also die offene Begegnung von Gedanken im sprachlichen Austausch, eingeformt in Verhaltensmuster der sozialen Rolle; vgl. dazu die Überlegungen von P. v o n M o o s , Zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit: Dialogische Interaktion im lateinischen Mittelalter, in: F M A S t 25 (1991), S. 3 0 0 - 3 1 4 , insbes. 312 f. 36 A c h a m, hier unten S. 38, mit einer Skizzierung der dieser Funktion impliziten Problematik. Vgl. dazu auch S c h e 1 s k y (wie Anm. 1), S. 2 0 f. 37 Siehe dazu noch unten S. 18.

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selbst, der Spezifikation des Normengefüges und der Einbindung der Betroffenen. Darüber kann auch nicht die Tatsache hinwegtäuschen, daß zweifelsohne bei Entstehen einer Organisation ein gewissermaßen qualitativer Sprung erfolgt, der von der ideell normativen Ebene zur normativ verdinglichten führt. - Unter Rückgriff auf bereits oben Gesagtes präzisiert: Organisierte Vereinigungen falten sich aus normativen Verhaltensstrukturen aus, normative Verhaltensstrukturen wiederum leiten sich von fundamentalen Sinnvorstellungen ab. Es ist dies eine Kohärenz, in eben deren g a n z e r Spannweite es um „die Gestalt menschlichen Lebens" geht, die als Institutionalität „herzustellende Gestalt der Gemeinschaft" ist - um ein Wort von Max Müller aufzugreifen 38 . Und weil diese „Gestalt der Gemeinschaft" herzustellen ein unausweichliches Axiom anthropologischer Befindlichkeit bedeutet, versteht sich von daher auch der Satz Karl Achams 39 , angeknüpft an eine Erläuterung von .organisierten Vereinigungen': „Wir sind immer schon in Institutionen". Es gibt offensichtlich gegenüber Institutionalität keine Vorgängigkeit. Dann aber zeigt sich der Begriff ,Institutionalisierung' in einem anderen Licht: Er bezeichnet nicht eine originäre Formstiftung, sondern den Übergang von einer Geformtheit in eine andere 40 . .Institutionalisierung' heißt ohne jegliche Paradoxie: Verstärkung von Institutionalität bzw. weitere Ausformung von bereits Institutionellem 41 . Daß diese Feststellungen unter einem abstrakt systemhaften Aspekt getroffen wurden, wird nicht geleugnet. Nur auf diese Weise war die generelle Basis zu umreißen, anhand derer sich der historische Bestand von Institutionen in seiner Spezifität beleuchten läßt. Oder anders 38 M. M ü 11 e r, Philosophische Anthropologie (Freiburg/München, 1974), S. 188. 39 Siehe hier unten S. 36, Anm. 11. 40 Vgl. dazu die Überlegungen zu forschungspragmatischen Implikationen von Johannes F r i e d , hier unten S. 133 ff. 41 Im Widerspruch dazu scheint allein das Phänomen zu stehen, das W e b e r (wie Anm. 16) S. 142 ff, „Veralltäglichung des Charisma" nennt, da dabei eine Institutionalisierung offensichtlich aus der Regellosigkeit, aus einem Feld der Willkür fallweiser Entscheidungen heraus (vgl. das Zitat oben Anm. 16) geschieht. Doch sollte man noch genauer abstecken, wie fern vom Institutionellen eine charismatische Herrschaft eigentlich ist, will sie über den Moment hinaus Bestand bewahren; zumindest besteht die implizite Möglichkeit, daß sie vorgefundene Institutionen instrumentalisiert. Davon abgesehen, bedeutet charismatische geführte .Bewegung' gerade auch Ausbruch aus institutioneller Verfügtheit („es steht geschrieben - ich aber sage euch"; siehe oben), so daß eine dann nachfolgende .Veralltäglichung' tatsächlich nur Rückholung von Institutionalität unter verschobenen Vorzeichen (etwa unter gewandelten Leitideen) bedeutet.

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gesagt: Der untersuchende Schritt zur g e s c h i c h t l i c h e n Ges t a l t von Institutionen kann nur gemacht werden, wenn man dabei vom Wesen der Institutionalität ausgeht - zumal in diesem selbst die Umsetzung in Historizität strukturell eingeschlossen liegt. Entsprechende Konturen haben sich bereits an mehreren Punkten der Überlegungen abgezeichnet; sie betrafen nicht nur das Problem der zu präzisierenden Begrifflichkeit, sondern ebenso das sachliche Phänomen selbst: .Institutionalisierung' im eben definierten Sinne heißt immer ausdifferenzierende Spezialisierung. Schon generelle normative Verhaltensstrukturen zeigen sich in breiter Auffächerung (z. B. Religion in Polyoder Monotheismus und von da weiter etwa in Islam oder zum Christentum und wieder differenzierend z. B. in Katholizismus, Protestantismus usw. 42 ). Auf der daraus resultierenden Ebene findet sich eine analoge Struktur (z. B. bei einer Differenzierung des Katholizismus in eine ,vita saecularis' oder .regularis' und weiter dann etwa bei letzterer in ,vita monastica' oder .canonica'). Bei der Ausformung in organisierte Vereinigungen zeigt sich das gleiche Prinzip (um im selben exemplarischen Bereich zu bleiben: ,vita monastica' als normative Verhaltensstruktur kann sich vielfältig organisieren in Ordensverbänden wie z. B. der Cluniazenser, Cisterzienser, Kartäuser usw. 43 ). Organisationen selbst fächern sich ebenso auf und lassen spezialisierte Teilbereiche entstehen, die es wieder zu einem institutionellen Eigenleben bringen können 44 . Es geht hier nicht darum, in dieser Struktur bereits ein evolutionäres Prinzip sehen zu wollen. Wichtig ist allein die Feststellung, daß eine derartige Spezialisierung stets unter dem Vorzeichen des auch a n d e r s a r t i g Realisierbaren und Realisierten steht. Das heißt: Bei Institutionalisierungen handelt es sich jeweils um nur eine Selektion aus einem breiteren Rahmen von Möglichkeiten, - eine Selektion, die historisch bedingt ist, weil sie aufgrund etwa einer besonderen Interpretation von Sinnmustern, einer besonderen Gewichtung von Bedürfnislagen oder einer besonderen Vorstellung von geeigneten Be42 Dieses Prinzip umrissen unter Verwendung der Begrifflichkeit „allgemeine (generelle) normative Verhaltensstrukturen" und „besondere (spezielle) normative Verhaltensstrukturen" bei A c h a m, hier unten S. 27. 43 Im Überblick siehe J. H o u r 1 i e r, L'âge classique (1140-1378). Les religieux (= Histoire du Droit et des Institutions de l'Eglise en Occident, Bd. 10, Solesme, 1974). 4 4 S c h e l s k y (wie Anm.), S. 19 f., führt als G r u n d dafür die Tatsache an, daß institutionelle Befriedigung von Bedürfnissen neuartige Folgebedürfnisse schafft, die wiederum durch spezialisierte Sub-Institutionen befriedigt werden müssen.

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friedigungsstrategien erfolgt. Bei Verschiebung der Kriterien würde sie zu einer anderen Form führen - und tatsächlich nicht nur in unterschiedlichen kulturellen Systemen, sondern sogar innerhalb eines und desselben gesellschaftlichen Verbandes führt sie auch dazu. Die Folge davon kann bereitgestellte Alternative oder Konkurrenz sein, - was wiederum jeweils von der Akzeptanz sowohl der Verankerung in ideelle Leitgedanken wie auch der Zweckdienlichkeit für konkrete Bedürfnisbewältigungen abhängt, wie oben schon erwähnt. Zwangsläufig also ist Institutionalität in historische Kontexte verwoben und ebenso zwangsläufig schafft sie historische Sachverhalte. Man kann die Rechnung aber auch von einer anderen Seite her aufmachen: Da die Existenz des Menschen multiform determiniert ist, sind immer Orientierungen an mehreren Sinngehalten gleichzeitig präsent. Die aufgrund dieser Orientierungen ausgeformten normativen Verhaltensstrukturen und die davon wiederum abgeleiteten Organisationen betreffen also jeweils nur e i n e n Bereich des existentiellen Bedürfnisspektrums. Trotz der Möglichkeit einer synthetisierenden Uberlagerung bzw. einer gegenseitigen Subsumierung kommt es innerhalb eines kulturellen Systems zwangsläufig zu einem Nebeneinander von institutionellen Ausgestaltungen mit unterschiedlicher Sinnerfüllung. Da aber bei der Bemessung des Wichtigeren unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden können, ergibt sich auch hier Alternative oder Konkurrenz und damit eine jeweils spezifische historische Realisation jenes Nebeneinanders. Das führt zu einem dritten Gesichtspunkt: Das Nebeneinander von institutionellen Ausgestaltungen ist nie ganz zugunsten nur einer einzelnen übergreifenden aufhebbar (dies anzunehmen ist im übrigen der Irrtum jeder totalisierenden Utopie 45 ). So auch ist der Plural im bereits zitierten Satz Karl Achams - „Wir sind immer schon in Institutionen" zu verstehen. Angesichts dieses Sachverhalts muß jedes Individuum vielerlei Rollen einnehmen, d. h. seine Aktivitäten im Rahmen einer institutionell mehrfachen Verfügtheit aufteilen. Dies aber bedeutet, daß das Institutionelle nicht nur dadurch eingeschränkt ist, bei Vergabe einer Rolle - wie schon hervorgehoben - immer nur Teile der Persönlichkeit erfassen zu können, sondern daß es ebenso dort Grenzen findet, wo ein Individuum auch anderen Institutionen verpflichtet ist. Je 45 Vgl. dazu den Überblick von F. S e i b t, Utopie als Funktion abendländischen Denkens, in: W. V o ß k a m p (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 1 (Stuttgart, 1982), S. 254-279.

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nach Gelingen oder Scheitern, diesem Sachverhalt gerecht zu werden, entsteht produktive Ergänzung oder destruktiver Konflikt: beides aber sind Grundfaktoren für geschichtliche Verlaufsformen Es kam hier darauf an, lebenswirkliche Umgrenzungen bereits aus dem Wesen des Institutionellen selbst abzuleiten, nämlich: (A) Selektion und zugleich Auffächerung durch weitere Institutionalisierung, (B) heterogene Herleitung und damit auch Sektorierung des institutionellen Gesamtgefüges innerhalb eines kulturellen Systems, (C) Vernetzung der betroffenen Individuen in verschiedene Institutionen bzw. Unerreichbarkeit des ganzen Individuums und damit eine zwangsläufige Beschränkung institutioneller Wirkkraft. In diesen Umgrenzungen liegt implizit die grundsätzliche Historizität des Institutionellen. Und es wird nun zu skizzieren sein, wie sich daraus ein geschichtliches G e f ü g e von Verlaufsformen entfalten kann. Besondere Anschaulichkeit dürfte dabei zu erreichen sein, wenn man die stärkste Konkretisierung des Institutionellen - die organisierte Vereinigung - heranzieht und die einschlägigen Elemente, gleichwohl sie miteinander verwoben sind, getrennt nacheinander aufgreift. Es handelt sich im wesentlichen um drei verlaufsrelevante Komponenten. Erstens: Daß Organisationen danach streben, sich zu perfektionieren, muß man angesichts des bereits Gesagten nicht mehr ausdrücklich hervorheben. Der Sachverhalt liegt im Prinzip institutioneller Gewährleistung begründet, welches verlangt, die Stabilität der vorgesehenen Handlungsformen gegenüber potentiellen Störungen bestmöglich abzusichern. Konkrete Folge kann eine anwachsende Präzisierung und Detaillierung der Verfahrens- und Verhaltensregeln sein sowie eine Einsetzung von neuen, in der Kompetenz noch mehr spezialisierten Organen, eine Verfeinerung der Kommunikationsstrukturen, eine Verschärfung des Sanktionspotentials, eine immer stringenter gefaßte Mitgliederbindung und ähnliches mehr. Schon dies allein produziert geschichtlichen Wandel dessen, was auf Dauerhaftigkeit hin angelegt ist. Doch ist es sozusagen „zulässiger" Wandel, da er im Prinzip des Erhalts von Stabilität liegt. Perfektionierung ändert, aber sie ändert ohne Substanzverlust. Es sei denn, der Perfektionsdrang führt zur Hypertrophierung, überdehnt die Kräfte des Vollziehbaren, stellt die Form über den Inhalt des Sinnbezugs, erklärt damit die Institution zum Selbstzweck und läßt sich so die ideelle Akzeptanz der Mitgliedschaft entgleiten. Dann allerdings führt Perfektionierung zur Selbstdestruktion. Auch angestrengte Bemühungen, sich besonderer Stabilisierungsstrategien gerade auf der Ebene der ideellen Objektivation zu vergewissern, können zerstörerisch

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wirken, indem sie in eine kritische Reflexion über die zugrundeliegenden Sinnbezüge umschlagen und vermeintliche Selbstverständlichkeiten als Chimären des Mythischen oder Imaginären entlarven. Wenn die Kraft rationalen Denkens autonom wird und tradierte Sinnmuster in Frage stellt, entzieht sie institutionellem Handeln das Fundament des Konsenses. Zweitens: Dem Prinzip der Gewährleistung von Stabilität sind Grenzen gesetzt durch die (wie erläutert) beschränkte Kompetenz jedwelcher Institution in einem kulturellen System. Stabilität ist k o n s t r u k t i v gegen Wandel gesetzt, und die Konstruktion ist dort bedroht, wo veränderte exogene Verhältnisse die Leistungskraft von Organisationen überfordern. - Man kann dies von zwei Seiten her verdeutlichen: Zum einen erfolgt eine Gefährdung durch neue faktische Umfeldbedingungen, die nicht vorgesehen waren bzw. nicht vorausgesehen wurden. Diese können von struktureller Art sein wie etwa soziale oder wirtschaftliche Verschiebungen oder von ereignishafter wie Kriege, Naturkatastrophen, Seuchen etc., und stellen die institutionelle Z w e c kerfüllung in Frage bzw. löschen sie im ungünstigsten Falle aus. Die Handlungsnormen greifen ins Leere, weil ihr pragmatisches Orientierungsziel nicht mehr in der konstitutiv einkalkulierten Form besteht. - Zum anderen sind Organisationen mit Umschichtungen im allgemeinen Wertespektrum dergestalt konfrontiert, daß zugrundegelegte Sinnmuster keine Relevanz mehr oder zumindest nur noch eine nachrangige im gesellschaftlichen Kontext besitzen. Damit ist die institutionelle S i n nerfüllung in Frage gestellt und die entsprechenden Handlungsnormen verlieren ihre legitimierende Verankerung, werden zur entleerten Form. Beides - Bruch von Zweck- wie von Sinnerfüllung - bedeutet Kompetenzverlust und kann zu bestimmten exogenen und endogenen Folgen führen. - Was das exogene Feld betrifft, so entstehen alternative Organisationen bzw. schieben sich schon bestehende in den Vordergrund, die den neuen Bedürfnissen besser angepaßt oder aus diesen emporgewachsen sind und die nun Konkurrenz bieten. Die von den verschobenen Bedingungen betroffenen Organisationen sehen sich dem Schwinden ihres Einflusses, dem .Vergessen' (sich vor allem äußernd im Versickern der personalen wie dinglichen Ressourcenergänzung) und schlimmstenfalls der Auflösung ausgesetzt. - Im endogenen Bereich erfolgt ein Schwinden der Akzeptanz der Organisationselemente durch die Mitglieder, d. h. die Rollenintegration der Individuen wird brüchig. Die gravierendste Folge ist die Aufkündigung der Mitgliedschaft: Austritt, Abwanderung oder Verlagerung in absolute Indifferenz. Doch als

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kaum minder einschneidend zeigt sich der mögliche Aufbau eines informellen Beziehungsgeflechtes innerhalb der Organisation, das Gegengewicht oder Ersatz sein will angesichts des funktionsentleerten institutionellen Gefüges. Personal und nicht transpersonal bestimmt, kann dieses Geflecht die äußere Form zwar noch aufrechterhalten, höhlt nichtsdestoweniger die verbliebenen Inhalte weiter aus, - bis es dann u. U. selbst wieder eine Institutionalisierung findet, .Rollen* herausbildet und zu einer neuen Organisation wird. Und schließlich kann ebenfalls aus der Brüchigkeit der Rollenbindung heraus durch einzelne Mitglieder ein machtgeleiteter Zugriff auf die gesamte Organisation erfolgen, die dadurch personalisiert und ohne institutionalisierte Legimität auf individuellen Eigennutz hin funktionalisiert wird. Diese Aufzählung von Erscheinungsformen erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ging nur darum, das Charakteristische jener Bedingungen hervorzuheben, die dem Institutionellen gegenläufig sind und zur Veränderung bzw. sogar zum Erlöschen der intendierten Stabilität führen können. Und schließlich die dritte Komponente: Endogene Veränderung eines organisatorischen Bestandes heißt nicht nur Perfektion zur weiteren Stabilisierung, nicht nur Destabilisierung, sondern auch Restabilisierung. Konstruktiv gegen Wandel gesetzte Dauer impliziert Reaktionen gegenüber Beinträchtigungen der Dauer. Es sind Reaktionen, zu denen sich eine Institution selbst genötigt sieht, zu denen sie aber ebenso von äußeren Mächten gezwungen werden kann. Grundsätzlich scheinen hierbei zwei Formen auf, die beide sowohl auf rein organisatorischer als auch auf ideeller Ebene aktualisiert werden: Rückholung früherer Befindlichkeit oder Anpassung an gegenwärtige Anforderungen. Erstere versucht eine Korrektur des institutionell Gewordenen, das sie nicht als Resultat veränderter Umfeldbedingungen sieht, sondern als Abirrung von den Verhältnissen des idealen Anfangs versteht. Dabei wird von der Uberzeugung ausgegangen, daß die Durchschlagskraft des Ehemaligen auch in der Gegenwart (sowohl gegenüber den Mitgliedern wie auch dem sozialen Umfeld) wirken kann. Konkret zeigt sich dies vor allem im Aufruf früherer Werte oder Sinnmuster, die als nicht überholt - oder mehr noch: als nie überholbar - postuliert werden, und denen die Organisationform wieder anzugleichen ist. Anpassung an gegenwärtige Anforderungen als alternative Form ist vielschichtiger. Zum einen kann sie auf der Ebene des organisatorischen Regelsystems erfolgen, indem von außen z. B. dort mittlerweile bewährte Modalitäten der Kommunikation, der Administration, der Füh-

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rungsstrukturen usw. übernommen werden, um somit durch erhöhte pragmatische Effizienz weiterhin bestehen zu können. Zum anderen aber (und das schließt ersteres nicht aus) ist auch die Ebene der zugrundeliegenden normativen Verhaltensstruktur durchaus für eine Umbesetzung offen. Dies bedeutet einen wesentlich gravierenderen Eingriff. Er umfaßt Korrekturen der Leitidee und kann zur Neuorientierung der funktionalen Aufgaben führen. Ziel ist in jedem Fall, eine Identität in gewandelten Verhältnissen zu bewahren, sei es, um im Kern das, was man von jeher für ideell wesentlich hielt, durch Anpassung an neue Bedürfnisse aufrechtzuerhalten, oder sei es nur, um das Organisationssystem mit seinem Bestand an Mitgliedern und dinglichen Ressourcen zu zeitgemäßen Aufgaben zu führen. Im Wechselspiel dieser Komponenten gestaltet sich Geschichte: Das Institutionelle stellt Beständigkeit dar und dennoch verändert es sich bereits in sich selbst durch den Drang nach Perfektionierung der Beständigkeit. Aufgrund der Eingrenzung, der die einzelne Institution unterworfen ist, ist es jedoch unvermeidlich, daß nicht kontrollierbare Kräfte einwirken, die eine Veränderung der bisherigen Bedingungen institutioneller Beständigkeit schaffen und die Relevanz einer Institution in Frage stellen. Gegenüber dieser „normativen Kraft des Faktischen" 46 sieht sich die Institution zur Reaktion veranlaßt, will sie nicht untergehen, und verändert sich wiederum. Beständigkeit stellt sich als ein immer wieder einzuholendes Ziel dar im Angesicht fortwährender Verhinderung, und Dauer ist nur durch Veränderung zu erreichen. .Institution' heißt, wie oben zitiert wurde, „herzustellende Gestalt der Gemeinschaft" 47 . Der Prozeß dieser Herstellung, in Formen fortwährenden Scheiterns und Gelingens von Stabilität, bedeutet Geschichte. Diese Formel verleugnet nicht ihren idealtypischen Charakter. In der historischen Realität zeigen sich jene drei Veränderungskomponenten keineswegs zwangsläufig in einem Nacheinander. Ebenso gut kommt es zu einer Verschränkung im Gleichzeitigen. So schließen etwa perfektionierende Maßnahmen vielfach bereits die Vorwegnahme von Reaktion ein. Vor allem aber ist der Ausgang einer Entwicklung stets davon abhängig, wie weit im konkreten Falle die Durchschlagskraft einer der

4 6 So K . S c h r e i n e r , Zisterziensisches Mönchtum und soziale Umwelt. W i r t schaftlicher und sozialer Strukturwandel in hoch- und spätmittelalterlichen Zisterzienserkonventen, in: K. E 1 m (Hrsg.), Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ergänzungsband (Köln, 1982), S. 80, in treffender Kennzeichnung derart strukturierter Geschehnisse. 4 7 Siehe oben S. 14.

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genannten Komponenten reicht. Es ist z. B. nicht die latente Fähigkeit des Institutionellen zu unterschätzen, über den direkten Kompetenzrahmen hinauszugreifen, so etwa multifunktional zu werden, um sich sein Umfeld gewissermaßen selbst zu schaffen und dadurch gegen exogene Widrigkeiten wesentlich gefeiter zu werden. Andererseits hängt institutionelles Überdauern wesentlich davon ab, ob die davon betroffenen Individuen ihre soziale Rolle mit einem Uberschuß an erwartetem Einsatz ausfüllen oder ob sie sich auf das Nötigste, d. h. auf das formal Abverlangte, beschränken 48 . Hierbei kommt den ideellen Objektivationen, sofern sie begründen und nicht - wie oben schon als ihre ambivalente Potenz hervorgehoben wurde - in Frage stellen, eine besondere Wirkung zu. Auch der Zeitindex stellt einen wichtigen Faktor dar. Ganz entscheidend sind die institutionellen Ausformungen davon bestimmt, in welchem Grad der Beschleunigung sie stattfinden bzw. auf welche Ablaufsgeschwindigkeiten sie zu reagieren haben. Ein plötzlicher Umbruch läßt weniger Zeit, macht aber u. U. deutlicher auf Handlungsbedarf aufmerksam als sozusagen „schleichender" Wandel, der vielleicht gar nicht oder erst zu spät wahrgenommen wird. Ferner ist unbestreitbar, daß Institutionen bei erhöhter Differenzierung und Spezialisierung gegenüber zersetzenden Einflüssen mehr Angriffsflächen bieten. In kulturellen Systemen mit einem insgesamt geringeren Institutionalisierungsgrad - d. h. mit noch recht kompakten normativen Verhaltensstrukturen und mit Organisationen von rudimentärer Formalität - besteht also eine wesentlich größere Perseveranz des Institutionellen als in solchen mit intensivierter Institutionalität. Man kann daraus sogar die These ableiten, daß mit fortschreitender Institutionalisierung - also eigentlich vorangetriebener Verfestigung - zugleich eine Mobilisierung der institutionellen Strukturen bewirkt wird. Es versteht sich, daß all diese letztlich auf Kontingenz verweisenden Sachverhalte - und gewiß auch noch andere dieser Art - in Betracht zu ziehen sind, wenn es um Leitaspekte für historische Untersuchungen von Institutionen geht und dabei der Fächer der konkreten Realisierungen aufgespannt werden muß. Dessen ungeachtet gilt: Institutionen sind „über das alltäglich praktizierte gesellschaftliche Leben hin-

4 8 Hierin liegt der kriterielle Punkt der personalen Ausfüllung von Transpersonalität; vgl. dazu D a h r e n d o r f (wie Anm. 21).

Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema

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ausweisende Abstraktionen" (wie Jänos Bäk in seinem Beitrag formuliert49). In Gestalt von Institutionen denkt der Mensch sich und sein Umfeld abstrakt50. Da er daraus Konzepte seines sozialen Handelns entwickelt, die sich unter der l e b e n s w e l t l i c h e n Form von .Dauerhaftigkeit' und .Wiederholbarkeit' realisieren, hat dieses Abstraktum ebenso Thema der Geschichtswissenschaft zu sein wie das kontingent Einmalige. Daraus erklärt sich das Anliegen dieses Bandes und dessen besondere Dualität von theoretischen Aspekten und historischen Befunden. Die drei an den Anfang gestellten systematischen Aufsätze von Karl Acham, Wolfgang Balzer und Hans Michael Baumgartner sollen nicht nur hypothetische Vorgaben liefern, die zur Präzision von elementaren Begriffen (z. B. institutionelle .Genese', .Wandel' oder .Krise') und strukturellen Formalbezügen beitragen, sie sollen vielmehr auch ein fruchtbares Spannungsfeld zwischen Theorie und Empirie erzeugen, welches die dann nachfolgenden historischen Studien hinausweisen läßt über eine reine Kasuistik hin auf die Ebene der paradigmatischen Verdeutlichung. Von daher ist verständlich, daß von vorneherein kein Umgreifen aller geschichtlichen Bestandsformen des Institutionellen angestrebt wurde. Es ging nur darum, jenes lebensweltliche Abstraktum .Institution' in wesentlichen Ausgestaltungen (zudem unter Beschränkung auf eine Epoche51) zu veranschaulichen. Schwerpunkte wurden gesetzt durch Fragen nach den Bedingungen und Modalitäten eines Institutionalisierungsprozesses (Semmler; Fried; Landau) oder nach Präsentationsformen institutioneller Identität (Bäk), durch Untersuchungen des Verhältnisses von sozialer Rolle bzw. von .Amt' und Individuum (Schimmelpfennig; Semmler), von Institutionalität und persönlichen Beziehungsgeflechten (Schimmelpfennig; Schwarz) sowie von Charisma und Institution (Semmler). Besonderes Gewicht wurde auch gelegt auf Überlegungen zur institutionellen Wirkkraft von Normen (Fried; Landau; Feiten) wie von dinglichen Ressourcen (Schwarz), ferner auf Beobachtungen zu Konditionen und Mechanismen der institutionellen Reform (Schwarz; Schreiner; Pinkl; Feiten), zum Ver-

49 Siehe hier unten S. 115. 50 Wie M ü l l e r (wie Anm. 38), S. 187 ff., anschaulich herausarbeitet, kann dies unter „funktional-instrumentalem" oder unter „repräsentativ-symbolischem" Aspekt geschehen. 51 Wobei allerdings gerade das Mittelalter als Epoche vielfältiger und grundlegender Neuformung des Institutionellen als besonders aussagekräftig erscheint.

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hältnis von Institution und soziopolitischem Umfeld (Semmler; Miethke; Feiten) sowie zur Reflexion institutioneller Befindlichkeit (Schreiner; Pinkl), die angesichts von Krisensituationen mittels ideeller O b jektivationsformen Korrektur oder auch Affirmierung bewirken konnte (Contamine; Miethke). Motto der diesem Buch vorausgegangenen Kolloquien war „Entstehung, Bestand, Krise und Reform von Institutionen". Im Laufe jener Gespräche erwies sich die Notwendigkeit, bereits die Bedeutung von .Institutionalität' als historische Größe genauer zu erfragen. Die vorliegende Einleitung wollte die wichtigsten Implikationen dieser Aufgabenstellung umreißen. Sie hofft, eingestimmt zu haben auf Versuche, mit abstrakten Überlegungen und konkreten Beschreibungen weitere Zugänge zu gewinnen.

STRUKTUR, FUNKTION UND GENESE VON INSTITUTIONEN AUS SOZIAL WISSENSCHAFTLICHER SICHT KARL ACHAM

Unser Lebenslauf ist, wie Schopenhauer einmal bemerkte, keineswegs schlechthin unser eigenes Werk, sondern das Produkt zweier Faktoren: der Reihe der Begebenheiten und der Reihe unserer Entschlüsse, welche stets ineinandergreifen und sich gegenseitig modifizieren. „So sind denn meistens die Begebenheiten und unsere Grundabsichten zweien, nach verschiedenen Seiten ziehenden Kräften zu vergleichen und die daraus entstehende Diagonale ist unser Lebenslauf ... Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen. 1 " Nun sind diese Begebenheiten keineswegs nur als „rohe Tatsachen" im Sinne rein naturalistisch beschreibbarer Sachverhalte aufzufassen, sondern vor allem auch als „institutionelle Tatsachen", die mit dem Menschen als einem innerhalb einer Gemeinschaft handelnden Wesen zusammenhängen 2 . Was ist unter einer „Institution" zu verstehen? I. BEGRIFFLICHE VORKLÄRUNGEN Der Begriff der I n s t i t u t i o n ist in den Sozialwissenschaften namentlich in der Soziologie und Ethnologie - keineswegs einheitlich bestimmt und seine Bedeutung hat sich seit den einschlägigen Erörterungen Herbert Spencers geändert. Heute meint man mit diesem Begriff, wie im folgenden gezeigt wird, vor allem dreierlei: 1. eine normative Verhaltensstruktur oder ein soziales Regelsystem, 2. eine organisierte Vereinigung, 3. ideelle Objektivationen. Die n o r m a t i v e V e r h a l t e n s s t r u k t u r kann sich auf Sachverhalte allgemeiner, aber auch auf Sachverhalte besonderer Art be1 S c h o p e n h a u e r 1976, S. 198. - Genauere bibliographische Angaben jeweils in der Literaturliste am E n d e der Abhandlung. 2 Zur Unterscheidung von „brüte facts" and „institutional facts" vgl. A n s c o m b e 1958 und S e a r l e l 9 6 9 .

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ziehen. So kann man beispielsweise die Religion oder die Wirtschaft im allgemeinen in Betracht ziehen, oder aber beispielsweise die katholische Religion bzw. die kapitalistische Wirtschaft im besonderen. Die generellen (allgemeinen) normativen Verhaltensstrukturen (z. B. Religion, Wirtschaft) werden durch jene allgemeinen Zwecke oder Leitideen charakterisiert, welche durch die verschiedenartigen Ausformungen besonderer normativer Verhaltensstrukturen (die verschiedenen Konfessionen bzw. Wirtschaftsordnungen) realisiert werden; für spezielle (besondere) normative Verhaltensstrukturen (z. B. katholische Religion, kapitalistische Wirtschaft) gilt, daß sie sich durch ihre spezifische Zielsetzung von andersartigen speziellen normativen Verhaltensstrukturen (z. B. von der protestantischen Religion, der sozialistischen Wirtschaft) unterscheiden. Stehen im Falle der generellen normativen Verhaltensstrukturen Zwecke und Funktionen als Charakteristika im Vordergrund, so im Falle der speziellen normativen Verhaltensstrukturen Ziele und Absichten. Organisierte V e r e i n i g u n g e n sind soziale Objektivationen spezieller normativer Verhaltensstrukturen. Es ist charakteristisch für gesellschaftliche Ordnungen mit einem hohen Rationalitätsgrad, der im wesentlichen auch auf der Nutzung der schriftlichen Kommunikationsmöglichkeiten beruht, daß in ihnen i d e e l l e O b j e k t i v a t i o n e n zum Tragen kommen, die sich als bereichsspezifische Wissensformen den jeweiligen normativen Verhaltensstrukturen zuordnen lassen. Diese sind zumeist ein Amalgam von normativen und deskriptiven Aussagensystemen. Exemplarisch stellen sich I n s t i t u t i o n e n i m weiteren S i n n e - gegliedert nach ihren vier grundlegenden Dimensionen folgendermaßen dar:

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht allgemeine (generelle) besondere (spezielle) organisierte Vereinigung normative Verbalnormative Verhaltensstruktur tensstruktur

ideelle Objektivationen

Religion

Katholizismus

Klöster usw.

Theologie, Religionswissenschaft

Wirtschaft

Kapitalismus

Firmen usw.

Wirtschaftspolitik, Wirtschaftstheorie

Politik

Mehrparteiendemokratie

Parlamente usw.

Parteiprogramme, Politikwissenschaft

Zu dem bisher Gesagten ist eine Reihe von Ergänzungen erforderlich, um das einigermaßen in seiner Bedeutung erfassen zu können, was unter „Institution" verstanden wird. (1) Zunächst sei hier festgehalten, daß „Institution" in einem weiteren Sinne, aber auch in einem engeren Sinne verstanden werden kann. Unter einer Institution im weiteren Sinne wird ein O r d n u n g s g e b i l d e verstanden, wie es vorhin in drei Fällen exemplarisch dargestellt wurde; also etwa: Religion - Katholizismus - Klöster Theologie, Religionswissenschaft. Unter einer Institution im engeren Sinne versteht man hingegen das, was soeben als allgemeine (generelle) normative Verhaltensstruktur bezeichnet wurde; in dem erwähnten Beispiel also: die Religion. In diesem Zusammenhang erscheint es nützlich, darauf hinzuweisen, daß der Abstraktionsgrad und der Umfang dessen, was mit einer generellen normativen Verhaltensstruktur gemeint sein kann, sehr unterschiedlich ist. So kann man etwa „Religion" als generelle normative Verhaltensstruktur ansehen, aber zum Beispiel auch „Christentum", „Katholizismus", „Papsttum" usw. Je nach Abstraktionsgrad gestaltet sich auch der Schärfegrad, die optische „Feinkörnigkeit" des gesamten institutionellen Ordnungsgebildes. (2) Wenn von normativer Verhaltensstruktur die Rede ist, so wäre es unrichtig, verhaltenstheoretische oder behavioristische Auffassungen damit zu verknüpfen. Keine noch so vollständige Beschreibung des Verhaltens von Menschen würde uns Aufschluß darüber geben, was

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etwa unter „Religion" oder „Wirtschaft" als Institutionen im engeren Sinne zu verstehen ist. Nur wenn man die sozialen Regeln versteht, welche dafür konstitutiv sind, was man als religiöses oder wirtschaftliches Verhalten zu bezeichnen gewöhnt ist, kennt man die Struktur der in Betracht stehenden Institutionen im engeren Sinn. Ausgehend vom Regelverstehen erscheint es nützlich, sich den Unterschied zwischen den beiden oben erwähnten Varianten normativer Verhaltensstruktur (der allgemeinen und der speziellen) klarer bewußt zu machen. Exemplarisch sei hier auf das Verhältnis von „Religion" als allgemeiner normativer Verhaltensstruktur zu den einzelnen Weltreligionen des Buddhismus, des Judentums, des Islam oder des Christentums hingewiesen. Die Spielregel-Metapher ist dabei von heuristischem Nutzen: Wie das normative Regulativ des Schachspiels zwar den Rahmen der Spielhandlungen, nicht aber das Handeln der einzelnen Spieler selbst determiniert, so bestimmt das formale normative Regulativ von „Religion" zwar die generellen Beziehungen zwischen Mensch und Gott, Immanenz und Transzendenz, nicht aber die spezifischen religiösen Praktiken der Angehörigen der einzelnen Weltreligionen; letzteres ist Sache anderer, der sogenannten strategischen Regeln. Das normative Regulativ von Institutionen formuliert sonach gewissermaßen den logischen Raum möglicher „institutioneller Handlungen", die konkreten Handlungen im Sinne einer speziellen normativen Verhaltensstruktur unterliegen jedoch den Entscheidungen des Akteurs und sind einerseits abhängig von seinen Absichten und Strategien, andererseits von den bereichsspezifischen sozialen Normen. (3) Sind, wie schon früher ausgeführt wurde, spezielle normative Verhaltensstrukturen vor allem durch die spezifischen Ziele zu bestimmen, so sind die generellen normativen Verhaltensstrukturen durch ihre Zwecke oder ihre Zweckmäßigkeit charakterisiert. So kann sich etwa mit unterschiedlichsten konfessionellen Zielsetzungen eine ihnen allen gemeinsame Zweckorientierung verbinden; mit anderen Worten: sehr disparate konfessionelle Ziele sind mit identischen religiösen Zwecken kompatibel. Wenn wir etwa die großen gesellschaftlichen Subsysteme als allgemeine normative Verhaltensstrukturen (Institutionen im engeren Sinne) in Betracht ziehen: Religion, Wirtschaft, Politik, Bildung usw., so sind mit diesen zum Teil ganz disparate Zielsetzungen und soziale Normierungen auf der Ebene spezieller normativer Verhaltensstrukturen vereinbar; exemplarisch wäre darauf hinzuweisen, daß in pluralistischen Gesellschaften verschiedene Konfessionen oder Denominationen zugleich am Werke sind; daß im wirtschaftlichen Bereich

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht in Ländern einer „gemischten Wirtschaft" sowohl kapitalistische als auch sozialistische Unternehmungen am Werke und gelegentlich sogar miteinander in Konkurrenz befindlich sind; daß in Mehrparteiendemokratien verschiedenste politische Orientierungen um die Majorität kämpfen. Was jedoch die soziale Ordnung aufrecht erhält, das sind nicht die Regeln und Normierungen auf der Ebene spezieller normativer Verhaltensstrukturen an sich, sondern deren Tauglichkeit zur Realisierung jener Zwecke, die auf der Ebene genereller normativer Verhaltensstrukturen Bestand haben. Es ist dabei von großer Wichtigkeit, die Tatsache nicht außer acht zu lassen, daß die Festlegung von Zwecken in einem gesellschaftlichen Subsystem - etwa im Bereich der Religion - nicht unabhängig von einschlägigen normativen Regulationen in anderen Bereichen - etwa in der Politik oder in der Bildung - erfolgt. Wie es ein Kompatibilitätserfordernis zwischen den einzelnen Konfessionen als speziellen normativen Verhaltensstrukturen gibt - jedenfalls in Gesellschaften, die das Prinzip der Staatsreligion aufgegeben haben so gibt es auch eine Nötigung zur Abstimmung auf der Ebene allgemeiner normativer Verhaltensstrukturen, also etwa zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen der Religion, der Wirtschaft und der Politik. Derartige Anpassungen und Abstimmungen erfolgen in der Regel nicht aufgrund eines rationalen Planes, sondern sie entwickeln sich historisch allmählich. Wenn auch - vor allem in der Neuzeit - weiterreichende gedankliche Entwürfe manchmal eine bedeutsame Rolle spielen, so erfolgte doch die zweckmäßige Ausgestaltung und die wechselseitige Anpassung von Institutionen im engeren und weiteren Sinne überwiegend durch induktives Lernen und nachträgliche Verallgemeinerungen. Zieht man Institutionen im weiteren Sinne, also institutionelle Ordnungsgebilde, in Betracht, so wird man des komplexen sozialen Zusammenhanges ansichtig, innerhalb dessen die einmal mehr normativen, dann mehr faktischen Elemente, Sollenskomponenten und Seinskomponenten zueinander stehen. Der Zusammenhang von normativen, organisationsspezifischen und ideellen Komponenten von Institutionen im weiteren Sinne wird exemplarisch gegenwärtig in einer Schilderung der Institutionen „Ehe" und „Vertrag", wie sie Franz-Xaver Kaufmann liefert: „Zur Institution der ,Ehe' gehören ... beispielsweise die Bedingungen der Ehefähigkeit, die Vorstellungen über eine .richtige Heirat', die Regeln geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung im Haushalt oder ehelicher Treue, Aspekte des Namensrechts und des Erbrechts und nicht zuletzt die Vorstellungen über ,eheliche Zerrüttung' und die Normen des Scheidungsverfahrens. Wir können auch von der In-

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stitution des ,Vertrages' sprechen, deren wichtigste Regeln im Bürgerlichen Gesetzbuch zu finden sind. Dennoch sollte man die Institution des Vertrags nicht mit den einschlägigen Paragraphen des BGB identifizieren: Der individualistische sozialphilosophische Hintergrund und die herrschenden Vorstellungen über Treu und Glauben sind z. B. als ebenso konstitutive Momente zu beachten3." (4) Wesentlich für das Verständnis von Institutionen ist auch die Art und Weise, in der diese wahrgenommen und modifiziert werden. Die Art und Weise der Wahrnehmung und Gestaltung von Institutionen ist keineswegs unabhängig von der jeweiligen Sozialstruktur einer Gesellschaft. Denn entsprechend der Schichtzugehörigkeit variiert häufig das Verständnis verschiedener Institutionen, aber auch die Chance sowie der Wille, an ihrer Veränderung oder Bewahrung mitzuwirken. Religiöse, wirtschaftliche, politische Institutionen, vor allem auch solche des Bildungswesens sind - sowohl was ihre genetischen, als auch was ihre funktionalen Aspekte betrifft - in entscheidendem Maße davon abhängig, ob mit ihnen generalisierungsfähige oder in einem eingeschränkten Sinne schichtspezifische Zielorientierungen und Zwecksetzungen verbunden sind. Hier sei auf die Tatsache hingewiesen, daß es nicht nur Konflikte zwischen Schichten gibt, die sich auf der Ebene spezieller normativer Verhaltensstrukturen manifestieren können, sondern auch Konflikte oder Stratifikationen innerhalb von Schichten sowie in den verschiedenen bürokratischen Organisationen „klassenloser" Gesellschaften. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch, daß Institutionen, die ihren Bestand einer bestimmten sozialen Schicht verdanken, oftmals auch nach Verlust der gesamtgesellschaftlichen Bedeutsamkeit dieser Schicht spezifische normative und organisatorische Grundcharakteristika beibehalten können. Das Eigenleben von Institutionen zeigt sich mitunter darin, daß durch Institutionen inaugurierte Denk- und Verhaltensweisen oftmals auch dann beibehalten werden, wenn die bei ihrem Entstehen vorhandenen Bedingungen zu bestehen aufgehört haben. (5) Wie vorhin gezeigt wurde, umfassen institutionelle Ordnungsgebilde normative, organisatorische und ideelle Komponenten. In diesem Zusammenhang erscheint es nützlich, jeweils ein ganzes G e f ü g e von derartigen Gebilden in Betracht zu ziehen, da es ja in entscheidendem Maße unsere Gesellschaft ausmacht. Religion, Wirtschaft, Politik stellen so etwa allgemeine gesellschaftliche Dimensionen 3 K a u f m a n n 1987,S.41.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht dessen dar, was man die spezifische L e b e n s f o r m einer Zivilisation bezeichnet. Katholizismus, Sozialismus, Einparteiensystem mögen so etwa konstitutive Elemente einer bestimmten konkreten Lebensform sein. Bestimmte institutionelle Ordnungsgebilde - etwa die Bereiche des Religiösen und des Politischen - stehen dabei in einer ganz bestimmten Beziehung zu den anderen Bereichen - etwa zu denen der Wirtschaft, des Rechts und der Bildung - und sind mit ihnen in einer historisch sehr wandelbaren Weise verzahnt. So ändert sich ein institutionelles Ordnungsgebilde auch meistens nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit anderen. Es ist eine Frage der definitorischen Festlegung, ab wann die Änderung eines Gefüges derartiger Ordnungsgebilde ein Ausmaß erreicht hat, welches es zulässig erscheinen läßt, von einer Transformation des gesellschaftlichen Systems auf der Ebene genereller, und von einer Transformation einer Lebensform auf der Ebene spezieller normativer Verhaltensstrukturen zu sprechen. Wenn vorhin von der „Tektonik" spezieller normativer Verhaltensstrukturen gesagt wurde, sie bildete eine Lebensform, so bedarf diese Feststellung noch einer wichtigen Ergänzung. Lebensformen umfassen soziale Normen von unterschiedlicher Explizitheit, aber auch Verbindlichkeit; und das heißt exemplarisch: nicht nur Normen des positiven Rechts, sondern auch solche der Moral, der Sitte, des Brauches oder der bloßen Gewohnheit. Lebensformen sind daher auch nicht allein durch formale Organisationen, sondern insbesondere auch durch sogenannte informelle Beziehungen abgestützt und entscheidend geprägt: durch spezifische Formen der Vergemeinschaftung, der Freundschaft, des Umgangs mit Kontingenzerfahrungen usw. Gerade dieser Bereich des Informellen und des nicht Regulierten bildet den Nährboden für die im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung herauskondensierten expliziten normativen Regelungen und formalen Organisationen. (6) Für Institutionen als normative Verhaltensstrukturen gleichermaßen wie für Institutionen als organisierte Vereinigungen gilt, daß sie auf mitunter sehr differenzierte Weise einerseits durch individuelle Bedürfnisse, andererseits durch das umgebende gesellschaftliche System b e d i n g t , aber auch für die individuellen Bedürfnisse sowie für das umgebende soziale System r e l e v a n t sein können. Mit anderen Worten: Institutionen im weiteren Sinne können, unter genetischem Aspekt betrachtet, F u n k t i o n e n v o n individuellen Bedürfnissen oder Elementen des sozialen Systems sein, unter wirkungsgeschichtlichem Aspekt jedoch F u n k t i o n e n f ü r individuelle oder soziale Sachverhalte der erwähnten Art. Was diese zweifache funktionale Be-

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deutsamkeit anlangt, so sind die wichtigsten Institutionen unseres Lebens das eine Mal auf spezifische individuelle, das andere Mal auf spezifische kollektive oder System-Erfordernisse bezogen. Die meisten Ethnologen und Soziologen betrachten die Familie als grundlegende soziale Institution, die sowohl individuellen Bedürfnissen ihrer Mitglieder als auch Erfordernissen des Sozialsystems Rechnung trägt. So ist sie einerseits von funktionaler Bedeutung für die Regelung sexueller Beziehungen, die Aufzucht und Sozialisation der Kinder sowie für die Möglichkeit des Rückzugs in eine Art „Gegenwelt" zur öffentlichen Gesellschaft; andererseits ist die Familie als Haushalt eine Basis für Konsumentscheidungen, meist auch für Verwendungsaktivitäten - heutzutage zum Beispiel für den gemeinsamen Urlaub - , wodurch die Familie als Gruppe von wesentlicher Bedeutung für den Gesamtbereich der Konsumtion ist. „Der familiale Lebensstil wird damit zur Vorgabe für das Angebot, das der Markt bereitzustellen hat. Perspektiven der Familienplanung (Zahl der Kinder, Anschaffungsvorhaben, Berufstätigkeit, Ausbildungsgänge usw.) sind daher von unmittelbarem oder mittelbarem Einfluß auf das gesamte Wirtschaftsleben"4. Aus dem erwähnten Beispiel wird ein für die Institutionenlehre charakteristischer Sachverhalt augenscheinlich: der Doppelcharakter von Institutionen, je nachdem, ob man die subjektive und intentionale oder die objektive und funktionale Seite in Betracht zieht. Die herausragende Bedeutung von Institutionen für das Unternehmen der Soziologie wird daraus ersichtlich, daß sich gerade an ihnen die Nahtstelle zwischen Individuen und Kleingruppen einerseits, Gesamtgesellschaften andererseits deutlich sichtbar machen läßt. An sozialen Institutionen läßt sich die Verknüpfung aufzeigen, welche zwischen so komplementären Fragen besteht wie z. B.: (a) Aus welchen subjektiven Gründen heiraten zwei Individuen? und (b) warum gibt es die Ehe in der Gesellschaft? oder (a) warum hat diese Ehe ihre Kinderzahl auf ein Kind begrenzt? und (b) warum ist die Familie in der Industriegesellschaft klein5? Institutionen markieren daher, wie sich der Politikwissenschaftler Gerhard Göhler ausdrückt, „gewissermaßen die Schnittstelle zweier grundlegender, miteinander konkurrierender gesellschaftstheoretischer Erklärungsmuster, der Systemtheorie und der Handlungstheorie. Von beiden Seiten werden sie erfaßt und erklärt, und sie sind damit ihrerseits 4 W i s w e d e 1984, S. 206 5 Vgl. dazu B a r 1 e y 1977, S. 1 f.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht geradezu die ,Nagelprobe', welches der beiden Erklärungsmuster insgesamt angemessener und fruchtbarer ist. Angesichts dieser Konstellation liegt es nahe, insbesondere in der Befassung mit Institutionen beide Sichtweisen miteinander zu kombinieren, um unnötige Einseitigkeiten zu vermeiden" 6 . Man kann sogar eine Typologie soziologischer Theorien dadurch gewinnen, daß man diese danach unterscheidet, ob sie vom Ganzen der Wirklichkeit (holistisch) oder vom Individuum (individualistisch) her die sozialen Phänomene zu erklären suchen. Sowohl bei einer genetischen als auch bei einer funktionalen Betrachtung von Institutionen wird man nicht umhinkommen, diese vermeintliche Alternative soziologischer Ansätze zu überwinden. Diesem Umstand will auch die folgende, die einleitenden Betrachtungen abschließende Charakteristik von Institutionen Ausdruck verleihen: Institutionen sind relativ dauerhafte, durch Internalisierung ausgebildete Verhaltensmuster und Sinnorientierungen, denen in ihrer vollentwickelten Form Organisationen und sie legitimierende ideelle Objektivationen entsprechen, und die bestimmte - den individuellen Akteuren keineswegs immer bewußte - regulierende soziale Funktionen erfüllen. Internalisierung besagt in diesem Zusammenhang, daß die mit einer Institution verknüpfte normative Verhaltensweise so weit verinnerlicht ist, daß die in ihr tätigen oder ihr unterworfenen Akteure ihre Erwartungen, bewußt oder unbewußt, auf die ihr innewohnende und als überpersönlich geltende Zielorientierung ausrichten. I I . STRUKTURELLE ASPEKTE

Im folgenden sollen Institutionen im weiteren Sinne auf ihre spezifischen Merkmale hin untersucht werden, und das heißt zunächst Institutionen im Sinne von normativen Verhaltensstrukturen und im Sinne von organisierten Vereinigungen; ferner auch die ihnen weitgehend korrespondierenden ideellen Objektivationen. Institutionen im weiteren Sinne bilden einen Sinnzusammenhang von Handlungsregeln, organisierten Vereinigungen und Wissensformen, der als jeweils kulturell geltend angesehen wird. Von der Familie über Markt- und Verwaltungsformen, Herrschaftsformen (wie etwa die Bürokratie), Rechtsinstitute (wie etwa die Schuldknechtschaft) bis hin zu Gesellschaftsformen (wie der Sklaverei oder dem Feudalismus) reicht die Fülle möglicher Ordnungsgebilde; mitunter ist sogar die Abgrenzung gegen den

6 G ö h 1 e r 1987b, S. 12

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„Brauch", das „Ethos" oder die „Lebensform" fraglich 7 . Institutionen erweisen sich als relativ konstante Gebilde und besitzen eine starke formierende und integrierende Kraft. Darin liegt wohl der wichtigste Grund für ihre Kontinuität. 1. N o r m a t i v e

V e r h a 11 e n s s t r u k t u r e n

Da Institutionen etwas sind, dem kulturell Geltung zugesprochen wird, können sie auch nur im Rahmen einer Kultur gesehen werden. Institutionen beruhen nämlich auf der Tatsache, daß die Menschen nicht nur in faktischen sozialen Organisationen leben - so etwas ist auch für sozial lebende Tiere nachweisbar - , sondern daß sie ihre normativen Verhaltensstrukturen mit bestimmten Vorstellungen über deren richtige Funktion ausstatten, womit ein nicht unterschreitbarer Anspruch an das Verhalten der Gemeinschaftsmitglieder gestellt wird. An diesen Verhaltensmustern orientiert sich das faktische Verhalten positiv oder negativ, wobei die werthaft-idealen Muster stark mit ethischen und religiösen Überhöhungen angereichert sein können. In allen Gesellschaften sind Institutionen (als normative Verhaltensstrukturen) verknüpft mit grundlegenden Erfordernissen von Individuen, Gruppen und Gesamtgesellschaften: der Regelung der Verwandtschaftsbeziehungen, der Regelung der Eigentumsverhältnisse, der Regelung der Produktion und Verteilung von Gütern usw. Von daher wird erklärlich, wie als wichtiges Bestimmungselement der Institutionen einmal deren Legitimierung durch ideelle Objektivationen, dann aber vor allem deren öffentlicher Schutz durch sittliche und rechtliche Sanktionen aufscheint: Um einen als „richtig" geltenden Bestand von Verhaltensregeln ranken sich gesellschaftlich (mehr oder minder) akzeptierte Gebote und Verbote. Daher gehört auch der Begriff der Garantie der in ihr geltenden Ordnung zum Begriff der Institution. Dieser Gesichtspunkt der Rechtsgarantie für Institutionen ist - vor allem in der Nachfolge von Maurice Hauriou 8 - von einigen Autoren so stark in den Vordergrund der Erörterungen geschoben worden, daß die Lehre von den Institutionen geradezu als ein Zweig der Rechtssoziologie erscheint. Dies ist, worauf Wilhelm E. Mühlmann hingewiesen hat, insofern einseitig, als auch bei Bestehen einer Rechtsgarantie die Kontrolle durch die Sitte faktisch wichtiger sein kann 9 . 7 Vgl. dazu M ü h 1 m a n n 1972, S. 371 f. 8 Vgl. H a u r i o u 1965. Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen zur G e schichte der Institutionentheorie bei W e i n b e r g e r 1985. 9 Vgl. M ü h l m a n n 1972, S. 372

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht

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Der abgeleitete Begriff der Institutionalisierung hängt mit der gesellschaftlich verbindlichen Normierung bestimmter Verhaltensweisen - einerlei, ob dies kraft Tradition oder kraft Gesetz geschieht - zusammen. Wenn „Institution" ein kultursoziologischer Zustands-Begriff ist, so ist in der dynamischen Soziologie „Institutionalisierung" ein Prozeß-Begriff. Als Modell dafür können etwa die Vorgänge dienen, durch die aus neu entstehenden religiösen Bewegungen „Kirchen", aus neu entstehenden politischen Bewegungen „Parteien" und aus neu entstehenden sozialen Bewegungen „Stände" oder „Klassen" werden. Die Gerinnung des fließenden sozialen Lebens zu festen Organisationsformen ist also ein Prozeß des Ubergangs von den Institutionen als normativen Verhaltensstrukturen zu den Institutionen als organisierten Vereinigungen. - In fortgeschrittenen Gesellschaften vollzieht sich diese Institutionalisierung häufig auf dem Wege der B ü r o k r a t i s i e r u n g, wie Max Weber in einer Reihe von Studien zur politischen Soziologie gezeigt hat. Die Ausgestaltung von Sozialgebilden als einer Instanzenhierarchie für formalisierte Sachentscheidungen nach zweckrationalen Kriterien kann jedoch unter Umständen auch als dysfunktional wirksame Verkrustung in Erscheinung treten; sie kann sich dann veränderten Anforderungen der Umwelt nicht mehr in erforderlichem Maße anpassen. Man muß sich davor hüten, den Prozeß der Institutionalisierung von dem des Institutionenwandels abzukoppeln. Institutionalisierung ist ein Prozeß vom Unbestimmten hin zum Bestimmten, vom Vagen zum Definitiven. Aber der Institutionalisierung als der Formationsphase von Organisationen als einer Grundkomponente entwickelter Institutionen entspricht die Entinstitutionalisierung als Dekompositionsphase; diese ist charakterisierbar als Entwicklung vom Bestimmten zum Unbestimmten, vom Definitiven zum Vagen. Sowohl der Institutionalisierungs- als auch der Entinstitutionalisierungsprozeß ist an der Diskussion über die „Grenzen des Wohlfahrtsstaates" exemplarisch zu erörtern. Im Verlaufe dieser Diskussion wurde eine Vielzahl an empirischen Belegen dafür geliefert, daß Institutionen durch Erfüllung jener Bedürfnisse, denen sie ihr Entstehen verdanken, in gewisser Weise überflüssig werden. Denn indem sie Bedürfnisse befriedigen, schaffen sie häufig neue Bedürfnisse, und damit neue bedürfnisbefriedigende Institutionen. Aus dem Gesagten dürfte klar geworden sein, daß Institutionen in der Perspektive einer dynamischen Soziologie eminent geschichtliche Sachverhalte sind und daß diese mit einem historischen Zeitindex zu versehen sind, will man nicht Gefahr laufen, einen grundlegenden Sach-

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verhalt außer acht zu lassen: daß nämlich Institutionen im Laufe der Zeit unter Beibehaltung ihrer Struktur veränderte Funktionen erfüllen können, mitunter aber auch bei geänderter Struktur identische Funktionen. 2. O r g a n i s i e r t e

Vereinigungen

Eine Organisation besteht aus einer Anzahl von Personen, die formal miteinander verbunden und gewöhnlich spezifischen Funktionen zugeordnet sind, damit ein bestimmtes angegebenes Ziel erreicht werden kann 10 . Im täglichen Leben unserer Gesellschaft ist ein hoher Organisationsgrad der einzelnen Gesellschaftsmitglieder nachweisbar und man kann sagen, daß Vorschulkinder, Hausfrauen und - teilweise Pensionisten die einzig größeren Gruppen von Personen sind, deren Verhalten nicht in grundlegendem Maße im Rahmen von Organisationen erfolgt. In einem weiteren Sinne „organisiert" ist natürlich auch das Verhalten in Primärgruppen, wie Familien, oder in Bezugsgruppen von Jugendlichen. Im folgenden sollen allerdings sogenannte f o r m a l e oder komplexe O r g a n i s a t i o n e n in Betracht gezogen werden, die mit speziellen normativen Verhaltensstrukturen korrelieren: z. B. Firmen, Kirchen, Krankenhäuser, Universitäten, politische Parteien und Gewerkschaften. Die hauptsächlichen Charakteristika solcher Organisationen sind F o r m a l i t ä t : das besagt, daß eine Organisation eine Reihe von explizit formulierten Zielen, Regeln und Praktiken hat, die das als adäquat angesehene Verhalten ihrer Mitglieder regeln 11 ; H i e r a r c h i e : dies besagt eine charakteristische pyramidenhafte Macht- und Autoritätsstruktur mit (mehr oder weniger klar) abgegrenzten Kompetenzbereichen;

10 So die Definition aus David L. S i 11 s : Personal Communication, 1962, zitiert in B e r e l s o n / S t e i n e r 1972, S. 230. 11 Der Kondensations- oder Formalisierungsgrad von Institutionen ist verschieden. „Elaborierte" Institutionen weisen Organisationen gleichermaßen auf wie explizite N o r mierungen. Aber wir kennen, wie schon erwähnt wurde, eine Reihe bedeutsamer informeller Institutionen, für die implizite und gewohnheitsrechtlich tradierte N o r mierungen charakteristisch sind. W i r sind immer schon in Institutionen; Institutionalisierung besagt nur Zunahme des Grades der Formalisierung von O r g a nisationsstrukturen, also auch der Explizitheit von Normierungen sowie der Rationalität von ideellen Objektivationen. Formalität in diesem Sinne stärkt das Vermögen der Planung und der Vorausschau.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht D a u e r : das besagt, daß Organisationen in der Regel über die Lebenszeit oder die Zeit der Mitgliedschaft irgendeines ihrer Mitglieder (auch ihres Führers) hinaus Bestand haben; m a t e r i e l l e s S u b s t r a t : darunter ist zu verstehen, daß Organisationen in den meisten Fällen über einen bestimmten physischen Besitz verfügen, um die eigenen Zielsetzungen und Absichten konkretisieren und gegenüber anderen abheben zu können, so etwa Betriebsanlagen, Büros, Parteilokale, Krankenanstalten usw. Was die Größe oder Komplexität von Organisationen anlangt, so kann diese sehr unterschiedlich sein. Gewöhnlich sind allerdings Gruppen von größerem Umfang gemeint, mit welcher Tatsache eine gewisse Unpersönlichkeit der Kontakte der Organisationen - einerseits zu ihrem Publikum, andererseits auch zwischen den Organisationsmitgliedern - verbunden sein kann. Was den erstgenannten Tatbestand betrifft, so kommt im Zusammenhang mit diesem die Bürokratie ins Spiel, zumal Bürokratien wesentlich durch das Merkmal der Unpersönlichkeit und - im Unterschied zu persönlich-informellen Beziehungen - der Gleichbehandlung der singulären Fälle nach jeweils voraus definierten Kriterien bestimmt sind. Organisationen sind unter anderem auch zu unterscheiden hinsichtlich der Tatsache, ob ihnen ihre Mitglieder freiwillig oder nicht freiwillig angehören. Sogenannte freiwillige Organisationen sind zumeist dadurch charakterisiert, daß ihnen Personen nebenberuflich und meistens nicht auf der Basis einer Bezahlung angehören; zu nennen wären exemplarisch Wohltätigkeitsvereinigungen, Studentenverbindungen, Trachtenvereine usw. Im allgemeinen haben solche Vereinigungen einen von Berufsorganisationen verschiedenen Rechtsstatus, weisen jedoch die Tendenz auf, sich diesem hinsichtlich des Formalisierungsgrades anzugleichen. 3. I d e e l l e

O bjek t iv atio n e n

Daß „institutionelles Verhalten" nicht nach dem Muster der Gegenstände naturwissenschaftlicher Erfahrung raum-zeit-sprachlich erfaßbar ist, wurde schon erwähnt. Institutionelles Handeln bedeutet aber deshalb nicht, daß der Mensch immer und überall bewußt einem expliziten kulturellen Muster oder der „Leitidee" einer Institution folgt. „Im allgemeinen handeln wir naiv nach eingelernten Mustern und entdecken diese als (nur) jeweils geltende erst durch kulturelle Horizontüberschreitung und Vergleich mit andersartigen Mustern. Forschungs-

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geschichtlich sind die Institutionen in der Tat vor allem in der Ethnosoziologie durch den interkulturellen Vergleich gefunden worden. Kulturtypische Institutionen wie Sippe, Klan, Phratrie, Altersklassen, Bünde, verschiedene Ehe- und Familienformen, aber auch die Typen des Gastrechts, des Asyls, der politischen Organisationen usw. wurden als Institutionen von der Ethnosoziologie entdeckt" 12 . Nun verhält es sich allerdings im Falle von ideellen Objektivationen so, daß sie gerade durch explizite Formulierung von Werten und Normen eine bewußte Handlungsnormierung sicherstellen sollen. Insbesondere die verschiedenen religiösen oder politisch-weltanschaulichen Glaubensbestände sollen diese Funktion erfüllen, wobei sie keineswegs allein das individuelle und kollektive Verhalten kanonisieren, sondern dieses insbesondere b e g r ü n d e n , r e c h t f e r t i g e n und l e g i t i m i e r e n sollen. Ideelle Objektivationen sind zumeist - entsprechend ihrem Gegenstandsbezug - differenzierbar in Menschenbilder, Gesellschaftsbilder und Naturbilder 13 . Die verschiedenen Typologien von Weltanschauungsformen haben hier ihren systematischen Ort; man denke etwa an Diltheys einschlägige Analysen im Rahmen seiner „Philosophie der Philosophie" 14 oder auch an Karl Mannheims Darlegung der Eigentümlichkeiten „ideologischen" und „utopischen" Denkens in den politischen Orientierungen des Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus 15 . Von besonderem Interesse erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß evolutionistische Ansichten im Verlauf der Analyse von ideellen Objektivationen mitunter heftig kollidieren mit Grundüberzeugungen, wie sie hinter klassifikatorischen Taxonomien zu liegen kommen. Ein treffliches Beispiel bildet die Auseinandersetzung Max Schelers mit positivistischen Bestrebungen in der Nachfolge Auguste Comtes. Comte hatte bekanntlich drei Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung unterschieden, wobei er deren ideellen Grundbestimmungen so etwas wie einen sozialen Unterbau zuordnete, indem er jene gesellschaftlichen Schichten benannte, welchen in den einzelnen Etappen des Geschichtsprozesses die Führungsrolle zugefallen sei. So konstatierte er auf der ideellen Ebene eine Fortschrittsbewegung, welche von der Religion über die Metaphysik zur positiven Wissenschaft ver12 13 14 15

M ü h l m a n n 1972, S. 372 f. Vgl. dazu F ü r s t e n b e r g 1978, S. 9 9 - 1 0 3 . Vgl. D i l t h e y 1977, v. a. S. 7 5 - 1 1 8 . Vgl. M a n n h e i m 1969, v. a. S. 4 9 - 9 4 und S. 1 6 9 - 2 2 5 .

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht laufe; auf der gesellschaftlichen Ebene entspreche diesem DreiphasenModell die Abfolge vom militärischen über das politisch-administrative hin zum industriellen Gesellschaftssystem. Machten Marxisten gegen Comte geltend, daß dieser es verabsäumt habe, diese intellektuellen und sozialen Phasen in ganz bestimmten Entwicklungsständen der Produktivkräfte und der darauf beruhenden Produktionsverhältnisse zu verankern, so war die Kritik am positivistischen Fortschrittskonzept, wie sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend deutlicher vorgetragen wurde, von grundlegenderer Natur. Denn Religion, Metaphysik und positive Wissenschaft wurden als wesensverschieden aufgefaßt, wobei man diese grundlegenden ideellen Orientierungen als gleichzeitig nebeneinander bestehend ansah. Folglich wurde auch ihre von Comte und anderen behauptete diachrone Abfolge im Sinne einer unlinearen Fortschrittsentwicklung abgelehnt. Religion und Metaphysik zugunsten der positiven Wissenschaft in allen ihren Aspekten abzuwerten hieße, die grundlegend verschiedenartigen Funktionen dieser ideellen Objektivationen nicht verstehen. „Es sind", wie Max Scheler bemerkt, „drei völlig verschiedene Motive, drei völlig verschiedene Gruppen von Akten des erkennenden Geistes, drei verschiedene Ziele, drei verschiedene Persönlichkeitstypen und drei verschiedene soziale Gruppen, auf denen Religion, Metaphysik und positive Wissenschaft beruhen" 16 . Dabei ergeben sich nach Scheler für die genannten grundlegenden ideellen Objektivationen folgende Möglichkeiten einer Merkmalsbestimmung:

16 S c h e l e r 1982, S. 61; vgl. in diesem Zusammenhang v. a. auch S c h e l e r S. 69-135.

1960,

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Karl Acham Motiv

Akte des Geistes

Religion

Selbstbehauptung durch Uberantwortung

Glaube, Heil der Hoffnung, Person Liebe (in Anbetracht eines „Göttlichen")

Metaphysik

Weiser Verwun- Wesenser- Personderung kenntnis bildung durch Weisheit

„Schulen" (im antiken Sinne)

Wissenschaft

LenBeobachkungstung, Exbedürfnis periment, Induktion, Deduktion

wissenschaftliche Organisationen (z. B. Universitäten, Fachschulen, Akademien)

Ziel

führender Typ

sozialer

Heiliger

Kirchen, Sekten, Gemeinden

Lenkung Forscher und Beherrschung der Natur

Kreis

Scheler ordnet der Religion, der Metaphysik und der Wissenschaft synchron gegebene „historische Bewegungsformen" zu und kennzeichnet dabei den grundlegenden Unterschied zwischen asiatischem und europäischem Wissensideal17. Der Positivismus, so meint Scheler, geriet in seine tiefen Irrtümer über die soziologische Dynamik des Wissens, weil er im engsten Sinne eurozentrisch gewesen sei und dabei ein örtlich und zeitlich eng begrenztes Stück der geistigen Menschheitsentwicklung für den Ausdruck einer gesetzmäßigen Verlaufsform der Menschheit insgesamt genommen habe: „Das ist der unermeßliche Irrtum seiner Fortschrittslehre. Was religiöse und metaphysische, zeitgeschichtliche Dekadenz einer kleinen Gruppe der Menschheit war (als negatives Korrelat des positiv-wissenschaftlichen Fortschritts) - die Dekadenz des bürgerlich kapitalistischen Zeitalters - , nahm er für einen normalen Prozeß des ,Absterbens' des religiösen und metaphysischen Geistes überhaupt. Darum vermochte er auch eine der fundamentalsten Tatsachen universalgeschichtlicher Wissensentwicklung nicht zu sehen: 17 Vgl. ebd., S. 63-66; vgl. auch S c h e l e r 1960, S. 135-158.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht

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das verschiedene M a ß von Verteilung der Fähigkeiten zu den drei, dem Menschengeiste wesentlichen Erkenntnisarten innerhalb der großen Kulturkreise der Menschheit und die verschiedenen Sozialstrukturen, die ihrer Auswirkung entsprechen" 18 . Von diesen Differenzierungen ausgehend unternahm es Scheler in der Folge, im Rahmen seiner Studien zur Wissenssoziologie Funktionsbestimmungen der verschiedenen Wissensformen vorzunehmen. Als oberste Wissensarten unterschied er das „Erlösungswissen", das „Bildungswissen" und das „positive Leistungswissen" 19 . Scheler hat damit einer von Jürgen Habermas entwickelten Unterscheidung dreier sogenannter „Kategorien von Forschungsprozessen" und der entsprechenden spezifischen „Erkenntnisinteressen" vorgearbeitet. Bei Habermas wird den „kritisch orientierten Wissenschaften" das „emanzipatorische", den „historisch-hermeneutischen Wissenschaften" das „praktische" und den „empirisch-analytischen Wissenschaften" das „technische Erkenntnisinteresse" zugeordnet 20 . Auf die im Zusammenhang damit angestellten Erwägungen bezüglich der unterschiedlichen Typen von Rationalität, die zugleich mit den besonderen Funktionsbestimmungen des Wissens nachweisbar seien, soll hier nicht näher eingegangen werden. Exkurs: Institutionalismus

und

Subjektivismus

Die oft konstatierbare Auszeichnung ideeller Objektivationen, vor allem ihrer normativen Komponenten als der angeblich zentralen Bestimmungsgrößen von institutionellen Ordnungsgebilden, hat zu einer Reihe von Einseitigkeiten in der Moralphilosophie und Wissenschaftstheorie geführt. Was diesen Aspekt der Erörterung des Institutionenproblems angeht, so ist er vor allem mit dem Problem des Zusammenhangs von Ethik und Ethos sowie mit der methodologischen Frage der Beziehung zwischen Individualismus und Holismus eng verknüpft. (1) In der Wende zur Subjektivität und Gesinnung des Handelns trat die Ethik aus jenem Zusammenhang heraus, in dem sie als Teil der praktischen Philosophie bei Aristoteles und in dessen Tradition gestanden ist. In dessen „ N i k o m a c h i s c h e r E t h i k " ist davon die Rede, daß man nicht ohne Grund das Gute und die Glückseligkeit an den Lebensformen abzulesen scheint, wobei Aristoteles die hedonistische, die politische und die betrachtende Lebensform als die drei 18 Ebd., S. 63 19 Vgl. S c h e 1 e r I960, v. a. S. 60-69. 20 Vgl. H a b e r m a s 1968, v. a. S. 155-159.

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hervorstechenden bezeichnet. Das individuelle Handeln und Leben hat nach Aristoteles Wirklichkeit in der Eingewöhnung in die durch Ethos und Nomos vermittelten Formen des rechten Tuns und Seins in einer Polis. „Das Rechte ist in Sitten und Institutionen vorgegeben: man wird gerecht, indem man gerecht handelt. Das bedeutet, daß die ethische Haltung und die Sicherheit, die den einzelnen das Rechte treffen läßt, in Analogie zu dem Können des Meisters in einer Kunst aus der Einübung in das ethische Rechte hervorgehen und dann als festgewordene Gewohnheit individuell bestehen"21. - Ethik ist in der Geschichte der Philosophie und Gesellschaftslehre der Neuzeit gekennzeichnet durch eine starke Subjektivierung, die letztlich zu einer Begründung der Handlungstheorie in der Psychologie - einerseits der Tiefenpsychologie, andererseits der Verhaltens- und Lerntheorie - führte. Ethik wurde zunehmend zu einer Sache der Motivierung: des Gewissens, des „ m o r a 1 s e n s e " , der Gesinnung, der Moralität, des Sollens usw.; alles Institutionelle hingegen wurde zunehmend als der Ethik äußerlich aufgefaßt oder doch als bloßes Medium der inneren Motivierung. Schon bei Luther beginnt in diesem Zusammenhang die hochbedeutsame Unterscheidung von „innerer" und „äußerer" Freiheit, welchen Typen der Freiheit unter der Perspektive von Gerechtigkeitserwägungen die „ i u s t i t i a e v a n g e l i c a " bzw. die „ i u s t i t i a c i v i l i s " entsprechen. Wahre Freiheit ist nach Luther die unmittelbar durch die Beziehung zu Gott erfüllte innere Freiheit, wie ja auch die wahre Gerechtigkeit nur die des Evangelismus sei. Luther versteht die Gerechtigkeit nach seiner Deutung der Paulinischen Rechtfertigungslehre, wonach der Mensch Gottes Gerechtigkeit durch die Gerechtsprechung aus reiner Gnade empfange, und zwar als Zuwendung Gottes, nicht jedoch als eigenen Besitz. Im Sinne der exemplarisch bei Luther nachweisbaren Unterscheidung in zwei Typen der Freiheit und der Gerechtigkeit erfolgt in der Geschichte der Philosophie und Gesellschaftslehre der Neuzeit jene wirkungsgeschichtlich so bedeutsame Differenzierung in ein Innen und Außen, in Moralität und Legalität, in eine Idee der Freiheit und einen „ n a t u r a l o r d e r of l i b e r t y " , in die Idee der Gerechtigkeit und die Ordnung des Rechts usw. (Dieser Differenzierung entspricht im methodologischen Bereich unmittelbar die Unterscheidung von intentionaler und strukturalistischer Handlungsrekonstruktion.) Zwischen diesen Polen oszilliert ein großer Teil der Ethik und Gesellschaftstheorie der Neuzeit. Betont dabei etwa Hobbes in besonderer 21 R i t t e r 1970, S. 61

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht Weise die Verbindung von Normen zur institutionalisierten Macht, da Macht, und nicht Wahrheit Gesetze schaffe, so ist etwa im Gegensatz dazu bei Rousseau das Interesse - als die aus Eigenliebe entspringende Liebe zu anderen - der Ansatzpunkt der Gerechtigkeit (und zwar unbeschadet der Tatsache, daß alle Gerechtigkeit von Gott komme). Bei Kant treffen wir wiederum auf die Unterscheidung der Gerechtigkeit als einer Tugend aus Gesinnung und der Gerechtigkeit als einer Eigenschaft der Gesellschaft im bürgerlichen Zustand ( „ s t a t u s civ i l i s " ) . Da bezüglich des Kriteriums der Beurteilung moralisch belangvoller Handlungen bei Kant die Gesinnung den Primat gegenüber dem faktisch nachweisbaren Beitrag für den bürgerlichen Zustand zugesprochen erhält, zumal ja auch positive Effekte mit negativen Gesinnungen gekoppelt sein können, kommt es zur Auszeichnung der „Moralität" gegenüber der „Legalität". Legalität erscheint dabei in einem ähnlichen Sinne als ein transitorischer Zustand der Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse wie später im Umkreis gewisser Sozialisten der Staat insgesamt. Rousseaus Erbe wirkte in dieser Hinsicht bei Kant deutlich nach, wie insbesondere auch bei einer Reihe von Anarchisten, die von William Godwin an bis zur Spontaneitätstheorie Rosa Luxemburgs und Leo Trotzkis die überkommenen Institutionen als der Freiheit und Würde des Menschen abträglich ansahen. (2) Hegel war es vor allem, der den Rückzug auf das „subjektive Gefühl" und die „partikuläre Überzeugung" geißelte als „Prinzipien, aus welchen die Zerstörung ebenso der inneren Sittlichkeit und des rechtschaffenen Gewissens, der Liebe und des Rechts unter den Privatpersonen, als die Zerstörung der öffentlichen Ordnung und der Staatsgesetze folgt" 22 . Hegels Begriff des „objektiven Geistes" bedeutete folglich auch - und zwar im Unterschied zur Auffassung Rousseaus vom „natürlichen Menschen" daß der Mensch nicht in Naturbegriffen, sondern nur geschichtlich, und das heißt: in der geschichtlichinstitutionellen Wirklichkeit seiner Handlungsvollzüge, verstanden werden könne. Für die übrigen Lebewesen wird der geordnete Zustand von der Natur, für den Menschen jedoch auch von der „sittlichen Wirklichkeit" vermittelt. Folgerichtig ist in seinen „Grundlinien d e r P h i l o s o p h i e d e s R e c h t s " die Vernunft - als Form begreifendes Erkennen und - als Inhalt - das substantielle Wesen der sittlichen wie der natürlichen Wirklichkeit. Die bewußte Identität von beiden ist aber nach Hegel „die philosophische Idee"23. Das „Ver22 H e g e l 1970, S. 22 23 Ebd., S. 27

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nünftige", welches nach Hegel synonym ist mit dieser Idee, tritt also als „eine Vorstellung in einem Meinen" in seiner Wirklichkeit „zugleich in die äußere Existenz" 24 . Noch diesseits von allen zum Teil durch Hegel selbst besorgten ideologischen Legitimierungen bestehender politischer Ordnungen erfährt so sein Diktum aus der Vorrede zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" seinen tieferen Sinn, wonach das, was vernünftig ist, wirklich, und das, was wirklich ist, vernünftig sei25. Die durch Hegel nahegelegte Betrachtungsweise menschlicher Handlungen prägte auch die P h i l o s o p h i e d e r K u l t u r und S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n nachhaltig. Vermittelt durch die methodologischen Studien Diltheys zur geisteswissenschaftlichen Erkenntnis unterschied so etwa Max Weber zwischen dem „aktuellen Verstehen" des subjektiven Handlungssinnes und dem „erklärenden Verstehen" im Sinne der Rekonstruktion der verschiedenen Determinanten von Handlungsvorgängen und Handlungsresultaten; dieser Unterscheidung entspricht in gewisser Weise jene zwischen der „Sinnadäquatheit" und der „Kausaladäquatheit" von Handlungen. Differenzierungen dieser Art kennzeichnen auch das Schrifttum von Vertretern des sogenannten interaktionistischen Ansatzes in der Soziologie, wie etwa die Arbeiten von George H. Mead und William I. Thomas. Thomas verstand die Soziologie geradezu als Wissenschaft von den Institutionen und plädierte dabei für die Rekonstruktion gesellschaftlichen Handelns einmal unter der Perspektive des jeweiligen Kultursystems, dann unter der psychologischen Perspektive des Persönlichkeitssystems. Von besonderer Bedeutung ist aber schon die aus der kritischen Aneignung sozialdarwinistischer Anregungen hervorgegangene „ P u r e S o c i o l o g y " Lester F. Wards, in der sich jene Unterscheidung von „ G e n e s i s " und „ T e 1 e s i s " findet, die bereits die große Bedeutung der soziologischen Institutionentheorie unter Beweis stellte. Sie liegt in der Abwehr des durch die herkömmliche Evolutionstheorie unternommenen Versuchs, Tiere als Modelle des Menschen anzusehen; hiermit wird die qualitative Differenz zwischen dem durch Instinkt geleiteten Tier und dem durch Institutionen geleiteten Menschen zur Voraussetzung der Deutung menschlichen Handelns in der Gemeinschaft gemacht. Auf die Funktion von Institutionen soll in den folgenden Ausführungen näher Bezug genommen werden. 24 Vgl. ebd., S. 25. 25 Vgl. ebd., S. 24.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht III. FUNKTIONALE ASPEKTE

Die Soziologie, Psychologie und Ethnologie (einschließlich der Ethnosoziologie) der Jahrhundertwende war über weite Strecken dadurch charakterisiert, daß das Handeln einzelner Menschen aus „privaten" Motiven zu erklären versucht wurde, wobei bestimmten Trieben oder Instinkten spezifische Institutionen, und zwar sowohl im Sinne normativer Verhaltensstrukturen als auch im Sinne organisierter Vereinigungen, entsprechen sollten. So hat etwa William G. Sumner im ersten Band seines Werkes „ T h e S c i e n c e o f S o c i e t y " vier „sozialisierende Kräfte" genannt, welche institutionengenerierend wirken: Hunger, Sexualität, Eitelkeit und Furcht. Aus dem Hungergefühl, so meinte er, entwickeln sich die Produktionsweisen; aus dem Geschlechtstrieb die demographische Struktur der Gesellschaft; aus der Eitelkeit die Formen des Prestiges; aus der Furcht (vor allem vor Geistern) die verschiedenen Religionen und Ideologien, welche Unsicherheitsgefühle vermeiden helfen sollen 26 . Genauere Kenntnis des kultursoziologischen Hintergrundes konnte später vielfach unter Beweis stellen, daß die Individuen, welchen „private" Motive unterstellt wurden, im Geiste bestimmter Institutionen gehandelt haben, deren Charakter und Wirkungsweise den Forschern zunächst häufig unbekannt geblieben waren. Diese Einsichten wurden insbesondere im Bereich der funktionalistischen Ethnologie und Soziologie auf die Deutung aller Formen gesellschaftlichen Handelns übertragen. 1. Z u r

Funktion

von Institutionen Systeme

für

soziale

In Herbert Spencers Evolutionstheorie ist sowohl ein Ansatz von der „Gesellschaft" als auch vom Individuum her vorgesehen. Spätere Soziologen haben im Unterschied dazu häufig einen monistischen Standpunkt vertreten. Spencer hat die Gesellschaft als ein sogenanntes „natürliches System" von spezifischer Eigenart begriffen, das als ein sich entwickelnder Prozeß analysiert werden müsse und in welchem eine Kooperation der Systemteile nachweisbar sei. Diese Kooperation der Systemteile lasse sich im wesentlichen als Aufgaben- oder Funktionsteilung bestimmen und determiniere die Struktur des gesellschaftlichen Gesamtsystems. Die von Spencer als „Organe" der Gesellschaft bezeichneten Teile des Systems sind die I n s t i t u t i o n e n . Deren gemeinsames Ziel sei die Aufrechterhaltung des sozialen Systems 26 Vgl. S u m n e r 1927, Bd I, S. 21.

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als eines Ganzen, zugleich suche jedoch jede Institution in erster Linie sich selbst zu erhalten. Nach Spencer hat jede Gesellschaft mindestens sechs Arten von Institutionen: familiäre, professionelle, industriell-ökonomische, politische, religiöse und zeremonielle. Diese Institutionen und das Gesamtsystem der Gesellschaft sind in ihrer Existenz wechselseitig voneinander abhängig, wie konfliktreich die Beziehung zwischen den Institutionen und dem gesellschaftlichen Gesamtsystem auch sein mag. Neben diesem Systemansatz steht bei Spencer, wie schon erwähnt, noch ein Ansatz vom Individuum her. Eine Gesellschaft besteht aus Individuen, die in einer bestimmten Region und zu einer bestimmten Zeit eine integrierte Population bilden. Die einzelnen nehmen an den verschiedenen, wechselseitig voneinander abhängigen Aktivitäten der Institutionen teil, wobei diese Teilnahme bedeutet, daß die einzelnen zwar bewußt nach eigenen Zielen handeln mögen, daß sie sich dabei aber der in der sozialen Kooperation erreichten Zielverwirklichungen gar nicht bewußt sein müssen. Wie in Hegels „List der Idee" verfolgt das Individuum zwar bewußt eigene Ziele, dient aber unbewußt den gesellschaftlichen Zwecken. Von hier aus führt, wie Helmut Schelsky in einer vorzüglichen ideengeschichtlichen Rekonstruktion des Institutionen-Problems feststellt, ein unmittelbarer Weg zu dem Begriff der „ p a r t i c i p a t i o n " bei Emile Dürkheim und seiner Schule und den Volks-Lehren der vorhergehenden deutschen Soziologie. „Damit wird die Kategorie: ,Bewußtheit-Unbewußtheit' zur Versöhnungsbasis zwischen Individuum und Institution, und es dürfte deutlich sein, wie sich von hier aus die Hochschätzung des Unbewußten im Individuum, später spezifiziert als das Irrationale, als Grundlage der sozialen Wirklichkeit und des sozialen Handelns entwickelt. Die Vernichtung der subjektiven Bewußtheit ist also eine alte Tradition in der Theorie der Institution, ja in der soziologischen Theorie überhaupt" 27 . Wie Spencer, so hat auch Dürkheim bei der Analyse gesellschaftlicher Tatbestände den Funktionsbegriff in Analogie zum biologischen Organismus verwendet, wobei allerdings - im Unterschied zu Spencer - der Ansatz vom Individuum her keine Rolle spielt. Gemäß seiner holistischen Konzeption bestimmt Dürkheim die Funktion eines sozialen Phänomens als dessen Beitrag zur Erhaltung des „normalen" Zustandes einer Gesellschaft. Als „normal" ist in diesem Zusammenhang ein Zustand anzusehen, der auf der jeweiligen geschichtlichen Ent-

27 S c h e l s k y 1970 b, S. 13

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht wicklungsstufe den Milieubedingungen entspricht. Wichtig für Dürkheims Theorie des Funktionalismus ist dabei dessen Funktionsbestimmung von Institutionen, die er deutlich von den utilitaristischen Auffassungen abhebt. Nicht werden Institutionen aus ihrem vermeintlichen „Nutzen" für die individuellen Akteure heraus erklärt, sondern aus ihrer Funktion für das soziale Ganze. Institutionen können dabei ihre Funktion ändern oder aber auch gleichzeitig verschiedenen Zwecken dienlich sein. So hat etwa die Strafe nicht nur präventive Wirkungen, sondern auch die Funktion, das Kollektivbewußtsein zu stärken. Diesem „Kollektivbewußtsein" kommt bei Dürkheim zentrale Bedeutung als Zurechnungsinstanz für die Leistungen der Institutionen zu. Sowohl utilitaristische als auch kontrakttheoretische Auffassungen scheinen ihm daher auch für die Entstehung von Institutionen unzureichend zu sein. Im Unterschied dazu will Dürkheim zeigen, daß etwa der „Gesellschaftsvertrag", durch den die sozialen Gemeinwesen ursprünglich konstituiert worden sein sollen, nicht bloß vertraglicher Natur ist, sondern einer Reglementierung unterworfen ist, die das Werk der Gesellschaft und nicht das Werk der einzelnen sei28. Wie Dürkheim, so will auch Marcel Mauss Institutionen nicht unter dem Gesichtspunkt des Nutzenprinzips, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktionalität für gesellschaftliche Systeme in ihrer „Ganzheit" erfassen. Damit steht auch er im Gegensatz zu jener später, vor allem von Bronislaw Malinowski, vertretenen Variante des Funktionalismus, welche abermals die Funktion von Institutionen für das Individuum in Betracht ziehen sollte. Wie für Dürkheim, so besteht auch für Mauss die Funktion von Institutionen grundsätzlich in der Erhaltung jener strukturellen Voraussetzungen, aus denen sie erwachsen sind, sie dienen also der Weiterexistenz, der Persistenz des Systemganzen. Gerade mit Bezug auf den zuletzt erwähnten Tatbestand besteht große Ähnlichkeit zwischen Dürkheim und Mauss, zwei zentralen Gestalten aus der Formationsperiode der modernen Soziologie, und den Bestrebungen des amerikanischen S t r u k t u r f u n k t i o n a l i s m u s , der um die Mitte unseres Jahrhunderts zur vorherrschenden Denkrichtung in der soziologischen Theorie geworden ist. Talcott Parsons gliedert das System „Gesellschaft" in vier Subsysteme: in das k u l t u r e l l e S y s t e m , das s o z i a l e S y s t e m , das P e r sönlichkeitssystem und das p h y s i k a l i s c h e Sy -

28 Vgl. dazu G i r 11 e r 1981, S. 266-269.

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s t e m . Dabei ist zu beachten, daß das soziale System abermals differenziert wird in das Sozialisationssystem, das ökonomische System und das politische System, und daß das Persönlichkeitssystem die (bewußt und unbewußt) erworbene mentale Organisation des Individuums betrifft, während die rein bio-physischen Aspekte der Person dem physikalischen System zugerechnet werden. Den genannten vier Subsystemen der Gesellschaft kommen mit Rücksicht auf deren Bestandssicherung vier grundlegende Funktionen zu: dem kulturellen System die S t r u k t u r b e w a h r u n g , dem sozialen System die I n t e g r a t i o n , dem Persönlichkeitssystem die Z i e l v e r w i r k l i c h u n g und dem physikalischen System die A n p a s s u n g . Welche I n s t i t u t i o n e n sind es nun, die die Verwirklichung der genannten Funktionen durch das jeweilige Subsystem sicherstellen? Die Strukturbewahrung obliegt nach Parsons jenen Institutionen, welche für uns die beständige „Richtigkeit" bestimmter Aktivitäten garantieren; dies sind beispielsweise religiöse Institutionen. Die Integration wird durch solche Institutionen bewerkstelligt, die soziale Beziehungen, aber auch Erwartungen standardisieren, wie dies exemplarisch durch Institutionen des Rechts geschieht. Was die Zielverwirklichung anlangt, so geht es um die grundlegende Bestimmung der allgemeinen Richtung oder „Leitidee" sowie der Prioritäten einer Gesellschaft, in denen sich aktuelle soziale Kräfteverhältnisse niederschlagen; daher wird nach Parsons Zielverwirklichung vor allem durch die vielfältige Einflußnahme und Interaktion politischer Institutionen bewirkt. Anpassung schließlich hat mit der Akkommodation ihrer natürlichen Umwelt durch soziale Systeme zu tun, wie sie insbesondere durch die Institutionen der Wirtschaft erfolge. Die Vertreter des Strukturfunktionalismus in der jüngeren soziologischen Theorie haben eine wichtige Unterscheidung zwischen Handlungserklärungen durch Motive und Ziele (Gründe und Absichten) von Individuen einerseits, durch Erfordernisse des Systems andererseits gemacht, wobei mitunter auch wertvolle Einsichten über die Formung der mentalen Verfassung von Individuen im Gesellschaftsganzen vermittelt wurden. Von seiten bestimmter Kritiker wurde allerdings mit einigem Recht festgestellt, daß gewisse Adepten des Strukturfunktionalismus Stabilitätsbedingungen - vor allem der politischen Komponente des sozialen Systems - untersucht haben und dabei mitunter in politisch-moralischen Fragen zu einer zynischen Einstellung einfach dadurch gekommen sind, daß sie alle einschlägigen Phänomene, auch sehr bedenkliche (wie z. B. bestimmte Formen der Korruption),

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht als „notwendige" Funktionen im Systemüberlebensmodell positiv bewertet haben29.

2. Z u r F u n k t i o n Individuum

von

Institutionen

für

das

Läuft nicht die gängige Lehre von den Subsystemen der Gesellschaft und ihren durch bestimmte Institutionen bewerkstelligten Funktionen für die Gesellschaft als Ganzes auf den Anspruch der Teilsysteme und Institutionen an das Subjekt hinaus? Geht es nicht im Unterschied zu den Tendenzen strukturfunktiünalistischer und systemtheoretischer Ansätze darum, emanzipatorisch eine Rückführung der menschlichen Verhältnisse auf den Menschen selbst zu besorgen und nicht umgekehrt diesen als auf makrosoziologische Sachverhalte reduzierbar anzusehen? Nun sind jedoch weder Individuen nur institutionell geprägte Rollenträger, noch sind Institutionen nur Bedürfnisbefriedigungsagenturen kollektiv auftretender einzelner. Jede Form des Reduktionismus: ein Makro- oder ein Mikroreduktionismus, tut der „reduzierten" Sache ein Unrecht an. (1) Das V e r h ä l t n i s v o n S y s t e m u n d I n s t i t u t i o n einerseits, I n s t i t u t i o n u n d I n d i v i d u u m andererseits ist nicht allein eine Frage der Sozialontologie, sondern auch und im besonderen eine Frage der ethischen Wirklichkeit des Handelns. Diese Frage ist, wie Joachim Ritter feststellte, dadurch belastet, „daß vor allem in der Soziologie die institutionelle Verfaßtheit menschlichen Seins und Handelns am Modell archaischer und primitiver Gesellschaften und so der für diese Gesellschaften kennzeichnenden unreflektierten Identität der einzelnen mit den Institutionen ihres Kollektivs entwickelt wird ... Institutionen scheinen unreflektierte Identität vorauszusetzen. Reflexion und, da Reflexion zur Freiheit gehört, Freiheit erscheinen als Auflösung und Ende der Institutionen und der institutionellen Verfaßtheit des Handelns" 30 . Um jedoch die ethischen Implikationen angemessen erfassen zu können, welche mit einer Erörterung der Funktion von Institutionen für das Individuum verknüpft sind, bedarf es vorgängig einer Darstellung von soziologischen und ethnologischen Auffassungen, welche einige Befürchtungen von moralphilosophischen Kritikern des institutionalistischen Denkstils auf das 29 Vgl. etwa v o n B e y m e 1980, S. 114. 30 R i t t e r 1970, S. 62

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ihnen zukommende Maß einschränken. Es empfiehlt sich in diesem Zusammenhang, noch einmal auf Herbert Spencer hinzuweisen, dessen Auffassung für die sozialwissenschaftlichen Konzeptionen der Folgezeit von großer Bedeutung waren. Die theoretisch fruchtbarsten Auswirkungen von Spencers Lehre lagen in seinen anthropologischen und individualistischen Ansätzen zu einer evolutionistischen Theorie der Institutionen. Neben Albion W. Small ist dabei der schon früher erwähnte William G. Sumner zu nennen, der den vier Grundbedürfnissen (Hunger, Sexualität, Eitelkeit und Furcht vor Geistern) Institutionen als bewußtgemachte normativ wirksame und auf Dauer gestellte Regelmäßigkeiten des sozialen Handelns zuordnet. Versuch und Irrtum ( „ t r i a l a n d e r r o r " ) in der Befriedigung dieser Bedürfnisse schaffe bei den Individuen Gewohnheiten („ h a b i t s "), die sich kollektiv in relativ einheitlichen Bräuchen ( „ c u s t o m s " , „ f o l k w a y s " ) niederschlagen, welche durch die Generationen hindurch Bestand haben. Wird das regelmäßige Handeln als Norm in das Bewußtsein aufgenommen, verbindet sich also mit diesen Bräuchen die Uberzeugung von der Wahrheit und Richtigkeit derselben, so entwickeln sich nach Sumner Sitten („ m o r e s"), welche die Grundlage der sozialen Institutionen bilden. Dem Übergang von den Grundbedürfnissen über Gewohnheit, Brauch und Sitte zur Institution entspricht eine Zunahme des sowohl kognitiven wie reflexiven Elementes, von den animalischen Grundbedürfnissen („ b a s i c n e e d s ") an bis hin zu bewußten menschlichen Interesen („ i n t e r e s t s "). Wir wissen heute, wie Helmut Schelsky ausführt, daß die Aufstellung von Triebkatalogen ein Abweg des soziologischen Denkens ist: „Vor allem vermeiden sie selten den in diesem Gedankengang naheliegenden und oft festgestellten Zirkelschluß, Triebe, Instinkte und andere festgelegte Antriebsimpulse aus den erkannten sozialen Handlungsformen und Leistungen zu erschließen und damit im nachhinein Antriebe zu postulieren, deren Existenz nur durch eine aus soziologischen Faktenerkenntnissen gefolgerte Kausalitätshypothese bewiesen werden kann. Hier transzendiert sich die soziologische Erkenntnis unnötig in Anthropologie, Psychologie oder Biologie" 31 . Entscheidende Argumente gegen die Vorstellung, wonach zwischen biologischen Antrieben und Bedürfnissen einerseits und den Formen und Institutionen des sozialen Handelns andererseits eine eindeutige Beziehung bestehe, wurden von Bronislaw Malinowski vorgebracht. 31 S c h e l s k y 1970 b, S. 13 f.

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Jedes kulturelle System verdanke seinen Bestand der Tatsache, daß es eine ganze Reihe von menschlichen Grundbedürfnissen befriedigt; diese Befriedigung von Bedürfnissen nennt Malinowski die Funktion einer Kultur. Der Begriff der Funktion ist sonach explizit auf menschliche Bedürfnisse bezogen und nicht auf ein „System", welches nach Malinowski ja in seiner Struktur und Wirkungsweise erklärt werden soll. Die Funktion einer Institution definiert Malinowski folgerichtig als die Leistung dieses Subsystems einer Kultur in bezug auf ein menschliches Bedürfnis. Wo Institutionen Funktionen erfüllen, befriedigen sie primäre oder abgeleitete menschliche Bedürfnisse. Malinowski zielt auf einen „universellen Funktionalismus" ab, demzufolge jede Institution eine Funktion hat. Der Systemcharakter der Gesellschaft wird dabei aus Funktion und Institution erklärt, und nicht umgekehrt. Dies unterscheidet ihn auch von einigen jüngeren Vertretern der Systemtheorie, welche ausschließlich auf den Beitrag von Institutionen für die Erhaltung des gesamtgesellschaftlichen Gleichgewichtes hinweisen. Malinowski arbeitet nun im Verlauf seiner Analyse der Institutionen erstens deren Organisationsaspekt heraus, also Apparat und Personal; zweitens die konkreten Normen und Regeln einer Institution, also ihr „Normsystem"; drittens aber jenes grundlegende System von Werten, dem er die Bezeichnung „ C h a r t e r " gibt. Eine Charter kann sich nach Malinowski in verschiedenen konkreten Normsystemen und den ihnen korrespondierenden Organisationen darstellen; sie ist ebensowenig schon mit einem Normsystem identisch wie etwa Hegels „Idee" des Rechts mit einer bestimmten normativen Rechtsmeinung. Dementsprechend finden sich drei bedeutsame unterschiedliche Forschungsrichtungen in Malinowskis Kulturanthropologie, die mit den unterschiedlichen Aspekten seiner Institutionentheorie zu tun haben: eine sozialanthropologische Funktionenlehre, welche sich auf die Bedürfnisstruktur des Menschen und das dieser entsprechende Normsystem konkreter Institutionen bezieht; eine organisationssoziologische Analyse, die sich auf die apparativen und personellen Aspekte von Institutionen erstreckt; schließlich eine sozialphilosophische Betrachtung, die sich auf die leitenden und beherrschenden Ideen von Institutionen in ihrer sowohl normativen als auch organisatorischen Ausgestaltung bezieht. Wie Helmut Schelsky zeigte, findet sich bei Malinowski die Einsicht, daß „Ideen" nicht identisch sind mit dem sogenannten „Normsystem" von Institutionen: „Die Idee des Christentums, die Idee der Erforschung der Wahrheit usw. haben jeweils innerhalb ihrer Geltung sehr verschiedene institutionelle ,Normsysteme' zugelassen. Indem

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z. B. die funktional-strukturelle Systemtheorie der Soziologie Ideen und binneninstitutionelle Normsysteme identifiziert und unter den Begriff der Systemfunktion subsumiert, wird von ihr die Autonomie des menschlichen Bewußtseins letzthin verneint und damit die Subjektivität des Individuums systemsoziologistisch mediatisiert"32. - Neben der grundlegenden Neuaufnahme Hegelscher Konzeptionen und ihrer Operationalisierung im Rahmen kulturanthropologischer Analysen hat Malinowski im besonderen zwei weitere grundlegende Erkenntnisse für die zeitgenössische Theorie der Institutionen formuliert. Erstens vertrat er die Auffassung, daß Institutionen nicht - wie dies etwa bei Sumner der Fall war - als die Erfüllung nur eines einzigen Bedürfnisses oder gar nur eines einzigen Triebes aufgefaßt werden können, sondern daß durch sie immer sehr verschiedene Bedürfnisse befriedigt werden. Nicht gebe es eine strenge Korrelation zwischen biologischen Bedürfnissen und ihren institutionellen Entsprechungen, vielmehr seien Institutionen immer Bedürfnis- und das heißt auch Funktionss y n t h e s e n . In der Tat kann ja etwa einer bestimmten Religion die Funktion der Ordnungsstiftung gleichermaßen zukommen wie die der Hoffnungsstiftung oder auch die der Herrschaftssicherung. Zweitens war Malinowski der Ansicht, daß auch Bewußtseinsansprüche als „Bedürfnisse" aufgefaßt werden können. Er erwähnt exemplarisch mythische und legendarische Kodices als Erfüllung solcher Selbstbewußtseinsbedürfnisse des Menschen, welche aus frühen Stadien der Institutionen herrühren. In der Moderne taucht demgegenüber immer stärker ein Bedürfnis der Reflexionssubjektivität auf oder - mit den Worten Helmut Schelskys - ein „Bewußtseinsbedürfnis der kritischen Selbstreflexion und des sachlich-konstatierenden Selbstbezuges des Menschen zu sich"33. (2) Insbesondere die zuletzt genannte T h e m a t i k d e r R e f l e x i o n s s u b j e k t i v i t ä t im Verein mit Malinowskis Analysen der Leitidee von Institutionen war es, die in Arnold Gehlens Theorie der Institution auf eine für die Tradition der deutschen philosophischen Anthropologie bedeutsame Weise eingewirkt hat. Gehlens Anthropologie ist in gewisser Hinsicht eine Variation von Max Webers Analyse der zunehmenden Rationalisierung aller Lebensbereiche, welche er als eine Zunahme der zweckrationalen Weltauslegung gegenüber einer ursprünglich dominanten Orientierung nach Gesichtspunkten der Wertrationalität begriffen hat. Die Annahme, wonach der Mensch 32 Ebd., S. 16 - Als Darstellung der verschiedenen Varianten des „Funktionalismus" in der Kulturanthropologie und Soziologie vgl. G i r 11 e r 1979, Kap. III. 33 S c h e l s k y 1970 b, S. 21

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zweckrational auf die großen Problemlagen seines Lebens losgehe, wie dies der utilitaristischen Anthropologie entspricht, erscheint Gehlen als irrig und einer ahistorischen Betrachtung entspringend. Die Dominanz der Zweckrationalität habe selbst ihre Geschichte und sei nicht als fundamentaler anthropologischer Grundsachverhalt anzusehen. Solange die großen Leitideen als Nährboden verschiedener konkreter Institutionen leben - solche Leitideen sind exemplarisch: Familie, Recht, Eigentum, Wissenschaft, Toleranz schaffen die Institutionen erst jene Handlungsentlastungen, welche sekundär Erwägungen bezüglich der funktionalen Zweckmäßigkeit zum Zuge kommen lassen. Solange die Leitideen der Institutionen leben, können innerhalb des Institutionengefüges unterschiedliche zweckrationale Faktoren einen Wandel durchmachen, und man spricht in diesem Zusammenhang vom Funktionswandel der Institutionen. Es handelt sich dabei um ein sekundäres Phänomen, welches seine eigentliche Bedeutung erst innerhalb der primären Ideenbestimmtheit von Institutionen erlangt. Nun setzt aber gewissermaßen im Sinne einer endogenen Hypertrophierung des zweckrationalen Betrachtungsprinzips die Aushöhlung der Wertrationalität ein. Als Folge dieser sekundären Zweckbestimmung setzt auch so etwas ein wie die zweckrationale Legitimierung der Institutionen. Sobald aber die Institutionen selbst auf ihren Nutzen hin abgefragt werden, reduziert sich der Glaubenswert ihrer Leitideen. Damit wird, wie Gehlen meint, die in den Leitideen der Institutionen gebundene Energie frei zur Aktualisierung subjektiver Motive und zur Realisierung individueller Zwecke. Der einzelne und sein subjektiver Nutzen werden letzte Bezugspunkte des Handelns, die Anerkenntnis der Leitideen einer Kultur: des Rechts, der Kunst, der Wissenschaft, wird von innen her unter dem Gesichtspunkt ihrer zweckrationalen Nutzenfunktionen aufgeweicht. Subjektivität stützt, wie dies Helmut Schelsky formulierte, den „individualegoistischen Eudämonismus": „Indem das Handeln sich jetzt nur auf einsehbare Zwecke richtet, Ideen perhorresziert, verbleibt es im rational Übersehbaren und Planbaren, will es sich im Bekannten lebensdienlich einrichten. Aus einem indirekten, über die Ideen verlaufenden Verhalten zu den Institutionen wird ein bloß lebenspraktisches Verhalten, das den Menschen nirgends mehr über sich hinausreißt. Die Institutionen erhalten den Charakter technischer, funktionaler Mittel; Kultur wird ein Reservoir technischer Möglichkeiten, kurz: ,die Geschichte ist aus', Kristallisation und Posthistoire als geschichtliche Stagnation und bloßer Ausbau des Vorhandenen" 34 . 34 Ebd., S. 23 f .

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Wie Gehlen ausführt, haben Institutionen von eingelebter Rechtsgeltung besondere Bedeutung für die innere Verfassung des einzelnen: „Sie entlasten ihn von der fallweisen mühsamen Erfindung anständigen Verhaltens, weil sie es schon vorgeformt und vorentschieden darstellen, und sie prämiieren dieses anständige Verhalten mit prestigemäßigen oder ökonomischen Chancen oder mit derjenigen Genugtuung, die in dem Bewußtsein liegt, das Rechte getan zu haben - zum mindesten privilegieren sie es nicht negativ. Die Moral ist dann weder undankbar, eine Sache, die sich nicht auszahlt, die einen gegen die Smarten in Nachteil bringt, noch mühsam und Sache zusammenhangloser Einzelentschlüsse, denn sie ist eingelebte Gewohnheit und wird nicht weniger von den Idealen als von den Interessen der anderen mitgetragen" 35 . Im Gegensatz dazu führt Habermas kritisch an, daß Gehlens Institutionen als „irrationale Zwangs- und Zuchtanstalten die Individuen derart subsumieren, daß ihnen Bestimmungen und Neigung, Subjekt zu sein, vergeht" 3 6 . Die kritischen Ansprüche der Kommunikationstheorie von Habermas richten sich gegen die „Zwänge" jeglicher Organisationsstruktur, deren Prinzipien nicht universalisierbar sind. Die schon von Malinowski erwähnten neuen Bedürfnisse der Reflexionssubjektivität institutionalisieren sich aber selbst: als Gespräch, als Öffentlichkeit, als demonstrativ vorgeführter Diskurs, als expressive Subjektivität und im Sinne der moralischen Implikationen der Diskurstheorie - als herrschaftsfrei institutionalisierte Intersubjektivität der Verständigung. In der Institutionalisierung von kritischer Reflexion betätigt sich die Subjektivität bei Habermas in jener Form von herrschaftsfreier Kommunikation, welche gegen die „reflexionshemmende Härte der Institutionen" Arbeit, Technik, Wissenschaft und Herrschaft immunisieren und diese gemäß den konsensuell akzeptierten Annahmen bezüglich der Ausweitung individueller Freiheitsräume verändern soll 37 . Man kann sich naturgemäß fragen, ob nicht gerade der Mangel an stabilen Institutionen, die ja nach Gehlen letztlich vorgeformte und sozial eingewöhnte Entscheidungen sind, und damit die Zunahme von anomischen Persönlichkeitsstrukturen die Entschlußfähigkeit des einzelnen überbeansprucht und ihn deshalb - bis hin zur Irritation - dazu verleitet, sich vor den jeweils nächsten zufällig auftretenden Reizen schutzlos zu fühlen, wobei dieser Schutzlosigkeit ein spezifisch modernes A u s d r u c k s b e d ü r f n i s zuwächst. „Nur aus solchen und ähnlichen sozialpsychologischen Voraussetzungen kann man gewisse 35 G e h l e n 1957, S. 74 36 H a b e r m a s 1973, S. 108 37 Vgl. dazu H a b e r m a s 1968.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht auffallende Erscheinungen erklären, wie z. B. die triebhafte Mitteilungsbedürftigkeit, die der in sich ruhenden Persönlichkeit fehlt, die aber eine wesentliche Wurzel des programmatischen Individualismus ist, oder die erstaunlich verbreiteten höheren Grade von Menschenkenntnis, die aus einer feinen Empfindlichkeit des Gefahrensinnes kommt und überflüssig wird, wenn aus eingewöhnten, langhin tradierten Formen der Kooperation ein stummes Schon-Verständigtsein folgt..." 3 8 Als Effekt gibt es einen mitunter erstaunlichen Uberhang an Reflektiertheit bis hin zu der bereits von Vico beschriebenen „Barbarei der Reflexion" oder der von Lichtenberg einmal apostrophierten Haltung jener zur Gewohnheit gewordenen Nachdenklichkeit, die bereits als Krankheit anzusehen sei. Die Hinweise auf die Zunahme der Indirektheit und Gebrochenheit im Außenverhalten sollen hier nicht als eine ideologische Rehabilitierung der blanken Affektivität oder auch als Stigmatisierung des Intellekts verstanden werden. Sie sollen allerdings eine neue Beziehung zu der - aufgrund des in unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation möglich gewordenen Abbaus des Realitätsdrucks - im Umfang stark ausgeweiteten Reflexionsroutine kennzeichnen, zu der Arnold Gehlen und Helmut Schelsky in sehr unterschiedlicher Weise Stellung genommen haben 39 . Überall, so führt Gehlen aus, schießen jetzt die „Ideen" empor, „mit denen sich nichts anderes anfangen läßt, als sie zu diskutieren" 40 . Der Verselbständigung des Ideologischen entspricht nach Gehlen ein Moralismus „handlungsloser Gesinnungen" 41 , die der Außenstützung durch Institutionen verlustig gegangen sind. Die zum chronischen Zustand und zum Strukturmerkmal sogar des Massenbewußtseins gewordene Reflexion sei institutionenfremd geworden. Selber nicht institutionalisierbar, wirke sie als Ferment der Auflösung von Institutionen. - Dagegen macht nun gerade Helmut Schelsky 42 geltend, daß die moderne Reflexionskultur keineswegs nur als ein destruktiv wirkendes Luxusgebilde anzusehen, sondern in seiner funktionalen Notwendigkeit zu erkennen sei. Reflexion sei als Instrument zu begreifen, Institutionen in dynamischen Zivilisationen an sich verändernde Umstände anzupassen und damit stabilitätsfähig zu erhalten; ferner bilden sie ein unentbehrliches Medium der Weiterreichung von 38 G e h l e n 1957, S. 59 39 Vgl. dazu L ü b b e 1985. 40 G e h l e n 1977, S . 2 5 6 41 Vgl. ebd., S. 26. 42 Vgl. dazu von Helmut S c h e l s k y - neben S c h e l s k y S c h e l s k y 1965 a, S c h e 1 s k y 1965 b und S c h e l s k y 1961.

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Traditionsinhalten, aber auch ein Medium ihrer Weiterentwicklung; nicht zu übersehen sei ferner, daß vor allem das Reflexionspotential der Wissenschaft es sei, welches eine Erhaltungsbedingung moderner Gesellschaften darstelle; und schließlich sei komplementär zu der durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation bewirkten Steigerung der Komplexität und Dynamik unserer Lebenspraxis und Lebenserfahrung eine Zunahme unserer Angewiesenheit auf Orientierungswissen zu konstatieren - sozusagen ein wachsendes Erfordernis der Flankierung von Herrschafts- und Leistungswissen durch Bildungswissen. Nach Schelsky ist die durch die genannten vier Grundfunktionen charakterisierbare Reflexionskultur eine der zentralen Bedingungen für die Erhaltung moderner Gesellschaften. Nach Gehlen haben die Institutionen unter anderem die Funktion, das Subjekt vor sich selber zu schützen; eben diese Auffassung, welche er unterstützt, veranlaßt Schelsky, die institutionelle Selbstorganisation der reflektierenden Subjektivität zu institutionalisieren. Vielleicht ist es als eine Folge des Wegfalls einer Angabe der für diese Institutionen kennzeichnenden Kriterien und Regelsysteme anzusehen, daß Schelskys späte Kritik an den Reflexionseliten 43 eine so respektable Schärfe angenommen hat, was zur Ansicht verleiten konnte, er sei seiner eigenen Vergangenheit gegenüber revisionistisch gesonnen. In erster Linie ist er jedoch bestrebt, nicht so sehr die Rolle des Intellektuellen zu kritisieren als vielmehr - zum Beispiel - die publizistische Praxis der Informationsunterdrückung aus moralisierender Gesinnung und selbst auferlegter Gruppenkonformität. Die Institutionalisierung von „Reflexion" in der Weise, daß die Rolle von deskriptiv-erklärendem Wissen zugunsten normativer Erweckungen nicht mehr gesichert und in ihrer Funktionsfähigkeit erhalten bleibt, ist als Möglichkeit ausdrücklich in Betracht zu ziehen. (3) Kurz sei hier auch auf das Verhältnis von I n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g u n d K r i s e n b e w u ß t s e i n hingewiesen. Zunächst ist davon auszugehen, daß es - jedenfalls in den entwickelten Industrienationen - ein vergleichsweise effizientes Wirtschaftssystem, relativ stabile politische Ordnungen, Rechtsschutz bei geringen Zwangserfordernissen sowie hohe technische Kapazitäten zum Umgang mit Risiken und Katastrophen gibt. Und dennoch deutet vieles darauf hin, daß das Sicherheitsbedürfnis in dem Maße zugenommen hat, in welchem Unsicherheiten infolge von Regelungen, Normierungen sowie von Festlegungen der organisatorischen Zuständigkeitsbereiche abnehmen 43 Vgl. etwa S c h e l s k y 1982.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht können. Die von Franz-Xaver Kaufmann formulierte Paradoxie, „daß mit der wachsenden Sicherheit im Sinne des objektiven Gefahrenschutzes das subjektive Sicherheitsbedürfnis zunimmt" 4 4 , hat mit der Tatsache zu tun, daß die technischen, staatlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Sicherungsvorkehrungen unsere Toleranzschwelle mit Bezug auf zumutbare Unsicherheiten reduzieren. Gesteigert wird das Empfinden der Unsicherheit nicht zuletzt durch die weitgehend nicht antizipierbaren Konsequenzen und Nebenwirkungen der in den verschiedenen technischen, staatlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bereichen menschlichen Zusammenwirkens wirksam werdenden Institutionen. Dieses Welt- und Lebensgefühl kommt beispielsweise in der nicht erst seit heute geläufigen Rede von der„Krise" zum Ausdruck, die sich abwechselnd als Sinnkrise, Krise des Wohlfahrtsstaates, der Umwelt, der Wissenschaft, der Arbeitsgesellschaft usw. darstellt. Unsere Unsicherheitserfahrung ist eine Erfahrung der Wandelbarkeit unserer Lebensverhältnisse. Diese Wandelbarkeit hat in entscheidendem Maße auch damit zu tun, daß sich mit der Erfüllung jener Funktionen, mit welchen sich ursprünglich die Einrichtung von Institutionen verknüpft hat, neue Bedürfnisse entwickeln, welche abermals institutionelle Regelungen generieren. Institutionen verbürgen sonach gleichzeitig Verhaltenssicherheit und die Bestimmtheit der wechselseitigen Erwartungen, sind aber häufig - und je effizienter sie sind, umso mehr - Destabilisatoren bestehender Bedürfnisstrukturen dadurch, daß mit der durch sie bewirkten Sättigung von Bedürfnissen neue Bedürfnisse in Erscheinung treten. Dieser erweiterte Möglichkeitshorizont und die dadurch gesteigerte Komplexität jener Weltausschnitte, die wir für uns als bedeutungsvoll ansehen, stellt - im Verein mit dem daraus resultierenden vermeintlichen Zwang, aus dem Überangebot an Möglichkeiten eine Auswahl zu treffen - eine Hauptkomponente des sogenannten Unsicherheitsproblems in fortgeschrittenen Industriegesellschaften dar. So treffen wir im Phänomen der Institutionen auf eine eigentümliche doppelte dialektische Beziehung: Institutionen sind einerseits konstitutive Faktoren sozialer Integration, andererseits aber ein Beitrag zur Destabilisierung von Bedürfnisstrukturen; und dazu kommt, daß sie zwar den Bereich des sozial Akzeptablen eingrenzen und dadurch in gewissem Sinne freiheitseinschränkend wirken, gleichzeitig jedoch größere Sicherheit von Erwartungen dadurch verheißen, daß das durch sie realisierbare Maß der

44 Vgl. K a u f m a n n 1987, S. 38.

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Wahrscheinlichkeit einer Vorausschau zunimmt und damit die Chance rationaler Interessenverfolgung. Derartige Deutungen von dialektischen Entwicklungen und Entfremdungsprozessen stehen zweifellos in der Nachfolge der Klassiker des soziologischen Denkens. Mit gewisser Verwunderung kann man allerdings konstatieren, daß bestimmte Neomarxisten sowie einige Vertreter der Kritischen Theorie die Institutionentheorie zum Teil sehr undialektisch durch eindeutige Institutionenkritik ersetzten. Sie sehen sich mit der Frage konfrontiert, ob der radikalen Negation bestehender Institutionen antizipierend bereits wünschenswerte Formen einer gelungenen Lebensordnung entgegengestellt werden können. Der Umgang mit diesem Dilemma dürfte, wie Gerhard Göhler in einschlägigem Zusammenhang vor kurzem bemerkte, entscheidend für die Frage sein, „ob Marxismus und Kritische Theorie prinzipiell unfähig zum Entwurf von politischen Institutitonen sind (es sei denn solcher, die die Repressionsfunktion auch in den Sozialismus transportieren), oder ob auch auf marxistisch-materialistischer Grundlage ein Weiterdenken über Institutionen, über den lapidaren Verweis auf das .ganz Andere' einer klassenlosen Gesellschaft hinaus, produktiv möglich ist" 45 . (4) In gewissem Zusammenhang mit dem soeben Ausgeführten soll noch dem Aufmerksamkeit geschenkt werden, was als I n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g d e r I n s t i t u t i o n e n k r i t i k bezeichnet werden könnte. Der in Betracht stehende Sachverhalt erscheint dabei einmal in einem mehr dialektischen, dann in einem mehr aporetischen Licht. Er ist dadurch zu charakterisieren, daß die Reflexion, welcher die Freiheit der individuellen Subjektivität zu allererst als die Freiheit ihres kommunikativen Ausdrucks erscheint, selbst unter ein institutionalistisch gemeintes Postulat gestellt wird: unter die Forderung nach konsensuell zu treffenden Entscheidungen. Besonders deutlich treten damit verwandte Probleme und Aporien in der „ T h e o r i e d e s k o m m u n i k a t i v e n H a n d e l n s " von Jürgen Habermas zutage. Sie zeigen sich exemplarisch an dem Vorschlag, „Basisinstitutionen" einzurichten, welche u n i v e r s e l l e Diskurse ermöglichen sollen. Gewiß würde eine solche Einrichtung zu ihrer Verwirklichung ein kompliziertes System von Rechtsnormen und Organisationsformen benötigen, wobei die Effizienzerfordernisse von Organisationen zweifellos jene Oligarchisierungstendenzen mit sich brächten, welche sich im Inneren von Organisationen zumeist als 45 G ö h 1 e r 1987 b, S. 13; vgl. in diesem Zusammenhang auch G ö h 1 e r 1987 c.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht Hemmnisse des Universalisierbarkeitsprinzips einer Diskursgemeinschaft ausnähmen. Die Gefahren der „Verrechtlichung" und der „Bürokratisierung", vor denen gerade Habermas immer und mitunter recht aufwendig warnt, würden gerade dadurch auf bezeichnende Weise akut werden. Ein anderes grundlegendes Problem hat mit der Tatsache zu tun, daß universelle Diskurse nach Habermas von jeglichen normativen Kontexten entbunden sein sollen. Dies käme zweifellos einem Bruch mit jenen unproblematischen Hintergrundüberzeugungen gleich, die ihm zufolge gerade die Substanz der „Lebenswelt" ausmachen46. Eine derartige, einem überzogenen Reflexionspostulat entspringende Uberzeugung gerät aber schnell an ihre Grenzen, wenn wir uns vergegenwärtigen, in welcher Weise Institutionen als normative Verhaltensstrukturen wirksam sind. Denken wir, wie dies Stephan Strasser tut, an einen Bantu, der sich durch seine traditionelle Zugehörigkeit zu einer Stammesgemeinschaft innerlich geborgen weiß: „Sollen wir nun versuchen, ihn davon zu überzeugen, daß jene Verbundenheit mit seinem Stamm, wissenschaftlich betrachtet, lediglich eine .Ideologie' sei? Würden wir nicht auf diese Weise von dem Bantu verlangen, daß er aufhöre, ein Bantu zu sein? Ist es nicht vielmehr ratsam, daß wir die Verwurzelung seiner Persönlichkeit in ihrer Stammesgemeinschaft zu verstehen trachten, bevor wir den Versuch wagen, mit ihm argumentative Diskurse zu führen"47? In solchen Zusammenhängen drängt sich die Frage auf, ob das Bestreben des Theoretikers des kommunikativen Handelns, einerseits alles affektuell-emotionale, andererseits alles traditionelle Tun lediglich als Störgrößen in aufgeklärten Diskursen zu betrachten und dabei Vorarbeiten für dessen Beseitigung zu leisten, nicht zum Teil jene institutionellen Voraussetzungen der Erosion aussetzt, deren er selbst im Verlauf seiner Bemühungen, konsensuell legitimierbare normative Uberzeugungen ausfindig zu machen, bedarf. Das Problem von Habermas ist das Problem zahlreicher Theoretiker der Intersubjektivität in Belangen der praktischen Vernunft, aber auch zahlreicher Theoretiker der Demokratie. Oft scheint es, daß man „Intersubjektivität", „Konsens", aber auch „Herrschaftslosigkeit" und „Demokratie" zu häufig im Munde führt, ohne genügend die institutionellen Gegebenheiten im Auge zu haben, auf denen sie beruhen. Die Demokratiediskussion unseres Jahrhunderts - exemplarisch geführt von Hans Kelsen, Joseph A. Schumpeter, Friedrich A. Hayek - ist 46 St rasser 1984, S. 167 47 Ebd.

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ein gutes Beispiel für die hier in Betracht stehende Sachlage. Wie Schumpeter, so betont etwa auch Hayek die Möglichkeit, daß eine demokratische Regierung unter der Herrschaft einer sehr homogenen und doktrinären Majorität die Menschen ebenso verknechten könne wie die schlimmste Diktatur. Hinter dem Konsenspostulat und der Überzeugung seiner prinzipiellen Realisierbarkeit auch in normativ-praktischen Belangen kann sich allerlei Naivität, aber auch Selbstgerechtigkeit und damit verbundene Ungeduld mit der mangelnden Willfährigkeit von Diskurspartnern verbergen. „In unseren Neigungen und Interessen", so erklärt in diesem Zusammenhang Hayek, „sind wir in gewissem Maße alle Spezialisten und wir alle glauben, daß unsere persönliche Wertskala nicht rein persönlich ist, sondern daß wir in einer freien Diskussion unter vernünftigen Menschen die anderen davon überzeugen könnten, daß unsere die richtige ist" 4 8 . Der Glaube, daß keine Regierung eine Willkürherrschaft sein könne, wenn sie nur ein Produkt des demokratischen Wahlverfahrens ist, erscheint ihm dabei ganz unbegründet und die darin liegende Gegenüberstellung vollkommen falsch: nicht der Ursprung, wohl jedoch die Begrenzung der Regierungsgewalt bewahre die Demokratie vor Willkür 49 . Um nun aber gerade die Willkür einer Majorität, und damit das, was Hayek „Demokratismus" nennt, zu verhindern, sei es nötig, daß das Gesetz bestimmten materiellen Anforderungen genüge. Die Geltung von Gesetzen dürfe nicht allein, wie im Rechtspositivismus üblich, auf eine Frage der Legalität reduziert werden, denn dies schließe nicht die Form eines diskriminierenden Zwanges aus. Gewalt müsse vielmehr auf einer Bindung an „allgemeine Regeln" beruhen, denn nur dies könne eine Regierung u n t e r dem Gesetz sichern. Eine unbeschränkt demokratische Regierung, die den Grundsatz der Gewaltenteilung von Gesetzgebung und Regierung preisgibt, sei gesetzlos. Damit sei die Voraussetzung dafür geschaffen, auch Fragen der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, des Minderheitenschutzes und dergleichen zu prinzipiell abstimmungsfähigen Belangen zu machen und daher auch zu einer fungiblen Materie für erfolgreiche „Konsenspolitiker", denen es gegeben ist, die öffentliche Meinung nach den Gesichtspunkten der „überwältigenden Majorität" zu konstituieren. Mehrheitsentscheidungen sind ein unentbehrliches Verfahren zur Durchführung friedlicher Änderungen; aber eine Regierungsform, in der jede Mehrheit jede beliebige Frage zum Gegenstand von Regierungsmaßnahmen machen kann, ist 48 H a y e k 1982, S. 80. 49 Vgl. ebd., S. 100.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht ein sehr zweifelhaftes Unternehmen. Wie man weiß, war es in der Realpolitik möglich, unter Beschwörung des einheitlichen Volkswillens, also mit Hilfe einer bestimmten Variante von Konsenstheorien, selbst jene Verfahren zu verwerfen, mit deren Hilfe die Erörterung von Verfahren möglich wurde. Vielleicht ist dies auch der Ort, um noch einmal auf die Ambivalenz des zunächst von Malinowski, später auch von Schelsky erörterten „Bewußtseinsbedürfnisses der kritischen Selbstreflexion und des sachlichkonstatierenden Selbstbezuges des Menschen zu sich" hinzuweisen50. Dieser Tatsache hat vor allem auch Niklas Luhmann in einer den reflexiven Mechanismen in komplexen modernen Sozialsystemen gewidmeten Arbeit Aufmerksamkeit geschenkt51. Er versteht darunter die Anwendung bestimmter sozialer Mechanismen oder Handlungsstrukturen auf sich selbst, also Lernen des Lernens, Erforschung der Forschung, Planung der Planung, Beherrschung der Herrschaft, Normierung der Normsetzungen, Entscheidung über Entscheidungskompetenzen usw. Diese Prozesse der „Selbstreferenz" können nun nicht nur in positiver, sondern auch in negativer Hinsicht wirksam sein, und aus dieser Tatsache lassen sich fruchtbare Hinweise für die Demokratietheorie im Blick auf das Konsensproblem ableiten. Denn es gibt nicht nur eine subjektivistische Aufkündigung des Prinzips der Subjektivität, eine Kritik der Institutionalisierung der Kritik, eine rationale Destruktion der Ratio, und vieles andere von dieser Art, sondern auch eine demokratische Eliminierung der Demokratie und eine konsensuell erfolgende Eliminierung des Konsensprinzips. Das Prozedurale oder rein Methodische - ob nun in der Demokratie als Herrschaftsform oder in einer dem Konsenspostulat unterstellten Diskursgemeinschaft - bedarf auf eine bezeichnende Weise einer inhaltlichen Ergänzung in Gestalt der Institutionalisierung bestimmter „Leitideen" der Demokratie bzw. der Kommunikationsgemeinschaft. Ubersieht man dies, geraten die für moderne Gesellschaften charakteristischen Formen der Selbstreferenz in eine gewisse strukturelle Analogie zu dem, was man im Bereich der Analyse von Stoffwechselerkrankungen in der Nachfolge von Sir Archibald Garrod den angeborenen Irrtum des Metabolismus bezeichnet52. Wie dabei bestimmten angeborenen biochemischen Fehlern

50 Vgl. S c h e l s k y 1970 b,S. 21. 51 Vgl. L u h m a n n 1966 sowie L u h m a n n 1984 . 52 Vgl. in diesem Zusammenhang die Erörterungen zum Wandel des Krankheitsbegriffes bei C a n g u i l h e m 1977, v. a. S. 192-202.

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ein möglicher pathologischer Wert erst aufgrund einer Beziehung des Organismus zu einer spezifischen natürlichen Umwelt zukommt, so auch der Praktizierung des Konsensprinzips unter spezifischen sozialen Umweltbedingungen: nämlich unter der Voraussetzung des Wegfalls ganz spezifischer institutioneller Einbettungen. Diese allein unter Repressionsgesichtspunkten zu erörtern, ist eine Einseitigkeit des sogenannten herrschaftsfreien Diskurses, der nicht einmal um seine Selbstgefährdung zu wissen scheint.

IV. GENETISCHE ASPEKTE

Wenn von Institutionentheorie die Rede ist, so kann damit zweierlei gemeint sein: entweder handelt es sich um sogenannte institutionalistische Deutungen gesellschaftlicher Sachverhalte oder es geht um die Erklärung von Institutionen selbst. Im erstgenannten Fall werden Institutionen als unabhängige Variablen aufgefaßt, wobei stillschweigend oder auch ausdrücklich davon ausgegangen wird, daß gesellschaftswissenschaftlich belangvolle Sachverhalte ohne Bezugnahme auf sie nicht oder nicht hinreichend erklärt werden können. Im zweitgenannten Fall werden Institutionen als abhängige Variablen betrachtet, das heißt sie werden selbst erklärt oder zum Gegenstand eines normativen Begründungsversuches. In diesem zweiten Falle handelt es sich um die Theorie gesellschaftlicher Institutionen im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Beiden Ansätzen bzw. Betrachtungsweisen soll im folgenden Aufmerksamkeit geschenkt werden, in umfangreicherem Maße jedoch der Genese gesellschaftlicher Institutionen im zuletzt genannten Sinne. (1) Es entsprach dem Selbstverständnis insbesondere der sogenannten „neoklassischen" Ökonomie, die i n s t i t u t i o n e l l e n Rahm e n b e d i n g u n g e n des wirtschaftlichen Handelns als exogene Daten zu behandeln und in den Zuständigkeitsbereich anderer Sozialwissenschaften zu verweisen. Das Institutionenproblem, das die Wirtschaftswissenschaften in den Bereich der Randbedingungen ihrer theoretischen Erklärungen, also in den „Datenkranz" verwiesen, sollte demnach etwa in den Zuständigkeitsbereich der Soziologie fallen. Dem kam durchaus die von seiten verschiedener Soziologen vertretene Auffassung entgegen, wonach das Institutionenproblem geradezu als Angelpunkt des theoretischen Autonomieanspruchs der sich von Philosophie und Psychologie emanzipierenden Soziologie anzusehen sei. Emile Dürkheim erklärte so etwa in den „ R e g e l n der so-

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht z i o l o g i s c h e n M e t h o d e " : „die Soziologie kann ... definiert werden als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart" 53 . Gegenüber derartigen Revieransprüchen sei auf die ältere institutionalistische Schule in den Wirtschaftswissenschaften hingewiesen, wie sie exemplarisch von Thorstein B. Vehlen um die Jahrhundertwende und in den Dreißiger) ahren von John R. Commons, Wesley C. Mitchell und John M. Clark repräsentiert wird. Diese vertraten die Auffassung, daß die übliche ökonomische Analyse dem spezifisch sozialen Charakter ihres Gegenstandsbereichs nicht angemessen sei. Wirtschaft sei als soziales Subsystem anzusehen, dessen Zusammenspiel mit anderen Teilsystemen des Gesellschaftsganzen zu analysieren sei; dieser Tatsache entspreche es, der heuristisch unfruchtbaren Ansicht entgegenzutreten, wonach Spezialisierung und Ablehnung interdisziplinärer Gegenstandsbetrachtung die Voraussetzung für die Effizienz der Sozialforschung darstelle. Auch in der jüngeren Vergangenheit haben sich nach Art der früheren Dissidentenschule der Institutionalisten einige den anderen Sozialwissenschaften gegenüber aufgeschlossene Wirtschaftswissenschaftler kritisch mit dem Versagen der orthodoxen Wirtschaftswissenschaften beschäftigt und dabei vor allem ihr Interesse für Fragen der Sozialstrukturanalyse, der Machtund Gewaltbeziehungen, der Kultur, der Bevölkerungsentwicklung sowie der ökologischen Verhältnisse deutlich zum Ausdruck gebracht. Unter den als N e o - I n s t i t u t i o n a l i s t e n etikettierten Wirtschaftswissenschaftlern figurieren dabei an herausragender Stelle John K. Galbraith, Gunnar Myrdal, Clarence Ayres, Adolph Löwe und François Perroux 54 . Die Berücksichtigung außerökonomischer gesellschaftlicher Subsysteme und institutioneller Regelungen durch die Wirtschaftswissenschaften, wie sie insbesondere schon in Vehlens „ T h e o r y o f B u s i n e s s E n t e r p r i s e " aus dem Jahre 1904 entwickelt worden ist, fand ihre methodisch klarste Darstellung bei Gunnar Myrdal 55 . (2) Im folgenden sei auf jene genetischen Analysen Bezug genommen, die sich mit der Entstehung von Institutionen beschäftigen und diese als Ergebnis m e n s c h l i c h e n H a n d e l n s zu erklären versuchen. Hier ist ein Blick auf die jüngere Ökonomik von großem Nutzen. Dabei wären vor allem der sogenannte „ P r o p e r t y - R i g h t s 53 D ü r k h e i m 1976, S. 100. 54 Vgl. G r u c h y 1972, Vorwort; vgl. ferner in diesem Zusammenhang K a p p 1976 und G ä f g e n 1977. 55 Vgl. M y r d a l 1957 sowie M y r d a l 1975; vgl. dazu auch K a p p 1976, v. a. S. 216-228.

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Ansatz" zu nennen sowie die Forschungsrichtung des „ P u b l i c C h o i c e welche im deutschen Sprachraum unter anderem auch als „Neue Politische Ökonomie" figuriert. In beiden Fällen wird der Versuch unternommen, den ökonomischen Denkansatz auch auf den institutionellen Rahmen anzuwenden, den die orthodoxe Neoklassik, wie schon erwähnt, in den Bereich des „Datenkranzes" verwiesen hat. Es ist an dieser Stelle abermals auf etwas Bezug zu nehmen, das bereits im ersten Kapitel dieser Abhandlung erörtert wurde: auf die Doppelung des Begriffs der Institution, je nachdem, ob man normative Verhaltensstrukturen oder organisierte Vereinigungen im Blick hat. Im Sinne der einen Bedeutungsvariante wird der Institutionenbegriff als Bezeichnung für Komplexe von normativen Regelungen verwendet; im Sinne der zweiten Bedeutungsvariante dient er als Bezeichnung für kollektive Handlungseinheiten. Geht es im erstgenannten Fall um die Ordnung der zwischenmenschlichen Verkehrsformen, die etwa als Recht, Eigentum oder Macht eine Rolle spielen, so stehen für die zweite Bedeutungsvariante des Institutionenbegriffs Organisationen wie Staat, Partei, Unternehmen usw. Viktor Vanberg hat in einer sehr instruktiven Analyse individualistischer Ansätze zu einer Theorie der Entstehung und Entwicklung von Institutionen darauf hingewiesen, daß es vielen einschlägigen Erklärungsversuchen daran gebricht, nicht hinreichend zwischen Institution als n o r m a t i v e m M u s t e r und Institution als k o r p o r a t i v e m G e b i l d e zu unterscheiden. Vanberg argumentiert unter ausführlicher Berücksichtigung dogmengeschichtlich bedeutsamen Materials, daß der „ökonomische Ansatz" in der Gesellschaftstheorie typischerweise eine individualistisch- e v o l u t i o n i s t i s c h e Sicht sozialer Institutionen betont hat, die eher der genetischen Erklärung sozialer Normen als der genetischen Erklärung korporativer Gebilde dienlich war. Diese evolutionistische Sicht wurde vor allem in der Nachfolge der schottischen Moralphilosophen - von David Hume über Adam Ferguson zu Adam Smith - von Carl Menger vertreten und wird in der Gegenwart exemplarisch von Friedrich A. Hayek weiterentwickelt. Sie besagt, daß soziale Strukturen als nicht-intendiertes Resultat der spontanen wechselseitigen Anpassung eigeninteressierter individueller Bestrebungen erklärt werden können. Der Prozeß der Institutionenbildung wird in Analogie zum Prozeß der Preisbildung auf dem Markt interpretiert, welche Interpretation zwar geeignet ist, wesentliche Aspekte der Entwicklung von Normen zu erklären, offensichtlich jedoch nicht jene Prozesse, welche die Entstehung und Entwicklung von korporativen Gebilden bestimmen. Bezüglich der Erklärung jenes kor-

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht porativen Handelns, das die Entstehung und Entwicklung von Institutionen im Sinne von Organisationen bestimmt, findet man in der V e r t r a g s t h e o r i e bedeutsame erklärungskräftige Elemente. Was korporative Gebilde angelangt, so ist in ihrem Fall eine Erklärung mittels der „unsichtbaren Hand" augenscheinlich nicht sehr plausibel: „Sicherlich spielen auch bei ihrer Entstehung und Entwicklung u n i n t e n d i e r t e Handlungsfolgen eine mehr oder minder bedeutsame Rolle. Ihr K o n s t i t u t i o n s p r i n z i p liegt aber gerade nicht darin, daß aus der separaten Interessenverfolgung individueller Akteure - .mittels der unsichtbaren Hand' - ein unbeabsichtigtes soziales Gesamtresultat hervorgeht, sondern vielmehr darin, daß mehrere Individuen zu o r ganisiertem, planvoll koordiniertem Handeln verbunden sind. Auch hier verfolgen die einzelnen Akteure natürlich ihre e i g e n e n Interessen, aber die Bedingungen, unter denen sie dies tun, sind andere: nicht die Bedingungen spontaner, wechselseitiger Anpassung, sondern die Bedingungen o r g a n i s i e r t e n , korpor a t i v e n Handelns 56 . Im Sinne der hier wiedergegebenen Ansicht Vanbergs sollte eigentlich kein Grund bestehen, den individualistisch-kontrakttheoretischen und den individualistisch-evolutionistischen Ansatz als einander ausschließende Konzeptionen anzusehen. Vieles spricht für die These, daß eine individualistische Sozialtheorie, die auch auf die Prozesse korporativen Handelns anwendbar sein soll, die evolutionistische Sichtweise um eine Perspektive ergänzen muß, die gewisse Elemente des vertragstheoretischen Denkens aufgreift. Als wesentlicher Beitrag des „ P u b l i c - C h o i c e-Ansatzes" (der „Neuen Politischen Ökonomie") ist die Tatsache zu werten, daß sie dies tut und damit den herkömmlichen individualistischen Ansatz zu einer Theorie sozialer Institutionen in der Weise entwickelt, daß die individualistisch-evolutionistische und die individualistisch-vertragstheoretische Orientierung als zwei komplementäre Ansätze erscheinen. Während also der austausch- und verhaltenstheoretische Ansatz in der Soziologie die Analyse von Institutionen im Sinne von korporativen Gebilden ausklammert und auch der P r o p e r t y - R i g h t s-Ansatz die spezifische Problematik korporativen Handelns kaum thematisiert, behandelt die P u b l i c - C h o i c e-Richtung die spezifische Problematik korporativer Gebilde. Es ist bezeichnend für die veränderte Auffassung bezüglich der Abgrenzung genuiner Forschungsbereiche und Methoden der einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, daß die 56 V a n b e r g 1983, S. 62 f.

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von Mancur Olson, Anthony Downs, James M. Buchanan, Gordon Tullock und anderen vorgelegten Beiträge zu einer Theorie korporativen Handelns auch von Soziologen, die sich dem individualistischen Erkenntnisprogramm verpflichtet fühlen, aufgegriffen und im Sinne klassischer soziologischer Fragestellungen weitergeführt worden sind; exemplarisch wäre in diesem Zusammenhang auf James S. Coleman hinzuweisen 57 . Gehen Vertreter des (methodologischen) I n d i v i d u a l i s m u s im Verlauf ihrer Erklärung von Institutionen vom Handeln der individuellen Akteure aus und werden dabei Institutionen als aggregierte Handlungsergebnisse gedeutet, die sich wiederum zur Gesellschaft „hochaggregieren" lassen, so beschreiten Vertreter des (methodologischen) H o 1 i s m u s den umgekehrten Weg. Sie wollen die Wesenszüge der auf der Meso-Ebene anzusiedelnden Institutionen aus den Eigentümlichkeiten des gesamtgesellschaftlichen Systems heraus verstehen und sodann die Merkmale der individuellen Akteure aus den Eigentümlichkeiten der diese Akteure bestimmenden Institutionen. Wenn man nun jedoch, wie dies im Bereich bestimmter systemtheoretischer Erörterungen konventionellen Stils üblich ist, Gesellschaft insgesamt als Institution höchster Ordnung auffaßt, so verbindet sich die alte klassische Fragestellung der Soziologie nach der gesellschaftlichen Ordnung und ihrem Bestand mit der Frage nach der Persistenz von Institutionen. Antworten auf die Frage, wie man das geordnete Nebeneinander und Miteinander der Menschen erklären kann, gibt es zahlreiche. Im folgenden seien die wichtigsten schlagwortartig gekennzeichnet. (a) Dem sogenannten a n t h r o p o l o g i s c h e n M o d e l l entspricht es, die Idee der Ordnung als angeborene Eigenschaft dem Menschen zuzuschreiben. Es wird behauptet, daß diesem eine Neigung zu regelgebundenem Handeln von Natur aus entspricht, da die Mängelnatur des Menschen diesen zu einer institutionellen Humanisierung veranlasse. (b) Dem m a k r o - f u n k t i o n a l i s t i s c h e n M o d e l l ist eine phylogenetische Betrachtungsweise eigentümlich: nur solche Gesellschaften konnten überleben, die im Selektionsprozeß die Idee einer sozialintegrativen Ordnung entwickelt und verwirklicht haben. Dieses Modell ist von der - etwa von Malinowski vertretenen - mikrofunktionalistischen Orientierung zu unterscheiden, derzufolge Institutionen Reaktionen auf nicht befriedigte Bedürfnisse darstellen. 57 Vgl. etwa C o l e m a n

1979.

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht (c) Vertreter des u t i l i t a r i s t i s c h e n M o d e l l s gehen davon aus, daß Individuen eigennützig in freie Tauschbeziehungen treten, und daß in der Folge auf höherer Ebene unbeabsichtigt, im Spiel von Kraft und Gegenkraft, eine Ordnung geschaffen wird 58 . Besonderes Gewicht wird dabei auf gleichgewichtssichernde Verhaltensregelmäßigkeiten auf der Grundlage von Nutzenerwägungen rationaler Akteure gelegt59. (d) Das V e r t r a g s m o d e l l unterstellt, daß Menschen aus der Uberzeugung heraus, regelloses Dasein führe zu chaotischen Verhältnissen, eine Art Vertrag schließen, dessen Regeln sie sich kraft Einsicht unterwerfen. Vertragstheoretischen Ansätzen liegt dabei sehr häufig eine Sozialontologie zugrunde, welche von einem als normativ verbindlich angesehenen - gelegentlich als fiktiv, gelegentlich aber auch als real aufgefaßten - Urzustand ausgeht. (e) Die Antwort von Vertretern des M a c h t m o d e l l s auf die Frage danach, wie gesellschaftliche Ordnung möglich ist, nimmt auf wodurch auch immer bedingte - Machtinteressen von Individuen und Gruppen Bezug, wobei anderen ein Regelsystem aufgezwungen wird, welches dann für alle als verbindlich erklärt wird. Es ist eine grundsätzliche Frage, welchen forschungspragmatischen Sinn es überhaupt hat, G e s e l l s c h a f t e n als Institutionen verstehen zu wollen. Der Begriff der Institution verliert auf diese Weise jede umfängliche Bestimmtheit und extentionale Abgrenzbarkeit. Daß allerdings gesamtgesellschaftliche Analysen auch für die Erörterung der Struktur, der Funktion und der Genese von Institutionen, die innerhalb von Gesamtgesellschaften zu liegen kommen, unverzichtbar ist, kann unschwer einsichtig gemacht werden. In dieser Hinsicht sind die Befunde der verschiedenartigen Vertreter des methodologischen Holismus nach wie vor unverzichtbar. Abschließend aber noch einige Worte zur fortschreitenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Institutionen.

SCHLUSSBEMERKUNGEN

Menschliche Gesellschaften zeigen die Tendenz, immer komplexer und vielfältiger zu werden, wie uns die vergleichende Geschichtswissenschaft lehrt. Vor allem in der europäischen Geschichte ist seit 58 Vgl. dazu als Darstellung der angeführten Positionen W i s w e d e 1985, S. 193 bis 202. 59 Vgl. dazu exemplarisch V o s s 1985.

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dem Spätmittelalter insofern eine Komplexitätssteigerung nachzuweisen, als immer differenziertere und spezialisiertere institutionelle Bereiche geschaffen wurden. Politische, ökonomische, religiöse und künstlerische Funktionen, welche hier nur exemplarisch genannt seien, wurden in voneinander weitgehend unabhängigen normativen Regelungen und korrespondierenden formalen Organisationen institutionalisiert: Staat, Markt, Kirchen, Kunstakademien usw. formierten sich und entwickelten aus sich heraus in vielen Fällen eine gewisse „Eigenlogik", deren Konsequenzen nicht mehr in einem übergreifenden System einer einheitlichen normativen Verhaltensstruktur zur Deckung gebracht werden konnten. Weitere institutionelle Bereiche sind hinzugekommen, wie das Wissenschaftssystem, das Gesundheitssystem, aber auch transnational orientierte Institutionen, die weitgehend auf die Anerkennung ihrer normativen Autonomie Anspruch erhoben haben. Dazu kommt, daß noch in vielen Fällen innerhalb eines jeden dieser institutionalisierten Teilbereiche moderner Gesellschaften konkurrierende normative Auffassungen entstanden sind, so daß sich die moderne Kultur als Inbegriff der verschiedenen institutionalisierten Sinnsysteme und als ein „pluralistisches" Gemenge unterschiedlichster normativer Ordnungen und organisatorischer Einrichtungen beschreiben läßt. Wie bereits die Soziologen des 19. Jahrhunderts erkannt haben, wäre es ein Mißverständnis anzunehmen, daß dieser kulturellen und funktionalen Differenzierung sowie der gleichzeitig erfolgenden strukturellorganisatorischen Ausgestaltung gesellschaftlicher Subsysteme ausschließlich zentrifugale Tendenzen entsprechen würden. Man würde dabei die integrativen Tendenzen übersehen, wie sie mit den verschiedenen Prozessen der funktional-strukturellen Differenzierung verknüpft sind. Gerade infolge der weitgehenden Verselbständigung der institutionellen Teilordnungen kommt es mitunter zu Spannungen und Konflikten von letztlich für das gesellschaftliche Gesamtsystem integrativer Wirkung. Denn diese verschiedenen Teilordnungen üben ständig einen wechselseitigen Anpassungsdruck aufeinander aus, der wiederum zu internen Veränderungen in ihnen und zu einer weiteren Entwicklungsdynamik führt. Auf diese Weise haben, wie jüngst FranzXaver Kaufmann feststellte, moderne Gesellschaften eine neue Form der Stabilität gewonnen, die man am ehesten als ein s p a n n u n g s reiches Gleichgewicht unterschiedlicher Entw i c k l u n g s t e n d e n z e n beschreiben kann: „Die Vorstellung einer ganzheitlichen, im Kern unwandelbaren Ordnung ist diesem Gesellschaftszustand in keiner Weise mehr angemessen. Aus diesem

Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht Grunde werden auch alle ,Einheitsideologien' immer unglaubwürdiger, die erfahrbare Welt ist zu komplex geworden als daß sie sich noch aus einer einzigen Perspektive begreifen ließe" 60 . Die Vielfalt der institutionellen Differenzierungen wirft unter anderem auch die Frage auf, ob es ratsam ist, die einzelnen normativen Verhaltensstrukturen und organisierten Vereinigungen einer einheitlichen genetischen Erklärung zuführen zu wollen. Es kann durchaus sein, daß etwa der Pluralität an Organisationsformen auch eine Pluralität an Erklärungsmustern entspricht. Die einschlägigen Rekonstruktionsbemühungen der historischen Soziologie haben noch nicht ein solches Niveau erreicht, daß man schon exakte Aussagen in dieser Sache formulieren könnte. In einer Hinsicht besteht allerdings weitgehende Ubereinstimmung unter den Institutionentheoretikern: daß unsere Bemühungen um mehr Schutz und Sicherheit mit einer gewissen Zwangsläufigkeit mit mehr Komplexität auf der Organisationsebene verbunden sind. In der Folge stellen sich größere Orientierungsschwierigkeiten und neue damit verbundene Formen der Verunsicherung ein. Gerade diese Tendenz generiert wiederum ein Streben nach Herstellung von Sinnzusammenhängen zur Ermöglichung gemeinsamen Handelns. Angesichts einer sie mitunter überfordernden Pluralität von Institutionen, damit verknüpften normativen Erwartungen und sozialen Rollenmustern machen sich die Menschen periodisch auf die „Suche nach der verlorenen Ganzheit". Der Rekonstruktion des Differenzierungsprozesses trägt dabei das Schlagwort der „Evolution", dem Streben nach Selbstfindung das von der „Identität" Rechnung. Die Art und Weise, wie Angst und Sicherheit auch zum Thema der Institutionentheorie geworden sind, und wie im einzelnen der Verlust einheitlicher Handlungsorientierungen die existenzielle Ungesichertheit des modernen Menschen thematisch werden läßt, wären lohnende Themen einer eigenen philosophisch-sozialpsychologischen Erörterung.

60 K a u f m a n n 1987, S. 45.

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KRITERIEN FÜR ENTSTEHUNG UND WANDEL SOZIALER INSTITUTIONEN IMPLIKATIONEN EINES AXIOMATISCHEN MODELLS WOLFGANG BALZER* I. EINLEITUNG Ein Grundproblem für das Verständnis von Gesellschaft war und ist die begriffliche Charakterisierung sozialer Institutionen, die sich trotz ihrer offensichtlichen Wichtigkeit immer noch in einem sehr unbefriedigenden Stadium befindet 1 . Zwar hat der Begriff der Institution in F o r m verschiedener sehr klarer und allgemein akzeptierter Beispiele, von Orden, Universitäten, Kirchen und verschiedenen konkreten Staatsgebilden, eine gute empirische Grundlage. Aber sowohl aus der Sicht des mit Institutionen befaßten Fachwissenschaftlers, als auch noch mehr aus der Sicht des Historikers scheinen solche Institutionen bei näherer Betrachtung mehr und mehr zu zerfließen. Die pausenlose und vielfältige Änderung im Laufe der Zeit läßt die Frage berechtigt erscheinen, ob es überhaupt eine feste, identische Struktur gibt, die sich verändert, oder ob man es nicht vielmehr mit einer Vielzahl verschiedener, einander ablösender sozialer Strukturen zu tun habe. Zumindest scheint nicht klar, worin eine der Veränderung zugrundeliegende Identität, wie sie durch die Redeweise von einer sich wandelnden Institution suggeriert wird, bestehen könnte. Eng verknüpft mit der Charakterisierung sozialer Institutionen ist die Frage nach deren Entstehung. Denn nur, wenn man ein klares Bild von der Entstehung hat, kann man „bloße" Veränderung „derselben" Institution von einem Ubergang unterscheiden, bei dem die alte Institution sich auflöst und eine neue an deren Stelle tritt. Zur sauberen Trennung beider Arten von Übergängen brauchen wir auch eine Klassifikation * Ich bin Gert Melville für Kommentare und wertvolle Anregungen zu Dank verpflichtet. 1 Einen Uberblick über neuere Literatur bietet: W. R. S c o t t , Organizations: Rational, Natural, and O p e n Systems (Englewood Cliffs, N . J.; 1981). Für spieltheoretische Ansätze vergleiche M. T a y l o r , Anarchy and Cooperation (London, 1976), sowie A. S c h o t t e r , The Economic Theory of Social Institutions (Cambridge, 1981). Weitere Literatur findet sich in K. A c h a m s Beitrag zu diesem Band.

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z u l ä s s i g e r Änderungstypen, bei denen die Identität der Institution erhalten bleibt - im Gegensatz zu solchen, bei denen die Identität verlorengeht und also eine neue Institution entsteht. Damit haben wir drei grundlegende Probleme vor uns, die zur Charakterisierung sozialer Institutionen gelöst werden müssen: 1) begriffliche Erfassung und Definition der für soziale Institutionen typischen i n n e r e n S t r u k t u r , 2) Entwicklung eines Modells der Entstehung von Institutionen, und 3) Klassifikation der Änderungstypen und hier insbesondere Unterscheidung i d e n t i t ä t s e r h a l t e n d e r Anderungstypen von identitätszerstörenden. Die vorliegende Arbeit trägt zur begrifflichen, theoretischen Lösung dieser Probleme bei. Wir führen abstrakte Modelle der inneren Struktur von Institutionen ein und wir geben Kriterien für die Entstehung und Veränderung von Institutionen an. Diese begriffliche Analyse ist zwar durch Beispiele angeregt, erhebt aber keinen unmittelbaren empirischen Anspruch auf Bestätigung oder Prognose. Hierzu fehlt im Moment einfach das Datenmaterial, das durch historische und historiographische Studien erst noch zusammenzutragen ist. Der Leser wird in unserem Modell viele Züge vertrauter Konzeptionen von Institutionen wiedererkennen2, mit einer Ausnahme: Unser Modell enthält keinen expliziten Bezug auf die funktionalistische Sichtweise, nach der Institutionen durch Bezug auf ihre F.unktion in der Gesellschaft verstanden und erklärt werden sollen3. Dies hat seine guten Gründe. Erstens kommt es häufig vor, daß eine Institution im Laufe ihres „Lebens" nacheinander verschiedene Funktionen wahrnimmt (wie die religiösen Orden, oder die Universitäten). Zweitens ist die Beschreibung der Funktion oft schwieriger als die der in Abschnitt II zu schildernden inneren Struktur. Funktion liefert also weder eine allgemeine notwendige Bedingung, noch kann sie als einfaches Indiz dienen. Drittens ist festzustellen, daß wir in den Abschnitten III und IV auf die Funktion einer Institution zurückgreifen werden, nämlich wenn es um die Überlebensfähigkeit geht. Insofern beinhaltet unser Modell auch Aspekte des Funktionalismus, wenn auch nur in impliziter Form und sicher nicht, wie im Funktionalismus selbst, als Grundelement. Sowohl aus Platzgründen, aber auch aus Mangel an historischer Kompetenz können wir nicht im Detail auf historische Beispiele für 2 Vgl. S c o t t sowie den Beitrag von A c h a m in diesem Band. 3 Paradigmatisch hierzu T. P a r s o n s , The Social System (Glencoe, III., 1951).

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unser Modell eingehen. Wir meinen jedoch, daß es sich gerade an historischen Beispielen, und hier vor allem solchen aus dem Bereich der Mediävistik, bewähren wird und hoffen, daß eine allgemeine Theorie der vorgelegten Art geeignet ist, das Zusammenspiel zwischen historischer und soziologisch-sozialphilosophischer Forschung anzuregen. Daß gerade Beispiele im Bereich der Mediävistik besonders geeignet sind, hat folgende Gründe. Erstens liegt das Mittelalter so weit zurück und ist so verschieden von den heutigen Lebensverhältnissen, daß die Gefahr ideologischer Einflüsse grundsätzlich vernachlässigt werden kann. Zweitens ändern sich die untersuchten Systeme nicht mehr, und es gibt nur geringes Interesse an einer aktiven Manipulation der Quellen. Drittens liegen doch recht gute Quellen vor, wenn auch die Mittel zu deren Nutzung noch beträchtlich vermehrt werden könnten 4 . Viertens sind eine Vielzahl interessanter Institutionen im Mittelalter neu ins Leben getreten, so daß sich ihre Entstehung gut studieren läßt. Insbesondere finden sich hier einige Vorläufer von Institutionen, wie z. B. die Gesellengilden, die für das Verständnis moderner Gesellschaften wichtig sind. Schließlich sind die mittelalterlichen Institutionen zwar nicht absolut, aber doch, im Vergleich zu heutigen Institutionen, ziemlich einfach. Wir werden, ausgehend von unserer Arbeit 5 „A Basic Model for Social Institutions", in Abschnitt II ein allgemeines Modell für soziale Institutionen beschreiben, das nach unserer Meinung die wesentlichen Komponenten und somit die allgemeine Struktur sozialer Institutionen erfaßt. In Abschnitten III und IV dient dieses Modell als identitätsstiftende Grundlage für Überlegungen zur Entstehung und Veränderung von Institutionen.

II. DIE SYNCHRONE STRUKTUR VON INSTITUTIONEN Wir beginnen mit der Beschreibung eines allgemeinen, im wesentlichen statischen Modells, nach dem eine soziale Institution aus vier Hauptkomponenten besteht. Für Details, die wir hier aus Platzgründen nicht ansprechen, muß auf unsere oben genannte Arbeit verwiesen 4 Als exemplarische Arbeiten, in denen solche Quellen aufgearbeitet wurden, seien hier genannt: E. L e R o y L a d u r i e , Montaillou (Frankfurt a. M./Berlin, 1989) und W. R e i n i n g h a u s , D i e Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter (Wiesbaden, 1981). 5 W. B a 1 z e r, A Basic Model for Social Institutions, in: Journal of Mathematical Sociology 16 (1990), S. 1-29.

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werden. Um die Darstellung konkreter zu gestalten, beziehen wir uns auf ein idealtypisches Beispiel, das sich gewiß durch viele Daten über reale Systeme dieser Art mit Details füllen läßt. Betrachten wir ein kleines Kloster mit einem Abt (dem weitere führende Amtsträger [oboedentiarii] - wie Prior, Subprior, Camerarius, Cellerarius, etc. - zur Seite stehen), einer Gruppe von Mönchen, sowie einigen weltlichen Knechten6. Die drei genannten Personengruppen lassen sich nicht nur begrifflich, sondern auch operational klar unterscheiden, wenn man auf die Arten von Handlungen Bezug nimmt, die ihre Mitglieder typischerweise ausführen. Zwar können einzelne Handlungen durchaus von Personen aus verschiedenen Gruppen ausgeführt werden, wie etwa das Beten, aber es gibt bestimmte Handlungsmuster oder Mengen von Handlungen, die typisch für die einzelnen Gruppen sind. Zu den charakteristischen Handlungen der Gruppe des Abtes und der oboedentiarii gehört u. a. das Verhängen von Strafen und das Erteilen von Anordnungen, zu denen der Gruppe der Mönche z. B. das gemeinsame Einnehmen der Mahlzeiten oder das Schlafen in bestimmten Formen, zu denen der dritten Gruppe (der Knechte) gehören weltliche Verhaltensweisen (wie etwa Leben außerhalb der Klausur), die den Mönchen verboten sind. Weiter kann man sagen, daß die Gruppe des Abtes und der oboedentiarii höheren Status als die zweite der „einfachen" Mönche" hat, und die zweite (und damit auch die erste) höheren Status als die dritte. Eine abstrakte Analyse setzt dementsprechend bei den in der Institution vorkommenden G r u p p e n an, die durch eine S t a t u s r e l a t i o n hierarchisch geordnet sind. Zu jeder Gruppe gibt es eine M e n g e von H a n d l u n g s t y p e n , die für die Gruppe c h a r a k t e r i s t i s c h 6 Anstelle der Knechte könnten wir - mit einigen Modifikationen im Detail - auch eine Gruppe von Konversen betrachten, wie es sie etwa bei den Cisterziensern gab. U b e r Klöster liegen reichlich Daten vor, so daß eine Illustration nicht schwer fallen dürfte. Vgl. z. B. die Uberblicke von D . K n o w 1 e s , Christian Monasticism (London, 1969): J. W o 11 a s c h , Mönchtum des Mittelalters zwischen Kirche und Welt, (München, 1973); J. H o u r 1 i e r , L'âge classique ( 1 1 4 0 - 1 3 7 8 ) . Les religieux. ( = Histoire du Droit et des Institutions de l'Eglise en Occident 10, Solesme, 1974), S. 3 7 5 ff.; L . M o u l i n , L a vie quotidienne des religieux au M o y e n Age. X e - X V e siècle (Paris, 1978). Für die hier aufgeworfenen Aspekte liefern besonders einschlägiges Material u. a. K. S c h r e i n e r , Zisterziensisches Mönchtum und soziale Umwelt. Wirtschaftlicher und sozialer Strukturwandel in hoch- und spätmittelalterlichen Zisterzienserkonventen, in: Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit, hrsg. von K. E l m (Köln, 1982), S. 79 ff., sowie dessen Beitrag in diesem Band; F. J. F e i t e n , Herrschaft des Abtes, in: Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen, hrsg. v. F. P r i n z (Stuttgart, 1988), S. 147 ff.; Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen O r denswesen, hrsg. v. K. E l m (Berlin, 1989).

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ist. Dem liegt die (nicht als behavioristisch mißzuverstehende) Vorstellung zugrunde, daß sich die verschiedenen-Gruppen durch typische Handlungsmuster ihrer Mitglieder voneinander unterscheiden lassen. Einzelne Handlungstypen können zwar von Mitgliedern verschiedener Gruppen ausgeführt werden, aber für jede Gruppe existiert eine charakteristische Gesamtmenge an Handlungen (Handlungstypen). Diese vier Begriffe beschreiben die erste Hauptkomponente unseres Modells, die wir als M a k r o s t r u k t u r der Institution bezeichnen. Auf der Ebene der konkreten Handlungen können wir im Beispiel diejenigen real ausgeführten Handlungen zusammenstellen, die über einen gewissen Zeitraum hinweg beobachtet werden und für eine Beschreibung des Klosters relevant sind. Hierzu gehören insbesondere alle Handlungen, die unter die schon genannten Handlungstypen fallen, also z. B. eine Anweisung des Abtes an einen Mönch, die liturgischen Gewohnheiten einzuhalten, oder des Cellerarius an einen Knecht, den Stall zu säubern. Die betrachteten Individuen haben Intentionen, insbesondere zu Handlungen, die andere Personen zu bestimmten anderen Handlungen veranlassen. Zum Beispiel will der Cellerarius, daß ein bestimmter Mönch die Aussaat für das Gemüse vornimmt und intendiert deshalb eine hierauf abzielende Handlung (etwa dem Mönch eine entsprechende Anordnung zu geben). Den Handlungen liegen Annahmen über kausale Zusammenhänge zugrunde. Der Cellerarius glaubt, daß die Aussaat die Ursache des folgenden Sprießens und Wachsens des Gemüses ist, und daß seine Anweisung mindestens teilweise dazu beiträgt, daß der Mönch die Aussaat vornimmt. Die Anweisung selbst ist ein Beispiel von Machtausübung oder Einflußnahme (eines Amtsträgers über einen einfachen Mönch). Macht kann jedoch wechselseitig ausgeübt werden, - etwa, wenn der Mönch Beweise für ein Konkubinat des Abtes oder Priors hat und ihn damit erpreßt, so daß er weniger Arbeit zugeteilt bekommt. Die zweite Hauptkomponente, die M i k r o s t r u k t u r des Modells, erfaßt all diese individuellen Begriffe. Sie enthält neben den I n d i v i d u e n in den Gruppen, samt ihren k o n k r e t e n tatsächlich ausgeführten H a n d l u n g e n Mittel zur Beschreibung der wesentlichen Züge menschlicher Akteure. Speziell werden hier gebraucht die Fähigkeiten des I n t e n d i e r e ns (als einer „höheren" Form des Wollens), des G l a u b e n s (im allgemeinen, nicht religiösen Sinn) und des M a c h t a u s ü b e n s 7 . Glauben geht in die vorliegende Theorie nur 7 D e r hier einschlägige Machtbegriff ist durch T. W a r t e n b e r g , The Forms of Power (Philadelphia, 1990), inspiriert. Es ist zu betonen, daß das Wort „Macht" in unserer Theorie

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ein in Form des Glaubens, daß K a u s a l v e r h ä l t n i s s e vorliegen oder nicht, d. h. daß eine Handlung eine andere kausal verursacht oder kausal beeinflußt. Da man im allgemeinen wenig über vollständige Ursachen weiß und sagen kann, muß man auch partielle Ursachen zulassen8. Konkrete Handlungen sind äußerst facettenreich und streuen weit um jeden Idealtyp. Ihre systematische, theoretische Beschreibung ist daher sehr schwierig und problematisch. Dies überträgt sich auf die Bestimmung von Handlungstypen. Die konkrete Handlung einer Anordnung zum Beispiel kann unendlich viele verschiedene Formen annehmen, von der vollständigen, verbalen Formulierung „Du sollst dies und das tun" bis zum für den uneingeweihten Beobachter nicht erkennbaren unmerklichen Kopfnicken. Ebenso kann die Aufforderung z. B. zum Säubern des Stalls durch eine gewohnheitsmäßig entstandene, gar metaphorische und für den Beobachter unverständliche Weise erfolgen, oder kann das Verbot, das Kloster zu verlassen, etwa mit einem - in seinem Bedeutungsgehalt nur für den Eingeweihten verständlichen - Zitat aus den Psalmen begründet werden 9 . Der Schlüssel zur Systematisierung konkreter Handlungen durch Handlungstypen liegt deshalb im Begriff der G e n i d e n t i t ä t . Handlungstypen sind Klassen von Handlungen, die durch Nachahmung bestimmter Originalhandlungen entstehen. Die Nachahmung kann längere Zeiträume (maximal Jahrtausende) umfassen und viele menschliche Generationen betreffen. Im Klosterbeispiel sind die gemeinsamen Verrichtungen der Mönche von dieser Art. Ihre Lebensweise, die Art, gemeinsam zu beten, zu essen, zu arbeiten, wurde erstmals vom Gründer des entsprechenden Ordens oder dem Verfasser der einschlägigen Regel sowie von dessen Jüngern vorgeführt und dann durch Nachahmung, unter die auch Lehre zu subsumieren ist, weitergegeben und - wenn meist auch unter Modifikationen - fortgeführt. Gleiches gilt für den Handlungstyp des Er-

die Rolle eines technischen Terms spielt, die keine Wertung impliziert. Macht kann sowohl in „positiver" als auch in „negativer" Hinsicht ausgeübt werden. Statt „Macht" könnten wir im Rahmen unserer Theorie auch den blasseren Term „Einfluß" benutzen. 8 Zum Begriff der Kausalität vgl. J. L. M a c k i e, The Cement of the Universe (Oxford, 1974), sowie P. S u p p e s , A Probabilistic Theory of Causality (= Acta Philosophica Fennica, Amsterdam, 1970). 9 Odivi ecclesiam malignantium et cum impiis non sedebo (Ps 25, 5); vgl. für einen beispielhaften historischen Zusammenhang G. M e 1 v i 11 e , Die „Exhortatiunculae" des Girardus de Arvernia an die Cluniazenser. Bilanz im Alltag einer Reformierungsphase, in: Ecclesia et regnum. Festschrift für F.-J. Schmale, hrsg. v. D. B e r g/H.-W. G o e t z (Bochum, 1989), S. 202-234, Zitatverwendung 212.

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teilens von Anordnungen. Auch diese Art von Handlungen hat der Abt von seinem Vorgänger oder einem anderen Vorbild gelernt; sie läßt sich mühelos zurückverfolgen bis zum Ordensgründer oder Regelverfasser und von dort sicher noch weiter über Verhaltensweisen der Kirchenoberen bis zum Anordnungsverhalten in antiken und vielleicht sogar prähistorischen Staatsgebilden. Selbst die einfachsten Verrichtungen der Knechte lassen sich so analysieren. Das Säubern eines Stalles ist keine angeborene Verhaltensweise, es wird gelernt und läßt sich zurückverfolgen bis zur „Erfinderin des Stalls", die erstmals eine Säuberung durchführen mußte. Die so exemplifizierte Genidentität von Handlungstypen läßt sich abstrakt fassen durch Bezug auf eine Q u e l l e , d. h. eine Menge von historisch erstmaligen Originalhandlungen, und eine Relation der N a c h a h m u n g . Wir nehmen an, daß für jeden Handlungstyp eine entsprechende Quelle und eine Nachahmungsrelation existiert, so daß sich der Typ als eine Menge von Handlungen verstehen läßt, die alle Nachahmungen von Quellenhandlungen sind. Ganz entsprechend lassen sich die Personengruppen als genidentische Entitäten auffassen. Zu jeder Gruppe gibt es eine Menge von G r ü n d e r n und eine Relation der I n i t i a t i o n , so daß jedes Gruppenmitglied durch eine Kette von Initiationen auf ein Gründungsmitglied zurückverfolgt werden kann. Im Beispiel sind die Gründer für die Gruppe des Abtes und seiner Helfer die Ordensgründer, Initiation besteht für diese Gruppe in der förmlichen Einsetzung als neuer Abt. Die Gründer für die Gruppe der „einfachen" Mönche sind die Jünger des Ordensgründers, die dieser ursprünglich zum Mönchsleben bekehrt hat, Initiation besteht in der formalen Aufnahme in die Klostergemeinschaft. Die Gründermenge für die Gruppe der Stallknechte ist schwieriger zu fassen und, da solche Helfer ursprünglich nicht vorgesehen waren, auch nicht innerhalb der Institution „Kloster" zu lokalisieren. Es ist wenig wahrscheinlich, daß die ersten Stallsäuberer schon gleichzeitig Knechte waren. Trotzdem erscheint es angemessen, bis zu den ersten Säuberern zurückzugehen, weil spätere echte Knechte oder Sklaven die Handlungsform von jenen übernommen haben. Dies ist mit den bisherigen Annahmen verträglich, denn wir fordern nicht, daß die Gründer für einen Handlungstyp eine ähnliche Gruppe bilden wie die, zu deren Charakteristika der Typ in einer späteren Institution gehört. Die Gründer für den Handlungstyp des Stallsäuberns, der im Beispiel für die Knechte charakteristisch sein mag, brauchen selbst keine Knechte gewesen zu sein. Auch die Initiationsrelation ist in diesem Fall schwierig, sie besteht im wesentlichen in Nachahmung, jedoch muß dabei

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der Nachahmer in einer ähnlichen sozialen Stellung sein wie sein „Vorbild". Ein Handlungstyp zusammen mit seiner Quelle und Nachahmungsrelation und eine Gruppe von Individuen, die Handlungen dieses Typs ausführen, zusammen mit zugehörigen Gründern und Initiationsrelation bilden eine s o z i a l e P r a x i s 10 . Unter diesen Begriff fallen alle tradierten, regelmäßigen Handlungen, die in bestimmten Personengruppen ausgeführt werden, insbesondere alle Riten 11 . Soziale Praktiken haben in der Regel eine erhebliche zeitliche Tiefe. Sie werden in unserer Theorie zur Bestimmung der Gruppen und Handlungstypen verwendet. Dazu brauchen wir für jede Gruppe der Institution und für jeden für diese Gruppe charakteristischen Handlungstyp 12 eine zugehörige soziale Praxis, die die Gruppe und den Typ stiftet, also jedenfalls, soviel sich schon jetzt sagen läßt, eine ganz erhebliche Menge an sozialen Praktiken. Die Menge all dieser Praktiken macht die dritte Hauptkomponente unseres Modells aus. Schließlich sind im Beispiel viele Verhaltensformen verbalisierbar. Viele solcher Formen sind in der Regel, der die Mönche bei Eintritt zustimmen, schriftlich fixiert. Weiter enthält die Sprache der Personen Wörter für Anordnen, Beten, gemeinsam Essen, Stallsäubern, für die verschiedenen Gruppen (Abt, Mönch, Knecht), sowie Ausdrucksmöglichkeiten für das, was eine charakteristische Handlungsweise ist („Es steht dem Abt zu, Anordnungen zu treffen", „Gott hat den Knecht zum Stallsäubern bestimmt" etc.). Die Sprache ist jedoch nicht für alle Gruppen gleich. Der Abt und gewöhnlich auch die Mönche können lateinisch lesen und schreiben, während die Knechte andererseits etwa vulgäre Ausdrücke benutzen können. Allgemein reden wir von der i n t e l l e k t u e l l e n Struktur eines jeden Individuums, in der Personen, Gruppen, Handlungstypen, aber auch komplexere Dinge wie charakteristische Handlungen, Intentionen oder Kausalbeziehungen intellektuell r e p r ä s e n t i e r t 1 3 sind. Diese Repräsentation kann auch in nichtverbaler Weise vorliegen, einfach als Disposition von Gruppenmitgliedern, in bestimmter, für die 10 Vgl. B a 1 z e r (wie Anm. 5), See. 3. 11 Unsere Modellierung ist hier stark beeinflußt von frühen soziologischen Arbeiten wie z. B. E. D ü r k h e i m , Les Formes Élémentaires de la Vie Religieuse (Paris, 1968), und M. M a u s s , Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: M. M a u s s: Soziologie und Anthropologie, Bd. II (Frankfurt a. M., 1978). 12 Mit einem für die Gruppe charakteristischen Handlungstyp ist hier ein Typ gemeint, der in der für diese Gruppe charakteristischen Menge von Handlungstypen vorkommt.

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Gruppe charakteristischer Weise zu reagieren und zu handeln. Alle intellektuellen Strukturen zusammen bilden die vierte Hauptkomponente des Modells. Die so eingeführten Modellkomponenten bilden das Rohmaterial, aus dem ein Modell aufgebaut ist 14 . Eine beliebig zusammengewürfelte Kombination solcher Komponenten wird jedoch in der Regel kein Modell bilden. Damit ein echtes Modell vorliegt, müssen vielmehr weitere, inhaltliche Hypothesen erfüllt sein, deren Formulierung wir uns nun zuwenden. Wir formulieren unsere Hypothesen als Axiome für einen vorgegebenen Satz von vier Hauptkomponenten. Dazu stellen wir uns die vier Hauptkomponenten in noch unspezifischer Weise gegeben vor in Form von Gruppen, Handlungstypen, charakteristischen Mengen von Handlungstypen, Statusrelationen, Individuen, konkreten Handlungen, Intentionen, Kausalverhältnissen, sozialen Praktiken und intellektuellen Strukturen. All diese Komponenten bilden eine s o z i a l e I n s t i t u t i o n , wenn sie die folgenden Axiome erfüllen 15 . A x i o m 1: Die Statusrelation ordnet die Gruppen in hierarchischer Form, mit genau einer Gruppe von höchstem Status. A x i o m 2: Die Statusrelation ist korreliert mit dem Vorliegen individueller Machtbeziehungen. Genauer: Eine Gruppe G ;: ' hat genau dann höheren Status als eine Gruppe G, wenn die meisten Personen in G : " im untersuchten Zeitraum Macht über Personen aus G ausüben, aber das Umgekehrte nicht gilt. Dabei kann die Machtausübung auch in indirektem Sinn, durch einen Repräsentanten der Gruppe, erfolgen. A x i o m 3: Individuelle Machtausübung wird wie folgt charakterisiert. Eine Person p:;' übt mit Handlung a Macht über Person p aus, wenn sie p dazu bringt, eine Handlung b zu tun, die p zunächst nicht zu tun intendierte, und wenn p oder p:;" glauben, daß Handlung a eine mindestens teilweise Ursache von Handlung b ist. A x i o m 4: Für jede Gruppe und jeden für diese Gruppe charakteristischen Handlungstyp 16 gibt es eine soziale Praxis, die sowohl Gruppe als auch Handlungstyp konstituiert. D. h. jede Handlung dieses 13 Zum Begriff der intellektuellen Struktur und der intellektuellen Repräsentation ist Piagets Werk erhellend, vgl. z. B. J. P i a g e t/B. I n h e 1 d e r , Die Entwicklung der elementaren logischen Strukturen (Düsseldorf, 1973). 14 Genaueres über den hier benutzten Modellbegriff findet man in W. B a 1 z e r/ C. U. M o u l i n e s/J. D. S n e e d , An Architectonic for Science (Dordrecht, 1987), Kap. 1. 15 Für Details vgl. B a 1 z e r (wie Anm. 5). 16 Vgl. Anm. 12.

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Typs läßt sich über eine Nachahmungsrelation auf Quellenhandlungen, und jede Person der Gruppe über eine Initiationskette auf eine Person in der Gründermenge zurückverfolgen. A x i o m 5: Eine Person führt nur solche Handlungen aus, die für eine der Gruppen, zu der sie gehört, charakteristisch sind. A x i o m 6: Die intellektuellen Strukturen aller Mitglieder einer Gruppe sind gleich. Axiom 1 sieht für sich genommen sehr harmlos aus und ist im Beispiel ganz offensichtlich erfüllt. Es wird erst interessant im Zusammenwirken mit Axiom 2, welches in einem schwachen, statistischen Sinn den Statusvergleich von Gruppen auf die individuellen Machtverhältnisse der Gruppenmitglieder zurückführt. Personen aus der Gruppe der leitenden Amtsträger üben oft Macht über Personen der anderen Gruppen aus. Was dies bedeutet, wird genauer in Axiom 3 geregelt. Der Cellerarius übt z. B. Macht über einen Mönch aus, indem er diesen anweist, die Aussaat vorzunehmen. Die Handlung des Cellerarius besteht in der konkreten Erteilung der Anweisung, die dadurch (teilweise) verursachte Handlung des Mönchs in der Aussaat. Machtausübung liegt vor, wenn der Mönch zum Zeitpunkt der Anweisung nicht vorhatte (intendierte), die Aussaat durchzuführen. In ähnlicher Weise übt der Abt in eigener Person oder durch seine Helfer Macht über die Mönche und die Knechte in vielfältiger Weise aus. Er regelt durch seine Anweisungen alle nicht routinemäßigen Verrichtungen, er bestraft Ubertretungen und lenkt die Kontakte mit der Außenwelt. Umgekehrt kann zwar ein Mönch im Einzelfall auch Macht über den Abt oder dessen Helfer ausüben, etwa durch Erpressung oder Drohung oder aufgrund persönlicher Freundschaft. Entscheidend ist aber das quantitative Mißverhältnis: während praktisch alle Mitglieder der Gruppe der leitenden Amtsträger Macht über viele Mitglieder der „unteren" Gruppen ausüben, gibt es nur wenige Mönche und noch weniger Knechte, die Macht über den Abt ausüben. Dieses Mißverhältnis ist im Lichte von Axiom 2 die Basis des Statusvorrangs der Amtsträgergruppe vor der Gruppe der Mönche (und auch vor der der Knechte). Ähnliches gilt, wenn auch weniger ausgeprägt, für das Verhältnis zwischen Mönchen und Knechten. Zahlreiche Mönche können Macht über Knechte ausüben, aber nur kaum ein Knecht über Mönche. Machtausübung beinhaltet gemäß Axiom 3 zwei Personen und zwei Handlungen, die von diesen ausgeführt werden, etwa einen Befehl und eine Ausführung desselben 17 . 17 Man beachte, daß wir nur über die konkrete Machtausübung reden und nicht über

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Die Person, die die Macht ausübt, bezeichnen wir im folgenden als den b e s t i m m e n d e n A k t e u r , die andere Person als den a u s f ü h r e n d e n A k t e u r . Formen der Machtausübung im Sinne von Axiom 3 reichen von „starken" Formen wie Befehl und Gehorsam bis zu so „schwachen" Formen wie Manipulation oder Beeinflussung. Indem wir solch schwache Formen bewußt zulassen, erweitern wir den Anwendungsbereich unseres Modells auch auf ökonomische Institutionen, insbesondere alle Arten heutiger Firmen. Institution wird als soziale Schichtung und diese wiederum als das Ergebnis individueller Machtbeziehungen verstanden. Dies ist der äußerliche oder „oberflächliche" Befund, der sich durch Abstraktion aus dem Studium einer ganzen Reihe von Beispielen ergibt. Man stellt einfach fest, daß bei vielen (wir behaupten: bei allen) Institutionen diese Schichtung und entsprechende Machtverhältnisse vorliegen. Die Existenz einer Gruppe mit maximalem Status bedeutet maximale Macht für deren Mitglieder, d. h. maximale Möglichkeiten und Mittel, andere Personen in der Institution in ihrem Verhalten zu beeinflussen. Axiom 4 gibt dem synchronischen Begriff der sozialen Institutionen eine implizite zeitliche Dimension. Zur Erläuterung sei zunächst betont, daß das Axiom nicht die Gleichheit von Gruppe und Handlungstyp mit einer sozialen Praxis fordert. Betrachten wir als Beispiel die soziale Praxis des Meßopfers. Die Gruppe aller Personen, die das Meßopfer in dem Zeitraum, in dem wir unser Kloster beobachten, praktiziert, ist gewiß viel größer als die Gruppe der Mönche und die Gruppe der Amtsträger im Kloster selbst und entsprechendes gilt für die konkreten Ausführungen der Handlung und damit für den Handlungstyp. Trotzdem kann das Meßopfer als charakteristische Handlung für die Gruppe der Mönche und auch für die der Amtsträger gelten, etwa um diese von den Knechten abzuheben, die nur Teilnehmer, aber nicht Durchführer sind. Axiom 4 beinhaltet in diesem Fall, daß alle Meßopfer-Handlungen der Mönche Nachahmungen ursprünglicher Meßopfer-Handlungen sind, und daß sich alle Mönche durch eine Nachahmungsrelation (wenn auch unter nachträglicher Ausprägung spezifischer Formen) auf geeignete Gründer zurückverfolgen lassen. Als Menge der Gründer bieten sich die ersten Gemeindeführer der Urkirche an, die den Ritus als wichtig für die sich bildende Gruppe praktizierten. Aber auch eine weitere Rückverfolgung in jüdische Gefilde die Disposition des „Macht-habens". Letztere läßt sich in Form von Konditionalsätzen auf Machtausübung zurückführen, p* hat Macht über p, wenn gilt: Wenn p* Handlungen der Art a ausführen würde, so würde p* damit Macht über p ausüben.

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scheint möglich. Das Beispiel zeigt zugleich, wie sich Handlungstypen für verschiedene Gruppen einer Institution überlappen können. Axiom 5 betrifft den handlungsleitenden Charakter einer Institution. Die für eine Gruppe charakteristischen Handlungen und ihre intellektuellen Repräsentationen bilden einen Rahmen, eine „Welt", in der sich deren Mitglieder bewegen. In vielen Institutionen sind weite Bereiche von charakteristischen Handlungen durch die Ordensregel, also eine fixierte Norm, geregelt („institutionalisiert" in einem engeren Sinn). Unsere Theorie setzt aber elementar genug an, um den Rückgriff auf explizite Normen vermeiden zu können. Gehört eine Person nur zu einer einzigen Gruppe, so führt sie nur Handlungen aus, die für diese Gruppe charakteristisch sind. Dieses Axiom ist natürlich statistisch zu verstehen: Ausnahmen bestätigen die Regel. Systematische, statistisch signifikante Ausnahmen werden in einer Institution jedoch nicht geduldet. Eine Person, die systematisch anders handelt, als für ihre Gruppe zulässig, wird entweder ausgestoßen, oder bewirkt eine Änderung der Institution (vgl. Abschnitt IV). Natürlich kann eine Person zu mehreren Gruppen gehören. Ihr Handlungsrahmen erweitert sich dann entsprechend. Axiom 5 entfaltet seine Stärke im Zeitverlauf und in Zusammenhang mit Axiom 6. Wenn wir zunächst annehmen, daß die Erziehung junger Gruppenmitglieder durch ältere Mitglieder derselben Gruppe erfolgt, so legt Axiom 6 nahe, daß die intellektuellen Repräsentationen in der für die Gruppe typischen Ausprägung weitergegeben werden. Die Kinder nehmen die Gruppen, die charakteristischen Handlungen und die Statusrelation der Institution als von Anfang an vorhanden und somit als „natürlich", als normalen Teil ihrer Welt wahr. Diese Dinge finden durch den Lernprozeß quasi automatisch Eingang in die intellektuellen Strukturen der Kinder. Die Kinder wachsen auf in einer Welt, zu deren natürlichen Zügen nicht nur der Wechsel von Tag und Nacht, sondern genauso das Durchführen von Handlungen gewisser Typen gehört 18 . Dieses Bild ändert sich nur unwesentlich, wenn eine professionelle Erziehergruppe auftritt, da diese in der Regel dieselbe intellektuelle Struktur wie die Gruppe hat, deren Kinder sie erzieht. Die Mönche etwa werden in der Regel in jungen Jahren ins Kloster eingeliefert und im wesentlichen dort erzogen. Dabei lernen sie, mindestens in impliziter Weise, daß es für einen Mönch, ein Mitglied der Gruppe der „einfachen" Mönche, gänzlich uncharakteristisch 18 Diese Einsicht entstammt dem sogenannten Konstruktivismus in der Soziologie, nach dem die soziale Welt ein Konstrukt ist. Vgl. etwa P. L. B e r g e r / T . Luckm a n n , The Social Construction of Reality ( N e w Y o r k , 1966).

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(„unerlaubt") ist, die Hand gegen den Abt zu heben und auch ziemlich uncharakteristisch, einen anderen Mönch zu schlagen oder gar zu verprügeln. Dagegen kann es erlaubt sein, dem Knecht einen Nasenstüber zu geben, wenn er nicht richtig arbeitet. So erzogen wird ein Mönch auch drastische Strafen durch den Abt ohne äußeren Widerstand hinnehmen; es liegt jenseits seines Horizontes, seiner „Welt", sich physisch zur Wehr zu setzen. Ganz ähnlich lernt der Knecht von klein auf, daß es Mönche gibt, die ihm und seinesgleichen (Mitgliedern seiner Gruppe) Anweisungen für alltägliche Arbeiten erteilen. Er lernt, daß „man" diese Anweisung zu befolgen hat und befolgt sie dann auch als erwachsener Mensch, ohne auf die Idee zu kommen, man könne eine Anweisung zwar hören, aber einfach ignorieren und zum Beispiel weggehen. Axiome 4 bis 6 geben der in Axiomen 1 bis 3 fixierten, machtbedingten Schichtung der Institution Rückhalt und zeitliche Stabilität, indem sie sie an die intellektuellen Strukturen und die Tradition ankoppeln. Die Schichtung und auch die sie konstituierenden Verhaltensweisen werden in der Tradition verankert und dem Uberbau der Individuen eingeprägt. Im Lernprozeß werden die wichtigen Komponenten der Institution als „natürlich" erlebt und repräsentiert; die Institution wächst über einzelne Individuen hinaus und wird „transpersonal".

III. ENTSTEHUNG VON INSTITUTIONEN Die beschriebene Struktur einer Institution enthält bereits verschiedene Hinweise auf eine echte dynamische Theorie. Wir können nicht behaupten, daß die folgenden Überlegungen eine volle dynamische Theorie von Institutionen ausmachen. Wir geben vielmehr ohne Anspruch auf Vollständigkeit - einige notwendige Bedingungen der Entstehung an. Die schwierigere Frage, ob sich die Zusammenfassung dieser Bedingungen auch als hinreichend erweist, bleibt weiterer Forschung, insbesondere empirischer Erforschung von Beispielen, überlassen. Für die folgenden Überlegungen gehen wir von einem Zustand aus, in dem die betrachtete Institution noch nicht existiert, aber im Entstehen begriffen ist. In den Entstehungsprozeß ist eine Reihe von Personen in aktiver oder auch passiver, jedenfalls aber in relevanter Weise, involviert. Die Menge dieser Personen nennen wir G r ü n d u n g s g r u p p e der Institution. Es handelt sich nicht um eine Gruppe im sozialpsychologischen Sinn, sondern einfach um eine Menge

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von Personen, die von gewissen neuen Handlungsformen betroffen sind. Eine erste notwendige Bedingung zur Entstehung ist in der Makrostruktur von Institutionen angelegt. Es müssen unterscheidbare Gruppen entstehen (mindestens zwei) und die Unterscheidung der Gruppen muß sich durch Verschiedenheit charakteristischer Handlungen, insbesondere von Formen der Machtausübung äußern. Dazu ist es notwendig, daß mindestens eine Person aus dem Rahmen ihrer bisherigen institutionalisierten Handlungen ausbricht 19 und systematisch neue Handlungen durchführt, die nicht zu den charakteristischen Handlungen ihrer Gruppe(n) gehören. Die Person „erfindet" also mindestens einen neuen Handlungstyp. Unter geeigneten Umständen, zu denen noch Näheres zu sagen ist, bildet dieser die Keimzelle eines ganzen Musters von neuen, zum Teil reagierenden Handlungstypen, die von der Person, aber auch von anderen Individuen ausgeübt werden. Alle weiteren Handlungstypen bezeichnen wir als vom ursprünglichen, neuen Handlungstyp v e r u r s a c h t . Auch verursachte Handlungstypen können neu sein, müssen es aber nicht. Unter geeigneten Umständen entstehen so Muster von charakteristischen Handlungen für die Mitglieder der sich neu bildenden Gruppen. Notwendig hierfür ist auf jeden Fall die Entstehung e i n e s neuen Handlungstyps. Nicht jeder Handlungstyp ist geeignet, eine neue Institution hervorzubringen. Eine neue Handlungsform, die andere Personen nicht unmittelbar beeinflußt, wie zum Beispiel der dreifache Rittberger, ist von vornherein kein geeigneter Kandidat für Institutionsgründung. Im Lichte unserer synchronischen Theorie muß der neue Handlungstyp selbst oder einer der durch ihn verursachten Handlungstypen die Machtausübung betreffen. Mit anderen Worten, der neue Typ, oder einer der durch ihn verursachten Typen, stellt eine neue Form der Machtausübung dar, eine neue Form, andere zu Handlungen zu bringen, die sie zunächst nicht zu tun intendierten. Im Fall, daß der neue Handlungstyp selbst keine neue Form der Machtausübung darstellt, und folglich einer der von ihm verursachten Typen die Machtausübung betrifft, können wir weiter gehen und annehmen, daß dieser verursachte Typ neu ist. Eine zweite notwendige Bedingung lautet also, daß der neue Handlungstyp selbst oder aber ein von ihm verursachter neuer Handlungstyp die Ausübung von Macht betrifft. 19 Daß vor der Entstehung einer neuen Institution bereits andere Institutionen vorhanden sind, ist eine durchaus realistische Annahme. Der Fall einer absolut ersten Institution läßt sich als Spezialfall der folgenden Überlegungen ansehen.

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Drittens muß die neue Form der Machtausübung geeignet sein, eine Einteilung der involvierten Individuen in mindestens zwei Gruppen zu stiften, so daß Mitglieder der einen Gruppe Macht in der neuen Form über die Mitglieder der anderen Gruppe ausüben. Der neue Handlungstyp muß also so beschaffen sein, daß er nicht von allen Personen in der Gründergruppe ausgeführt wird. Wenn jedes der ursprünglichen Individuen den neuen Typ von Machtausübung gleichermaßen ausführen würde, wäre diese Bedingung verletzt. In solchen Fällen kommt es auch tatsächlich nicht zur Institutionenbildung. Eine dritte Bedingung besagt also, daß der neue Machttyp nur von ziemlich wenigen Personen in der Gründergruppe ausgeführt wird. Hinreichend für die Erfüllung dieser notwendigen Bedingung ist im Spezialfall, daß der neue Handlungstyp, aus welchen Gründen auch immer, nur von wenigen Personen überhaupt durchgeführt werden kann. Was den Personen „möglich" ist, kann unter anderem auf schon erworbenen Positionen in schon vorhandenen anderen Institutionen beruhen. Eine vierte notwendige Bedingung ist schwieriger zu fassen, da sie im gegenwärtigen Stadium nur in ziemlich abstrakter Weise, nämlich unter Benutzung eines abstrakten Kostenbegriffs, formulierbar ist. Sie lautet, grob gesprochen, daß die Kosten des neuen Typs von Machtausübung für den bestimmenden Akteur (oder die Akteure) aus dessen neuer Rolle, die er in der sich bildenden Institution innehat, bestritten werden können. Zum genaueren Verständnis betrachten wir einen Akteur, der eine neue Form der Machtausübung einführt. Dazu muß er selbst Handlungen ausführen, die Kosten verursachen. Unter Kosten verstehen wir alle Aspekte des Aufwandes, angefangen von finanzieller Belastung bis hin zur Einbuße etwa an „Freizeit" oder an sozialen Beziehungen. Am Anfang bestreitet der Akteur diese Kosten aus seinen eigenen, ihm persönlich zur Verfügung stehenden Mitteln, wobei auch letzterer Begriff sehr weit zu fassen ist. Im weiteren Verlauf muß es aber möglich werden, diese Kosten aus Mitteln zu bestreiten, die ihm als Wirkung der neuen Handlungsform zufließen. Insbesondere muß, wenn eine Institution entsteht, der Mittelzufluß aus der Institution erfolgen. Diese Bedingung ist notwendig, wie man leicht durch Annahme des Gegenteils erkennt. Wäre die Gründung nur aufgrund etwa eines reichen oder mächtigen Akteurs erfolgt, ohne daß eine spätere Kostendeckung seiner Handlungen durch die Institution erfolgen kann, so käme die Institution sofort nach dem Tod des Akteurs in Schwierigkeiten. Dessen Nachahmer („Nachfolger") hätte im allgemeinen nicht die nötigen Mittel, die Handlungen weiter durchzuführen; die Sache stirbt ab. In ökonomischer Terminologie könnte man sagen, daß der

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neue Typ von Machtausübung eine sich selbst tragende Investition darstellen muß. Damit haben wir eine vierte notwendige Bedingung gefunden: Die Kosten der neuen Machthandlungen für die bestimmenden Akteure müssen aus den Folgen dieser Handlungen bestreitbar sein. Es scheint naheliegend, eine ähnliche Bedingung auch auf der Ebene der ausführenden Akteure anzusetzen. Es scheint, als ob auch hier die Kosten der Handlungen für die ausführenden Akteure „niedrig" sein müssen, weil sonst kein Anreiz für sie besteht, „mitzumachen". In manchen Beispielen wird man sogar direkt auf „negative Kosten" der ausführenden Akteure, also auf einen direkten Anreiz, verweisen wollen. Trotzdem kann eine solche Kostenbedingung für die ausführenden Akteure nicht allgemein gelten, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens verkennt die Formulierung in Termini wie „Anreiz" und „mitmachen" den Charakter von Machtbeziehungen. Der Kern von Machtausübung liegt gerade darin, daß ein Widerstand auf der Seite des ausführenden Akteurs zu überwinden ist. Er möchte die von ihm geforderte Handlung zunächst gar nicht ausführen. Wenn er dennoch durch entsprechende Anreize zu dieser Handlung gebracht wird, so tut er diese schließlich „freiwillig" und es liegt keine Machtausübung, sondern ein rationales, ökonomisches Verhalten vor. Zweitens läßt sich bei vielen Institutionen, bei denen im Entstehungsstadium die Kosten für die ausführenden Akteure niedrig sind, im Verlauf der Entwicklung eine ständige, quasi gesetzmäßig verlaufende Erhöhung solcher Kosten bis hin zur Unerträglichkeit beobachten. Drittens lassen sich in Fällen, in denen zunächst alle Beteiligten von einer neuen Institution zu profitieren scheinen, meist Gruppen ausmachen, auf deren Kosten „alle anderen" profitieren. Man hat sich in solchen Fällen daran gewöhnt, diese Gruppe oder Gruppen als für die Institution nicht relevant anzusehen, im Lichte unserer Theorie ergibt sich jedoch eine andere Analyse. Am Beispiel der ersten Banken in Oberitalien wäre eine solche, primär unwichtig erscheinende Gruppe die der um die Städte herum lebenden Bauern 20 . Während die drei angegebenen Gründe lediglich den Charakter von Indizien haben, gibt es schließlich einen handfesten Grund für die Ungültigkeit einer allgemeinen Kostenbedingung auf Seiten der ausführenden Akteure. Er besteht im Hinweis auf reale Gegenbeispiele. Wir finden leicht Gegenbeispiele, wenn wir die Entstehung von Institutionen studieren, bei deren Entstehung andere Institutionen mit20 Vgl. fiir die Gesamtzusammenhànge A. I. P i n i , Città, comuni e corporazioni nel medioevo italiano (Bologna, 1986).

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wirken, die die ausführenden Akteure hinreichend stark und im Sinne der neuen Institution kontrollieren, wie etwa bei der Inquisition 21 . Damit kommen wir zu einer letzten allgemeinen Bedingung, die alle „restlichen" Möglichkeiten abdeckt und die besagt, daß die externen Umstände für die Entstehung günstig sein müssen. Dies kann vielerlei bedeuten und es besteht, wie man aus dem analogen Fall der Evolutionstheorie weiß, wenig Hoffnung, alle hier relevanten Möglichkeiten in naher Zukunft zu systematisieren. Bei der Entstehung „erster" Institutionen, bei der noch keine anderen Institutionen mitwirken, sind externe Bedingungen einfach die ökonomischen, psychologischen und sozialen Faktoren der Gründungsgruppe. In allen anderen Fällen sind die speziellen, schon vorhandenen Institutionen, die die Entstehung beeinflussen, als Teil der externen Bedingungen zu betrachten. Es ist nicht abwegig, zu vermuten, daß manche Institutionen mehrmals in verschiedenen Regionen und verschiedenen Zeiten entstehen und wieder verschwinden 22 . Insgesamt haben wir also fünf notwendige Bedingungen für die Entstehung einer Institution gefunden, die hier nochmals kurz zusammenfassend formuliert seien. 1) Es muß ein neuer Handlungstyp erfunden und systematisch ausgeübt werden. 2) Dieser oder ein von ihm verursachter neuer Handlungstyp muß eine neue Art sein, Macht auszuüben. 3) N u r wenige Personen in der Gründergruppe führen die neue Form der Machtausübung durch. 4) Die Kosten der Machtausübung in dieser neuen Form müssen aus der Position der sie ausübenden Akteure in der neuen Institution gedeckt werden können. 5) Die sonstigen externen Bedingungen müssen günstig sein. Im Klosterbeispiel sind alle Bedingungen schön zu sehen. Die Gründer von Orden erfinden den neuen Handlungstyp des meditativen, asketischen, durch den Gründer als Lehrer angeleiteten Lebens nach ganz bestimmten Regeln und beginnen selbst mit der Durchführung entsprechender Handlungen. Es muß betont werden, daß eine Handlung erstens sehr komplex sein kann („ein Leben gemäß bestimmten Regeln führen"), daß sie in sehr viele verschiedene „Teilhandlungen" zerfallen kann, und daß sie durchaus Handlungen anderer Personen als

21 H. R. T r e v o r - R o p e r , The European Witch-Craze of the 16th and 17th Centuries (Harmondsworth, 3 1984). 22 Dies gilt vielleicht für die frühen Formen des Zusammenlebens am Beginn der Seßhaftigkeit. Für Beispiele aus dem Bereich technischer Erfindung siehe F. B r a u d e 1, The Structure of Everyday Life, vol. I (London, 1985).

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konstitutive Bestandteile haben kann („ich entwässere den Sumpf zusammen mit meinen Mitbrüdern"). D e r neue Handlungstyp kann global als neue F o r m des Zusammenlebens in einer Art von Lehrer-SchülerVerhältnis gesehen werden, und ist natürlich ohne Jünger, die sich anleiten lassen, nicht möglich. Der Einsiedler in der Wüste führt eine Handlung von fundamental anderem T y p aus. Statt eines globalen Handlungstyps können wir auch ein Muster aus verschiedenen, lokaleren Handlungen sehen. Im einzelnen finden wir darin die bekannten Typen des gemeinsamen Gebets, der gemeinsamen Essenseinnahme, der regelmäßigen Arbeit usw., aber auch des Anweisens und Gehorchens. In diesem Beispiel ist leicht zu sehen, wie vor allem die Handlungstypen des Anleitens, Lehrens und Anweisens neue Formen der Machtausübung darstellen, die auf eine kleine G r u p p e (am Anfang praktisch nur aus dem Gründer bestehend) beschränkt sind. Eine Einteilung in zwei Gruppen entsteht so ganz von selbst. Die Kostenbedingung ist problematischer. O f t stellt ein Feudalherr, ein Bischof oder eine Stadt die materiellen Voraussetzungen z u m Bau eines Klosters zur Verfügung. Allerdings sind dies nicht die Kosten, die dem A b t durch die Neugründung entstehen. Seine Kosten sind sehr gering, da die Jünger (in diesem Beispiel) freiwillig und mit Enthusiasmus folgen. Hier sehen wir einen wichtigen externen Faktor vor uns, bestehend in den jenseitsgerichteten religiösen Vorstellungen der mittelalterlichen Menschen. Daneben spielen aber auch andere externe Faktoren eine Rolle, wie Bevölkerungswachstum und zivilisatorische Unterschiede in Missionsgebieten. Die dritte Bedingung wird auch durch Blick auf ein Gegenbeispiel plausibel gemacht, in dem sie nicht erfüllt ist und in dem dann auch keine Institution entsteht. Wenn eine Art von „Ordensgründung" vorsieht, daß jeder in der (nicht zu großen) Gründergruppe für je einen T a g als „ A b t " oder Anführer fungiert, dann wird sich die Gruppe bald wieder auflösen und das gleiche gilt auch dann noch, wenn ein solches Rotationsprinzip in einer „ z u großen" Teilgruppe vorgesehen ist.

IV. VERÄNDERUNG VON INSTITUTIONEN U m das Modell aus Abschnitt II auf die Veränderung von Institutionen anwenden zu können, müssen wir es mit diachronischen Zügen anreichern. Wir führen eine historische Zeito r d n u n g ein, bestehend aus einer Menge von historischen Perioden, die so kurz zu wählen sind, daß in einer Periode die betrachtete In-

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stitution keine nennenswerte Veränderung erfährt, und eine O r d n u n g s r e l a t i o n , die angibt, wann eine Periode später als eine andere ist (wobei Überlappung in Maßen zugelassen wird). Diese Zeitordnung soll nur die Zeit umfassen, in der die betrachtete Institution existiert. Weiter sind die sozialen Praktiken, die bereits im synchronischen Modell weit in die Vergangenheit zurückgreifen, in die historische Zeitordnung „einzupassen". Dazu ist für jedes Individuum eine Menge von Perioden anzugeben, nämlich derjenigen, in denen es aktiv in der Institution wirkt. Für Personen, die zur sozialen Praxis „gehören", aber zu früheren Zeiten lebten, als die Institution noch nicht existierte, wird keine Angabe gemacht. Analog gehen wir bei den Handlungen vor, die zu jeder sozialen Praxis „gehören". Jeder Handlung und auch allen Angaben über die Ausführung von Handlungen wird ein Zeitindex angefügt, der die Periode oder Perioden der Institution angibt, in die die Handlung fällt. Bei Handlungen, die vor der Entstehung der Institution ausgeführt wurden, entfällt die Angabe. Damit hat sich das synchronische Grundmodell aus Abschnitt II nur unwesentlich geändert. Fast alle Teile des Modells sind immer noch zeitunabhängig. Wie kann man mit einem solchen Modell Veränderung beschreiben? Antwort: Nur triviale Formen von Veränderung sind so modellierbar. Interessante Veränderungen einer Institution müssen auch die zentraleren Modellkomponenten betreffen können. Entschließen wir uns allerdings zu einem radikalen Schritt und lassen für alle Modellteile zu, daß sie sich im Laufe der Zeit ändern, so entsteht sofort das Problem, ob wir bei Änderung vieler oder gar aller Komponenten noch von der g l e i c h e n Institution reden dürfen. In der Tat haben wir es bei Änderung aller Komponenten in der Regel nicht mehr mit der gleichen Institution zu tun. Eine nicht-triviale dynamische Institutionentheorie muß hier einen Mittelweg gehen. Dazu müssen wir Klarheit darüber gewinnen, bei welchen der verschiedenen Änderungsmöglichkeiten man sagen kann, man habe hinterher noch die gleiche Institution wie vorher. Im Prinzip müßten wir nun alle Komponenten des Modells einzeln durchgehen und bei jeder Komponente jeweils fragen, ob bei deren Änderung die bestehende Institution zu existieren aufhört und eine neue Institution entsteht. Danach haben wir die gleiche Frage auch für jeweils ganze Gruppen von Modellkomponenten zu prüfen. Aus Platzgründen kann diese Untersuchung hier nicht im Detail erfolgen. Wir beschränken uns im folgenden auf die Betrachtung dreier Gruppen von Modellkomponenten, die wir als wesentlich, unwesentlich und als kontingent im Hinblick auf die Identität einer Institution ansehen.

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W e s e n t l i c h e M o d e l l k o m p o n e n t e n . - Hierunter verstehen wir jene, bei deren Änderung die Identität der Institution oft verlorengeht. Die wichtigste wesentliche Modellkomponente ist die Statusrelation. Bei einigen Typen von Änderung der Statusrelation wird man nicht mehr von derselben Institution reden. Der klarste solche Fall liegt vor, wenn die Gruppe mit höchstem Status durch eine andere, vorher niedriger bewertete Gruppe ersetzt wird. Dies entspricht oft, wie bei der Verdrängung der Feudalherren durch die Kapitalisten, einer realen Revolution und dem Entstehen einer neuen Institution. Weniger einschneidend, aber möglicherweise für die Identität noch relevant sind „Statusvertauschungen" bei den anderen Gruppen. Wenn eine Gruppe mit hohem (aber nicht höchstem) Status durch eine andere verdrängt wird, oder eine solche Gruppe ganz neu entsteht, kann sich die Identität der Institution ändern. Im konkreten Fall ist eine Entscheidung hier oft schwer zu treffen. Soll man zum Beispiel sagen, das Entstehen einer neuen Gruppe von Verwaltungsspezialisten habe die Institution des Feudalstaates qualitativ verändert? Eine zweite wesentliche Modellkomponente besteht aus den intellektuellen Repräsentanten der Statusrelation. Änderung dieser Komponente allein kann eine qualitative Veränderung der Institution zur Folge haben23. Als Beispiel denken wir an die Reformation, wo eine Leugnung der Vorzugsstellung des Klerus, wenn nicht zur totalen Auflösung, so doch stellenweise zu radikalem Wandel und der Entstehung einer neuen Institution führte. U n w e s e n t l i c h e M o d e l l k o m p o n e n t e n . - Hierzu sind alle Teile der Mikrostruktur einer Institution zu rechnen, sowie die Teile der intellektuellen Strukturen, die nichts mit Status und charakteristischen Handlungen zu tun haben. Die Mikrostruktur einer Institution ändert sich im allgemeinen ständig. Neue Personen kommen dazu, alte scheiden aus. Handlungen finden ein zeitliches Ende, neue konkrete Handlungen werden ausgeführt. Die Personen ändern ihre Intentionen und ihre Vorstellungen über kausale Beziehungen. Auch die individuellen Machtbeziehungen bleiben auf der Ebene konkret ausgeführter Handlungen nicht konstant, einfach weil die konkreten Handlungen sich ständig erneuern. Im Klosterbeispiel reden wir vom g l e i c h e n Kloster, auch wenn ein neuer Abt kommt, wenn Mönche oder Knechte sterben oder dazukommen. Mit derartigen personalen Änderungen gibt es auch neue Handlungen, Intentionen und Macht23 Dies beantwortet übrigens die banale Frage, ob die treibende Kraft bei sozialer Veränderung von den „realen" (bzw. „ökonomischen") Verhältnissen oder vom Uberbau ausgeht. Die korrekte Antwort ist, daß Veränderung von beiden Sphären ausgehen kann.

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Beziehungen. Guido sät nun anstelle des gestorbenen Bruders Johannes den Salat aus, aber er gießt ihn weniger, weil er ihn erst später ernten will. Ein neuer Cellerarius gibt die Anweisung zum Säen mit anderen Worten als sein Vorgänger. In ähnlicher Weise werden wir auch bei Änderung einiger Teile der intellektuellen Strukturen nicht sagen, daß sich dadurch die Institution geändert habe. Wenn die Personen neue Wörter für ihre Handlungen oder auch Handlungstypen benutzen oder neue Namen für die Personen und Gruppen, so ändert dies allein die bestehende Institution nicht. Änderungen auf der Mikroebene können jedoch für Änderung der Institution relevant werden, wenn sie relativ häufig auftreten. Man könnte versuchen, statistische Signifikanzkriterien anzuwenden, was aber zur Zeit wegen der schlechten Datenlage nicht viel Erfolg verspricht. Signifikante, d. h. hier zunächst einfach: häufige Änderungen schlagen in der Regel auf die Makrostruktur durch, und sind dort leichter festzumachen. K o n t i n g e n t e M o d e l l k o m p o n e n t e n . - Ihre Änderung stellt meist die Identität der Institution nicht in Frage, sie kann es aber unter geeigneten Umständen. Zu dieser Gruppe gehören die restlichen Teile der Makrostruktur, insbesondere die charakteristischen Handlungstypen, sowie deren intellektuelle Repräsentanten. Wenn die Personen neue Ideen über zulässige Handlungen entwickeln und ihre Repräsentation der für die verschiedenen Gruppen charakteristischen Handlungen sich verändert, kann dies der Anfang zur Entstehung einer neuen Institution werden. So bestand ein wichtiger Aspekt bei Entstehung des Franziskanerordens in der neuen Vorstellung von charakteristischen Handlungen. Aus den vorher für leitende Amtsträger charakteristischen Handlungen wurden für die Guardiane all jene, die nur durch Besitz möglich waren, ausgeschlossen. Nach den Uberlegungen von Abschnitt III sind auch soziale Praktiken zu dieser Mittelgruppe zu zählen. Die Entstehung neuer sozialer Praktiken, wie etwa der genuesischen Kommenda, kann den Anfang einer neuen Institution, und damit oft das Ende einer alten, markieren. Während Änderungen der wesentlichen bzw. unwesentlichen Modellkomponenten mit großer bzw. kleiner Wahrscheinlichkeit zum Identitätsverlust führen, läßt sich für kontingente Modellkomponenten in dieser Richtung keine allgemeine Aussage machen. Änderungen können hier zu einer Identitätsänderung führen, insbesondere, wenn sie in geeigneten Kombinationen auftreten.

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Damit ist eine zugegebenermaßen nur grobe, erste Klassifikation im Hinblick auf den Wandel von Institutionen erreicht. Wir haben einen ersten Uberblick darüber gewonnen, welche Modellkomponenten (und damit auch, welche realen Komponenten) für die Identität einer Institution wesentlich sind und welche nicht. Erst auf dieser Grundlage wird eine feinere Untersuchung institutionellen Wandels bei derselben Institution sinnvoll. Es ist klar, daß damit das Potential unserer Theorie zur Beschreibung und letzten Endes auch zur Erklärung von institutionellem Wandel keineswegs erschöpft ist. Zwei programmatische Richtungen für weitere Arbeit seien hier kurz angedeutet. Erstens muß eine detaillierte Untersuchung und Typisierung des Wandels einer in den Grundzügen identisch bleibenden Institution erfolgen. Hierzu verweisen wir paradigmatisch auf die Änderungstypen der Statusrelation. Neben anderen Typen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, sind die Typen des Hinzukommens neuer, sowie des Wegfallens alter Gruppen zu betrachten, die man etwa als „Ausdifferenzierung" bzw. als „Schrumpfung" der Institution bezeichnen könnte. Ahnliche Typen lassen sich auf der Ebene der Individuen ansetzen, wenn dort die Gesamtzahl der an der Institution beteiligten Individuen relativ stark wächst oder schrumpft. Zweitens sind für jeden solchen Typ von Wandel notwendige und vielleicht auch hinreichende Bedingungen seines Auftretens zu studieren. Hier wird analog zu den Überlegungen in Abschnitt III vorzugehen sein. Aus den rein formalen Bestimmungen über die Art des Wandels lassen sich einige notwendige Bedingungen ableiten, die an Hand realer Beispiele auf ihre Gültigkeit und ihre Vollständigkeit hin zu überprüfen sind. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit können damit wie folgt zusammengefaßt werden. Ausgehend von einem primär synchronisch ausgerichteten Grundmodell sozialer Institutionen konnten wir in Abschnitt III mehrere, in dieser Form bisher nicht klar erkannte notwendige Bedingungen für die Entstehung neuer Institutionen formulieren. In Abschnitt IV wird eine in dieser Form ebenfalls neue Bewertung der Modellkomponenten und damit der durch sie erfaßten realen Komponenten im Hinblick auf die Identität einer Institution vorgelegt-. Damit ist eine Grundlage bereitgestellt, auf der sich genauere

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Typen institutionellen Wandels entwickeln und die Bedingungen ihres Auftretens herausarbeiten lassen.

INSTITUTION UND KRISE HANS MICHAEL BAUMGARTNER

Das Thema, mit dem ich als Philosoph zu diesem Band beitragen möchte, soll in drei Schritten vorgestellt werden: Zunächst werde ich einige allgemeine Gedanken über den Bedeutungsgehalt des Krisenbegriffs ausbreiten, dann einige Gesichtspunkte und Bestimmungsmerkmale zum Begriff der Institution darlegen und schließlich in einem dritten Punkt die Frage erörtern, was unter Krise einer Institution zu verstehen ist, wenn das, was je für sich über Krise und über Institutionen herausgestellt wurde, als triftig angesehen wird. Ich werde also keine eigene Theorie möglicher Krisen entwerfen, auch keine neue Theorie der Institution, vielmehr sehe ich meine Aufgabe darin, durch einige Anregungen bzw. Perspektiven zur Klärung der mit dem Gesamtthema .Institutionen und Geschichte' aufgeworfenen Frage beizutragen. Der erste Abschnitt wird von meiner speziellen Aufgabenstellung her, Grundlegendes über den Krisenbegriff in Erinnerung zu rufen, einen im Vergleich zu den beiden folgenden Abschnitten größeren Umfang besitzen.

I. Zur Bestimmung des Bedeutungsgehalts des Krisenbegriffs ist es sicher zweckmäßig, von den Grundbedeutungen auszugehen, die mit dem griechischen, ins Lateinische, Englische, Deutsche und Französische übertragenen Wort krisis verbunden sind. „Krisis" hat eine dreifache Bedeutung: Zunächst bedeutet es Scheidung oder Trennung und damit Streit oder Konflikt; es bedeutet zweitens Entscheidung des Streites und so in gewisser Weise die aus dem Streit hervorgehende Wende, und es bedeutet drittens das Urteil oder die Beurteilung: in dieser Bedeutung ist eine forensische Konnotation enthalten, im Sinne von Krise als Gericht. Aus dieser dreifachen Bedeutung - Streit, Entscheidung und Urteil - wird auch einsichtig, daß das Wort „Krise" in objektiver Richtung dasselbe meint wie das Wort „Kritik" in subjektiver. In philosophischer Perspektive handelt es sich demnach um

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einen Grundbegriff der Reflexion und des Denkens überhaupt. Insofern ist mit „Kritik" auch „Krise" ein Grundbegriff der Philosophie. Zu den Grundbedeutungen gehören aber auch die ersten in der Geschichte des Wortgebrauchs auftretenden sektoralen Konkretisierungen von „Krise": namentlich die medizinische Konkretisierung, der zufolge Krise den Wendepunkt einer Krankheit bezeichnet, der nur eine Alternative des Ausgangs besitzt: entweder Leben oder Tod. Eine andere Konkretisierung ist von Aristoteles her die Verwendung des Ausdrucks in der Gerichtssprache, in der Jurisprudenz: hierbei geht es um Rechtsfindung, genauer: um das Urteil, das zwischen Recht und Unrecht entscheidet; auch dies eine schicksalsträchtige Alternative. Außerdem wird der Krisenbegriff schon sehr früh, bei Thukydides beispielsweise, militärisch-politisch verwendet: Krise meint in diesem Feld den Wendepunkt vor Sieg oder Niederlage. Und schließlich: sowohl in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes als auch in der neutestamentlichen Theologie geht es bei der Verwendung des Wortes Krise um den Wendepunkt, um die metabole zwischen Heil und Unheil. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß in der christlich-theologischen Tradition die Verwendung des Krisenbegriffes in enge Verbindung mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht gebracht wird. Wenn man die einerseits vom Wortgebrauch, andererseits von den primären Verwendungen her ermittelte Grundbedeutung zusammenfaßt, so läßt sich festhalten: die Grundbedeutung von Krise besteht darin, daß sie einen punktuellen Wendepunkt mit ungewissem Ausgang bezeichnet, mit einem Ausgang, der nur die Alternative zwischen Leben und Tod kennt, und zwar, in analoger Übertragung, Leben und Tod in mannigfacher Hinsicht, sei es Sieg oder Niederlage, Recht oder Unrecht, Heil oder Unheil. Dazu gehört immer auch, daß der von der Krise Betroffene ein wenigstens vages Wissen dieser Situation besitzt, sonst hätte der Ausdruck „Krise" keine Berechtigung: dies ist erkennbar schon an der Doppelbedeutung des griechischen Wortstammes, der sich in objektiver und subjektiver Richtung, eben als Krise und Kritik, verstehen läßt. Schließlich liegt darin, daß es keine Wiederkehr derselben Situation geben kann, da in ihr jeweils „Tod oder Leben" auf dem Spiel steht. Diese Grundbedeutungen werden im Laufe der Geschichte des europäischen Denkens erweitert, was hier nur in aller Kürze skizziert sei. Sie werden zum einen erweitert auf das menschliche Gemeinwesen, wobei darauf zu achten ist, daß in diesem Fall das menschliche Gemein-

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wesen oder der Staat oder die Gesellschaft mit Hilfe der Metaphorik des Organismus beschrieben werden. Wenn Staaten als Körper und Organismen erscheinen, dann sind sie anfällig für Krankheiten wie die Menschen; wie diese erweisen sie sich als ein Funktionsganzes von verschiedenen zusammenwirkenden Organen, deren Zustand über Gesundheit und Krankheit des Gesamtorganismus entscheidet. Was in dieser Metaphorik Organ genannt wird, erscheint so als Vorläufer dessen, was später Institution heißen wird. Eine andere Erweiterung geschieht durch die Anwendung des Krisenbegriffs auf geschichtliche Tatbestände. In diesem Fall wird nicht an die Medizin, sondern an den militärisch-politischen sowie den juristischen Gebrauch des Ausdrucks angeknüpft: Beide werden jedoch verallgemeinert, indem Krise nun auch für Geschichtsprozesse im Ganzen gilt, so daß nicht nur einzelne Ereignisse und Phasen der Geschichte als Krisen erscheinen, sondern die Prozessualität des geschichtlichen Geschehens selber dem Gedanken möglicher Krisenhaftigkeit unterworfen wird. Schillers Diktum: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht", bringt diesen neuen Sachverhalt auf eine einprägsame Formel. Es bedeutet ja nicht, daß irgendwann in der Weltgeschichte das Weltgericht hereinbrechen wird, sondern vielmehr, daß das geschichtliche Geschehen selbst den Charakter von Gericht und Entscheidung hat, also Krise i s t . In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die Hegeische Geschichtsspekulation diese Vorstellung der Prozessualität als Krise, d. h. der Krise als Prozeßgeschehen der Geschichte, übernimmt - allerdings vor dem beruhigenden Hintergrund einer Selbstentwicklung des absoluten Geistes, so daß der Krisenzusammenhang der Geschichte letztlich positiv eingeholt und vom Prozeß der zu sich kommenden göttlichen Vernunft umfangen wird. Auch die historische Erfahrung vor, während und nach der Französischen Revolution hat dazu beigetragen, daß Geschichte mehr oder weniger als Krise, als Dauerkrise, verstanden werden konnte. Indem dadurch Krise zum Epochenbegriff erweitert wird, läßt sich nun auch ohne Schwierigkeit die Möglichkeit einer steten Wiederkehr von Krisen der Geschichte konzipieren, so daß eine Art interner Konkurrenz zwischen dem Gebrauch des Ausdrucks „Krise" für ein einzigartiges und einmaliges Geschehen auf der einen und für Geschichte überhaupt als ständiger Wiederkehr von Krisen auf der anderen Seite entsteht. Es leuchtet ein, daß der Begriff „Krise" auf diese Weise zu einer allgemeinen historischen Erkenntniskategorie wird, die seinen Status als differentielle Kategorie der menschlichen Erfahrung weit hinter sich läßt. In diesem Zusammenhang darf ich auf die einschlägigen Passagen,

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in denen Reinhart Koselleck die Bedeutung des Krisenbegriffs als eines geschichtsphilosophischen Begriffes herausgestellt hat, verweisen 1 . Eine dritte Erweiterung des Gebrauchs liegt in der Anwendung des Krisenbegriffs auf ökonomische Tatbestände: In diesem Feld werden zunächst sektorale Krisen entdeckt, Handelskrisen, Finanzkrisen, Kreditkrisen, Börsenkrisen etc., die schließlich, so bei Marx, in einer umgreifenden ökonomischen Krisentheorie (Stichwort: „Uberproduktionskrise" 2 ) zusammengefaßt worden sind. Man darf vermuten, daß, im Blick auf das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert, die Erweiterung aufs Ökonomische den Krisenbegriff in seiner Spezifität nicht nur überleben ließ, sondern auch die Schärfe und das mit ihm verbundene Pathos, nicht zuletzt die Ideologisierung des politisch-historischen Denkens, die der geschichtsphilosophische Gebrauch des Begriffes ermöglichte, wenn nicht begründet, so doch wesentlich verstärkt hat. Hervorzuheben ist auch eine vierte Erweiterung des Krisenbegriffs in unserem Jahrhundert: die Ausweitung seines Bedeutungsspektrums auf psychische Tatbestände. Ich erinnere hierbei an die Übernahme wesentlicher Gesichtspunkte aus der Medizin, etwa in der Psychiatrie. So werden Anfälle bei seelischen Erkrankungen mit dem Stichwort „Krise" beschrieben. Weiterhin ist der Krisenbegriff von konstitutiver Bedeutung in der psychotherapeutischen Behandlung. Im Mittelpunkt steht hierbei die gelenkte Krise, die vom Therapeuten bewußt eingesetzte Krise, in die der Kranke geführt wird, um ihm auf dem Wendepunkt die Chance zu geben, die Krankheit zu überwinden. In der Entwicklungspsychologie schließlich wird „Krise" gleichsam alles N e gativen, aller mit der Krisenvorstellung ursprünglich verknüpften negativen Konnotation beraubt und die zugehörige Alternative getilgt oder mindestens ausgeblendet. Schon der entsprechende Sprachgebrauch gibt diesen Sachverhalt zu erkennen: „Werdenskrisen", „Reifungskrisen" können gar nicht anders als positiv enden. Auch in der angewandten Psychoanalyse stellt sich der Eindruck ein, daß ein mögliches Scheitern des Verfahrens kaum mehr ins Auge gefaßt wird; die Prozesse der Selbstreflexion des Patienten, die hier in Gang gebracht werden, erscheinen nur noch als Beseitigungskrisen, als Reifungskrisen mit alternativlos positivem Ausgang. Im Zusammenhang mit dem Tatbestand, daß - eigentlich schon seit der Zeit, in der der Krisenbegriff geschichtsphilosophische Bedeutung 1 Vgl. R. K o s e l l e c k , Krise, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. O . B r u n n e r/ W. C o n z e/R. K o s e 11 e c k , Bd.3 (1982), S. 617-650; 626 ff. 2 Vgl. K o s e 11 e c k (wie A n m . l ) , S. 542, 646.

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erhalten hat - das Bedeutungsspektrum von Krise auf soziale Tatbestände im allgemeinen erweitert worden ist, verweise ich zuletzt noch auf die systemtheoretischen Ansätze, etwa bei Niklas Luhmann und Habermas, die sich sowohl beschreibend wie deutend mit Funktionskrisen gesellschaftlicher Systeme oder Subsysteme befassen; wobei es Habermas vor allem auch um die Wahrnehmung und Bewältigung jener Identitätskrisen zu tun ist, von denen die Individuen ihrerseits in Abhängigkeit von den Krisen der Gesellschaftssysteme wesentlich betroffen sind. Krisen sozialer Systeme können nach Habermas nie bloß als Funktionskrisen konzipiert, sie müssen vielmehr immer zugleich auch als Motivations- und Legitimationskrisen aufgefaßt werden; die beiden letzteren jedoch - so sagt es schon ihr Begriff - betreffen wesentlich das Selbstverständnis der das soziale System mittragenden Individuen. Soweit die Skizze der Erweiterungen des Bedeutungsspektrums von „Krise", die sich aus Begriffs-, Wissenschafts- und allgemeiner Geschichte erheben lassen. Angesichts des ausgefächerten Bedeutungsspektrums stellt sich die Frage, ob sich überhaupt daraus ein einheitlicher und damit erkenntnistheoretisch brauchbarer Krisenbegriff herleiten läßt. Ein erster Schritt in dieser Richtung müßte versuchen, die vielfältigen Bestimmungen des skizzierten weiten Bedeutungsspektrums von „Krise" unter allgemeinen Gesichtspunkten zu ordnen. Zwei solcher Ordnungsgesichtspunkte, die sich aus der Verwendung des Ausdrucks „Krise" wie von selbst ergeben, die seinem Bedeutungsgehalt gleichsam strukturell immanent sind, sollen hier kurz beleuchtet werden. Der erste Ordnungsgesichtspunkt ergibt sich aus dem wesentlichen Verhältnis von Krise und Zeit, in dessen Licht verschiedene Vorstellungen von Krise gemäß der ihnen immanenten Zeitvorstellungen unterschieden werden können. So läßt sich zunächst unterscheiden zwischen einem ereignisorientierten Krisenbegriff, der auf plötzlichen Umschwung geschlüsselt ist, und einem zustandsorientierten Krisenbegriff, der sich auf Krisenperioden bezieht und die Vorstellung nicht einer abrupten, sondern allmählich und längerfristig vor sich gehenden Wende impliziert. Ein drittes Verhältnis von Krise und Zeit findet sich im Verständnis von Krise als Dauerkrise. Von Dauerkrise wird gesprochen: in der Geschichtsphilosophie inhaltlich, wenn z. B. die Neuzeit oder auch die Moderne als eine Zeit der Krise bezeichnet wird; oder geschichtsphilosophisch formal (wie schon bei Schiller oder auch bei Hegel), wenn Weltgeschichte selbst als Weltgericht verstanden wird; in theologischer Geschichtsdeutung, wenn, wie bei Karl Barth, die Heilsgeschichte als Krisis aller Geschichte, und d. h. nicht als eine eigene Ge-

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schichte in, über oder neben der allgemeinen (profanen) Geschichte, begriffen wird. Schließlich ist von Dauerkrise auch in der daseinsanalytisch orientierten Psychologie die Rede, wenn erklärt wird, das Dasein selbst sei die Urkrise und demnach im Ganzen als Dauerkrise aufzufassen. So kann festgehalten werden, daß sich je nach zugehörigem Zeitkoeffizient verschiedene Krisenbegriffe unterscheiden lassen. Da die Verwendung des Ausdrucks „Krise" immer auch auf eine bestimmte Modalität des als Krise bezeichneten Geschehens verweist, ergibt sich der zweite wesentliche Ordnungsgesichtspunkt aus der je verschiedenen Modalvorstellung, die dem jeweiligen Begriff von Krise zu eigen ist: so etwa wenn Krise als Zufall, als Schicksal aufgefaßt wird, wie es vorwiegend in der Historiographie der Fall ist, oder wenn Krise als Notwendigkeit, als notwendiges Geschehen erscheint, ein Gebrauch, der in der Entwicklungspsychologie anzutreffen ist, aber vorzugsweise in der (spekulativen) Geschichtsphilosophie seinen Ort hat. Es ist leicht erkennbar, daß die angedeuteten Perspektiven zwar eine gewisse kategoriale Ordnung stiften, aber die disparate Vielfalt im Krisenbegriff nur um so deutlicher hervortreten lassen. Soll aber der Begriff „Krise" eine wissenschaftlich-theoretische Bedeutung gewinnen können, so müßte sich ein einheitliches Grundmodell aus dem geschilderten Spektrum herausarbeiten lassen, das den Strukturzusammenhang, der mit „Krise" gemeint ist, eindeutig und damit allgemeinheitsfähig charakterisiert. Gibt es ein solches Grundmodell, oder zeigt sich auch in dieser Fragerichtung wiederum nur eine aufeinander nicht rückführbare Mannigfaltigkeit verschiedener Modellvorstellungen, deren wesentliche Merkmale je anderen Sachzusammenhängen entnommen sind und daher auf verschiedenen heterogenen Begriffsebenen liegen, begrifflich also nicht aufeinander zurückgeführt werden können? Fragen wir also zunächst, welche Modelle in dem skizzierten Bedeutungsspektrum von „Krise" ausfindig gemacht werden können. Ein erstes Modell bezieht sich auf den Zusammenhang von Krise und menschlichem Handeln, man könnte es das handlungstheoretische Modell nennen. Es liegt dort vor, wo es um die Entscheidung zwischen Alternativen geht. Entscheidungen aber werden von Menschen getroffen, die erkennen und handeln können, nicht jedoch z. B. von Systemen. Entscheidungen sind Taten und nicht Prozesse. Ein zweites Modell ist orientiert am Leitfaden möglicher Krankheit bzw. am Funktionszusammenhang des Organismus. Hier wird auf eine mögliche Dysfunktionalität von Organzuständen und Organleistungen abgehoben. Organismen können „funktionieren", müssen es aber nicht: Krise in

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diesem Sinne setzt Gesundheit voraus, die wiederkehrt oder im Tod zunichte wird. Ein drittes Modell ist allgemein-biologisch orientiert und richtet sich aus am Begriff des Gleichgewichts, des Fließgleichgewichts (diesen Begriff prägte L. v. Bertalanffy). Krise läßt sich in dieser Perspektive beschreiben als Homöostase- bzw. als Gleichgewichtsverlust, der schließlich zu einem Zustand der äußersten Labilität, zu Kollaps und Chaos, führt, um dann möglicherweise in ein neues Gleichgewicht umzuschlagen. Ein weiteres Modell ist das systemtheoretische Modell (bei Luhmann, Habermas und anderen); hier wird Krise in erster Linie als System- bzw. Funktionskrise von gesellschaftlichen Systemen begriffen, die auf dem Weg ihrer Evolution durch fortschreitende Differenzierung der Leistungen und Abkopplung von Subsystemen immer komplexer werden und auf diese Weise in einen Zustand der Desorientierung geraten, der die Überlebensfähigkeit des Gesamtsystems gefährdet. Systemkrisen dieser Art besitzen viele Facetten, in ihnen geht es um die Bewältigung von Komplexität, d. h. um die Alternative von Zerfall oder neuer Integration; wobei strittig ist, ob die Lösung auf Kosten des individuellen Subjekts als Systemintegration oder - umgekehrt - als Sozialintegration konzipiert und angestrebt werden soll, in deren Rahmen auch kommunikative Prozesse handelnder Personen zentrale Bedeutung besitzen. Das zuletzt zu nennende Modell ist philosophischer Herkunft: Es liegt bereits dem oben beschriebenen Krisenbegriff der griechischen Sprache zugrunde und kann als reflexionslogisches Modell bezeichnet werden. Seine abstrakten Momente lassen sich als Trennung, Widerstreit und Vermittlung bestimmen, vermittels deren auch das menschliche Selbst- und Weltverhältnis transzendentalphilosophisch ausgelegt werden kann. Gehört doch zum Wissen des Menschen um sich selbst notwendig Trennung und Widerstreit von Subjektivität und Objektivität (W. Schulz) und das grundlegende Interesse, diesen Widerstreit in einer - sei es ursprünglichen, sei es je neuen und höheren Einheit - aufzuheben. Dieses reflexionslogische Modell liegt den spekulativen philosophischen Ansätzen vor allem Hegels, aber auch Fichtes und Schellings zugrunde, die mit seiner Hilfe - wenn auch auf unterschiedliche Weise - eine Theorie des Wissens, des menschlichen Erkennens und Handelns, des endlichen wie des absoluten Geistes, aber auch - durch totalisierende Projektion - eine Theorie der Gesamtwirklichkeit samt ihrer Geschichte zu entwerfen versucht hatten. Mit diesem Modell verwandt ist ein - hier nur skizzenartig vorzutragender - Gedanke, der im Blick auf den anthropologischen Hintergrund des Krisenbegriffs von Bedeutung ist. Nach wie vor läßt sich der Mensch philosophisch als ein vernünftiges Lebewesen begreifen, als

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ein Wesen, das durch animalitas und rationalitas bestimmt ist. Aus dieser gebrochenen Natur des Menschen, aus diesem, mit Kant zu reden, krummen Holz, aus dem der Mensch geschnitzt ist, kann unschwer eine erste Einsicht in das anthropologische Fundament des menschlichen Krisenbewußtseins gewonnen werden. Denn: indem ein Wesen, das als Organismus lebt, die es selbst irritierende Begabung der Vernunft besitzt, derzufolge es u. a. sich auf Zukunft beziehen, auf sie vorgreifen kann, erkennt es, dies hat Kant unnachahmlich beschrieben, die Möglichkeit seines eigenen Todes. Es versucht ihm auf vielfältige Weise entgegenzuwirken, u. a. durch eine auf Dauer gestellte menschliche Existenz, durch institutionelle Sicherungen seines Lebens, die aber ihrerseits durch diesen seinen Tod prinzipiell mitbetroffen sind. Deshalb gehört die Alternative „Leben/Tod" philosophisch gesehen zum Vernunftcharakter des Menschen, wohingegen Tiere keine Zukunft und damit auch kein Wissen um den Tod besitzen. Der Vernunftcharakter ist aber nicht nur im Bezug auf das Wissen um den Tod von ausschlaggebender Bedeutung, sondern auch in der anderen Hinsicht, daß Vernunft als Selbstbewußtsein die Struktur hat, etwas von etwas anderem und zugleich von sich selber zu unterscheiden, mit anderen Worten, daß Vernunft - mit Hegel gesprochen - je schon im Urteilen begriffen ist. Urteilung und Urteil hängen, wie aus der Perspektive des griechischen Begriffs der Krisis verständlich wird, aufs engste miteinander zusammen. Urteilung und Einheit, also Trennung und Vermittlung, sind deshalb von dieser strukturellen Seite der Vernunft her gesehen, diejenigen Probleme, in die das menschliche Leben eingelassen ist. Es sucht entweder diese Urteilung in Subjekt und Objekt in einer Harmonie aufzulösen, indem es die Gegensätze zu vereinen, zu versöhnen trachtet, oder es sucht wenigstens einen erträglichen Ausgleich zwischen den Gegensätzen zu finden und zu stabilisieren. Der Gleichgewichts- ebenso wie der Ganzheits- und Harmoniegedanke gehören in diesen Zusammenhang des Problems der Identität von Identität und Nichtidentität (Hegel). Sowohl als Vernunftwesen wie als Organismus, dessen Anfälligkeit als Funktionsgefüge nicht eigens hervorgehoben werden muß, erweist sich in dieser Perspektive der Mensch als ein „Wesen der Krisis". Beide Bestimmungsmomente, die Struktur des Selbstbewußtseins wie das naturale Substrat des Lebens, ließen sich so als anthropologische Grundlage des Krisenbegriffs verstehen. Aus ihr könnte eine allgemeine, alle Modelle umfassende Krisentheorie freilich nur dann folgen, wenn man bereit wäre, die entsprechenden, menschliche Existenz, Natur und Leben, Gesellschaft und Geschichte miteinander vermittelnden spekulativen Voraussetzungen zu teilen. Sieht

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man sich dazu (im Lichte einer kritischen Philosophie: begreiflicherweise) nicht in der Lage, dann bleiben auch die skizzierten Modellvorstellungen notwendigerweise letztlich disparat. Ein einheitliches Grundmodell - so lautet das Fazit - wäre nur spekulativ zu konzipieren. Dann aber müßten immer noch die entscheidenden kritischen Fragen beantwortet werden, welche Erkenntnisbedeutung ihm zugesprochen werden kann und welche Wirklichkeit durch es sei es zu verstehen, sei es zu begreifen, sei es zu erklären, sei es zu prognostizieren ist. Worin besteht nach dem bisher Erörterten die wissenschaftliche Bedeutung des exponierten Krisenbegriffs? Man wird sagen können: Er ist so mannigfaltig und vieldeutig, so unpräzise und offensichtlich nur zur Beschreibung einzelner konkreter Erfahrungen und Sachverhalte tauglich, daß er als wissenschaftlicher Begriff kaum in Frage kommt. Als deskriptiver Erfahrungsbegriff mag er durchaus zur Diagnose von höchst konkreten Situationen und Zuständen in den verschiedenen Feldern menschlicher Erfahrung dienlich sein. Er ist jedoch kein im engeren Sinne theoretischer Begriff, weil es eine allgemeine empirische Theorie wirklicher Krisen nicht gibt; Krisenphänomene sind zu heterogen, als daß sie durch eine umfassende Theorie, die ja auch Prognosemöglichkeiten besitzen müßte, erfaßt werden könnten. Nur als sektoral eingeschränkter Begriff könnte er diagnostische und vielleicht auch erklärende Kraft entfalten, allerdings um den Preis der Ubertragbarkeit auf andere Bereiche, um den Preis seiner allgemeinen Bedeutung. So bestätigt sich Kosellecks Ansicht: „.Krise' bleibt ein Schlagwort, das nur in einigen wissenschaftlichen Kontexten mit kategorialer Stringenz verwendet wird 3 ." Wie die Dinge liegen, besitzt der Krisenbegriff jedenfalls weder empirisch noch philosophisch universale Bedeutung. Er ist darum auch nicht geeignet, im Rahmen philosophischer Konzeptionen der Weltgeschichte Verwendung zu finden: Eine Inanspruchnahme dieser Art wäre wohl eher Prophetie oder bestenfalls schlechte, weil ungedeckte Spekulation. Im übrigen hätte schon die anfangs skizzierte Grundbedeutung deutlich machen können, warum es, sofern man an ihr festhält, eine allgemeine wissenschaftliche Theorie von Krisen nicht geben kann: Die Alternativen sind nicht beherrschbar, sie treten schlechterdings ein. Als Alternativen auf Leben oder Tod verweisen sie in ihrem Grunde auf ein schicksalhaftes Geschehen, das nicht durch eine wissenschaftliche Theorie bewältigt werden kann; die Verwendung des Krisenbegriffes mag hier unter Umständen deskriptiv und 3 Vgl.

K o s e 11 e c k (wie A n m . l ) , S. 647.

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heuristisch von Bedeutung sein: zur Vergewisserung einer schicksalhaften Situation. Zu Erklärungen oder gar Prognosen des Geschehens jedoch führt sie nicht. Speziell für die Historie wird man aus all dem folgern dürfen, daß eine Verwendung des Krisenbegriffs in einem sowohl eindeutigen wie umfassenden, und damit auch in einem universalgeschichtlichen Sinne unmöglich ist, daß es demzufolge auch problematisch wäre, den Krisenbegriff auf ganze Epochen oder Epochenumbrüche zu beziehen. Ebenfalls verbietet sich im Blick auf geschichtliche Zusammenhänge die Rede von Dauerkrisen, da sie dem ursprünglichen Bedeutungsgehalt von „Krise", speziell den zu ihm gehörenden Momenten der Entscheidungssituation und des Umschlags, widerspräche. Auch aus diesen Gründen wird man daher für einen restriktiven, d. h. partikularen und heuristischen Gebrauch von „Krise" plädieren. Vielleicht sollte man zusätzlich das Votum Jacob Burckhardts beherzigen, der nur dort historisch von wirklichen Krisen sprechen wollte, wo in retrospektiver Betrachtung der Geschichte grundstürzende soziale Veränderungen oder Wandlungen erkennbar werden.

II. Der zweite Abschnitt befaßt sich mit dem Begriff der Institution und versucht, seine wesentlichen Bestimmungsmerkmale herauszustellen. Aus der Begriffsgeschichte sei erwähnt, daß institutio ursprünglich aus dem christlichen Wortschatz stammt und das depositum fidei, also die Grundausstattung, die „Einrichtung" des Glaubens bezeichnen sollte; ebenso mag daran erinnert werden, daß in der Rechtsgeschichte institutio zunächst für den ersten Teil des Corpus Juris Justiniani verwendet wurde, d. h. für den Grundlagenteil des Römischen Rechts, weswegen später die in die verschiedenen Sektionen des Römischen Rechts einführenden Lehrbücher institutiones genannt wurden. Von daher lag die doppelte Verallgemeinerung nahe, sowohl die Grundbegriffe und Grundsätze eines Rechtsgebietes als auch schließlich Einführungen in Wissensgebiete überhaupt mit dem Ausdruck zu belegen. Eben dieser rechtshistorische Hintergrund macht es verständlich, daß der Begriff der Institution allmählich auf rechtlich geordnete soziale Verhältnisse und von da überhaupt auf soziale Gebilde mit einer gewissen normativen Ordnungsstruktur übertragen werden konnte. Es ist nicht Aufgabe meines Beitrags, diesen Weg zu verfolgen; ebensowenig wie es für meine Fragestellung zweckmäßig ist, die ver-

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schiedenen systematischen Ansätze auf den Gebieten der Rechtsphilosophie (M. Hauriou; S. Romano), der Soziologie (H. Spencer; E. Dürkheim; W. G. Sumner; B. Malinowski; T. Parsons; H. Schelsky; J. Habermas, N . Luhmann) und der Anthropologie (A. Gehlen; H. Schelsky) aufzunehmen und im Blick auf eine umfassende Theorie der Institution miteinander in Beziehung zu setzen. Der Beitrag von Karl A c h a m in diesem Band bietet hierfür ohnehin einen weitgefächerten, Begriffsbildung, strukturelle, funktionale und genetische Aspekte des Institutionenbegriffs umfassenden und kritisch erörternden Uberblick. So kann und muß ich mich auf einige wesentliche und für mein Thema einschlägige Bestimmungs- und Strukturmerkmale von Institution beschränken, von denen her allgemeine Aussagen über Bedeutung und Probleme von Institutionen gewonnen werden können. Institutionen sind mittlere, in eine Gesamtgesellschaft eingebettete, funktionale Sozialgebilde, in denen sowohl das Dasein von Individuen für sich und im Rahmen einer Sozietät als auch die Sozietät selbst Zusammenhalt und Bestand hat. Sie sind bezogen sowohl auf Grund- und Sekundärbedürfnisse der Individuen wie auf Erfordernisse des sozialen Systems im ganzen. Gleichwohl lassen sie sich weder kausal aus basic needs noch final aus dem Zweck der Bestandserhaltung des Gesamtsystems herleiten. Institutionen sind vielmehr Gebilde eigener Dignität, sie sind zugleich „Ausdruck eines Kollektivbewußtseins" und „Inbegriff quasi dinghafter Realisation und Organisation elementarer Ordnungsgedanken." 4 Ordnungsgedanken dieser Art, Leitideen oder, mit Maurice Hauriou formuliert, „idées directrices", führen - unter Berücksichtigung der menschlichen Lebens- und Bedürfnisstruktur - zu freilich geschichtlich bedingten Norm- und Regelsystemen und zu einer entsprechenden Organisation sozialer Handlungszusammenhänge, denen die Individuen aktiv mitgestaltend sich einfügen. So ergeben sich Verhaltens- und Handlungskomplexe zugleich normativer und organisatorischer Art auf allen individuell und sozial bedeutsamen Interaktionsfeldern: m. a. W. Institutionen des Nahrungserwerbs (Wirtschaft etc.), der Reproduktion (Familie etc.), der Vermittlung von know how (Erziehung, Ausbildung), der Verfolgung gemeinsamer Ziele (Politik etc.), der gemeinsamen Sinnstiftung (Kultur etc.). Der Institutionenbegriff vermittelt, so gesehen, apriorische und empirisch-historische Momente: apriorische im Hinblick auf die transkulturellen anthropologischen Grundbedingungen menschlichen Mit4 H . H o f f m a n n , Institution II, in: Staatslexikon, Bd.3 ( 7 1987), Sp. 103.

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einanderlebens, -Überlebens und -Zusammenlebens; empirisch historische im Hinblick auf ihre konkrete und traditionsvermittelte, entfaltungs- und auch wandlungsfähige Ausgestaltung. Zum anderen - und für unseren Zusammenhang von größerer Bedeutung - zeigt sich, daß zum Begriff der Institution jedenfalls vier wesentliche Bestimmungsmerkmale gehören: 1) Die L e i t i d e e und das zu ihrer Bestimmung notwendige System von Werten (Haurious „idée direttrice"); Malinowskis „charter"; Parsons „cultural system"); 2) das auf anthropologische Bedingungen (z. B. die Bedürfnisstruktur) bezogene Normund Regelsystem: die normative Verhaltensstruktur (vgl. Acham); 3) die durch Sanktionen sei es des Rechts oder der Sitte gestützte, relativ dauerhafte und wirksame O r g a n i s a t i o n der sozialen Handlungen und Leistungen: die organisierte Vereinigung bzw. der soziale Verband; und 4) die Identifikation bzw. A k z e p t a n z der Mitglieder (Haurious Zugehörigkeitsbekundungen). In der Konsequenz des vierten Bestimmungsmerkmals liegt es, daß der Zusammenhang von Leitidee, Normsystem und Organisation nicht nur immer wieder theoretisch erkennbar gemacht und begründet, sondern ebenso in Symbolen, Bildern, Festen manifest und nachvollziehbar, d.h. repräsentiert wird. Aus diesem Grunde ergeben sich als weitere Bestimmungsmerkmale von Institution auch jene „ideellen O b jektivationen" (vgl. Acham, in diesem Bande), die in theoretischer und symbolischer Weise das komplexe Gefüge einer Institution in ihrer individuellen wie kollektiven Bedeutung legitimieren und dadurch auch bewußtseinsbezogen auf Dauer stellen: und dies nicht nur für die eigenen Mitglieder, sondern auch sowohl für die Gesamtgesellschaft wie für die Mitglieder anderer Institutionen der Sozietät. Es sind diese „Bestandsstücke", die den Strukturaufbau von Institutionen bestimmen und die deshalb auch als notwendige Bedingungen von Institutionen bezeichnet werden können: Sie sind begrifflich streng zu unterscheiden, obgleich sie empirisch und historisch nicht jederzeit klar voneinander abgegrenzt und differenziert sein müssen. Mit ihrer Hilfe lassen sich nun auch die verschiedenen Bedeutungsmomente und Funktionen näher und detaillierter bestimmen, die den Institutionen sowohl im Rahmen der Gesamtgesellschaft als auch für die in ihnen vereinigten Individuen zukommen. So begründen Institutionen vermöge der ihnen zugrundeliegenden und sie „wertrational" legitimierenden Leitidee eine gegliederte Ordnung der Gesellschaft, die es den Akteuren ermöglicht, innerhalb der inhomogenen Mannigfaltigkeit möglicher Handlungen spezifische allgemeine Zweckzusammenhänge auszugrenzen und somit Grundorientierungen

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menschlichen Lebens in der Gesellschaft, d. h. Sinn zu finden und zu gestalten. Diese Grundorientierung konkretisiert sich in spezifischen, geschichtlich vermittelten Norm- und Regelsystemen, die dem Handeln Verbindlichkeit und somit einerseits Halt, andererseits Verläßlichkeit verleihen. Das Strukturmoment der Organisation realisiert die ideellen Momente der Zweckorientierung und der normativen Verbindlichkeit und stellt sie auf Dauer: Es sichert der Institution den entsprechenden nachhaltigen Erfolg, ihre Effizienz, und es gewährt - insbesondere durch die notwendig damit verbundene Kodifikation und Sanktion in einem Rechtssystem - Sicherheit und Schutz. Darüber hinaus führt es zur Entlastung der einzelnen Individuen und setzt sie frei für andere soziale, kulturelle, politische etc. Tätigkeiten. Schließlich erfüllen die zugehörigen Wissens- und Repräsentationsformen den akzeptanzerhaltenden Légitimations- und Reflexionsbedarf. In ihnen liegt auch die produktive Möglichkeit, die auf den verschiedenen Ebenen auftretenden Probleme zu verarbeiten und auf diese Weise trotz eventuell nötig werdender Veränderungen innerhalb einzelner Strukturmomente Bestand und Funktion der Institution im ganzen zu erhalten. Stellt man nun die für unseren Zusammenhang zentrale Frage, worin denn jene Probleme bestehen könnten, die den Fortbestand von Institutionen, ihre Persistenz, gefährden, so läßt sich den bisherigen Uberlegungen folgendes entnehmen: Institutionen unterliegen aufgrund ihrer Zwischenstellung zwischen Gesamtgesellschaft und Individuen im Prinzip einer doppelten Gefährdung, die sich in den skizzierten internen Strukturmomenten widerspiegelt: 1. der Gefährdung durch Veränderungen des Gesellschaftssystems im ganzen (z. B. Säkularisierung; Modernisierung; Rationalisierung; Wertewandel), die sich in erster Linie als Legitimationsprobleme der Institutionen in allen Strukturmomenten - vorrangig jedoch auf der Ebene der Leitideen, der normativen Verhaltensstruktur und der ideellen Objektivationen - zur Geltung bringen; und 2. der Gefährdung durch die Änderung des Akzeptanzverhaltens der Individuen, das vor allem auf Probleme der Leistungsfähigkeit und der Sicherheit von Institutionen bezogen ist und daher speziell das Moment der institutionellen Organisation betrifft. Dies bedeutet - in stilisierender Vereinfachung - : Institutionen geraten in Schwierigkeiten durch Probleme der Legitimation ihrer Werte und Normen, der Effizienz ihrer organisatorischen Mittel und der Sicherheit ihrer Ordnungs- und Orientierungsleistungen. Ihre Persistenz ist freilich erst dann gefährdet, wenn die genannten Schwierigkeiten zusammentreffen, d. h. wenn die auf einem Gebiet eingetretene Destabilisierung nicht mehr durch Stabilität in den anderen kompensiert

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wird. Dann erst verlieren Institutionen ihre Leistungs- und Integrationskraft, werden sie, nicht nur partiell, dysfunktional, und zwar sowohl für die Individuen wie für die Sozietät - eben dann aber müssen sie durch neue „ersetzt" werden, die ihre funktional notwendigen Leistungen, so es denn um solche ging, in anderem normativen Kontext und organisatorisch/rechtlich auf andere Weise erbringen.

III. Der dritte und letzte Abschnitt hat die Frage zu erörtern, wie der dargelegte Krisenbegriff auf die geschilderten Probleme, in die Institutionen von ihrem Strukturgefüge her geraten können, bezogen werden kann. Es läge nahe, die angedeuteten Probleme sogleich mit dem Ausdruck „Krise" zu belegen und demzufolge umstandslos von Legitimations- und Akzeptanzkrisen, von Effizienz-, Rationalitäts-, Motivations- und Identitätskrisen, und wie die Krisen alle heißen mögen, zu sprechen - freilich nur dann, wenn die jeweiligen Probleme ein bestimmtes Maß an Ausweglosigkeit erreicht haben. Dennoch scheint mir dieses prima vista nicht unplausible Verfahren weder von der Sache der Institution her angemessen noch von der Verwendung des Krisenbegriffs her gerechtfertigt zu sein. Blicken wir daher noch einmal auf das über Krise, vor allem über ihre Grundbedeutung, Gesagte zurück. Wenn der Ausdruck „Krise" nicht bloßes Schlagwort zu vielfältigem Gebrauch bleiben soll, dann sollte er doch nur dann Anwendung finden, wenn eine schicksalsträchtige Situation gegeben ist, in der über „Leben und Tod" entschieden wird. Bei Institutionen müßte dies heißen: über Fortbestand oder Auflösung. Freilich ist es eine schwierige Frage, zu entscheiden, wann mit Recht von Auflösung einer Institution gesprochen werden kann: was also mit der genannten Alternative gemeint ist. Ü m sich dieses Problem zu vergegenwärtigen, sei an die Geschichte der (kulturellen) Institution Universität erinnert. Die Universität, ihrem Ursprung nach eine der mittelalterlichen Stadt zugehörige Institution der intellektuellen Sinnstiftung und Wissensvermittlung, hat im Laufe ihrer Geschichte vielfältige geistige und sozial-strukturelle Wandlungen erfahren: von der allgemeinen christlichen Universität des Mittelalters über die Universität der Renaissance und Reformation zur Aufklärungsuniversität und von dort über die idealistische Universität W. v. Humboldts zur Gruppenuniversität der Gegenwart. Kann man sagen, daß sie als Institution durch alle Wand-

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lungen hindurch dieselbe geblieben ist, oder handelt es sich in ihrer Geschichte an den entscheidenden Etappen um Krisen, um Auflösung und Neugründung? Nach welchen Kriterien ließe sich diese Frage beantworten? Gewiß hat sich Organisations- und Mitglieder-Struktur ebenso wie das jeweils zugehörige Rechts- und Garantiesystem geändert, aber ist nicht die idée directrice dieser Unternehmung im allgemeinen gleich geblieben? Und ist es nicht dieser Sachverhalt, der uns noch heute von Universität sprechen und die Ansicht vertreten läßt: die Institution Universität bestehe trotz vieler und auch einschneidender Änderungen bis heute fort. Da man jedoch genauso gut sagen könnte, fast alles habe sich an den Universitäten geändert, ihre Geschichte sei darum eine Geschichte institutioneller Neugründungen, so zeigt sich, daß in nichttrivialen Fällen die Rede von Auflösung oder Fortbestand einer Institution von einer Entscheidung darüber abhängig ist, was als Kernbestand einer bestimmten Institution gelten soll. Dies variiert sicher von Institution zu Institution und nach historischen Zeiten; in formaler Hinsicht läßt sich vermutlich jedoch sagen, daß zum Kernbestand jedenfalls zentrale begriffliche Momente der leitenden Idee, unverzichtbare normative Elemente rechtlicher Verfaßtheit und grundlegende organisatorische Bestimmungen gehören dürften; und natürlich auch das fortdauernde Interesse von Sozietäten an der Erfüllung bestimmter sozialfunktionaler Leistungen. Erst wenn dieser Strukturkern einer Institution nicht mehr gegeben ist, so scheint mir, hat sich auch die Institution aufgelöst. Kehren wir zurück zum Thema „Krise". Von Krise einer Institution sollte nur dann gesprochen werden, wenn eine Situation eingetreten ist, in der ihr Fortbestand, ihr Strukturkern, auf dem Spiel steht. Gewiß: Institutionen können, wie oben in Teil II skizziert, in schwierige Lagen geraten; aber Schwierigkeiten sind noch keine Krisen: sie müssen ja nicht notwendig schon zu einer Krisensituation führen. Man könnte vielleicht von Krisentendenzen sprechen, allerdings nur dann, wenn die Schwierigkeiten so geartet sind, daß sie als Teilmomente eines die ganze Institution betreffenden kumulativen Prozesses aufgefaßt werden können, von dem man annehmen darf, daß er den Strukturkern der Institution antastet und diese so in die Krise führt. Krise einer Institution ist also der Kulminationspunkt eines mehrschichtigen Prozesses von kumulierenden und sich wechselseitig verstärkenden Krisentendenzen, die das Konstitutionsgefüge der Institution sowohl nach den einzelnen „Bestandsstücken" wie im ganzen betreffen. Die Anfälligkeit einer Institution für Krisentendenzen bestimmt sich daher nach jenen Feldern und Dimensionen, die konstitutiv

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sind für die Institution und in denen die in Teil II skizzierten Persistenz-Probleme auftreten können. Diese betreffen zugleich ihre Einbettung in das Gesamtsystem einer Gesellschaft, ihr Verhältnis zu anderen Institutionen und ihre Binnenstruktur. Je nach Ursprung der Schwierigkeiten kann man dann von exogenen und endogenen Krisentendenzen sprechen. Auf diese Weise ergibt sich für die theoretische Analyse von Institutionskrisen ein Raster für mögliche Anfälligkeiten, die als Teilmomente eines komplexen Gesamtprozesses zu Krisentendenzen sich verschärfen können. Dieses Raster hat ebensowohl heuristische Bedeutung für die historische Forschung wie diagnostischen Wert für gegenwartsbezogene Analysen der institutionellen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es enthält die wesentlichen Aspekte, denen gemäß Krisentendenzen von Institutionen ausfindig gemacht, wahrgenommen und bestimmt werden können. Aus ihnen ergeben sich die einschlägigen Fragen: nach Legitimation und Bestandsgarantie einer Institution im Rahmen der Gesamtgesellschaft, nach Konflikt und Konkurrenz mit anderen Institutionen der Sozietät (exogene Anfälligkeiten); nach normativem Selbstverständnis von Leitidee und Verhaltensstruktur, nach Sicherheit und Effizienz und nach Integrationskraft, Akzeptanz und Loyalität ihrer Mitglieder (endogene Anfälligkeiten). Im Blick auf mögliche Krisentendenzen darf dabei nicht außer Acht bleiben, daß Probleme im einen Feld Probleme in den anderen nach sich ziehen können; aber auch, daß Probleme im einen Feld durch Stabilität in anderen aufgefangen und entschärft werden können. Aus der Perspektive endogener Anfälligkeiten, in denen sich die exogenen spiegeln, können Institutionen näherhin auf folgende Weise auf den Weg in die Krise geraten: 1. Wenn die Leitidee ihre Uberzeugungskraft zu verlieren droht, weil sie im kulturellen Wertesystem der Gesellschaft aus dem Blick geraten ist und keine Rechtfertigung mehr findet. Sie kann dann ihrerseits das normative Verhaltenssystem der Institution nicht mehr legitimieren. 2. Wenn die Gesamtgesellschaft durch Veränderungen in Sitte und Recht die Bestandsgarantie für eine Institution zunehmend in Frage stellt, wenn Sicherheit und Schutz von Seiten des politischen Systems nicht mehr gewährleistet sind. 3. Wenn die Leistungskraft der Organisation nachläßt und sie ihre Zwecke nicht mehr effizient realisieren kann, entweder weil die Bedürfnisse aufgrund fehlender Mittel nicht mehr befriedigt werden können oder weil die Leistungen nicht mehr eingefordert werden, da die Bedürfnisse sich verändert haben. 4. Wenn die Mitglieder allmählich ihre Loyalität aufkündigen, weil innere oder äußere Legitimation, Leistungsfähigkeit und

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Sicherheit oder Integrationskraft und Zugehörigkeitsgefühl, sei es mehreres oder alles zusammen, nicht mehr gegeben sind. Diese freilich typisierend vereinfachten Prozesse - so ist meine These - müssen zusammen auftreten und einander verstärken, sollen sie die Qualität von Krisentendenzen erhalten. Erreichen sie ihren je spezifischen End- bzw. Höhepunkt, dann allererst läßt sich von jener Situation auf „Leben und Tod" sprechen, die „Krise einer Institution" heißen kann. Die Institution wird sich auflösen, wenn nichts weiter geschieht, der kumulative Prozeß sich in sich erschöpft und das Interesse der Sozietät ebenso wie der Individuen sich anderen institutionellen Möglichkeiten zuwendet, in denen die ehemals geregelten Interaktionen und Leistungen neu gestaltet werden können. Sie wird weiterbestehen, wenn die Erfahrung der Krise ihrerseits auf den Erosionsprozeß in den genannten Problemfeldern Einfluß gewinnt, ihn gleichsam stoppt und die wesentlichen Bestimmungen der in die Krise geratenen Institution in neuem Licht sehen und als - wenigstens bis auf weiteres - unverzichtbar für die Individuen und/oder für die gesamte Sozietät erkennen läßt: mit der Folge, daß sich Legitimation von Idee und Organisationsstruktur ebenso wie Akzeptanz im Blick auf einen immer noch funktional unaufgebbaren Kernbestand neu einstellen. Die Bewältigung der Krise ist demzufolge im ganzen nicht rational steuerbar, sie ist ein schicksalhaftes Geschehen, das sich einstellt oder nicht: in dem über Untergang oder Fortbestand entschieden wird. Die fortbestehende Institution geht allerdings nicht unverändert aus der Krise hervor. Sie verhält sich nach der Analogie eines aus schwerer Krankheit genesenden Menschen, der in der Krankheit er selbst geblieben und doch durch die Erfahrung des möglichen Todes ein anderer geworden ist, ein neues Verhältnis zu sich selbst gewonnen hat. Wer Krisen überlebte, dessen Dasein hat sich verändert. Vielleicht kann man sagen: es ist wesentlicher geworden, auf seinen Kern geschrumpft, um sich von da aus erneut zu entfalten. Versteht man Krise und Institution in den vorgeschlagenen Bedeutungen, so verbietet sich nicht nur eine vorschnelle Rede von Krisen und Krisentendenzen; es wird auch deutlich, daß Institutionen unter nicht-extremen gesellschaftlichen Bedingungen in aller Regel langlebig und krisenfest sind. Sie sind widerständig und für die einzelnen unverfügbar, fast wie die Dinge der physischen Welt (E. Dürkheim); und sie besitzen aufgrund ihrer verschiedenen konstitutiven Bestimmungsmerkmale große plastische Kraft. So widersetzen auch sie sich einer vorschnellen Krisenrede und verweisen sie in den Bereich politischideologischer Rhetorik. Freilich darf dabei nicht verkannt werden, daß

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eben diese Rede durchaus Probleme und Tendenzen, die zu einem Krisenprozeß führen können, verschärft. Um so sorgfältiger muß die Öffentlichkeit einer Gesellschaft darauf achten, daß Krisen nicht herbeigeredet werden; aber auch die mit Gesellschaft befaßten Wissenschaften, die Sozialwissenschaften, die Historie, Soziologie und Philosophie, sind in die Pflicht genommen, den Krisenbegriff kritisch zu reflektieren und nur bei gegebenen entsprechenden Bedingungen zu gebrauchen. Es ist diese Sorgfaltspflicht, die der uns seit dem 18. Jahrhundert bekannten inflationären Verwendung des Ausdrucks „Krise" wirksam begegnen könnte. Auch das vorstehende Plädoyer für einen restriktiven und heuristischen Gebrauch des Krisenbegriffs sollte und könnte vielleicht dazu beitragen.

SYMBOL - ZEICHEN - INSTITUTION VERSUCH EINER SYSTEMATISIERUNG-"" JÄNOS BÄK Die drei Begriffe des Titels stehen in einem eigentümlichen logischen Kreisverhältnis zueinander. Institutionen, die hier nicht definiert, sondern im wesentlichen als bekannt vorausgesetzt werden sollen, sind Gebilde der Gesellschaft, die über das Einmalige, Akzidentelle, Persönliche und Zeitliche hinaus etwas regelrecht Wiederholtes, Wesentliches, Transpersonales und Uberzeitliches darstellen. Sie werden als über das alltäglich praktizierte gesellschaftliche Leben hinausweisende Abstraktionen verstanden, wenn auch in vieler Hinsicht Greif-, Sicht- und Tastbares mit ihnen verbunden ist (Gebäude, Besitz, Aufzeichnungen). Symbole, am anderen Ende der Abstraktionsskala, sind zwar immer sieht- oder hörbare Objekte und Äußerungen - im weitesten Sinne - , doch weisen sie durch ein mehr oder weniger gemeinsames Verständnis ihres Aussagewertes (ihrer Signifikationsfähigkeit) auf etwas vollständig Abstraktes hin, oder „stehen dafür". Zeichen liegen in der Mitte dieser logischen Skala: sie sind zeitlich, örtlich und in ihrem materialen Bestand taktile Objekte (unter Umständen, im weiteren Sinne, auch hörbare Laute, vernehmbare Gesten), die für einen verhältnismäßig weiten Kreis eindeutig Zugehörigkeit zu einer Institution - nebst anderen Sachen - „anzeigen". Sie sind freilich oft symbolisch verstanden, stellen also eine „aktive" Inkarnation der in einer mehr ätherischen Sphäre beheimateten Symbole dar. Einige pseudomathematische Formeln sollen diese Zusammenhänge deutlich machen: (1) zeitliche Handlung bestimmter Personen - wiederholt und regelmäßig verrichtet, u. U . rechtlich verankert = Institution. * Ein Unterfangen, diesen Versuch durch bibliographische Anmerkungen lege artis zu präsentieren, würde einer - gewiß wünschenswerten - Bibliographie der Symbolforschung und zahlreicher anderer Forschungsgebiete gleichkommen. Diese Aufgabe konnte ich nicht auf mich nehmen, so sehr verlockend sie auch sein mag. Ich hoffe, ein anderes Mal das Versäumte nachholen zu können und bitte den geneigten Leser um Nachsicht für das skizzenhafte Vorgehen. Wenn mein Versuch nicht nur Diskussion und Widerspruch, sondern auch E m p ö r u n g und dadurch weiteren Gedankenaustausch zeitigen sollte, wird er seine A u f g a b e erfüllt haben.

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(2) Objekte, Töne, die eine transpersonale, unzeitliche Institution ankündigen und sichtbar/hörbar begreifen lassen = Zeichen. (3) Konkrete, sichtbare Objekte, Worte, die für Ideen „stehen" (die ihrerseits oft Sinn und Gehalt auch den Institutionen verleihen) = Symbole. (4) Signifikator eines abstrakten Inhaltes (Symbol) „aktiv" verwendet (gezeigt, getragen, geäußert) = Zeichen. (5) Personen und Gruppen (u. U. auch Objekte) durch Zeichen gekennzeichnet = Zugehörige, Beauftragte, Besitztümer - einer Institution... und so weiter, da capo al fine.

L. HERKUNFT UND FUNKTION DER SYMBOLE

Da das Phänomen „Symbol", schon weil es für Philosophie, Literatur, Kunst, Ethnographie, bzw. Anthropologie und Psychologie zentrale Bedeutung hat, am besten erforscht ist, möchte ich es nur kurz für unsere Fragestellung abhandeln. Es sei vorausgeschickt, daß Symbole für unsere Frage nicht so zentral sind, wie etwa für die mittelalterliche Theologie oder Geistesgeschichte im allgemeinen. Kurz zusammengefaßt: Symbole sind hier zu verstehen als Worte und Bilder, die für eine mehr oder weniger breite Schicht der mittelalterlichen Gesellschaft einen gedanklichen Inhalt mehr oder minder eindeutig heraufbeschwören. Es ist keineswegs sicher, daß alle, die ein Symbol als „für etwas stehendes" begreifen, das gleiche dabei vernehmen, doch es ist anzunehmen, daß ihnen eine Idee im gleichen Umkreis ins Gedächtnis kommt. Für die große Mehrzahl mittelalterlicher Adressaten, d. h. für jene Menschen, denen das Symbol einen Anstoß zur Vorstellung des abstrakten Gehalts zu geben hatte, waren Symbole als bildliche Mitteilungen wirksam: gemalt, gezeichnet, dreidimensional geformt, vor allem als öffentlich-monumentale Bild- und Bauwerke. Den des Lesens kundigen Wenigen, die allerdings die Träger der Kultur waren, spielten symbolträchtige Bilder auch als Buchillumination einerseits und in Worten andererseits wichtige Rollen. Letztere dürften die ersteren in vieler Hinsicht bestimmt haben, wie das von der Kunstgeschichte für zahlreiche Einzelfälle nachgewiesen wurde. Verbale Symbole umfassen ein überaus weites Feld, von Gleichnis über Metapher zur Allegorie, und so weiter, daher seien sie ausgeklammert, zumal ihre Problematik von der Literaturwissenschaft und ihren Teildisziplinen herausgearbeitet wurde und verhältnismäßig

Symbol - Zeichen - Institution

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wenig mit Institutionen zu tun zu haben scheint. Allerdings gibt es Wortsymbole, die für unsere Fragestellung höchst relevant sind und meist, so scheint es, von Zeichen abgeleitet wurden, wie z. B. Krone (Corona), Thron, sedes (apostolica), u. ä. m. Hierher gehören wohl auch jene metaphorischen Ausdrücke, in denen der Sitz einer Institution zu ihrem Namen wurde, wie Vatikan oder Lateran, die Hohe Pforte, Stjames's Court, usw. Doch, soweit ich sehe, ist die Verbreitung solcher Bezeichnungen neuzeitlich, auch wenn sie in vielen Fällen aus mittelalterlichen Wurzeln entstanden sind. Bildsymbole im weiteren Sinne kann man, als eine erste Annäherung, nach drei Gesichtspunkten systematisieren, die, wie wir sehen werden, auch für Zeichen relevant sind: nach ihrer Art der Symbolisierung, nach ihrer Herkunft und nach ihrer Funktion. Der gedankliche Prozeß, der ein Bild (abkürzungshalber sei dieses eine Wort benutzt) zum Symbol macht, das heißt, der „Symbolisierungsmodus", ist im allgemeinen und immer, per definitionem: Konkretes für Abstraktes. Im Einzelnen könnte man einige Arten unterscheiden, z. B. Personifizierung, und innerhalb derer: anthropo- oder zoomorphische Darstellung; „Verkleinerung" oder pars pro toto; ein Objekt für eine Handlung oder gar Handlungsreihe; zeitlich Jetziges für zeitlich Ewiges oder in unbekannt entfernter Zeit Eintreffendes; und, wenn man Gesten mit einbezieht, verschiedene „als ob"-Handlungen. Für die unzähligen Varianten der Personifizierung braucht man kaum Beispiele anzuführen, sie sind in der christlichen Sphäre von dem weißbärtigen Mann als Gottvater, über die Taube als Heiliger Geist und das Lamm Jesus, bis zur Schlange im Paradies wohlbekannt; in der weltlichen sind Frauengestalten für Städte, Länder, Tugenden, freie Künste, männliche für Seen, Flüsse, Tiere für Sternbilder und so fort ebenfalls weit verbreitet. Bezüglich „Verkleinerung" kann man unter anderem an die Kugel als Kosmos in der Hand, unter dem Fuß, oder als Sitz des Welt- oder Alleinherrschers denken. Objekt für Ereignis ist fast jedes Attribut der Heiligen, Marterwerkzeug oder Körperteil, verdichtet und überhöht im Bild des spätmittelalterlichen Schmerzensmannes, wo gar die Spucke der Henkersknechte für die Verspottung Jesus abgebildet wurde. Bestbekannte „als ob"-Episode ist wohl das Krönungsmahl Ottos I., aber in diese Kategorie dürfte auch das Verbrennen des Wergs vor dem Papst, begleitet mit Erklärung des Gleichnisses (sie transit...) gezählt werden. Mit dem letzten Beispiel wurde bereits das semiotische Grundproblem angesprochen: wie wird eine Handlung, ein Wort oder ein Bild zum Symbol und als solches denen, für die es gemeint ist, verständlich?

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Welche sieht- oder hörbaren Dinge können die Funktion eines Signifikators erfüllen, und wie wird der gedankliche Zusammenhang zwischen diesen und dem Inhalt (der Signifikation) hergestellt? Durch wen, für wen, mit welchen Mitteln? Da dieser Fragenkomplex auch für Zeichen gefragt werden muß, und von dort unserem Gegenstand näher zu stehen scheint, sei er vorerst vertagt. Fragt man nach der Art der Symbole gemäß ihrer Herkunft - und die Antwort darauf ist zur eben aufgeworfenen Grundfrage auch höchst relevant so scheinen im wesentlichen drei Quellen feststellbar zu sein: traditionelle Grundlagen, praktische Erwägungen und didaktische Ziele. Unter Traditionellem kann ein weites Feld zusammengefaßt werden: Identifikationen von Objekt und Sinngehalt, die möglicherweise in Urzeiten entstanden waren (oder, um mit C. G. Jung zu sprechen, die im kollektiven Unbewußten beheimateten Symbole); andere, die in der klassischen oder christlichen Antike entstanden waren; oder jene, die aus der mythisch-heroischen Welt der Germanen (Slawen, Kelten, Magyaren usw.) ins Mittelalter ihren Weg fanden. Zu den praktischen Erwägungen kann man die Typen „Objekt für Handlung" zählen, da erstere einfacher, mit weniger Kunst angezeigt (abgebildet) werden können als letztere. Daß dabei das Verhältnis zur figurativen Kunst - sei es aus germanischer Tradition, sei es aus biblischem Bilderverbot oder Ikonoklasmus jedweder Art - eine Rolle gespielt haben dürfte, sei nur andeutungsweise vermerkt. Ein didaktisch ausgerichtetes Symbol nenne ich einprägsam einfach „Ikone", weil diese dem Beschauer ohne besonders komplizierte Erfassung einer, sagen wir, mehrfigürigen Darstellung eines symbolträchtigen Ereignisses, den Sinngehalt „schnell" vermittelt. Diese Kategorie überschneidet sich allerdings mit den vorangegangenen, wenn im Dienste der Einfachkeit bewußt oder unbewußt - auf urtümliche Verständnisse oder auf einfacher beschaffene Objekte (Bilder) zurückgegriffen wird. Mediävisten sind selten bereit, auf die Frage nach der in Urzeiten liegenden Herkunft mancher Symbole einzugehen, da sie sich wenig von der oft zu sehr allgemeinen Feststellung, daß etwa ein Symbol (oder auch Zeichen) auf phallische Assoziation zurückgeht, für das Verständnis seiner mittelalterlichen Verwendung und Deutung versprechen. Meines Erachtens ist dieser Unwille nicht unberechtigt, denn wahrscheinlich waren die Wurzeln solcher Jahrtausende alten und - man denke an die psychoanalytische Traumdeutung - wohl wirklich „ewig" gültigen Symbole für ihre Funktion im weitgehend literarisierten Mittelalter doch nur sehr entfernt relevant. Trotzdem verdienen kulturanthropologisch und psychologisch ausgerichtete Untersuchungen

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über diese Fragen mehr Beachtung als bisher, zumal, weil sie vergleichende Analysen von Symbolen und verwandten Themen in verschiedenen Gesellschaften zulassen und zur Füllung von durch Quellenarmut entstandenen Lücken beitragen können. Was demgegenüber die Übernahme klassischer Symbole (vor allem Personifikationen) betrifft, so braucht man nur auf die vielen Arbeiten etwa aus dem Umkreis der Warburg-Schule hinweisen, um die Vielfalt des „Uberlebens der Antike", vor allem in der Welt der Symbolik anzuzeigen. Zum Thema der praktisch-didaktischen Vereinfachung in der Welt der Symbolik haben gar Semiotiker unserer eigenen Zeit auf den Wert des „einfachen" Symbols, etwa in bezug auf unsere Verkehrsschilder und Flughafen-Männeken, vieles beigetragen. Diese sind - soweit ich es sehe gemischt Zeichen und Symbole, aber das Prinzip der Einfachkeit und der schnellen Erkennbarkeit dürfte auch für historische Symbole gelten. Die Funktion von Symbolen ist im wesentlichen in ihrer Definition begriffen: durch mit den Sinnen wahrnehmbare Anstöße auf etwas sinnlich nicht Wahrnehmbares hinzuweisen. Für das Mittelalter war natürlich die Vermittlung christlicher Lehrinhalte durch Symbole das wichtigste; jedoch war genau dieses Gebiet durch die biblische Tradition des unsichtbaren Gottes und des Bilderverbots im Dekalog zweifelsohne spannungsvoll. Nur als Kürzel sei auf die ikonoklastische Kontroverse einerseits und auf die Theologie des Altarsakraments symbolische oder tatsächliche Verwandlung - hingewiesen. Soviel soll, skizzenhaft, für Symbole auch genügen, denn, soweit ich es beurteilen kann, waren diese - im Sinne der obigen Definition - für die Entstehung und den Bestand von Institutionen nur begrenzt relevant. Zwar wiesen sie auf ideelle Gehalte hin oder standen für abstrakte Begriffe, die ihrerseits die Daseinsberechtigung oder den Charakter von Institutionen prägen durften, aber unmittelbar mit Institutionen waren vor allem jene symbolträchtigen Objekte, Töne oder Handlungen verbunden, die man besser als Zeichen definiert. Wie bereits verzeichnet, entwickelten sich Wortsymbole für Institutionen auch eher aus Zeichen. 2. ART UND FORM VON ZEICHEN

Zeichen sind in diesem Sinne: Gesten, Töne (einschließlich Worte) und Dinge (Objekte), die eine gesellschaftliche Interaktion bzw. einen oder mehrere ihrer Teilnehmer, oder auch nur eine Person bzw. ein Objekt als etwas über sich selbst hinausweisendes identifizieren. Wie am Anfang bereits skizziert, scheinen Zeichen, so definiert, schon an

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und für sich etwas Institutionshaftes zu sein. Im Folgenden möchte ich versuchen, dem Verhältnis zwischen „gemachtem", „gegebenem" oder „angebrachtem" Zeichen und jenem gesellschaftlichen Tatbestand, auf den sie „über sich selbst hinaus" hinweisen, d. h. den Institutionen im weitesten Sinne, nachgehen. Freilich sind Zeichen nicht nur Teil der zeit-örtlichen Tatsächlichkeit, sondern „wandern" auch in die Bildwirklichkeit, wo sie dann u. U. Symbolcharakter annehmen. Und fast alle Zeichen implizieren symbolische Gehalte, indem sie nicht nur auf eine Institution, sondern, wie bereits gesagt, auch auf den abstrakteren Gehalt derselben, etwa deren Rechtsgrundlage, metaphysische Verankerung, Zielsetzung usw., hinweisen oder gar von diesem abgeleitet sind. Doch darüber weiter unten. Zunächst sollen versuchshalber jene Zeichen, die für unser Thema in Frage kommen, gleichsam taxierend systematisiert werden. Parallel zu den für die Symbole angewandten Klassen kann man Zeichen nach ihrer (1) Art oder Beschaffenheit, (2) gesellschaftlichen Funktion und (3) Ursprung klassifizieren. Selbstverständlich sind Zeichen - da in der bunten Wirklichkeit des Lebens beheimatet - in ihrer Beschaffenheit vielfältiger als Symbole. Manche sind hörbar, andere nur sichtbar, wiederum andere sowohl sichtbar als auch tastbar. Die einzelnen Gruppen enthalten auch Zeichen, die nur miteinander gleichzeitig „gezeigt" Bedeutung haben, andere stehen für sich. Ohne Vollständigkeit anzustreben, ließen sich, gleichsam in der Abfolge ihrer „Greifbarkeit", folgende Gattungen nennen: a) Töne (Glockenläuten, Rassel, Trommelschlag usw.) b) Gesprochene Worte (im weitesten Sinne, Sprachen selbst, und zwar in allen ihren Untergruppen, wie Nationalsprache, Dialekt, Fachund Klassendialekt usw.). Hierfür sind freilich selbständige Forschungsgebiete, wie Soziallinguistik und historische Sprachlehre, zuständig, deren Problematik hier nur angezeigt werden soll. Schon aus jenen Quellen, in denen proto-nationale Gedanken auftauchen, wird deutlich, daß sich Menschen im Mittelalter vor allem durch ihre Rede (Sprache) als zu einer oder anderen Kultur (Volk?), oder auch Landschaft, Berufsgruppe (einschließlich Kriminelle usw.) gehörig auswiesen bzw. daß sie durch die eine oder andere lingua als solche erkannt wurden. Hierher gehört auch die Standesanzeige durch Lateinkenntnis ( l i t t e r a t u s - i l l i t t e r a t u s ) , aber auch das Zeichen einer bestimmten Zuwendung zum Hörer wie etwa durch christliche Autoren, die bewußt lingua rustica benutzen (uns natürlich

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nur durch geschriebene Sprache bekannt, aber in sermones war das gesprochene Rede). c) Rufe und sonstige menschliche Tonäußerungen, Schlachtrufe. Da diese gemeinhin nicht als inhaltsvermittelnde Kommunikation beschaffen sind, verdienen sie eine gesonderte Unterklasse. Während viele hochmittelalterliche - vor allem christliche - Schlachtrufe auch „kommunikativ" waren (Christus, Christusl), dürften andere, traditionelle (das Huj, huj der Magyaren, die eigentümlichen proclama polnischer Adelsnester) nicht als Sprachteile im eigentlichen Sinne gelten, sondern als Erkennungsmerkmal für Freund und Feind einen Zeichengehalt gewonnen haben. d) Gesten. Die Wichtigkeit der Gestik für Rechts- und Religionsgeschichte, um nur zwei Gebiete zu nennen, wurde seit langem erkannt. Offenbar gehören Körperbewegungen verschiedener Art zu den urtümlichsten Anzeigern zwischenmenschlicher (da ja, aller Wahrscheinlichkeit nach, bereits zwischentierlicher) Verhältnisse. Für das Mittelalter ist vielleicht zu unterstreichen, daß politische und religiöse Akte oft vor großen Mengen gehandelt wurden, wo die Geste - im weitesten Sinne - am besten sichtbar war. Ferner, daß diese bedeutungsvollen Handlungen eine „Botschaft" an vornehmlich illitterati zu vermitteln hatten, denen die gesprochenen Worte, etwa in der Liturgie oder bei anderen Rechtsakten, aus mehreren Gründen (teils linguistischer, teils kultureller Art) nicht (oder nicht voll) verständlich waren. Auf die, ebenfalls seit den Anfängen unserer Zivilisation belegten, kultischen Implikationen jeglichen Theaters sei nur erinnerungshalber hingewiesen. e) Kleidung, einschließlich Haar- und Barttracht. Systematisch gesprochen sollte man mit Bekleidet-sein (und wenn ja, zu welchem Maße) beginnen, doch Nacktheit als Zeichen (im Gegensatz zu Symbol in der Bildwirklichkeit) ist in unserem Zusammenhang wohl recht selten. Daher kann man die äußere Erscheinung einer Person sinnvoll als Kleidung einerseits und Einzelheiten des meist durch keine Kleidung verdeckten Kopfes andererseits ausreichend beschreiben und analysieren. In diesem Bezug gibt es allerdings auch die Frage nach Kopfbedeckung überhaupt, unter Umständen mit der Geste der Entblößung des Hauptes verbunden. Haar- und Barttracht gehören wohl auch zu den urtümlichen Schichten der Zeichenwelt, teilweise, weil gut sichtbar, aber auch weil nicht leicht veränderbar; denn jeglicher Zuwachs, im engen Sinne des Wortes, nimmt zumindest Zeit in Anspruch. (Inwieweit hier archaischmagische Vorstellungen über die Kraft im Haar - Samson! - mit-

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spielen, sei dahingestellt.) Das lange Haar der Merowinger, der Bart des Barbaren oder der „Schismatiker", auch des Einsiedlers, die Tonsur des Mönches sind prima facie (mit Verlaub für das Wortspiel) Beispiele, aber es gab auch feinere Nuancen: Stil, Mode, Form des Haar- und Bartschnitts, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Mit der Kleidung oder Tracht betreten wir das weite Feld von Objekten oder Dingen, die als Zeichen (oder zumindest auch als solche) fungieren. Die meisten Zeichen im engeren Sinne sind ja Dinge, die aus einem von mehreren Gründen als Zeichen für etwas über sich hinausweisendes verwandt werden. Die häufigste Ursache für das zum „Zum-Zeichen-werden" ist mit dem Begriff der Institution eng verwandt, nämlich, daß das Ding wiederholt und regelmäßig mit einer gesellschaftlichen Funktion oder deren Ausüber(n) verbunden ist. Das gilt auch für Körperbekleidung im weitesten Sinne neben vielen anderen, die auf die unten unter f) zurückzukommen sein wird. Es erübrigt sich wohl, den Zeichencharakter von fast jeglicher Körperbedeckung im einzelnen zu unterstreichen. Genau wie mit der Sprache, ja genauer gesagt bereits „davor", gilt die Art der Körperbedeckung als Erkennungszeichen eines Menschen, denn sie ist ja sichtbar, auch wenn „der Andere" noch oder überhaupt keinen Ton von sich gibt. Manche Typen der Kleidung, ja die meisten, wurden nur sekundär zu Zeichen. Zunächst waren sie aus praktischen oder kultischen Gründen von bestimmten Personen getragen. Da sie aber der Regel nach allein an diesen Personen sichtbar waren, wurden sie zum Zeichen von deren Zugehörigkeit zu einer ethnischen, regionalen, Berufs- oder Amtsgruppe - wobei z. B. die Amtsgruppe auch eine „Gruppe von Einem" (Papst, Kaiser) sein konnte. Früher oder später erfolgt die Institutionalisierung der Kleiderzeichen: durch Gesetz oder Gewohnheitsrecht wird das Tragen gewisser Kleidungsstücke anderen als den Angehörigen verboten, bzw. bestimmten Personen das Tragen der Kleidungsstücke als Pflicht auferlegt (Mönchshabit, Schleier, Judenhut). Einzelne Kleidungsstücke werden von Amts wegen vergeben, somit bilden sie bereits einen Ubergang zu den Amtszeichen der Gruppe „Objekte" (Pallium, Loros). Die „Einkleidung"(Investitur im engeren Sinne) wird mit festlichen Gesten, unter Umständen mit Symbolgehalt verbunden, wie Hochzeit, Schleiernahme, Ritterweihe, Krönung, usw. f) Objekte. Wie bereits vermerkt: die meisten Zeichen sind Gegenstände, die entweder ausschließlich oder in anderer Verwendung als

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Anzeiger gesellschaftlicher Stellung oder Funktion dienen. Man könnte, um ganz systematisch zu sein, jene Objekte, die keine andere Rolle als die eines Zeichens haben („nur-Zeichen"), von denen trennen, die zwar Gebrauchsgegenstände sind, aber auch als Zeichen gelten („auch-Zeichen"). Für ersteres sind „Abzeichen", wie Krummstab, Zepter, Amtskette, Pilgerzeichen u. dgl. charakteristisch, für letzteres etwa Pilgerhut, Schild mit Wappen (wobei man gar das Wappen zur ersten, das Schild selbst zur zweiten Klasse zählen könnte), Henkersbeil. Gerade, weil die Gruppe der Objekte als Zeichen die größte ist, muß auf eine detallierte Aufzählung verzichtet werden. Bei der Klassifizierung der Zeichen nach deren Funktion kommen wir auf sie ohnehin zurück.

3. GESELLSCHAFTLICHE FUNKTION DER ZEICHEN: Am Anfang wurde bereits angeschnitten, daß Zeichen grundsätzlich zweierlei, voneinander keineswegs klar getrennte, Funktionen zu haben scheinen. Erstens können sie eine Gruppenzugehörigkeit anzeigen nennen wir diese „Genossenschaftszeichen" - und zweitens können sie Befugnisse des/der tragenden Person/en ausweisen - nennen wir diese „Amtszeichen". Genossenschaftszeichen trugen ganz besonders zur Bildung von Institutionen bei, wenn auch nicht alle „Genossenschaften" (vor allem die zahlenmäßig größten Gruppen) zu Institutionen im engeren Sinne wurden. Amtszeichen wuchsen üblicherweise aus Institutionen hervor, doch vermochten sie diese durch Festigung der sozialen Funktion und Definition der Handelnden sehr wohl zugleich zu stärken. Außer diesen beiden, im wesentlichen auf gesellschaftliche Gruppen (oder Mitglieder) bezogenen Zeichen ließe sich eine dritte Gruppe von Zeichen postulieren, die den Charakter einer Handlung, eines Ortes oder eines speziellen Gegenstandes anzeigen. Da diese üblicherweise etwas mit Recht und Gewohnheit (sei es weltlicher oder geistlicher Art) zu tun haben, nenne ich sie einfachheitshalber „Rechtszeichen". a) Genossenschaftszeichen. aa) Individuell getragen/geäußert: Die meisten dieser Zeichen wurden von den einzelnen Mitgliedern der Gruppe als Erkennungszeichen verwandt und, wenn man so will, alltäglich angewandt. Sie zeigen die Zugehörigkeit zu den Gemeinschaften vom weitesten zum engsten an. Gemeinsame Zeichen aller Christen (was im mittel-

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alterlichen Europa ja fast alle schlechthin meint), wie Kreuzschlagen, Grußformen (Laudetur...), Halskreuz, galten kaum als Begrenzung der Gruppe, denn Juden, Muslime (und Ketzer) waren ja Minderheiten und Außenstehende, von Heiden ganz zu schweigen. Großgruppen innerhalb der Christenheit zeigen sich vornehmlich durch Sprache (Volkssprache, Regionaldialekt) und Kleidung an. (Wie alt „Volkstracht" als Anzeiger lokaler Zugehörigkeit ist, wird von Ort zu Ort verschieden liegen und dürfte erst nachmittelalterlich sein.) Standes- und Berufsgruppen hatten außer Berufstracht, Fachsprache usw. oft auffallende Objekte (Waffen, typische Werkzeuge) als „auch-Zeichen" geführt. Heraldik gehört in diese Klasse, da sie Zugehörigkeit einerseits zum „Ritterstand", andererseits innerhalb dessen zu einem gewissen Klan, Sippe, oder Familie (Adelsnest usw.), ja auch zu einem besonderen Status (Bastard, cadet-line usw.) anzeigt. Zeichen der aus der mittelalterlichen Gesellschaft - zeitweilig oder ein für allemal - ausgeklammerten Juden, Leprakranken, Pilger, Büßer, Kriminellen, die sie zu tragen oder äußern (Rassel der Aussätzigen) verpflichtet waren bzw. zu ihrem Schutz (Pilger) trugen oder zeigten, gehören in diese Klasse. Schließlich gab es Zeichen für ganz bestimmte Kleingruppen, wie Zunft, Stadtquartier, Betbruderschaft usw. ab) Genossenschaftszeichen, von der Gruppe gemeinsam gezeigt (gerufen, gesungen usw.) sind meist mit festen Anlässen verbunden, z. B. bei Festlichkeiten, rechtssetzenden oder ähnlichen Akten, bei Gelegenheiten gemeinsamen Vorgehens (Krieg, Markt, Messe, liturgischer Handlung). Soweit ich sehe, sind diese immer „nurZeichen", und per definitionem allein bei besonderen Anlässen hervorgeholt worden. Man denke an Landes- und Kirchen- oder andere Genossenschaftsfahnen, Prozessionsstücke, das Kreuz des Flagellantenzuges, Reliquienschreine, Schriftrollen der Juden und dgl. mehr. In bezug auf Institutionen sind diese Zeichen bereits Anzeiger der Existenz einer „Anstalt", denn sie setzen gemeinsames, festgesetztes Handeln, ja auch (zumindest an den Zeichen selbst) gemeinsames Eigentum voraus. Eben deshalb sind sie der Regel nach mehr als die individuellen Zeichen symbolträchtig, da sie oft auf die ideelle Grundlage der Institution und ihrer Träger hinweisen: die Kirchspielfahne zeigt nicht nur die Zugehörigkeit einer Gruppe von Gläubigen zum Sprengel, sondern verweist auch auf das Patrozinium, u. U. gar auf ein spezielles (legendäres) Ereignis, Wunder usw. hin. Von hier ist der Weg zur Fiktion über das Eigentum des unsterblichen Heiligen am Kirchengut nur einen Schritt lang, wenn

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diese Fiktion gar dem Zeichen nicht vorangeht. Das prozessioneile Herumtragen des Heiligenschreins entlang der Besitztumsgrenzen gegen Angriffe auf das Klostergut ist gleichzeitig ein Vorzeigen des Zeichens, rechtssetzende Handlung und symbolhafte Überhöhung der Unantastbarkeit des Besitzes. Da viele von den hier behandelten gemeinsam-genossenschaftlichen Zeichen von Amtsträgern der Gruppe geführt bzw. getragen wurden, waren sie oft mit deren Amtszeichen (s. unten bb) identisch. b) Amtszeichen. Zweifelsohne sind Amtszeichen im weitesten Sinne die meist studierten Zeichen, die für unsere Fragestellung bedeutend sind. Daher sollen sie hier nur kurz überblickt werden. Alle jener Zeichen, die einen oder mehrere Träger einer gesellschaftlichen Funktion identifizieren, können freilich nur mit Vorbehalt einfach „Amtszeichen" genannt werden, denn diese Vokabel beinhaltet schon einen Grad der Institutionalisierung und der Abstraktion des officium-YSegriiies, der nicht von Anfang an mit ihnen verbunden sein muß. Wir werden auf diesen Prozeß noch zurückkommen müssen; doch soviel sei gleich festgehalten, daß „Amtszeichen" in vielen Fällen aus Objekten hervorgingen, die aus praktischen oder Status-anzeigenden Gründen getragen wurden und erst mit der Festigung einer Funktion und ihrer Einbindung in ein Institutionssystem zu Amtszeichen sui generis geworden sind. ba) Amtszeichen reichen freilich von den (uns selten bekannten) niedrigsten, etwa des Dorfrichters, zu den höchsten, den kaiserlichen und königlichen Herrschafts- und päpstlichen Pontifikalzeichen, die, zusammen mit den Gesten und symbolträchtigen Worten (Liturgie usw.), die ihre Übergabe begleiten, zu einem eigenständigen Forschungsgebiet geworden sind und hier nicht referiert werden können. Trotzdem lohnt es sich vollständigkeitshalber darauf hinzuweisen, daß auch diese Zeichen weiter unterteilt werden können, etwa in: Inauguralinsignien, die als Herrschaftszeichen im engeren Sinne galten; in symbolträchtige Handlungen, die als Zeichen der Übergabe des Amtes und Ranges die rechtssetzenden Momente (und ihre Träger, bzw. deren gegenseitiges Verhältnis zueinander, usw.) bedeuteten; und in sonstige Zeichen der geistlichen oder weltlichen Führungsposition, die zwar nicht mit Inauguralriten verbunden waren, aber als Anzeiger der Herrschaft besonders für breite Kreise der Untergebenen höchst bedeutend wurden, wie z. B. Münzen mit Herrscherbild.

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bb) Amtszeichen genossenschaftlichen Charakters waren zwar oft von Formen der Herrschaftszeichen abgeleitet (Universitätszepter), aber zeigten keinen „Herrn", sondern einen zeitweiligen (gewählten) Amtsträger an. Die gegenseitigen - oder vielleicht nur einseitigen Prozesse der imitatio zwischen Herrschaftszeichen und genossenschaftlichen Amtszeichen bedürfen, glaube ich, noch genauer Untersuchung. bc) Zeichen von Rechtshandlungen im allgemeinen können hierher gezählt werden. Diese sind meistens nicht bloße Dinge, sondern als Dinge mit Gesten verbunden: eine Handvoll Erde, die, über die Schulter geworfen, in der symbolischen Handlung der crenecruda der Lex Salica die Weitergabe der Schuld anzeigt, oder die Lanze des Gerichtsvollziehers, die vor dem Dorf in den Boden gesteckt wird, um nicht nur die Person des Handelnden, sondern auch eine juristische Handlungsstelle auszuweisen. Wegen des Interesses am Recht als zentraler Kategorie mittelalterlichen Lebens wurden die „Rechtsaltertümer" bekanntlich bereits von den Gebrüdern Grimm gesammelt und systematisiert, und sind zum Gegenstand ausführlicher Studien in den 150 Jahren seit deren Publikation geworden. Trotzdem glaube ich, daß zu dieser allgemeinen Kategorie noch viele, bislang weniger bearbeitete Zeichen gehören, wie etwa die Steinmetzzeichen auf Monumentalbauten, Eigentumszeichen auf Gegenständen privater Art (die gelegentlich archäologisch erfaßt wurden), aber auch mögliche Vorgänger der aus späteren Zeiten bekannten Bettler- und Gaunerzeichen usw. Vielleicht ist auch zu überlegen, ob es tatsächlich angebracht ist, all diese als „Rechtszeichen" verschiedener Art anzusehen, und ob nicht etwa andere Lebensbereiche wie Zauber, Magie und orthodoxe Religion solcherlei Zeichen hervorbrachten. 3. Eine genetische Klassifikation von Zeichen scheint mir komplizierter zu sein als die bei Symbolen skizzierte. Die meisten Wurzeln von Symbolen (archaisch, klassisch, praktisch) gelten wohl auch für Zeichen, doch eben wegen ihrer Dinglichkeit kommen Zeichen aus einem viel weiteren Feld des Alltags- und Festtagslebens, a) Zunächst sind jene „Zeichen" zu nennen, deren Ursprung weit über unser Gebiet (und meine Kompetenz) hinausgeht, wie etwa Sprache, aber auch Kleidung und Haartracht. Sie gehören in die anthropologisch erfaßbare Entwicklung von menschlicher Gemeinschaft schlechthin. Für unsere Fragestellung sei festgehalten, daß ihr Zei-

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chencharakter sich allmählich entwickelt: Nachdem sie wohl Jahrtausende lang unbemerkt blieben, wurden sie zunächst als Anzeiger von Zugehörigkeit begriffen (der Anderssprechende als taubstumm, etwa slawisch niema, daraus niemiec, was dann schließlich den bekanntesten Nachbarn, den Deutschen, meint); dann bewußt als absonderndes Zeichen benutzt, wie etwa das Tragen gewisser Kleidungsstücke und schließlich kodifiziert, d. h„ ihr „Tragen" anderen als der bestimmten Gruppe oder Person verboten. Die Entwicklung der geistlichen Tracht wäre ein gutes Beispiel, da wir hier zunächst das Verbot „unziemlich zierlicher Gewandung" für den Klerus vernehmen und erst allmählich Hinweise finden, daß das Tragen des einfarbigen, endlich schwarzen oder grauen Habits (bald auch durch seinen Schnitt erkennbar) als ausschließlich dem geistlichen Stand zugeordnetes Zeichen betrachtet und schließlich auch rechtlich so verankert wird. b) Beispiele für Zeichen archaischer oder klassischer Herkunft würden in unendliche Breite führen. Daß manche mittelalterliche Zeichen auf uralte, möglicherweise totemistische (um eine vereinfachte Vokabel zu benutzen) Vorstellungen zurückgehen, wie etwa Stab und Szepter mit ihrem eindeutig phallischen Charakter, steht außer Zweifel, doch - wie bereits bei den Symbolen vermerkt - dürften diese Aspekte im mittelalterlichen Europa nur im „Unterbewußten" gegolten haben.Viel mehr bewußt war die Übernahme von Zeichen aus der Antike bzw. aus der den keltisch-germanisch-slawischen Neukömmlingen bekannten römischen und byzantinischen Spätantike. Gewiß dürften einige Zeichen aus der eigenen gentilen Vergangenheit übernommen worden sein, wobei die Abstammung aus der mit den Mittelmeerkulturen gemeinsamen indoeuropäischen Urzeit nicht verworfen werden kann (für den Stab des Richters, des Führers, des Alten, usw. wurde dieser Nachweis mehrfach versucht und mag überzeugen). Die symbolträchtige Umwertung mancher solcher Zeichen ist zu vermerken; so z. B. erhält der Stab, wenn er zum Krummstab des Abtes oder Prälaten wird, die neue Bedeutung des Pastoralzeichens, was von dem aus dem Alltagsleben wohl bekannten Krummstab des Schäfers abgeleitet - oder nachträglich allegorisch hineininterpretiert? - wird. Zu dieser Gruppe darf man vielleicht auch jene Zeichen zählen (obwohl dies auch für die nächste Kategorie gilt, s. unten c), die nicht nur wegen ihrer archaischen oder klassischen Herkunft, sondern wegen ihrer einmaligen, besonderen Existenz zum Zeichen oder vielmehr zu einem „höherwertigen" Zeichen wurden. Die Hei-

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lige Lanze enthielt nicht nur den allgemeinen Charakter der Lanze als Zeichen des Heer- oder Truppenführers, sondern wurde als Reliquie (ja in ihren mehrfachen Interpretationen als Reliquie der Kreuzigung und des Hl. Martins) zum schlechthinnigen Zeichen des vornehmsten Heerführers, des Kaisers, von ihrer „politischen" Bedeutung als Anzeiger der Herrschaft über Burgund ganz zu schweigen. Desgleichen gilt für Bischofs- oder Abtsstäbe heiliger Vorgänger, für das Schwert „Karls des Großen" oder „Attilas Schwert", usw. c) Am interessantesten, und wohl für den Prozeß der Institutionalisierung höchst relevant, scheint mir die Entwicklung von Zeichen aus „praktischen" Objekten zu sein. Ohne die komplizierte und wohl begründete Diskussion der ursprünglichen Wurzeln von Krone und Kronhelm aufgreifen zu wollen, darf man z. B. vermuten, daß dieses Herrschaftszeichen - zumindest in einem Strang der Entwicklung - aus dem besonders sichtbaren Helm des Heerführers hervorging. Grob gesagt, läßt sich der Vorgang so skizzieren: U m den Führer in der Schlacht von weitem erkennen zu können, trägt er etwas, das aus großer Entfernung sichtbar ist, da hoch auf dem Kopf - einen besonderen Kopfschutz. Freilich dient dieser vor allem der Sicherheit seines Trägers gegen Schläge auf den Schädel, aber ist gleichzeitig so gestaltet, daß er ein Erkennungsmerkmal des Vorkämpfers ist. Dieser Helm ist oft aus Gold oder sonstwie wertvollem Material und Werk, womit er Reichtum und Erfolg in Beutezügen des heldenhaften Trägers anzeigt. Dadurch ergibt sich fast von selbst, daß nicht jeder so einen Helm „sich leisten" kann; und so wird der Führungscharakter des Trägers unterstrichen. Von hier ist es nur ein kurzer Schritt zum Zeichen der Macht, der Herrschaft, - zumal unter Umständen der Vorgang mit der Weitergabe eines dem legendär bekannten ehemaligen Führer zugeschriebenen Stückes verbunden sein konnte. Aller Wahrscheinlichkeit nach flössen dann noch andere Traditionen in die Entwicklung von „Krone" ein: der Lorbeerkranz des Triumphators aus der Antike oder die Vokabel Corona aus der metaphorischen Sprache der Krone des Märtyrers usw. Viel wurde hierüber geschrieben, und dieser kurze Abriß darf nur mit größtem Vorbehalt gelten; doch vielleicht reicht er, um das Argument - ,von einer praktischen Herkunft zum Zeichen und dann zu dessen symbolhafter Überhöhung' - zu exemplifizieren. d) „Krone" kann auch als Beispiel für die Entwicklung von Symbol aus Zeichen gelten (wie bereits weiter oben angeschnitten); doch der

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Vorgang dürfte auch in entgegengesetzter Richtung vonstatten gegangen sein. Ein - gewiß problematisches - Beispiel ist der Reichsapfel. Bekanntlich wurde behauptet, daß der westliche Reichsapfel nichts anderes als ein Mißverständnis des in Byzanz eindeutig als Symbol der Weltherrschaft begriffenen Globus darstellt: da man die Bedeutung der Kugel in der Hand des Kaisers nicht als Hinweis auf den abstrakten Kosmos verstand, ging man zur Herstellung einer Kugel (Apfel) über. Es ist auch bekannt, daß diese Interpretation (von P. E. Schramm) durch Hinweise auf tatsächlich vorhanden gewesene Sphairai in der Hand oströmischer Herrscher (von J. Deer ) in Frage gestellt wurde. Obwohl Deers Argument stellenweise zirkulär ist, läßt sich Schramms ursprüngliche Position nicht halten; trotzdem ist es wohl denkbar, daß der erste objektivierte Globus tatsächlich aus der unbedenklichen Übertragung des nur bildlich bekannten byzantinischen Symbols hervorging. Gewiß gibt es Parallelfälle, wenn man bedenkt, daß Bildsymbole von einer viel gelehrteren Schicht entworfen waren - oder auf Zeiten von verhältnismäßig ungebrochener antiker Tradition zurückgingen - , aber dann zum Vorbild von Anzeichen und Zeichen für Institutionen und Genossenschaften wurden, deren Mitglieder bei weitem nicht über das gleiche Bildungsniveau verfügten. Es würde sich lohnen, solcherlei „Mißverständnissen" weiter nachzugehen, e) Schließlich sei die Kombination von „Zeichen" genannt. Ich denke hier an Worte und Gesten, die mit zeichenhaften Objekten verbunden waren, oder an mehrere Zeichen, die gemeinsam in ein - dadurch u. U. höherwertiges - Zeichen verschmolzen wurden. Die Heilige Lanze wurde bereits erwähnt. Das Kreuz sowohl auf der Wiener Reichskrone wie auch auf der Stefanskrone wird jetzt als „Reliquie" früherer, formell oder informell als heilig verehrter Herrscher angesehen, womit das symbolträchtige Zeichen der Krone selbst durch die hinzugefügte Reliquie „geheiligt" wird. Doch genug der Systematisierung. Ich bin mir sehr wohl im klaren darüber, daß all dies recht unvollständig ist und nur deshalb vorgelegt werden darf, weil meines Wissens nichts Ähnliches von Historikern versucht wurde. Mein Wissen mag allerdings lückenhaft sein. Während der Ubersicht wurde mehrfach die Rolle von Symbolen, aber noch viel mehr von Zeichen in dem Prozeß der Institutionalisierung erwähnt. Zusammengefaßt darf ich vielleicht den „Kreiszusammenhang" wiederholen: die Festigung von etwas Alltäglichem oder Praktischem zum „Zeichen" fördert die Kohäsion der Institution, die dann ihrerseits zur Festigung und u. U. rechtlichen Kodifizierung

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des Zeichens beiträgt. Die allegorische Deutung von Zeichen - vor allem von Herrschafts- und Pontifikalzeichen, aber auch anderen - gibt in vielen Fällen eine Dimension der angehenden Institution, die sie über das bloß „routinehaft Wiederholte" hervorhebt, wie z. B. die Maxime des abstrakten „Staatskörpers" (body politic) durch den Hinweis auf die Krone - die ja offensichtlich „nie stirbt" - sowohl eine Illustration erhält, als auch eine Gedankenhilfe für jene, die solche theoretische Aussagen über Herrschaft zu formulieren bemüht waren.

4. SYMBOL UND KRISE

Zu guter Letzt ein Wort über Zeichen, Symbol und die Krise der Institutionen oder gar der mittelalterlichen Welt im allgemeinen. Am einfachsten ließe sich sagen, daß Zeichen im weitesten Sinne, vor allem Amts- und Rechtszeichen, auf die Krise - wenn es eine gab - unempfindlich sind, oder gar verkehrt empfindlich: sie werden mit großer Umsicht gezeigt, gerufen, ausgespielt, gerade um die u. U. aufkommende Unsicherheit der durch sie angezeigten Institutionen und der ihnen unterliegenden Konzepte und Weltsichten zu verschleiern. Freilich soll hier nicht an zynische Verschleierung gedacht werden, obwohl auch das eine Rolle gespielt haben dürfte, sondern vielmehr ein Festhalten an althergebrachten Formen, eben weil die Inhalte in Frage gestellt worden sind. Jan Huizinga hat darüber viel Treffendes gesagt, als er die spätmittelalterlichen Formen von „Ritterorden" und dgl. mehr charakterisierte. Doch es gibt auch eine innere Entwicklung der Zeichen und mancher symbolträchtiger Handlungen. Historiker von Herrschaftsritualen haben oft gezeigt, wie die frühmittelalterlichen Riten, Liturgien und ihre Ordines das Wechselverhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen König und Herren durch - gelegentlich ganz radikale - Änderungen widerspiegeln, um dann vom 12. bis 13. Jahrhundert an ungeändert, formelhaft weiterzuleben, während sich diese Kräfteverhältnisse weiter veränderten. Der Ordo der Kaiserkrönung hat z. B. mehrere Formeln beibehalten, die nach dem Investiturstreit keineswegs der päpstlichen Auffassung entsprachen, aber unbemerkt - oder unbekümmert - weiter geäußert wurden. Andererseits erhalten manche symbolisch-zeichenhafte Handlungen Zusätze im Spätmittelalter, gerade weil die traditionellen Worte und Gesten zum bloßen Ritual geworden waren. Ich denke an die verschiedenen „weltlichen" Akte, die der Krönung in der Kirche angehängt wurden und der wechselnden

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Rechtslage Rechnung trugen, während etwa der althergebrachte Krönungseid des Herrschers nicht mehr geändert wird. In Polen und Ungarn wurde z. B. im 15. Jahrhundert die Pflicht der Landesverteidigung durch einen Akt, bei dem der neue König in einen Turm (oder auf einen Hügel) stieg und vier Schwerthiebe in alle vier Himmelsrichtungen verrichtete, besonders hervorgehoben. Wohl gemerkt, die Schwertschwingung innerhalb des Ordo, dem frühmittelalterlichen „Deutschen Ordo" folgend, blieb in der Krönungszeremonie enthalten, aber scheint ihr „Gewicht" verloren zu haben und mußte, dem Empfinden der Zeit entsprechend, mehr sichtbar und rechtlich bindend angezeigt werden. Historiker von Herrschaftszeichen und Herrscherritual haben oft die spätmittelalterliche Herrscherpräsentation, etwa den Triumph Maximilians, als nicht mehr rechtssetzend, bloß „schaustellend" gleichsam abgeschrieben. Verglichen mit Krönungen und Inauguralriten des frühen und hohen Mittelalters gewiß richtig, doch man soll auch vermerken, daß die „Umfunktionierung" mancher Riten der sich allmählich ändernden gesellschaftlichen und geistigen Situation sehr wohl Rechnung trug. Verkürzt gesagt werden die Stände, aber auch andere Untertanen zunehmend in die symbolhaften Akte einbezogen, - ganz auffallend bei den entrées in Frankreich, England oder Burgund, beim letzteren bekanntlich ja mit neuartigen Akten der Rechtssetzung von neuem, vertraglichem Charakter verbunden. Die Teilnahme der Zünfte und Bruderschaften an solchen Herrschaftsfesten ist ja ebenfalls symbolträchtig, wenn auch weniger „als ob"-Handlungen vorgestellt werden, vielmehr ein echter Dialog durch Zeichen und Schaubilder zwischen Herrscher und Beherrschten angestrebt wird. Doch dieses Forschungsgebiet ist noch zu wenig ausgeleuchtet, um systematische Aussagen zu wagen.

ÜBERLEGUNGEN ZUM PROBLEM VON GESETZGEBUNG UND INSTITUTIONALISIERUNG IM MITTELALTER JOHANNES FRIED

Gesetzgebung erscheint in der geschichtswissenschaftlichen Forschung geradezu als klassisches Paradigma für den Institutionalisierungsprozeß. D a s frühe Mittelalter kommt weitgehend, so glaubte man bislang wenigstens, ohne Gesetzgebung aus; es gilt ja gewöhnlich als ein schwach institutionalisiertes Zeitalter. Das hohe Mittelalter kennt freilich noch immer wenige, überraschend wenige Gesetze. Hermann Krause"' zählt aus der Zeit von Konrad I. bis Lothar III. gerade deren zwanzig, rückt zudem die meisten in die Tradition der L o m bardei und der Romagna, läßt sie also allein für Italien und nur ein einziges für den deutschen Rechtsbereich gelten. Seit dem 12. Jahrhundert nimmt - wie man in der Regel glaubt - beides, Gesetzgebung und Institutionalisierung, zu. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Kirche mit der päpstlichen Dekretalengesetzgebung, die im 12. Jahrhundert stark anschwillt; das gilt vor allem auch für den weltlichen Bereich. Ich erinnere etwa an Friedrich Barbarossas Authentica Habita, von der wir ja als Akademiker irgendwie über mancherlei Umwege noch heute profitieren. Ich erinnere weiter an solche Unternehmungen wie die Usatges von Barcelona oder die Constituía usus und -legis von Pisa oder für das 13. Jahrhundert an die kastilischen Siete Partidas und andere monumentale Gesetzgebungswerke. Ich erinnere schließlich an Ansätze zur Gesetzgebung seit dem späten 11. und 12. Jahrhundert in F o r m von Landfrieden oder von Herrschaftsverträgen, die regelmäßig schriftlich fixiert wurden. Eine reiche Fülle von Beispielen bietet sich also an. Gesetzgebung erscheint uns Historikern aber als ein wesentlicher Kernbereich von dem, was man heute Staatsgewalt nennt. Recht wird dabei als generelle N o r m verstanden. Die Frage nach dem Geltungsgrund solchen Rechtes, nach dem Setzungsverfahren, nach der Gültigkeitsdauer verfahrensgemäß gesetzter N o r m e n , wie weit sie also unbegrenzt gültig, aber stets widerrufbar sind, auch die Frage nach dem Siehe die bibliographischen Angaben am Ende dieses Beitrages.

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personalen und räumlichen Geltungsbereich von Gesetzen - all dies sind zentrale, von der Geschichtswissenschaft viel diskutierte Aspekte staatlicher Gesetzgebung, die alle - wie man annehmen sollte - auch auf den Institutionscharakter von Gesetzgebung und Gesetz verweisen müßten. N u n aber ist - wie ich aus dem Beitrag von Karl Acham in diesem Band erfahren kann - Recht eine „Institution im engeren Sinne". Recht ist keineswegs nur neu gesetztes Recht, sondern erscheint auch als überkommenes Gewohnheitsrecht; es besitzt als solches gleichfalls eine Form. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den schönen Aufsatz von Wilhelm Ebel „Recht und Form im Mittelalter". Auch Gewohnheitsrecht erscheint niemals ohne Form. Gleichwohl trennt der Historiker gewöhnlich - etwa im Gefolge Theodor Mayers - das Zeitalter des „Personenverbandsstaates" mit dem Übergewicht personalen Gewohnheitsrechtes mehr oder weniger scharf vom Zeitalter des „institutionellen Flächenstaates" mit seiner generalisierenden Gesetzgebung ab. Wir Historiker neigen dazu, in dem Wechsel vom einen zum anderen einen regelrechten Institutionalisierungsschub oder gar einen qualitativen Sprung zu sehen. Doch wäre das nach soziologischer Auffassung nicht zu halten; denn danach ist auch Gewohnheitsrecht schon Institution. Karl Kroeschell hat einmal eine fast paradoxe Formulierung vorgeschlagen, um dieser Situation gerecht zu werden. Er sprach vom „nicht normativen Recht", das kennzeichnend sei für das früh- und hochmittelalterliche, noch nicht von der Wissenschaft geprägte Rechtsleben. Man muß die Zuspitzung vielleicht ein bißchen abschwächen und statt vom „nicht-normativen" Recht besser vom „nicht generellen" Recht (als einem Recht ohne generelle Geltung) sprechen. Doch das steht hier nicht zur Debatte. Kroeschell weist mit seiner paradoxen Formulierung auf ein in unserem Zusammenhang entscheidendes Phänomen hin, darauf nämlich: daß neues Recht im frühen und hohen Mittelalter zumeist durch zweiseitigen Vertrag - Ebel würde sagen: durch Verwillkürung - und nicht durch allgemein verbindliche Satzung geschaffen wird, und daß dies eigenartige Konsequenzen zeitigt. Solange Recht aus der vertraglichen Vereinbarung einzelner Vertragsparteien miteinander fließt, erübrigt sich die Denkform „Sonderrecht bricht allgemeines Recht" weitgehend. Ihr begegnen wir denn auch erst im Spätmittelalter, jetzt vielleicht schon als erstes Zeichen jenes Wandels, den Theodor Mayer als Institutionalisierung fassen zu können glaubte, den wir indessen im Blick auf die soziologische Typologie neu zu bestimmen hätten. Das Mittelalter liebt knappe Sprichwörter. So sagt es denn: „Gedinge bricht Landrecht". Gedinge: das ist eine spezielle Form

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von Ehevertrag, Landrecht aber repräsentierte - so würde man heute wenigstens vermuten - eher die generelle Norm. Die Rechtsformel besagt, so verstanden, also: Der private Einzelvertrag bricht das allgemeine Recht. Das aber spiegelt noch immer eine von Institutionalisierung im landläufigen Sinne weit entfernte Situation. Bei derartigem Verständnis von „Gedinge bricht Landrecht" fällt die Antwort auf die Frage, was denn Geltungsgrund des „Gedinges" sei und wie das Verfahren zur Rechtssetzung zu beurteilen sei, gewiß nicht in den Zuständigkeitsbereich des Institutionenbegriffs, wie ihn die Historiker bislang benutzten. Gleichwohl handelt es sich auch beim gewohnheitsrechtlichen „Gedinge" nach soziologischem Verständnis um eine Institution. Die Sprachen der Soziologen und der Historiker lassen sich freilich nicht einfach zusammenführen. Wollte man es tun, so stünde man vor einer abermaligen Paradoxie: Die neue, generelle Normen setzende Gesetzgebung wäre dann nämlich (gemäß dem bisherigen Verständnis der Historiker) „Institutionalisierung" innerhalb von (nun im soziologischen Sinne) „Institutionen"; wir hätten gleichsam zu unterscheiden zwischen der Primärinstitution („Recht" in jeder Form) und einer Sekundärinstitution („Recht" als Emanation eines in bestimmter Weise, nämlich als „institutionellem Flächenstaat", organisierten Verbandes). O b dies zulässig ist, ob dies eine geschickte, verwirrungsfreie Terminologie ist, das sei dahingestellt. Aber ich glaube, wir Historiker sollten uns - wollen wir die Nachbarwissenschaft verstehen - auch darüber unterhalten. Eine letzte Konsequenz sei noch angedeutet: Wenn sich alles, wie angedeutet, verhält, dann wäre Gesetzgebung im soziologischen Sinne gerade das, als was wir Historiker sie bislang regelmäßig angesprochen haben, nämlich Institutionalisierung, nicht. Dann wäre das Setzen von Recht und die verfestigende Ausformung eines entsprechenden Setzungsverfahrens keine Institutionalisierung, sondern lediglich ein anderer Umgang mit einer tatsächlich älteren Institution. Was wir bislang als Institutionalisierung angesprochen haben, wäre nichts weiter als ein Institutionswandel. Der Begriff „Institutionalisierung" liefe in die Irre und suggerierte fälschlich das Neueinsetzen eines Prozesses, der tatsächlich schon seit den allerersten Anfängen der Hominisation zu registrieren ist. Die Konsequenzen lägen auf der Hand. Was Theodor Mayer glaubte, als „institutionellen Flächenstaat" bestimmen zu können, müßte ganz neu gefaßt werden, weil „Institutionalisierung" eben gerade nicht das Kennzeichen jenes registrierbaren, als solchen also nicht zu bezweifelnden Wandels ist. Wir müßten das Ganze vielleicht als einen Per-

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spektivenwechsel der Zeitgenossen des Hoch- und Spätmittelalters zu beschreiben uns angewöhnen, vielleicht auch als einen Mentalitäts- oder Attitüdenwechsel im Gefolge der Verwissenschaftlichung von Recht und Rechtsdenken zu bestimmen haben. Gesetzgebung wäre eine Neufassung der Rechtsidee, eine Folge von Neuformulierung des Rechts und von Neuordnung seiner Entstehung. Nicht das Einsetzen und Einrichten von Institutionen wie Kanzlei oder Reichstag und dergleichen wäre dann der Institutionalisierungsprozeß, mit dem wir uns zu beschäftigen haben, sondern das andere Begreifen von Herrschaft und Staat. Literaturverweise: Wilhelm E b e l , Die Willkür. Eine Studie zu den Denkformen des älteren deutschen Rechts. (= Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien 6, Göttingen, 1953). D e r s . , Recht und Form. V o m Stilwandel im deutschen Recht. (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 449, Tübingen, 1975). H a n s Rudolf H a g e m a n n , Fides facta und wadiatio. V o m Wesen des altdeutschen Formalvertrages, in: Z R G G e r m A b t 83 (1966), S. 1-34. D e r s . , Gedinge bricht Landrecht, in: ebd. 87 (1970), S. 114-189. Hermann K r a u s e , Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher, in: Z R G G e r m A b t 82 (1965), S. 1 bis 98. Karl K r o e s c h e l l , Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismaram, 30./31. M ä r z 1981 (= Beihefte zu „ D e r Staat" 6, Berlin, 1983), S. 47-103 (mit Diskussionsbeiträgen) (dazu: H a n s K. S c h u 1 z e , in: Der Staat 24 (1985), S. 589-596. Dieter S i m o n , Auf der Suche nach dem Gegenstand, in: Rechtshistorisches Journal 3 (1983), S. 9-13.) Theodor M a y e r , Fürsten und Staat. Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters (Weimar, 1950). Jürgen W e i t z e l , Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen z u m Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter, 2 Bde. (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 15 I/II, Köln/Wien, 1985).

DIE DURCHSETZUNG NEUEN RECHTS IM ZEITALTER DES KLASSISCHEN K A N O N I S C H E N R E C H T S PETER LANDAU

I. KLASSISCHES UND ÄLTERES KANONISCHES RECHT

Die Epoche des klassischen kanonischen Rechts vom 12. bis zum 14. Jahrhundert unterscheidet sich deutlich von der vorhergehenden Zeit einer tausendjährigen Entwicklung durch die V e r e i n h e i t l i c h u n g des Rechts und durch e i n s c h n e i d e n d e Rechtsä n d e r u n g en. Eine vorher unbekannte Einheitlichkeit des Rechts wurde durch das Decretum Gratiani erreicht, während Rechtsänderungen einschneidender Art durch das ius novum der Dekretalen erfolgten. Das kanonische Recht wurde in dieser Epoche zu einem System mit vorher unbekannter Rechtssicherheit und institutioneller Präzision ausgebaut, wie es im Vergleich dazu etwa im Bereich der Ostkirchen bis zum heutigen Tage unbekannt geblieben ist. Die einzigartige Bedeutung der Epoche des klassischen kanonischen Rechts hat etwa G a b r i e l L e B r a s in dem Satz zusammengefaßt: „1140 1378: entre ces dates ... le droit s'est mieux construit et les institutions de l'Eglise se sont mieux définies que dans les milles ans dont Gratien avait inventorié les richesses1." Da es sich beim klassischen kanonischen Recht um eine relativ einheitliche Rechtsordnung handelte, kann bezüglich dieser Ordnung die Frage sinnvoll gestellt werden, in welcher Weise und inwieweit sich das in sie aufgenommene neue Recht jeweils durchgesetzt hat. Für das kanonische Recht des ersten Jahrtausends kann diese Frage dagegen nur sehr begrenzt gestellt werden. Zum einen kann man für diese frühere Epoche nur im Einzelfall und zeitlich gesehen am ehesten noch in der Epoche der antiken Reichskirche zwischen der Formulierung einer Norm und der Rechtswirklichkeit trennen; in vielen Bereichen, wie etwa dem des Eigenkirchenwesens, ist offenbar die Ordnung der Kirche 1 Vgl. G. Le B r a s / C h . L e f e b v r e / J . R a m b a u d , L'âge classique: Source et Théorie du Droit ( = Histoire du Droit et des Institutions de l'Eglise en Occident 7, 1965), S. 2.

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nicht von abstrakt vorgegebenen Regeln bestimmt 2 ; und insofern rechtliche Regeln in den vielen Sammlungen des kanonischen Rechts enthalten sind, sind sie häufig kaum mehr als Argumente im Rechtsstreit, ohne daß sich die Frage der Normgeltung eindeutig beantworten ließe. Galt das Verbot der absoluten Ordination vor dem 12. Jahrhundert 3 ? Waren die Appellationsbestimmungen des Konzils von Sardica stets oder auch nur zeitweilig geltendes Recht der lateinischen Kirche 4 ? Eine Antwort im Sinne des heutigen Verständnisses von Rechtsgeltung läßt sich auf diese Fragen nicht geben. Dementsprechend läßt sich für das frühe Mittelalter - anders vielleicht für das innerhalb eines staatskirchenrechtlichen Systems stehende Kirchenrecht der Spätantike - auch keine Differenzierung zwischen G e l t u n g und W i r k s a m k e i t von Rechtsnormen vornehmen. Im Anschluß an die Begriffsbildung heutiger Rechtstheorie gehe ich davon aus, daß Rechtsgeltung die Akzeptierung gewisser Rechtsbildungsorgane und von Verfahren der Rechtsentstehung erfordert, also von ,rules of recognition of law' 5 , während der Begriff .Rechtswirksamkeit' das Problem umschreibt, ob die soziale Realität durch das geltende Recht bestimmt wurde, inwieweit das als geltend akzeptierte Recht auch eine Gehorsamschance bei den Rechtsunterworfenen hatte. Die Unterscheidung zwischen Rechtsgeltung und Rechtswirksamkeit läßt sich für das Zeitalter des klassischen kanonischen Rechts durchaus sinnvoll aufgrund des historischen Befunds treffen, dagegen wohl nicht für die vorhergehende Epoche! Wenn ich in diesem Beitrag die Durchsetzung neuen Rechts zum Thema habe, so ist dabei die Eindeutigkeit der Geltung des neuen Rechts bereits vorausgesetzt, d. h. der allgemeine Konsens über Geltungskriterien, der aber keineswegs zu Beginn un-

2 Zum Eigenkirchenrecht s. P. L a n d a u , Art. „Eigenkirchenwesen" in: T R E IX (1982), S. 399-404, mit Angaben zu der Behandlung dieses Instituts in den Kanonessammlungen; neuestens W. H a r t m a n n , Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, (= Konziliengeschichte, Reihe A, hg. v. W. B r a n d m ü l l e r (1989), S. 453-458. 3 Zum Verbot der absoluten Ordination cf. das Standardwerk von V. F u c h s , Der Ordinationstitel von seiner Entstehung bis auf Innocenz III. (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 4, 1930) ( N D 1963) mit der überzeugenden Kritik an den Darlegungen von R. S o h m , Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, in: FS A. Wach (1918), S. 196-247 ( N D 1967). Zusammenfassend neuestens P. L a n d a u , Epikletisches und transzendentales Kirchenrecht bei Hans Dombois, in: ZRGKanAbt. 73 (1987), S. 131-154, auf S. 150-152. 4 Vgl. das Urteil von H. E. F e i n e , Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche (1972 5 ), S. 110: „Geltendes Recht ist das jedoch nicht geworden". 5 Dies im Sinne der Begriffsbildung bei H . L. A. H a r t , The Concept of Law (1961), besonders S. 97-106.

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serer Epoche bereits bestand, sondern ebenfalls erst ein Produkt historischer Entwicklung der Zeit von 1140 bis mindestens 1234 gewesen ist. Man muß daher wohl zuerst von der Entwicklung dieses Konsenses der Geltung eines einheitlichen kanonischen Rechts sprechen, bevor Fragen der Wirksamkeit des Rechts erörtert werden können.

II. PROBLEME DER RECHTSGELTUNG IM KANONISCHEN RECHT VON 1140 BIS 1234

Es ist in der Forschung allgemein anerkannt, daß die Bildung von ius novum im 12. Jahrhundert durch die Dekretalenproduktion zunächst den Konsens über den Thesaurus des älteren Rechts voraussetzte, nämlich die allgemeine Rezeption des gratianischen Dekrets. Trotz der intensiven Quellenforschung der letzten Jahrzehnte können wir allerdings auch heute noch keine präzisen Angaben über die Rezeption Gratians in einzelnen Ländern machen. Es fehlen überwiegend regionale Untersuchungen, wie sie W i n f r i e d S t e l z e r für Osterreich durchgeführt hat 6 . Man wird bei der Frage nach der Rezeption einer einheitlichen Grundlage von Normen des kanonischen Rechts den Blick auch nicht allein auf Gratian richten dürfen, sondern überlegen können, ob nicht ansatzweise bereits in den Jahrzehnten vor Gratian eine Tendenz zur Vereinheitlichung spürbar ist. In diesem Zusammenhang muß die europäische Verbreitung der Rechtssammlungen des Ivo von C h a r t r e s , insbesondere der Panormie, genannt werden 7 . Eine ähnlich dichte Verbreitung in wenigen Jahrzehnten hatte vor Ivos Panormie keine andere kanonistische Sammlung erreicht, nicht

6 W. S t e l z e r , Gelehrtes Recht in Österreich. Von den Anfängen bis zum frühen 14. Jahrhundert (= M I Ö G Erg. Bd. X X V I , 1982). In diesem Zusammenhang ferner P. L a n d a u , Die Anfänge der Verbreitung des klassischen kanonischen Rechts in Deutschland im 12. Jahrhundert und im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts, in: Atti della nona Settimana Mendola (= Mise, del Centro di Studi Medioevali XI, 1986), S. 272-297. 7 Für die zahlreichen Handschriften der Panormie fehlt bisher die umfassende Zusammenstellung. Der bisher einzige Versuch in dieser Richtung bei P. B r o m m e r , Unbekannte Fragmente von Kanonessammlungen im Staatsarchiv Marburg, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 24 (1974), S. 228-233. Außerdem P. L a n d a u , Die Rubriken und Inskriptionen von Ivos Panormie, in: B M C L 12 (1982), S. 31-49, bes. S. 48 f. zu den Münchner Handschriften. Zu den Dekrethandschriften P. L a n d a u , Das Dekret des Ivo v. Chartres. Die handschriftliche Uberlieferung im Vergleich zu den Editionen des 16. und 17. Jh., in: ZRGKanAbt. 70 (1983) S. 1-44. Zur europäischen Verbreitung der Panormie vgl. auch H. M o r d e k , Kanonistik und gregorianische Reform, in: Reich u. Kirche vor dem Investiturstreit, hrsg. v. K. S c h m i d (1985), S. 64—82.

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einmal Dionysius Exiguus in der Form der Dionysio-Hadriana und Burchard von Worms. Die Rezeption des Gratianischen Dekrets ist in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts soweit erfolgt, daß nunmehr die Ergänzung durch Sammlungen neuen Dekretalenrechts sinnvoll und erfolgreich sein konnte. Dabei muß beachtet werden, daß nach unserer gegenwärtigen Kenntnis Dekretalensammlungen sowohl für Unterrichtsbedürfnisse als auch für die Praxis der kirchlichen Richter, wohl vor allem des neuen Typs der iudices delegati, angelegt wurden 8 . Das bedeutet, daß Gratian von vornherein als praxisrelevantes Buch eingestuft wurde. Auch darin sehe ich einen Unterschied dieser abschließenden Rechtssammlung zur früheren kanonistischen Sammeltätigkeit. Daß dabei niemand im 12. Jahrhundert Gratians Werk entsprechend modernen Kategorien als .Privatarbeit' einstufte, muß seit den Forschungen Stephan Kuttners als gesichert gelten 9 . Damit war Gratians Dekret in complexu so etwas wie geltendes Recht geworden. Dieses Corpus kirchlichen Rechts wird nun seit Alexander III. durch das neugeschaffene Dekretalenrecht ergänzt. Jedoch müssen wir hier verschiedene Stufen unterscheiden. Die erste Stufe kann man in der Ausbildung einer ständigen Entscheidungspraxis der päpstlichen Kurie sehen, in der Entwicklung einer Routine höchstrichterlicher Rechtsprechung und Rechtsinterpretation, die sich trotz der Unsicherheiten der Einzeldatierung bereits in den sechziger Jahren beobachten läßt. Die nächste Stufe ist erreicht, als die Schule einzelne Dekretalen in den Unterricht einbezieht und etwa gleichzeitig größere, bald auch systematisch geordnete Dekretalensammlungen entstehen. Diese zweite Stufe wird erst während der achtziger Jahre des 12. Jahrhunderts erreicht, wohl nicht gleichzeitig in allen Teilen des damaligen Abendlandes. Vor dieser zweiten Stufe kann man wohl schwerlich von 8 Dies ist eines der Hauptergebnisse der grundlegenden Arbeit von Ch. D u g g a n , Twelfth-Century Decretal collections and their importance in English history (= University of London Historical Studies XII, 1963), bes. S. 110-124. Zur Arbeit von Duggan vgl. auch meine Rez. in: ZKG (1963), S. 362-375. Ferner habe ich in m e i n e r Arbeit, Die Entstehung der systematischen Dekretalensammlungen und die europäische Kanonistik des 12. Jh., in: ZRGKanAbt. 65 (1979), S. 120-148, bes. S. 128, auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung der frühen Dekretalensammlungen und der ständigen Beauftragung bestimmter Personen als päpstlicher iudices delegati hingewiesen. Die Besonderheiten der Situation in England für die Entstehung von Dekretalensammlungen, die für die Praxis bestimmt waren, werden untersucht bei M. G. C h e n e y , Roger, Bishop of Worcester 1164-1179 (1980), bes. S. 193-212. 9 S. K u t t n e r , Quelques observations sur l'autorité des collections canoniques dans le droit classique de l'église, in: Actes du congrès de droit canonique Paris 1947 (1950), S. 305-312 (=ders., Medieval Councils, Decretals and Collections of Canon Law. London, 1980, nr. I).

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einem geltenden Dekretalenrecht im Sinne eines ,case law' sprechen. So sehr auch die Dekretalenpraxis unter Alexander III. zunahm, so konnte doch diesem Papst bei seiner Entscheidungspraxis noch gar nicht bewußt sein, daß er ein allgemeine Geltung erlangendes ius novum schuf - die vor kurzem von C h a r l e s D o n a h u e herausgearbeiteten Unstimmigkeiten bei Alexanders Entscheidungen im Eherecht erklären sich durch diesen Tatbestand 10 . Der endgültige Durchbruch zur Anerkennung eines großen Komplexes von neuem Recht wird dann durch das Breviarium extravagantium des Bernhard von Pavia um 1190 erreicht, der ersten Dekretalensammlung mit europäischer Verbreitung, die Bernhard selbst in der Vorrede zur Sammlung als extravagantia de veteri novoque iure bezeichnete 11 ; also mit selbstverständlicher Einbeziehung des ius novum in das Corpus des geltenden Rechts. Wenn Bernhard bei einzelnen Texten seines Werks aus dem Alten Testament die unmittelbare Anwendbarkeit ausschloß, wie wir aus der Kommentierung des Breviarium in seiner Summa entnehmen können 12 , so ändert dies nichts daran, daß sein Buch überwiegend für Unterricht und Praxis anwendbares Recht bringen sollte. Neue Dekretalensammlungen wurden nach dem Zeugnis des Kanonisten S t e p h a n v o n T o u r n a i 1 3 spätestens in den neunziger Jahren in den kirchlichen Gerichten angewandt - denn Stephan spricht

von einem novum v ol u m e n ex eis - sc. epistolarum decretalium - compactum et in scolis sollempniter legitur et in foro venaliter exponiturl\ Zu Beginn des Pontifikats Innocenz' III. wird das kanonische Recht bereits als eine einheitliche Ordnung gesehen, die sowohl das alte Recht als auch das ius novum der Dekretalen und neueren Konzilscanones umfaßt. Eine vorher unbekannte Konzentration auf bewußte Rechtsfortbildung ist erkennbar. In diesem Zusammenhang sind drei wichtige Neuerungen im Dekretalenrecht hervorzuheben: 10 Ch. D o n a h u e , The dating of Alexander the Third marriage decretals: Dauvillier revisited after fifty years, in: ZRGKanAbt. 68 (1982), S. 70-124. 11 Bernardus Papiensis, Breviarium Extravagantium, Praefatio, ed. Ae. F r i e d b e r g , Quinque Compilationes Antiquae (1882, N D 1956) S. 1. 12 Hierzu P. L a n d a u , Alttestamentliches Recht in der Compilatio Prima und sein Einfluß auf das kanonische Recht, in: StGrat. 20 (1976) (= Melanges G. Fransen II), S. 111 bis 134. 13 Zu Stephan von Tournai neuerdings: H. K a l b , Studien zur Summa Stephans von Tournai (= Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte, Bd. 12,1983). 14 Stephan von Tournai, Ep. 274 (ed. J. D e s i 1 v e , Lettres d'Etienne de Tournai, 1893), S. 345. Der Brief erwähnt Alexander III. als Verstorbenen und wurde daher frühestens 1182 geschrieben, wahrscheinlich in der Zeit stärkerer Verbreitung systematischer Dekretalensammlungen, d. h. um 1190.

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1. die Herstellung einer offiziellen Dekretalensammlung in der Compilatio III und deren Ubersendung nach Bologna 1209, ein vorher unbekannter Vorgang15; 2. die explizite Bezugnahme Innocenz' III. auf älteres konziliares und Dekretalenrecht mit der deutlichen Zwecksetzung der Rechtsergänzung und -änderung durch seine Dekretalen, so z. B. in X 3.5.16 (Änderung) sowie X 3.38.28 (Ergänzung), X 3.38.29 (Ergänzung) und X 1.6.20 (Ergänzung)16. Dieser Komplex müßte einmal auf breiterer Grundlage untersucht werden; 3. die die früheren Laterankonzilien im umfassenden Anspruch und im Gewicht der Regelung übertreffende Reformgesetzgebung des 4. Laterankonzils 1215, das man wohl als ein ganz einschneidendes Ereignis der mittelalterlichen Rechtsgeschichte sehen muß. Man kann sagen, daß sich unter Innocenz III. die Zeit der Rezeption des Dekretalenrechts durch die Kanonistik verkürzt; seine umfassende Dekretale Pastoralis (Po. 2350) vom 19. 12. 1204 wird schon 1205 in Bologna berücksichtigt. Das bedeutet, daß es seit Innocenz III. notwendig wird, das generell gültige päpstliche Recht von der nur singulären Entscheidung zu sondern und damit den Schwerpunkt der Rechtsfortbildung in der Hand päpstlicher Autorität zu sehen18. Sofern es um die Kommentierung in der Kanonistik geht, hat nach

15 Zum Datum der Compilano III vgl. S. K u t t n e r , Johannes Teutonicus, das vierte Laterankonzil und die Compilatio Quarta, in: Mise. Giovanni Mercati, StT 125 (1946), S. 608-634, hier S. 621 (= den., Medieval Councils, Decretals and Collections of Canon Law, 1983, nr. X). 16 X 3.5.16 (Po.71): Licet autem praedecessores nostri ordinationes eorum, qui sine certo titulo promoventur, in iniuriam ordinantium irritas esse voluerint et inanes, nos tarnen, benignius agere cupientes ... X 3.38.29 (Po. 2350): Verumtamen constituimus, ut episcopus, qui praesentatum idoneum malitiose recusavit admittere, ad providendum eidem in competenti beneficio compellatur - zu dieser Versorgungspflicht des Bischofs vgl. P. L a n d a u , Ius patronatus (= Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, Bd. 12, 1975), S. 161. Siehe auch X 1.6.20 mit der von Innocenz III. getroffenen Unterscheidung von Wahl und Postulation - vgl. hierzu P. L a n d a u , Neuere Forschungen zu Quellen und Institutionen des klassischen kanonischen Rechts bis zum Liber Extra. Ergebnisse und Zukunftsperspektiven, in: Proceedings of the Seventh International Congress of Medieval Canon Law, Cambridge 1984 (= MIC C vol. 8, 1988), S. 27-47, hier S. 40 f. 17 Hierzu meine Beobachtung über die Benutzung von ,Pastoralis' in der zweiten Rezension des Apparats ,Ius naturale' des Alanus 1205 - mitgeteilt bei S. K u 11 n e r , Emendationes et notae variae, in: Traditio 22 (1966), S. 471—482, hier S. 476. 18 Hierzu neuerdings P. L a n d a u , L'evoluzione della nozione di .legge' nel diritto canonico classico, in: Lex et Iustitia nell'utrumque ius. Radici antiche e prospettive attuali

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1215 nur noch eine päpstlich autorisierte Sammlung eine echte Chance, wie das Schicksal der Compilatio IV des Johannes Teutonicus beweist 19 . Schließlich erreicht das klassische kanonische Recht unter Gregor IX. durch die Ausfüllung von Lücken und die Entscheidung von Kontroversen bei der Redaktion des Liber Extra eine systematische Vollendung, die für die großen Kanonisten nach 1234 ein sicheres Fundament bildet. Die universelle Geltung des neuen Dekretalenrechts wurde ferner dadurch gefördert, daß seit Gratian die Geltung von Gewohnheitsrecht in der Kirche immer stärker eingeschränkt wurde. Entscheidend ist hier die Aufnahme des Kriteriums der rationabilitas in den Begriff der consuetudo, der bei strikter Anwendung dazu führen mußte, daß die nicht in die Begriffskategorien der Kanonisten des 13. Jahrhunderts einzuordnenden Rechtstraditionen prinzipiell in ihrer Geltung gefährdet waren 20 . Die Legaldefinition der ,consuetudo' im Liber Extra gab dem modernen ins scriptum der Dekretalen den Vorrang vor jedem Gewohnheitsrecht, sofern gegen dessen Geltung mit der ratio argumentiert werden konnte.

I I I . DURCHSETZUNG NEUEN RECHTS IN DER RECHTSWIRKLICHKEIT

Wenden wir uns nun der Frage zu, in welcher Weise sich neues Recht im 12. und 13. Jahrhundert in der Rechtswirklichkeit durchsetzen konnte, so müssen wir hier sehen, daß eine allgemeingültige Antwort nicht gegeben werden kann, sondern daß man vielmehr nach Zeitepochen und auch nach Rechtsgebieten unterscheiden muß. Wenn man diese Unterscheidungen trifft, läßt sich meiner Meinung nach doch etwas über die Realisierungschance für neues Recht aussagen. Ich gehe dabei von folgenden zwei Thesen aus, die ich im folgenden an Beispielen zu erläutern versuche: 1. Zeitlich gesehen braucht neues Recht in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts noch eine längere Spanne, bis es von den

(= Utrumque Ius. Collectio Pontificiae Universitatis Lateranensis 20) 1989, S. 263-280, hier S. 277 f. 19 Vgl. K u 11 n e r .Johannes Teutonicus (wie Anm. 15), S. 625-630. 20 Zur Festlegung der Kriterien für die Bildung von Gewohnheitsrecht in der Konstitution Cum tanto ( X 1.4.11) vgl. meine Bemerkungen in dem Beitrag: Neuere Forschungen (wie Anm. 16), S. 43 f., mit Hinweisen auf die ältere Literatur in Anm. 60.

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Rechtsanwendern als normative Ordnung akzeptiert wird. Das hängt damit zusammen, daß in der Epoche vor Innocenz III. sich Rechtsneubildungen nur in einem Verhältnis der Wechselwirkung von Papsttum und kanonistischer Wissenschaft vollziehen, wobei zunächst eher die Wissenschaft als der sog. Gesetzgeber rechtsschöpferisch aktiv ist. Im 12. Jahrhundert hat die Wissenschaft der Kanonistik weitgehend die Funktion des legem condere, und nicht zuletzt darin muß die rechtsgeschichtliche Bedeutung dieser Epoche gesehen werden 21 . Ich könnte nur zwei Epochen nennen, in denen die Rechtswissenschaft ähnlich wie damals faktisch als Rechtsquelle anerkannt ist: die klassische römische Jurisprudenz und die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts in ihren Zweigen der Pandektistik und Germanistik. Der Prozeß der Normerzeugung läßt sich im 12. Jahrhundert noch nicht auf ein bestimmtes Datum festlegen alles Recht ist im Grunde Gewohnheitsrecht - consuetudo in scriptis redacta, wie es Gratian formuliert hat22. Eine Ausnahme stellen insofern wohl Konzilsbeschlüsse dar, konkret vor allem des dritten Laterankonzils, bei denen man von unmittelbarer Rechtsgeltung und Rechtsanwendung sprechen kann; die Canones von Lateran III sind zumindest teilweise als Gesetze zu klassifizieren23. Zu Anfang des 13. Jahrhunderts ist dagegen ein Konsens erreicht, daß das Papsttum durch Erlaß von Dekretalen unmittelbar allgemeingültige Rechtsänderungen vornehmen kann; ein Konsens über die im Prinzip universelle Geltung der Dekretale ist erzielt. 2. Der Konsens über die Norm bedeutet aber noch nicht, daß alle Normen gleichmäßig eine Chance der Durchsetzung gehabt hätten. Die Rechtswirklichkeit paßt sich in manchen Bereichen eher als in anderen dem ins novum an. Dabei kann eine Klassifizierung insofern getroffen werden, als das V e r f a h r e n s r e c h t eine relativ große Realisierungschance hatte, während es nur sehr partiell und teilweise überhaupt nicht gelang, allgemeine Reformen im materiellen Recht, speziell im O r g a n i s a t i o n s r e c h t der Kirche als einer öffentlichen Gewalt, durchzusetzen. Organisatorische Reformen der Kirche hatten in der Regel finanzielle Auswirkungen, 21 Zur allmählichen Zunahme der Bedeutung der päpstlichen Rechtsfortbildung vgl. meinen Beitrag: L'evoluzione (wie Anm. 18). 22 Dict. Gratiani p. D . l , c.5. 23 Vgl. hierzu den Band: Le Troisième Concile de Latran (1179), Sa place dans l'histoire. Table Ronde du C.N.R.S.; réunie par J. L ä n g e r e (1982), dort bes. der Beitrag v. R. F o r e v i 11 e , La place de Latran III dans l'histoire conciliaire du XII e siècle, S. 1118, bes. S. 15 f.

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die von den Betroffenen nicht immer akzeptiert wurden, und in der Begrenzung der Möglichkeiten, das kirchliche Ämter- und Finanzwesen zu ordnen, lagen auch die Grenzen der Durchsetzung neuen Rechts. Es ist das Dilemma der mittelalterlichen Kirche gewesen, daß die kreative Epoche der Rechtsschöpfung nicht mit derjenigen der erfolgreichsten Organisationspolitik zusammenfiel; in diesem Zusammenhang ist als negatives Beispiel wohl Innocenz IV. zu nennen 24 . Eine längere Zeitspanne der Institutionalisierung läßt sich in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts etwa im Fall des Patronatsrechts im einzelnen belegen. Die Frage der Institutionalisierung des Patronats habe ich in einer Monographie im einzelnen verfolgt 25 . Ich kann hier nur einige Ergebnisse wiedergeben. Zunächst ist zu betonen, daß vor aller Aktivität der Päpste bereits eine systematische Theorie des Patronats in der Summa des R u f i n u s entwickelt wird 26 . Hier finden wir ein neues Rechtsinstitut als Produkt der Kanonistik. Der Lehre des Rufinus wird dagegen von einzelnen Kanonisten - vor allem durch Johannes Faventinus und Huguccio, aber auch von anglo-normannischen Autoren wie dem Magister Honorius - insofern widersprochen, als diese das Patronatsrecht nur auf gratia oder dispensatio der Kirche zurückführten 27 , so daß sich daraus nur ein Bündel von Einzelberechtigungen ergab. Das Problem einer Anerkennung des neuen Rechtsinstituts hing dabei mit den Schwierigkeiten zusammen, die Rechtsnatur des Patronats eindeutig zu bestimmen. Erst kurz nach 1200 gelangte die Kanonistik dazu, das Patronat als ein Institut des ius commune anzuerkennen (z. B. im französischen Apparat Ecce vicit leo)28; und erst in den Dekretalen Innocenz' III. (z. B. Pastoralis) und in den Konstitutionen des 4. Laterankonzils wird das Bestreben erkennbar, nunmehr Einzelfragen

24 Zu Innocenz IV. als Organisator und Kirchenpolitiker im Rahmen des Provisionswesens vgl. G. B a r r a c l o u g h , The Constitution .Execrabilis' of Alexander IV., in: E H R 49 (1934), S. 193-218, hier S. 211 f., mit der These, daß Innocenz IV. hauptsächlich durch seine Handhabung des Provisionswesens die gesamte Organisation der Kirche durcheinandergebracht habe; auch schon P. H i n s c h i u s , Kirchenrecht III (1883, N D 1959), S. 120-122, mit der Bewertung, daß der Papst von den Provisionsmandaten .einen als unerhört zu bezeichnenden Gebrauch machte'. Zu Innocenz IV. in der Doppelrolle als Kanonist und Gesetzgeber vgl. meine Bemerkungen in: Neuere Forschungen (wie Anm. 16), S. 44-46. 25 L a n d a u, Ius patronatus (wie Anm. 16). 26 Vgl. ebd., S. 11 f., 117 u. 128. 27 Ebd., S. 119-122. 28 Ebd., S. 123 f.

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des neuen Rechtsinstituts mit Allgemeinverbindlichkeit zu regeln 29 . Die Zeitspanne der Institutionalisierung umfaßt also in diesem Bereich von Rufinus bis zum 4. Laterankonzil mehr als ein halbes Jahrhundert. Dabei kommen die wichtigsten Impulse für die Entwicklung des Instituts bis gegen Ende des Jahrhunderts von den Kanonisten, während mit Innocenz III. die päpstliche Rechtsschöpfung maßgebender wird. Ich möchte einen anderen Bereich erwähnen, bei dem die zeitliche Bestimmung von Rechtsänderungen besonders gut möglich ist, nämlich das T e s t a m e n t s r e c h t . Bekanntlich fordert das römische Recht für die Gültigkeit eines Testaments sieben Zeugen, das kanonische Recht verlangt, anknüpfend an die in Deuteronomium 19.15 genannte Zahl lediglich zwei oder drei Zeugen 30 . Die entsprechende Rechtsänderung ist in zwei Dekretalen Alexanders III. enthalten (JL 11480 und J L 12129), die aus den Jahren 1168 (JL 11480) und 1171/72 (JL 12129) stammen; die Adressaten sind im ersten Fall Richter in Velletri, im zweiten Text der Kardinalbischof Hubald von Ostia (später Papst Lucius III.) und Kanoniker in Velletri 31 . Der Papst sieht sich mit dem Problem konfrontiert, weil sich offenbar in Latium die römische Testamentsform erhalten hatte. Er beruft sich nun primär darauf, daß die divina lex bzw. scriptura nur zwei oder drei Zeugen verlange, so daß die entgegenstehende consuetudo jedenfalls bei Testamenten zugunsten der Kirche (JL 11480) keine Geltung beanspruchen könne 32 . Offenbar ist hier nicht so sehr eine Neuregelung, sondern die Geltendmachung des biblischen Rechts gegenüber schlechter Gewohnheit vom Papst angestrebt. Der Papst begnügt sich auch damit, die dem römischen Recht widersprechenden Grundsätze zunächst im Patrimonium Petri durchzusetzen.

29 Ebd., S. 160-165, S. 135 und 213. 30 Zum kanonischen Testamentsrecht allgemein vgl. M. M. S h e e h a n , The Will in Medieval England (Studies and Texts 6, 1963), S. 164-185, besonders S. 177, wonach in England von Anfang an die Zahl der Zeugen nach kanonischem Recht akzeptiert wurde. Ein allgemeiner Uberblick bei J. D. H a m m a , The Canon Law of Wills (= Canon Law Studies 86, 1934). 31 Zu J L 11480 vgl. W. H o l t z m a n n , Die Register Papst Alexanders III. in den Händen der Kanonisten, in: Q F I A B 30 (1940), S. 13-87 hier S. 27 und 38 f. Zu J L 12129 vgl. S. 34; außerdem d e r s . , Kanonistische Ergänzungen zur Italia Pontificia, Teil 1, in: Q F I A B 37 (1957), S. 55-102, S. 78 (no. 10 u. 11). 32 Beide Dekretalen ergingen an Adressaten in suburbikarischen Bistümern. Zum Problem des Umfangs der Geltung dieser Verordnungen vgl. V. W o l f E d l e r von G l a n v e i l , Die letztwilligen Verfügungen nach gemeinem kirchlichem Recht, 1900, S.105-141, besonders S. 110: „in jenen Gegenden nun, welche der weltlichen Gewalt des Papstes unterworfen waren, mußte das canonische Testament allgemein gestattet sein."

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Von einer generellen Rechtsänderung des Testamentsrechts des ius commune durch Alexander III. kann also in dieser Phase um 1170 noch nicht gesprochen werden. Jedoch erlangen beide Dekretalen durch die kanonistische Uberlieferung eine weitere Verbreitung. Diese kanonistische Uberlieferung setzt mit der Erweiterung der Sammlung Appendix Concilii Lateranensis durch einen Titel 50 und mit der Erweiterung der Collectio Orielensis I aus der Bambergensisgruppe durch einen Titel 57 ein. Beide Supplemente gehören nach den Forschungen Walther H o l t z m a n n s in bezug auf ihre Entstehung zusammen und beruhen auf einem Registerauszug aus den Registern Papst Alexanders III., der von Bologna aus verbreitet wurde und wahrscheinlich während des Pontifikats Urbans III. zwischen 1185 und 1187 entstand 33 . Bald darauf wurden diese Dekretalen auch in das Breviarium des B e r n h a r d v o n P a v i a aufgenommen 34 und damit etwa ab 1190 zu einem Bestandteil des ius commune35. Das Ergebnis dieser Entwicklung wird von Bernhard von Pavia bereits um 1195 in seiner Summa in dem Satz: Hodie vero in his, quae ecclesiis relinquuntur, duo testes sufficiunt wiedergegeben 36 . Bei der Veränderung der Testamentsform liegt also etwa ein Vierteljahrhundert zwischen den einschlägigen Dekretalen und einer Institutionalisierung, wobei die entscheidenden Schritte offenbar von der Kanonistik getan werden. Eine raschere Verbreitung von Rechtsänderungen in der kirchlichen Praxis läßt sich allerdings bei Konzilsbestimmungen des dritten Laterankonzils feststellen, deren Kenntnis sich bald nach 1179 wohl auch unabhängig von kanonistischer Uberlieferung ausbreitete und die jedenfalls für die kuriale Praxis schon bald normative Bedeutung hatten,

33 Zu diesen quellengeschichtlichen Fragen vgl. H o l t z m a n n , Die Register (wie Anm. 31) passim. Ob die Supplemente und der ihnen zugrundeliegende Registerauszug allerdings von Bologna aus verbreitet wurden, wie Holtzmann annahm, ist durchaus zweifelhaft - vgl. S. K u t t n e r , Notes on a Projected Corpus of Twelfth Century Decretal Letters, Traditio 6 (1948), S. 346-351, hier S. 347, Anm. 25. Die Collectio Orielensis I ist in einer Handschrift überliefert, die dem Priorat St. Andrews in Northhampton gehörte - vgl. K u 11 n e r (wie oben) und W. D e e t e r s , Die Bambergensisgruppe der Dekretalensammlungen des 12. Jahrhunderts (Diss. phil. Bonn 1956), S. 7. 34 Zur Benutzung des Registers oder eines Registerauszugs durch Bernhard von Pavia bei der Redaktion des Breviarium vgl. L a n d a u , Entstehung (wie Anm. 8), S. 136, Anm. 7. 35 X 3.26.10 (JL 12129) = 1 Comp. 3.22.9; X 3.26.10 (JL 11480) = 1 Comp. 3.22.10. Dazu näher H o l t z m a n n , Register (wie Anm. 31), d e r s. Kanonistische Ergänzungen (wie Anm. 31). 36 Bernardus Papiensis, Summa Decretalium, lib. III, tit. XXII, § 3 (ed. E. A. Th. L a s p e y r e s , 1860, N D 1956), S. 97.

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allerdings nicht in allen technischen Einzelheiten, sondern mehr im Sinne von Rechtsprinzipien. Dies läßt sich am Beispiel des sog. D e v o l u t i o n s r e c h t s erläutern, d. h. dem Verlust eines Besetzungsrechts oder Wahlrechts für kirchliche Amter wegen Mißbrauchs oder Inaktivität. Man kann wie G o d e h a r d J o s e f E b e r s in seiner Monographie von 1906 von einer 1179 erfolgten „Einführung des Devolutionsrechts in das Kirchenrecht" sprechen37; allerdings muß man sich klarmachen, daß die entsprechenden Regelungen in can. 3, 8 und 17 des 3. Laterankonzils zunächst fragmentarisch waren und auch hinsichtlich der für die Verwirklichung des Besetzungs- oder Wahlrechts im konkreten Fall bestimmten F r i s t zunächst weder bei den Kanonisten noch in der kurialen Praxis Übereinstimmung bestand38. Die Klärung solcher Fragen scheint im wesentlichen erst im Pontifikat Innocenz' III. erfolgt zu sein. Aber trotzdem muß festgehalten werden, daß bereits Lucius III. von einem tempus in Lateranensi Concilio constitutum39 spricht und die fragmentarischen Regeln des dritten Lateranense sich allmählich zu einem Rechtsinstitut der Devolution v e r d i c h t e n . Dieses Stadium ist in der Zeit des Pontifikats Innocenz' III. erreicht, der ganz selbstverständlich von der donatio devoluta ad nos wie von einem feststehenden Recht spricht und offenbar davon ausgeht, daß die Devolution gradatim adpapam, die niemals ausdrücklich durch das Dekretalenrecht eingeführt war, sich ohne spezielle Anordnung aus dem Grundgedanken des Instituts ableiten lasse40. Im ganzen können wir auch bei dem Devolutionsrecht von einer Phase der Institutionalisierung von 20-25 Jahren sprechen. In der Zeit Innocenz' III. läßt sich nun auch beobachten, daß die Rezeption bewußter päpstlicher Rechtsschöpfung durch Rechtsschule und Praxis gegenüber den früheren Jahrzehnten beschleunigt erfolgt. In diesem Zusammenhang ist etwa die Aufnahme des von Innocenz in Abweichung vom früheren Recht entwickelte Institut der P o s t u l a 37 G. J. E b e r s , Das Devolutionsrecht vornehmlich nach katholischem Kirchenrecht (Kirchenrechtl. Abh. 3 7 / 3 8 , 1906, N D 1965), S. 171. Die vorabgedruckte Diss. von Ebers trägt den Titel: Geschichte des Devolutionsrechtes bis zu seiner gesetzlichen Regelung (1179); zum Devolutionsrecht allgemein siehe weiterhin K. G a n z e r , Papsttum und Bistumsbesetzungen in der Zeit von Gregor I X . bis Bonifaz VIII. ( = Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, Bd. 9, 1968), S. 2 4 - 2 7 . 38 Vgl. E b e r s (wie A n m . 37), S. 180-182; außerdem L a n d a u , Ius Patronatus (wie Anm. 16), S. 1 7 1 - 1 7 4 . 3 9 Vgl. J. T r o u i 11 a t , Monuments de l'histoire de l'ancien eveche de Bäle, Bd. 1. (1852), no. 259, S. 399 ( = J L 15386) (aus dem Jahre 1185). 4 0 Zur Entwicklung des Devolutionsrechts unter Innocenz III. vgl. E b e r s (wie Anm. 37), S. 1 7 9 - 1 9 1 .

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t i o n bemerkenswert. Vor Innocenz III. meint postulatio eine Anfrage, ob bei der Wahl eines Ungeeigneten das Wahlhindernis des Gewählten behoben werden könne 41 . Seit Innocenz III., der Fälle der Postulation zuerst in Dekretalen aus dem Jahre 1200 behandelt, wird die postulatio zu einem Begriff für das Wahlrecht selbst, sofern ein Ungeeigneter gewählt wurde. Die Postulation kann nun durch die Gewährung einer Dispens Geltung erlangen, während es bei einer Wahl der confirmatio des Oberen bedarf 42 . Die Technik des Wahlrechts und der Wahlhindernisse ist um 1200 bereits weit entwickelt; für unseren Zweck, für die Einschätzung der Zeitspanne bis zur allgemeinen Rezeption einer Rechtsänderung, ist es aufschlußreich, daß bereits 1206 A1 a n u s A n g 1 i c u s einen Titel De postulatione et translatione prelatorum in seiner Dekretalensammlung einführt43. Das Dekretalenrecht erreicht unter Innocenz III. ohne Verzögerung die Institutionalisierung von Rechts änderungen. Im Fall der Postulation betrifft diese Rechtsänderung den Bereich des Verfahrensrechts der Kirche. Daß es nicht mit gleichem Erfolg gelang, Rechtsänderungen mit finanziellen Auswirkungen durchzusetzen, kann man an dem Modellfall der Veränderung des Rechts der Klerikerversorgung erkennen. Bekanntlich hatte das dritte Laterankonzil im Kanon 5 die Verpflichtung des Bischofs festgelegt, für den Lebensunterhalt von Priestern und Diakonen zu sorgen, bis ihnen ein 41 Vgl. etwa die Erläuterungen in der Summa de electione des Bernhard von Pavia, entstanden zwischen 1177 und 1179 (Summa Decretalium. Appendix [wie Anm. 36], S. 308): Ne igitur haec supradictis aliquatenus obviare videantur, sciendum est, quod, ut diximus, clericorum est eligere ... item clericorum est postulare alienum clericum... reperitur etiam episcopus postulare. ... Dicendum itaque sine melioris sententiae praeiudicio, quod ab utrisque debeat postulari; cum enim canonici alienum clericum in praepositum volunt eligere, ad suum episcopum debent recurrere, eique suo indicato proposito episcopus suas et canonicorum postulatorias litteras illius episcopo debet destinare. 42 Vor allem Innocenz III. in Po. 953 (X 1.6.20) an den Erzbischof von Canterbury. Der Text wurde mit englischer Ubersetzung ediert bei C. R. C h e n e y/ W. H. S e m p i e , Selected Letters of Pope Innocent III. concerning England (1198 bis 1216) (1953), S. 16-22, S. 20: Et quamvis post cassationem huiusmodi a nobis a multis fuerit bumiliter supplicatum ... supplicationem huiusmodi, que nomine capituli non fiebat, cum non ad postulandam dispensationem sed ad petendam confirmation e m ipsius capituli fuerint nuncii destinati, ad presens non duximus admittendam ... Vgl. auch L a n d a u , Neuere Forschungen (wie Anm. 16), S. 40 f. Im Jahre 1200 ergingen auch zwei Dekretalen Innocenz' III. in Richtung Sens, wo vom Domkapitel nacheinander der Bischof von Auxerre und der Bischof von Cambrai postuliert worden waren: Po. 1043 (X 1.5.1) und Po. 1196 (X 1.5.2). 43 Vgl. S. K u t t n e r , Index Titulorum Decretalium ex Collectionibus tarn privatis quam publicis conscriptus (1977), S. 185. Zur Sammlung des Alanus vgl. auch die Analyse von R. v. H e c k e 1, Die Dekretalensammlung des Gilbertus und Alanus nach den Weingartener Handschriften, in: ZRGKanAbt. 29 (1940), S. 116-357, hier S. 229 f.

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Benefizium in einer Kirche zugewiesen werden konnte 44 . Diese Verpflichtung wird zwar theoretisch akzeptiert, aber praktisch dadurch auf Sonderfälle reduziert, als man die Zahl der Ordinationen entsprechend den freiwerdenden Stellen beschränkt. Die regionale Reaktion auf can. 5 kann man anhand von can. 12 der Precepta synodalia des Bischofs Roger von Cambrai aus der Zeit zwischen 1181 und 1191 ablesen, wo es über die Zulassung zur Ordination heißt: Nulla persona, decanus vel sacerdos aliquem presentet ordinandum in sacerdotem, nisi honestum habeat unde sustentetur Patrimonium vel titulum ad quem ordinetur45. Bei derartigen Ausführungsbestimmungen war die Belastung des Bischofs durch can. 5 des dritten Laterankonzils entschärft, weil nunmehr dem Ordinationsvorschlag eine Vorprüfung vorausging. Aber auch hier brachte der Pontifikat Innocenz' III. eine überraschende Veränderung. In seiner an den Bischof von Zamora gerichteten Dekretale (X 3.5.16 = Po. 71) hat Innocenz die Verpflichtung des Bischofs zur Versorgung auf Kleriker aller Weihestufen ausgedehnt und dabei ausdrücklich die noch im Gratianischen Dekret enthaltenen Verbote absoluter Ordination mit der Wendung: nos tarnen benignius agere cupientes außer Kraft gesetzt 46 . Da man in der Praxis bereits aus can. 5 des dritten Laterankonzils die Zulässigkeit von absoluten Ordinationen abgeleitet hatte, wird man in der Anordnung Innocenz' hinsichtlich dieser Frage keine umstürzende Neuerung sehen können, wohl aber in der Ausdehnung des Versorgungsanspruchs, der nicht nur die Subdiakone, sondern auch die Kleriker niederer Weihegrade umfassen sollte. Obwohl uns nur vier Justizbriefe dieser Art von Innocenz aus den ersten Jahren seines Pontifikats bis 1202 erhalten sind 47 , können wir doch an der Reaktion er44 3 Conc. Lat. can. 5 (ed. J. A 1 b e r i g o/J. A. D o s s e t t i /P. J o a n n o u / C. L e o n a r d i/P. P r o d i , Conciliorum Oecumenicorum Décréta [ 3 1973], S. 214): Episcopus si aliquem sine certo titulo, de quo necessaria vitae percipiat, in diaconum vel presbyterum ordinaverit, tamdiu necessaria ei subministret, donec in aliqua ei ecclesia convenientia stipendia militiae clericalis assignet; nisi forte talis qui ordinatur exstiterit, qui de sua velpaterna hereditate subsidium vitae possit habere. 45 Vgl. J. A v r i l , Les .Precepta synodalia' de Roger de Cambrai, in: B M C L 2 (1972), S. 7 - 1 5 , hier die Edition auf S. 11. Zur Datierung der Statuten hier S. 7; Avril bemerkt hierzu (S. 10): „L'ordination ,ad titulum patrimonii' paraît habituelle dans le diocèse de Cambrai, avant 1191." Roger von Wawrin, Bischof von Cambrai, hatte selbst am dritten Laterankonzil teilgenommen; vgl. ebd. S. 7, mit Anm. 5. 46 Zu diesem Text vgl. die grundlegenden Ausführungen bei R. v. H e c k e 1. Die Verordnung Innocenz' III. über die absolute Ordination und die Forma „Cum secundum apostolum", in: H J B 55 (1935), S. 2 7 7 - 3 0 4 ; besonders S. 283 f. Die Dekretale stammt vom 3. April 1198 - also aus der Zeit kurz nach dem Beginn des Pontifikats. 47 v. H e c k e 1 (wie Anm. 46) weist S. 285 auf zwei Schreiben Innocenz' III. an den Erzbischof von Rouen vom 21. 8. 1199 und vom 8. 2. 1200 hin. Diese Schreiben ergingen zugunsten von Subdiakonen und Akoluthen. Zwei weitere Mandatsbriefe Innocenz' III.

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kennen, daß die Spezialanordnungen von den Zeitgenossen sofort als Reflex einer allgemeinen Rechtsänderung akzeptiert wurden. Erzbischof Hubert Walter von Canterbury hat bereits im Konzil von Westminster September 1200 in can. 6 die Neuregelung von Innocenz übernommen 48 . Daß die Vorschrift auch in Frankreich sofort geltend gemacht wurde und dort zu erheblichen Schwierigkeiten führte, können wir einem häufig zitierten, in der Briefsammlung Stephans von Tournai überlieferten Schreiben entnehmen, das von m e h r e r e n französischen Bischöfen an Innocenz gerichtet und wahrscheinlich von Stephan redigiert worden ist 49 . In diesem Brief, der sicher aus den Jahren 1198-1203 stammt, wird die Anordnung des Papstes als lex nova bezeichnet, die einmal wegen der in ihr enthaltenen Rückwirkung nicht praktikabel sei und vor allem insgesamt den Bischöfen unerträgliche, nicht erfüllbare Belastungen auferlege. Die Folge werde sein, daß man keine Ordinationen mehr vornehmen könne und daher der Nachwuchs an Klerikern zur Aufrechterhaltung der Gottesdienste fehlen müsse: cessabunt misteria, si ministeria cessare contigerit.i0. Das nicht erfüllbare Gesetz wird aber in diesem Brief nicht schlechterdings als nichtig betrachtet, sondern die Bitte um Ermäßigung des mandatum an den Papst gerichtet 51 : Die hohe Autorität der päpstlichen Rechtssetzung zeigt sich gerade darin, daß nicht etwa unter Berufung auf das wohlbekannte ältere Recht eine völlige Rücknahme der Neuerung verlangt wird.

dieses Formulars an Erzbischof Hubert Walter von Canterbury wurden inzwischen durch R. v. Heckel und Christopher Cheney entdeckt; vgl. R. v. H e c k e 1, Zur Geschichte der Forma „Cum secundum apostolum" , HJB 57 (1937), S. 86-93 - ein über die Dekretalensammlung des Alanus überlieferter Text; und ferner die Edition eines anderen Briefes an Hubert Walter bei C h e n e y / S e m p l e , Selected Letters (wie Anm. 42), S. 35-37; vom 8. 3.1202. 48 Concilium Westmonasteriense ao. 1200, can. 6 (ed. D. W i 1 k i n s , Concilia Magnae Britanniae et Hiberniae vol. I. [Londini 1737], S. 506): Illud etiam jux tu tenorem Lateranensis Concilii firmiter observari praecipimus, ut si episcopus aliquem, sine titulo certo in diaconum, vel presbyterum ordinaverit tarnen ei subministret ... Idem in subdiaconi ordinatione statuimus. Diese Bestimmung beruht sicher auf der Neuregelung Innocenz' III. - deshalb unzutreffend v. H e c k e l (wie Anm. 46), S. 285, Anm. 24 - richtig jedoch C. R. C h e n e y , Pope Innocent III. and England (Päpste u. Papsttum Bd. 9, 1976) S. 82, Anm. 11. 49 Lettres d'Etienne de Tournai (wie Anm. 14), ep. 12, S. 18-30. 50 Ebd., S. 30. 51 Ebd., S. 30: Attendai etiam pius et iustus pater, quia lex nova in observatione sua debet esse possibilis, in constitutione sua non, preteritis dare formarti negociis, sed futuris (?). Pro bis omnibus paternitati vestre supplicamus et preces fundimus, ut mandatum est... arduum, intolerabile et honerosuum, si placet temperetis, cui nos obtemperare et difficultas prohibet et impossibilitas non permittet.

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In den folgenden Jahren hat Innocenz die Versorgungspflicht auf die sacri ordines beschränkt und damit gegenüber dem früheren Recht nur noch den Subdiakon einbezogen 52 . Das Recht wird folglich als in seiner rigorosen F o r m unausführbar modifiziert. Vorschriften, die das gewohnheitsmäßig fixierte Organisationsrecht der Kirche verändern wollen, lassen sich trotz, der plenitudo potestatis des Papstes häufig nicht durchsetzen. Ein charakteristischer Fall ist das allgemeine Verbot der Expektanzen auf Benefizien in can. 8 des dritten Laterankonzils 5 3 . Dieses Verbot ist faktisch nicht durchgesetzt und im 13. Jahrhundert vor allem in der päpstlichen Provisionspraxis nicht berücksichtigt worden. Dabei fällt auf, wie selten sich die Kanonistik mit dem Gegensatz der Rechtswirklichkeit zu dem immerhin auch in den Liber Extra aufgenommenen Konzilskanon auseinandersetzt. Innocenz III. läßt ausdrücklich Expektanzen mit der Klausel cum poterit zu und schränkt das Verbot des can. 8 des dritten Laterankonzils auf die Klausel cum vacabit ein ( X 3.8.14) 5 4 ; Bonifaz VIII. nimmt in einer Konstitution die Konzession Innocenz' III. wieder zurück (VI 3.7.2.) 5 5 . Man kann jedenfalls sagen, daß eine eindeutige Verbotsnorm eines allgemeinen Konzils in diesem Bereich des Benefizialrechts erfolglos blieb.

52 Hierzu vgl. v. H e c k e 1 (wie Anm. 46) S. 289. 53 3 Conc. Lat. can. 8 (ed. A l b e r i g o / D o s s e t t i / J o a n n o u / L e o n a r d i / P r o d i [wie Anm. 44], S. 215): Nulla ecclesiastica ministeria seu etiam beneficia vel ecclesiae alicui tribuantur seu promittantur antequam vacent, ne desiderare quis mortem proximi videatur, in cuius locum et beneficium se crediderit successurum. Vgl. hierzu den Art. .Expectatives' von G. M o l l a t , in: DDC, Bd. V (1953), col. 678-690 mit dem Résumé (col. 680): „Cette salutaire réforme n'eut point d'effet immédiat. Papes et conciles en attestèrent la faillité." 54 X 3.8.14 (= 4 Comp. 3.3.19): Nos autem considérantes, quod aliud est praelatum promittere beneficii collationem, cum poterit, aliud, cum vacabit, cum in multis casibus se facultas off ere posset in quibus collatio non esset in exspectatione vacaturi beneficii differenda, per apostolica vobis scripta mandamus, quatenus memorato R. cum poteritis, ecclesiasticum beneficium assignetis. 55 VI 3.7.2: „Sane, licet olim fuerit canonica constitutione decretum, quod hi, quipromittunt aliquibus de beneficiis ecclesiasticis, cum poterunt, vel cum facultas se obtulerit providere, promissiones suas facultate se offerenta debeant adimplere; quia tarnen, sicut experientia docuit, per promissiones huiusmodi... aperitur via sub tali palliatione verborum ad promittenda damnabiliter contra Lateranense concilium beneficia vacatura, mortis alienae votum ingeritur, et ecclesiis, acpraelatis et personis ecclesiasticis gravamina plurima inferuntur: nos, malis huiusmodi et animarum periculis occurrere cupientes, promissiones easdem, et alias quascunque, sub quovis modo aut forma verborum de cetero faciendas, per quas directe vel indirecte aperiri via valeat ad beneficia vacatura, auctoritate apostolica penitus reprobamus et omnino viribus vacuamus, decementes, per eas vel ipsarum aliquam ad providendum alicui nullum deinceps quomodolibet obligari.

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Anders muß man wohl die Wirkung der ebenfalls vom 3. Laterankonzil herrührenden Vorschrift beurteilen, daß Abgaben von Kirchen durch Bischöfe und Äbte nicht erhöht werden dürfen, und sie sich auch nicht etwa einen Teil der Einkünfte aneignen dürften (can. 7 des dritten Laterankonzils) 56 . Wiederum ist es eine finanziell einschneidende Vorschrift, die zudem so klar formuliert war, daß durch sie der Kirchenbesitz als Einnahmequelle ökonomisch uninteressant werden konnte. In diesem Fall wurde der Konzilskanon zwar nicht ignoriert, aber ein die Umgehung des Verbots ermöglichendes Konnexinstitut seit Anfang des 13. Jahrhunderts entwickelt, nämlich die Inkorporation 57 . Wenn ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verbot des can. 7 und dem Aufkommen der Inkorporationsprivilegien festzustellen ist 58 , dann kann einmal gesagt werden, daß das Verbot zwar als Norm galt, aber die Wirklichkeit mit Hilfe der Päpste so umgestaltet wurde, daß die von dem Verbot erfaßte Situation vielfach nicht mehr bestand. Trotz der in den erwähnten Fällen unterschiedlichen Reaktion der Betroffenen auf wirtschaftlich relevante Neuerungen des kirchlichen Benefizialrechts läßt sich doch das allgemeine Ergebnis festhalten, daß in diesem Bereich Rechtsänderungen zwar rasch bekannt wurden, aber nur schwer durchsetzbar waren. Man trifft daher anders als im Verfahrensrecht bei diesen organisatorisch-vermögensrechtlichen Vorschriften Rechtssätze, die nur als Programmsätze Geltung beanspruchen können und entweder durch eine überwiegende Dispensationspraxis oder durch restriktive Interpretation in ihrer Wirkung eingeschränkt wurden. Ein eindrucksvolles Beispiel begrenzter Wirkung von Rechtssätzen bieten die seit dem dritten Laterankonzil 1179 bis ins 14. Jahrhundert mehrfach wiederholten Anstrengungen der Kirche, die Kumulation von Benefizien zu beseitigen59. Uber die Auswirkung des ersten Verbots in can. 13 und 14 des 3. Laterankonzils bemerkt das 4. Laterankonzil in can. 29 lakonisch: nullus hactenus fructus de prae-

56 3 Cone. Lat. can. 7 (ed. A l b e r i g o / D o s s e t t i / J o a n n o u / L e o n a r d i / P r o d i [wie Anm. 41], S. 215): Prohibemus insuper, ne novi census ab episcopis vel abbatibus aliisve praelatis imponantur ecclesiis nec veteres augeantur nec partem redituum suis usibus appropriare praesumant, sed libertates, quas sibi maiores desiderant conservan, minoribus quoque suis bona volúntate conservent. 57 Hierzu m e i n Art. „Inkorporation", in: T R E Bd. 16 (1987), S. 163-166. 58 Ebd. 59 Zu diesen Problemen vgl. K. P e n n i n g t o n , The Canonists and Pluralism in the Thirteenth century, in: Speculum 51 (1976), S. 35-48.

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dicto statuta provenit60. Die Kumulation ließ sich nicht e i n d ä m m e n , auch nicht durch die Konstitution Johannes ' X X I I . Execrabilis von 1317 61 . Geht man von den Problemen des Benefizialrechts aus an das klassische kanonische Recht heran, so gewinnt man leicht den Eindruck eines weitgehend ineffektiven Rechts. Anders ist aber das Bild, wenn man von Verfahrensnormen ausgeht. Auf die rasche Durchsetzung solcher Regeln im Bereich des Wahlrechts wurde schon hingewiesen; hier muß besonders noch can. 24 des 4. Laterankonzils erwähnt werden, in dem die seitdem in der Kirche maßgeblichen Wahlformen per scrutinium, per compromissum und quasi per inspirationem allgemein verbindlich entwickelt werden62. Die Technisierung des Wahlrechts ist im Ergebnis ein Werk kanonistischer Literatur in Verbindung mit klaren Verfahrensregeln des kirchlichen Gesetzgebers; sie gehört sicher zu den dauerhaftesten Leistungen des kanonischen Rechts, auch in der Ausstrahlung auf die weltliche Rechtsentwicklung. Als grundsätzliche Neuerung im Verfahrensrecht kommt die Einführung des inquisitorischen Verfahrens den Wahlrechtsneuerungen gleich. Hier ist der Weg von der ersten Skizzierung neuartiger Verfahrensarten bis zur endgültigen Institutionalisierung auf dem 4. Laterankonzil noch kürzer als beim Wahlrecht. Die neue Verfahrensart ist von Innocenz III. bereits 1198-1199 entwickelt worden (zuerst wohl in X 5.1.14 vom 10. 6. 1198, Po. 273) 63 . Die Zusammenfassung der wichtigsten Regeln des neuen Verfahrens erfolgt in can. 8 des 4. Laterankonzils 1215. Zwischen 1210 und 1215 wird

60 4 Cone., Lat. can. 29 (ed. A. G a r c i a , Constitutiones Concilii quarti Lateranensis, M I C A. Bd. 2 [1981], S. 73 f.): Quia vero propter presumptiones et cupiditates quorundam nullus hactenus fructus aut rams de predicto statuto provenit, nos evidentius et expressius occurrere cupientes, presenti decreto statuimus ut quicumque receperit aliquod beneficium habens curam animarum annexant, si prius tale beneficium optinebat, eo sit ipso iure privatus, et si forte illud retiñere cohtenderit, etiam alio spolietur. 61 Extrav. Joannis X X I I . 3. un. (ed. J . T a r r a n t , Extravagantes Johannis X X I I . , M I C B, Bd. 6, S. 190-198) = Extrav. communes 3.2.4. 62 4 Cone. Lat. can. 24 (ed. G a r c i a [wie Anm. 60], S. 70): Statuimus ut cum electio fuerit celebranda, presentibus omnibus qui debent et volunt et possunt commode interesse, assumantur tres de collegio fide digni, qui secreto et singillatim vota cunctorum diligenter exquirant, et in scriptis redacta, mox publicent in communi, nullo prorsus appellationis obstáculo interiecto, ut is collatione habita eligatur, in quem omnes vel maior et sanior pars consentit; vel saltem eligendipotestas aliquibus viris idoneis committatur, qui vice omnium ecclesie viduate provideant de pastore. Aliter electio facta non valeat, nisi forte communiter esset ab omnibus, quasi per inspirationem, absque vitio celebrata. 63 Der jetzige Forschungsstand beruht vor allem auf den Untersuchungen von Winfried Trusen, der entgegen früheren Ableitungen die selbständige Entwicklung des ka-

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das neue Verfahren bereits von Tankred in seiner Summula de criminibus beschrieben64. Wir können daher sagen, daß die Institutionalisierung des Inquisitionsverfahrens in wenig mehr als einem Jahrzehnt erreicht war. Ich habe nur einige Beispiele geben können, und bin mir bewußt, daß es bei der Institutionalisierung des neuen Rechts und insbesondere bei der Frage, wie weit diese Ordnung die Wirklichkeit erreichte, vielfach noch ganz ungelöste Probleme gibt, die man aber aufgrund der heute möglichen Datierungen des Dekretalenrechts und der Kanonistik in manchen Bereichen vielleicht besser als früher diskutieren kann und bei denen man allgemeinere Ergebnisse herausarbeiten kann, als es bisher in der Forschung geschehen ist.

nonischen Rechts in diesem Bereich auf der Grundlage des alten Infamationsverfahrens herausgearbeitet hat. Vgl. W. T r u s e n , Der Inquisitionsprozeß. Seine historischen Grundlagen und frühen Formen, in: ZRGKanAbt. 74 (1988), S. 168-230, hier vor allem S. 190. Das Inquisitionsverfahren unterschied sich nur insofern vom Infamationsverfahren, als dieses jederzeit durch das Angebot der purgatio canonica, des Reinigungseides mit Eidhelfern, von der Seite des Beschuldigten beendet werden konnte, während bei der Inquisition der Reinigungseid zwar vom Richter auferlegt werden konnte, aber nicht mehr als Beweis der Unschuld akzeptiert werden mußte, sondern das Verfahren vom Prinzip der Erforschung der materiellen Wahrheit beherrscht war. Außer Trusen vgl. auch D . O e h 1 e r , Zur Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses, in: GS Hilde Kaufmann, hrsg. v. H.J. H i r s c h / G . K a i s e r / H . M a r q u a r d t (1986), S. 847-861. 64 Vgl. die Edition bei R. M. F r a h e r , Tancred's .Summula de criminibus': A new text and a key to the ,Ordo iudiciarius', in: BMCL 9 (1979), S. 23-26, hier S. 30 f. Zu der Summula vgl. S. 27 f. Die Summula findet sich in MS 1910 der Casanatense in Rom und in MS C.III.25 der Cathedral Library in Durham.

POLITISCHE THEORIE IN DER KRISE DER ZEIT ASPEKTE DER ARISTOTELESREZEPTION IM FRÜHEREN 14. JAHRHUNDERT JÜRGEN MIETHKE

Reinhart Koselleck hat in einem wichtigen Artikel über die „Krise" als geschichtlichem Grundbegriff mehrfach betont, daß dieses Wort „so vielschichtig und unklar , wie die Emotionen, die sich an ihn hängen: ,Krise' kann sowohl als .chronisch' begriffen, Dauer indizieren wie einen kürzer- oder längerfristigen Ubergang zum Besseren oder Schlechteren oder zum ganz Anderen hin; .Krisis' kann ihre Wiederkehr anmelden wie in der Ökonomie oder zu einem existentiellen Deutungsmuster werden wie in der Psychologie oder Theologie. Die Historie partizipiert an allen Angeboten." „Die alte Kraft des Begriffes, unüberholbare, harte und nicht austauschbare Alternativen zu setzen, hat sich in die Ungewißheit beliebiger Alternativen verflüchtigt." Das Wort Krise sei sowohl „sinnpräzisierend, aber auch sinnsuchend", und es umschreibe zunehmend, wenn auch „relativ vage" vorwiegend „aufgerührte Stimmungs- oder Problemlagen." Daher sieht Koselleck schließlich „umso mehr (...) die Wissenschaften herausgefordert, den Begriff auszumessen, bevor er terminologisch verwendet wird 1 ." Hartmut Boockmann hat aus der zutreffend beschriebenen Situation eine Konsequenz gezogen, die auf einen totalen Verzicht auf den Begriff einer „umfassenden Krise" zur Kennzeichnung einer historischen Situation hinausläuft. In einer barschen Anzeige des Buches „Europa 1400. Die Krise des Spätmittelalters" stellt er schließlich fest, dieser Sammelband sei „ - grob und etwas ungerecht gesagt - eher eine Krise von Historikern." Es gehe „doch wohl eher um Dokumente von Wissenschaft, die wenigstens ebenso viel über ihre Entstehungszeit wie über die gemeinte Periode aussagen 2 ." 1 In: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto B r u n n e r , Werner C o n z e , Reinhart K o s e 1 1 e c k , Bd. III (Stuttgart, 1982), S. 617-650, Zitate 617, 649 f. - Vgl. auch den Beitrag von Hans Michael B a u m g a r t n e r in diesem Bande. 2 D A 42(1986), S. 309 f.

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Ich will hier nicht in eine Diskussion über das besprochene Buch eintreten. Im Rahmen unseres Unternehmens, u. a. mittelalterliche Institutionen auch in ihren Krisen aufzusuchen, geht es jedenfalls nicht um den allerallgemeinsten Gebrauch des Begriffs, wir bleiben näher, so ist zu hoffen, an der medizinischen oder juridisch-theologischen Grundbedeutung des Krisenbegriffs und untersuchen die „kritischen" Momente, in denen über den Fortbestand einer Institution entschieden wird. Wenngleich auch diese Umschreibung des Sinngehalts immer noch recht vage bleibt, ist sie doch insofern etwas griffiger als jenes Schlagwort von einer „umfassenden Krise", das Hartmut Boockmann aufgespießt hat. Weil wir durch den freilich ebenfalls vagen Begriff der „Institution", der auch noch im Plural steht, ein ganzes Feld von vielfältigen, widersprüchlichen und keinesfalls einsinnigen Prozessen und Situationen in den Blick nehmen wollen, suchen wir jedenfalls nicht einen einzigen Schlüssel, der als „passe partout" für viele oder gar alle Rätsel des Zeitalters schließen könnte. So will auch die lockere Formulierung des Themas, unter das ich meinen Beitrag stelle, keineswegs beanspruchen, das gesamte 14. Jahrhundert als eine einzige Krise vorzustellen, so richtig es auch sein mag, daß natürlich auch in dieser Zeit - wie wohl in jedem Jahrhundert ohne jede Frage wichtige Weichen für die Zukunft gestellt worden sind, die in diesem Falle, allein schon der chronologischen Nähe wegen, zur Moderne führten. Hier aber soll nicht das Gegenstand der Uberlegungen sein. Ich möchte den Krisenbegriff eher als heuristischen Begriff zur Prüfung der Frage benutzen, wie die Zeitgenossen in ihrem politischen Denken eigene politische Institutionen aufzufassen versuchten, sie dadurch in ihrer Entwicklung bestimmten und ihrerseits auf diese Entwicklung der Institutionen reagierten. Dabei muß ich von vorneherein allzu weit gespannte Erwartungen dämpfen. Es ist natürlich unmöglich, hier das politische Denken des frühen 14. Jahrhunderts in allen seinen Nuancen, undenkbar auch, es in allen seinen wichtigen Erscheinungsformen vorzuführen. Der Griff nach dem exemplarischen, aber damit zugleich auch verkürzenden Beispiel ist unvermeidlich. Dabei will ich so vorgehen, daß wir zuerst ein Tableau der politischen Theorie in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und am Beginn des 14. Jahrhunderts skizzieren, orientiert an der Frage der Rezeption der aristotelischen Politik, um dann einige Positionen näher zu charakterisieren und schließlich ein kurzes Fazit zu ziehen. Das politische Denken des Mittelalters stand dort, wo es sich um ausdrückliche Theorie bemühte, insofern unter schwierigen Ausgangsbedingungen, als in dem Kanon der theoretischen Disziplinen, den man

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aus der Antike übernommen und weiterentwickelt hatte, die Politik zunächst keinen eigenen Platz hatte. Im Katalog der sieben Artes liberales war jedenfalls von Politik nicht die Rede und auch innerhalb der Theologie und der Jurisprudenz (den dann genuin mittelalterlichen Wissenschaftsdisziplinen) gab es keinen eigenen politischen Gegenstandsbereich, keine gesonderte Teildisziplin, die sich mit Fragen der politischen Ordnung, mit Krieg und Frieden, mit Herrschaft und Recht, mit Freiheit und Unfreiheit ausdrücklich beschäftigte, auch wenn sich sowohl die Theologen als auch die Juristen immer wieder mit derartigen „politischen" Themen beschäftigt haben und beschäftigen mußten. Natürlich, man hatte die Kirchenväter und ihre Schriften. Augustins Positionen, die sich verstreut in seinen Texten fanden, wurden in Exzerptsammlungen und Florilegien durchaus durch das Mittelalter hindurch weitergegeben. Eine eigene Gattung politischer Theorie aber gab es nicht, wenn auch einige Texte dichter politischer Reflexion aus dem frühen Mittelalter überliefert sind, von denen ich nur das Polipticum sive perpendiculum des Bischofs Atto von Vercelli aus der Mitte des 10. Jahrhunderts3 nennen will. Immerhin, so wird man mir entgegenhalten, gab es doch jene Texte, die wir „Karolingische Fürstenspiegel" nennen. Ohne mich hier auf eine Untersuchung dieser Gattung einlassen zu wollen, ist doch festzuhalten, daß sie keine langwirkende und in die Zukunft führende Tradition begründete. Im Umkreis der Zeit, die uns hier interessiert, waren diese Texte kaum noch lebendig. Es hat sich bisher nichts an der Feststellung von Wilhelm Berges geändert, der 1938 geschrieben hat: „Jedenfalls gibt es nicht den kleinsten Nachweis, daß die Fürstenspiegel der Smaragd von Saint Mihiel, Jonas von Orléans, Sedulius Scottus, Hinkmar von Reims usw. in den Fürstenspiegeln und in der sonstigen Literatur unserer Zeit (das ist vom 12. Jahrhundert an) nachwirken, daß sie im 12. und 13. Jahrhundert noch emsiger gelesen wurden 4 ." Ein neuer Ansatz wird dann im 12. Jahrhundert gemacht, in jener Zeit also, die auch sonst eine so tiefgreifende Epoche in der Geschichte 3 (Nach dem codex unicus aus dem Scriptorium von Vercelli, heute Ms. Vat. lat. 4322) zuletzt ed. Georg G o e t z , Attonis qui fertur „Polipticum" quod appellatur „Perpendiculum", in: A A L . P H 37,2 (1922), S. 3-70. Zusammenfassend dazu Suzanne Fonay T e r a p i e , Atto of Vercelli, Church, State and Christian Society in Tenth Century Italy (= Temi e testi 27, Rom, 1979) bes., S. 49 ff. - Nicht überzeugt hat mich Carla F r o v a , II „polittico" attribuito ad Attone, vescovo di Vercelli (924—960 ca.): tra storia e grammatica, in: BISI 90 (1982/83), S. 1-75. 4 Wilhelm B e r g e s , Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (= Schriften des Reichsinstituts für Altere Deutsche Geschichtskunde 2, Leipzig, 1938 [ND Stuttgart, 1951 u. ö.]), Zitat S. 3.

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des Mittelalters brachte. Mit den Neubildungen im politisch-sozialen Raum entstand auch die Gattung der Fürstenspiegel praktisch neu. Gleichzeitig etwa mit den strukturellen Veränderungen im adligen Haus, gleichzeitig mit der Intensivierung königlicher und fürstlicher Herrschaft seit dem 11. Jahrhundert und gleichzeitig mit den kommunalen Bewegungen, die die europäischen Städte ihrer ersten Blütezeit entgegenführten, entfalteten sich in breiterem Strom auch die Fürstenspiegel als politische Handlungsanweisung in ethisch-ständedidaktischer Abzweckung. Es entstehen jetzt Texte der Herrscherparänese, die einerseits den Herrscher selbst über seine Pflichten und Möglichkeiten aufklären wollten, die aber andererseits auch denen, die mit den Herrschern, den Königen und Fürsten umzugehen hatten, einen warnenden oder vorbildlichen Spiegel vorzuhalten bemüht waren. Wir brauchen dieser Literatur nicht im einzelnen nachzugehen, wo mancherlei antike Traditionen, Schulüberlieferungen und arabischorientalische Einflüsse verarbeitet wurden, und die aus der praktischparänetischen Absicht eher praktisch-moralische, denn im strikten Sinne theoretische Absichten verfolgte. So sehr auch einzelnen Texte dieser Gruppe uns einen Blick auf die innere Situation ihrer Zeit eröffnen, - ich denke hier vor allem an den Policraticus des Johannes von Salisbury (von 1156/1159)5 - eine geschlossene politische Theorie bieten sie nur in freilich höchst interessanten Ansätzen. Diese Lage ändert sich deutlich und fast schlagartig in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Forschung ist sich darüber einig, daß die rasche und wie selbstverständliche Rezeption der aristotelischen „Politik" mit allen ihren Folgen den schlagendsten Beleg für dieses Urteil liefert. Wir verzichten wiederum darauf, hier die einzelnen Etappen des gesamten komplexen Prozesses der abendländischen Aristotelesrezeption nachzubuchstabieren, der in verschiedenen deutlich voneinander abhebbaren Schüben zuerst die Schriften des Philosophus zur Erkenntnistheorie und Naturphilosophie aus dem Arabischen und bald auch daneben aus dem

5 Ed. Clemens C. I. W e b b , Iohannis Saresberensis episcopi Carnotensis Policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII, torn. I—II (Oxford, 1909, N D Frankfurt/Main, 1965). Dazu zusammenfassend etwa Max K e r n e r , Johannes von Salisbury und die logische Struktur seines „Policraticus" (Wiesbaden, 1977); vgl. auch den Sammelband: The World of John of Salisbury, ed. by Michael J. W i 1 k s (Studies in Church History, Subsidia 3, Oxford, 1984); zuletzt Peter v o n M o o s , Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die .historiae' im „Policraticus" Johanns von Salisbury (= Ordo, Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 2, Hildesheim/Zürich/New York, 1988).

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Griechischen dem lateinischen Westen verfügbar machte6. Die Schriften zur praktischen Philosophie, insbesondere die Ethik, kamen erst später zum Zuge, erst am Ende des 12. Jahrhunderts begegnen die ersten Auszüge aus der Nikomachischen Ethik, die Ethica vetus, um 1220 dann die Ethica nova, es folgte eine Paraphrase aus dem Arabischen von ca. 1240, bevor der Engländer Robert Grosseteste noch vor 1250 (ca. 1246/ 1247) diese und ähnliche Vorarbeiten zusammenfassend, eine vollständige Ubersetzung der Ethica (d. h. der Nikomachischen Ethik) aus dem Griechischen vorlegte7. Ein weiteres Jahrzehnt später erst, um 1260, übertrug der niederländische Dominikaner Wilhelm von Moerbeke, der in enger persönlicher Verbindung zu Thomas von Aquin stand, die „Politik" in mehreren Redaktionsschüben aus dem Griechischen8. Das große Buch des Aristoteles konnte also erst seit dieser Zeit auf die abendländische politische Reflexion in seiner eigenen Gestalt einwirken. Diese späte Ankunft wurde aber durch die Intensität im gewissen Sinne wieder wett gemacht, mit der man sich in Europa auf diesen neuen Fundus von Argumenten und Überlegungen, auf dieses Angebot 6 Zusammenfassend etwa Bernard G. D o d , Aristoteles latinus, in: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, edd. Norman Kretzmann/Anthony K e n n y / J a n P i n b o r g/Eleonore S t u m p (Cambridge, 1982), S. 45-79, Georg W i e 1 a n d , The Reception and Interpretation of Aristotle's „Ethics", ebd., S. 657-672; sowie Jean D u n b a b i n , The Reception and Interpretation of Aristotle's „Politics", ebd., S. 723-737, oder insbesondere Marie Thérèse d ' A 1 v e r n y, Translations and Translators, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, edd. Robert L. B e n s o n/Giles C o n s t a b 1 e/Carol D . L a n t h a m (Oxford, 1982 [u. ö.]), S. 421— 462. Ein (erstaunlich reiches) Verzeichnis der Mss. von Kommentaren legte vor Christoph F 1 ü e 1 e r , Mittelalterliche Kommentare zur „Politik" des Aristoteles und zur ps.aristotelischen „Ökonomik", in: Bull.de philosophie médiévale 29 (1987), S. 193-229; reichliche Literaturhinweise zu einzelnen Autoren bei Charles H. L o h r , Commentateurs d'Aristote au moyen-âge latin, Bibliographie de la littérature secondaire récente (= Vestigia 2, Fribourg/Paris, 1988); eine Bibliographie raisonnée gab jüngst auch Gerard V e r b e k e , L'Aristote latin, in: Contemporary Philosophy, A New Survey, VI: Philosophy and Science in the Middle Ages, edd. Guttorm F 1 0 i s t a d und Raymond K 1 i b a n s k y (Dordrecht/Boston/London, 1990), S. 749-772. 7 Zu Grosseteste vgl. jetzt vor allem die geistreiche biographische Studie von Richard W. S o u t h e r n , Robert Grosseteste, The Growth of an English Mind in Medieval Europe (Oxford, 1986), zur Ethikübersetzung dort bes. S. 287 ff. (mit Lit.). 8 Zu den Ubersetzungen Wilhelms von Moerbeke vgl. jetzt den Sammelband: Guillaume de Moerbeke, Recueil d'Etudes à l'occasion du 700 e anniversaire de sa mort [1286], hrsg. von Jozef B r a m s und Willy V a n h a m e l ( = Ancient and Medieval Philosophy, De Wulf-Mansion-Centre I 7, Leuven, 1989): zur Politik vgl. dort die Arbeiten von Gerard V e r b e k e , Moerbeke, traducteur et interprète, un texte et une pensée (S. 1-21) und Fernand B o s s i e r , Méthode de traduction et problèmes de chronologie (S. 257-294), zur Verbindung M.'s mit Thomas Carlos S t e e l , G.d.M. et saint Thomas (S. 57-82), zusammenfassend Willy V a n h a m e 1, Biobibliographie de G.d.M., S. 3 0 1 383 (zur „Politik" bes. S . 339-341).

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einer neuen wissenschaftlichen Methode gleichsam stürzte, als hätte man darauf gewartet. Thomas von Aquin selbst hat (1267/72) wie wohl vor ihm noch sein Lehrer und dominikanischer Ordensbruder Albertus Magnus (dessen Paraphrase ca. 1265 zu datieren ist), einen eigenen scholastischen Kommentar zu dem Text begonnen9. Siger von Brabant hielt offenbar schon vor 1270 in Paris Vorlesungen über die „Politik" 10 . Etwa gleichzeitig - oder nur wenig später - hat aber Thomas in seiner Schrift De regimine principum ad regem Cypri der ganzen Gattung politischer Fürstenspiegel eine neue Gestalt und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit politischen Fragen für die Zukunft ein neues methodisches Fundament gegeben11. Obwohl der Traktat unvollendet ge-

9 Thomas, Sententia libri Politicorum, ed. Antoine D o n d a i n e (S.Thomae Aquinatis doctoris angelici Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII p.m. editi, tomus XLVIII, Rom, 1971). Zur Datierung der Ethikkommentare vgl. R.-A. G a u t h i e r , La date du commentaire de Saint Thomas sur l'Ethique à Nicomaque, in: RTh 18 (1951), S. 66-105. 10 Ein schriftlicher Niederschlag blieb anscheinend nicht erhalten, vgl. aber das Zeugnis des Pierre Dubois, De recuperatione terre sancte, [nach der Edition durch CharlesVictor L a n g 1 o i s von 1891] ed. Angelo D i o 11 i (= Testi medievali di interesse dantesco 1, Firenze, 1977), hier c.lxxx/132, S. 205 (dazu vgl. aber Paolo T o m e a , in: Aevum 53 (1979), S. 406-412, bes. 409 ff., sowie J. M i e t h k e , in: QFIAB 59 (1979), S. 517 f.). Demnächst zur Pariser Rezeption zusammenfassend Christoph F 1 ü e 1 e r , Die Rezeption der „Politica" des Aristoteles an der Pariser Artistenfakultät im 13. und 14. Jahrhundert, in: Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, hg. von J. M i e t h k e , (= Schriften des Historischen Kollegs/Kolloquien 21, München, vorauss. 1992); vgl. insbesondere künftig F 1 ü e 1 e r , Rezeption und Interpretation (wie Anm. 11). 11 Die im Rahmen der Editio Leonina durch Hyacinthe-F. D o n d a i n e vorgelegte Ausgabe: De regno ad regem Cypri, in: S.Thomae ... Opera omnia..., t.XLII (Rom, 1979), S. 449—471, hat alle vorherigen Drucke überholt; vgl. dazu die ausführliche Praefatio, S. 421-444. An Literatur s. auch die (von Dondaine nicht hinreichend herangezogene) Analyse von B e r g e s , Fürstenspiegel (wie Anm. 4), S.317-319, sowie 195-211. Vgl. auch etwa I. Th. E s h m a n n in verschiedenen Arbeiten, leicht erreichbar in der Einleitung zur Ubersetzung von De regimine principum durch G. B. P h e 1 a n : St. Thomas Aquinas, On Kingship to the King of Cyprus (Toronto, 2 1949), bes. E s h m a n n , Thomas Aquinas on the Two Powers, in: MSt 20 (1958), S. 177-205; auch Leonard E. B o y 1 e , The „De regno" and the Two Powers, in: Essays in Honour of Anton Charles Pegis, ed. Reginald O ' D o n n e l l (Toronto, 1974), S. 237-247; Jeremy I. C a t t o , Ideas and Experience in the Politicai Thought of Aquinas, in: Past and Present 71 (1976), S. 4-21; Léopold G é n i c o t , Le „De regno": spéculation ou réalisme? in: Aquinas and Problems of His Time, edd. Gerard V e r b e k e e t D . V e r h e l s t (Löwen/Den Haag, 1976), S. 3-17; Helmut G. W a 11 h e r , Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität, Studien zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens (München, 1976), S. 125-135; Sofia Vanni R o v i g h i , S. Tommaso d'Aquino, in: Storia delle idee politiche, oeconomiche e sociali, diretta da Luigi F i r p o , II/2: Il medioevo (Torino, 1983), S. 463—495. Die Datierung ist umstritten: der „klassische" Ansatz (etwa bei G r a b m a n n [wie Anm. 13] und B e r g e s [wie Anm.4], 317f.) ist 1265/67; der Hrsg. der Schrift, H.-F. D o n d a i n e (wie Anm. 11), enthält sich einer Festlegung; Christoph F 1 ü e 1 e r , Rezeption und Interpretation der aristotelischen „Politica" im 13. und

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blieben ist - er reicht in seinem authentischen Text nur bis zu Buch II, cap. 4, wo er unvermittelt abbricht 12 - ist er doch ungemein einflußreich und wichtig geworden. Er nutzte nämlich die neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten, die die aristotelische Metaphysik und Methodenlehre ihm boten, rigoros auf dem überlieferten Felde der Fürstenspiegel zu einer systematischen Grundlegung und theoretischen Durcharbeitung der Voraussetzungen menschlicher Gesellschaft. Thomas tat das so energisch, daß es zunächst nicht ins Gewicht fiel, daß der ursprünglich geplante Aufbau des Traktates nur in einem Bruchstück vollendet werden konnte und erst vier Jahrzehnte später von seinem Schüler Tholomeo von Lucca nach anderen Prinzipien an ein Ende gebracht, nicht vollendet worden ist 13 . Mit dem neuen Ansatz der aristotelischen Sozialphilosophie lieferte Thomas seiner Zeit das Beispiel eines in mehrfacher Hinsicht grundlegenden neuen Zugriffs auf die politische Reflexion. Das zeigte sich einmal daran, daß nur kurze Zeit (weniger als ein Jahrzehnt) später, ein anderer Schüler des Thomas von Aquin, Aegidius Romanus, mit prinzipiell vergleichbaren Mitteln jenen Fürstenspiegel niederschrieb, der der erfolgreichste mittelalterliche Traktat seiner Gattung und eines der meist gelesenen Bücher des Mittelalters überhaupt werden sollte. In zahlreichen Handschriften überliefert, in Auszügen, Bearbeitungen, Kommentaren, ja durch Ubersetzungen in alle europäischen Sprachen, einschließlich des Hebräischen, verbreitet 14 , formte dieser um 1277/ 1279 niedergeschriebenen Text noch für Jahrzehnte, ja für Jahrhunderte

14. Jahrhundert, Studien, Texte, Quellen (Phil. Diss. Freiburg/Schweiz, 1989 [masch.; als Buch soll die Arbeit 1991 in den „Bochumer Studien zur Philosophie" erscheinen]) setzt den Text neuerdings nach sorgfältiger Argumentation auf 1271/73. 12 Bzw. nach der neuen Zählung der kritischen Ausgabe (wie Anm. 11) II, cap. 8. 13 Vgl. etwa Martin G r a b m a n n , Die Werke des Hlg. Thomas von Aquin, Eine literarhistorische Untersuchung und Einführung, N D der 3. Aufl. mit Literaturergänzungen von Richard H e i n z m a n n (= BGPhMA 22/1-2, Münster, 1967), S. 3 3 0 336, sowie jetzt die oben Anm. 11 zit. Praefatio von H.-F. D o n d a i n e. 14 Eine vorläufige Ubersicht über die Versionen bei B e r g e s , Fürstenspiegel (wie Anm. 4) 321-328. Ein genaueres Verzeichnis der 6 deutschen Fassungen und Nachweise zur Überlieferung jetzt in: Zwei ostmitteldeutsche Bearbeitungen lateinischer Prosadenkmäler (...), Der ostmitteldeutsche Traktat „Welch furste sich vnde syne erbin wil in synem furstenthum festin" nach Aegidius Romanus „De regimine principum, hg. von Uta S t ö r m e r ( = Deutsche Texte des Mittelalters 76, Berlin, 1990) (in der Praefatio zur Ausgabe). Eine schon lange Liste von Hss. legte Gerardo B r u n i , Le opere di Egidio Romano (Firenze, 1936) (insbes. S. 83-90) vor, der, zähle ich richtig, insgesamt 243 Handschriften der lateinischen Fassung verzeichnet [sowie weitere Hss. der volkssprachlichen Versionen (90 ff.), auch (106 f.) 17 Drucke (verschiedener Versionen) von 1473-1607; vgl. genauer auch G. B r u n i , Saggio bibliografico sulle opere stampate di Egidio Romano, in: Augustiniana 24 (1961), S. 331-355, passim)]. Nach freundlicher Auskunft von Fran-

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das Bewußtsein der europäischen Eliten 15 . Bei ihm holte man sich Rat und Orientierung, er wurde gleichsam zu „dem" spätmittelalterlichen Handbuch politischer Ethik schlechthin. Freilich wurde die Leistung des Thomas von Aquin auch durch diese überaus erfolgreiche Arbeit des wichtigen Schülers keineswegs völlig aus dem Gesichtsfeld der gelehrten Welt gerückt, denn Aegidius hatte eine fundamentale Entscheidung des Aquinaten nicht nachvollzogen. Im ganzen umfänglichen Traktat des Aegidius kommt neben dem König die Kirche überhaupt nicht vor. Selbst das Wort, geschweige denn die in dieser Zeit bedrängend gegenwärtige Gestalt der spätmittelalterlichen Kirche suchen wir vergeblich in dem Text des Aegidius. Das regnum ist die einzige Erfüllung, auf die der vergesellschaftete Mensch letzthin bezogen wird, der König als quasi semideus in terris, wie er mehrfach genannt wird 16 , steht als eigentliche Verkörperung des Menschlichen so sehr im Mittelpunkt, daß bereits das Verhältnis des Herrschers zu den Ständen neben und unter ihm blaß und unterbelichtet bleibt, sein Verhältnis zur Kirche aber bleibt ganz unerörtert. Thomas von Aquin hatte es da ganz anders gehalten. Er hatte aus der aristotelischen Teleologie einen ordo finium, eine „Hierarchie der Zwecke" abgeleitet, denen der Mensch verpflichtet ist, auch wenn er naturgegeben, als Mängelwesen, als animal sociale et politicum in Gesellschaft lebt. Wie der einzelne jenseits des Zweckes der Selbstcesco del Punta und Concetta Luna (Pisa), die eine kritische Ausgabe der Opera omnia vorbereiten, sind zur Zeit insgesamt 284 handschriftliche Textzeugen der lateinischen Fassung und insgesamt 78 Mss. mit volkssprachlichen Ubersetzungen bekannt. 15 Gedruckt etwa von Hieronymus S a m a r i t a n u s , Rom 1607 ( N D Aalen, 1967). Dazu vgl. vor allem B e r g e s , Fürstenspiegel (wie Anm. 4), S. 320-328, sowie 211-228. Auch Ugo M a r i a n i , OESA, Chiesa e stato nei teologi agostiniani del secolo X I V (= Uomini e dottrine 5, Rom, 1957), S. 113 ff.; Raphael K u i t e r s , De ecclesiastica sive de summi pontificis potestate secundum Aegidium Romanum, in: AnalAug 20 (1945/46), S. 146-214. Dazu sind in jüngerer Zeit mehrere Arbeiten erschienen, zwei (nicht sehr erhebliche) deutsche Dissertationen: Christiane S c h r ü b b e r s , Regimen und Homo primitiva, Die Pädagogik des Agidius Romanus, in: Augustiniana 32 (1982), S. 137-188, 348-391, 33 (1983), S. 112-141 (=phil.Diss. F U Berlin, 1980), sowie Heinz G o 11 w a 1 d , Vergleichende Studie zur Ökonomik des Aegidius Romanus und des Justus Menius (= Europäische Hochschulschriften III 378, Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris, 1988 [= Diss. Frankfurt/Main 1988]). Weit wichtiger für Quellenanalyse und Untersuchung des methodischen Vorgehens des Aegidius sind Roberto L a m b e r t i n i , A proposito della „costruzione" dell'oeconomica in Egidio Romano, in: Medioevo 14 (1988), S. 315-370, sowie: d e r s . , Philosophus videtur tangere tres rationes, Egidio Romano lettore ed interprete della „Politica" nel terzo libro del „De regimine principum", in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 1 (1990), S. 277-325. Ich bin dem Vf. für die Uberlassung seines Ms. dankbar). 16 Vgl. etwa De regimine principum II.2.8 oder III.2.32, S. 310 oder 544)

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erhaltung auch dem Zwecke der vernünftigen Selbstverwirklichung zu folgen hat, und also über die conservatio in esse hinaus auch die perfectio naturalis, d. h. eine vita secundum virtutem (entsprechend der aristotelischen Vernunftethik) als Aufgabe hat, so ist auch die menschliche Gesellschaft über die der natürlichen Notwendigkeit entsprechende Vergesellschaftung hinaus auf eine vita secundum virtutem hin geordnet und muß zu diesem Ziel geleitet werden. Als höchster Zweck des einzelnen aber ist die perfectio supernaturalis, die fruitio dei anzusehen, so auch in seiner Vergesellschaftung seine Zugehörigkeit zum Corpus Christi mysticum, die auch durch die politisch verfaßte Gesellschaft nicht gestört werden darf. So unterstehen die Fürsten den Bischöfen und dem Papst in den Dingen, die zum Heile führen, behalten daneben aber - wie Thomas offenbar meint - durchaus ihre Selbständigkeit in der Sorge um die perfectio naturalis ihrer Bürger. Sorge um den Lebensunterhalt, Sorge um die natürliche Sittlichkeit, Sorge um den Frieden, das sind die Aufgaben des Fürsten, der damit der perfectio supernaturalis der Bürger die Bedingungen der Möglichkeit bereitstellt. Die teleologische Zuordnung der beiden Instanzen ist bei Thomas im einzelnen weder in dem Fürstenspiegelfragment noch in seinen anderen Schriften völlig klar, und daher in der Forschung umstritten. Deutlich ist eine hierarchisch gestufte Ordnung, die freilich versucht, beiden Seiten ihre Selbständigkeit zu lassen. Wie die Gnade die Natur nicht aufhebt, sondern vollendet (gratia non tollit, sed perficit naturam17), so sollte auch die Kirche den Staat (wenn wir diese festen Begriffe für Thomas überhaupt zu Recht anwenden) nicht aufheben, sondern vollenden, wenn auch nirgends klar gesagt wird, was das im Falle eines Konfliktes denn letztlich heißen kann und soll. Daher konnten sich an diese Konstruktion des Thomas in, wie ich nicht bezweifle, subjektiver Ehrlichkeit, nur eine Generation später die Thomas-Schüler in durchaus unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Weise anschließen18. Tholomeo von Lucca, der dem Fürstenspiegel des Thomas eine Fortsetzung gab, konnte einen extrem kurialistischen Standpunkt entwickeln 19 und Johannes Quidort, der französische Dominikaner, wird

17 Summa theologiae I, qu.l a.8 ad 2; cf. ibid. qu.2 a.2 ad 1. 18 Zu Biographie und Datierung im einzelnen vor allem Frederick J. R o e n s c h , Early Thomistic School (Dubuque, Iowa, 1964). 19 Zu Tolomeo etwa Charles Till D a v i s , Dante's Italy and Other Essays (Philadelphia, 1984), S. 224-289 (Erstveröffentlichung der Aufsätze: 1974 und 1975); vgl. auch Dolf S t e r n b e r g e r , Drei Wurzeln der Politik, Bd. I—II (= Schriften 2, Frankfurt/ Main, 1978) I 58-84 u. II 31-51.

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seine eigene energisch kirchenkritische Theorie durch ausführliche, wörtliche, wenn auch unausdrückliche Anleihen eben beim Fürstenspiegel des Thomas von Aquin begründen20. Hier will ich nicht etwa behaupten, daß Thomas von Aquin die Rezeption der aristotelischen „Politik" allein zu verantworten hätte. Natürlich hätte er die breite Rezeption allein gar nicht bewirken können. Aber zweifellos war sein Entwurf ein Angelpunkt der Entwicklung. Die aristotelische Politik bot damals dem Abendland eine wissenschaftliche Methode, die sich zur Erfassung komplexer Sozialgebilde und zu ihrem Verständnis praktisch fast konkurrenzlos anbot. Nicht einmal die Kirche hatte eine formelle allgemeine Theorie ihres Selbstverständnisses ausgebildet, die der aristotelischen Methode und ihrem Angebot gewachsen gewesen wäre. Gewiß hatten die Theologen über die Kirche und ihre Strukturen und auch über die weltliche Sphäre sehr vieles und auch sehr bedeutsames zu sagen, sie hatten sehr unterschiedliche Traditionen zu verarbeiten, etwa die neutestamentlichen und patristischen Metaphern, und unter ihnen die Corpus-Christi-Vorstellung oder die Lehre vom regnum dei. Und diese Ansätze wurden natürlich nicht nur weiter gebraucht, sie wurden auch weiter entwickelt, wie insbesondere an der Corpus CÄmiz-Metapher leicht zu verdeutlichen wäre21. Auch die Kirchenjuristen, die andere einschlägige Fakultät an den Universitäten der Hochscholastik, die damals gerade zur Blüte kam, hatten untereinander wohl strittige, insgesamt aber in breitem Strom diskutierte Begriffskomplexe entwickelt, darüber, wie nach dem geltenden Kirchenrecht - das eine sehr komplexe Hierarchie von Normen des göttlichen, kirchlichen und menschlichen Rechts umfaßte - eine einzelne Ortskirche und die ganze Christenheit geordnet und geführt werden müßte22. Aber eine einheitliche griffige Theorie konnten sie 20 Ed. Fritz B l e i e n s t e i n , Johannes Quidort von Paris, Über königliche und päpstliche Gewalt (De regia potestate et papali), (= Frankfurter Studien zur Wissenschaft von der Politik 4, Stuttgart, 1969) - zu dieser Edition vgl. meine Bemerkungen in: Francia 3 (1975), S. 799-803; Lit. hier unten bei Anm. 44. 21 Vor allem Henri d e L u b a c , Corpus my sticum, L'Eucharistie et l'église au moyen âge (= Théologie 3, Paris, 2 1949); Ernst H. K a n t o r o w i c z , The King's Two Bodies, A Study in Medieval Politicai Theology (Princeton, N.J., 1957 u. ö.), S. 193-232 [in der soeben erschienenen dt. Ubers, durch Walther T h e i m e r , Brigitte H e l l m a n n u. Walter K u m p m a n n : Die zwei Körper des Königs (München, 1990), S. 205 ff.]. Allgemein vgl. auch die brillante Handbuchdarstellung von Yves Marie-Joseph C o n g a r , L'Eglise de Saint Augustin à l'epoque moderne (= Histoire des dogmes 3, Paris, 1970) [dt. Ubers. u.d.T.: Die Lehre von der Kirche (Freiburg/Basel/Wien, 1970)]. 22 Dazu zusammenfassend etwa J. M i e t h k e , Historischer Prozeß und zeitgenössisches Bewußtsein. Die Theorie des monarchischen Papats im hohen und späteren Mittelalter, in: H Z 226 (1978), S. 564-599.

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nicht anbieten. Beiden, Theologen wie Juristen, fehlte eine zur Einheit zusammengeschlossene Theorie aus einer Wurzel, beide Traditionsbereiche waren zudem nur den Spezialisten zugänglich, die sich ihren Zugang durch ein langes, jahrelanges, ja jahrzehntelanges Studium erarbeiten mußten, bevor sie mit den Texten selbständig umzugehen in der Lage waren23. So mochten die Zeitgenossen in der aristotelischen Soziallehre eine Chance erkennen, sich - mit den allermodernsten wissenschaftlichen Mitteln - eine Orientierung ihrer Gegenwart zu verschaffen, die auch dazu nützlich sein mochte, der Verunsicherung zu begegnen, die mit den traditionellen überkommenen Vorstellungskomplexen nicht mehr zu bewältigen war angesichts dessen, was sich im 13. Jahrhundert ereignete. Es ist lohnend, sich daran zu erinnern, was damals in Europa geschah, auch wenn ein episches Gemälde der historischen Situation in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mehr als einen Aufsatz füllen müßte und deshalb hier nicht geleistet werden kann. Der Zusammenbruch der staufischen Macht nach der großen Anspannung unter Friedrich II., der Ausgriff Aragöns und Kastiliens über die iberische Halbinsel hinaus, die Ausbildung des französischen und des englischen Königreichs, die Etablierung der Anjous in Süditalien, die Teilung Siziliens, die Herrschaftsbildungen in Ostmitteleuropa in wechselnden Akzentuierungen, in Byzanz der Aufstieg der Palaiologen und im Heiligen Land das Ende der Kreuzfahrerherrlichkeit - all das sind sehr unterschiedliche und keineswegs etwa gleichartige, oder auch nur parallel gerichtete Prozesse, die aber doch verdeutlichen, daß damals sich vieles bewegte. Den raschen Wandlungen konnte man mit nur traditionalen Orientierungsmustern nicht gut beikommen. Hier lag m. E. ein Angebot der aristotelischen Philosophie, das sie attraktiv machen mußte. Für die politische Theorie besonders wichtig ist es geworden, daß spätestens seit dem Konflikt Friedrichs II. mit der römischen Kurie die alten universal gedachten Ordnungen der Christenheit ihre traditionelle Rolle neu bestimmen mußten. Am deutlichsten ist das für das Kaisertum, das imperium, das für lange Zeit keinen Kaiser mehr fand. Seit Papst Innozenz IV. den Kaiser Friedrich II. 1245 in Lyon abgesetzt hatte, spätestens aber seit dem Tode des Staufers 1250 hatte es zwar noch mancherlei römische Könige gegeben, zum Teil mit und zum Teil ohne die Gunst der Kurie, neben-, nach- und gegeneinander, der Kai23 Zum „Normalcurriculum" William J. C o u r t e n a y , Schools and Scholars in Fourteenth Century England (Princeton, N.J., 1987), S. 20-48.

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serthron aber war vakant geblieben und sollte es noch lange bleiben. Mit Ausnahme des weniger als ein Jahr lang dauernden Intermezzos der kurzen Kaiserherrlichkeit des Luxemburgers Heinrich VII. (1313/1314) und abgesehen von der längeren, ihrer ungewöhnlichen Thronerhebung wegen aber durchaus zweifelhaften Kaiserwürde, die Ludwig „der Bayer" von 1328 bis 1347 beanspruchen konnte, sollte erst mit der Krönung Karls IV. am Ostertag 1355 diese lange Unterbrechung der Kaiserreihe vorläufig beendet werden. Konnte man mit dem Kaiser und seinen Ansprüchen noch rechnen, mußte man nicht, und sei es faute de mieux, ohne ihn auskommen? Im Konflikt mit dem Papst war der Kaiser zunächst von der Bühne verschwunden. Nicht daß wir nicht nostalgische Sehnsucht und restaurative Absichten entdecken könnten, die natürlich vor allem in Deutschland - man denke an Alexander von Roes 24 - und in Italien virulent waren - wo die sogenannten ghibellinischen Traktate dies hinreichend belegen können 25 . Eine wirkliche Chance hatten all diese in sich ganz unterschiedlichen Aspirationen schon deshalb nicht, weil das Papsttum, das den Konflikt mit dem Staufer letzten Endes siegreich durchgefochten hatte, nun mit allergrößter Sorgfalt und vorsichtiger Bestimmtheit jede Wiederholung der bedrohlichen Konstellation, die es sattsam zu kennen glaubte, auszuschließen versuchte. Natürlich wechselten bei diesem Bestreben die päpstlichen Koalitionen und konkreten politischen Mittel im Detail bunt genug, die Grundkonstellation der Kräfte und Interessen aber blieb erhalten. Mit der Kontrolle über die Kaiserkrönung behielt das Papsttum auch ein wirksames Instrument praktischer Politik in der Hand, das es wirkungsvoll zur Geltung zu bringen verstand 26 .

24 Alexander von Roes, Schriften, hrsg.v. Herbert G r u n d m a n n/Hermann H e i m p e 1 (= MGH, Staatsschr. I 1, Stuttgart, 1958). Dazu H. H e i m p e l , Alexander von Roes und das deutsche Selbstbewußtsein des 13. Jahrhunderts, in: A K 26 (1936), S. 19-60, gekürzt in: d e r s . , Deutsches Mittelalter (Leipzig, 1941), S. 74-104, 211 f.; H. G r u n d m a n n , Über die Schriften des Alexander von Roes, in: DA 8 (1950/51), S. 154-237, jetzt in: d e r s . , Ausgewählte Aufsätze, III (= Schriften der M G H 25/3, Stuttgart, 1978), S. 196-274, vgl. auch ebd. 275-291. 25 Darauf hat besonders Friedrich B o c k unermüdlich hingewiesen, vgl. etwa: Kaisertum, Kurie und Nationalstaat im Beginn des 14. Jahrhunderts, in: RQ 44 (1936), S. 105-122, 169-220; Nationalstaatliche Regungen bei den guelfisch-ghibellinischen Auseinandersetzungen von Innozenz III. bis Johann XXII., in: QFIAB 33 (1944), S. 1—48. Zuletzt hat Peter H e r d e die Gegenspieler untersucht: Guelfen und Neoguelfen, Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter zum Risorgimento (= Sitzungsber. der Wiss.Ges. an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. 22/2, Stuttgart, 1986), S. 26-181, bes. 35-84. 26 Dazu etwa J. M i e t h k e , Politisches Denken und monarchische Theorie, Das Kaisertum als supranationale Institution im späteren Mittelalter, in: Ansätze und Dis-

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Der - zumindest zeitweise - nicht existierende Kaiser hatte auch keine dauerhafte Agentur, die den Kaisergedanken hätte wachhalten können. Das hatte durchaus unterschiedliche Gründe, die in der Verfassungs-, Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Reiches zu suchen sind. Aber daß der deutsche Hof damals kein solches Zentrum sein konnte, daran kann kein Zweifel bleiben, da es einen „deutschen Hof" in dieser Zeit nicht dauerhaft gegeben hat. Das Wahlrecht, mittels dessen die Kurfürsten einem Rex Romanorum den Nachfolger bestimmten, hat gerade in diesen Jahrzehnten dazu geführt, daß die Königswürde in keinem einzigen Fall vom Vater auf den Sohn übergehen konnte, ja nicht einmal im gleichen Hause bleiben durfte. Anders stand es mit dem siegreichen Gegenspieler, mit dem Papsttum, das wohl unterschiedlich erfolgreich seine politischen Absichten verfolgte, in der Kurie aber eine eigene Organisation entwickelte, die sich gerade in dieser Zeit endgültig stabilisierte und die auch an der päpstlichen Stellung notwendig interessiert blieb. Die Päpste, die sich seit der Zeit der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts, wie es schien, unwiderstehlich an die Spitze der kirchlichen Amtshierarchie gesetzt hatten, und die sich daran gewöhnt hatten, die gesamte juristisch konsolidierte Klerikerkirche als ihren Einflußbereich anzusehen, schickten sich an, nun auch ihre Ansprüche gegenüber den Laien in der Kirche, und damit auch gegenüber den weltlichen Herrschern in neuer Schroffheit geltend zu machen. In harter Auseinandersetzung insbesondere mit den deutschen Herrschern, den römischen Kaisern, und „im Austausch ihrer Vorrechte" mit ihnen 27 hatten sie schon zuvor zäh und nachhaltig ihre Pflöcke weit vorangetrieben. Freilich mußten sie jetzt, da mit dem Tod des Staufers der Erfolg ganz sichtbar auf ihrer Seite war, entgegen allen Erwartungen erfahren, daß auch Päpste keineswegs in der Lage waren, eine Politik für die europäischen Königreiche einfachhin per Dekret zu formulieren. Für ihre eigenen Absichten und Entscheidungen konnten sie so wenig wie zuvor eine willige Gefolgschaft der europäischen Reiche erwarten. Das zeigen nicht zuletzt die bitteren kontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hrsg. v. Joachim E h l e r s (= Nationes, Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter 8, Sigmaringen, 1989), S. 121-144. 27 Percy Ernst S c h r a m m , Sacerdocium und Regnum im Austausch ihrer Vorrechte: „Imitatio imperii" und „imitatio sacerdotii", Eine geschichtliche Skizze zur Beleuchtung des „Dictatus papae" Gregors VII. ('1947), überarbeitet in: d e r s . , Kaiser, Könige und Päpste, Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters, Bd. IV/1 (Stuttgart, 1970), S. 57-106, vgl. auch ebd. 180 ff. Vgl. jetzt auch Gerd T e i l e n b a c h , Die westliche Kirche vom 10. zum frühen 12. Jahrhundert (= Die Kirche in ihrer Geschichte F l , Göttingen, 1988).

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Erfahrungen im Kernbereich ihrer Interessen, im sizilisch-unteritalienischen Königreich. Als Karl von Anjou, nach langem Hin und Her und unter hohen Kosten für die Kurie in den Schlachten von Benevent und Tagliacozzo und durch das Blutgericht in Neapel sein Königtum schließlich etabliert hatte, da machte doch schon kurze Zeit später, und noch zu seinen Lebzeiten, die Sizilianische Vesper gegen den erbitterten Widerstand der Kurie und der Anjous schließlich doch eine Teilung des unteritalienischen Reiches unabwendbar. Und im Heiligen Land, wo mit Akkon 1291 endgültig (wie sich später zeigen sollte) der letzte Brückenkopf der christlichen Kreuzfahrer verloren gegangen war, konnte kein päpstlicher Kreuzzugsaufruf und keine kuriale Kreuzzugspropaganda mehr eine Wende bewirken: die Welt wollte sich päpstlichen Willensäußerungen nicht fügen. Der plötzliche Entschluß zur Bescheidung, der im kurzen Pontifikat Coelestins V. am Ende des 13. Jahrhunderts noch einmal gewagt wurde 28 , mißriet und scheiterte an den harten Fakten und an der menschlichen Unzulänglichkeit des Protagonisten. Der greise Einsiedler vom Morrone hatte zwar allen weltlichen Ansprüchen sehr distanziert gegenüber gestanden, sie vielmehr ganz dem Fürsten seines Vertrauens, dem Anjou, überlassen und zugeschoben, gerade damit aber hatte er die Kurie in gänzliche Unordnung gebracht und das papale Regierungssystem verwirrt. Eben darum auch hat er keine dauerhafte Änderung bewirken können. Als Coelestin sich nach kaum sechs Monaten seiner Amtsführung (wenn man dies eine Amtsführung nennen darf) zum Rücktritt aufraffte, da hatte er nicht nur persönlich resigniert, auch die vage Aussicht auf eine Abkehr von dem politischen Papsttum der Juristen auf dem Stuhle Petri war zunichte. Die Kardinäle zögerten jedenfalls nicht lange und sie wählten im zweiten Wahlgang, nachdem der greise Matteo Orsini die erste Wahl abgelehnt hatte, ohne sichtbares Schwanken ihren geschäftserfahrensten Kollegen, den energischen und herrischen Benedikt Caetani, der sich als Papst Bonifaz VIII. nannte 29 . 28 Peter H e r d e , Cölestin V. (1294), (Peter vom Morrone), Der Engelpapst (= Päpste und Papsttum, 16, Stuttgart, 1981), knapp auch d e r s . , in: Gestalten der Kirchengeschichte, hrsg. v. Martin G r e s c h a t , Bd.l 1 (Stuttgart, 1985), S. 229-247. 29 Zum Rücktritt vor allem Martin B e r t r a m , Die Abdankung Papst Cölestins V. (1294) und die Kanonisten, in: ZRGKanAbt 56 (1970), S. 1 - 1 0 1 . Literaturhinweise zu Bonifaz VIII. nach der Übersicht von Eugenio D u p r e T h e s e i d e r , i n : DBI 12 (1970), 146-170, vgl. auch knapp Tilmann S c h m i d t , in: LexMA 2 (1983), 414-416, sowie d e r s . , in: Gestalten der Kirchengeschichte 11 (wie Anm. 27), S. 248-257. Umfangreich und mit vielen neuen Einsichten d e r s . , Der Bonifaz-Prozeß. Verfahren der Papstanklage in der Zeit Bonifaz' VIII. und Clemens' V. (= Forsch, z. kirchl. Rechtsgesch. u. z. Kirchenrecht 19, Köln/Wien, 1989).

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Dieser Papst, der sich durch Hartnäckigkeit im Verfolgen seiner Ziele, durch Entschlußfreudigkeit, Scharfblick für die Schwächen seiner Gegner, Unempfindlichkeit für eigene Fehler, nicht aber durch Augenmaß auszeichnete, hat sein Amt bekanntlich auf den unüberbietbaren Gipfel seines Weltanspruchs geführt. Nicht daß Bonifaz eine neue Theorie des Papsttums entwickelt hätte: Eifrige Forschung hat fast jede der Formulierungen in seinen zahlreichen Proklamationen auf eine ihm bereits vorausliegende Tradition zurückzuführen vermocht. Das Neue lag nicht im Inhalt seiner Prätentionen - was der Papst auch selber einmal ausdrücklich verkündete, als er den Gesandten des französischen Königs auf dem Höhepunkt seines Konflikts mit Frankreich gegenüber festhielt: Quadraginta antii sunt quod nos sumus experti in iure, et scimus, quod duae sunt potestates ordinatae a deo, der Papst wußte sich, wie ihm die moderne Forschung bestätigt, mit anscheinend guten Gründen im Einklang mit seiner Tradition30. Das was die Zeitgenossen bereits so erschreckte und auch noch moderne Leser verstören kann, war die Rücksichtslosigkeit, mit der Bonifaz seine Ziele verfolgte, war der unbedingte Wille, seinen Anordnungen Gehorsam zu verschaffen. Nicht so sehr, was er im einzelnen sagte und wollte - wenn das auch, wie zum Beispiel bei der Behandlung der Colonna-Kardinäle und ihres Anhangs, bisweilen der rechthaberischen Härte eines Ideologen nicht fernliegt - sondern wie er es sagte und als Befehl ohne Widerstand durchzusetzen versuchte, das ließ seinen Gegnern das Blut kochen. Es störte sie, und es stört auch noch heute, daß sich diese bis zur Brutalität gehende Härte ständig mit einer weithin hallenden Rhetorik des päpstlichen Amtes verband, die unaufhörlich jeden Schritt nicht nur als gerechtfertigt erläuterte, sondern auch sehr rasch Verbindung zu setzen wußte mit dem göttlichen Auftrag seines Amtes, ja mit Gott selbst, dem gegenüber kein Raisonnement, sondern nur noch Gehorsam angebracht war. Neu war demnach vor allem der unerbittliche Ton und das Pathos, mit dem Bonifaz VIII. seine Kompetenzen von aller Welt einzufordern liebte, wobei er den Umfang seiner Ansprüche nicht unbedingt gegenüber seiner Tradition erweitern mußte, waren sie doch zuvor schon bereits in der Theorie zumindest weiträumig genug abgesteckt gewesen. Daß er auch noch die 30 Vor allem John M u l d o o n , Boniface VIII's Forty Years of Experience in the Law, in: The Jurist 31 (1971), S. 449-477; Walter U 11 m a n n , Die Bulle „Unam sanctam", Rückblick und Ausblick, in: RHMitt 16 (1974), S.45-77; und d e r s . , Boniface VIII and his Contemporary Scholarship, in: JTS 27 (1976), S. 58-87, beide jetzt in: d e r s . , Scholarship and Politics in the Middle Ages (= Collected Studies CS 72, London, 1978) nrr.vi u. vii.

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weitestreichenden Ansprüche bis zum letzten Jota auszukosten versuchte, das machte seinen Pontifikat zu einem epochalen Einschnitt und verleiht ihm auch heute noch ein unvermindertes Interesse. Die Rhetorik der päpstlichen Erklärungen in den zahlreichen Konflikten, in die seine Politik ihn stürzte oder die er vorfand und weiterführte, war freilich nicht allein eine persönliche Marotte, eine Frage seiner persönlichen Veranlagung oder Begabung. Hier war die Kurie als Organisation beteiligt, und das 13. Jahrhundert hatte sie deutlich genug in ihrer Struktur gefestigt31, so daß sie der besonderen Beanspruchung durch Bonifaz über die Routineangelegenheiten hinaus auch wirklich gewachsen war. Uber den Bereich der Routine hinaus wußte der Papst seine Kurie in der Tat einzusetzen. Aus dem Kreis der Kurialen ließ er sich und der Welt in bestimmten Situationen Rechtfertigungsgründe seines Handelns zusammengefaßt vortragen. So hielt der Kardinal und frühere Franziskanergeneral Matteo d'Acquasparta im Jahre 1302 seine bekannte offiziöse Konsistorialansprache, in der er die Stellung des Papstes umfassend vor den Gesandten des französischen Königs zu würdigen versuchte. So verfaßte der Kurialkleriker, päpstliche Gesandte im Frankreich Philipp des Schönen und Bischof von Reggio (in der Emilia) Heinrich von Cremona wahrscheinlich seinen Traktat De potestate pape für einen ähnlichen Auftritt 32 . So setzte sich auch der damals meist am Hofe Bonifaz' VIII. lebende Erzbischof von Bourges und frühere Generalprior der Augustinereremiten Aegidius Romanus kurz vor 1302 nieder, um über die Vollmacht der kirchlichen Gewalt, in Sonderheit des Papstes, einen Traktat zu schreiben, der auf die Formulierung der wohl berühmtesten und radikalsten Verlautbarung des Caetani-Papstes, auf die Bulle Unam sanctam einen sichtbaren Einfluß geübt hat 33 . 31 Aus der großen Zahl von Untersuchungen seien hier nur genannt Peter H e r d e , Beiträge zum päpstlichen Kanzlei- u. Urkundenwesen im 13. Jahrhundert (= Münchener Hist. Studien, Abt. Geschichtl. Hilfswiss. 1, Kallmünz, 1963); Brigide S c h w a r z , Die Organisation kurialer Schreiberkollegien von ihrer Entstehung bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. (Bibl. d. Dt. Hist. Inst, in Rom, 37, Tübingen, 1972); vgl. auch den Beitrag d e r s . in diesem Bande. Zusammenfassend Bernhard S c h i m m e l p f e n n i g , Das Papsttum, Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance (= Grundzüge 56, Darmstadt, 1984), S. 191-222. 32 Einzelheiten bei J. M i e t h k e , Das Konsistorialmemorandum „De potestate pape" des Heinrich von Cremona von 1302 und seine handschriftliche Überlieferung, in: Studi sul XIV secolo in memoria di Anneliese Maier, edd. Antonio M a i e r ù u. Agostino P a r a v i c i n i B a g l i a n i ( = Storia e letteratura 151, Rom, 1981), S. 421—451. 33 De ecclesiastica potestate, hg. von Richard S c h o l z (Leipzig, 1 1929, N D Aalen, 1969). Zum Verhältnis zu Unam sanctam bereits R. S c h o l z , Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz' VIII. (= Kirchenrechtliche Abhandlungen 6-8, Stuttgart, 1903 [ND Amsterdam, 1969]), S. 124-129; Jean R i v i è r e, Le problème de l'église

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Es ist schon mehrfach aufgefallen, daß sich gerade in jener Zeit, da die kurialen Autoren zu ihrer vorgreiflichen Rechtfertigung der päpstlichen Politik ansetzten, nicht allein ein neues Thema für die politische Theorie gefunden hat; eine ganze Literatur sollte sich künftig mit der päpstlichen Kompetenz beschäftigen. Ein neuer Typ der politischen Literatur wurde entwickelt, der scholastische Traktat De potestate papae, der schlagartig um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert die bis dahin bei weitem führende Gattung der Fürstenspiegel zunächst völlig in den Hintergrund drängte und beinahe vollständig ablöste 34 . Vielleicht war es auch so etwas wie die Übertragung des systematischen Zugriffs des Thomas von Aquin auf diese Textgattung, die hier wirksam war. Einen Papstspiegel wollten die neuen Texte in aller Regel nur in ganz entferntem Sinne bieten. Wohl aber fragten sie energisch nach den Grundlagen der päpstlichen Ansprüche an die Kirche und an die Welt. Sie versuchten, den neuen Stil päpstlicher Politik der Einsicht zugänglich zu machen. Es ist nicht verwunderlich, daß dieser Versuch, einmal angestellt, nicht nur eine Antwort durch die Kurialen der päpstlichen Umgebung erfuhr. Der Konflikt der Kurie mit dem Frankreich Philipps des Schönen führte zunächst auch die Pariser Universitätsgelehrten auf das Thema, und zu einem recht frühen Zeitpunkt finden wir auch auf der französischen Seite Texte, die sich nun in der Verteidigung der königlichen Selbständigkeit und exakt derselben Frage beschäftigen wie die kurialen Traktate: De potestate ecclesiastica, De

potestate papae, De potestate regia etpapali.

Es ist hier nicht der Ort, erneut die einzelnen Schriften in ihren individuellen Kontext zu rücken, die während der Debatte De potestate papae in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gewechselt worden sind. Im Angesicht der herrischen Politik Bonifaz' VIII. begonnen, im Für und Wider in scholastischer Ausführlichkeit abgehandelt, brach diese Debatte auch nicht einfach ab, als es sich herausstellte, daß Bonifaz VIII. schließlich bei seinem Zusammenstoß mit dem Frankreich Philipps des Schönen scheiterte und seinen stolzen Griff nach der absoluten Herrscherstellung in der christlichen Welt mit dem Attentat von Anagni beantwortet sah, das ihn aus der dünnen Luft der päpstlichkurialen Ansprüche auf den harten Boden der traurigen Wirklichkeit et de l'état au temps de Philippe le Bel (= Spicilegium sacrum Lovaniense 8, Louvain, 1926), S. 394-404. 34 Zusammenfassend J. M i e t h k e , Die Traktate „De potestate papae , ein Typus politiktheoretischer Literatur im späten Mittelalter, in: Les Genres littéraires dans le sources théologiques et philosophiques médiévales (= Univ. Catholique de Louvain, Publications de l'Institut d'Etudes Médiévales II 5, Louvain-la-Neuve, 1982), S. 193-211.

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zurückholte. Weder die Verfechter noch die Kritiker der päpstlichen Stellung hielten jedoch auf die Dauer inne. Die umfänglichsten - und zugleich theoretisch wichtigsten - Traktate der Gattung sind erst in der Zeit von 1320 bis 1340 entstanden (wenn wir Dantes Monarchia einmal hier ausnehmen 35 , die doch in gewissem Sinne auch in unseren Zusammenhang gehört), nämlich der Defensor pacis des Marsilius von Padua 36 und der Dialogus des Wilhelm von Ockham 3 7 - wobei auch die kurialistische Summa de ecclesiastica potestate des Augustinus von

35 Ed. Pier Giorgio R i c c i (Le opere di Dante Alighieri, Edizione nazionale, vol. 5, Mailand, 1965); Abdruck des Textes dieser Ausgabe mit seitenparalleler Ubersetzung und eingehendem Kommentar jetzt durch Ruedi I m b a c h und Christoph F 1 ü e 1 e r in: Dante Alighieri, „Monarchia", lat.-dt. Studienausgabe (= Reclams Universialbibliothek 8531, Stuttgart, 1989). Zur (Spät-)Datierung Friedrich B a e t h g e n , Die Entstehungszeit von Dantes „Monarchia , in: SBA.PH 1966, 5, sowie unabhängig davon auch P. G. R i c c i in: Enciclopedia Dantesca 3 (1971), S. 983-1004 (mit reichen Literaturhinweisen). Vgl. auch E. M o n g i e 11 o , Sulla datazione del „Monarchia" di Dante, in: Le parole e le idee 11 (1969), S. 290-324; Carlo D o l c i n i , Crisi di poteri e politologia in crisi (= Il mondo medievale, Sezione di storia delle istituzioni, della spiritualità e delle idee 17, Bologna, 1989), S. 427-438. Zur politischen Theorie Dantes selbst vgl. (neben dem vorzüglichen Kommentar in der Studienausgabe von Imbach/Flüeler) etwa jüngst Karl M a u r e r , .Phylosophie domesticus et predicans iusticiam'. Das politische Selbstverständnis des Dichters Dante, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Ubergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Politik - Bildung - Naturkunde - Theologie, hrsg. v. Hartmut B o o c k m a n n/Bernd M o e l l e r/Karl S t a c k m a n n (AAG.PH III 179, Göttingen, 1989), S. 9-51; Peter H e r d e , Dante als Sozialphilosoph, in: Rechts- und Sozialphilosophie des Mittelalters, hrsg. v. Erhard M o c k/Georg W i e 1 a n d (= Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie 127, Frankfurt a. M./Bern/ New York/Paris, 1990), S. 83-102. 36Ed. Charles William P r e v i t é - O r t o n (Cambridge, 1928), oder ed. Richard S c h o l z (MGH Fontes iuris germanici ant. 7, Hannover, 1932-1933). Die Literatur ist fast unübersehbar. Vor allem ist zu vergleichen Alan G e w i r t h , Marsilius of Padua, The Defender of Peace, I: Marsilius of Padua and Medieval Politicai Philosophy (= Records of Civilization 46/1, New York, 1951); Georges de L a g a r d e , L a naissance de l'esprit laïque au déclin du moyen âge, Nouvelle édition réfondue et complétée, t. III: Le „Defensor pacis" (Paris/Brüssel, 1970); Carlo P i n c i n , Marsilio (= Pubblicazioni dell'Istituto di Scienze Politiche dell'Università di Torino 17, Turin, 1967); Jeannine Q u i 11 e t , La philosophie politique de Marsile de Padoue (= L'Eglise et l'Etat au moyen-âge 14, Paris, 1970); knapp auch Heiner B i e l e f e l d t , Von der päpstlichen Universalherrschaft zur autonomen Bürgerrepublik, Aegidius Romanus, Johannes Quidort von Paris, Dante Alighieri und Marsilius von Padua im Vergleich, in: ZRGGermAbt 73 (1987), S. 70-130, bes. 101-127; oder J. M i e t h k e , Marsilius von Padua. Die politische Theorie eines lateinischen Aristotelikers des 14. Jahrhunderts, in: Lebenslehren (wie Anm. 35), S. 52-76. 37 Eine moderne Edition des Dialogus liegt noch nicht vor, die älteren Drucke von Johannes T r e c h s e 1 (Lyon 1494 [ND in: Guilelmus de Ockham, Opera plurima, Farnborough, Hants. 1962, vol. I]) und Melchior G o l d a s t (Hrsg.), Monarchia Sacri Romani Imperii, tomus II (Frankfurt/Main, 1614 [ND Graz, I960]) sind aber beide nachgedruckt worden und also leicht greifbar. Die kleineren Schriften ed. Hilary Seton O f f 1 e r (e. a.) in: Guilelmus de Ockham, Opera politica, t. I 2 , II, III (Manchester 1974,

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Ancona 38 , oder die Traktate De potestate pape und De causa immediata ecclesiastice potestatis des Petrus de Palude39 sowie das Kompendium des Alvarus Pelagius De planctu ecclesie40 durchaus unseren Respekt verdienen. Methodisch lebte diese Debatte davon, daß sie, auf universitärem Niveau außerhalb des universitären Lehrbetriebes geführt, sich an die wissenschaftliche Öffentlichkeit der Zeit unmittelbar wandte, an jene Gelehrten und Experten, die wir in den Amtsstuben und an den Fürstenhöfen ganz Europas seit dem 12. Jahrhundert verstärkt neben dem Adel Platz nehmen sehen, und die in der Vorbereitung und Durchführung der politischen Entscheidungen mehr und mehr sich unentbehrlich zu machen verstanden41. Es kam offensichtlich darauf an, 1956, 1963 [ein 4. Bd. steht unmitelbar vor dem Erscheinen]). Die Literatur ist sehr ausgebreitet, vgl. etwa Leon B a u d r y , Guillaume d'Occam, Sa vie, ses oeuvres, ses idées sociales et politiques, I: L'Homme et les oeuvres (= EPhM 39, Paris, 1949); d e L a g a r d e , La naissance, éd. réfondue (wie Anm. 36), t. IV: Guillaume d'Ockham, Défense de l'empire (1962), t.V: G.d'O., Critique des structures ecclésiales (1963); J. M i e t h k e, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie (Berlin, 1969); Arthur Stephan M c G r a d e , The Politicai Thought of William of Ockham, Personal and Institutional Principles (= Cambridge Studies in Medieval Life and Thought III 7, Cambridge, 1974). Knapp zuletzt J. M i e t h k e , Wilhelm von Ockham und die Institutionen des späten Mittelalters, in: Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Ideengeschichtliche Beiträge zur Theorie politischer Institutionen, hrsg.v. Gerhard G ö h 1 e r/Kurt L e n k /Herfried M ü n k 1 e r/Manfred W a l t e r (Opladen, 1990), S. 89-112; d e r s ., Ockhams Theorie des politischen Handelns, in: Rechts- und Sozialphilosophie (wie Anm. 35), S. 103-114. 38 Vor allem Michael J. W i 1 k s , The Problem of Sovereignty in the Later Middle Ages, The Papal Monarchy with Augustinus Triumphus and the Publicists (= Cambridge Studies in Medieval Life and Thought II 9, Cambridge, 1963). 39 De potestate papae (von ca. 1317), ed. Prospero T. S t e 11 a (= Textus et studia in historiam scholasticae 2, Zürich, 1966); sowie den Traktat von ca.1318: William David M c C r e a d y , The Theory of Papal Monarchy in the Fourteenth Century, Guillaume de Pierre Godin, „Tractatus de causa immediata ecclesiastice potestatis" (= Studies and Texts 56, Toronto, 1982), dazu die Ergänzungen von Dirk v a n d e n A u w e e l e , A propos de la tradition manuscrite du „De causa immediata ecclesiastice potestatis" de Guillaume de Pierre Godin (+1336), in: RTh 51 (1984), S. 183-205 - die Zuschreibung an Guillelmus Petri de Godino ist m. E. nicht so sicher, wie oft angenommen wird. Ich möchte weiterhin eine Verfasserschaft des Petrus de Palude offen lassen, kann die Frage hier aber nicht entscheiden. 40 Eine Monographie legten zuletzt vor Joäo M o r a i s B a r b o s a , O „De statu et planctu ecclesiae. Estudo critico (Lissabon, 1982); sowie Marino D a m i a t a , Alvaro Pelayo, teocratico scontento (= Biblioteca di Studi Francescani 17, Florenz, 1984), dort auch die weitere Literatur; kurz neuerlich Alfredo C o c c i , Alvaro Pais e il Libero Spirito, in: L'Italia francescana 58 (1983), S. 255-310; J. M i e t h k e , Alvaro Pelagio e la chiesa del suo tempo, in: Santi e santità nel secolo X I V (= Società Internazionale di Studi Francescani, Atti del XV° convegno internationale, Assisi und Neapel, 1989), S. 253-293; zuletzt vgl. auch Gian Luca P o t e s t à , Angelo Clareno. Dai Poveri Eremiti ai Fraticelli (= Nuovi Studi storici 8, Rom, 1990), S. 251-278. 41 Exemplarisch und monumental Hermann H e i m p e l , Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162-1447. Studien und Texte zur Geschichte einer Familie, sowie des ge-

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diese Schicht, die für die konzeptionelle Vorbereitung politischer Entscheidungen so wichtig war, nicht allein über emotionale Appelle, sondern durch Argumente zu erreichen, ja zu überzeugen. Darum bemühen sich alle Teilnehmer an der Debatte, welche Entscheidung sie schließlich auch verfechten, in ihren Texten um einen argumentativen Stil. Sie benutzen die an den Universitäten gelernten Methoden des scholastischen Umgangs mit Autoritäten und Vernunftgründen und machen sich, um die eigene Position zu begründen und um die gegnerische Meinung zu widerlegen, möglichst viele der an der Universität in ihren verschiedenen Fakultäten üblichen Argumente und Textbücher zunutze. Das gilt auf beiden Seiten der Frontlinie. Zusätzlich ist bemerkenswert, daß der debattierende Stil der Darlegung durchaus auch gegnerische Positionen in die eigene Argumentation integrieren kann. Die Traktate sind keine bloßen Pamphlete: auch die Papalisten erörtern eine Initiative von Konzil oder Kardinalskolleg zur Absetzung eines Papstes so ausführlich, daß sie moderne Ausleger der „Streitschriftenliteratur" irritiert haben 42 . Auch die Kritiker der kurialen Politik haben den päpstlichen Monarchat in der Kirche durchaus nicht alle prinzipiell und in jeder erdenklichen Hinsicht in Frage gestellt. Die Breite der in die Diskussion aufgenommenen Argumente und Materialien aus der Tradition kann ich hier nicht im einzelnen ausbreiten. Ich beschränke mich wiederum auf das Beispiel der Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie. Die „Politik" des Aristoteles ist als entscheidende Waffe auf beiden Seiten schon sehr früh ins Feld geführt worden. Zwar hat Aegidius Romanus, der Autor des Fürstenspiegels von 1277/79, sie 1302 noch nicht sehr eingehend benutzt, wenn sie als Strukturelement seiner Argumentation auch unverkennbar von Gewicht war. Spätestens 1302 hat dann aber in Neapel der Augustinereremit und Schüler des Aegidius Romanus Jakob von Viterbo in seinem Text De regimine Christia.no die aristotelische Sozialphilosophie in ihrer thomistischen Zuspitzung völlig zur Grundlage seiner Argumentation gemacht, wenn er nun in der Kirche das höchste und eigentliche regnum schlechthin sehen lehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel, Bd. I—III (= Veröff. d. Max-Planck-Inst. f. Gesch. 52/1—III, Göttingen, 1982). Vgl. auch Françoise A u t r a n d, Culture et mentalité. Les librairies des gens du Parlement au temps de Charles VI, in: Annales E.S.C. 28 (1973), S. 1219-1244; Hartmut B o o c k m a n n , Zur Mentalität spätmittelalterlicher Gelehrter Räte, in: HZ 233 (1981), S. 295-316. 42 Vgl. etwa die Darlegungen von W i 1 k s (wie Anm. 38) 499 ff.

Politische Theorie in der Krise der Zeit

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wollte, so daß sich demgemäß jedes Königreich in der Kirche vollenden müsse und in ihr seine perfectio erfahre 43 . Vielleicht noch im gleichen Jahre 1302 hat dann der französische Dominikanertheologe Johannes Quidort in seiner Schrift De regia potestate et papali die Eigenständigkeit der weltlichen Gewalt des französischen Königs energisch unter Rückgang auf Thomas und Aristoteles verteidigt. An die Stelle der kurialistischen absoluten Überordnung der geistlichen über die weltliche Gewalt, die einen Weltherrschaftsanspruch des Papstes zu begründen geeignet war, setzte Quidort eine Auffassung, die im Interesse der Unabhängigkeit des französischen Königs die Einheit der Welt und der menschlichen Gesellschaft nicht in der Einheit einer einzigen Gewalt begründet und garantiert sieht, vielmehr sie in der Einheit der Schöpfung hinreichend sicher weiß. Wir können diese Konzeption, die beiden Gewalten eine Gleichursprünglichkeit in Gottes Ordnung einräumt, und ihre Unterschiede voneinander nicht zu einer systematischen Über- oder Unterordnung verfestigen muß, ohne Anstrengung „dualistisch" nennen 44 . „Denn die geringere weltliche verhält sich zur höheren geistlichen Gewalt nicht so, daß sie etwa aus ihr stammte oder sich von ihr herleitete, wie es etwa bei dem Verhältnis der Amtsbefugnisse eines Prokonsuls zu denen des Imperator ist, welcher in allen Dingen höher steht als jener, weil jener seine Kompetenzen aus diesem herleitet. Vielmehr entspricht ihr Verhältnis dem der Befugnisse eines paterfamilias zu denen eines magister militum, die nicht voneinander abgeleitet sind, sondern beide aus einer höheren Gewalt" 4 5 . 43 Vgl. zu ihm außer der Einleitung des Hgs. Henri-Xavier A r q u i l l i è r e . L e plus ancien traité de l'église, Jacques de Viterbe, „De regimine Christiano" (1301-1302). Etudes des sources et édition critique (= Etudes de théologie historique, Paris/Louvain, 1926), bes. S. 21-81, auch bereits S c h o l z , Publizistik (wie Anm. 33), bes. S. 129-152; vgl. auch etwa Wilhelm K ö 1 m e 1, Regimen Christianum, Weg und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses (8. bis 14. Jahrhundert) (Berlin, 1970), S. 361-397; W a 11 h e r , Königtum (wie Anm. 11), S. 142 ff.; D a m i a t a , Alvaro (wie Anm. 40), S. 307-337. 44 Zur Edition oben Anm. 20. Zu Quidorts politischer Theorie zuletzt etwa W a l t h e r , Königtum (wie Anm. 11), S. 147-155; Albert P o d 1 e c h , Die Herrschaftstheorie des Johannes von Paris, in: Der Staat 16 (1977), S. 465-492; Janet C o l e m a n , Medieval Discussions on Property: .ratio' and .dominium' according to John of Paris and Marsilius of Padua, in: History of Political Thought 4 (1983), S. 209-228 [wieder abgedruckt u. d. T.: .Ratio' and .dominium* according to John of Paris and Marsilius of Padua, in: Preuves et raison a l'université de Paris: Logique, ontologie et théologique au XIV e siècle, edd. Zenon K a l u z a/Paul V i g n a u x (= EPhM hors série, Paris, 1984), S. 65-81]; B i e 1 e f e 1 d t , Universalherrschaft (wie Anm. 36), S. 81-92. 45 Cap. 5 ( B 1 e i e n s t e i n , S. 88): Non enim sic se habet potestas saecularis minor ad spiritualem maiorem, quod ex ea oriatur vel derivetur, sicut se habet potestas proconsulis

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Quidort

zieht

eine

bezeichnende

Konsequenz:

Als

gleich-

ursprüngliche G e w a l t e n (wie ich sie hier nennen will) k ö n n e n beide B e reiche durchaus eine unterschiedliche Struktur h a b e n 4 6 . D i e politische Organisation, das regnum,

gründet - gut aristotelisch und mit langen

w ö r t l i c h e n Zitaten aus T h o m a s ausgeführt - in d e r natürlichen V e r anlagung des Menschen, das sacerdocium

dagegen - u n d hier k a n n sich

Q u i d o r t natürlich nicht auf Aristoteles, w o h l aber auf solide t h e o logische und kanonistische T r a d i t i o n e n berufen 4 7 - in d e m Heilsplan G o t t e s mit den M e n s c h e n . D a r a u s aber folgt, daß sich die k o n k r e t e n F o r m e n der königlichen G e w a l t a u s ü b u n g unabhängig v o n kirchlicher E i n w i r k u n g , und das bedeutet ebenso frei v o n priesterlicher wie v o n päpstlicher E i n m i s c h u n g entfalten dürfen und müssen. U m g e k e h r t sind die O r d n u n g s p r i n z i p i e n der K i r c h e , wie sie aus der ekklesiologischen T r a d i t i o n geläufig w a r e n , nicht o h n e weiteres i m p o litischen B e r e i c h gültig: die M o n a r c h i e des P a p s t t u m s in der K i r c h e hält Q u i d o r t als B e t t e l o r d e n s t h e o l o g e für voll gerechtfertigt, w ä h r e n d er die Vielgliedrigkeit der menschlichen V e r b ä n d e und Staaten ( c o m m u n i t a t e s ) ad imperatorem qui eo maior est in omnibus, quia potestas sua ab ilio derivatur, sed se habet sicut potestas patrisfamilias ad potestatem magistri militum, quarum una ab alia non derivatur, sed ambae a quadam potestate superiori. (Meine Ubersetzung lehnt sich an die B l e i e n s t e i n s , S. 232, an). (Quidort lehnt sich hier an Thomas von Aquin an: II Sent, d. 44, exp. textus, resp. ad primam [ed. Robert B u s a in: S. Thomae Aquinatis Opera omnia ut sunt in indice thomistico, Stuttgart, 1980, Bd. I, 257b]; darauf wies bereits Marc P. G r i e s b a c h , John of Paris as representativ of thomistic political philosophy ,in: An Etienne Gilson Tribute, hrsg. von C. J. O ' N e i l l [Milwaukee, WI, 1959], S. 33-50, hier 37 Anm. 17 hin); vgl. auch cap. 17 u. 18 ( B 1 e i e n s t e i n , S. 157,16-26, S. 164, 5-14). 46 Das freilich schließt keineswegs aus, daß auch Quidort mit aristotelischen Argumenten über die Kirchenverfassung nachdenkt, vgl. z.B. cap. 19 ( B l e i e n s t e i n , S. 175), wo im Anschluß an Thomas von Aquin [Sententia libri politicorum, II 7 (wie Anm. 9) S. 145: ratio est quia unum regimen temperatur ex ammixtione alterius; et minus datur seditionis materia si omnes habeant partem in principatu civitatis, puta si in aliquo dominatur populus, in aliquo potentes, in aliquo rex; vgl. B l e i e n s t e i n , S. 175,5] ein regimen mixtum für das Königreich, aber eben auch für die Kirche als beste Staatsform postuliert wird. [Der evidente Bezug auf Thomas' Politik-Kommentar ist den Herausgebern entgangen.] Zu Thomas' Theorie vom regimen mixtum zuletzt anregend James M. B 1 y t h e, The Mixed Constitution and the Distinction between Regal and Political Power in the Work of Thomas Aquinas, in: JHI 47 (1986), S. 547-565. 47Beiderlei Vorlagen hat B l e i e n s t e i n praktisch nur dort identifiziert, wo er in den Anmerkungen der Edition von Jean L e c 1 e r c q , Jean de Paris et l'ecclésiologie du XIII e siècle (= L'Eglise et l'état au moyen age 5, Paris, 1942) bereits Angaben fand (vgl. z. B. B 1 e i e n s t e i n , S. 300 A. 2, mit L e c l e r c q , S. 226), kaum begegnen dagegen (in beiden Ausgaben) kanonistische Nachweise (außer aus der jeweiligen Glossa ordinaria), obwohl Johannes ausdrücklich etwa auch Innozenz IV. oder den Hostiensis zitiert. Auch in dieser Hinsicht bliebe also noch manches zu tun. Auf einen weiteren Quellenfundus macht aufmerksam Janet C o l e m a n , The intellectual Milieu of John of Paris, in: Das Publikum (wie Anm. 10), wo sie auf die franziskanisch-dominikanische Kontroverse aus dem späten 13. Jahrhundert um das Eigentumsverhältnis hinweist

Politische Theorie in der Krise der Zeit

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als ein Vertreter der Interessen des französischen Königs gegen alle traditionellen Ansprüche eines römischen Kaisers auf die Weltmonarchie ausführlich als „normale" Organisation der politischen Sphäre aristotelisch begründet 48 . An diese - realistische - Gegenüberstellung von Kaiser und König wird sich freilich keine eigene Diskussion anschließen. Nicht das Verhältnis des Kaisers zu den Königen von Nationalstaaten wird künftig die Diskussion beschäftigen. Zu blaß blieb der kaiserliche Name, zu schwach, um wirklich noch außerhalb des kaiserlichen Hofes diskutiert zu werden. Was an Quidorts Position weiterwirkte, war seine schroffe Entgegensetzung der Binnenstruktur beider Bereiche, der politischen Ordnung und der kirchlichen Sphäre. Auf dieses zentrale Problem des Verhältnisses von sacerdocium und regnum oder Imperium kamen in Zukunft naturgemäß auch unabhängig von Johannes Quidort die Theoretiker immer wieder zu sprechen. Man konnte etwa die aristotelische Konstruktion der politischen Sphäre dergestalt generalisieren, daß auch der kirchliche Verband sich voll in diese Organisation einzupassen hatte. Wurde die Kirche als sozialer Verband begriffen, so mußte sie auch gänzlich in die aristotelisch verstandene politische Organisation einbezogen werden. Die Kirche konnte dann zwar noch ein außerweltliches eigenes Ziel behalten, konnte dieses Ziel aber nicht mehr mit innerweltlichen Sanktionen verbindlich machen. Alle ihre Verbindlichkeit im sozialen Kontext rührt allein aus der politischen Organisation, die als solche natürlich und innerweltlich begründet ist. Dies war, grob gesagt, wie dem Kundigen gewiß schon deutlich geworden ist, die Haltung des Pariser Artistenmagisters, Arztes und Theologiestudenten Marsilius von Padua, der dieses Modell seinem im Sommer 1324 beendeten Defensor pacis zugrunde gelegt hat. Damit hatte Marsilius die Position der Kurialisten in der Tat auf den Kopf gestellt und an die Stelle der thomistischen Hierarchie der Zwecke aufgrund der gleichen aristotelischen Methode eine radikale Reduktion auf die Sanktionsweisen und Normen im sozialen Leben gesetzt. Diese uns insgesamt so modern anmutende Lösung hatte aber den Nachteil, daß sie mit der in der Lebenswirklichkeit der Zeit unmittelbar vorfindlichen Macht der Kirche allzu wenig anzufangen wußte. Die scharfsinnige Kritik an kirchlichen Ansprüchen, die uns die ausführliche zweite Diktion des Defensor pacis so anziehend erscheinen läßt, kann doch die damalige Realität kirchlichen Einflusses nur als Mißbrauch und Ergebnis einer langen Kette von Usurpationen und fehlgeleiteten Entscheidungen, von Bosheit, Blindheit, oder Schwäche, m. e. W. als 4 8 Vgl. cap. 3 ( B l e i e n s t e i n , S . 8 0 - 8 4 ) .

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Verfallsgeschichte beschreiben, die unmittelbar nach den Zeiten der Urkirche, und damit praktisch von Anfang an die Entwicklung der Kirche in die falsche Richtung hat laufen lassen. Wenn das auch als Leistung der Kritik beachtliches Format zeigt und propagandistisch durchaus wirksam sein mochte, so konnte diese Meinung als praktische Orientierung doch nicht allzu lange Einfluß üben. Die intellektuelle Kraft des Entwurfes freilich hat als theoretisches Konzept einer aristotelischen Staatslehre nichtthomistischer Art doch für eine weite Verbreitung des Textes und eine lange Nachgeschichte gesorgt49. Einen anderen Weg als Marsilius in der Konstruktion der Binnendifferenz von staatlicher und kirchlicher Sphäre beschritt ein Autor in dieser Debatte, der als Franziskanertheologe hinsichtlich seiner ekklesiologischen Traditionen wohl dem Dominikaner Johannes Quidort in generischer mendikantischer Nähe und zugleich in spezifischer Unterscheidung seiner Traditionen verbunden war, der aber zu der aristotelisch-thomistischen Konstruktion der Sozialordnung eine deutliche Distanz hielt. Nicht daß er auf aristotelische Argumente völlig verzichtet hätte. Aber diese bilden nicht die Basis seiner sozialtheoretischen Überlegungen. Wilhelm von Ockham, der für die aristotelische Erkenntnistheorie und Naturphilosophie an den europäischen Universitäten so viele, ja fundamentale Verdienste hat50, hat sich in der Sozialtheorie 51 auf 49 Die allgemeine Literatur oben Anm. 36; zur Rezeptionsgeschichte des Marsilius fehlt eine durchgehende Untersuchung. Vgl. aber die Anmerkungen von d e L a g a r d e , Naissance III: Marsile (wie Anm. 36), S. 358-377; sowie für die handschriftliche Uberlieferung J. M i e t h k e , Marsilius und Ockham, Publikum und Leser ihrer politischen Schriften im späteren Mittelalter, in: Medioevo 6 (1980), S. 543-567. Für das 15.Jahrhundert vgl. Paul E. S i g m u n d , The influence of Marsilius of Padua on XVth Century conciliarism, in: J H I 23 (1962), S. 392-402; Jeannine Q u i 11 e t , Le „Defensor pacis" de Marsile de Padoue et le „De concordantia catholica" de Nicolas de Cues, in: Niccolö Cusano agli inizi del mondo moderno (Florenz, 1970), S. 485-506. Zum 16. Jahrhundert vor allem Gregorio P i a i a , Marsilio da Padova nella riforma e nella controriforma, fortuna e interpretazione (= Pubbl. dell'Istit. di Storia della Filosofia e del Centro per Ricerche di Filosofia Medioevale n.s.24, Padua, 1977); daneben Henry Stuart S t o u t , Marsilius of Padua and the Henrician Reformation, in: C h H 43 (1974), S. 308-318; Johannes H e c k e 1, Marsilius von Padua und Martin Luther, in: ZRGKanAbt 44 (1958), S. 268-336, jetzt in d e r s . , Das blinde undeutliche Wort „Kirche", Gesammelte Aufsätze (Göttingen, 1964), S. 49-110. 50 Vgl. etwa die Rekonstruktion seiner Philosophie durch Marilyn M c C o r d A d a m s , William Ockham (= Publications in Medieval Studies XXVI/1-2, Notre Dame, Ind., 1987); einen größeren Uberblick über ein zentrales Problem gibt Katherine H. T a c h a u , Vision and Certitude in the Age of Ockham, Optics, Epistemology and the Foundations of Semantics, 1250-1345 (= Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 22, Leiden/New York/K0benhavn/Köln, 1988); vgl. auch C o u r t e n a y , Schools (wie Anm. 23), bes. S. 193 ff. 51 Hilary Seton O f f 1 e r , The .Influence' of Ockham's Political Thinking: The First

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andere, vorwiegend juristische und patristische, Traditionen gestützt, in die er dann gleichsam sekundär die aristotelischen Argumente, etwa in Form eines kleinen Kaiserspiegels52 oder einer kurzen Rekapitulation wichtiger Grundbegriffe aus der aristotelischen „Politik" 53 einbringt. Hier interessiert uns zunächst nur seine Lösung in der Frage des Verhältnisses von kirchlicher und weltlicher Gewalt, seine Antwort auf die Frage der Binnendifferenz beider Sphären. Wie Johannes Quidort sieht auch der englische Franziskaner eine Gleichursprünglichkeit beider Ordnungsbereiche gegeben, er verzichtet aber, anders als der französiche Dominikaner, darauf, beide Bezirke nach grundsätzlich unterschiedlichen Organisationsmustern konstruiert sein zu lassen. Soziale Organisation geschieht nach ihm in beiden Fällen durch die Einsetzung eines rector, eines Leiters, durch die Beachtung der Normen des göttlichen Rechts und des Naturrechts und die Verabredung der Normen des menschlichen Rechts. In beiden Fällen besteht die Organisation nicht abgehoben von ihren Gliedern, wird getragen und verantwortet von einzelnen Menschen, die in ihr leben und die demgemäß auch auf ihre Verantwortung, wenn vielleicht zunächst in abgestufter Weise, so doch prinzipiell alle - in casu neccecitatis - unmittelbar verwiesen werden können. Diese grundsätzliche Gleichheit der Sphären schließt eine tiefgreifende Differenz nicht aus, die Ockham am Ende seines Lebens - im Anschluß an Formulierungen Bernhards von Clairvaux54 - als den Unterschied zwischen dem principatus dominativus auf der politischen Seite und dem principatus ministrativus im kirchlichen Bereich auch

Century, und J. M i e t h k e , Zur Bedeutung von Ockhams politischer Philosophie für Zeitgenossen und Nachwelt, beides in: Die Gegenwart Ockhams, hrsg. von Wilhelm V o s s e n k u h 1/Rolf S c h ö n b e r g e r (Weinheim, 1990), S. 338-365 u. 305-324. Vgl. auch Jean-Philippe G e n e t , The Dissemination of Manuscripts Relating to English Political Thought in the Fourteenth Century, in: England and Its Neighbours [1066-1453], Essays in Honour of Pierre Chaplais, edd. by Michael J o n e s/Malcolm V a l e (London, 1989) S. 217-237. 52 III Dialogus II i, cap. 14-17 (Druck 1494/1962, fol. 236 v a -238 v ä ). 53 III Dialogus I ii, cap. 3 - 9 (fol.l91vb-194va). Vgl. auch Mario G r i g n a s c h i , L'interpretation de la „Politique" d'Aristote dans le „Dialogus" de Guillaume d'Ockham, in: Liber memorialis Georges de Lagarde (= Studies presented to the International Commission for the History of Representation and Parliamentary Institutions 38, Louvain/Paris, 1970), S. 59-72; demnächst Roberto L a m b e r t i n i , Wilhelm von Ockham als Leser der „Politik" Zur Rezeption der politischen Theorie in der Ekklesiologie Ockhams, in: Das Publikum (wie Anm. 10).

54 Bernhard von Clairvaux, De consideratione

ad Eugenium

papam, II 6.9-11 u. III

1.1, edd. Jean L e c 1 e r c q/H. M. R o c h a i s , in: Sancti Bernardi Opera III (Rom, 1963), S. 416-418 u.431.

182 schlagwortartig

Jürgen Miethke

zu

kennzeichnen

weiß55.

Die

strukturelle

Gleich-

artigkeit f ü h r t aber d a z u , d a ß n u n die beiden O r g a n i s a t i o n e n w i e d e r in einen u n m i t t e l b a r e n wechselseitigen A u s t a u s c h t r e t e n k ö n n e n . E s geht m i r hier n i c h t n u r d a r u m ,

daß O c k h a m

(wie Q u i d o r t )

ein

wech-

selseitiges genuines E i n g r i f f s r e c h t beider S p h ä r e n i m N o t f a l l a n e r k e n n t , das bei i h m - t r o t z seiner v e r g l e i c h b a r e n p e r s ö n l i c h e n L a g e als B e r a t e r einer der beiden P a r t e i e n i m K o n f l i k t - n i c h t n u r w i e bei Q u i d o r t v o r n e h m l i c h z u einer R e c h t f e r t i g u n g einer G e w a l t l ö s u n g d u r c h d e n H e r r s c h e r gerät. W i c h t i g e r ist m i r , d a ß e t w a die K i r c h e n v e r f a s s u n g jetzt, w i e die politische H e r r s c h a f t , sich einer B e s c h r e i b u n g m i t aristotelischen K a t e g o r i e n z u g ä n g l i c h zeigt, w a s ü b r i g e n s ein H a l b j a h r h u n d e r t s p ä t e r in der Z e i t des S c h i s m a n i c h t z u l e t z t die A t t r a k t i o n d e r O c k h a m s c h e n Schriften z u s ä t z l i c h steigern sollte 5 6 . A u f der a n d e r e n Seite färbt, u m es plastisch a u s z u d r ü c k e n , die E k k l e s i o l o g i e auf die politische

Theorie

d u r c h . Sehr z u g e s p i t z t gesagt: das an d e r K i r c h e n v e r f a s s u n g gespielte W i d e r s t a n d s r e c h t ließ sich a u c h auf die staatliche

durch-

Ordnung

55 De imperatorum et pontificum potestate, ed. Richard S c h o l z in: Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften aus der Zeit Ludwigs des Bayern (1327-1354), (= Bibliothek des Kgl. Preuß. Hist. Inst, in Rom 10/2, Rom, 1914, ND Turin, 1971), S. 453-480, hier cap. 6-7, S. 460 ff., vgl. cap. 26, S. 479. Marino D a m i a t a hat den zweiten Band seiner Ockham-Monographie nach diesem Begriffspaar benannt: Guglielmo d'Ockham, Povertà e potere, II: Il potere come servizio. Dal „principatus dominativus" al „principatus ministrativus" (= Biblioteca di Studi Francescani 15, Florenz, 1979). 56 Die Rezeption Ockhams zur Zeit des Schismas wäre einer eigenen Untersuchung wert. Vgl. (außer der oben Anm. 51 genannten Literatur) etwa Georg K r e u z e r , Heinrich von Langenstein. Studien zur Biographie und zu den Schismatraktaten unter besonderer Berücksichtigung der „Epistola pacis" und der „Epistola concilii pacis" (= Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, N.F.6, Paderborn/München/Wien/ Zürich, 1987), bes. S. 178 ff. (der m. E. die Bedeutung Ockhams unterschätzt). Hermann Josef S i e b e n , S. J., Die „Quaestio de infallibilitate concilii generalis" (Ockhamexzerpte) des Pariser Theologen Jean Courtecuisse (t 1423), in: AHC 8 (1976), S. 176-199; Francis O a k 1 e y , The „Tractatus de fide et ecclesia, Romano pontifice et concilio generali" of Johannes Breviscoxa, in: AHC 10 (1978), S. 99-130 (der ebenfalls in seinen Einschränkungen m. E. zu weit geht). Schließlich Werner K r ä m e r , Konsens und Rezeption, Verfassungsprinzipien der Kirche im Basler Konziliarismus (= BGPhMA, N.F.19, Münster, 1980), S. 416—424 (dessen minimalistischer Interpretation, ebd. S. 166 ff., ich freilich wiederum nicht zustimmen kann). Im Nachlaß Konrads von Gelnhausen (+ 1390) befand sich unter den Büchern (die der soeben neu gegründeten Universität Heidelberg vermacht worden sind) auch eine Sammelhs. mit Ockhams Orto Quaestiones, vgl. das Verzeichnis in der Matrikel, ed. Gustav T o e p k e , Die Matrikel der Universität Heidelberg, Bd.l (Heidelberg, 1866), nr. 30-35, S. 657; das Verzeichnis im Amtsbuch der Juristischen Fakultät in: Acta Universitatis Heidelbergensis, ed. J. M i e t h k e , bearb. v. Heiner L u t z m a n n/Hermann W e i s e r t , Bd. 1/2 (Heidelberg, 1990), nr. 453, 20, S. 480; das Ms. liegt heute im Vatikan (Signatur „Pal.lat.378"); vgl. die Beschreibung von O f f l e r , Ockham, Opera politica I 2 (Manchester, 1974), S. 3 („L"). O f f l e r , ,Influence' (wie Anm. 51), S. 353 mit Anm. 116 ff., weist im übrigen nach, daß auch die Exzerpte Segovias ( K r ä m e r , Konsens, S. 430-433), die dort irrigerweise auf Nicolaus Ey-

Politische Theorie in der Krise der Zeit

183

übertragen, das ockhamsche Pathos der Freiheit 57 konnte damit auch in den ständischen Konflikten der Frühmoderne weiter wirken. W o bleibt die Krise? Im Geschwindschritt haben wir uns durch einige wichtige Positionen der Streitschriftenliteratur der ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts bewegt, ohne im einzelnen von den zeitgenössischen Institutionen und ihren Krisen gesprochen zu haben. Haben auch wir Fehlanzeige zu melden? Mir scheint, daß eine solche Antwort doch etwas kurzschlüssig wäre, nicht nur weil ich mich entschlossen habe, den Begriff in der Uberschrift meines Berichtes aufzunehmen. Gewiß führen die Theorien solcher Autoren, wie wir sie hier knapp anzuleuchten versucht haben, nicht selber „Krisen" von Institutionen herauf. Das Ringen zwischen Papst und Kaiser, das seit dem 11. Jahrhundert einen wichtigen Teil der Kräfte beider Seiten absorbierte, wurde weder durch den Dictatus papae Gregors VII. 58 , noch durch die in einem Codex unicus überlieferten Schriften des sogenannten N o r mannischen Anonymus 5 9 ausgelöst, erst recht nicht durch eine Schrift wie den Defensor pacis oder Ockhams Dialogus, dagegen spricht allein schon ein so banales Argument wie die handschriftliche Verbreitung solcher Texte 60 . Wenn Bonifaz VIII. sich auf dem Gipfelpunkt seines Streites mit dem französischen König bei der Formulierung seiner Bulle meric's „Directorium" zurückgeführt werden, in Wahrheit aus Ockhams De dogmatibus Johannis XXII. (= II Dialogus) 1.10 stammen [im Druck T r e c h s e l s (wie oben Anm. 37) fol. 171 v a -172 v b ], Unabhängig davon hat auf die Entlehnungen Segovias aus Ockham auch hingewiesen Benigno H e r n a n d e z M o n t e s , Biblioteca de Juan de Segovia, Ediciön y commentario de su escritura de donaciön (= Bibliotheca theologica Hispana II 3, Madrid, 1984), S. 220 f. (§ 33). 57 Zu Ockhams Freiheitsverständnis etwa M c G r a d e (wie Anm. 37), S. 140-149, D a m i a t a , Ockham (wie Anm. 55), S. 389-392; demnächst auch J. M i e t h k e , Ockham's concept of liberty, in: Droit et théologie dans la science politique de l'état moderne, édd. Jean-Philippe G e n e t/Jean Yves T i 11 i e 11 e (= Bibliothèque de l'Ecole Française de Rome, Rom [vorauss. 1991]). 58 Zuletzt Horst F u h r m a n n , Papst Gregor VII. und das Kirchenrecht, Zum Problem des „Dictatus papae" , in: La riforma gregoriana e l'Europa (= StGreg 13, Rom, 1989), S. 123-150. 59Dazu vor allem K a n t o r o w i c z , The King's Two Bodies (wie Anm.21), S. 42-61 [Die zwei Körper, S. 64-81]. Die Untersuchung von Karl P e 11 e n s , Das Kirchendenken des Normannischen Anonymus (= Veröff. des Instituts für europäische Geschichte Mainz 69, Wiesbaden, 1973) bleibt in vielerlei Hinsicht problematisch. 60 Eine vorläufige tabellarische Übersicht über die Überlieferung einzelner Traktate bei J. M i e t h k e , Zur Bedeutung der Ekklesiologie für die politische Theorie im späteren Mittelalter, in: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, hrsg. v. Albert Z i m m e r m a n n (= Miscellanea mediaevalia, 12/2, 1980), S. 369-388, hier 387 f., eine vorläufige Liste der Handschriften bei M i e t h k e , Die Traktate „De potestate papae" (wie Anm. 34), S. 207-211. Vgl. auch einige Ergänzungen demnächst bei M i e t h k e , Einführung, in: Das Publikum (wie Anm. 10).

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Jürgen Miethke

Unam sanctam auf einen Text des Aegidius Romanus stützt, so hat doch der Erzbischof von Bourges diesen Konflikt nicht veranlaßt, geschweige denn verursacht. Die politischen Streitschriften sind Begleitmusik der Konflikte, ihr Ausdruck und ihr Niederschlag, freilich nicht einfachhin ihre bloße Folge und Funktion. Die Streitschriften und Pamphlete versuchen, die gegensätzlichsten Positionen zu begründen, sie sind aus der Situation der streitenden Parteien entstanden, müssen also auch in diesem ihren unmittelbaren Kontext erklärt werden. Die wissenschaftliche Analyse kann heute ohne Zweifel vor allem in den kritischen Positionen, in Verfallsgeschichte oder Notstandsproklamation, auch jene Momente subjektiven „Krisenbewußtseins" aufspüren, die nach der Begriffsbestimmung zu einer „Krise" gehören und die es heute jedenfalls erlauben, das ganze Zeitalter mit Quellenbelegen als „Krisenzeit" zu beschreiben. Darüber hinaus aber bemühen sich die Traktate in der Regel auch um Argumente, die über den Rand ihrer augenblicklichen Situation hinausragen, sie greifen auf Uberlieferungen zurück, akzentuieren Argumentationen oder entwickeln neue Auffassungen, die sie mit den herkömmlichen Orientierungen in verständlicher Form in Beziehung setzen müssen. Insofern kann auch die unveränderte Abschrift eines alten Pamphlets, kann eine Exzerptsammlung aus einem alten Text zur Selbstverständigung in der eigenen Situation beitragen und muß, streng genommen, methodisch immer auch mit bedacht werden. Wir haben hier solche Betrachtungen nicht angestellt hinsichtlich etwa der Tausende von Textsplittern in Gratians „Dekret" 61 und der Hunderte von Dekretalen, die den Zeitgenossen ständig präsent waren oder ihnen präsentiert wurden. Wir haben uns vor allem am Beispiel der Nutzung der aristotelischen Sozialphilosophie außerhalb der Schulstuben diese Zusammenhänge deutlich zu machen versucht. Dabei hat der aristotelische Entwurf gewiß auf die Zeit nicht destabilisierend gewirkt: gegen eine solche These spricht allein schon, daß er so allgemein, auf so unterschiedlichen Seiten, in so verschiedenartigen Konfliktlagen herangezogen worden ist. Eher drängt sich die Meinung auf, daß das Angebot des Textes besonders dort dankbar aufgegriffen worden ist, wo die Suche nach neuer Legitimation von traditionellen Ansprüchen oder wo die Suche nach neuer Begründung der eigenen Uberzeugungen 61 Jacqueline R a m b a u d in: Gabriel L e Bras/Charles L e f e b v r e / J . R a m b a u d , L'âge classique, 1140-1378. Sources et théorie du droit (= Histoire du droit et des institutions de l'église en Occident 7, Paris, 1965), S. 51 Anm. 1, zählte nicht weniger als 3823 capitula.

Politische Theorie in der Krise der Zeit

185

schon begonnen hatte. Die Aristotelesrezeption in der politischen Philosophie der Hochscholastik stellt sich damit weniger als eine Ursache des Verfalls denn als Ausdruck und Zeugnis einer Legitimationslücke dar, einer Lücke, deren Grund wir vielleicht auch in den Kämpfen zwischen Kirche und politischer Herrschaftsordnung suchen müssen. Auf der anderen Seite war aber die Eigenständigkeit der naturalistischen Begründung jeder Sozialordnung unter Absehung von allen theologischen Vorgaben62 doch ohne Zweifel auch ein Moment, das eine auflösende Wirkung haben konnte. „Die Geburt des laizistischen Geistes im Niedergang des Mittelalters", um hier den Titel des (zuletzt fünfbändigen) Werkes von Georges de Lagardes zu zitieren63, beschreibt zumindest einen tatsächlichen Vorgang. Diesen Prozeß im einzelnen zu analysieren freilich, dazu bedürfte es mehr Raum, als ihn selbst die fünf Bände zur Verfügung hatten. So wollen auch wir hier keinen Versuch einer Skizze unternehmen. Der Hinweis freilich schien mir wichtig, weil es nicht angeht, den Prozeß der sogenannten Säkularisierung des Spätmittelalters als einen Vorgang zu beschreiben, der einsinnig gegen die Kirche verlaufen wäre. Die Kirche selbst hat auf ihre Weise diesen Prozeß in Gang gesetzt, befördert und getragen, auch sich zu Nutze gemacht. Geschichtlich war sie im Vorteil und auch in der Vorhand bei der Rationalisierung ihrer eigenen Organisation gewesen. Sie hatte zuerst und zur Nachahmung anregend ihre Innenbeziehungen rationaler zu erfassen versucht daraus erklärt sich nicht zuletzt die immense Bedeutung des kanonischen Rechts für das öffentliche Leben des späteren Mittelalters. Und als die Kirche in der Auseinandersetzung mit dem weltlichen Herrschaftsträger traditionell universalen Anspruchs, mit dem Imperator Romanorum, das Feld behaupten konnte, lag die Versuchung nahe, das herkömmliche Wechselspiel der beiden Instanzen durch eine durchgestufte Hierarchie zu ersetzen. Der Widerstand gegen diesen Versuch, der im Pontifikat Bonifaz' VIII. seinen Gipfelpunkt erreicht hatte, konnte freilich an die Vorleistungen der kirchlichen Theoretiker anknüpfen und vermochte damit seinerseits die Kirche in gewissem Sinne als ein Modell für soziale Gebilde überhaupt zu nehmen64.

62 Dazu demnächst auch Tilman S t r u v e , Die Bedeutung der aristotelischen „ P o litik" für die natürliche Begründung der staatlichen Gemeinschaft, in: Das Publikum (wie A n m . 10). 63 Vgl. oben bei Anm. 4 7 und 48. 64 Vgl. dazu auch M i e t h k e , Ekklesiologie (wie Anm. 60).

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Jürgen Miethke

Es ist mir bewußt, daß ich mich sehr abstrakt ausdrückte und daß ich mich weit von dem einzelnen Geschehen und auch von den einzelnen Theorien und Theoretikern entfernt habe. Trotzdem hoffe ich, unser Gesamtthema als weiteren Rahmen nicht verlassen zu haben. Wenn es gelungen ist, deutlich zu machen, daß die politische Theorie in ihrer spätmittelalterlichen Entwicklung auch dann für die Frage nach dem Bestand von Institutionen und deren Krisen belangreich sein kann, wenn sie selbst nicht diese Frage zu ihrem Thema machte, dann hatte dieser weite Weg einen guten Sinn.

«LE ROYAUME DE FRANCE NE PEUT TOMBER EN FILLE» U N E THÉORIE POLITIQUE À LA FIN DU M O Y E N Â G E PHILIPPE CONTAMINE

S'il est un point d'histoire dont on pourrait penser que, depuis très longtemps, il a été exploré de fond en comble, c'est bien la question des modalités d'accession à la couronne de France au Moyen Âge et durant les Temps modernes. Et cela en raison d'abord des énormes conséquences qui découlaient de ces modalités. D'où la notoriété, je dirais même encore aujourd'hui, de la loi qui passait ou passe toujours pour contenir l'essentiel des règles de succession à la couronne, autrement dit de la loi salique. Et cependant, pour cette période décisive que furent les X I V e et X V e siècles, pratiquement la première étude qui ait abordé le sujet avec la rigueur scientifique souhaitable date seulement de 1892: il s'agit de l'article de Gabriel Monod intitulé «La légende de la loi salique et la succession au trône de France» 1 . Trois ans plus tard parut le classique et limpide mémoire de Paul Viollet, «Comment les femmes ont été exclues, en France, de la succession à la couronne» 2 . Les recherches érudites semblent alors se ralentir, s'espacer, pour un assez long laps de temps. Mais en 1937, John Milton Potter publie son article sur «The Development and Significance of the Salie Law of the French» 3 . Après quoi, il convient pour le moins de signaler l'impressionnante synthèse de Ralph E. Giesey, «The Juristic Basis of Dynastical Right to the French Throne», publiée en 1961 4 et, datant de 1976, la riche dissertation de Helmut Scheidgen, «Die französische Thronfolge (987-1500): Der Ausschluß der Frauen und das salische Gesetz» 5 . Relevons enfin le stimulant article de Colette Beaune, «Histoire et politique: la recherche du texte de la loi salique de 1350 à 1450» 6 . 1 Paru dans: R C H L 2 6 , 2 e série (1892), p. 515 et suiv. 2 Paru dans: Mémoires de l'Institut national de France. Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 3 4 , 2 e partie (Paris, 1895), p. 125-178. 3 Dans: E H R 52 (1937), p. 235 et suiv. 4 Paru dans: Transactions of the American Philosophical Society, nouv. série, 51, 2 (Philadelphie, 1961). 5 Bonn, 1976. 6 Dans: Actes du 104 e congrès national des sociétés savantes, Bordeaux, 1979, section de philologie et d'histoire jusqu'à 1610,1.1, La reconstruction après la guerre de Cent ans (Paris, 1981), p. 25-35. Voir aussi J. K r y n e n, Naturel. Essai sur l'argument de la na-

188

Philippe C o n t a m i n e

E n c o r e faut-il a j o u t e r q u e d e u x s o u r c e s f o n d a m e n t a l e s p o u r l'étude de cette q u e s t i o n n ' o n t été éditées q u e r é c e m m e n t : 1 9 7 5 p o u r l ' o e u v r e h i s t o r i q u e et politique q u e J e a n de M o n t r e u i l c o m p o s a e n t r e 1 4 0 8 et 1 4 1 7 (essentiellement les traités Regali glais) 7 , et 1 9 8 5 p o u r le Traictié contre

ex progenie

et A toute

la

che-

ainsi q u e les différentes v e r s i o n s d e s o n traité c o n t r e les A n -

valerie

les Anglois

compendieux

de la querelle

de

France

rédigé a u t o u r de 1 4 4 6 p a r J e a n J u v é n a l des U r s i n s , ar-

c h e v ê q u e d e R e i m s , à l ' o c c a s i o n des n é g o c i a t i o n s d i p l o m a t i q u e s e n t r e C h a r l e s V I I et H e n r i V I 8 . À partir de c e corpus,

d o n t l ' e x p l o i t a t i o n h i s t o r i q u e est loin d ' ê t r e

achevée, à p a r t i r d ' a u t r e s t e x t e s publiés depuis l o n g t e m p s , d o n t certains o n t été très exploités (tels le Somnium le Songe seurs,

du Vergier)1*

Viridarii

et sa v e r s i o n française,

et d ' a u t r e s m é c o n n u s (tel le traité Pource

o e u v r e a n o n y m e sans d o u t e c o m m e n c é e d u r a n t les

que

plu-

dernières

années d u r è g n e d e C h a r l e s V I I et a s s u r é m e n t t e r m i n é e en 1 4 6 4 ) 1 0 , m o n

ture dans la pensée politique à la fin du Moyen Âge, dans: Journal des savants (1982), p. 169-190. D'une manière plus générale, A. W o l f , Prinzipien der Thronfolge in Europa um 1400. Vergleichende Beobachtungen zur Praxis des dynastischen Herrschaftssystems, dans: Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, éd. R. Schneider (Sigmaringen, 1987), p. 233-278 (VuF XXXII). 7 Jean de Montreuil, Opera, II, L'oeuvre historique et polémique, éd. N. P o n s , E. O r n a t o e t G . O u y (Turin, 1975). Voir aussi, du même, t. III, Textes divers, appendices et tables (Paris, 1981), et t. IV, Monsteroliana (Paris, 1986), par les mêmes éditeurs. 8 Écrits politiques de Jean Juvénal des Ursins, éd. P.S. L e w i s , avec le concours de Anne-Marie H a y e z, t. II (Paris, 1985), p. 1-177. L'éditeur donne pour tire à cet ouvrage Très crestien, très hault, très puissant roy. 9 Pour le Somnium Viridarii, achevé le 16 mai 1376, éd. G o 1 d a s t, Monarchia Sancti Romani Imperii, 1.1 (Hanovre, 1611), p. 58 et suiv., réimprimé par F. C h a t i 11 o n dans le t. X X I I de la Revue du moyen âge latin. Pour le Songe du Vergier, éd. de M. S c h n e r b - L i è v r e [d'après le ms. Royal 19 C IV de la British Library], 2 vol. (Paris, 1982). Mme Schnerb-Lièvre a rassemblé tout un faisceau d'indices qui l'amènent à conclure que l'auteur des deux traités est, comme le pensait déjà A. Coville, Évrart de Trémaugon. Le Songe du Vergier était à la disposition de Charles V dès 1378. Le passage où est exposé le problème du droit au royaume de France correspond aux chapitres 185 et 186 du livre I du Somnium et aux chapitres 141 et 142 du livre I du Songe. Dès l'époque, l'adversaire d'Angleterre vit l'importance et l'intérêt de ce passage: le chapitre 186 du Somnium est transcrit dans le ms. Harley 4763 de la British Library (cité dans V. L i t z e n, A War of Roses and Lilies. The Theme of Succession in Sir John Fortescue's Works [Helzinki, 1971], p. 63, n. 3). Voir aussi l'étude, à paraître, d'A. L e c a, La succession royale dans le Songe du Vergier. 10 Outre les éditions du XVI e siècle (cf. n. 19), ce traité a été édité par G. W. L e i b n i z dans: Mantissa codicis juris gentium diplomatici (Hanovre, 1700), p. 63-97, et par R. A n s t r u t h e r dans: Pretensions des Anglois a la couronne de France (Roxburghe Club, 1874), d'après les mss. 10307 et 9470 de la Bibliothèque royale de Bruxelles (relevé d'autres mss. dans l'article fondamental de P.S. L e w i s , War Propaganda and His-

«Le royaume de France ne peut tomber en fille»

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ambition est de passer en revue les raisons qui furent avancées aux XIV e et XV e siècles lorsqu'il s'est agi de déterminer les règles relatives à la dévolution de la couronne de France, et d'examiner l'argumentation utilisée pour exclure les femmes de cette succession et les réputer incapables, le cas échéant, de transmettre à leur descendance mâle un quelconque droit à cette couronne.

L E S FAITS

Mais d'abord un rappel chronologique, aussi bref qu'indispensable. Le 23 septembre 1305, fut célébré le mariage du futur Louis X Hutin, fils aîné de Philippe IV le Bel, avec Marguerite, fille de Robert II, duc de Bourgogne. De ce mariage, naquit en 1312 une fille, Jeanne. En mai 1314, le scandale de la liaison adultère entre Marguerite de Bourgogne et Gautier d'Aunay éclata. Le bruit courut que cette liaison avait commencé dans les années 1311-1312. Reconnue coupable, Marguerite fut incarcérée à Château-Gaillard, où elle mourut, dans les premiers mois de 1315. Louis X, roi de Navarre dès la mort de sa mère, le 2 avril 1305, devint roi de France à la mort de son père, le 29 novembre 1314. Le 31 juillet 1315, il épousa en secondes noces Clémence de Hongrie. Il mourut le 8 juin 1316, sans laisser de fils. Mais, d'une part il y avait sa fille Jeanne, alors âgée de quatre ans; d'autre part sa veuve était enceinte. Un accord fut passé entre l'aîné des frères de Louis X, Philippe, comte de Poitiers (le futur Philippe V le Long), et Eudes, duc de Bourgogne, l'oncle maternel de Jeanne: si la reine Clémence accouchait d'une fille, ses deux filles, au moins jusqu'à ce qu'elles fussent en âge de se marier, auraient seulement le royaume de Navarre et le comté de Champagne et de Brie. En attendant le règlement définitif - envisagé, peut-on croire, pour les années 1324-1328 - , Philippe ne serait que gouverneur du royaume. Cependant, une assemblée de princes et de barons, réunis à Paris, accorda à Philippe le titre plus prestigieux de régent et lui reconnut même par avance celui de roi si la reine accouchait d'une fille. Le 15 novembre 1315, la reine n'accoucha pas d'une fille, mais, ce qui revint au même, d'un fils, Jean, lequel, officiellement 11 , mourut le 19 notoriography in Fifteenth-Century France and England, dans Transactions of the Royal Historical Society, 5 e série, 15 (1965), p. 1-21). 11 O n sait qu'un certain Giannino (Baglioni) se fit passer ultérieurement pour Jean I e r : C o l a de Rienzi, le roi Louis de Hongrie, la république de Sienne le reconnurent comme le légitime héritier de France.

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Philippe Contamine

vembre suivant. Au cours du mois de décembre, malgré l'opposition d'Eudes et de sa mère Agnès, fille de saint Louis et grand-mère de Jeanne, Philippe prit le titre de roi, faisant déclarer par ses partisans «que dans le royaume de France les femmes ne devaient pas succéder» 12 . Après son couronnement à Reims, le 9 janvier 1317, eut lieu à Paris, en février de la même année, une assemblée de seigneurs, de prélats et de bourgeois. Des arguments de sens différent y furent produits mais sans ce grand débat contradictoire qu'appelait de ses voeux le parti bourguignon. On sait seulement que les docteurs de l'Université de Paris, consultés, donnèrent la préférence à Philippe, pour la raison, hautement significative, qu'il était plus proche descendant de saint Louis que sa nièce Jeanne 13 .«Alors fut déclaré que nulle femme ne succède à la couronne du royaume de France» 14 . Toutefois, encore le 10 avril 1317, l'indomptable Agnès de Bourgogne protestait au nom de sa petite-fille en évoquant «les coutumes et usages gardés en royaumes, empires, pairies, pricipautés et baronnies» 15 . À sa mort, survenue le 3 février 1322, Philippe V laissait quatre filles. Nul ne se présenta pour défendre leur droit éventuel, et la couronne passa sans difficulté à son frère Charles de la Marche, qui devint Charles IV le B e l Charles IV mourut le 1 er février 1328, laissant une fille. Sa femme, enceinte, accoucha bientôt d'une autre fille. Aucune des deux filles ne revendiqua la couronne. Deux prétendants seulement étaient possibles: Édouard III, roi d'Angleterre depuis un an en raison de la déposition - et de la disparition - de son père Édouard II, et Philippe, comte de Valois. Le premier était le neveu du défunt par sa mère Isabelle, soeur de Charles IV. Le second était le cousin germain du dernier roi par son père Charles de Valois, lui-même frère de Philippe le Bel. Philippe de Valois l'emporta sans peine, avec l'appui de la plupart des grands et, peut-on presque dire, le consentement de l'«opinion publique française». Par ailleurs, la fille de Louis X se vit enfin accorder le roy-

12 In regno Franciae mulieres succedere non debebant (Excerpta e Memoriale historiarum auctore Johanne Parisiensi Sancii Victoris Parisiensis canonico regulari, Recueil des historiens des Gaules et de la France [Paris, 1855], p. 665). 13 H. D e n i f l e e t É . C h a t e l a i n (éd.), Chartularium universitatis Parisiensis, t. II, l e r e partie (Paris, 1889), p. 197, n° 737. Sur la notion de regia ac sanctissima prosapia, de benedictum semen, de beneureuse lignee, voir, entre autres, A. W. L e w i s , Royal Succession in Capetian France. Studies on Familial Order and the State (Cambridge, Mass./ Londres, 1981), en particulier p. 122-154. 14 Tune etiam declaratum fuit quod ad coronam regni Franciae mulier non succedit (Continuatio chronici Guillelmi de Nangiaco, éd. H. G é r a u d, 1.1 [Paris, 1843], p.434). 15 V i o 11 e t (cf. n. 2), p. 141.

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aume de Navarre. Le nouveau roi fit taire quelques récriminations au moyen de diverses compensations. Faut-il penser qu'Edouard III, en revendiquant le royaume de France «lui seul et pour le tout» 16 , cherchait pareillement des avantages limités? En tout cas, il fit exposer ses droits lors d'une assemblée politique, en février 1328, et dans les mois qui suivirent ses prétentions s'exprimèrent formellement 17 . Notons ici qu'il était pleinement d'accord avec la partie adverse pour écarter toute succession féminine: ce n'était pas sa mère qu'il voulait reine de France, c'était lui-même qui aspirait à la couronne royale. L'éclatante victoire remportée à Cassel, le 23 août 1328, par Philippe VI sur les Flamands révoltés renforça sa position. Édouard III comprit qu'il ne pouvait plus rien tenter pour le moment. D'où la cérémonie du 6 juin 1329, dans la cathédrale d'Amiens, au cours de laquelle, en tant que duc de Guyenne et comte de Ponthieu, il prêta hommage au roi Valois. Allant même plus loin, en mars 1331 il reconnut formellement qu'il s'agissait en l'occurrence d'un hommage lige. Cependant, quelques années plus tard, les circonstances politiques ayant changé, il rouvrit la querelle, et revendiqua de nouveau la couronne de France, publiquement, à Westminster, le 7 octobre 1337. Suivit alors, bizarrement, une période de flottement. Mais voici qu'il date de «la première année de notre royaume de France» un acte du 26 janvier 1340, tandis que le 8 février suivant, il adresse un manifeste à ses sujets de France. En même temps, il modifie ses armoiries, y introduisant les lys de France à côté des léopards d'Angleterre. À la suite de la paix de Calais de 1360 qui lui accordait, entre autres, le Sud-Ouest du royaume de France, de Poitiers jusqu'à Bayonne, en toute souveraineté, Edouard III renonça à son titre de roi de France. Mais il le reprit en 1369, en même temps que la guerre recommençait avec les Valois. Ses successeurs après lui firent de même. Nouvelle interruption en 1420, à la suite du traité de Troyes conclu entre Charles VI et Henri V: il était entendu que, jusqu'à la mort de Charles VI, Henri V, devenu son gendre par son mariage avec Catherine de France, porterait 16 E. D é p r e z , Les préliminaires de la guerre de Cent ans. La Papauté, la France et l'Angleterre (1328-1342) (Paris, 1902). Dans la leçon inaugurale de bachelier biblique d'octobre 1328, Richard Fitzralph écrit: Quis enim nostrum delectantur cogitando regno Francie? et quis non delectaretur, si speraret illud adipisai 17 H. P i r e n n e, La première tentative pour reconnaître Édouard III d'Angleterre comme roi de France (1328), dans: Annales de la société d'histoire et d'archéologie de Gand, 5 (1902). Voir aussi J. V i a r d, Philippe de Valois. La succession à la couronne de France, dans: M - A 23 (1921), p. 219-222; i d., La guerre de Flandre (1328), dans: B E C 83 (1922), p. 362-382; i d., Philippe de Valois. Les débuts du règne, dans: ibid. 95 (1934), p. 259-283.

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Philippe Contamine

seulement le titre de régent du royaume de France. Mais en 1422 Henri V et Charles VI ayant successivement disparu, ce fut Henri VI, fils de Henri V et de Catherine, qui hérita du double titre de roi de France et de roi d'Angleterre. Même le changement dynastique entraîné par l'accession d'Édouard IV au trône d'Angleterre ne mit pas fin aux prétentions anglaises à la couronne de France. Ainsi la persistance de ces prétentions amena la monarchie des Valois, son personnel politique, ce qu'on pourrait appeler ses «publicistes» 18 ou ses propagandistes à formuler, approfondir et remanier tout un argumentaire qu'on cherchait toujours à enrichir dans les années 1460 et qui, au X V I e siècle, était bien loin d'être tombé dans l'oubli 19 . Cela dit, ce n'est pas avoir une vue exagérément réaliste de l'histoire que de soutenir que le déroulement des événements, en 1316 comme en 1328, s'explique par des causes proprement politiques. En 1316, le futur roi put prendre en main le gouvernement de la France parce qu'il avait en face de lui une fille, une mineure, dont on pouvait se demander si elle était bien de naissance légitime 20 . De plus, il n'était pas nécessaire de prendre une décision dans l'immédiat puisque la veuve de Louis X pouvait donner naissance à un fils. Une fois ce fils né, et aussitôt disparu, il était facile au régent Philippe de rester en place. En 1328, la veuve de Charles IV était elle aussi enceinte. En attendant sa délivrance, Philippe de Valois s'imposait, par ses liens de parenté avec le défunt, par son âge, 18 Au sens où Charles-Victor Langlois qualifiait Pierre Dubois de publiciste. C'est à leur propos que Paul Viollet (cf. n. 2) s'exprime en des termes à mes yeux trop catégoriques: «Il existe chez nous toute une petite littérature juridique consacrée au différend d'entre les rois de France et d'Angleterre. Ce gros procès nourrissait les avocats consultants. Je regrette de n'avoir pas le loisir de donner ici une idée complète de ces mémoires fort peu connus. On les feuillettera avec intérêt, car ce fatras couvre un peu d'or». 19 Le traité Pource que pluseurs fut au XVI e siècle publié sous le nom de Claude de Seyssel en même temps que La Grand'monarchie de France sous le titre de La loy salicque qui est la premiere et principale loy des François (1541, 1557). Voir aussi le traité inédit, composé en 1471, sans doute par un maître de la Chambre des comptes, et commençant par Pour vraye congnoissance avoire et clerement monstrer (B. N., ms. fr. 25159). 20 D'où cette précision fournie par une généalogie des rois de France d'origine anglaise: Le roialme de Naveme tenoit cest Philip de Vallois et sez deux predecessours Charles le Brun [Charles IV] et soun frere Philip le Graunde count de Peyters [Philippe V] en prejudice de Johan, la quel Lowys roy de France et de Naveme engendra de sa femme avant qu'el fuist blâmé d'avoutrie, par quoi fuis defaite sicom desuis est dite. Et ensi cele Johan fuis droite heir Naverne, et ceo fuist prové qant ele coucha tout [suivent deux mots grattés] devent le lyoun famelouse qi unques ne la toucha par maie (texte cité dans: Jean de Montreuil, Opéra, III [cf. n. 7], p. 112). Un ms. des Chroniques de Froissart conservé à la British Library (Arundel 67 3 , f. 314) contient une copie d'un texte de même substance (cf. le t. I, Introduction [II e et III e parties], des Oeuvres de Froissart dans l'éd. de K e r v y n d e L e t t e n h o v e [Bruxelles, 1875], p. 264-265.

«Le royaume de France ne peut tomber en fille»

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par sa personne. Pourquoi aller chercher un «étranger» dont la mère, au surplus, avait fâcheuse réputation 21 ?

D E LA COUTUME À LA LOI

Il reste que ce n'était pas ou pas seulement selon ces critères pratiques qu'entendaient procéder les médiévaux. Toujours à leurs yeux la «voie de droit» devait l'emporter sur la «voie de fait», et il leur paraissait indispensable, en semblables occasions, de recourir à tout un «montage» juridique, voire théologico-philosophique, susceptible de les persuader que les faits s'accordaient au droit, à la raison et à la justice. De ce point de vue on aurait pu imaginer que la société politique maîtresse et responsable du royaume de France se soit rassemblée en bonne et due forme, et, au terme d'une discussion en règle, ait fixé, en l'occurrence ou pour toujours, la ou les pratiques successorales. Il n'en fut rien. Certes chaque fois des assemblées se tinrent, mais à la composition hasardeuse, à l'ordre du jour inconnu, et dont les décisions (s'il y en eut) ne donnèrent lieu ni à une «bulle d'or» comme dans l'Empire, ni à un statut passé en Parlement comme en Angleterre, ni même à un procès-verbal officiel. Improvisation, intimidations, marchandages: voilà ce que laissent supposer les témoignages contemporains. L'empirisme triomphe. Des forces politiques s'affrontent, mais souterrainement. D'où, ultérieurement, l'évidente gêne des traités en faveur des Valois qui, chacun à sa manière, s'évertuèrent de pallier cette carence ou à tout le moins ce vide documentaire. Jean Juvénal fait allusion - mais sur quelle base? - à ce qui fut «dit, declairé, sentencié et prononcé» lors des avènements de Philippe le Long et de Philippe de Valois. Il affirme péremptoirement que tous ceux qui soutenaient une opinion contraire reconnurent leur erreur et que l'exclusion des filles et de leur descendance, même masculine, fut approuvé(e) et passé(e) en force de chose jugee. En 1328, ajoute-t-il encore, fu conclu et aussi determiné par les princes et sages du royaulme, parce que, selon la coustume et status de celluy royaulme il ne povoit descendre en sexe femenin, qu'il devait revenir à Philippe de Valois 22 . Le traité Pource que pluseurs va encore plus

21 Un étranger mais non un inconnu: le 21 septembre 1325 il avait prêté hommage au nom de son père pour le duché de Guyenne et le comté de Ponthieu à Charles IV, au Bois-de-Vincennes. Il demeura un temps avec sa mère à la cour de France et repartit pour l'Angleterre l'année suivante. 22 Écrits politiques, II (cf. n. 8), p. 21 et 32

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Philippe Contamine

loin: après avoir mentionné le grant trouble qui suivit la mort de Charles IV pour savoir qui auroit le gouvernement du ventre de la veuve du roi comme plus prochain hoir, et, après la naissance de sa fille, pour savoir a qui le royaume devoit appartenir, il parle d'une prétendue convocation des trois estas generaulx du royaume, ensemble tous les notables clercs, docteurs et aultres d'estat expers et cognoissans en telles matières, et cela en présence des deux prétendants, puis se réfère à la sentence rendue par les États en faveur de Philippe de Valois 23 . Il est vrai qu'une certaine ambiguïté était inévitable puisqu'il s'agissait d'un côté en quelque sorte de créer le droit, de l'autre de constater l'existence d'une coutume implicite et immémoriale, attestée en somme par toute l'histoire de la France telle qu'on pouvait en prendre connaissance dans les chroniques les plus authentiques24. L'on constate sans surprise que la balance pencha du côté de la coutume, qui offrait la notion la plus simple et la plus sûre. C'est elle par exemple qu'évoque Benoît X I I dans sa lettre de 1340 à Edouard III où il lui refuse poliment mais formellement le droit de revendiquer la couronne de France: «Une certaine coutume, fermement conservée jusqu'à ce jour, n'admet pas la succession au royaume de France par la ligne féminine»25. De même Honoré Bonet dans l'Arbre des batailles: En France n'ont mie coustume que femme doye estre royne2b. Quant à la loi salique, son intérêt fut de donner à la très banale et très vague «coutume de France» un nom, un statut, une ancienneté, bref des titres de noblesse. Encore mit-on longtemps non seulement à l'exhumer parmi les codices poussiéreux de la bibliothèque de Saint-Denis 27 , mais 23 Éd. cit., p. 6. De même Jean de Montreuil dans le traité A toute la chevalerie: Item, par tres grant deliberación, et puis que le roy Philippe de Valois ost esté tenu et reputé roy de France par tous les pers, barons, nobles, prelaz et gens d'Eglise, et briefment par les trois estas du royaume de France (Jean de Montreuil, Opera (cf. n. 7), II, p. 132). Selon le continuateur de la chronique de Guillaume de Nangis, se sentant mourir, Philippe VI fit venir ses fils et leur montra des «lettres solennelles» dans lesquelles des docteurs en théologie et en droit prouvaient que la couronne de France lui appartenait légitimement et devait être transmises jure hereditario à ses enfants, mais aussi d'autres lettres exposant le contraire et justifiant les droits d'Edouard III (cité par R. C a z e 11 e s, Société politique, noblesse et couronne sous Jean le Bon et Charles V [Genève/Paris, 1982], p. 129). 24 II faut donc imaginer, en 1316 comme en 1328, une consultation attentive de ces chroniques. 25 Quaedam consuetudo, hactenus inconcusse servata, successionnem ad regnum Franciae, per foemininam lineam non admittat ( R y m e r, Foedera, II, 2 [1821], p. 1117, cité par V i o 11 e t (cf. n. 2), p. 162, n. 4). Dans la suite du texte le terme de consuetudo est encore utilisé par deux fois. 26 G. W . C o o p 1 a n d, The Tree of Battles of Honoré Bonet (Liverpool, 1949), p. 297. 27 Le ms. utilisé fut sans doute le ms. B.N., ms. lat. 4628 A, ms. du IX e siècle con-

«Le royaume de France ne peut tomber en fille»

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encore à en tirer profit. On peut admettre, s'il ne s'agit pas d'une addition du début du. XVe siècle28, qu'on la trouve pour la première fois mentionnée dans une sorte de post-scriptum au court traité en latin rédigé en 1358 par Richard Lescot, moine de Saint-Denis, à l'intention d'Anceau Choquard, conseiller du roi Jean: «Généalogie de quelques rois de France par laquelle il apparaît combien le roi de Navarre peut toucher au roi de France»29. Richard Lescot s'exprime en ces termes: «La loi salique que j'ai demandé à tous les docteurs ès lois que je connaissais s'ils en avaient connaissance (ce à quoi ils m'ont répondu qu'ils n'en avaient aucune), je vous la démontrerais très volontiers». Après quoi il expose qu'elle fut établie par les premiers rois de France, encore païens, qu'elle fut amendée par Clovis, Childebert et Clotaire et que Charlemagne et son fils Louis y ajoutèrent l'un trente-neuf chapitres, l'autre «beaucoup de choses très belles»30. Somme toute il n'apparaît pas que Richard Lescot s'en soit servi pour réfuter d'éventuelles prétentions de Charles le Mauvais31. Raoul de Presles mentionne la loi salique dans sa traduction de la Cité de Dieu (entre 1371 et 1375) mais dans des termes tels qu'il ne paraît pas avoir songé à l'appliquer au problème de la succession à la couronne de France32. Un mémorandum français rédigé en ou vers 1390 tenant, entre autres, les capitulaires de Charlemagne, la collection d'Angesise et la vie de Charlemagne par Éginhard. Voir sur ce ms. D. N e b b i a i - D a l i a G u a r d a , La bibliothèque de l'abbaye de Saint-Denis en France du IX e au XVIII e siècle (Paris, 1985), p. 215, et la bibliographie citée. 28 Telle est l'opinion de G i e s e y (cf. n. 4), p. 17, n. 4. N o u s ne possédons le traité de Richard Lescot que par une copie du XV e siècle (B.N., ms. lat. 14663, f. 63 et suiv.) dans un ms. qui appartint à l'abbaye Saint-Victor de Paris. Cf. Le catalogue de la bibliothèque de l'abbaye de Saint-Victor de Paris de Claude de Grandruc 1514, éd. G. O u y, V. G e r z - v o n - B u r e n , R. H u b s c h m i d e t C . R e g n i e r (Paris, 1983), p. 291-292. 29 Genealogia aliquorum regum Francie per quam apparet quantum attinere potest regi Francie rex Navarre (dans Chronique de Richard Lescot, religieux de Saint-Denis (1328-1344) suivie de la continuation de cette chronique (1344-1364), éd. J. L e m o i n e [Paris, 1896], p. 173-178). 30 Legem vero salicam quam ab omnibus doctorihus legum quoscumque novi petii utrum de ea cognitionem haherent et tamen michi nullam penitus respondentes, libentissime vobis demonstrarem. Primi namque reges, etiam adhuc pagani, illam condiderunt. Postea rex Francorum primus christianus Clodoveus qui fuit a sancto Remigio baptizatus, deinde Cildebertus et Clotharius quod minus in pacto habebatur ydoneum per istos très fuit lucide emendatum percurrente tali decreto quod sic incipit: « Vivat Christus qui Francos diligit». Item legis salice, id est francisce, Karolus Magnus rex Francorum et imperator Romanorum XXXIX capitula addidit, Ludovicus ejus filius, eque imperator, multa plura addidit valde pulchra (ibid., p. 178). 31 Les prétentions du roi de Navarre existaient: le Songe du Vergier y fait allusion au même titre qu'aux prétentions du roi d'Angleterre. 32 Dans le chapitre 21 du livre III: Et encore le voit on en plusieurs parties tant du royaume de France comme d'ailleurs, car entre les nobles les filles ne succedent point, mais ont

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Philippe Contamine

dans le cadre de négociations avec l'Angleterre ne fait pas mention de la loi salique; il dit seulement qu'en 1328 Philippe de Valois, «droit cousin germain» de Charles IV, fut receu et approuvé comme roy par les pers de France, prelas, barons et subgiez du royaume et qu'Edouard III ne pouvait rien y prétendre car il est notoire que femme ne peut succeder ou droit de la couronne ne ceulz qui sont descendus par femme. Dans des Responses du roi de France, que l'on date là encore de 1390, la loi salique est citée mais comme si elle avait été préalablement alléguée, à leur profit, par les gens du roi d'Angleterre 33 . Il y a bien cette chronique latine jadis utilisée par Gustave Monod, où référence est faite à la loi salique lors du récit de l'avènement de Philippe VI: «Et bien que le pour et le contre fussent présentés, cependant, par la loi salique, il fut déterminé que Philippe de Valois succéderait comme le plus proche par la ligne masculine» 34 . Encore faudrait-il s'assurer que cette chronique fut rédigée, come on le dit couramment, dès les années 1390-1400. À partir des dernières décennies du XIV e siècle, la loi salique commençait à être connue mais sans qu'on sût exactement quel parti en tirer. Tout se passe en fait comme si ce fut Michel Pintoin, «chantre et croniqueur de Saint Denis, personne de grant religion et reverence», qui découvrit ou redécouvrit, dans la bibliothèque de son abbaye, «par très anciens livres», le texte de la dicte coustume et ordonnance qu'il appelle [notons le verbe] la loi salica. Puis Michel Pintoin, à une date postérieure à 1408 et antérieure à 1413, le signala à Jean de Montreuil, qui, le premier, la mit en valeur pour en faire l'une des clés de son argumentation contre le droit du roi d'Angleterre 35 . Mais, pour les besoins de la démonstration, Jean de Montreuil, au moins dans une première phase, tant seulement mariage et en Bretaigne l'ainsné prent tout, et en Vermandois les mainsnéz tous ensemble ne prennent que le tiers: laquele loy fu dicte salica pour ce que les gens du pays estoient nobles et noble peuple (cité par H . S c h e i d g e n [cf. n. 5], p. 130, n. 37). 33 Ces deux textes sont édités dans Jean de Montreuil, Opéra, III (cf. n. 7), p. 53-76 et 76-83. Voici le passage des Responses (p. 77): «encores, par l'estatut que veullent alleguer les gens du roy d'Angleterre, qui est en la loy salique, la terre doit venir au sexe masculin, qui est en la lignie masculine, en excluant la lignie feminine, tant les femmes comme les masles qui d'icelles seroyent descendus» (édité d'après le ms. de la Bibliothèque royale de Bruxelles 10306—10307). Autre copie: B.N., Dupuy, vol. 306, f. 79r et ms. franç. 15490, f. 27r (cf. Chronographia regum Francorum, éd. H . M o r a n v i 11 é, I, 1270-1328 [Paris, 1891], p. 292, n. 1). 34 Et licet fuerint argumenta pro et contra, tamenper legem salicam fuit determinatum quod succederet Philippus Valesii tamquam proximior per lineam masculinam (cité par H . S c h e i d g e n [cf. n. 5], p. 188, n. 61: il s'agit du ms. Reg. lat. 1845, f. 63v, de la Bibliothèque du Vatican). 35 Jean de Montreuil ne fait pas état de la loi salique dans son traité en latin adressé en 1408 à la noblesse de France Regali ex progenie. En revanche, il s'y réfère dans la version

«Le royaume de France ne peut tomber en fille»

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n'hésita pas à transformer la formule originale. Au lieu de la formule Nulla portio hereditatis mulieri veniat, sed ad virilem sexum tota terre hereditas perveniat («Qu'aucune portion de l'héritage ne vienne à une femme, mais que toute la terre de l'héritage parvienne au sexe viril»), il cite la formule: Mulier vero in regno nullam habeat portionem (selon sa propre traduction: Que femme n'est quelconque portion ou royaume, avec ce commentaire de sa part: C'est a entendre a la couronne de France, et, dans la traduction de Jean Juvénal dans le Traictié compendieux: que nulle portion ou royaulme ne viengne a femme, mais viengne tout l'eritage au masle)36. Peut-être cette falsification parut-elle à Jean de Montreuil à la fois mensongère et dangereuse (puisque le texte authentique était, semble-t-il, connu de l'adversaire): en tout cas, dans ses traités postérieurs, il cite la formule originale, qui était, il faut l'avouer, beaucoup moins déterminante. D'où d'ailleurs la remarque de Jean Juvénal: Et combien que aulcuns ayent voulu dire qu'on ne treuve point en la loy sallicque que la dicte clause [il s'agit de la version mulier in regno] y soyt expressement contenue, on doit considérer que ceulx qui l'ont escript et allégué ou temps passé ne l'ont pas fait sans ce qu'ilz l'eussent veu et sceu estre vray, ne serait-ce qu'à l'époque de Philippe le Long où la matiere fut ouverte et fort debatue. Et Jean Juvénal de laisser entendre une possible disparition de la version mulier ih regno par l'intervention malintentionnée de mauvais esprits ou de mauvais sujets 37 . C'est donc depuis 1409-1413 que la loi salique fit clairement partie de la culture politique des dirigeants français, et qu'ils purent remplacer la notion de coutume (orale) par celle de loi (écrite). Jean de Montreuil parle, au pluriel, de «lois, constitutions et observances louables et très approuvées du royaume de France» 38 , de loiz et coustumes louees, approuvées et conservees de tout temps ou royaume de France, d'orfrançaise de ce traité, A toute la chevalerie, rédigé entre 1409 et 1413. Allusion à la loi salique dans les trois étapes de son traité contre les Anglais (Jean de Montreuil, Opéra, III [cf. n. 7], table analytique, s. v. loi salique, p. 200). Voir aussi N . P o n s et E. O r n a t o, Q u i est l'auteur de la chronique latine de Charles VI, dite du religieux de Saint-Denis?, dans: B E C 134 (1976), p. 85-102 et pl. I. 36 Jean de Montreuil Opéra, II (cf. n. 7), p. 168. Écrits politiques de Jean Juvénal, II (cf. n. 8), p. 21. 37 Ibid., p. 22. 38 De la même façon, il souligne que cette loi tira son origine des Romains (Opéra, II [cf. n. 7], p. 226). La loi salique, jadis emanee et descendue des anciens Rommains (fut) acceptee et receue par les premiers François, mesmement devant le baptesme et la saincte unction envoyee du Ciel dont fut enoint Clovis premier roy crestien de France (B.N., ms. fr. 13569, f. 40r). Dans la Response d'un bon et loyal François (1420), la loi salique est attribuée à Charlemagne.

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Philippe C o n t a m i n e

donnance,

constitución

et loy du royaume

d e M e t s , dans sa Description p a r c e u x qui firent

de Paris,

premièrement

tres ancienne39.

E t Guillebert

d é c l a r e que c e t t e « l o y » fut faite

et ordonnèrent

les loix de

France40.

D E L'ANTIFÉMINISME AU NATIONALISME M a i s avant q u e la loi salique n e p û t servir de r é p o n s e t o u t e faite a u x a t t a q u e s d e l'adversaire (loi salique = f o r m u l e m a g i q u e ) , et m ê m e après, dans la m e s u r e o ù s o n libellé n'était pas des plus explicites, les partisans de la cause des Valois j u g è r e n t indispensable de r e c o u r i r à des a r g u m e n t s d e c a r a c t è r e rationnel, ne s e r a i t - c e que p o u r d é m o n t r e r q u e la c o u t u m e d e F r a n c e n'était pas « h a i n e u s e » 4 1 . C o m m e le dit très bien J e a n J u v é n a l : Mais supposons usage,

ordonnance

est chose raisonnable

qu'il n'y eust eu oncques

ou loy sallicque que une femme

constitution,

en ceste maniere succedast

coustume,

(...), regardons

et feust

heritiere

se ce

d'un

tel

royaulme42. À p a r t i r tant d e l ' e x p é r i e n c e v é c u e q u e d u t é m o i g n a g e

livresque

f o u r n i p a r les différentes autorités, t o u t e u n e vision v a être p r o p o s é e de la n a t u r e o u de la « c o n d i t i o n » féminine en v u e de m o n t r e r qu'elle est in-

39 Ibid., p. 167. 40 A.-J.-V. L e r o u x d e L i n c y e t L.-M. T i s s e r a n d , Paris et ses historiens aux XIV e et XV e siècles (Paris, 1867), p. 135. On notera qu'en 1164, dans une lettre adressée par Louis VII à un chevalier qui refusait d'être jugé par la vicomtesse de Narbonne, sous prétexte que, selon le droit romain, une femme ne pouvait être juge, le roi de France répondit que dans son royaume la «coutume» était plus douce en sorte que, lorsque le sexe fort faisait défaut, il était permis à une femme d'administrer l'héritage (Recueil des historiens des Gaules et de la France, t. XVI, p. 91, cité dans J. D u n b a b i n, France in the Making 843-1180 [Oxford, 1985], p. 375). - La partie adverse soutenait que on ne treuve riens que famé ne succédé point ou royaume en escript, constitution ou loy (Jean Juvénal [cf. n. 8], p. 41). On assiste dans la France de la fin du XV e siècle à un effort pour faire connaître du plus grand nombre l'existence de la loi salique: cf. le tableau vivant présenté à Reims en 1484 lors de l'entrée de Charles VIII dans cette ville pour son couronnement. On y voyait, entre autres, Pharamond, barbu, avec des cheveux longs, une épée dans la main, un sceptre dans l'autre, sur le point d'être couronné par des hommes également barbus et à longs cheveux, «habillés comme des Turcs et des Sarrasins». Devant Pharamond, quatre hommes barbus en robe de docteur lisaient une lettre. Une inscription en vers disait que «les Français descendaient des Troyens, païens appelés Sicambriens; ils firent de Pharamond leur roi; il créa pour eux la loi salique et les libéra des Romains qui dominaient à l'époque tous les hommes. Ceci se passait en l'an de grâce 420» (cité dans: R.A. J a c k s o n , Vive le Roi! A History of the French Coronation from Charles V to Charles X [Chapel Hill/Londres, 1984], p. 178). Du temps de Charlemaigne fut faicte la loi du royaume qu 'on appelle la loi salique (extrait d'une plaidoirie prononcée devant le parlement de Paris en 1480; cité dans: F. A u t r a n d, Offices et officiers royaux en France sous Charles VI, dans: RH 492 (1969), p. 307, n. 1). 41 Songe du Vergier, I (cf. n. 9), p. 246 et 253. 42 Écrits politiques (cf. n. 8), p. 41 sq.

« L e r o y a u m e de F r a n c e n e p e u t t o m b e r en fille»

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digne o u incapable d e g o u v e r n e r j u d i c i e u s e m e n t , d ' e x e r c e r u n p o u v o i r q u e l c o n q u e , a fortiori

le p o u v o i r r o y a l . L e c o m b l e d e cet antiféminisme

« p r i m a i r e » étant atteint p a r l ' a u t e u r d u Songe

du Vergier

qui, rien q u ' à

p a r t i r de textes juridiques, est en m e s u r e d ' é n u m é r e r les n e u f conditions

saint A u g u s t i n , qu'il traduit c o m m e suit: Femme n'est mie ferme

ne estable,

et si est commencement

elle est heyneuse de tous plays

si est une

et la confusion

et de toutes

bone famé,

mez je dis qu'elles

sont cler

beste

de son

tançons.

a d o u c i t - i l s o n j u g e m e n t en a j o u t a n t : Je ne diz pas, toutevoies, soit aucune

mauvesez

des f e m m e s . Sa liste s ' a c h è v e p a r u n e p r é t e n d u e citation de qui mari,

T o u t juste que il ne

semeesn.

D u d r o i t civil, est s u r t o u t r e t e n u e l'idée q u ' u n e f e m m e ne d o i t ni enseigner, ni p r ê c h e r ni juger. O r , à c ô t é d e la défense, la justice est la f o n c t i o n essentielle d e la r o y a u t é . Il y aurait quelque p a r a d o x e à c e q u ' u n e f e m m e , en tant que reine, soit le j u g e s u p r ê m e d u r o y a u m e , alors q u ' a u c u n e ne p e u t détenir u n m o d e s t e office de justice c o m m e celui d e bailli 4 4 . Il est vrai q u e l'histoire

offre quelques

exemples

d e reines

re-

43 Songe du vergier, I (cf. n. 9), p. 255. 44 Plusieurs choses appartiennent au gouvernement de la chose publique, dezquelles famés ne s'en pourroient entremettre, ne selon Droit comun, famé ne peut pas estre juge (Songe du Vergier, p. 255). Femme n'est point habile ne prenable de tel office et dignité ou il appartient et convient que un masle descendant de masle soit chief et souverain gouverneur de toute la région et de tout ce grant et puissant royaume de France, tant en la justice comme sur le fait des guerres et autres affaires qui sourdent et puent sourdre et avenir chascun jour, dont une femme ne se pourroit ne sauroit convenablement entremettre et qui ne se doivent ne peuent commectre a femme (Jean de Montreuil, Opéra, II [cf. n. 7], p. 172-173). De raison femmes sont remotes ou ostees de toutes officies publicques (...) et doivent estre separees de tout examen judiciaire, de quelque lignee qu'elles soyent (Écrits politiques de Jean Juvénal, [cf. n. 8], p. 48). Seroit bien grant inconvénient que une femme fust juge en causes crimineles pour condemner une personne a morir, car leurs pensees et leurs jugemens pourroient estre un peu trop soudains (traité Pource que pluseurs). Jean Boutillier, dans la Somme rural, conclut de même. Christine de Pizan, tout en estimant que des femmes peuvent avoir meilleur entendement et plus vive judicature que certains hommes, reconnaît que ces derniers sont hardis et puissans et ont force pour faire executer les lois, ce ne pourroient les femmes. Elle pense que ce ne seroit pas chose convenable que elles se alaissent monstrer en jugement aussi bauldement que les hommes. Alvarès Pelayo, dans le De planctu Ecclesie, après avoir dénoncé le péché des femmes qui occupent les fonctions d'avocat, cite, parmi les péchés des juges, le fait que «beaucoup jugent et tiennent lieu de juge sans pouvoir être juges (serf, femme, etc.)» (livre II, ch. 35 et 41). Sur l'impossibilité pour une femme d'être bailli ou prévôt, Jean Juvénal, p. 43. Jean de Montreuil, p. 173, affirme: Ne il ne fu onques veu ou gouvernement des Rommains, des Grez, de ceulx d'Affrique ne autre police ou monarchie ancienne non pas seulement que femme y eust administration d'un petit office de judicature, et encores moins des aultres principaux et souverains offices.

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Philippe C o n t a m i n e

m a r q u a b l e s p a r leur sagesse - ainsi Sémiramis - , mais c ' e s t là l ' e x c e p tion, d o n t o n ne p e u t se servir p o u r f o n d e r u n e r è g l e 4 5 . Q u a n t à l ' É c r i t u r e sainte, c ' e s t - à - d i r e le d r o i t divin, si o n laisse d e c ô t é quelques passages mal c o m p r i s 4 6 , rien n ' y m o n t r e q u e les f e m m e s puissent être reines de leur p r o p r e chef. J é s u s ne c o n f i a pas le g o u v e r n e m e n t de s o n p e u p l e à sa M è r e mais à saint P i e r r e , et au j o u r d u J u g e m e n t , ce n ' e s t pas la V i e r g e mez les Apostres avecques

Nostre

Sauveur47.

(qui) jugeront

S u r t o u t , l ' a u t e u r de Pource

les

pescheurs

que pluseurs

uti-

lise u n e c i t a t i o n d o n t ses p r é d é c e s s e u r s n'avaient fait q u ' u n usage disc r e t 4 8 . Il se réfère à la p a r o l e d e D i e u à È v e après la F a u t e : Sub tate

eris et ipse dominabitur estre subgettes

tui, qu'il interprête ainsi: Dieu a homme

et avoir

viripotesordonna

toutes

femmes

pas de souverain

elles49.

O r le p r o p r e d ' u n r o i étant p r é c i s é m e n t d e n ' a v o i r pas de s o u -

sur

verain a u - d e s s u s d e lui, si u n e f e m m e était reine en s o n p r o p r e n o m , c e serait à l ' e n c o n t r e de la p a r o l e de D i e u , o u d u d r o i t naturel. L ' i d é e était d o n c n o n pas d e refuser t o u t p o u v o i r a u x f e m m e s mais t o u t p o u v o i r souverain. L a différence devait être établie -

contraire-

m e n t , s o m m e t o u t e , à la lettre d e la loi salique - e n t r e u n héritage o u u n

45 Jean de Montreuil, p. 173-174: C'est un cas particulier qui ne fait loy ne coustume. Jean Juvénal mentionne aussi le cas de l'impératrice Mathilde, la fille de Henri 1 er d'Angleterre, mais il l'écarté en disant d'une part qu'elle ne fut pas reine d'Angleterre par succession mais par le moyen de la promesse que fit tout le peuple au dit roy Henry et que d'autre part elle ne fut peut-être même pas reine: ce qui est bien vu car, de fait, elle s'intitula seulement domina Anglorum et ne fut jamais sacrée ([cf. n. 8], p. 45-46 et n. 1 de la p. 46). Le traité Pource que pluseurs reconnaît qu'il y eut de vaillantes impératrices et de vaillantes reines de France qui ont fait de grandes et notables choses mais c'était comme femmes, vesves ou meres des roys ou des empereurs et non pas que de leur héritage elles fussent roynes de France et emperris. 46 Le plus souvent cité est le cas des filles de Saphat (Celophehad) (Nombres, 27,4-5): celles-ci vinrent trouver Moïse et lui dirent que, puisque leur père était mort sans fils, elles devaient obtenir «un domaine au milieu des frères de notre père». Moïse porta le cas devant l'Éternel, qui lui répondit: «Les filles de Celophehad ont parlé juste. Tu leur donneras donc un domaine qui sera leur héritage au milieu des frères de leur père; tu leur transmettras l'héritage de leur père». Exemple non valable, répondent les partisans des Valois, car cet héritage est un bien particulier, et non un royaume. Jean Gerson, dans les Considérations sur saint Joseph (1413), fait allusion au fait que Jésus pouvait revendiquer également par sa mère le royaume de Juda; il ajoute: Laquelle chose ont voulu les Anglois alleguer aucune fois pour euh en disant que femme povoit bien succeder au royaume de France, selond la response de Dieu en l'Ancien Testament des filles (Oeuvres complètes, éd. P. G 1 o r i e u x, t. VII"" L'oeuvre française [sermons et discours, Paris/Tournai/ Rome/New York, 1968], p. 70). 47 Songe du Vergier, I (cf. n. 9), p. 255. 48 Le droit naturel (...) ordonne que femme soit soubzjecte et non mye ayant puissance de prelature, ainsi que nous l'avons Genesis iij° et ou dit c. Mulierem et c. Hec ymago xxxiij. q.v.; et toute coustume contre droit naturel est nulle (Jean Juvénal [cf. n. 8], p. 48). 49 Genèse, 3,16.

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simple fief, et un royaume. Rien ne sert donc d'alléguer telle ou telle coutume féodale dans le royaume de France autorisant la succession féminine50. Inutile également de rappeler qu'un très grand nombre de royaumes chrétiens acceptent51, à défaut d'héritier mâle, la succession féminine, non seulement parce que chaque royaume doit être régi par sa propre coutume52, mais surtout parce que la spécificité française est à mettre à son crédit, elle témoigne de l'incomparable et peut-être unique dignité de la couronne de France. Déjà Jean le Bel avait exprimé cette idée, sans pour autant la reprendre à son compte: Le royaume de France est bien si noble qu'il ne doibt mie aller a femelle53. Par la suite, les propagandistes des Valois ne se firent pas faute d'expliciter ce point de vue en montrant que, si une femme obtenait le royaume de France, la transmission des fleurs de lys et du nom même de France risquait de s'interrompre, la levée de l'oriflamme risquait de disparaître en même temps que le pouvoir de guérir les écrouelles. Pire encore: si une femme devenait reine, lors de son couronnement54, elle recevrait naturellement l'onction traditionnelle des reines, c'est-à-dire que ses mains ne seraient pas ointes (d'où l'impossibilité pour elle de toucher des objets sacrés) et surtout

50 Jean de Montreuil explique à ce propos que les dames du sang royal de France qui ont eu par succession des seigneuries dont l'importance est comparable à tel ou tel royaume, les ont eues seulement comme usufruitières ou douairières, et toujours sous la souveraineté du roi et de la couronne de France (Opéra, II [cf. n. 7], p. 172, 227-228 et 274). L'argument est repris dans Jean Juvénal, Écrits, II (cf. n. 8), p. 26. 51 Le Songe du Vergier, I (cf. n. 9), p. 243, mentionne expressément les royaumes d'Espagne, d'Aragon et de Sicile. Sur le royaume d'Espagne, voir la remarque contenue dans un traité de blason de la fin du X V e siècle: Au royaume d'Espaigne, et aux autres royaumes d'icelle Espaignes, en deffault de héritier masle les filles des maisons realles debvent succeder et de fait, par droict et ancien previlege de icelles maisons realles, sucedent a la couronne et heritaige du reaume dont ilz sont filles, et en portent les armes pures et plaines, comme roynes, et usent de touz droiz de principaulté, et imposent et levent tailles et subcides, et font ordonnances et souldoiers, et peuent donner joumee et faire combatre, et ce faire toutes foiz que bon leur semblera (A. M a n n i n g. The Argentaye Tract, edited from Paris, B N , fonds français 11, 464 [Toronto/Buffalo/Londres, 1983], p. 76 sq.) 52 Les maniérés d'Angleterre et aultres royaulmes ne peuent lyer le royaulme de France (Jean Juvénal, Écrits, II [cf. n. 8] p. 45). 53 Chronique de Jean le Bel, éd. J . V i a r d et E. D é p r e z, I (Paris, 1904), p. 7. La formule est reprise par Froissart, Chroniques, éd. S. L u c e, I (Paris, 1869), p. 11. Le ms. dit de Rome de ces mêmes chroniques adhère franchement à la cause française: Froissart fait allusion à la rieule naturel et droiturier que il ont en France et de laquelle ordenance anciienement on avoit veu user (ibid., p. 218). 54 Et aussi les rois de France s'appellent sacrés et couronnés et les roynes de France, posé qu'elles soient aulcunement enoingtes, si ne s'appellent elles que couronnées ne aussi ne garde l'on pas les solemnités a leur couronnement que l'en fait au sacre des rois (traité Pource que pluseurs).

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l'onction se ferait avec une huile ordinaire et non avec l'huile de la Sainte ampoule. Le propre d'un roi de France est de participer aux choses divines, d'être plus qu'un simple laïc, d'avoir, du même coup, le privilège, en cas de régale, de conférer les bénéfices vacants pleno jure. Il a le droit de lire l'Évangile de Noël en présence du pape. Autant de privilèges qui disparaîtraient en cas d'accession d'une femme au trône de France 55 . Le royaume de France à une femme cela signifierait un relâchement voire une rupture de ses liens particuliers avec le ciel, une diminution de son capital spirituel. Du roi très chrétien, on passerait à la reine simplement chrétienne. Franchissons encore une étape. La règle de l'exclusion des femmes fut mise à profit pour suggérer ou montrer que le royaume de France, au sein de la chrétienté latine, occupait une place comparable à celle du Saint Empire. De même qu'il n'était pas envisageable de confier l'Empire (ni la papauté) 56 à une femme, de même il n'était pas admissible de confier le royaume des lys à une femme. Pour cette démonstration, on recourut à la formule attestée dès le XIII e siècle et incidemment reconnue par la papauté (décrétale Per venerabilem): «le roi de France est empereur en son royaume». Le traité Pource que pluseurs, là encore particulièrement novateur, glose en ces termes: le roy de France est roy et empereur en son royaume et ne recongnoit nul souverain. Puis, hardiment, il avance la proposition complémentaire: l'empereur est ou doit estre roy souvrain par tout le monde excepté au royaume de France. Dès lors, si, par quelque affreux concours de circonstance, deux femmes devenaient l'une impératrice, l'autre reine de France, cela voudrait dire que tout le monde fust subgect aux femmes et qu'elles n'eussent point de souverain, ce que ne fust oncques. Enfin, principalement au XIV e siècle (Nicole Oresme dans ses additions à sa traduction de la Politique d'Aristote 57 , le Songe du Vergier), la 55 Ces considérations, mentionnées par Jean Juvénal, sont particulièrement développées dans le traité Pource que pluseurs. 56 Femme, pour (quelque) souffisance, preudommie ou clergie qu 'elle ait ou pourroit avoir, elle ne puet venir a la papalité ne avoir voix pour faire pape, ja soit ce qu 'elle soit bien prenable de grandes dignitéz et benefices (Jean de Montreuil, Opéra, II [cf. n. 7] p. 173). 57 Commentaire de Nicole Oresme sur le livre de Politiques d'Aristote, éd. A.C. M e n u t (Philadelphie, 1970). Je remercie vivement Françoise Autrand d'avoir attiré mon attention sur ce texte. Nicole Oresme y cite l'exemple de Sémiramis puis il ajoute: Mes que femme ait grant vertu et constance, il ne avient pas souvent. Classiquement il met en avant la fragilité du sexe, la mollece de leur nature. Cependant il cite des exemples où les femmes donnèrent de bons conseils (Livie, Rébecca, etc.): Et la cause est car en cas de conseil plusieurs fois affection naturele ou grant amour suppléé imprudence ou equipole a prudence.

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réflexion sur l'exclusion des femmes fut comme englobée au sein d'une réflexion plus vaste, portant, elle, sur la meilleure constitution possible pour un royaume, et, plus précisément, sur les avantages respectifs de la succession héréditaire et de l'élection. Sans envisager la question dans son ensemble58, bornons-nous à rappeler ici, très schématiquement, que le Moyen Âge occidental fut parcouru par deux grands courants de pensée. Pour l'un de ces courants, un royaume était un bien comme un autre, transmissible aux héritiers par le sang. Simplement, il était à peu près unanimement admis que ce bien était indivisible59 et que les fils puînés d'un roi, à défaut de partage, ne pouvaient disposer que d'un apanage. Pour l'autre courant, le processus électif permettait de choisir le meilleur et d'établir un rapport de type contractuel entre l'élu et ses électeurs. Ajoutons qu'en raison de son propre recrutement, l'Église était assez favorable à l'élection, même dans le domaine temporel. L'introduction de la pensée politique d'Aristote contribua, au XIII e siècle, à donner au débat une tournure intellectuelle. Pour ne retenir que deux exemples, voici d'abord le dominicain Guillaume Peyraut (début du XIII e siècle - 1271) qui, dans 1 e De eruditione religiosorum, rappelle les deux modes d'acquisition de la potestas dominandi dans le monde: l'un, détestable, qui consiste à recourir à l'injustice, à la violence, l'autre licite. À son tour, le mode licite est triple: a) la succession, comme en France ou comme, jadis, dans le royaume juif; b) la provision, procédé auquel a par exemple recours le roi de Hongrie lorsqu'il attribue à son gré des comtés, des baronnies; c) l'élection, procédé en usage dans les communes italiennes. Selon Guillaume Peyraut, l'élection est préférable, car, le bien commun concernant tout le monde, il est raisonnable que tout le monde soit concerné, selon le principe qui veut que ce qui touche tout le monde doit être approuvé par tout le monde60. Voici ensuite saint Thomas d'Aquin qui, dans son Commentaire de la Politique d'Aristote (1271-1272), estime qu'en soi l'élection est préférable à la succession mais que «par accident» la succession peut être préférable61.

58 Voir par exemple à ce sujet toute la première partie du livre de S c h e i d g e n (cf. n-5). 59 Toutefois, les partisans des Valois prétendaient que si le royaume de France tombait entre des mains féminines, il serait divisible entre toutes les filles comme dans la coutume de Paris et de l'Île-de-France (Jean Juvénal, traité Pource que pluseurs). 60 Cité par S c h e i d g e n (cf. n. 5), p. 116, n. 256. 61 Ibid., p. 118.

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Évoquant à son tour le problème, le chevalier du Songe du Vergier est donc tributaire de tout un ensemble de réflexions antérieures. Comme saint Thomas, comme Gilles de Rome 62 , il estime la succession préférable à l'élection. Ainsi le prouvent, dit-il, la raison et l'expérience. En premier lieu, afin d'éviter les dissensions qui pourraient survenir après la mort d'un roi, il a été ordonné d'eslire un lygnage duquel le roi seroit pris et couronné. Ce roi sera d'ailleurs unique pour un royaume donné: garantie de paix et de transquillité pour tous. Mais le choix de ce roi doit être conforme à certaines règles. «Raisonnablement», la préférence est donnée à l'un de ses enfants. Derechief, pour ce que le roy povet avoir plusieurs enffens, entre lezquelx peiist estre discencion et débat lequel seroit le plus souffisent pour estre roy, il fust ordené que le filz ainsné devret ou royaume succeder. Ainsi les risques de minorité seraient moins grands, le roi saurait dès le départ lequel de ses fils il devrait former à son futur métier. De plus, en général, lorsqu'un roi a plusieurs enfants, c'est l'aîné qu'il préfère. Enfin les cadets obéiront plus naturellement à l'aîné. Le roi, pensant à ce fils préféré destiné à prendre sa suite, exercera son gouvernement avec d'autant plus d'attention et de sagesse. Lezquelles raysons devant dittes, conclut le chevalier, qui bien lez considéré, monstrent clerement que honme doit mielx succeder en un royaume que famé et que l'ainsné filz du roy doit, par rayson, pour le profit comun, estre préféré, quant a la succession du royaume, a tous, soient sesfreres ou aultresbi. Avec plus d'ampleur encore, Nicole Oresme confronte les mérites de l'élection et de la succession. Le plus souhaitable, selon lui, est que le peuple élise un lignage supérieur aux autres «en excellence de bien». On songe ici, inévitablement, à la lignée capétienne, encore qu'aucun exemple précis ne soit donné. En effet, poursuit-il, I royaume ne est pas comme une possession propre seroit ou une rente familiare. C'est une seigneurie, une dignité, une honnourabilité, qui requiert industrie de gouverner et garder le bien commun du peuple. Cette élection d'un lignage résultera aussi bien d'un choix formel par l'élite du peuple en question64, que du «consentement taisible» de ce peuple. Mais elle peut également reposer sur la «coutume». Après quoi, peut-être serait-il préférable que de cest lignage ilpreinssent ceulx qui sunt eslisibles selon leur valeur et non pas selon eage ne par ainsnece. Mais tout bien considéré, pour les grans royalmes, pour les royalmes de grant puissance, dont les 62 Ibid., p. 119. 63 Songe du Vergier, I (cf. n. 9), p. 256-257. 64 La melleurpartie de toute la communité expressement (Nicole Oresme [cf. n. 57]).

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sujets sont armés, il vaut mieux, une fois élu un noble lignage, définir une ordonnance qui respectera les conditions approvees, escriptes ou acoustumees. Le moment venu, cette ordonnance sera suivie, sans faire autre nouvelle élection. De semblables bonnes ordenances, lesqueles sunt équivalentes as lays et a drois et sunt drois, autrement dit participent de la dignité du droit civil, évitent les discordes, les machinacions, ainsi que le montre amplement l'histoire sacrée et profane. En définitive, pour Nicole Oresme, deux voies seulement s'offrent quand il s'agit de gouverner un royaume: à l'origine toujours l'élection d'une personne, mais ou bien désignée comme roi à titre viager, ou bien à laquelle succéderont ses descendants «par lignage». Après avoir magistralement exposé les raisons qui semblent militer en faveur de la première solution, il passe aux raisons, plus convaincantes à ses yeux, qui le font pencher pour la seconde, c'est-à-dire, selon sa formule, la succession de lignage esleu: solution préférable mais dès lors que sont gardées en ceste succession excellence et conditions acceptables et profitables au peuple en tant que possible. Ces conditions «raisonnables», les voici: - Nul ne succédé qui est de estrange païz65. - Nul ne succédé qui a en soy vice en ame ou en corps qui est répugnant a dignité royal: en ame comme si l'ainsné filz du roy estoit ydiot ou pervers, ou en corps, ainsi un aveugle ou un maleficié, més de vices corporels les réglés sunt plus positives, elles varient de pays en pays et, en fin de compte, apparaissent moins contraignantes. - Femme ne doit succeder ou tenir royaume. - Nul ne succédé en roiaulme par femme ou moiennant femme. Ici l'on peut s'étonner que l'évêque de Lisieux ne mentionne pas comme condition la fidélité à la foi catholique - songeons aux problèmes qui se poseront lors des guerres de religion - mais peut-être cela est-il implicite dans l'idée de perversion. Ajoutons que, dans le Rosier des guerres, composé dans les années 1480 à l'intention du dauphin Charles - le futur Charles VIII - et à l'instigation de Louis XI par l'un des médecins de ce dernier, Pierre Choisnet, la transmission héréditaire des qualités à l'intérieur d'un lignage fait l'objet d'une insistance particulière. Mais cette transmission s'effectue de mâle en mâle, en sorte que les défauts manifestés éventuellement par 65 On trouve la même idée, exprimée différemment, dans le Songe du Vergier, I (cf. n. 9), p. 250: Mettons par exemple que le roy de France ait une fille ainsnee et un filz mainsné: ceste fille est mariee au filz du roy de Honguerie, duquel mariage est né un filz; lequel, par rayson, devera miex amer le peuple et le royaume de France, ou le filz mainsné du Roy, ou le filz de celle fille ainsnee? Certes (...) le filz du Roy et ceulx qui descendent de luy par la ligne mascle. Voir aussi K r y n e n (cf. n. 6).

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Philippe Contamine

tel membre de ce lignage ne peuvent s'être introduits que par les femmes, par l'éducation ou par les circonstances. Ainsi en témoigne la «génération» des rois de France, puisque, selon Pierre Choisnet, il s'agit d'une seule génération, depuis le début: Pource que toute chose descendant d'autre porte tesmoing de ce dont il est descendu et voulentiers la lignee ensuit la nature de pere combien que la maniéré de la nourriture y peut ayder ou nuyre en aucune maniéré, toutesvoies finablement chascun revient a sa nature, pource que nature passe nourriture et n'y a riens plus fort en nourriture que la continuacion. Pource que coustume est une maniéré de nature et pource que celle noblesse, vaillance et prouesse a tousjours reluit et resplendoy es nobles roys de France jusques a present es ungs et es autres, selon les diverses constellacions de leurs naissances, il convient dire que la racine et semence dont ilz [sont] descenduz de si long temps comme de plus de deux mille sept cens ans et par tant de generacions estoit bonne et de grande vertu, car se en aucuns qui en sont descenduz y ait eu quelque différence, ce peut avoir esté a cause des meres ou pour la nourriture ou pour les mauvaiz conseillers ou pour les fortunes de ce monde qui sont diverses66. Ainsi se déploya toute une philosophie politique qui faisait de l'exclusion des femmes beaucoup plus que la résultante d'une coutume invétérée: la conséquence d'une attitude parfaitement réfléchie. Tout se passe comme si les conditions mises à la succession royale aboutissaient infailliblement au choix du meilleur et réalisaient l'heureuse synthèse de la succession et de l'élection. Là encore un parallèle serait possible avec la procédure suivie dans le cas de l'Empire. Mise au défi par les revendications des Plantagenêts, radicalement contestée dans sa légitimité, moult (...) afoibli(e) d'onneur, de puissance et de conseil67, la monarchie des Valois, sans doute la première en Europe si l'on excepte l'Empire, suscita, pour compenser la précarité persistante de son pouvoir, un ensemble de réflexions, à usage interne et externe, qui permirent d'approfondir et de transformer la notion de royauté et d'affirmer avec sensiblement plus de force qu'auparavant la supériorité du royaume de France sur ses voisins 68 . D'autant qu'à cette première série de réflexions nées des prétentions d'Édouard III d'autres

66 B.N., ms. franç. 442, f. 88r. 67 La formule est de Froissart, éd. K e r v y n d e L e 11 e n h o v e, I, 2 e et 3 e parties (Bruxelles, 1873), p. 71. 68 Supériorité déjà affirmée au XIII e siècle et surtout depuis Philippe le Bel.

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s'ajoutèrent, cette fois pour faire pièce au traité de Troyes, à ses préliminaires et à ses conséquences69.

69 Voir en dernier lieu J . B a r b e y, La fonction royale. Essence et légitimité d'après les Tractatus de Jean de Terrevermeille (Paris, 1983). Les raisons, les raisonnements, les exemples et les citations contenus dans les traités en question (principalement le traité «Pource que pluseurs», sans doute dans une première version) furent en partie repris par Sir John Fortescue dans les traités en latin et en anglais qu'il composa, en Écosse, lors de son exil de 1461, pour défendre le droit à la couronne d'Angleterre de Henri VI Lancastre contre les prétentions d'Édouard d'York. Du même coup il admettait que les revendications d'Édouard III à la couronne de France n'étaient pas fondées en droit: si Henri VI pouvait quand même prétendre à la couronne de France, c'était seulement au titre du traité de Troyes. Dans ces conditions, si Édouard devenait roi d'Angleterre, il ne pourrait pas revendiquer le trône de France, qui se trouverait perdu pour l'Angleterre. Par la suite, en 1471-1473, Sir John Fortescue se rallia à la cause et à la thèse d'Édouard IV triomphant. Il reconnut ses erreurs dans un nouveau traité, y montrant, en particulier, qu'une femme pouvait fort bien être reine par elle-même sans contredire au texte de la Genèse puisque, de toute façon, un homme la dominait toujours: le pape. Sur tout ceci, outre l'ouvrage de L i t z e n, (cf. n. 9). voir The Works of Sir John Fortescue, chief justice of England and lord Chancellor to King Henry the Sixth, éd. Thomas ( F o r t e s c u e ) L o r d C l e r m o n t (Londres, 1869).

DAS PAPSTTUM IM HOHEN MITTELALTER: EINE INSTITUTION? BERNHARD SCHIMMELPFENNIG*

„Der Papst muß, sobald er gewählt ist und solange er lebt, nach Ablegen seines Ordenshabits die für alle Päpste gültige Gewandung anlegen ... Und keiner Regel eines zuvor gelobten Ordens folgend, denn insoweit er der pontifex maximus ist, gilt er als jeden Menschen überragend, ist er daher keiner Regel unterworfen, so daß er als Lebender deren Habit tragen müßte, weil er nämlich als Vikar Christi als über der Menschheit stehend (supra humanam conditionem) betrachtet wird. Ist der Papst aber tot, muß er, weil er damit aufgehört hat, Vikar Christi zu sein, und zum Menschsein zurückgekehrt ist, ... mit dem Gewand gekleidet, ausgestattet und begraben werden, mit dem er sich, als er Mensch war, vor dem Apostolat zu bekleiden pflegte." Diese Ausführungen des päpstlichen Zeremonienmeisters Paris de Grassis1 stammen zwar erst von 1511, zeigen aber Probleme auf, die auch im hohen Mittelalter bestanden, damals jedoch nicht so deutlich artikuliert worden sind: die hohe Stellung des Papstes, aber auch die nach seinem Tode möglichen Schwierigkeiten. Das Papsttum als schon quasi perfekte Institution zu schildern, ist hier nicht der Ort; dazu sei auf die Werke des von der Institutio-

* Angesichts des komplexen Themas können sich die Anmerkungen nur auf die wichtigsten Hinweise beschränken. 1 Paris de Grassis, Tractatus de funeribus et exequiis (Bibl. Ap. Vat., cod. Vat. lat. 5986, fol. 127v): Pontifex vero idem, si eligetur, debebit vivens deposito habitu regulari induere apostolicum, qui omnibus pontificibus indifferens, est enim unicus habitus pontificalis, et nullius ordinis ante professi regulam sequens, nam, inquantum sit pontifex maximus, profecto maior homine censetur, ideo nulli regule obnoxius est, ut illius habitum deferte vivens cogatur, quandoquidem Christi vicarius supra humanam conditionem existimatur. Mortuus vero idem pontifex, quia iam Christi vicarius esse desiit et in hominem reversus est, ideo funitus, in ilio habitu vestiri efferique et sepeliri debet, in quo, dum homo esset, ante apostolatum vestiri solebat. Zitiert aus : I. H e r k l o t z , Paris de Grassis' Tractatus de funeribus et exequiis und die Bestattungsfeiern von Päpsten und Kardinälen in Spätmittelalter und Renaissance, in: Skulptur und Grabmal des Spätmittelalters in R o m und Italien, hrsg von J. G a r m s u. A. M. R o m a n i n i (1990), S. 229 A n m . 52.

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Bernhard Schimmelpfennig

nalisierung überzeugten Walter Ullmann verwiesen2. Auch ich leugne nicht, daß es schon sehr unterschiedliche Ansätze zu einer Institutionalisierung gab; doch sollen diesmal vor allem die Schwachstellen des „Systems" - soweit von einem solchen schon gesprochen werden kann - aufgezeigt werden. Natürlich ist dies nur möglich, wenn zuerst die päpstlichen Prärogativen genannt werden. Weil diese wohl allgemein bekannt sind, beschränke ich mich auf Andeutungen.

I.

Für den Aufstieg des Papsttums war der enge Zusammenhang von Christologie und Ekklesiologie in der lateinischen Christenheit äußerst wichtig3. Wenn vornehmlich seit Augustinus und Papst Leo I. betont wurde, daß die Erlösung des einzelnen Christen nur durch den gestorbenen und auferstandenen Jesus und die von ihm begründete Kirche möglich sei, so war eine allmähliche hierarchische Hervorhebung des Papstes als des Leiters dieser Heilsinstitution vorgegeben, die schließlich in Bonifaz' VIII. Konstitution Unam sanctam in den Worten gipfelte4: „Daher erklären Wir, daß es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt heilsnotwendig ist, dem römischen Bischof Untertan zu sein." Von seiten der Päpste und ihrer Befürworter wurde diese Position theologisch und juridisch, gleichfalls schon seit dem 5. Jahrhundert, ausgebaut 5 . Ich erinnere nur an die seit Innozenz I. übliche Zurückführung der gesamten Christianisierung im Westen auf Petrus und an den seit Leo I. erhobenen Anspruch der Päpste auf das Erbe und den Vikariat Petri. Dieser Anspruch beinhaltete zugleich die Transpersonalität des Papstamtes, denn unter Berufung auf ein Versprechen Jesu sollte ja die „Kirche", somit jetzt auch das Erbe des Petrus, „bis an's Ende der Welt" bestehen und Christi Beistand besitzen. Erinnert sei außerdem an 2 Vgl. z. B. W. U l l m a n n , Die Machtstellung des Papsttums im Mittelalter (1960); d e r s . , Kurze Geschichte des Papsttums im Mittelalter (1978). 3 Vgl. K.-H. O h 1 i g , Fundamentalchristologie. Im Spannungsfeld von Christentum und Kultur (1986), S. 261 ff. u. ö. 4 Extrav. Comm. 1.8.1 = E . F r i e d b e r g (Hrsg.), Corpus iuris canonici 2 (1882), Sp. 1245 f.: Porro subesse Romano pontifici omni bumanae creaturae declaramus ... omnino esse de necessitate salutis. Vgl. dazu W. U l l m a n n , Die Bulle Unam sanctam, in: RHMitt 16 (1974), S. 45-77. 5 Vgl. z. B. U l l m a n n , Machtstellung (wie Anm. 2), passim; B. S c h i m m e l p f e n n i g , Das Papsttum. Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance (1984), S. 27 ff. u. ö.; F. H e i l e r , Altkirchliche Autonomie und päpstlicher Zentralismus (1941).

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution? die Betonung der päpstlichen Lehrautorität und Heilsvermittlung, die ebenfalls seit Leo bzw. Gelasius I. erfolgte, sowie an die Rechtsstellung des Papstes in den symmachianischen Fälschungen. Das Problem war lediglich, daß die meisten Ansprüche lange Zeit hindurch nur partiell oder überhaupt nicht in der Ökumene anerkannt wurden. Bekanntlich war dieses Manko seit der sogenannten „gregorianischen Reform" weitgehend beseitigt - wenn auch nur in einer geschrumpften Kirche, nämlich in der des Westens. Mehr als zuvor bestand dort fortan die Dichotomie, daß einerseits die Christenheit als festgeformte Kirche verstanden, andererseits diese Kirche vom Klerus geleitet und vornehmlich von ihm repräsentiert wurde, dem die Laien insgesamt untergeordnet waren. Als Oberhaupt der kirchlichen Hierarchie und der Kirche als Heilanstalt war der Papst jetzt überall im Westen anerkannt. Und nicht nur dies. Seine Funktion als oberster Gesetzgeber und Richter in der Kirche, damit seine plenitudo potestatis und Amtsheiligkeit stießen nur selten auf Widerspruch6. Jetzt war er der Vikar Christi und stand somit supra humanam conditionem, wie es später der anfangs zitierte Paris de Grassis formulieren sollte. Aus dieser Stellung ergaben sich zwei für unser Thema wichtige Folgen: die Regelung der Amtsnachfolge und der Ausbau des Kreises der Mitarbeiter - notwendig infolge der neuen Intensität und Ausweitung der päpstlichen Rechte und Pflichten. Nun kann ich bei dieser Gelegenheit nicht alle Akte der Ordination7 des Papstes von der Wahl bis zur Krönung abhandeln, vielmehr nur wichtige Änderungen hervorheben. Eine von ihnen betraf die Wahl. Im Jahre 1179 bestätigte der erste Canon des 3. Laterankonzils8 bekanntlich die Kardinäle als die alleinigen Wähler des Papstes, zugleich bestimmte er die Zweidrittelmehrheit als notwendiges Quorum. Auf die Bedeutung des Textes für die Position der Kardinäle werde ich noch zu sprechen kommen. Im Augenblick ist die Frage wichtig, ob seitdem die Wahl der einzig konstitutive Einsetzungsakt war und ist. Die richtige Antwort zu finden, fällt schwer, denn die relevanten Zeugnisse müssen in mehrfacher Hinsicht differenziert werden; dabei können mehrere Differenzierungen denselben Text betreffen. Genannt seien in 6 Vgl. z. B. R. L. B e n s o n , Plenitudo potestatis. Evolution of a Formula from Gregory IV to Gratian, in: Studia Gratiana 14 (1967), S. 193-218; H. F u h r m a n n , Über die Heiligkeit des Papstes, in: Jb. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen 1980 (1980), S. 28 - 4 3 . 7 Vgl. zum Begriff zuletzt Y. C o n g a r , Note sur une valeur des termes „ordinäre, ordinatio", in: Rev. des sciences religieuses 58 (1984), S. 7-14. 8 Conciliorum oecumenicorum decreta ( 3 1973), S. 211 = X 1.6.6 ( F r i e d b e r g 2 [wie Anm. 4], Sp. 51.

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gegensätzlichen Begriffspaaren folgende Untersuchungskriterien: Entstehung des Textes am päpstlichen Hof oder Entstehung außerhalb; kanonistischer oder nichtkanonistischer Text; Bezogenheit auf die aktuelle Situation oder Tendenz der Allgemeingültigkeit. Schließlich ist noch eine andere Differenzierung wichtig, und zwar sowohl zur Bewertung des mittelalterlichen Autors wie auch für den Standpunkt des heutigen Historikers: Wird die gesamtkirchliche Jurisdiktionsgewalt des Papstes höher eingeschätzt als dessen sakramental-liturgische Funktionen oder nicht? Die Antwort gerade auf diese Frage ist für unser Thema von Bedeutung, denn sie zeigt, in welchem Ausmaß die unterschiedliche Institutionalisierung des Papstamtes aus der neuartigen Verfaßtheit der Gesamtkirche resultierte. Übrigens sind die meisten der eben genannten Differenzierungen auch später wichtig bei der Analyse der verschiedenen kurialen Funktionsbereiche. Mein Fazit 9 aufgrund dieser Überlegungen ist folgendes: Das stärkste Argument Alexanders III. seit 1159 war seine Wahl durch die überwältigende Mehrheit der Kardinäle, während sein Gegner, Viktor IV., bei seiner Wahl lediglich die ominöse sanior pars für sich reklamieren konnte und ansonsten darauf verweisen mußte, daß er früher als Alexander, und zwar in St. Peter, immantiert und inthronisiert worden sei. Das Datum der Konsekration (Alexander: 20. September, Viktor: 4. Oktober) sprach wieder für Alexander, wurde jedoch seltener betont. Obwohl beide Päpste ebenso wie die meisten ihrer Vorgänger und Nachfolger der sakramentalen Bischofsweihe bedurften (vgl. Tabelle), hoben Alexander, seine Anhänger sowie die gewöhnlich auf seiner Seite stehenden Kanonisten die Wahl als den Ausschlag gebenden Akt hervor. Dies ist deshalb verständlich, weil damals außerhalb Roms und des Patrimonium Petri vor allem die Jurisdiktionsgewalt des Papstes wichtig war, die schon durch die Wahl übertragen wurde. Und gerade der Pontifikat Alexanders ist ja dafür bekannt, daß er die Appellationsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung durch den Papst enorm ausweitete 10 . Bedenken wir außerdem, daß gerade auch im 12. Jahrhundert viele

9 R. L . B e n s o n , The Bishop Elect (1968), S. 150-167 u. ö.; W. M a d e r t o n e r , Die zwiespältige Papstwahl des Jahres 1159 (1978). Zur Papstwahl jetzt: B. S c h i m m e l p f e n n i g , Papst- und Bischofswahlen seit dem 12. Jahrhundert, in : Wahlen und Wählen im Mittelalter, hrsg. v. R. S c h n e i d e r und H . Z i m m e r m a n n (= V u F 37, 1990), bes. S. 175-182. 10 L. F a l k e n s t e i n , Appellationen an den Papst und Delegationsgerichtsbarkeit am Beispiel Alexanders III. und Heinrichs von Frankreich, in: Z K G 97(1986), S. 36-65; A. P a d o a S c h i o p p a , Ricerche sull'appello nel diritto intermedio, 2 Bde. (1967/ 1970).

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution? Tabelle: Rang vor der Papstwahl (12./13. Jh.) Päpste Paschalis II. Gelasius II. Kalixt II. Honorius II. Innozenz II. Anaklet II. Cölestin II. Lucius II. Eugen III. Anastasius IV. Hadrian IV. Alexander III. Viktor IV. Lucius III. Urban III. Gregor VIII. Clemens III. Cölestin III. Innozenz III. Honorius III. Gregor IX. Cölestin IV. Innozenz IV. Alexander IV. Urban IV. Clemens IV. Gregor X. Innozenz V. Hadrian V. Johannes XXI. Nikolaus III. Martin IV. Honorius IV. Nikolaus IV. Cölestin V. Bonifaz VIII.

Kardinaldiakon 1099 1118 1119 1124 1130 1130 1143 1144 1145 1153 1154 1159 1159 1181 1185 1187 1188 1191 1198 1216 1227 1241 1243 1254 1261 1265 1271 1276 1276 1276 1277 1281 1285 1288 1294 1294

K.Priester

K.Bischof

Sonstiges

X

x Erzbischof X X X X X

Abt X X X X X X X X X X X X X X X

Patriarch X

Archidiakon X X X X X X X

Abt X

7

12

12

5

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andere Bischöfe mehrere Jahre lang oder gänzlich nur electi waren, also zwar die Jurisdiktionsgewalt, oft aber nicht die Konsekrationsgewalt besaßen, so wird verständlich, daß die im Lateran versammelten Bischöfe der von Alexander und den Kardinälen ausgearbeiteten Formulierung zustimmen konnten 11 : „Derjenige soll ohne Ausnahme von der universalen Kirche für den römischen Bischof gehalten werden, der von zwei Dritteln [der Kardinäle] gewählt und angenommen ist." Entsprechend der akademischen und argumentativen Topik hielten Kanonisten weiterhin an der Betonung der Wahl fest, ebenso Konzilien und Päpste als Gesetzgeber 12 . Dennoch wurden - vor allem nach Innozenz III. - die der Wahl folgenden Akte, insbesondere Konsekration oder Benediktion und Krönung, allmählich aufgewertet - auch außerhalb des engeren römischen Bereichs: Erst nach dem Vollzug aller Akte durfte der Papst die volle Bleibulle verwenden und feierliche Gottesdienste zelebrieren; außerdem durfte er erst danach Suppliken genehmigen und über die Besetzung von Konsistorialpfründen, also Bistümern und Abteien, entscheiden. Je mehr nun gerade diese Tätigkeiten seit Mitte des 13. Jahrhunderts zunahmen, um so bedeutender wurden die liturgischen Akte auch für die exekutive Gewalt des Papstes über die Gesamtkirche. Von Bedeutung waren die der Wahl folgenden Akte aber auch in anderer Hinsicht: für die Präsentation des Papstes in der „Öffentlichkeit" 13 , wichtig gerade in einer weitgehend von Analphabeten bevölkerten Welt. Hierbei müssen wir zwei Veränderungen beachten: die der Reihenfolge der liturgischen Akte und die der Rangfolge bei den beteiligten Würdenträgern. Für den Idealfall einer ungestörten Ordination in Rom sahen die Ordines des 12. Jahrhunderts die Wahl in oder beim Lateran vor; ihr hatten als erste Akte die Inthronisation in der Lateranbasilika und die Inbesitznahme, der possesso, des Lateranpalastes zu folgen. Am darauffolgenden Sonntag sollte der Papst in St. Peter das Pallium empfangen, inthronisiert und konsekriert werden und schließlich, mit der Tiara gekrönt, zum Lateran zurückkehren, wo er das Krö-

11 X 1.6.6 (wie Anm. 8):... ille absque ulla exceptione ab universali ecclesia Romanus pontifex habeatur, qui a duabus partibus concordantibus electus fuerit et receptus .... 12 Dazu und zum Folgenden B e n s o n , Bishop Elect (wie Anm. 9), S. 150 ff.; B. S c h i m m e l p f e n n i g , Die Krönung des Papstes im Mittelalter dargestellt am Beispiel der Krönung Pius'II. (3. 9. 1458), in: Q F I A B 54 (1974), bes. S. 250 ff.; C. G. F ü r s t , „Statim ordinetur episcopus", in: Ex Aequo et Bono. Willibald M. Plöchl zum 70. Geburtstag (1977), S. 45-65; W. I m k a m p , Das Kirchenbild Innocenz' III. (1198-1216) (1983), S. 307 ff., 311 ff. 13 Vgl. dazu S c h i m m e l p f e n n i g , Die Krönung (wie Anm. 12), S. 202-246.

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution? nungsmahl hielt. Die Präzedenzen beim Krönungszug ließen den Palastklerus - darunter als ranghöchste die Kardinaldiakone - direkt vor dem Papst einherziehen, während die anderen Kardinäle und erst recht die auswärtigen Prälaten vom Papst weiter entfernt waren. Die Reihenfolge der Akte und die Präzedenzen zeigen deutlich, daß im Zeremoniell der Papst immer noch in erster Linie Bischof und Herr der Stadt Rom war. Anders im 13. Jahrhundert! Nach dem Tode Innozenz' III. (1216) wurden die meisten Päpste außerhalb Roms gewählt und gekrönt. Spezifisch römische Akte wie die Inthronisationen, der Krönungszug und der possesso konnten demzufolge höchstens nachträglich vollzogen werden und daher kaum eine konstitutive Bedeutung besitzen. Doch nicht nur historische Fakten sorgten für das geringere Gewicht Roms, sondern auch eine veränderte Sicht der päpstlichen Stellung, die vielleicht schon unter Innozenz III. wirksam wurde. In den Ordines des 13. Jahrhunderts sind nämlich die Präzedenzen erheblich verändert: Fortan gingen alle drei Gruppen der Kardinäle unter Hervorhebung der Kardinaldiakone dem Papst unmittelbar voraus, vor ihnen ritten die Prälaten, während die Repräsentanten Roms und des Palastklerus außer den Kardinaldiakonen - sich an der Spitze des Zuges befanden. Direkt hinter dem Papst - somit als seine engsten Mitarbeiter erkennbar - folgten die wichtigsten kurialen Funktionsträger, soweit sie keine Kardinäle waren. Aus der veränderten Reihenfolge geht deutlich hervor, daß nun der Papst nicht mehr so sehr der Bischof Roms, sondern vor allem der Leiter der Universalkirche war. Die besonders seit dem 11. Jahrhundert veränderte Position des Papstes wurde nunmehr auch im liturgischen „Spiel" sichtbar allen Anwesenden vor Augen geführt. Je mehr aber der Papst fortan alle anderen Christen überragte, desto schwerer waren drei Probleme zu lösen: die Absetzung oder der freiwillige Rücktritt eines Papstes sowie die Regelung der Kompetenzen während einer Sedisvakanz. Gerade diese Probleme verweisen auf „the pope's two bodies": das transpersonale Papstamt und die sterbliche Person des Amtsinhabers - übrigens ein Problemkomplex, der bei allen durch Wahlen besetzten Institutionen zu erkennen ist, sofern nicht Designation oder eine andere Bestimmung des Nachfolgers schon zu Lebzeiten des bisherigen Amtsinhabers möglich war. Infolge des Bedeutungsschwundes des Kaisertums seit Heinrich IV. kam, wie auch Friedrich Barbarossa nach 1159 feststellen mußte, eine Korrektion päpstlicher Mißstände durch den Kaiser nicht mehr in Frage. Doch eine klare Alternative gab es nicht, denn die Rolle eines

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Generalkonzils als mögliche Gerichtsinstanz blieb umstritten14 - und dies aus mehreren Gründen. Das Haupthindernis bildete der gerade seit dem 11. Jahrhundert wieder häufig zitierte Satz der symmachianischen Fälschungen: Papa a nemine est iudicandus, mit dem Zusatz nisi deprehendatur a fide devius (D. 40 c. 6). Denn selbst wenn sich ein Papst als Häretiker erweisen sollte, bestand das Problem, ob ein Konzil die Häresie nachweisen und richten dürfe oder ob der Papst dann automatisch aufhöre, Papst zu sein, bzw. sich selbst richten müsse. Für die zweite Variante blieb vollkommen ungelöst, was dann zu passieren hätte. Bei der ersten hingegen war die Frage offen, ob das notwendige Konzil ein anderer als der, potentiell häretische, Papst einberufen könne. Für ein weiteres Hindernis hatte Clemens III. gesorgt: Seine Dekretale Innotuit15 stellte Schmähreden gegen die römische Kirche, damit auch Kritik am Papst, unter schwere Strafe. Aus all dem folgte, daß der Papst auch bei der Ausformung der Degradation als schwerster Kirchenstrafe bis hin zum Beginn des Großen Schismas von 1378 ausgespart blieb16. Nicht minder ungelöst war lange Zeit das Problem, ob ein Papst freiwillig resignieren dürfe17. Zwar billigten die meisten Dekretisten und frühen Dekretalisten dem Papst das Recht auf Rücktritt zu; doch mußte er dafür hinreichende Gründe nennen, seine Abdankung durfte der Kirche nicht zum Schaden gereichen. Die Abdankung habe vor den Kardinälen oder, als subsidiärer Instanz, vor einem Konzil zu erfolgen. War schon die Stellung der Kanonisten vage, so schienen Historiographen des 12. Jahrhunderts, wie etwa der Kardinal und Papstbiograph Boso, vor der „Neuheit" einer Abdankung zurückzuschrecken. Zumindest rechtlich entschieden wurde die Frage erst 1294 von Cölestin V. anläßlich seines eigenen Rücktritts. Fortan darf ein Papst aus freiem Willen resignieren. Doch zeigte die Reaktion auf den vollzogenen Rücktritt bei Gegnern seines Nachfolgers, Bonifaz' VIII. -

14 Dazu z. B. W . M a 1 e c z e k , Papst und Kardinalskolleg von 1 1 9 1 - 1 2 1 6 (1984), S. 2 7 6 ff. (mit Literatur). 15 X 5.26.1 = F r i e d b e r g 2 (wie Anm. 4), Sp. 826. Vgl. auch O . H a g e n e d e r , Die Häresie des Ungehorsams und das Entstehen des hierokratischen Papsttums, in: R H M i t t 2 0 (1978), S. 2 9 - 4 7 . 16 B. S c h i m m e l p f e n n i g , Die Degradation von Klerikern im späten Mittelalter, in: Zs. f. Religions- u. Geistesgesch. 3 4 (1982), bes. S. 312. 17 M. B e r t r a m , Die Abdankung Papst Cölestins V. ( 1 2 9 4 ) und die Kanonisten, in: Z R G K a n A b t 56 (1970), S. 1 - 1 0 1 ; H . H e r r m a n n , Fragen zu einem päpstlichen A m t s verzicht, in: ebd. S. 1 0 2 - 1 2 3 ; P. H e r d e , Cölestin V, (1294) (Peter von Morrone). D e r Engelpapst (1981), S. 1 2 8 - 1 4 2 .

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution? nämlich bei Spiritualen u. a. - , daß die Unerhörtheit einer solchen Tat und der mögliche Schaden für die Kirche weiterhin als Argumente gegen die Möglichkeit eines Rücktritts vorgebracht wurden. Gerade seine einzigartige, hohe Position machte den Papst als Amtsinhaber also in gewisser Weise unfrei - eine Ansicht, die zur gleichen Zeit auch bei den ersten Formulierungen der päpstlichen Unfehlbarkeit deutlich wurde 18 , denn diese sollten einen neuen Papst auf die Entscheidungen seiner Vorgänger verpflichten und schränkten damit seine „Souveränität" ein. Cölestin V. war im Juli 1294 nach einer Sedisvakanz von zwei Jahren und drei Monaten gewählt worden. Auch schon vorher war die Kirche mehrmals längere Zeit ohne Papst gewesen: vor Innozenz IV. ein Jahr und sieben Monate (1241/43), vor Clemens IV. vier Monate (1264/65), vor Gregor X . zwei Jahre und neun Monate (1268/71) - nimmt man dessen Konsekration (27. 3. 1272) als Datum, sogar drei Jahre und vier Monate - , vor Nikolaus III. sechs Monate (1277), vor Martin IV. gleichfalls sechs Monate (1280/81). Auch im frühen 14. Jahrhundert gab es zwei längere Vakanzen vor den Krönungen Clemens' V. (1304/05: ein Jahr, vier Monate) und Johannes'XXII.(1314/16: zwei Jahre, gut vier Monate). Bedenken wir, daß gerade seit Innozenz III. die Rechte, damit aber auch die Aufgaben des Papstes zugenommen hatten - verstärkte Tätigkeit von Legaten, Besetzung von Bistümern, Abteien und Pfründen, Führen von Prozessen, Konzedierung von Dispensen oder Ablässen, Leitung des Kirchenstaates - , so mußte das Problem gelöst werden, ob und in welchem Ausmaß eine Interimsregierung den Papst vertreten konnte. Wie dringlich eine Lösung war, hatte der Klerus in Frankreich und England zu spüren bekommen, als ihn während der Sedisvakanz vor Cölestin V. die Könige Philipp IV. und Eduard I. für Kriegszwecke besteuert hatten 19 . Im Gegensatz zur byzantinischen Epoche des Papsttums, als die Spitzen von Verwaltung und Klerus der Primicerius der Notare, Archidiakon und Archipresbyter - die Geschäfte interimistisch führten 20 , mußte jetzt eine Regelung Folgen für die Gesamtkirche haben. Weil vor allem Kardinalkolleg und Kämmerer

18 B. T i e r n e y , Origins of Papal Infallibility 1 1 5 0 - 1 3 5 0 . A Study on the of Infallibility, Sovereignty, and Tradition in the Middle Ages (1972), S. 93 ff.; tisch A . M. S t i c k 1 e r , in: C a t h H R 6 0 (1974), S. 4 2 7 - 4 4 1 . 19 Vgl. z. B. H . J e d i n (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte III S. 3 3 9 ff. 2 0 Vgl. z. B. E . C a s p a r , Geschichte des Papsttums 2 (1933), S. 324 G. J. E b e r s (Hrsg.), Der Papst und die Römische Kurie. I. Wahl, Ordination nung des Papstes (1916), S. 1 0 - 2 0 (Texte).

Concepts dazu kri2 (1968), ff. u. ö.; und K r ö -

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als Regenten in Betracht kamen, gewinnen wir mit dieser Frage zugleich erste Einblicke in die Tendenzen zur Institutionalisierung der Kurie 21 . Schon während der ersten langen Sedisvakanz von 1241 bis 1243 schrieben sieben Kardinäle an einen englischen Abt und reklamierten für sich die päpstliche potestas für die Dauer der Vakanz. Mattheus Paris, der den Brief überlieferte 22 , hielt diesen Anspruch für berechtigt. Der berühmte Hostiensis, der kurz nach der Wahl Gregors X. 1271 starb und seine Lectura zu den Dekretalen wohl während der vorausgegangenen langen Sedisvakanz vollendete, kam zu dem selben Schluß 23 : „Also scheinen die Kardinäle jene potestas, jene iurisdictio über die gesamte Christenheit zu besitzen wie auch der Papst", allerdings nur, insoweit bestimmte Fälle nicht der excellentia, dignitas et eminentia ac praerogativa des Apostolischen Stuhls reserviert seien. Diese Einschränkung war wichtig, denn sie bedeutete, daß in der Praxis die Macht der Kardinäle für die Gesamtkirche von geringem Gewicht war. Dies zeigt auch ein Register des päpstlichen Kammernotars Bassus aus jener Zeit, das glücklicherweise weitgehend erhalten ist. Es enthält unter anderem Wahldekrete von Spanien bis Polen, die zur späteren Regelung durch einen neuen Papst registriert wurden. Die Einträge zeigen, daß das Kardinalkolleg sich nicht die Befugnis zusprach, auswärtige Wahlen zu konfirmieren oder zu verändern. Vielmehr beschränkten sich die Tätigkeiten des Kollegs auf Routinegeschäfte, die vor allem der Finanzierung und dem Weiterbestehen des kurialen Apparats dienten. Im Grunde genommen stärkten sie damit nur den Rücken des Kämmerers, der die Verhandlung mit Bankiers und Kommunen führte, die Versorgung der Kurie leitete und auch für das Weiterbestehen des Regiments im Kirchenstaat sorgte. Weil der Kämmerer auch die Durchführung des Konklave beaufsichtigte, war er es letzten Endes, der tatsächlich die meisten Geschäfte während der Sedisvakanz kontrollierte. Wenige Jahre später war die Macht der Kardinäle rechtlich noch

21 Zum Folgenden vgl. bes. N . K a m p , Una fonte poco nota sul conclave del 1268-1271: I protocolli del notaio Basso della camera apostolica, in: Atti del convegno di studio VII centenario del 1° conclave (1268-1271) (1975), S. 63-68; M. D y k m a n s , Les pouvoirs des cardinaux pendant la vacance du Saint Siège d'après un nouveau manuscrit de Jacques Stefaneschi, in: ASRSP 104 (1981, ersch. 1983), S. 119-145. Vgl. auch unten, Anm. 29 u. 34. 22 Mattheus Paris, Chronica majora (Rolls series 57, 4), S. 250-252; D y k m a n s (wie Anm. 21), S. 132. Vgl. schon Huguccio, in M a l e c z e k , Papst und Kardinalskolleg (wie Anm. 14), S. 271 Anm. 136! 2 3 H o s t i e n s i s in D y k m a n s

( w i e A n m . 2 1 ) , S. 1 3 2 f.

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution?

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weiter eingeschränkt. Der zweite Canon 24 des 2. Lyoner Konzils von 1274 verbot, daß die Kardinäle während des Konklave von auswärts Briefe erhielten. Außer für die Wahl dürften sie nur dann aktiv werden, wenn der Kirche unmittelbare Gefahr drohe und sie sich darüber einig seien. Damit hingen sie faktisch von der Entscheidung des Kämmerers ab, der den Zugang zum Konklave, somit auch die an der Kurie eintreffenden Schreiben und Nachrichten, kontrollierte. Allerdings hatte Gregor den Konzilbeschluß nur gegen den Widerstand vieler Kardinäle durchsetzen können. Und als Karl von Anjou als römischer Senator die Konklaveordnung 1276 brutal durchgeführt hatte, hoben der neue Papst Hadrian V., dann noch im selben Jahr sein Nachfolger, Johannes XXI., das Konzilsdekret wieder auf. Erst Cölestin V. setzte es 1294 mit zwei Bullen erneut in Kraft 25 . Seitdem blieb es rechtskräftig. Interessant sind einige der Ausführungen Cölestins: In seiner ersten Bulle verwies er auf die infolge einer langen Sedisvakanz der universalen Kirche drohenden Gefahren; damit verneinte er auch indirekt eine papstgleiche Stellung der Kardinäle. In der zweiten Bulle deklarierte er, daß die Konklaveordnung gelten solle, wenn ein Papst stirbt, abdankt (!) oder der Apostolische Stuhl auf andere Weise (Absetzung?) vakant wird. Doch trotz der Anordnungen Gregors X. und Cölestins V. blieb die Rolle der Kardinäle weiterhin umkämpft. Für Kanonisten wie Johannes Andreae war die Lage klar 26 : „Die Gemeinschaft der Kardinäle übt während der Sedisvakanz nicht die päpstliche Jurisdiktion aus, sofern es nicht das Lyoner Konzil erlaubt; und sie kann es [d. h. das Konzilsdekret] oder einen Teil davon nicht verändern". Damit schloß er sich dem Tenor von Clemens' V. Dekretale Ne romani an. Dieser hatte auf den Lebenskomfort hebende Veränderungen der Konklaveordnung durch die 1304/05 in Perugia versammelten Kardinäle negativ reagiert27. Es gab demnach - wie schon seit 1274 - eine Diskrepanz zwischen der Position der Päpste und der Kardinäle. Auf das Weiterwirken dieses Interessenkonflikts möchte ich nicht eingehen. Daß aber seine Beseitigung wohl nie völlig möglich sein wird, zeigten noch unlängst wider-

24 Conc. Oec. Decreta (wie Anm. 8), S. 314-318 (= VI 1.6.3: F r i e d b e r g 2 [wie Anra. 4], Sp. 946-949). Vgl. dazu P. H e r d e , Die Entwicklung der Papstwahl im dreizehnten Jahrhundert, in: OAKR 32 (1981), S. 11-41, bes. S. 20 ff. (mit weiterer Lit.). 25 H e r d e (wie Anm. 24), S. 22 ff., 36 ff. (Texte). 26 Zu Clem. 1.3.2 Ne romani. Vgl. auch Glo. ord. zu VI 5.3. c.un., s.v. Sede vacante. 27 D y k m a n s (wie Anm. 21), S. 141 f.

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sprüchliche Formulierungen in der am 1. Oktober 1975 von Papst Paul VI. erlassenen Wahlordnung28. Vielleicht habe ich mich ungebührlich lange mit der Sedisvakanz befaßt. Doch hielt ich deren relativ ausführliche Erörterung aus mehreren Gründen für wichtig: Einerseits wurde daraus deutlich, daß trotz aller überkommenen transpersonalen Vorstellungen und trotz des ewigen Bestehens der sedes apostolica deren reale Auswirkung auf die Universalkirche jeweils nur temporär war - die automatische Sukzession gemäß „le pape est mort, vive le pape" gab und gibt es nicht - ; andererseits wurde jedoch ebenso deutlich, daß einzelne Funktionsträger der päpstlichen Regierung schon in unserer Epoche eine derart hohe Geltung besaßen, daß sie den Versuch wagen konnten, den Papst zu ersetzen. Die Kenntnis von deren Stellung gilt es nun zu vertiefen.

II. Beginnen wir mit den Kardinälen29! Bevor wir vom Kardinalskolleg als institutioneller Einheit sprechen können - und das können wir erst seit dem späteren 12. Jahrhundert - , müssen wir vor allem von drei Gruppen ausgehen: den Bischöfen, Presbytern und Diakonen. Diese unterschieden sich nicht nur hinsichtlich ihres Weihegrades und Ranges, sondern anfangs auch hinsichtlich ihrer Funktionen. Hatten die sieben Bischöfe und 28 Presbyter gegenüber dem Papst vornehmlich liturgische Verpflichtungen, so waren die 18 Diakone vor allem mit administrativen und karitativen Aufgaben betraut und insgesamt dem Palast zugeordnet. Den beiden anderen Gruppen zwar vom Weihegrad her nachgeordnet, überragten sie diese aber an Einfluß und Prestige. Eindeutiges Zeugnis dafür bieten noch die schon genannten Ordines des 12. Jahrhunderts bei der Festlegung der Präzedenzen.

28 Romano pontifici eligendo, in: Acta Apost. Sedis 67 (1975), S. 609-645, bes. S. 612 ff. (De potestate sacri cardinalium collegii Sede Apostolica vacante). Vgl. dazu G. M a y , Das Papstwahlrecht in seiner jüngsten Entwicklung, in: Ex Aequo et Bono (wieAnm. 12), S. 231-262. 29 Vgl. bes. S. K u t t n e r , Cardinalis. The History of a Canonical Concept; Ndr., in: d e r s., The History of Ideas and Doctrines of Canon Law in the Middle Ages (1980), Nr. IX mit Zusätzen (ebd., Retractationes IX, S. 14-18); H. W. K l e w i t z , Reformpapsttum und Kardinalskolleg (1957), S. 10-134; C. G. F ü r s t , Cardinalis. Prologomena zu einer Rechtsgeschichte des Römischen Kardinalskollegiums (1967); R. H ü l s , Kardinäle, Klerus und Kirchen Roms 1049-1130 (1977); M a 1 e c z e k , Papst u n d Kardinalskolleg (wie A n m . 14).

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution? Bereits seit der Karolingerzeit, erst recht seit dem 10. Jahrhundert, waren die drei Gruppen die wichtigsten Repräsentanten des römischen Klerus auf den römischen Synoden; auch päpstliche Legaten stammten gewöhnlich aus ihrer Mitte. Diese kirchliche Bedeutung steigerte sich noch mit der päpstlichen Personalpolitik seit Leo IX., dem daraus erklärlichen Papstwahldekret von 1059 sowie dem Ringen Urbans II. und Clemens' III. um Anhänger unter den Kardinalpriestern und -diakonen. Seitdem bildeten die Kardinäle den wichtigsten Beraterkreis der Päpste. Deren häufige Aufenthalte außerhalb Roms sowie die päpstliche Besetzungspolitik hatten verschiedene Folgen: Die Sollzahl von insgesamt 52 Kardinälen wurde nie mehr erreicht; die Bindung an die Bistums-, Titel- oder Diakoniekirchen war häufig marginal; die römische Bistumssynode wurde abgelöst durch gemeinsame Tagungen von Papst und Kardinälen. Daraus entwickelte sich allmählich das Konsistorium - ursprünglich vor allem eine Gerichtssitzung - , das schließlich seit dem 13. Jahrhundert dreimal wöchentlich zusammentreten sollte. Gerade ihr Wirken im Konsistorium und ihr spätestens seit 1179 fixiertes exklusives Wahlrecht formierte die drei Gruppen allmählich zu einem rechtlich homogenen Kolleg. Dennoch blieben die Ursprünge zum Teil auch weiterhin wirksam. Der Bischof von Ostia war als rangerster Kardinalbischof nicht nur weiterhin der Hauptkonsekrator des Papstes, sondern auch der Dekan des Kollegs. Noch deutlicher zeigt sich die Tradition bei den Kardinaldiakonen. Wie ich schon ausführte, blieben sie im Zeremoniell auch nach der Änderung der Präzedenzen seit Innozenz III. die dem Papst als nächste zugeordnete Gruppe. Ihr Prior fragte den Papst nach seinem neuen Namen, verkündete das Wahlergebnis, legte dem Neugewählten das Pallium - das Zeichen der bischöflichen Autorität - um, krönte ihn mit der Tiara und ordnete alle Prozessionen, somit auch die Rangordnung. Schon in diesen Funktionen Nachfolger des früheren Archidiakons, konnten einzelne Prioren auch dessen realen Einfluß ausüben, wie noch im 14. Jahrhundert Napoleon Orsini 30 . Doch auch das Kolleg insgesamt konnte seine Position weiter verstärken: Schon Päpste des 12. Jahrhunderts revozierten Bullen, weil sie nicht die Zustimmung der Kardinäle gefunden hatten. Noch früher hatte es sich eingebürgert - vielleicht gewünscht von den Petenten - , daß wichtige Privilegien von

30 J. A s a 1, Die Wahl Johanns XXII: Ein Beitrag zur Geschichte des avignonesischen Papsttums (1910); C. A. W i 11 e m s e n , Kardinal Napoleon Orsini (1263-1342) (1927).

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Kardinälen unterschrieben wurden; allerdings blieb umstritten, ob die Unterschriften für die Rechtsgültigkeit notwendig waren. Gleichfalls seit dem 12. Jahrhundert wurden hohe Richter, der Leiter der Kanzlei, manchmal der Kämmerer, später auch der Großpönitentiar aus den Reihen der Kardinäle genommen - dazu gleich noch mehr. Ihren auch auswärts anerkannten hohen Rang machte schließlich Innozenz IV. dadurch sichtbar, daß er ihnen erlaubte, Hüte mit dem bisher dem Papst vorbehaltenen Purpur zu tragen 31 . Nikolaus IV. beteiligte sie zur Hälfte an den Einnahmen aus dem Kirchenstaat; bald darauf kam ihnen auch die Hälfte der Servitien zugute 32 . Bereits als „Säulen der Kirche" gefeiert und - wie geschildert - um eine papstgleiche Stellung während einer Sedisvakanz bemüht, galten sie schließlich spätestens im frühen 14. Jahrhundert in Anklang an den spätantiken Senat als pars corporis papei3. Das Kardinalkolleg hatte demnach im hohen Mittelalter nicht nur neue Aufgaben und Rechte errungen, sondern sich auch als wichtigstes Mitarbeitergremium des Papstes fest etabliert.

III. Wenden wir uns jetzt endlich der Kurie zu! Dazu möchte ich gleich zu Beginn eines betonen: Ich werde mich vor allem auf einige Thesen beschränken, denn die Geschichte der päpstlichen Kurie 34 ist zu kompliziert, als daß ich sie in allen wichtigen Details darstellen könnte.

31 H e r d e , Die Entwicklung der Papstwahl (wie Anm. 24), S. 11-41. 32 Nikolaus IV.: Coelestis altitudo, in: A. T h e i n e r (Hrsg.), Codex diplomaticus dominii temporalis S. Sedis 1 (1861), Nr. 468 S. 304 f. Vgl. auch H. H o b e r g, Taxae pro communibus servitiis (1949), S. IX ff. 33 Glo. ord. zu Extrav. Joh. XXII 3.c.un. (Execrabilis quorundam), s.v. Sublimitatem eorum. Zur Stellung der Kardinäle vgl. auch J. A . W a 1 1 , The Theory of Papal Monarchy in the XIII Century (1966). Vgl. aber schon Innozenz III. 1199 ( M a 1 e c z e k [wie Anmn. 14], S. 283): Kardinäle = m e m b r a c o r p o r i s n o s t r i . 34 Zur Kurie vgl. außer oben Anm. 21 z. B. K. J o r d a n , Die Entstehung der römischen Kurie. Ein Versuch (Mit Nachtrag) (1973); B. R u s c h , Die Behörden und Hofbeamten der päpstlichen Kurie des 13. Jahrhunderts (1936); E. G ö 11 e r , Die päpstliche Pönitentiarie von ihrem Ursprung bis zu ihrer Umgestaltung unter Pius V. I 1/2 (1907/11); E. P i t z , Die römische Kurie als Thema der vergleichenden Sozialgeschichte, in: QFIAB 58 (1978), S. 216-359; F. B a e t h g e n , Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der päpstlichen Hof- und Finanzverwaltung unter Bonifaz VIII., in: QFIAB 20 (1928/29), S. 114-237; M. D y k m a n s , Les transferts de la curie romaine du XIIIe au XV e siècle, in: ASRSP 103 (1980), S. 93-116; P. H e r d e , Beiträge zum päpstlichen Kanzlei- und Urkundenwesen im 13. Jahrhundert (21967); D e r s ., Audientia litterarum contradictarum, 2 Bde. (1970); B. S c h w a r z , Die Organisation kurialer Schrei-

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution? Die Schwierigkeit der Darstellung resultiert aus folgenden Gegebenheiten: 1. Zu Beginn unseres Zeitraums, also um 1100, konkurrierten zwei Gruppen von Funktionsträgern miteinander: die der überkommenen, aus der Stadt Rom rekrutierten und auf den Lateranpalast orientierten Offizialen sowie die der neuen Kurie. Von einer sofortigen Dominanz der neuen Kurie kann nicht die Rede sein. Vielmehr hing das Ubergewicht der einen oder anderen Gruppe davon ab, ob sich der päpstliche Hof in Rom und dessen Umgebung oder in anderen Gebieten aufhielt, wie das Verhältnis zwischen Papsttum und römischer Kommune oder wie stark das Gewicht einzelner Persönlichkeiten waren. 2. Auch mit dem Dominieren der Kurialen vor allem seit Alexander III. wurde die Sache nicht einfacher, denn neue Funktionsbereiche entstanden, schon ältere verfestigten und differenzierten sich, so daß eigentlich eine zutreffende Beschreibung des jeweiligen Zustandes - auch wegen der besseren Quellenlage - erst für die Avignoneser Periode möglich ist. 3. Es gab in vielen Bereichen keine feste Umschreibung der Kompetenzen, vielmehr häufig sachliche und personelle Überschneidungen. 4. Diese wurden dadurch verursacht oder vertieft, daß viele Funktionsträger in einem klientelartigen Verhältnis zu ihrem Auftraggeber standen oder - wie die Skriptoren - zunftartig organisiert waren. 5. Daher ist es unzulässig, das moderne Verständnis von Behörden und Beamten auf die Kurie des hohen Mittelalters zu übertragen. 6. Abgesehen von der relativen Quellenarmut wird eine Analyse auch noch dadurch erschwert, daß viele Begriffe mehrdeutig sind: camerarius kann z. B. d e n päpstlichen Kämmerer, aber auch e i n e n päpstlichen Kammerherrn bezeichnen; Termini wie camera, cancellaria, capella/capellanía usw. können den Ort einer Handlung, einen bestimmten Personenkreis und einen bestimmten Aufgabenbereich meinen. 7. Eine wichtige Zäsur brachte der Pontifikat Innozenz' III. Doch bedeute das nicht in allen Fällen, daß dieser Papst neue „Ämter" schuf oder umorganisierte, sondern manchmal nur, daß wir seit seiner Zeit mehr über einzelne Offizialen erfahren. Konzentrieren wir uns auf die Kurie, so gab es im frühen 12. Jahrhundert - analog zu den westlichen Königshöfen - drei Bereiche: die Kanzlei, die Kapelle und die vier Hofämter (Kämmerer, Marschall oder Seneschall, Truchseß und Mundschenk), von denen ich die Kapelle vorerst beiseite lassen möchte.

berkollegien (1972); M a 1 e c z e k , Papst und Kardinalskolleg (wie Anm. 14), S. 347 ff. (betr. Kanzler und Vizekanzler).

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Wegen der Quellen und wegen des Arbeitsanfalls ist die Institutionalisierung bei der Kanzlei am besten dokumentiert. Als Leiter fungierte im 12. Jahrhundert der Kanzler, der gewöhnlich Kardinal war. Denken wir an Kanzler wie Johann von Gaeta (späterer Gelasius II.), Haimerich oder Roland (späterer Alexander III.), so könnte es zutreffen, daß zumindest in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts der Kanzler qua Amt eine große Rolle gespielt hat. Wurde ein Kanzler zum Papst gewählt, so konnte er - wie Alexander III. oder Gregor VIII. die Geschäfte des Kanzlers weiterführen. Für die Geschäftsführung wichtig waren die dem Kanzler unterstellten Notare; von diesen leitete wohl seit 1187 gewöhnlich auch jeweils einer die Kanzlei, denn einen Kanzler gab es meist nicht mehr. Wohl weil Cencius als Kämmerer u n d Leiter der Kanzlei unter Cölestin III. zu sehr dominiert hatte, wurde er von Innozenz III. entmachtet. Dieser ernannte gewöhnlich keinen Kanzler, sondern nur einen Stellvertreter. Seitdem leitete der Vizekanzler die Kanzlei. Meist war er im 13. Jahrhundert kein Kardinal, sondern der primus inter pures im Kreis der Notare. Im Gegensatz zu den früheren päpstlichen Kanzlern oder den zeitgenössischen Kanzlern in Deutschland, England und Frankreich hing die kirchenpolitische Bedeutung des Vizekanzlers nicht mehr so sehr von seinem Amt ab, sondern von seiner Persönlichkeit. Neue Offizialen der Kanzlei waren wohl seit Innozenz III. der cor-

rector und der Kanzleirichter (der auditor litterarum

contradictarum).

Sie alle leisteten dem Papst den Treueid und bildeten die eigentliche cancellaria als relativ fest formierte Gruppe. Doch für die Amtsgeschäfte der Kanzlei genügten sie nicht. Vielmehr gab es noch andere Funktionsträger von unterschiedlichem Status: Der Kanzleitätigkeit dienend, aber dem Kämmerer unterstellt waren die Bullatoren, später auch die Registratoren; die Abbreviatoren waren wohl gewöhnlich Famiiiaren der einzelnen Notare, also von diesen persönlich abhängig; die Skriptoren schließlich unterstanden zwar dem Vizekanzler als Dienstherrn, waren aber - wie schon erwähnt - zunftmäßig organisiert und besaßen das Monopol für alle von der Kanzlei zu vergebenden Reinschriften. Manche Kleriker waren zugleich Skriptoren, also Kollegmitglieder, und Abbreviatoren, also Famiiiaren eines Notars. Schließlich seien noch die Prokuratoren genannt: als Sachwalter für auswärtige Petenten tätig, wurden sie zwar vom Vizekanzler kontrolliert, waren aber eher an der Kurie akkreditierte Lobbyisten. Vielleicht aufgrund der Tätigkeit der früheren Kanzler auch als Richter unterstanden dem Vizekanzler außerdem die Auditoren, also die Kurien-

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution? richter, die sich allmählich zu einem Kolleg - der audientia publica bzw. Rota - zusammenschlössen. Wer nicht dem Vizekanzler unterstand, hatte den Kämmerer zum Personalchef. Dieser kontrollierte außerdem die kurialen Einnahmen und Ausgaben, Bibliothek und Archiv sowie - wohl im Zusammenhang mit den Einnahmen - den Kirchenstaat, wo er eigenständig Zahlungsunwillige exkommunizieren durfte. Wahrscheinlich war der Kämmerer auch für die politische Korrespondenz verantwortlich. Für seine vielen Aufgaben hatte er Kleriker zur Verfügung, die - analog zum Verhältnis Notar/Abbreviator - lange wohl zu seiner familia gehörten und sich erst etwa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts verselbständigten und allmählich zu dem hoch angesehenen Kolleg der clerici camere zusammenschlössen. Etwa seit der gleichen Zeit gab es einen, später zwei Thesaurare für die Kurie und andere Thesaurare in den Provinzen des Patrimonium Petri sowie Kammernotare, Ende des Jahrhunderts auch einen Richter und einen Anwalt der Kammer. Wie der Vizekanzler war der Kämmerer zumindest im 13. Jahrhundert selten Kardinal. Damit sollte wohl eine zu große Selbständigkeit des Amtes verhindert werden. Ahnlich dem Kämmerer, wenn auch erst im 13. Jahrhundert, wurde ein anderes Hofamt zu einer eigenständigen Institution: das des Marschalls. Oft ein päpstlicher Nepot, leitete der Kurienmarschall das päpstliche Heer und den Gerichtshof für kriminelle Vergehen von Kurialen und an der Kurie weilenden Laien. Hingegen wurden zur gleichen Zeit die anderen älteren Hofämter umgewandelt in die quasi „jüngeren" Hofämter der coquina, panataria, buticularia und marescallia. Weil es im 13. Jahrhundert noch keine Geldbesoldung gab, sondern die Kurialen mit Lebensmittelrationen vergütet wurden, verwalteten die vier neuen Hofämter noch unter Bonifaz VIII. gut 60 Prozent der kurialen Ausgaben. Kontrolliert wurden sie vom Kämmerer, ebenso die verschiedenen Gruppen der Kursoren, Torhüter und Leibwachen. Neu im 13. Jahrhundert war schließlich noch der Funktionsbereich der Pönitentiarie. Schon deren Herausbildung macht deutlich, wie aus dem persönlichen Umfeld des Papstes - und zwar des Papstes als sterbliche Person - neue Ämter, somit Institutionen mit transpersonalen Tendenzen, entstehen konnten. Ursprünglich fungierte der poenitentiarius wohl nur als Beichtvater des Papstes, der Kardinäle und der höheren Kurialen. Etwa seit Innozenz III. jedoch übernahm er auch, gewissermaßen als pars corporis pape, amtliche Aufgaben: die Ausstellung von Absolutionen, Dispensen, Ablässen etc. Er war gewöhnlich Kardinal - daher der Begriff „Kardinalgroßpönitentiar" - und wurde bald von anderen Pönitentiaren unterstützt, deren Aufgabe an-

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fangs ausschließlich und längere Zeit auch noch als Nebenpflicht das Beichthören in den römischen Hauptbasiliken war. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts arbeiteten auch Schreiber für die Pönitentiarie, die sich mit der Zeit nach dem Vorbild der Kanzleiskriptoren zu einem zunftähnlichen Kolleg zusammenschlössen. Wie lange der Großpönitentiar auch noch als Beichtvater wirkte, ist ungewiß. Jedenfalls gab es im frühen 14. Jahrhundert eigens den päpstlichen confessor, aus dessen schillerndem Betätigungsfeld sich später die Amter des Sakristan, des anrüchigen Datars und des Bibliothekars heraussonderten. Mit dem Pönitentiar und dem confessor habe ich die kuriale „Grauzone" angesprochen, zu der mehr oder weniger stark noch drei andere Gruppen oder Phänomene gehörten: die Kapelle, die familia und der Nepotismus. Mit heute vorteilhaften „Seilschaften" (Studentenverbindung, „Opus Dei" etc.) oder dem Parteifilz darf man diese Gruppierungen nicht verwechseln, denn sie waren überhaupt nicht anrüchig, sondern offiziell geachtet und in gewisser Hinsicht gleichfalls institutionalisiert. Insofern ist auch der Ausdruck „Grauzone" lediglich ein Behelf, der Zwischenstufen im Prozeß der Institutionalisierung aufzeigen soll. Beginnen wir mit der Kapelle35! Deren Mitglieder waren lange Zeit oft nur Subdiakone - dadurch immerhin zum Zölibat verpflichtet - , so daß bis ins 13. Jahrhundert hinein die Bezeichnung capellanus oder subdiaconus pape häufig Synonyme waren. Vom Papst ernannt, dem Kämmerer unterstellt, fungierten die capellani qua Amt als liturgische Assistenten in den päpstlichen Privatgottesdiensten und häufig als Tischgenossen des Papstes. Demzufolge gehörten sie zu seiner engeren Umgebung. Diese Vertrauensstellung sorgte für hohes Ansehen - bis zu Innozenz IV. unterschied sich die Kleidung der Kardinäle nicht von der der capellani - und meist auch für eine gute Karriere. Gewöhnlich waren die Auditoren, häufig auch die höheren Chargen der Kanzlei und Kammer capellani; auch viele Kardinäle hatten ihre Karriere als capellani begonnen. Verständlich, daß sich untere Chargen um Mitgliedschaft in der Kapelle bemühten. Auch für eine Anwartschaft auf ein Bistum war der Status als capellanus günstig, vor allem seit dem späteren 13. Jahrhundert. Und in der Kirchenpolitik wirkten capellani häufig als Nuntien. Kurzum: die eigentlich auf liturgische Funktionen

35 Zur Kapelle vgl. R. E l z e , Die päpstliche Kapelle im 12. und 13. Jahrhunden, in: Z R G K a n A b t 3 6 (1950), S. 1 4 5 - 2 0 4 (Nd.: D e r s ., Päpste - Kaiser - Könige und die mittelalterliche Herrschaftssymbolik (1982), N r . II.

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution? fixierte capella war das wichtigste Reservoir für vom Papst beeinflußbare Karrieren. Kaum weniger wichtig war die familia36. Sie stellte ein enges Verhältnis zum Patron her, begünstigte also gleichfalls die Karriere. Wie jeder höhere Kuriale oder Kardinal hatte auch der Papst seine familia. Wahrscheinlich gehörten hohe Kuriale wie Kämmerer und Vizekanzler zu ihr. Dank des Status als Familiar des Papstes hatte man auch Anteil an den servitia minuta und bessere Chancen bei der Pfründenvergabe. Deshalb wurde der Titel familiaris pape gern geführt. Wie man ihn erlangte, ist ungewiß. Vielleicht wurde man erst Familiar eines Kapellan, Notars etc., dann eines Kardinals, schließlich des Papstes. Die familia diente einerseits der Rekrutierung von Personen; andererseits stärkte sie deren Status und konnte sie durch die enge Bindung an den Arbeitgeber als Patron das bessere Funktionieren von Dienstleistenden fördern. Jedenfalls war die Patronage wohl wichtiger, als es die Quellen erkennen lassen. Weitere Möglichkeiten - für den Begünstigten wie für den Papst boten noch der Nepotismus 37 oder Freundschaften. Der Nepotismus, wichtig für die Herrschaftssicherung, zeigt sich etwa an den vielen Savelli, Conti, Orsini oder Colonna unter den höheren Kurialen, Kardinälen und Päpsten. Der Freundschaft gedachte z. B. Innozenz III., wenn er seine Pariser Studienfreunde Robert Courson und Stephen Langton zu Kardinälen kreierte. Und natürlich konnten sich Nepotismus/Freundschaft, Status als capellanus und als familiaris in einer Person decken. Wenn schon nicht - wie z. T. im 14. und 15. Jahrhundert - die Institutionalisierung selbst, so ist jedenfalls die Besetzung der Institutionen ohne diese personelle Verflechtung selten möglich gewesen. Systematisierend haben wir demnach zwei Ebenen zu unterscheiden, die sich jedoch in der Realität durchdrangen: auf der einen Seite familia, capella und in vieler Hinsicht auch das Kardinalkolleg, auf der anderen Seite die kurialen Funktionsbereiche - einschließlich der capella, soweit deren liturgische Aufgaben angesprochen werden. Nicht minder kompliziert ist die Gewichtung der verschiedenen of-

36 B. S c h i m m e l p f e n n i g , Päpstliche Familia, in: L e x M A 4 (1987), Sp. 256 (mit Lit.); R u s c h (wie A n m . 34), S. 77 ff. 3 7 W . R e i n h a r d , Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten, in: Z K G 86 (1975), S. 1 4 5 - 1 8 5 .

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ficia3S: Für den Auswärtigen waren sicherlich die Kanzlei, die Audientien, später auch die Pönitentiarie, sowie die evtl. zu bestechenden Kardinäle und Türhüter am wichtigsten. Der einzelne Kuriale merkte täglich die Abhängigkeit von den Hofämtern oder vom Vizekanzler bzw. Kämmerer, geriet vielleicht mit den Bütteln des Justizmarschalls in Konflikt oder ärgerte sich über einen Kollegen, der einen höher gestellten Patron hatte als er selbst. Für den Papst schließlich dürfte der Kämmerer nebst Kammerklerikern und Thesaurar am wichtigsten gewesen sein. Sie mußten sich - auch auf Reisen - immer in seiner unmittelbaren Umgebung aufhalten, bewohnten mit ihm denselben Turm. Daher ernannte ein neuer Papst immer auch einen neuen Kämmerer, während andere hohe Kuriale wie etwa der Großpönitentiar - von den lebenslänglich inkorporierten Skriptoren ganz zu schweigen - gewöhnlich im Amte blieben. So wichtig also der Kämmerer während der Sedisvakanz war: nach der Wahl verlor er, Zumindestens theoretisch, seine Stelle, im Gegensatz zu den von ihm während des Konklave mehr oder weniger streng beäugten Kardinälen. Im 14. Jahrhundert gehörte allerdings das Amt des Kämmerers - im Gegensatz zu dem des Vizekanzlers - zu den officio, perpetua39. Fazit: Verstehen wir unter „Institutionalisierung" die Verfestigung von Funktionsbereichen, so war das Papsttum ohne Zweifel in vieler Hinsicht eine Institution; allerdings dürfte deutlich geworden sein, daß das Ausmaß der Institutionalisierung hinsichtlich des Papstes, der Kardinäle sowie der verschiedenen Gruppen der Kurialen sehr unterschiedlich war. Ich erinnere nur nochmals an die verschiedenartige Organisation der Kurie in Amtern, Kollegien, Zünften und an die Möglichkeiten der personellen Verflechtung. Gerade deshalb jedoch fällt es mir so schwer, das Papstum insgesamt als Institution exakt zu definieren. Zum Schluß noch ein Zitat: „In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen". Nachdem ich bisher weitgehend Bekanntes, dazu noch verkürzt, von mir gegeben habe, hatte ich eigentlich vor, das eben zitierte PeterPrinzip40 und somit die Methode der von Peter begründeten „Hier-

38 S c h i m m e l p f e n n i g , Papsttum (wie A n m . 5), S. 2 1 1 - 2 1 7 . 39 M . D y k m a n s (Hrsg.), L e cérémonial papal de la fin du m o y e n âge à la Renaissance 3 (1983), S. 268 Z. 14 f. 40 J . P e t e r , Schlimmer geht's immer. Das Peter-Prinzip im Lichte neuerer F o r schung (1985).

Das Papsttum im hohen Mittelalter: eine Institution? archologie" am Beispiel der kurialen Hierarchie zu überprüfen. Die eigene Unfähigkeit sowie der begrenzte Umfang des Beitrages legen es im Augenblick nahe, den geneigten Leser auf ein späteres Mal zu vertrösten.

DIE RÖMISCHE KURIE IM ZEITALTER DES SCHISMAS UND DER REFORMKONZILIEN BRIGIDE SCHWARZ

Die Beziehung zwischen „Entstehung" und „Bestand" von Institutionen einerseits und „Krise" und „Reform" von Institutionen1 andererseits kann man wohl in aller Kürze so formulieren: es wird als idealtypischer Verlauf der Geschichte einer Institution vorausgesetzt, daß einer Phase (mehr oder weniger) gesicherten Bestehens eine Krise folgt, die man durch Reformen bewältigt oder zu bewältigen versucht2. Bernhard Schimmelpfennig handelt in diesem Band über Papsttum und Kurie im hohen Mittelalter und kommt zum Ergebnis, das Papsttum sei „ohne Zweifel in vieler Hinsicht eine Institution", es falle ihm aber schwer, es schon „insgesamt als eine Institution exakt zu definieren" 3 . Diese Feststellung gilt für das Hochmittelalter, das ist hier: bis zum Anfang der avignonesischen Epoche. Die avignonesische Zeit ist - zumal aus dem Blickwinkel der Kuriengeschichte - eine Phase der Festigung der Institution und weiterer Institutionalisierung4. Die darauf folgende Epoche der Papstgeschichte, die mit dem Großen Schisma von 1378 beginnt, wird in der Literatur allgemein als eine Zeit der Krise aufgefaßt 5 . Sicher kann man sie kennzeichnen als eine Zeit der Reform, nicht so sehr der wirklich durchgeführten Reformen als der Reformforderungen, -projekte und -diskussionen, die derart die Menschen erfaßten, daß man geradezu von einer Reform-

1 Vgl. den Beitrag von G. M e 1 v i 11 e in diesem Bande. 2 Siehe die Vorbehalte und Erläuterungen in den Beiträgen von H.-M. B a u m g a r t n e r , } . M i e t h k e und K. S c h r e i n e r in diesem Bande. 3 Vgl. den Beitrag von B. S c h i m m e l p f e n n i g in diesem Bande. 4 B. S c h i m m e l p f e n n i g , Das Papsttum. Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance (1984), S. 225 ff. 5 z. B. H. T ü c h 1 e , s. v. Abendländisches Schisma, in: LexMA, 1 (1980), Sp. 19-22; H.-D. H e i m a n n , Akzente und Aspekte in der deutschen Forschungsdiskussion zu spätmittelalterlichen Krisenerscheinungen, insbesondere im Bereich des geistigen Lebens, n: Europa 1400. Die Krise des Spätmittelalters, hrsg. von F. S e i b t (1984), S. 53-64, hier S. 55 ff.

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Brigide Schwarz

Obsession des 15. Jahrhunderts gesprochen hat (F. Rapp) 6 . Bevorzugte Objekte der Reformforderungen waren Papsttum und Kurie. Krisenhaft, jedenfalls im alltagssprachlichen Sinne des Begriffs, ist ein Schisma auf dem Papstthron in höherem Maße als ein Thronstreit in einer weltlichen Monarchie. Der Kampf zweier Bewerber, die beide mit dem Anspruch auftreten, der rechtmäßige Papst zu sein, mindert die Autorität des Papsttums. Die konkurrierenden Päpste exkommunizieren sich gegenseitig, erklären den Gegner zum Ketzer, führen Kreuzzüge gegen ihn; sie müssen zur Sicherung ihrer Observanz und bei ihrem Werben um Anhänger der Gegenseite um die Gunst weltlicher Gewalten konkurrieren, die sie durch Zugeständnisse erkaufen müssen. Das alles gilt in besonderem Maße für das Große Schisma von 13787. Es traf die Kirche unerwartet, weil man nach Perfektionierung des Wahlverfahrens die Möglichkeit von Schismen ausgeschlossen glaubte 8 . Dieses Schisma dauerte länger, erfaßte wesentlich weitere Kreise und wurde v. a. deshalb als bedrohlicher empfunden als frühere, weil inzwischen die Kirche dogmatisch und juristisch auf dem Papsttum aufbaute. Schisma-Krise und Reform hingen so zusammen, daß den Zeitgenossen Reformen dringend notwendig erschienen, um die Krise der Kirche, als deren Symptom man das Schisma ansah, zu überwinden (ironischerweise wurde die Krise des Schismas, die zu einer solchen Entfaltung des Reformeifers führte, herbeigeführt durch den Reformeifer, den Papst Urban VI. der päpstlichen Kurie zuwandte) 9 . Die Reformdebatte wurde institutionalisiert durch Zuweisung der Reform - wor-

6 F. R a p p , L'église et la vie religieuse en occident à la fin du moyen âge (= Nouvelle Clio 2 5 , 1 9 8 0 2 ) , S. 208. 7 Lit. zum Großen Schisma s. S c h i m m e l p f e n n i g (wie A n m . 4), S. 330 ff. 8 Das letzte Schisma - das von 1 3 2 8 - 1 3 3 0 Nikolaus (V.) contra Johann X X I I . kann hier außer Betracht bleiben - lag 200 Jahre zurück. Einen Uberblick über die Geschichte der Papstwahl bietet H. F u h r m a n n , Die W a h l des Papstes. Ein historischer Uberblick, in: G W U 9 (1958), S. 7 6 2 - 7 8 0 . - Über den Ausbruch des G r o ß e n Schismas s. ausführlich: Genèse et débuts du Grand Schisme d'Occident ( 1 3 6 2 - 1 3 9 4 ) (= Colloques Internationaux du Centre National de la recherche scientifique 586, 1980). - Wahltechnisch w a r diesmal ein Schisma noch weniger zu erwarten als sonst, weil - offenbar angesichts der verhärteten Fronten im Kardinalskolleg - Gregor XI. am Ende seines Lebens noch die Papstwahlordnung geändert hatte zugunsten der einfachen Mehrheit. Vgl. M. D y k m a n s , La bulle de Grégoire X I à la veille du Grand Schisme, in: M E F R M 89 (1977), S. 4 8 5 - 4 9 5 . 9 Das betonen die Aufsätze von E. P a s z t o r , L a curia Romana all'inizio dello Scisma d'Occidente, in: Genèse (wie A n m . 8), S. 3 1 - 4 4 , hier: S. 33 ff. und B. G u i l 1 e m a i n , Cardinaux et société curiale aux origines de la double élection de 1378, in: ebd., S. 1 9 - 3 0 , hier: S. 20.

Die römische Kurie im Zeitalter des Schismas

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unter v. a. verstanden wurde die reformatio in capite et curia10 - an das zur Beendigung des Schismas einberufene Konstanzer Konzil, das wiederum aus dem Blickwinkel der Päpste geeignet schien, die monarchische Leitung der Kirche durch den Papst zu gefährden 11 und dadurch die Krise zu verschärfen. Die Breite und Intensität der durch die Konzilien institutionalisierten Reformdiskussion 12 ist ein Anzeichen für die Verbreitung der Anschauung, daß das Papsttum im allgemeinen und die päpstliche Kurie im besonderen in hohem Maße kritik- und reformbedürftig seien. Ist „kritik- und reformbedürftig" gleichbedeutend mit „in einer Krise befindlich", gemäß dem hier vorausgesetzten idealtypischen Verlauf Krise - Reform, oder genauer: Krise - Kritik - Reformdruck - Reform? Handelt es sich um eine sogenannte „Akzeptanzkrise", die etwa die Vorstufe einer manifesten Krise der Institution wäre? Wie ist der Zusammenhang zwischen Reformforderungen und Zustand der Institution: sollten ernsthafte Mängel an Funktionsfähigkeit (Dysfunktion, Kompetenzdefizite) der Institution durch Reformen abgestellt werden? Und wieweit wurden sie tatsächlich abgestellt? Das sind Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind angesichts der Bedeutungsbreite des Begriffs Krise von der klassischen - der medizinischen, juristischen oder militärischen - Bedeutung bis zur fast beliebigen Ausdehnung auf schwierige Situationen aller Art 13 . Ich möchte die Fragen am Schluß wieder aufnehmen und zunächst einiges vortragen über die spätmittelalterliche Kurie seit dem Ausbruch des Großen Schismas und zwar v. a. über wichtige StrukturVeränderungen, die in dieser Zeit eingetreten sind.

10 C O D , S. 444 (1417. 10. 30) Z. 6. 11 Die Päpste auch des Schismas sahen im Konzil eine Institution des hohen Klerus und der Universitäten, die ihrer Stellung grundsätzlich gefährlich war. Vgl. J. F a v i e r , Le Grand Schisme dans l'Histoire de France, in: Genese (wie Anm. 8), S. 7 ff. Das galt erst recht nach den Erfahrungen auf dem Konzil von Basel. 12 Zur Diskussion über die Reform der Kurie zu Beginn des 15. Jahrhunderts s. W. v o n H o f m a n n , Forschungen zur Geschichte der kurialen Behörden vom Schisma bis zur Reformation, 2 Bde. (= Bibliothek des kgl. Preuss. Historischen Instituts in Rom 12/13, 1914; N D 1971) I, S. 5 ff. - Vgl. auch J. H a l l e r , Papsttum und Kirchenreform, Bd. 1 (mehr nicht erschienen): Vier Kapitel zur Geschichte des ausgehenden Mittelalters (1903; N D 1966), bes. S. 3-22 und 154-163. - Zur Reform der Kurie des 15.Jahrhunderts s. auch H . J e d i n , Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 1 (1949), S. 93-102. 13 Vgl. den Aufsatz von Herrn B a u m g a r t n e r in diesem Band.

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Kurie ist mehr als „Behördenapparat" 1 4 , nämlich der Hof des höchsten geistlichen Fürsten, des Papstes. Die folgenden Darlegungen sind geleitet von einem sozialhistorischen Interesse an der Hofgesellschaft und nicht am Geschäftsgang von „Behörden". Natürlich kann ich hier nicht eine Gesamtdarstellung der Sozialgeschichte der Kurie 1 5 dieser Zeit skizzieren, bestimmte Komplexe 1 6 müssen fast gänzlich unberührt bleiben wie die Bedeutung des Hofes für Liturgie und Zeremoniell 17 und für die Verwaltung des Kirchenstaates 18 . Außerdem muß ich darauf hinweisen, daß hier manches vorgetragen wird, das noch nicht so ganz gesichert ist.

14 Für die behördliche Seite, allerdings mit Schwerpunkt auf der Kanzlei, immer noch unübertroffen v. H o f m a n n (wie Anm. 12) für die Zeit seit dem Schisma. Für die älteren Jahrhunderte s. die Bibliographie bei S c h i m m e l p f e n n i g , Das Papsttum (wie Anm. 4). 15 Eine Gesamtdarstellung der Sozialgeschichte der Kurie fehlt bislang. Ich habe in meinem Artikel „Kurie, römische, im Mittelalter", in: T R E 20 (1990), S. 343-347, einen ersten Versuch gewagt. Einen gewissen Ersatz bietet das mehrfach genannte Buch von S c h i m m e l p f e n n i g „Papsttum". Für das 14.Jahrhundert liegt eine Gesamtdarstellung vor: B. G u i 11 e m a i n , La cour pontificale d'Avignon 1309-1376. Étude d'une société (= Bibliothèque des Écoles Françaises d'Athènes et de Rome 201, 1962; N D 1966). Eine an dem neuesten Forschungsstand orientierte sozialgeschichtliche Untersuchung, mit der für e i n e Forschungskraft nötigen Beschränkung des Aspekts ist die von Ch. S c h u c h a r d , Die Deutschen an der päpstlichen Kurie im späten Mittelalter (1378-1447) (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 65, 1987). Für das 13. Jahrhundert sei auf die Arbeiten von A. P a r a v i c i n i - B a g l i a n i verwiesen, vgl. seinen Forschungsbericht in: M I C C 7 (1985), S. 391-410. 16 Herrn Kaspar Elm bin ich dankbar für den Hinweis auf drei Komplexe, für die die Kurie im Spätmittelalter sich wenig mehr zuständig fühlen mochte: die Kurie als „Sitz des Lehramtes" (Kurienstudium), die Kurie als disziplinierende Anstalt für den Klerus und als zuständig für die Ordensreform. 17 Für Liturgie und Zeremoniell s. S c h i m m e l p f e n n i g , Das Papsttum (wie Anm. 4), mit ausführlicher Bibliographie, und seine Arbeiten: Die Zeremonienbücher der römischen Kirche im Mittelalter (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in R o m 40, 1973), vgl. den Index und d e r s . , Die Funktion des Papstpalastes und der kurialen Gesellschaft im päpstlichen Zeremoniell vor und während des Großen Schismas, in: Genèse (wie Anm.. 8), S. 317-328. - Im Schisma wurde notgedrungen die „Reiseherrschaft" des Papstes - die in Avignon zuende schien - wiederaufgenommen und zur Darstellung der eigenen Macht in den Propagandakrieg der rivalisierenden Obödienzen einbezogen. Ein anschauliches Beispiel dieser Reiseherrschaft eines Schismapapstes ist der Bericht des Kämmerers François de Conzié in: Muratori, Rer. Ital. Scr., III, 2 (1734), Sp. 777-808, der auch einen Ordo für einen feierlichen Einzug eines Papstes in eine Stadt verfaßt hat, ebd. Sp. 808-810 (neu ediert von M. D y k m a n s , D'Avignon à Rome. Martin V. et le cortège apostolique, in: Bulletin de l'Institut historique Belge de Rome 39 [1968], S. 237-243). 18 Für die Verwaltung des Kirchenstaates (bis ca. 1450) s. P. P a r t n e r , The Lands of St. Peter. The Papal State in the Middle Ages and the Early Renaissance (1972).

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Das Schisma hatte einen erheblichen Einfluß auf die Einnahmen der Päpste und der Angehörigen ihrer Kurien19. Daraus ergaben sich wiederum erhebliche Auswirkungen auf die kuriale Gesellschaft. Die Kurialen lebten von Einnahmen verschiedener Herkunft, wobei nicht nur die Höhe des Einkommens selbstverständlich unterschiedlich war, sondern auch die Zusammensetzung: a) Zuweisungen von Geld, Naturalien und Quartier durch die päpstliche Kammer 20 , die nicht allen Kurialen zukamen und von denen auch nur relativ wenige überwiegend lebten21; b) Anteile an Abgaben und Verehrungen für den Papst, an denen die päpstliche familia und die Kardinäle und ihre familiae sowie die Bediensteten der Kammer u. a.22 partizipierten; c) Gebühren für Dienstleistungen von Kurialen (über diese gleich mehr); d) Trinkgelder, Geschenke, Pensionen, mit denen Interessenten zu sichern versuchten, daß die von ihnen gewünschten Dienstleistungen in ihrem Sinne er-

19 Dazu s. generell J. F a v i e r , Les finances pontificales à l'époque du Grand Schisme d'Occident 1378-1409 (= Bibliothèque des Écoles Françaises d'Athènes et de Rome 211, 1966) (mit Besprechung von A. E s c h , in: GAA 221 [1969], S. 133-159) und d e r s . , „La chambre apostolique" aux lendemains du Concile de Pise, in: Annali Fondazione Italiana per la storia amministrativa 4 (1967), S. 99-116. 20 Die Naturalleistungen wurden in avignonesischer Zeit zum großen Teil in Geldzahlungen umgewandelt, vgl. S c h i m m e l p f e n n i g , Papsttum (wie Anm. 4), S. 229. Es blieben bestimmte Verehrungen zu bestimmten Anlässen und - für einen engeren Kreis - die Versorgung 2 x jährlich mit Tuch; auch dieses zunehmend abgelöst durch Geldzahlungen. 21 Die Bemessung erfolgte selbstverständlich nach den Gesichtspunkten der standesgemäßen Nahrung, nicht nach „Gehalt". Zu den (undurchführbaren!) Reformvorschlägen des Konstanzer Konzils gehörte auch der, die kurialen Bediensteten auf Gehalt zu setzen. 22 Uber die (5) Servitia minuta anläßlich von Promotionen durch das Konsistorium, die unter bestimmten kurialen Bediensteten aufgeteilt wurden nach variierendem Schlüssel (4 Anteile für familiares et officiâtes pape und einer für die familiares der Kardinäle) s. A. C 1 e r g e a c , La curie et les bénéficiers consistoriaux. Étude sur les communs et menus services, 1300-1600 (1911), S. 157-187. Neue Servitien entwickelten sich für neue „Erhebungen" durch den Papst im 15. Jahrhundert; daneben gab es die Jokalien, Verehrungen anläßlich einer Aufnahme in päpstliche Dienste, auch rein ehrenhalber, an die Kollegen und andere Bedienstete (Beispiel: Vitae paparum Avenionensium 1305-1394, hrsg. von E. B a 1 u z e/G. M o 11 a t , 4 Bde. (1914-1927), Bd. 4, S. 117 f.); im 15. Jahrhundert aber auch eine Abgabe an die Kammerbeamten, ebd. S. 164. Andere partizipierten an den Palliengeldern (Erhebung zum Erzbischof oder Bischof mit Pallium), eine Taxe seit Mitte 15. Jahrhundert (ebd., S. 208-212) und an den Sacra (wenn eine Prälatenweihe an der Kurie stattfand) (ebd., S. 188-207), und S c h i m m e l p f e n n i g , Zeremonienbücher (wie Anm. 17), S. 196. Außerdem gab es eine Reihe variierender Verehrungen für verschiedene Bedienstete und zu verschiedenen Anlässen.

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bracht würden23; e) Pfründenbesitz in partibus, i. d. R. in der Heimat der Kurialen, der die Grundlage ihres Einflusses dort ist und dessen Einkünfte an die Kurie transferiert werden müssen; f) als Spekulationsobjekte erworbene Pfründen bzw. Anrechte darauf, bei deren Verwertung Maklergewinne zu erzielen sind24. Das Schisma bewirkte eine Verminderung der Einkünfte der Kurialen - direkt und indirekt. Die Päpste erhielten natürlich nur Einnahmen aus dem Teil der Weltkirche, der ihre Obödienz bildete; außerdem stiegen die Ausgaben durch die Notwendigkeiten des Kampfes gegen den konkurrierenden Papst. Minderung der päpstlichen Einnahmen bedeutete, daß die Einnahmen der Kurialen, soweit sie von der päpstlichen Kammer kamen, gefährdet waren. Es kommt hinzu, daß ihre Anteile an den ohnehin verminderten Abgaben und Verehrungen, die umgelegt wurden, sanken, da die Schismapäpste aus Prestigegründen und, um ihren Anspruch darzutun, die Tendenz hatten, ihre Kurien nicht erheblich zu verkleinern. Direkt wirkte sich das Schisma in verschiedener Weise auf die Einkünfte der Kurialen aus. Pfründen, die in der anderen Obödienz lagen, waren verloren; der Transfer der Pfründeneinkünfte auch in der eigenen Obödienz funktionierte oft nicht mehr25. Auf die Einnahmen wirkte sich aus, daß in der Schismazeit weniger Interessenten sich an die Kurie wandten, wodurch denn auch weniger Abgaben und Verehrungen sowie weniger Gebühren, Trinkgelder und Pensionen bezahlt wurden; außerdem hatte durch die Konkurrenzsituation die Zahlungsmoral gelitten. Diese hier skizzierten allgemeinen Tendenzen gelten natürlich nicht in derselben Weise für alle Observanzen und Päpste der Schismazeit. 23 Eine interessante Quelle dazu die Prokuratorenberichte. F ü r unsere Zeit besonders aufschlußreich: I dispacci di Cristoforo da Piacenza, procuratore Mantovano alla C o r t e pontificia ( 1 3 7 1 - 1 3 8 3 ) , hrsg. von A. S e r g e , in: ASI ser. 5, 43 (1909), S. 2 7 - 9 5 und 44 (1909), S. 2 5 3 - 3 2 6 . - Diese Ausgaben sind für den Historiker wichtige Indikatoren für den vermeintlichen oder wirklichen Einfluß von Personen. Vgl. u. A n m . 88. 24 Als solche Objekte ist ein großer Teil der im Repertorium Germanicum (vgl. dazu u. Anm. 111) aufgeführten Pfründen anzusehen. Daß heißt aber nicht, daß sie erworben und frei an den Meistbietenden veräußert worden wären. Das ließen die komplizierten sozialen Spielregeln für Pfründenerwerb und -besitz nicht zu. Vgl. auch meine Ü b e r legungen zur Kurie als Pfründenmarkt (Vortrag für die Reichenautagung Herbst 1987) und in dem Einführungsreferat der Sektion „Klerikerkarrieren und Pfründenmarkt" auf dem B o c h u m e r Historikertag 1990, w o A. M e y e r über den deutschen Pfründenmarkt referierte; die Referate erscheinen in Q F I A B 71, 1991. - Grundlegend weiterhin M e y e r , Zürich und R o m . Ordentliche Kollatur und päpstliche Provisionen am Frauund Großmünster 1316—1523 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in R o m 64, 1986), und diverse neuere Arbeiten Meyers, zit. in dem o. gen. Referat. 25 S. unten bei Anm. 96.

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Dem avignonesischen Papst Clemens VII. und zunächst auch Benedikt X I I I . (ab 1394) bis zu den Obödienzentziehungen (1398, 1408, 1409) ging es vergleichsweise gut, da sie die Haupteinnahmequelle, die fiskalische Nutzung der französischen Kirche, weiterhin zur Verfügung hatten 26 . Diese Einkünfte bestanden aus Abgaben, die beim Besitzwechsel in Pfründen unter Mitwirkung des Papstes an diesen zu bezahlen waren: Besetzung von Konsistorialpfründen und von niederen Pfründen, soweit sie nicht durch ordentliche Kollatur vergeben wurden 27 , sowie Pfründentausch und Pfründen(ver)kauf nach resignatio in favorem tertii, wofür päpstlicher Dispens Voraussetzung war 28 . In Frankreich war die Pfründenmobilität hoch und die Kurie war die Börse dieses Handels 29 . Die römische Obödienz unter Urban VI. dagegen gebot über Gebiete mit weniger ertragreichen Pfründen und geringer Bewegung auf dem Pfründenmarkt, der z. T. erst aufgebaut werden mußte; zudem mußte sich Urban VI. erst wieder die Mittel zu ihrer Nutzung beschaffen, nachdem ihm seine ganze Kammer mit dem Unterbau der Kollektoren davongelaufen war 30 . Die Päpste dieser Observanz mußten durchgängig wegen ihrer kritischen Finanzlage auf Aushilfsmöglichkeiten sinnen 31 . Ihre Kurie bildete die Kerngruppe der Pisaner Kurie, aus der wiederum die Kurien der Päpste der Konzilszeit hervorgingen: die seit Urban VI. und Bonifaz IX. (1389-1404) entwickelten Neuerungen zur Bewältigung der Finanzkrise wirkten also auf diese Weise fort und noch über die Schismazeit hinaus. Wir werden uns im folgenden daher v. a. auf diese Obödienz konzentrieren.

26 F a V i e r , Finances (wie Anm. 19), S. 579 ff., S. 587 ff. 27 Servitien und andere Einnahmen bei Konsistorialpfründen und Annaten bei niederen Pfründen. Die avignonesische Obödienz nutzte fiskalisch - ganz unkanonisch - vakante Pfründen, F a v i e r , S. 586 ff. 28 Wegen des Makels der Simonia juris konnte nur der Papst solche Resignationen annehmen. Uber beim Papst resignierte Pfründen kann nur dieser verfügen, F. G i l l m a n n , Die Resignation der Benefizien, in: A K K R 80 (1900), S. 50-79, S. 346-378, S. 523-569, S. 665-708: 81 (1901), S. 223-242, S. 433^(60 (auch Separatdruck Mainz 1901). Und der Papst erteilte diese Gnade nur nach einer angemessenen „Anerkennungsgebühr" (Komposition). Vgl. u. bei Anm. 71. 29 F a v i e r , Finances (wie Anm. 19), S. 608. - Schon in avignonesischer Zeit trug daher vor allem die französische Kirche die Hauptlast des päpstlichen Fiskalismus; vgl. mit exakten Zahlen H. H o b e r g , Die Einnahmen der Apostolischen Kammer unter Innozenz VI., Teil 2: Die Servitienquittungen des päpstlichen Kammerars (= Vatikanische Quellen 8, 1972), S. 34* f. 30 P a s z t o r , L a curia (wie Anm. 9), S. 35 ff.; G u i 11 e m a i n , Cardinaux (wie Anm. 9), S. 27; F a v i e r , Finances (wie Anm. 19), S. 136 ff. und 590 ff.; A. E s c h , Simonie-Geschäft in Rom 1400: „Kein Papst wird das tun, was dieser tut", in: VSWG 61 (1974), S. 433-457, hier: S. 443 ff. 31 F a v i e r nennt das „improvisation Romaine", S. 136 ff.

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Wie

konnten

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aber

die

Päpste

neue

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er-

schließen? B o n i f a z I X . n u t z t e als e r s t e r s y s t e m a t i s c h m i t b e a c h t l i c h e m E i n f a l l s r e i c h t u m die M ö g l i c h k e i t , d u r c h W a h r n e h m u n g seiner G n a d e n befugnis in foro

externo

positionen,

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d. i.

zu E i n n a h m e n zu k o m m e n (sogen. anläßlich

eines

Gnadenaktes

Kom-

vereinbarte

fi-

nanzielle L e i s t u n g " 3 2 . E r e r w e i t e r t das päpstliche A n g e b o t auf d i e s e m S e k t o r (das a u c h eine rege N a c h f r a g e a u s l ö s t ) 3 3 . E r g e w ä h r t e e t w a freigebig:

Inkorporationen,

Exemtionen,

Ad-instar-Ablässe

(Verleihung

d e r A b l ä s s e b e k a n n t e r W a l l f a h r t s k i r c h e n an a n d e r e K i r c h e n ) 3 4 . V o n diesen T r a n s a k t i o n e n p r o f i t i e r t e n a u c h K u r i a l e . K a u m d a d u r c h , d a ß die K a m m e r aus s o l c h e n E i n n a h m e n - die o h n e h i n n u r z u e i n e m sehr geringen Teil d o r t l a n d e t e n - ihnen e t w a s a u s g e z a h l t hätte, s o n d e r n v. a. d a d u r c h , d a ß die G e b ü h r e n , die anfielen bei d e r H e r s t e l l u n g v o n U r k u n d e n u n d in d e n P r o z e s s e n , d e n d a m i t b e f a ß t e n M i t g l i e d e r n d e r K u r i e zufielen ( g e n a u e r gesagt: i h r e n K o r p o r a t i o n e n , die sie gleichm ä ß i g aufteilten 3 5 ). D i e G e b ü h r e n w a r e n in diesen F ä l l e n sehr h o c h , sie waren, wie auch anderwärts, wesentlich nach d e m W e r t der Transaktion, n i c h t n a c h d e m A r b e i t s a u f w a n d b e m e s s e n 3 6 .

32 Formulierung nach W. R e i n h a r d , Ämterhandel in Rom zwischen 1534 und 1621, in: Ämterhandel im Spätmittelalter und im 16. Jahrhundert, Bd. 3, hrsg. von Ilja M i e c k (= Einzelveröff. der Hist. Kommission zu Berlin 45, 1984), S. 42-60, hier: S. 43. 33 Dieses Ergebnis von F a v i e r (wie Anm. 19), S. 591 ff. und S. 609, auf Grund der Kammerakten kann ich aus meiner Sammlung der in Niedersachsen zwischen 1198 und 1500 überlieferten „Papsturkunden" (vgl. u. Anm. 117) bestätigen: dieser Papst nimmt in Einfallsreichtum den ersten Platz ein. Er nutzte bekanntlich als erster die Möglichkeiten des Jubelablasses als Einnahmequelle für das Papsttum, indem er ihn auch Personen zugänglich machte, die nicht nach Rom oder nicht im Jubeljahr dorthin kommen konnten oder wollten gegen Zahlung der standesgemäßen Reisekosten an den Papst. Und wiederholte den Jubelablaß 1400. Er machte ebenso skrupellos von seiner Gewalt zu dispensieren wie Privilegien zu verleihen Gebrauch: er kommunierte Gelübde, verkaufte Dispense vom Verbot des Handels mit islamischen Ländern, die er auch deswegen - und wegen der Propagandawirkung - erließ. 34 K.-H. F r a n k 1, Papstschisma und Frömmigkeit. Die «ad-instar-Ablässe», in: R Q 72 (1977), S. 5-124 und 184-247. 35 Solche Organisationen hatten ohnehin alle Kurialen, die an den oben in Anm. 22 genannten „älteren" Abgaben und Verehrungen partizipierten. Rudimentäre Organisationen bildeten dann (für die participantes) auch weitere ansonsten funktionslose „Bedienstete" aus (bzw. behielten diese bei), wenn sie solche Einkünfte hatten oder erhielten, etwa die Subdiakone, Akoluthen, Protonotare und (seit Nikolaus V.) Sekretäre. Ein bekanntes Beispiel aus dem 13. Jahrhundert bei A. G o t t l o b , Die Servitientaxe im 13. Jahrhundert. Eine Studie zur Geschichte des päpstlichen Gebührenwesens (= Kirchenrechtliche Abhandlungen 2, 1903; ND 1962), S. 158-161 (die mappularii und die addextratores). 36 B. S c h w a r z , Die Organisation kurialer Schreiberkollegien von ihrer Entstehung bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 37, 1972), S. 29, mit S. 261 f.

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Seit dem Pontifikat Bonifaz' IX. finden sich Hinweise über zusätzliche Zahlungen, die den Kunden abverlangt wurden, z. B. außer einem Betrag für die Schreibertaxe noch einen kleineren pro laborei7. Das Auffällige daran ist, daß diese Quasi-Gebühren nicht durch einen päpstlichen Erlaß eingeführt worden sind - wie Reformtraktate anklagend hervorheben aber von den Päpsten offenkundig toleriert werden 38 .

Trotz aller Maßnahmen zur Einnahmen-Verbesserung litten die Schismapäpste, zumal die der römischen bzw. Pisaner Obödienz, an chronischem Geldmangel, der sich nicht selten akut zuspitzte. Eine Möglichkeit, diesem Mangel abzuhelfen, war die, sich an die Kurialen zu halten39. Die Päpste forderten jetzt von den Bewerbern um Kurienämter, die sie zu vergeben hatten40, erhebliche Summen, wie es auch weltliche Fürsten machten, während es in Avignon nur üblich gewesen war, daß die Bewerber dem Papst ein herkömmliches „Geschenk" (propina) überreichten41. In akuten Notlagen erwarteten die Schismapäpste nicht nur von ihren Nepoten und amici42, daß sie ihnen dann beisprangen mit allen Kräften, sondern auch von ihren übrigen Kurialen, die ja dem Papst einen Treueid geschworen hatten und daher auch zu solcher Hilfe verpflichtet waren 43 . Sie mußten Sondersteuern zahlen

37 V. H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 260 und II, S. 207. 38 Ebd. S. 246 ff. 39 Das war Usus an den zeitgenössischen Höfen: J . F a v i e r , Finance et fiscalité au bas moyen âge (= Regards sur l'histoire: Sciences auxiliares de l'histoire 15, 1971), S. 274 ff. Es ist auch schon in spätavignonesischer Zeit unter Gregor X I . zu beobachten, vgl. Cristoforo da Piacenza (wie Anm. 23), S. 44 ff., der rasch alle Kräfte anspannt zum Krieg gegen Florenz. Auch nach dem Schisma habe ich das beobachtet: Der Papst besteuert weiter die Korporationen (die Kanzleischreiber 1445-6); verlangt einen Zehnten von allen Kurialen (1452). - Davon zu unterscheiden ist die übliche Heranziehung von Kurialen (vor allem der Kammer) zur Uberbrückung von momentanen Insolvenzen. 40 Die Päpste besetzten keineswegs alle Kurienämter, sondern konkurrierten darin mit den Chefs der „Ressorts". Darüber s. u. bei Anm. 75. 41 S c h w a r z , Schreiberkollegien (wie Anm. 32), S. 177 ff. 42 A. E s c h , Das Papsttum unter der Herrschaft der Neapolitaner. Die führende Gruppe Neapolitaner Familien an der Kurie während des Schismas 1378-1415, in: Festschrift für H . Heimpel zum 70. Geburtstag (= Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36, 1972), Bd. 2, S. 713-800 mit 1 Stammtafel, hier: bes. S. 784 ff.; über die Kreditgeber der Schismapäpste s. F a v i e r (wie Anm. 19), S. 564 ff. 43 Die Kurie unterscheidet bei den Eiden zwischen Leuten, die ein besonderes Treuverhältnis eingehen, und solchen, die nur korrekte Amtsführung beschwören, vgl. S c h w a r z , Schreiberkollegien (wie Anm. 36), S. 72 f. Ein Teil der Amtseide (soweit die

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und Zwangskredite 44 , deren Rückzahlung durchaus ungewiß scheinen mußte. Weigerung war unmöglich, die Zahlung wurde ggfs. durch Haft erzwungen 45 . Bei der Bemessung der Zahlungen ging es nach dem Grundsatz: wer vom Papst am meisten profitiert oder am meisten Förderung zu erwarten hat, hat entsprechend etwas einzusetzen 46 . Hinsichtlich der Beitreibung und der Modalitäten der Rückzahlung waren die benachteiligt, auf die keine Rücksicht zu nehmen war, entweder, weil sie selbst unbedeutend oder ohne mächtigen Schutzherren waren 4 7 . Diese Kurialen waren daher darauf angewiesen, Schutz zu finden. Sie fanden ihn bei einem Patron und/oder in ihren Korporationen 48 . An der Kurie bildeten i. d. R. die Bediensteten eines Amtes eine zunftähnliche Korporation zur Verteidigung ihres Monopols und ihrer Privilegien, zur Verteilung der Einkünfte und - wie hier - zum Kampf um Abwendung oder Verminderung von Steuern, ggfs. Umlegung auf die Mitglieder 49 . In den Belastungen der Schismazeit verstärkte sich der korporative Zusammenschluß und organisierten sich weitere Gruppen von Bediensteten in Korporationen 5 0 . Für diese beträchtlichen Aufwendungen mußten die Päpste den Amtsinhabern einen Ausgleich bieten, zumal sie in dieser Notlage besonders auf die Treue, Dienstwilligkeit und Opferbereitschaft ihrer

Kanzlei betreffend) abgedr. bei M. T a n g 1 (Hrsg.), Die päpstlichen Kanzleiordnungen von 1200-1500 (1894, ND 1959), S. 33-52. Ein kuriales Eidbuch ist erst aus der Zeit Pauls II. überliefert. 44 F a v i e r , Finances (wie Anm. 19), S. 530 f., 564. 45 Ebd. S. 530 mit Anm. 6. 46 Deshalb finden wir unter den Kreditgebern mit hohem Einsatz außer den Nepoten und amici vor allem die Kardinäle, Vertraute aus der engeren Umgebung des Papstes, wie Sekretäre, Kubikulare, aber auch Bedienstete der Kammer und der Kanzlei, die entsprechend von der Kurie profitierten; ebd., S. 566 ff.; vgl. Cristoforo da Piacenza (wie Anm. 23), S. 44 und 48. 47 Belege bei F a v i e r , Finances (wie Anm. 19), S. 537 ff. und S. 555,560, 562, 564 f. 48 1373 liehen nach Cristoforo da Piacenza die scriptores dominipape (wohl die Kanzleischreiber, denn er spricht von 100) dem Papst 100 Franchi pro Kopf, d. h. sie legten die ihnen als Kolleg aufgetragene Leistung auf die Mitglieder um (wie Anm. 23, S. 48, vgl. S. 44 eine geringere Summe). Die Summe von 10.000 fl. ist ein recht beachtlicher Beitrag, auch wenn sie sich bescheiden ausnimmt gegen die Zahlungen einiger Großer (bis zu 60.000 fl. - ein Nepot). Vgl. F a v i e r , Finances (wie Anm. 19), S. 568: die Anleihe des Kollegs von 1382; darüber hinaus liehen einzelne Schreiber, die wohl zu den amici zählten, mehr. 49 Zur korporativen Verfassung der Bedienstetenkollegien s . v . H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 109 ff. und S c h w a r z , Schreiberkollegien (wie Anm. 32), S. 151 ff. 50 v. H o f m a n n I, S. 109 ff.; B. S c h w a r z , Ämterkäuflichkeit, eine Institution des Absolutismus und ihre mittelalterlichen Wurzeln, in: Staat und Gesellschaft im Mittelalter und Früher Neuzeit. Gedenkschrift für J. Leuschner (1983), S. 176-196, hier: S. 189.

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Leute angewiesen waren. Dieser Ausgleich bestand darin, daß der Papst ihren Bestrebungen entgegenkam, die Amter möglichst profitlich zu nutzen. Und dies ist v. a. den Kurialen möglich, die Dienstleistungen für Dritte erbringen, m. a. W . Verkehr mit den Kunden (bzw. Anspruch auf Sportein und/oder Gelegenheit zum Hand-Aufhalten) haben 51 . Solche päpstlichen Zugeständnisse waren: a) Verbesserung des Rechts am Amt. Nicht wenige Ämter erreichten schon während des Großen Schismas, andere unter dem Basler Schisma, die Qualität des officium perpetuum, d. h. sie wurden ähnlich wie Pfründen behandelt 52 . Das gab den Inhabern die Möglichkeit des Ämterhandels nach Art des Pfründenhandels: durch Tausch oder Verzicht zugunsten eines Dritten gegen Abfindung (also der Sache nach: Verkauf) 53 . Dieser „trafic des offices" (Mousnier) 54 wurde zum Ämterkauf durch Einschaltung des Papstes 55 . b) Verbesserung der mit dem Amt verbundenen Privilegien 56 . Diese Privilegien konnten betreffen: Vorteile beim Pfründenerwerb und -besitz, besonderen Status (etwa den des familiaris continuus commensalis papei?), Ehrenvorzüge, die auch ihre materielle Seite hatten. c) Dispensierung von Verboten bzw. Vorschriften, etwa vom Verbot 51 Diesen Aspekt betonte v. H o f m a n n I, S. 257 ff., 301 ff. 52 S c h w a r z , Ämterkäuflichkeit (wie Anm. 50), S. 185. In der Zeit bis 1450 erreichten diese Qualität folgende (niederen) kurialen Kollegien entweder allmählich oder durch ausdrückliche Verleihung: die Schreiber in Kanzlei und Pönitentiarie, die Schreiber und Kleriker an den Registern (Suppliken- und Bullenregister), die Bediensteten der Audientia litterarum contradictarum, die der Bullarie, des Gerichts der Kammer, die Notare und gegen Ende unseres Zeitraums auch die Kleriker der Kammer, die Kursoren und die Servientes armorum. Etwas eingeschränkt war die subjektive Perpetuität bei einigen Hausämtern, die dem „Herrenfall" unterlagen, d. h. vom jeweiligen Papst zu besetzen waren, wie die verschiedenen Arten der Türsteher. - Das sind - bis auf die Kammerkleriker - auch diejenigen, deren Suppliken um das Amt man in den Supplikenregistern gegen 1440 findet. 53 Resignatio in favorem tertii taucht zuerst in den Schreiberkollegien auf, vor 1400 auch noch in den Kollegien der Notare der Rota und des Kammergerichts. Das meinen die Kritiken der Reformzeit, wenn sie den „Amterkauf" um 1400 anprangern. Sie breitet sich dann rasch in allen in Anm. 52 genannten Ämtern aus. 54 Der Ausdruck nach R. M o u s n i e r , Le trafic des offices ä Venise, in: R H D F E 3 0 (1952), S. 552. Nachgedr. in: d e r s . , La plume, la faucille et le marteau (1970), S. 387. Vgl. meinen Artikel „Ämterkäuflichkeit", in: LexMA 1 (1978), Sp. 561562. 55 Das habe ich zu skizzieren versucht in: Die Ämterkäuflichkeit an der Römischen Kurie: Voraussetzungen und Entwicklungen bis 1463, in: MIC C 7 (1985), S. 451-463. 56 Zusammenstellung der Privilegien eines Kurialen bei v. H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 289 ff. 57 Z. B. fand 1455 der Papst die Kammerkleriker, die gegen die Beeinträchtigung ihrer Rechte durch seine Ämterpolitik klagten, durch ihre Ernennung zu päpstlichen Kaplänen und continui commensales pape ab.

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der Ämterkumulierung 5 8 , der Ausübung eines Amtes durch Stellvertreter 59 und der Fortzahlung der Bezüge trotz Abwesenheit 6 0 . Auf diese Weise konnte der Papst kuriale Amtsträger, die Anspruch auf ein Gehalt von der Kammer hatten, durch zusätzliche Übertragung von Sportelämtern 61 versorgen 62 . d) Tolerierung von allerlei Mißständen wie Erpressung von Bestechungszahlungen, was häufig vorkam, wohl auch, weil die Amtsinhaber zuweilen darauf angewiesen waren und weil die Vorgesetzten z. T. selber davon profitierten 63 . Es wäre also zu einfach, hier immer unersättliche Habgier der Kurialen als Ursache anzunehmen. e) In diesen Zusammenhang gehört auch die erwähnte Hinnahme bzw. Bestätigung von immer mehr Gebührenforderungen für allerhand Tätigkeiten, die früher keine selbständigen, mit Gebühren belegten Tätigkeiten gewesen waren 64 . Das war natürlich nur dort möglich, wo und solange entsprechende Nachfrage nach kurialen Dienstleistungen bestand. Diese Verpfründung der Kurienämter führte zu Konflikten um die Besetzung der Ämter und tiefgreifenden Umstrukturierungen der ku58 S c h w a r z , Schreiberkollegien (wie Anm. 36), S. 58 ff. - Typisch dafür das Verbot, die Notariate an den Gerichten der Rota und der Kammer zu kumulieren: Regulae cancellariae apostolicae. Die päpstlichen Kanzleiregeln von Johannes XXII. bis Nikolaus V., hrsg. von E. v. O 11 e n t h a 1 (1888, N D 1968), S. 200, § 64. - Es wurde nicht etwa mit Arbeitsüberlastung begründet, sondern mit den fetten Einkünften dieser Stellen, aus denen eben gut Zwei versorgt werden könnten. Es gab aber auch ursprünglich funktional begründete Kumulationsverbote, die aber im 15. Jahrhundert sämtlich ihren Sinn verloren; v. H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 197 ff. 59 Das Recht, das Amt durch einen Substituten auszuüben, wurde zuweilen gleich bei der Amtsübertragung miterteilt: so manchen Sekretären ihr Schreiberamt, manchem Taxator in der Bullarie, den höheren Chargen im Bullenregister und den Notaren des Kammergerichts und (später) der Rota. 60 Diese Dispense unterhöhlten die Disziplin, etwa wenn das Amt eines Vorgesetzten und das eines Untergebenen in einer Hand waren: vgl. von H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 192 f. 61 Ebd. I, S. 190 ff. 62 Unter Bonifaz IX. z. B. wurden die Sekretäre finanziert durch Inkorporation in das Schreiberkolleg (zugleich mit Dispens von der faktischen Amtsausübung), s. S c h w a r z , Schreiberkollegien (wie Anm. 32), S. 57 f. Ökonomisch gesehen lag hier Überwälzung von Verwaltungskosten auf nicht direkt Betroffene vor. - Inkorporation von Amtern (bzw. deren Einkünften) war ein anderes Mittel, Forderungen von Bedienstetenkollegien zu befriedigen. 63 Rotarichter verlangten von ihren Notaren einen Anteil an ihrem lucrum, abgesehen vom Kaufpreis bei der Einstellung. Dito die Magister in den Registern von ihren Untergebenen. 64 v. H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 256. - Zur Illustration sehe man sich einmal den Geschäftsgang in der Pönitentiarie in Avignon und den unter Eugen IV. an: die Chancen von Bediensteten der Pönitentiarie, Sportein zu erzielen, hatten sich vervielfacht; S c h w a r z , Schreiberkollegien (wie Anm. 32), S. 115 ff. und 124 f.

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rialen V e r w a l t u n g . S o w o h l d e r P a p s t als a u c h kuriale G r o ß e - d e r K ä m m e r e r , d e r V i z e k a n z l e r , der G r o ß p ö n i t e n t i a r , aber a u c h

Vorgesetzte

einzelner A m t e r w i e die R i c h t e r a m K a m m e r g e r i c h t , an d e r A u d i e n t i a l i t t e r a r u m c o n t r a d i c t a r u m etc. - k ö n n e n A m t e r an d e r K u r i e b e s e t z e n 6 5 . A u c h sie v e r g e b e n j e t z t die A m t e r gegen h o h e Z a h l u n g e n u n d / o d e r B e teiligung a m G e w i n n 6 6 . D e r P a p s t m u ß t e das dulden, weil er ihnen v e r pflichtet w a r u n d sie b r a u c h t e . K o n f l i k t e e r g a b e n sich daraus, d a ß die E r n e n n u n g s r e c h t e n i c h t eindeutig fixiert w a r e n 6 7 . D a s h a t t e z u r F o l g e , daß

einer

„Behörde"

-

anachronistisch

gesagt

-

Günstlinge

ver-

schiedener Patrone angehören konnten. D e r P a p s t p r o f i t i e r t e insofern v o n der V e r p f r ü n d u n g d e r Ä m t e r , als er d a d u r c h , jedenfalls f o r m a l , seinen E i n f l u ß auf die Ä m t e r b e s e t z u n g v e r g r ö ß e r t e , u n d z w a r in z w e i f a c h e r H i n s i c h t : D e n n 1) Ä m t e r ließen sich, w i e gesagt, n u r d a n n gegen w i r k l i c h h o h e Beträge

vergeben,

wenn

der

Amtsbesitzer

über

sein

Amt

in

ge-

winnbringender Weise verfügen konnte (weiterverkaufen, verpachten, v e r p f ä n d e n ) , d. h. also, w e n n s c h o n b e i m E r w e r b v e r t r a g l i c h dieses V e r f ü g u n g s r e c h t z u g e s t a n d e n w u r d e , u n d das w i e d e r u m m a c h t e die M i t w i r k u n g des P a p s t e s e r f o r d e r l i c h , der dispensieren m u ß t e bei

Äm-

65 Das Ernennungsrecht hat der Papst eindeutig nur bei wenigen Ämtern, etwa den beiden Schreiberkollegien oder gewissen Hausämtern. Bei letzteren hatte er aber mit der Konkurrenz des Kämmerers und des Haushofmeisters zu rechnen (sonst hätte Eugen IV. das 1437 nicht ausdrücklich zu reklamieren brauchen). - Der Kämmerer behauptet ein Mitbesetzungsrecht bei den Kammerklerikern, den Notaren der Kammer und dem Kammergericht, wo er sein Bestes tut, konkurrierende ältere Rechte des Kammerrichters und des Thesaurars auszuschalten, bei den Kursoren (wie auch der Vizekanzler), vielleicht bei den Servientes armorum. Der Vizekanzler mischt mit in der Audientia litterarum contradictarum und der Rota, wo die jeweiligen Auditoren hergebrachte Rechte reklamieren. Dito die Magister in den Registerämtern. Selbst die Bullatoren können hier offenbar alte Rechte geltend machen. All diese Ämter müssen ab 1400 mit der Konkurrenz des Papstes rechnen. Nur der Großpönitentiar behauptete sich bis 1473 in seinem Ressort unangefochten. 66 So die Rotarichter und die Magister in den Registern (Bullen- und Supplikenregister). 67 In dem Maße, wie die Ämter zu Pfründen wurden, behauptete der Papst auch hier seine Kollatur iure praeventionis zu Lasten der hergebrachten Besetzungsrechte der Ressort- und Unterressortchefs. Es bilden sich ganz analoge Formen zur Pfründenbesetzung heraus: die päpstliche Provision, die Einsetzung in das Amt durch den damit Beauftragten, i. d. R. den Ressortchef (analog zum „Pfründenprozeß") und die Aufnahme in das Kolleg (analog zur Aufnahme in ein Kapitel). Zum Verhältnis dieser drei Komponenten siehe M e y e r (wie Anm. 24), S. 49 ff., 78 ff. - Das Monopol auf die Besetzung aller Ämter seiner officiales behauptete erstmals Pius II. grundsätzlich, vgl. v. H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 22, Anm. 5. - Diese Entwicklung, die in den einzelnen Ämtern recht verschieden verlief, will ich in der seit längerem angekündigten Monographie über die Ausbreitung der Ämterkäuflichkeit an der Kurie bis 1463 untersuchen.

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terkumulation 68 , Stellvertretung69 und Amtsverzicht 70 mit bindendem Vorschlag des Nachfolgers oder gegen Pension. Solche Dispense erteilten die Päpste in der Regel nur bei niederen Ämtern, da sie in diesen Fällen ja die Bestimmung des Amtsinhabers weitgehend aus der Hand gaben (s. u.). Die Beteiligung an der Ämtervergabe hatte auch finanzielle Auswirkungen für den Papst, insofern für Dispense Kompositionen zu zahlen waren 71 . 2) Immer mehr Ämter wurden zu officio, perpetua72, wie wir sahen. Bei diesen fällt die Besetzung ohnehin allein dem Papst zu. Diese Umwandlung ging natürlich nicht ohne energischen (und teilweise erfolgreichen) 73 Widerstand der Großen vonstatten, deren Ämterpatronage und Einkünfte hier empfindlich getroffen wurden. Ein solches Amt kann der Papst zu Marktpreisen verkaufen, wenn es einmal vakant wird, ohne daß bereits darüber durch den Vorbesitzer verfügt worden ist. Aber das war selten. Deshalb versuchten die Päpste unablässig, Stellen über die festgesetzte Höchstzahl hinaus zu verkaufen, durch Provision, zwangsweise Inkorporation oder Erteilung von Anwartschaften. Zur Abwehr solcher päpstlicher Ernennungen 74 , die ja ihre Einnahmen schmälern mußten, bemühten sich die Geschädigten um ihre Vorgesetzten, die Ressortchefs oder den Kämmerer als Protektoren 75 . Sicher haben die solche Protektion nicht ungern übernommen, denn dadurch wurde ihre Stellung an der Kurie gestärkt. 68 Vgl. o. Anm. 58. 69 Bei allen Kurienämtern war grundsätzlich persönliche Amtsausübung Voraussetzung und wurde zusätzlich von den Reformkonstitutionen oft ausdrücklich verlangt. 70 Vgl. o. bei Anm. 53. 71 Vgl. o. bei Anm. 32. 72 Diese Qualität erreichten manche Amter nach und nach, anderen wurde sie ausdrücklich verliehen als Sicherung, etwa 1435 den Bediensteten der Audientia litterarum contradictarum. 73 An der Rota dauert der Kampf um das Ernennungsrecht über die Gründung des Vakabilistenkollegs 1477 hinaus, wo es durch eine Quotierung zwischen Papst, Kämmerer (der ursprünglich hier nichts zu suchen gehabt hatte), dem Vizekanzler und den Rotarichtern geregelt wird, gegen den Widerstand der letzteren. Ähnlich ist es in der Audientia litterarum contradictarum und in den Registerämtern. 74 Die Kollegien greifen zu verschiedenen, von den Stiftskirchen her vertrauten Mitteln der Abwehr. Es bildet sich eine immer feinere Differenzierung heraus zwischen Amtsinhabern nur dem Namen nach (mit den Privilegien des Amtes), wirklichen Amtsinhabern (participantes), Anwärtern zur Amtsausübung ohne Einkünfte, solchen zur Amtsausübung mit reduzierten Einkünften etc. etc. 75 Ausdrücklich läßt sich als Defensor bestellen die Audientia litterarum contradictarum 1435 ihren Auditor (vielleicht 1455 analog das Kammergericht) und 1479 das Kolleg der Rotanotare den Vizekanzler. Der Protektor der Kursoren 1451 ff. ist leider nicht auszumachen (der Kämmerer kommt nicht in Frage, da er der Gegner war). - Das

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Die hier skizzierte Entwicklung hatte für die kuriale Verwaltung die Auswirkung, daß das in Avignon erreichte Maß an (relativ) bürokratischer Rationalität - gemessen nicht an modernen, sondern an gleichzeitigen Verhältnissen anderswo! - zu einem guten Teil verloren ging durch: 1) Uberlagerung der bürokratischen Hierarchie durch persönliche Abhängigkeiten; 2) Schwächung der Disziplinargewalt und Verwischung der Kompetenzen durch die Verpfründung der Ämter und ihre Ausbeutung als Vermögensobjekte 76 ; 3) Stärkung der Autonomie der Korporationen, deren Funktionäre nun Kompetenzen der Dienstvorgesetzten übernahmen; der Ubergang zur systematischen Ämterverkäuflichkeit hatte zur Voraussetzung eine Umstrukturierung der Korporationen, die ihnen mehr den Charakter von Gläubiger-Konsortien gab („Vakabilistenkollegien") 77 .

Auch in den Zusammenhang der Ausbildung der Ämterkäuflichkeit gehört das auffällige Phänomen der Internationalität des Kurienpersonals unter den Päpsten der Pisaner Observanz und erst recht unter Martin V. und Eugen IV.78 - wie nie wieder nach 1450 (bis in die 1970iger Jahre) und auch nie zuvor, auch nicht in Avignon. Dort war die Kurie nicht, wie sonst, durch Italiener beherrscht, sondern durch Franzosen und zwar v. a. solche aus dem Frankreich südlich der Loire, wo sie auch ihre Pfründen hatten (das ist gründlich erforscht von Bernard Guillemain 79 ).

Ziel ist stets: nicht nur Festsetzung der Zahl der Korporationsmitglieder und Regelung der Reduktion, bis diese Zahl erreicht ist, sondern Sicherung der Einhaltung der Zusagen des Papstes, denn nur dann w a r der Gewinn aus den A m t e r n sicher. 76 v. H o f m a n n (wie A n m . 12) I, S. 1 1 9 f. 77 S c h w a r z , Ämterkäuflichkeit (wie A n m . 50), S. 189. - Den Status von Vakabilistenkollegien hatten unter Bonifaz IX. die beiden Schreiberkorporationen in Kanzlei und Pönitentiarie. Unter Eugen IV. scheinen ihn erreicht zu haben: die Audientia litterarum contradictarum und das Kammergericht, die Bullaria (außer den Bullatoren selbst), die Schreiberämter des Bullenregisters, die Notare der Kammer (1446), die Prokuratoren der Pönitentiarie und von den ehemaligen Hausämtern die Servientes armorum und die Kursoren. 78 v. H o f m a n n (wie A n m . 12) I, S. 238 ff.; S c h u c h a r d (wie A n m . 15), S. 41 ff. 79 G u i 11 e m a i n , La cour (wie A n m . 15), S. 454 ff., 4 7 7 ff. mit Karte 7 im Anhang. Etwas andere Verhältnisse bei den Kardinalshöfen, ebd. S. 258 ff. mit Karte 6 im Anhang.

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Das Phänomen erklärt sich nicht - wie zuweilen angenommen 80 durch eine bewußte Rekrutierungspolitik der Päpste im Sinne von Reformforderungen nach Repräsentation der einzelnen Kirchen und Länder an der Kurie, insbesondere im Kardinalskolleg und bestimmten Amtern, oder genauer gesagt: nur zu einem geringen Teil, denn zuweilen nahmen die Schismapäpste doch Rücksicht auf die Erwartungen der Peripherie und erwiesen der öffentlichen Meinung ihre Reverenz, indem sie einige exponierte Amter mit Fremden von hoher Qualifikation besetzten - vorzugsweise in Augenblicken, in denen das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf die Kurien gerichtet war 81 . Im wesentlichen rührt die Internationalität des Kurienpersonals aus der Zusammenführung von Obödienzen, wobei das Personal mit übernommen wurde 82 . Das mag zunächst verwundern, denn die vorhandenen Kurien waren bereits voll besetzt und die Kurialen leisteten erbitterten Widerstand gegen diese Schmälerung ihrer Einkünfte 83 . Die Erklärung liegt darin, daß auch die Konzilien anerkennen mußten, daß die Kurialen aller zwei bzw. drei Obödienzen durch hohe Aufwendungen Forderungen hatten, die nach Rücktritt oder Absetzung ihres Papstes auf die Gesamtkirche übergegangen waren und die angemessen abgefunden werden mußten 84 - was natürlich die Zusammenlegung der Schismakurien und die Kurienreform erschwerte. Die beiden auf das Konstanzer Konzil folgenden Päpste strichen aber nicht etwa jede freiwerdende Stelle, um so allmählich der Uberbelegung der Amter zu steuern. Die Kammerbücher dieses Zeitraums 85 sind voll von Auseinandersetzungen zwischen dem Papst bzw. dem 80 Dazu S c h u c h a r d (wie Anm. 15), S. 42 f. 81 D. G i r g e n s o h n , Wie wird man Kardinal? Kuriale und außerkuriale Karrieren an der "Wende des 14. zum 15. Jahrhundert, in: Q F I A B 57 (1977), S. 138-162. 82 Vgl. o. Anm. 78. 83 Das ist verfolgbar in F.-Ch. U g i n e t (Hrsg.), Le „über officialium" de Martin V (= Ministero per i beni culturali e ambientali. Pubblicazioni degli Archivi di Stato. Fonti e sussidi 7, 1975). 84 Pläne, die Schismapäpste zum Rücktritt zu bewegen, sahen stets die Abfindung der Nepoten voraus; E s c h , Neapolitaner (wie Anm. 42), S. 745 mit Anm. 102. Die Kurialen des zurückgetretenen Gregor XII. bestellten einen Protektor ihrer Ansprüche (ut conservan et admitti debeant ad loca suorum officiorum, beneficiorum et prebendarum) beim Konstanzer Konzil, in: R Q 10 (1896), S. 129-131. 85 Die Serie der Diversa Cameralia, die Mandati und die Libri officiorum, die teils im Vatikan, teils im römischen Staatsarchiv liegen. Ich habe benutzt: die libri officiorum Reg. Vat. 381-384, 432-435, 465-467, 516, 542-545, 697, 875: aus Arm. X X I X die D C 1-33; die Introitus und Exitus 426, 449, 458, 464; die Eidregister bzw. Libri officiorum Reg. Av. 173, 198, 268; Reg. Av. 288; Collect. 45; Arm. X X X I V , 4 und 11 ff.; Reg. Vat. 500 und die Resignationes 1. Vgl. L. B o y 1 e , A survey of the Vatican Archives and of its Medieval Holdings (= Pontificai Institute of Mediaeval Studies, 1972).

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Kämmerer und den Bedienstetenkorporationen über die Zulassung der vom Papst eingewiesenen Bediensteten, obwohl die festgelegte Höchstgrenze trotz der Reduktionsanordnungen bei weitem noch nicht wieder erreicht war. Besonders heftig sind solche Konflikte unter Eugen IV., der wieder - und in sehr viel stärkerem Maße - zur fiskalischen Nutzung der Amter greift, um seinen Finanzen aufzuhelfen, und der seinen Bediensteten nachgeben muß, als seine Obödienz gefährdet ist86. Diese Feststellungen über die Internationalität der Kurie in der Schismazeit müssen freilich in zweifacher Weise eingeschränkt werden. 1) Es gingen nur Kleriker an die Kurie eines Papstes, die in seiner Obödienz beheimatet waren bzw. dort Pfründen besaßen oder zu erwerben hofften. 2) Wenn man die Herkunft der Kurialen zur Zeit der neapolitanischen Schismapäpste mit ihrer Position an der Kurie in Beziehung setzt, stellt man fest, daß bei allen Amtern, die wirklich wichtig waren (Kammer, Sekretariat, Referendariat, persönliche Umgebung des Papstes87) die (Süd-)Italiener dominierten (das hat v. a. Christiane Schuchard nachgewiesen). Und in der kritischsten Zeit der Obödienzen und wieder unter Eugen IV. saßen in den wichtigsten Positionen88 immer Leute, die dem „Papstclan" entstammten, der Clique von Verwandten, compatrioti, amici, die bereit gewesen waren, für die Sache „ihres" Papstes etwas zu wagen und deren Schicksal vom Sieg dieser Partei abhing. Von dem Einsatz und Opfermut dieser Nepoten war gerade ein so vehementer

86 Daher unter ihm die Serie von „Reformkonstitutionen", die nichts anderes sind als Zusicherungen des Besitzstandes der Amtskollegien. Bekannt sind die für die Kanzleiund für die Pönitentiarschreiber, noch wenig beachtet die für die Kammer, die Camera collegii cardinalium, die Audientia litterarum contradictarum, das Kammergericht, die R o t a (?), das Bullenregister, die Servientes armorum, gewisse Türsteher und die Kursoren. 87 S. 76 ff., 80 ff., 150 ff., 154. Dabei darf man sich nicht täuschen lassen von den Fremden in diesen Ämtern, die dies nur ehrenhalber waren; S c h u c h a r d (wie Anm. 15), S. 349. 88 Man kann die jeweils wichtigsten Positionen unter einem Papst auf verschiedene Weisen erkennen: Ernst P i t z rekonstruiert mit Hilfe der Recipe-Vermerke auf den Suppliken den Kreis der Vertrauten (Supplikensignatur und Briefexpedition an der römischen Kurie im Pontifikat Papst Calixts III.: [ = Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in R o m 42, 1972], S. 77). Andere Möglichkeiten bietet der Usus, Aufwartungen zu machen (bzw. Empfehlungsadressen übermitteln zu lassen) und Geschenke zu überreichen (Briefe; Gesandtschaftsberichte; Kostenabrechnungen). - Diese Männer vereinigten meist mehrere Funktionen in einer Hand, solche, die Macht und/oder solche, die Geld einbrachten.

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Antinepotist wie Urban VI. völlig abhängig. Arnold Esch 89 hat in mehreren Studien gezeigt, daß der extreme Nepotismus dieser SchismaPäpste eine Lebensnotwendigkeit war für Urban VI. und Bonifaz IX. wie für Clemens VII. 90 und für Gregor XII. 91 ; und dasselbe galt dann für Eugen IV. nach 1437 beim Kampf mit dem Konzil 92 . Nicht der Nepotismus an sich, der ein Merkmal geistlicher Höfe ist 93 , sondern diese Spielart des Nepotismus, in dem der Papst einseitig von seinen amici abhängig ist, ist sicher ein Zeichen der Krise.

Der Nepotismus wie die eben genannten Protektor-GünstlingsBeziehungen gehören zu den persönlichen Beziehungen, die die „sachlichen" der Amtsorganisation überlagern. Beides gehört zu den von Wolfgang Reinhard der Aufmerksamkeit der Historiker empfohlenen „Verflechtungen" 94 auf Grund von Verwandtschaft, Landsmannschaft, Patronage bzw. Klientel, Freundschaft (nicht notwendig im emotionalen Sinn, sondern als eine auf Erwartung gegenseitiger Nützlichkeit der Freunde - und der Freunde der Freunde! - gegründete Beziehung, bei Klerikern etwa zurückgehend auf Gemeinsamkeit des Ordens bzw. Klosters oder der Universität). Verflechtungen dieser Art waren sehr wichtig für die Kurialen, an der Kurie und auch nach außen hin 95 .

89 E s c h , Neapolitaner (wie A n m . 42), passim, Zusammenfassung S. 796; d e r s . , Le clan des familles napolitaines au sein du Sacré Collège d'Urbain V I et des ses successeurs, et les Brancacci de Rome et d'Avignon, in: Genèse (wie A n m . 8), S. 4 9 3 - 5 0 6 ; d e r s . , Simonie-Geschäft (wie A n m . 30). 90 L. B i n z , Le népotisme de Clément VII et le diocèse de Genève, in: Genèse (wie A n m . 8), S. 1 0 7 - 1 2 4 (mit Lit.). 91 E s c h , Neapolitaner (wie A n m . 42), S. 770 u. o. 92 Wohingegen der Nepotismus Martins V. in eine andere Kategorie fällt: dieser wollte seiner Dynastie im Kirchenstaat die führende Stellung verschaffen, so daß auch künftige Päpste mit dieser Kraft zu rechnen hatten; P. P a r t n e r , The Papal State under Martin V. The Administration and Government of the Temporal Power in the Early Fifteenth Century (1958), S. 194 ff.; W . R e i n h a r d , Nepotismus (wie A n m . 93) S. 159 f. 93 Vgl. W . R e i n h a r d , Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten, in: Z K G 86 (1975), S. 1 4 5 - 1 8 5 , und d e r s . , s. v. Nepotismus, in: H W B d t R G 3 (1984), Sp. 9 4 7 - 9 5 1 . 94 W . R e i n h a r d , Freunde und Kreaturen. „Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600 (= Schriften des Philos. Fachbereichs der Univ. Augsburg 1 4 , 1 9 7 9 ) . 95 S c h u c h a r d (wie A n m . 15), S. 165 ff.

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Sie brauchten solche Beziehungen insbesondere für die Bewirtschaftung ihres Pfründenbesitzes in der Heimat 96 . Sie mußten dort fähige und verläßliche Vertreter haben (nicht notwendig identisch mit dem Stellvertreter in der Wahrnehmung der an der Pfründe hängenden Amtspflichten) zur energischen Verteidigung ihrer Rechte an der Pfründe und zur Sicherung und Uberweisung (ggfs. auch günstigen Anlage) der Pfründenerträge. Loyalität und Engagement des Vertreters setzen voraus, daß er sich seinerseits wirksame Förderung seiner Interessen an der Kurie versprechen konnte durch Informationen und/oder Leistungen des Kurialen, die - direkt - den Pfründenbesitz des Klienten/Freundes mehrten, oder - indirekt - diesem Gelegenheit boten, so anderen in der Heimat gefällig zu sein 97 . Uber die Person des Kurialen wurde der regionale „set" in der Heimat in Verbindung mit seinen Freunden und seinem Patron an der Kurie gebracht, etwa einem Kardinal oder einem anderen Großen an der Kurie. Es war ja nicht so, daß alle diese Verflechtungen direkt bis zum Papst reichten98. Ahnlich wie an anderen Höfen gab es an der Kurie ein Neben- und Gegeneinander rivalisierender Großer mit ihren Klientelen, das der Papst - bzw. der Fürst - im Gleichgewicht halten mußte99. Daß e i n e solche Clique wie die Limousiner in spätavignonesischer Zeit oder später die Neapolitaner unter Urban VI., Bonifaz IX. und Johann XXIII. das Übergewicht gewinnen konnte, gefährdete die Herrschaft des Papstes 100 . Diese Verflechtungen der Kurialen waren auch wichtig für die Verbindung des Papstes mit der Weltkirche. Die Regierung der Kirche

96 Die Bedeutung solcher Beziehungen habe ich in einem Aufsatz „Patronage und Klientel in der spätmittelalterlichen Kirche am Beispiel des Nikolaus von K u e s " versucht herauszustellen, in: Q F I A B 68 (1988), S. 284-310. 97 Häufige Gefälligkeiten von Kurialen in den Akten sind: Einzahlungen von Geldern, Besorgen von Kredit und Bürgschaften; Eidesleistung; Anmeldung von Ansprüchen bzw. Proteste in der Kammer bzw. der Audientia litterarum contradictarum; Hilfe beim Formulieren, Betreiben aller Geschäfte in den Ämtern, Vermitteln von Unterstützung einflußreicher Personen. Geradezu unersetzlich waren aber ihre Dienste als Informanten und Sachkundige. 98 Auf die Kontinuität der kurialen Oligarchie gegenüber dem raschen Wechsel der Konstellation um den jeweiligen Papst hat R e i n h a r d , Freunde (wie Anm. 94), S. 45, hingewiesen. 99 W. P a r a v i c i n i , Administrateurs professionnels et princes dilettantes. Remarques sur un problème de sociologie administrative à la fin du moyen âge, in: Histoire comparée de l'administration (= Francia, Beiheft 9, 1980), S. 168 ff., hier: S. 175 ff. mit Lit. 100 E s c h , Neapolitaner (wie Anm. 42), S. 798; G u i 11 e m a i n , Cardinaux (wie A n m . 9), S. 27. H . B r e s c , Les partis cardinalices et leurs ambitions dynastiques, in: Genèse (wie Anm. 8), S. 45-48, hier S. 46.

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durch den Papst war ja im wesentlichen Befriedigung der aus der Kirche an ihn herangebrachten Nachfrage 101 nach Legitimierung, Streiterledigung, Gnadenverleihung. Soweit es schwierig war, eine päpstliche Entscheidung gegen Konkurrenz durchzusetzen - v. a. dann, wenn es um Pfründen ging - war eine Eingabe für den Interessenten in partibus kaum erfolgversprechend, wenn er nicht über solche Verflechtungen und ihre Spitzen an der Kurie an den Papst herantrat. Auf diesem Wege erhielt der Papst vielfältige Informationen aus der Weltkirche, die er auch nutzen konnte, um für seine eigene Klientel zu sorgen. Umgekehrt nutzte der Papst diese Verflechtungen gelegentlich auch in anderer Richtung, etwa für den Post- und Geldverkehr 102 . In gewissem Maße ersetzten diese Verbindungen so den fehlenden Verwaltungsunterbau der Kurie (wenn man absieht von den Kollektoren der Kammer). Wie wirkt sich nun das Schisma auf diese Verflechtungen aus? Natürlich bedeutete die Aufteilung der Kirche in Obödienzen die Störung von Verflechtungen mit den Gebieten, die einem anderen Papst anhingen und auch solchen, die sich distanziert oder abwartend verhielten. Andererseits mußten zu vorher papstfernen Gebieten solche Verflechtungen geknüpft werden. Das galt besonders für die römische Obödienz. Die oben dargestellten Veränderungen beim Amtserwerb bewirkten, daß jetzt für den Bewerber außer Geld immer auch Protektion nötig wurde. Die Patrone wollten in dem Konkurrenzkampf um die Verfügung über Ämter nicht nur ihre Vermögensverluste kompensieren 103 , sondern auch Macht gewinnen durch Rekrutierung einer möglichst starken Klientel von Kurialen mit vielfältigen Verflechtungen nach außen. Die Kurien in der Krise der Schismazeit zeigen überhaupt nach meinem Eindruck - ein höheres Maß an Segmentierung in Cliquen mit ihren Klientelen gegenüber Avignon 104 . Andersgeartete Verflechtungen zeigten die Besetzungen von Ämtern durch „Seilschaften" (von Verwandten, Landsleuten und Freunden), die aus der Kurie in die Heimat der Kurialen reichen. Sie finden sich bei 101 Auf diese Tatsache hat nachdrücklich E. P i t z , Die römische Kurie als Thema der vergleichenden Sozialgeschichte, in: Q F I A B 58 (1978), S. 216-359, hingewiesen. 102 Der Postdienst der Kursoren bildet sich in Avignon stark zurück; G u i 1 1 e m a i n , L a cour (wie Anm. 15), S. 304. 103 Verluste im Pfründenbesitz und Pfründengeschäft treffen sie natürlich ebenso wie die kleinen Kurialen. 104 U b e r Klientelbildung in avignonesischer Zeit s. B r e s c (wie Anm. 100), S. 49 ff.; G u i 11 e m a i n , Cardinaux (wie Anm. 9), S. 23 f.

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D i e r ö m i s c h e K u r i e i m Z e i t a l t e r des S c h i s m a s

Korporationen

v o n relativ u n t e r g e o r d n e t e n

Bediensteten mit

einem

h o h e n M a ß an A u t o n o m i e 1 0 5 . S o l c h e V e r f l e c h t u n g e n b e r u h t e n i m w e s e n t l i c h e n auf d e m Interesse d e r P e r i p h e r i e an d e r K u r i e als P f r ü n d e n m a r k t . D i e V e r f l e c h t u n g e n m i t d e r W e l t k i r c h e rissen bald ab, als v o n 1 4 5 0 an die K u r i e diese F u n k t i o n n u r n o c h u n v o l l k o m m e n erfüllte, infolge d e r Serie d e r K o n k o r d a t e ab 1441 ( b z w . der Pragmatischen Sanktion von B o u r g e s 1 0 6 ) und der ents c h i e d e n e n A u s r i c h t u n g des P a p s t t u m s auf die italienische P o l i t i k 1 0 7 . D a s b e w i r k t e eine Italianisierung des K u r i e n - P e r s o n a l s u n d t r u g bei z u r I s o l i e r u n g des P a p s t t u m s v o n d e n E n t w i c k l u n g e n a u ß e r h a l b Italiens. U b e r die V e r f l e c h t u n g e n m u ß t e ich soviel sagen, weil m a n so w e n i g d a r ü b e r w e i ß - einstweilen; es ist a u c h d e r N a t u r d e r S a c h e n a c h n i c h t leicht, e t w a s d a r ü b e r festzustellen. Klienten, die ihre B e z i e h u n g e n z u m Patron

bei b e s t i m m t e n

Gelegenheiten

selbst a n g e b e n ,

sind die

Fa-

miiiaren v o n G r o ß e n 1 0 8 an d e r K u r i e : F a m i i i a r e v o n K a r d i n ä l e n h a b e n p f r ü n d e n r e c h t l i c h e Privilegien u n d sind d a h e r b e s o n d e r s bei E i n g a b e n w e g e n P f r ü n d e n a n g e l e g e n h e i t e n f a ß b a r ( L i s t e n v o n F a m i i i a r e n 1 0 9 h a t es gegeben, a b e r es sind keine b e k a n n t ) . H i e r hilft d a n n die B e o b a c h t u n g w e i t e r , d a ß P f r ü n d e n r e g e l m ä ß i g innerhalb einer Klientel w e i t e r g e g e b e n

105 Von mir beobachtet bei den Schreiberkollegien, später den Abbreviatoren, von Christiane S c h u c h a r d (wie Anm. 15) bei weiteren Amtern: niederen Amtern der Kammer, der Register, der Bediensteten im päpstlichen Palast. Gemeinsames Kennzeichen scheint außer der sozialen Stellung das Erfordernis einer gewissen fachlichen Qualifikation gewesen zu sein, S. 76,133 f., 149 (unter Eugen IV.). 106 B. S c h w a r z , Die Abbreviatoren unter Eugen IV. Päpstliches Reservationsrecht, Konkordatspolitik und kuriale Ämterorganisation (mit 2 Anhängen: Konkordate Eugens IV.; Aufstellung der Bewerber), in: QFIAB 60 (1980), S. 200-274, die Konkordate zusammengestellt S. 246 ff. 107 Das Zusammenwirken verschiedener, hier nicht darzustellender Gründe für den Zusammenbruch des kurialen Pfründenmarktes in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts hat jüngst Andreas M e y e r , Das Wiener Konkordat von 1448 - eine erfolgreiche Reform des Spätmittelalters, in: QFIAB 66 (1986), S. 108-152, dargestellt. Vgl auch die in Anm. 24 genannte Lit. 108 Echte Famiiiaren des Papstes sind sehr schwer auszumachen, weil familiari: pape, auch familiaris domesticus oder continuas commensalis oder ähnliche Bezeichnungen längst zur ehrenden Auszeichnung geworden sind, auch für ganz kurienferne Personen. Sie müssen daher hier außer Betracht bleiben. 109 Diese hatte der Kämmerer jeder Kardinalssuite zu führen; G. M o 11 a t , Contribution à l'histoire du Sacré Collège de Clément V à Eugène IV, in: R H E 46 (1951), S. 50. - Die Aufführung von Famiiiaren in den Supplikenregistern, wenn ein Kardinal um Pässe und status presentie für seine Suite suppliziert, ist nie vollständig und stellt zudem immer nur eine Momentaufnahme dar. Die Supplikenregister für Expektanzen enthielten solche Rotuli von Großen für ihre Familia und Klientel (Kardinäle, Fürsten, Universitäten), doch sind sie bis auf Reste verlorengegangen; H. D i e n e r , Zur Persönlichkeit des Johannes von Segovia. Ein Beitrag zur Methode der Auswertung päpstlicher Register des späten Mittelalters, in: QFIAB 44 (1964), S. 289-365., hier: S. 299 f.

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werden 1 1 0 . Durch Erforschung der Besitzgeschichte solcher Pfründen kann man Verflechtungen auf die Spur kommen. Material bietet das Repertorium Germanicum 1 1 1 , das bis jüngst kaum durch Ortsregister erschlossen war; ergänzend wäre die örtliche Uberlieferung heranzuziehen, in der auch andere Belege zu finden wären, etwa Akte der pietas des Klienten gegenüber dem Patron 1 1 2 .

Welche Auswirkungen haben nun die hier angedeuteten Veränderungen auf die Funktionsfähigkeit der Kurie und ihr Ansehen bei der Umwelt? Und in welcher Beziehung stehen sie zu den Kurien-ReformProgrammen? U m das beantworten zu können, muß man sich zuerst 110 Beobachtungen b e i A . P a r a v i c i n i - B a g l i a n i für das 13. Jahrhundert, von R e i n h a r d für das 16. Jahrhundert. - Ich habe das Phänomen bei den Pfründen des Nikolaus von Kues (vgl. Anm. 96) analysiert. 111 Königlich Preußisches, später Deutsches Historisches Institut in Rom (Hrsg.), Repertorium Germanicum. Verzeichnis der in den päpstlichen Registern und Kameralakten vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien von Beginn des Schismas bis zur Reformation. - Bd. I: Clemens VII. von Avignon 1378-1394, bearb. von E. G ö l l e r , 1916, Nachdruck 1991. - Bd. II: Urban VI., Bonifaz IX., Innozenz VII. und Gregor X I I . 1378-1415, bearb. von G. T e 1 1 e n b a c h , 1933.1938.1961, Nachdruck 1961. - Bd. III: Alexander V., Johannes X X I I I . , Konstanzer Konzil 1409-1417, bearb. von U . K ü h n e , 1935, Nachdruck 1991. Bd. IV: Martin V. 1417-1431, bearb. von K. A. F i n k , 3 Teilbände, 1943.1957.1958, Nachdruck 1991, Personenreg. bearb. von S. W e i s s , 1979. - Bd. V: Eugen IV. 1431-1447 (ein Probeband mit dem Titel: Repertorium Germanicum, Regesten aus den päpstlichen Archiven zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Territorien im 14. und 15. Jahrhundert, bearb. von R. A r n o l d , erschien 1897), bearb. von H. D i e n e r (t) und B. S c h w a r z, in Bearbeitung. - Bd. VI: Nikolaus V. 1447-1455, Teilbd. 1: Text, bearb. von J . F. A b e r t (t) und W. D e e t e r s , 1985, Teilbd. 2: Indices, bearb. von M. R e i m a n n, 1989. - Bd. VII: Calixt III. 1455-1458, Teilbd. 1, bearb. von E. P i t z , ebd. 1989, Teilbd. 2: Indices [bearb. von H. H ö i n g ] , 1989. - Bd. VIII: Pius II. 1458-1464, Teilbd. 1: Text, bearb. von D . B r o s i u s und U . S c h e s c h k e w i t z , im Druck, Teilbd. 2: Indices, bearb. von K. B o r c h a r d t , i m Druck. Bd. I X : Paul II. 1464-1471, Teilbd. 1: Text, bearb. von H. H ö i n g , H. L e e r h o f f , M. R e i m a n n (im Manuskript abgeschlossen), Teilbd. 2: Indices, bearb. von d e n s e l b e n , in Bearbeitung. - Bd. X : Sixtus IV. 1471-1484 (2. Pontifikatsjahr in Bearbeitung). - Außer der Reihe und auch nicht-deutsche Betreffe erfassend: Repertorium concilii Basiliensis et Felicis V papae - Register des Basler Konzils, Papst Felix' V., des Kardinallegaten Amadeus, Teilbd. 1: Die Rota-Manualia, bearb. von H. J . G i 1 o m e n , im Druck. 112 Die Beschränkung auf das Deutsche Reich wäre für diese Zeit am ehesten zu verantworten, weil - wie oben berührt - dieses in der Krisenzeit so papstoffen war wie nie zuvor und seither. - Die zweite Beschränkung ist gravierender: die Deutschen an der Kurie waren - nach den Forschungen von Ch. S c h u c h a r d - ganz überwiegend in niederen und mittleren Stellen tätig. Einblicke in die wirklich wichtigen networks werden so nicht zu erzielen sein.

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einmal klar machen, daß der päpstliche Hof verschiedene Funktionen hatte, daß es also verschiedene Möglichkeiten mangelnder Funktionsfähigkeit gab und verschiedene Möglichkeiten der Behebung von Funktionsstörungen. Die Kurie war zunächst die ständige Umgebung des Hauptes der Kirche. Daß man dort als unwürdig empfundene Verhaltensweisen wahrnahm, förderte die Akzeptanz- oder Legitimitätskrise, die eine Bedingung der Möglichkeit des Erfolges der Reformation war. Die Kurie war auch der Hof des Papstes als eines geistlichen F ü r s t e n und damit das Medium herrscherlicher Selbstdarstellung. In dieser Funktion war er nur in akuten Krisensituationen der SchismaKurien vorübergehend beeinträchtigt. Der höfische Glanz erreichte nach Behebung der Schismen bald wieder das avignonesische Niveau bzw. übertraf es bald113. Der Hof diente zugleich der Vermittlung von Zentrale und Peripherie der Kirche, in dieser Zeit weniger durch die kirchliche Hierarchie oder durch einen Unterbau der kurialen Verwaltung, als durch persönliche Verflechtungen von Kurialen. Diese Funktion erfüllte die Kurie in der Phase des Schismas eingeschränkt, unter Martin V. und anfangs unter Eugen IV. sehr gut und seit 1450 zunehmend so gut wie gar nicht mehr 114 . Was die meisten Untersuchungen über die Kurie im Auge haben, ist die Kurie als „Verwaltung", insbesondere die Amter und Personen, die Anliegen von Petenten an den Papst bearbeiten. In dieser Funktion litt die Effektivität der Kurie beträchtlich durch die dargestellten Strukturveränderungen, die sich mit der Zeit immer stärker auswirkten. Die Ämter dienten jetzt mehr der wirtschaftlichen Nutzung durch den Amtsbesitzer als der Wahrnehmung von Amtsaufgaben, die Amtsbesitzer und ihre Stellvertreter waren oft genug nicht hinreichend qualifiziert. Die Langwierigkeit der Prozeduren und die Zusatzforderungen der Kurialen machte für die Interessenten die Erledigung ihrer Anliegen teurer (freilich, die verbreitete Korruption erleichterte es auch wieder, zum Ziel zu kommen!) 115 . Die Päpste schufen seit ca. 1350 konkurrierende Einrichtungen zur effektiveren Erledigung ihrer Aufträge, deren sich auch Petenten be-

113 Dazu s. S c h i m m e l p f e n n i g , Papsttum (wie Anm. 4) S. 266 ff. 114 Vgl. die in Anm. 107 genannte Studie von Andreas M e y e r . 115 Das ist bisher unübertroffen von W. von H o f m a n n dargestellt worden (wie Anm. 12).

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dienen durften. Aber auch diese neuen Ämter wurden bald käuflich und damit glich sich ihre Struktur derjenigen der alten Ämter an 116 . Trotz dieses schlechten „Kundendienstes" und trotz der Schrumpfung des Pfründenmarktes um 1450 gab es keine Absatzkrise für Dienstleistungen der Kurie. Die Struktur der Nachfrage änderte sich, aber ein erheblicher Rückgang der Nachfrage läßt sich erst nach 1510, kurz v o r der Reformation, feststellen, durch die er sich dann natürlich verschärfte 117 . Es war nach wie vor notwendig oder mindestens vorteilhaft, Entscheidungen des Papstes auf Grund seiner Gnadenbefugnis zu erwirken, z. B. im Wettbewerb um hohe Ämter (Kumulationsverbot!) oder um fromme Selbstdarstellung (Stiftungswesen!). Sicherlich haben Berichte, der vielen Kurienbesucher zur Ausbreitung der Kurienkritik und der Kurienreform-Forderungen beigetragen. Kurienkritik hatte es freilich schon immer gegeben, sie ergab sich aus dem Widerspruch, den der Begriff „geistlicher Fürst" enthält. Kurienkritik war in hohem Maße stereotyp und kann daher nicht einfach als Zustandsbeschreibung genommen werden (auch insofern sie manches heute kritikbedürftig Erscheinende nicht aufgreift 118 ). Daß im Großen Schisma die Kurienkritik so an Verbreitung und Schärfe zunahm, lag sicher daran, daß mehr Grund dafür gegeben war, und auch daran, daß Kritik an der Kurie, verbunden mit Reformprogrammen, nun von Päpsten selbst und Kardinälen als Waffe im Konkurrenzkampf benutzt wurden. Die Reformforderungen 119 kann ich hier nicht alle besprechen. Es bildete sich ein Kanon von Forderungen zur Kurienreform heraus, der sich in 5 Punkten zusammenfassen läßt: 116 Das waren zuerst die Sekretäre, dann die Referendare, dann weitere Amtsträger aus der Umgebung des Papstes, vgl. auch dazu v. H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 324 ff. u. ö. 117 So mein Eindruck aus meinen Unterlagen: 1) Dem von mir bearbeiteten Band des „Censimento": Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 1199-1417 (= C.I.S.H., Commission Internationale de Diplomatique, Index actorum Romanorum pontificum ab Innocentio III ad Martinum V electum), Bd. 4, Vatikanstadt 1988, und 2) Regesten der in Niedersachsen und Bremen überlieferten Papsturkunden 1198-1503 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter 15) (im Druck). - Gründe dafür nennt M e y e r (wie Anm. 24), S. 140 ff. Das müßte generell untersucht werden. 118 So den Nepotismus oder die Vergabe der Amter gegen Geld. Beides galt als richtig, solange beide Seiten nicht hergebrachte Grenzen dabei verletzten. Vgl. R e i n h a r d , Nepotismus (Anm. 93), S. 162 Anm. 100. 119 Vgl. die in Anm. 12 genannten Studien.

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1) Reduzierung der Taxen und Gebühren auf den Standard der guten alten Zeit (nämlich Avignon), ohne Nebengebühren, und Uberwachung der Einhaltung. - Zur standesgemäßen Versorgung sollten zusätzlich Pfründen dienen. 2) Reduzierung der Anzahl der Bediensteten auf die hergebrachte Zahl; Verbot der Stellvertretung und der Ämterkumulation (z. T. mit dem Ziel, möglichst viele standesgemäß zu versorgen); Verbot der „Simonie" bei Ämterbesetzungen. 3) Sicherung des Ansehens der Kurie durch Aufnahme nur von charakterlich geeigneten und wissenschaftlich qualifizierten 120 Persönlichkeiten unter Ausschluß von Laien. Entfernung ungeeigneter Elemente. 4) Angemessene Repräsentation der einzelnen Regionen an der Kurie. 5) Einhaltung bzw. Wiedereinführung der hergebrachten Verfahrensweisen in den Ämtern (die durch Öffentlichkeit gekennzeichnet waren). Wie weit wurden diese Forderungen realisiert? - Das Konzil in Konstanz brachte nach langen Debatten über die Reform keinen Beschluß zustande, sondern beauftragte den künftigen Papst, die Kirche in capite et curia Romanam zu reformieren unter Nennung bestimmter Punkte der Reformprogramme. Papst Martin V. erließ dann einige Reformkonstitutionen 122 , desgleichen Eugen IV. 123 vor dem endgültigen Bruch mit dem Basler Konzil, die aber nur teilweise ausgeführt wurden und wenig einschneidend waren. Bei Kardinalskreationen haben die Päpste der Schismazeit offenbar Rücksicht auf die Öffentlichkeit genommen - positiv durch Aufnahme besonders qualifizierter, integrer und angesehener Männer, negativ indem man allzu anstößige Personen vermied, trotz der Rücksichtnahme auf Fürstenhäuser 124 . Ebenso bei gewissen anderen her-

120 Auch hier ist der Versorgungsgesichtspunkt vorrangig: die Fordernden sind die Universitäten und die neue Gruppe der Intellektuellen. 121 C O D S. 444, Z. 6. 122 Zur Geschichte der Konstanzer Kurienreform s. auch S c h w a r z , Abbreviatoren (wie Anm. 106), S. 212 ff. mit Anm., und M e y e r (wie Anm. 107), S. 123. 1418.05.02 (v. H o f m a n n [wie Anm. 12], II, S. 5 nr. 20), 1418.09.01 ( T a n g 1, Kanzleiordnungen [wie Anm. 43], S. 133-145) und die Reformdekrete von 1425.04.13 bzw. 1425.05.16 (hrsg. von J. D ö 11 i n g e r , Materialien zur Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts. Beiträge zur politischen und Cultur-Geschichte der letzten 6 Jahrhunderte, II [1863], S. 335-344, Auszüge T a n g 1, S. 162-165, v. H o f m a n n II, S. 9, nr. 33) zur Vorbereitung des Konzils von Pavia-Siena. 123 Bes. v. H o f m a n n II, n. 43, vgl. aber 46 und 51. 124 Nachweis von G i r g e n s o h n (wie Anm. 81).

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ausgehobenen Ämtern (Rota125, Pönitentiarie). Zudem war hier internationale Besetzung einfach vorteilhaft 126 . Diese Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung setzte sich im Pontifikat Martins V. fort, der mit seinen Reformerklärungen und dem Einsetzen von Reformkommissionen eine gewisse Sensibilität (und seine Wendigkeit) bewies. Ohne Rücksicht darauf waren dann die späteren Kardinalskreationen Eugens IV., der sich nach dem Bruch mit dem Konzil all dieser lästigen Fesseln ledig wähnte 127 . Er setzte (und der Erfolg gab ihm endlich recht) auf die Fürsten. Die Internationalität der Kurie, die sich unter Martin V. und Eugen IV. zeigt, entsprach zwar Reformforderungen, ist aber nicht planvoll herbeigeführt worden, sondern war, wie wir sahen, die Folge der Zusammenlegungen der Schismakurien und der Schwierigkeiten, Reduktionen durchzuführen. Dasselbe gilt von dem steigenden Anteil von Klerikern am Kurienpersonal, da trotz der Konkordate von Konstanz und erst recht nach deren Ablauf die Pfründenpriviliegien der Kurialen sich als attraktiv erwiesen - bis ca. 1450. In den folgenden Jahrzehnten in fast regelmäßigen Abständen von ca. 20 Jahren werden große Reformkommissionen aus Kardinälen eingesetzt. Sie bringen es bis zum Tridentiner Konzil auch nicht zu einer einzigen Konstitution mehr128. Wenn man die tatsächlich durchgeführten Kurienreformen einmal zusammennimmt, stellt man fest, daß recht wenig erreicht worden ist an reformatio curiae. Ebenso auch an Reform im modernen Sinne, was etwas anderes ist. Oberstes Ziel der re-formatio ist eine Änderung der Gesinnung, die durch Einwirkung auf die Gesinnung bewirkt werden soll, damit die Kurie (wieder) eine Gemeinschaft von Klerikern werde,

125 Bei Richterämtern waren die Zeitgenossen besonders empfindlich, vgl. S c h w a r z , Amterkäuflichkeit (wie Anm. 50), S. 180. 126 Beide befriedigten nicht nur Nachfrage aus der Peripherie, sondern hatten auch den meisten direkten Kontakt mit den Interessenten. Vgl. auch S c h u c h a r d (wie Anm. 15), S. 114 ff., 121 ff. 127 Diese Zäsur in der Geschichte des Kardinalats zeigt deutlich F. A. Y o u n g , Fundamental Changes in the Nature of the Cardinalate in the Fifteenth Century and their Reflection in the Election of Pope Alexander VI (Phil. Diss. Maryland, 1978), S. 13 ff. 128 v. H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 325 ff. - Auch die vielzitierte Kurienreform des Konzils von Trient war mehr eine kosmetische Korrektur und scheiterte an den strukturellen Problemen; R e i n h a r d , Ämterhandel (wie Anm. 32), S. 53 f. bzw. d e r s . , Reformpapsttum zwischen Renaissance und Barock, in: Festschrift für Erwin Iserloh (1980), 779-796, hier: S. 793.

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die frei von Lastern wie avaritia, luxuria und ambitio und standeswidrigem Verhalten leben129. Soweit man institutionelle Änderungen fordert, proklamiert man den Rückgriff auf Zustände einer guten alten Zeit - oder was man dafür hielt - hier konkret: der avignonesischen Epoche. Auch wenn die Reformprogramme primär auf Wiederherstellung würdiger Lebensführung in der Umgebung des Hauptes der Kirche gerichtet waren, finden sich auch Vorschläge, die geeignet waren, die Vermittlung zwischen Zentrale und Peripherie und die Effektivität der Verwaltung zu verbessern. Die Schwierigkeiten einer Rückkehr zu avignonesischen Verhältnissen haben die Reformer nicht erkannt, nicht erkennen können, weil die Reformkommissionen nicht aus Experten bestanden130, und wohl auch nicht erkennen wollen, weil eine rationale Analyse der Ursachen der kritisierten Mißstände gar nicht zu ihrer Konzeption von Reform gehörte. Die Päpste und schließlich auch die Konstanzer Konzilsväter mußten erkennen, daß sie, selbst wenn sie es anders gewollt hätten, gar nicht in der Lage waren, gegen den Widerstand der Kurialen einschneidende Reformen durchzusetzen. Wie sollte Reduzierung der Anzahl der Kurialen möglich sein ohne Kränkung wohlerworbener Rechte - und zwar nicht nur des einzelnen Amtsbesitzers, sondern auch seines Patrons? Wie sollte die Abfindung beider aussehen? Reduzierung der Gebühren, Abschaffung von Nebengebühren: woher das Kapital nehmen, um die Einlagen auszulösen, für die die Sportein ja die Verzinsung darstellen131? Eine Entschädigung mit Pfründen, die sich hier anbot, kam zunächst kaum in Betracht, denn die Nationen sperrten sich ja gerade in den Konstanzer Konkordaten gegen Pfründenreservationen zugunsten von Kurialen132.

129 R a p p (wie Anm. 6), S. 2 0 7 ff.; J. W . O ' M a 11 e y , Praise and Blame in R e naissance Rome. Rhetoric, Doctrine and Reform in the sacred Orators of the Papal C o u r t c. 1 4 5 0 - 1 5 2 1 ( = Duke Monographs in Medieval and Renaissance Studies 3, 1979), S. 195 ff. 130 W o solche Leute einmal als Experten gehört wurden, ging den Programmen in höherem Maß die Luft aus: v. H o f m a n n (wie Anm. 12) I, S. 308. 131 Außerdem - w o z u gutes (rares!) Geld für einen so nutzlosen Zweck ausgeben? 132 S c h w a r z , Abbreviatoren (wie Anm. 106), S. 214. - Die Forderung des K o n kordats mit der englischen Nation (A. M e r c a t i [Hrsg.], Raccolta di concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le autorità civili, I [1954 2 ], S. 167, § 6) nach angemessener Vertretung an der Kurie trotz des Ausscheidens aus dem Pfründenmarkt ist nicht so absurd, wie es auf den ersten Blick scheint: vermutlich hätte man solche Personen dann auch mit englischen Pfründen ausgestattet.

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So ist denn auch der päpstliche Versuch, durch Schaffung paralleler Organisationen die Effektivität zu erhöhen, weniger eine Reform als ein Beleg für die Unmöglichkeit durchgreifender Reform nach den besprochenen Strukturveränderungen. Diese Veränderungen waren selbstverständlich eine Anpassung der Institution Kurie an veränderte Anforderungen zwecks Erhöhung der Funktionsfähigkeit: Denn zu den Funktionen der Kurie gehörte j e t z t auch, daß die Amter so organisiert waren, daß sie Käufer fanden, um die chronische Geldnot der Päpste aufzubessern. Dieser Funktion wurden die Amter, die sich zunehmend als Vakabilistenkollegien organisierten, gerecht - die gelegentlich vorkommenden dysfunktionalen Eingriffe der Päpste, etwa Ansätze zu Kurien-Reformen, konnten sie gut abwehren - und erst im 17. Jahrhundert geriet das System der Amterkäuflichkeit in eine Krise (wegen Zusammenbruchs der Nachfrage nach Dienstleistungen im Gefolge der Tridentiner Reform 133 ). Als Reform kann man den allmählichen Anpassungsprozeß der Schismazeit, der von den Kurialen betrieben und von den Päpsten toleriert wurde, freilich n i c h t bezeichnen, dazu fehlte es an der planvollen Durchführung und dem normativen Element des Begriffs, daß eine Reform eine Veränderung zum B e s s e r e n ist.

133 R e i n h a r d , Reformpapsttum (wie Anm. 128), S. 795. Dieser Krise fiel auch der Nepotismus als System zum Opfer.

BENEDIKTINISCHE REFORM UND KAISERLICHES PRIVILEG ZUR FRAGE DES INSTITUTIONELLEN ZUSAMMENSCHLUSSES DER KLÖSTER UM BENEDIKT VON ANIANE JOSEF SEMMLER

I.

Hic est Benedictus per quem dominus Christus in omni regno Francorum regulam s. Benedicti restauravit. Mit diesen Worten umrissen die Mönche zu Kornelimünster/Inden die Leistung ihres am 11. Februar 821 verstorbenen geistlichen Vaters, des Abtes Benedikt von Aniane1. In der Tat war es Benedikt von Aniane, der durch sein rastloses Wirken die Regel des hl. Benedikt, bis dahin in die monastische Tradition des Abendlandes eingebettet, zum ausschließlichen Grundgesetz monastischer Existenz erhob: Vorerst im Frankenreich Ludwigs des Frommen und seiner Erben, in all seinen Nachfolgestaaten und schließlich im gesamten Okzident sollte bis weit ins 12. Jahrhundert hinein die vita monastica nurmehr unter ausdrücklicher Berufung auf die benediktinische Mönchsregel verwirklicht werden2. Eben diese Klosterregel kennt jedoch nur das Einzelkloster unter der Leitung seines Abtes, der Christi Stelle vertritt3. Ihr Autor indes leitete dem Zeugnis Papst Gregors des Großen zufolge zwölf monasteria, denen er seine monastische Formung aufgeprägt hatte, in denen infolgedessen seine Regel galt4. Der erste benediktinische Klosterverband, 1 Nachruf des Konvents von Kornelimünster/Inden auf Benedikt von Aniane, MG. SS. XV, 219. 2 Vgl. J. S e m m l e r - H . B a c h t , Benedikt von Aniane, in: Lexikon des Mittelalters I (München, 1980), Sp. 1864 ff.; dazu E. v. S e v e r u s , Benedikt von Aniane - Benedikt von Nursia. Gleicher Name - gleicher Geist?, in: RBSt 8/9 (1982), S. 83-90; P. E n g e l b e r t , Benedikt von Aniane und die karolingische Reichsidee, in: StAns 103 (1990), S. 67-103. Der Beitrag von R. G r é g o i r e , Benedetto di Aniane nella riforme monastica, in: StM 3 a ser. 26 (1985), S. 573-610 führt leider nicht weiter. 3 Regula s. Benedicti capp. 2, 3, 4, 27, 55 und 63 ff., edd. A. d e V o g ü e - J . N e u f v i l l e , La Règle de saint Benoît I und II (= Sources chrétiennes 181 und 182, Paris, 1972), S. 440 ff., 452,460 ff., 548 ff., 618 ff., 644., 650 ff., und 654 ff. 4 Gregor der Große, Dialogi, edd. A. de V o g û é - P. A n t i n , Sources chrétiennes 260 (Paris, 1979), S. 148 ff. Mit Recht betont H. H e 11 e r s t r ö m , Zur Zwölf-

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dessen Begründer und Bezugspunkt der gemeinsame Abt bildete, löste sich naturgemäß auf, als sein Schöpfer die Leitung der von ihm konstituierten Gemeinschaften aus den Händen legte. Benedikt von Nursia sah für den Fall, daß die monastische Existenz einer Kommunität, die seine Regel befolgte, durch eine personalpolitische Fehlentscheidung bei der Auswahl eines neuen Oberen in Gefahr geriete zu erlöschen, den Klosterleben, Disziplin und Spiritualität sichernden Eingriff des zuständigen Bischofs, der benachbarten Äbte und der Christen der Umgebung vor5, nicht etwa die Bewahrung der spezifisch benediktinischen Ausrichtung des Konventes im Gefüge eines die Regierungszeit des Gründerabtes überdauernden „Verbandes". Es überrascht nicht, wenn der Nachruf des Konvents zu Kornelimünster fortfährt: Der Abt, der um seines Auftrags willen den Namen Benedikt annahm6, habuit sub regimine suo monasteria XII. Die namentliche Aufzählung dieser monasteria jedoch 7 , von denen nur drei sich in der weiteren Umgebung der Erstgründung Benedikts zu Aniane erhoben, während die übrigen über das Toulousain, das Lyonnais, das Poitou, das Berry, die Touraine, das Elsaß bis hin vor die Tore Aachens verstreut waren, die Aussage der Quelle, die den zitierten Nachruf auf Benedikt von Aniane überliefert, der Vaterabt habe in einige der genannten monasteria seine Mönche abgeordnet, ihnen indes nicht überall auch den ersten Oberen bestimmt8, lassen erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob Benedictus II. 9 seinem Vorbilde gleich zahl der Mönche bei Reformeingriffen, in: SMGB 88 (1977), S. 591-595, den biblisch begründeten Topos-Charakter der Zwölfzahl in monastischen Quellen. 5 Regula s. Benedicti cap. 64, edd. A. d e V o g i i é - J . N e u f v i l l e (wie Anm. 3) S. 648. 6 Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici... Carmen, ed. E. F a r a 1, in Les classiques de l'histoire de France 14 (Paris 1932) S. 94 v. 1197; Annales Anianenses ad a. 782, edd. C. D e v i c - J . V a i s s è t e , Histoire générale de Languedoc II (Toulouse, 2 1875), preuves col. 9; vgl. von S e v e r u s (wie Anm. 2), S. 83-90. 7 Nachruf des Konvents von Kornelimünster, MG. SS. XV, 219. 8 Benedikt von Aniane entsandte Mönche seines Konvents nach Ile-Barbe, Menât, Saint-Savin-sur-Gartempe, Massay, Saint-Mesmin de Micy, Cormery. Nur im Falle von Menât und Massay ist ausdrücklich bezeugt, daß der Reformator den dortigen Mönchen auch den Vorsteher bestimmte: Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 209 f. und 214; Tbeodulpbi episcopi Aurelianeniis carmina, MG Poetae lat. I, 520 f. n° 30; Alcuini epistulae, MG. Epist. IV, 308 ff. n" 104. In Ile-Barbe und offenbar auch in Micy wählten die bischöflichen Klosterherren den Abt aus und setzten ihn ein: Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 209; vgl. auch R. F a v r e a u , Les inscriptions de l'eglise de Saint-Savin-sur-Gartempe, in: CCMéd 19 (1976) S. 9 f., und O. G. O e x 1 e , Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich (= Münstersche Mittelalter-Schriften 31, München, 1978), S. 149-152. 9 Capitula qualiter observationes sacrae in nonnullis monasteriis babentur quas bonae memoriae Benedictus secundus ... instituit, ed. H. F r a n k , in: Corpus consuetudinum

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einen auf seine Persönlichkeit hin ausgerichteten, von seiner Leitungsgewalt geformten „Verband" begründete. Kein Geringerer als Jean Mabillon deutete die XII monasteria sub regimine suo (i. e. Benedicti abbatis Anianensis) als quoddam congregationis corpus, als prima ... species congregationis sub regula s. Benedicti, räumte jedoch ein, rudis haec fuit ... forma, nam mortuo Benedicto de successore qui totius ponderis onus humeris susciperet provisum non est10. Trotz energischen Widerspruchs Pückerts 1 1 , trotz differenzierter Stellungnahme Molitors 1 2 , Narberhaus' 1 3 und Dubois' 1 4 hielt die Forschung lange an Mabillons Urteil über Benedikts von Aniane klösterlicher Verbandsbildung fest, nicht ohne ihre unfertige Gestaltung und ihr Erlöschen mit dem Tode ihres Konstrukteurs zu betonen 1 5 . Ergänzende Erläuterungen, die erst die letzten fünf Jahrzehnte zur angesprochenen Fragestellung beisteuerten, ohne freilich Mabillons autoritativen „Lehrsatz" grundsätzlich zu verwerfen, zeigen, wenn auch nicht immer bewußt, die Wege auf, die zu einem den Quellen und dem heutigen Forschungsstand gemäßen, von Mabillon unabhängigen Urteil führen können: S. Dulcy bejahte vor einem halben Jahrhundert die Frage nach einem Benedikt von Aniane zugeordneten Klosterverband monasticarum I (Siegburg, 1963) S. 353; vgl. auch Concilium in Francia habitum (821/29) can. 9, MG. Concilia II, 2, 591. 10 J. M a b i l l o n , Acta sanctorum ordinis s. Benedicti IV, 1 (Venedig, 2 1734), S. 146 f., zitiert nach R. M o 1 i t o r , Aus der Rechtsgeschichte benediktinischer Verbände I (Münster/W., 1928), S. 41 f. 11 W. P ü c k e r t , Aniane und Gellone. Diplomatisch-kritische Untersuchungen zur Geschichte der Reformen des Benediktinerordens im IX. und X. Jahrhundert (Leipzig, 1899), S. 24 ff., 142 f., 187 f., 198-203 und 229-234. 12 M o 1 i t o r , Rechtsgeschichte (wie Anm. 10), S. 40-43. 13J. N a r b e r h a u s , Benedikt von Aniane. Werk und Persönlichkeit (= Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens 16, Münster/W., 1930), S. 36-44. 14 J. D u b o i s , Ordo monasticus, in: DSAM X (Paris 1980), Sp. 1559 f. 15 A. H a u c k , Kirchengeschichte Deutschlands II (Berlin/Leipzig, 8 1954), S. 594, 605 und 610; B. A l b e r s , Untersuchungen zu den ältesten Mönchsgewohnheiten (= Veröffentlichungen aus dem kirchenhistorischen Seminar der Universität München II. Reihe 8, München 1905), S. 21 ff.; A. G a s q u e t , Monastic life in the middle ages (London, 1922) S. 214 ff.; P. S c h m i t z , Benoît d'Aniane, in: D H G E VIII (Paris, 1935), Sp. 184; T. P. M c L a u g h 1 i n , Le très ancien droit monastique de l'Occident (= Archives de la France monastique 38, Ligugé/Paris, 1935), S. 25 ff.; J. P é r e z d e U r b e 1, Historia de la orden benedictina I (Madrid, 1941), S. 129 ff.; P. S c h m i t z L. R ä b e r , Geschichte des Benediktinerordens I (Einsiedeln/Zürich, 1947) S. 99 f. und 103 f.; G. M a r i é , Benoît d'Aniane, in: Catholicisme I (Paris, 1948), Sp. 1442 f.; V. D a m m e r t z , Das Verfassungsrecht der benediktinischen Mönchskongregationen (= Kirchenrechtliche Quellen und Studien 6, St. Ottilien, 1963), S. 11 ff.; P. R i c h é , Die Welt der Karolinger (Stuttgart, 1981), S. 107 f.; J. M. W a 11 a c e - H a d r i 11, The Frankish Church (Oxford, 1983), S. 230 f.

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unumwunden positiv - allerdings nur für das aquitanisch-septimanische Unterkönigreich Ludwigs des Frommen; im Großfrankenreich hätten nach 814 alle Voraussetzungen für den Aufbau eines Verbandes der von Benedikt von Aniane erneuerten Klöster gefehlt16. K. Hallinger stellte die einen benediktinischen Klosterverband konstituierenden Elemente zusammen und konstatierte, daß Benedikt von Aniane einige dieser Bausteine verarbeitete, andere dagegen beiseite ließ. Im Anschluß an Hallinger 17 wies schließlich J. Wollasch darauf hin, daß Benedikt von Aniane den der monastischen Tradition entstammenden Konstituenten klösterlicher Verbandsbildung ein wesensfremdes Element beifügte, die privilegienrechtliche Bindung der benediktinisch geprägten Klöster und ihrer Konvente an den Herrscher, das Haupt des Frankenreiches 18 .

II. Ehe Benedikt von Aniane seine Berufung, die „Erneuerung" der Regel St. Benedikts, d. h. ihre Durchsetzung als exklusives Grundgesetz monastischer Existenz, zu realisieren vermochte, richtete er seine vita monastica nach der im Okzident allein geltenden „Mischregelobservanz" 19 aus: Ihm zugänglichen orientalischen und abendländischen Klosterregeln entnahm er für seine Person die strengsten asketisch-disziplinären Bestimmungen. Doch damit scheiterte er genau so, wie er enttäuscht den Versuch abbrechen mußte, seiner kleinen Gemeinschaft, die sich zu Aniane um ihn geschart hatte, die eremitische

16 S. D u l c y , Le règle de saint Benoît et la réforme monastique à l'époque carolingienne (Nîmes, 1935), S. 101 f. 17 K. H a l l i n g e r , Gorze - Kluny. Studien zu den monastischen Lebensformen und Gegensätzen im Hochmittelalter (= StAns 22/25, Rom 1950/51), S. 553 f., 581 f. und 739-742. 18J. W o l l a s c h , Mönchtum des Mittelalters zwischen Kirche und Welt (= Münstersche Mittelalter-Schriften 7, München, 1973), S. 16-19 und 143 f. 19 Zur vorbenediktinischen Klosterobservanz im Okzident zuletzt J. S e m m l e r , Benedictus II: una régula - una consuetudo, in: W. L o u r d a x/D. V e r h e 1 s t (Hrsg.), Benedictine culture, 750-1050 (= Mediaevalia Lovaniensia, Series I/Studia 11, Löwen, 1983), S. 3 ff.; vgl. auch A. A n g e n e n d t , Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900 (Stuttgart/Berlin/Köln, 1990), S. 98-104, 205-208, 219-222, 227-230, 272-278 und 288 ff. Der Terminus „Mischregelobservanz" wurde übernommen von K. S. F r a n k , Grundzüge der Geschichte des christlichen Mönchstums, (Darmstadt, 1975), S. 52 f.; vgl. A n g e r e r , Das Mönchtum im karolingischen Reich, in: Die Anfänge des Klosters Kremsmünster (= Mitteilungen des Oberösterreichischen Staatsarchivs, Erg.Bd. 2, Linz, 1978), S. 17 ff.

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Lebensform aufzuprägen20. Erst mit der entscheidenden Hinwendung zur Regula s. Benedicti, die Benedikts Kommunität ohne Abstrich und ohne jede Beimischung anderer klösterlicher Tradition als monastische Lebensnorm nicht nur ihrem Geiste, sondern auch ihrem Buchstaben nach respektierte21, strömten dem Abte so viele Novizen zu, daß der Konvent bald auf 300 Mönche angewachsen war 22 . Wirtschaftliche und organisatorische Sachzwänge nötigten den Mönchsvater, sein Kloster mit einem Kranz von Zellen zu umgeben, die er mit seinen Schülern besetzte23. Schon 799 verfügte das Kloster zu Aniane über zwei cellae, Celle-Neuve und Saugras24. Kurz nach der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert erwarb der Reformabt Besitzungen in der Stadt Arles, die die Errichtung gleich zweier Zellen ermöglichten25. Auf Wilhelm, den Stifter von Gellone26, geht die Errichtung eines kleinen monasterium im pagus von Uzes zurück, das der fränkische König, dem der Graf seine Stiftung übertrug, nach Goudargues verlegte. König Ludwig der Fromme überwies das Kloster der Mutterabtei zu Aniane27, die es wenigstens im 9. Jahrhundert auf dem Status der abhängigen cella festgehalten zu haben scheint28. Wohl noch vor 810 übertrug Wulfarius, 20 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, M G . SS. XV. 201-205; zur philologischen Beurteilung dieser Quelle neuerdings B. L ö f s t e d t , Zu Ardos ,Vita Benedicti', in: Aevum 59 (1985), S. 178 ff. 21 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 205; Annales Anianenses ad a. 782, edd. D e v i c/V a i s s è t e, Histoire (wie Anm. 6) col. 9; vgl. J. S e m m 1 e r , Die Beschlüsse des Aachener Konzils im Jahre 816, in: Z K G 74 (1963), S. 65-76; R. M c K i t t e r i c k , The Frankish kingdoms under the Carolingians 751-987 (London/New York, 1983), S. 108-117; J. S e m m l e r , Benedictus II (wie Anm. 19), S. 5-10. 22 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 206 f. und 208 f.; zur Klosteranlage zu Aniane nunmehr B. U h d e - S t a h l , Ein unveröffentlichter Plan des mittelalterlichen Klosters Aniane, in: ZK 43 (1980), S. 1-10. 23 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. X V , 208 f.; D Karl der Große 188. 24 D Karl der Große 188; BM 2 970 = A. C a s s a n - E . M e y n i a l , Cartulaires des abbayes d'Aniane et de Gellone (Cartulaire d'Aniane) (Montpellier, 1900), S. 61-65, n° 13; D Karl der Kahle 155. 25 BM 2 706, 714, 728, 752 und 970 = C a s s a n/M e y n i a 1, S. 55 f. und 61-69, n o s 1 7 , 1 6 , 1 4 , 1 0 und 13; D Karl der Kahle 155. 26 Uber Wilhelm von Toulouse („von Gellone") vgl. J. W o 11 a s c h , Eine adlige Familie des frühen Mittelalters, in: A K 39 (1957), S. 181-185; P. W o 1 f f , L'Aquitaine et ses marges sous le règne de Charlemagne (= Regards sur le Midi médiéval, Toulouse, 1978), S. 32 f. und 46. 27 BM 2 580 = C a s s a n/M e y n i a 1 (wie Anm. 24), S. 60 f., n° 12; P ü c k e r t , Aniane und Gellone (wie Anm. 11), S. 240 ff., hält das Diplom für interpoliert. 28 BM 2 970 = C a s s a n/M e y n i a 1 (wie Anm. 24), S. 61-65, n° 13; D Karl der Kahle 155. Den Verdacht teilweiser Interpolation dieser beiden Urkunden, den P ü c k e r t , Aniane und Gellone, S. 161-197, P. T i s s e t , L'abbaye de Gellone au diocèse de Lodève des origines au XHIe siècle (Paris, 1933), S. 62-67, sowie G. T e s s i e r , Vorbemerkung

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Graf im Albigeois, Güter der Abtei zu Aniane mit der Auflage, ein Kloster zu errichten. Der beschenkte Abt kam diesem Wunsche nach und baute mit seinen Mönchen die Niederlassung zu einer cella aus 29 . Benedikt von Aniane setzte demnach das verfassungsrechtliche Strukturelement der Unterordnung eines (kleineren) monasterium unter eine (bedeutendere) Abtei ein, legte kraft eigener Anordnung und herrscherlichen Privilegs die Abhängigkeit des Tochter- vom Mutterkloster fest, griff auf ein gemeinschaftsbildendes Bauelement zurück, das zur gleichen Zeit die Abtei Fulda etwa virtuos zu handhaben verstand 30 , um die Grundherrschaft seines Hauptklosters mit einem Kranz von cellae zu sichern. Wenn ihm die Forschung die Verwendung dieses widerstandsfähigsten Bausteines für die Konstruktion eines Klosterverbandes bisher nicht zutraute 31 , so deshalb, weil der Reformabt von Aniane anderen Bindungen den Vorzug gab. Schon dem Gründungskonvent für die von Graf Wulferius gestiftete cella stellte Benedikt von Aniane einen eigenen Abt an die Spitze 32 . 819 erwirkte er ihm den kaiserlichen Schutz, mit dem die Immunität verbunden war und das Recht, den künftigen Abt aus der hauseigenen Gemeinschaft auswählen zu dürfen. Obwohl die Kommunität im Falle einer Fremdwahl auf den Konvent von Aniane verwiesen war und der Obere der Mutterabtei nötigenfalls bei disziplinären Mängeln einschreiten sollte, erlangte die cella zu Castres mit dem kaiserlichen Privileg 33 die Rechtsstellung eines Königsklosters, stand somit verfassungsrechtlich auf der gleichen Stufe mit Aniane 34 . Noch im 9. Jahrhundert fielen die letzten zu D Karl der Kahle 155, äußerten, wies vor Jahrzehnten bereits E. E. S t e n g e l , Die Immunität in Deutschland I: Diplomatik der deutschen Immunitätsprivilegien (Innsbruck, 1910), S. 19 f. Anm. 10, zurück; vgl. zuletzt O. D i c k a u , Studien zu Kanzleiund Urkundenwesen Kaiser Ludwigs des Frommen in: ADipl 34 (1988), S. 43 f. 29 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 214 f. 30 Gesta abbatum Fuldensium, ed. K. S c h m i d , Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter I (= Münstersche Mittelalter-Schriften 8, 1, München, 1978), S. 212 f.; Nomina fratrum, ed. d e r s . , ebd. S. 221 ff.; dazu d e r s ., Mönchslisten und Klosterkonvent von Fulda zur Zeit der Karolinger, in: d e r s . (Hrsg.), Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter (= Münstersche Mittelalter-Schriften 8, 2, München, 1978), S. 597-610 und 628-235; M. S a n d m a n n , Hraban als Mönch, Abt und Erzbischof, in: Fuldaer Geschichtsblätter 56 (1980), S. 142 f. und 146; vgl. allgemein F. J. F e i t e n , Herrschaft des Abtes, in: F. P r i n z (Hrsg.), Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters 33, Stuttgart, 1988), S. 262-271. 31 H a 11 i n g e r , Gorze - Kluny (wie Anm. 17), S. 741 f. 32 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 214. 33 BM 2 684 = C a s s a n/M e y n i a 1 (wie Anm. 24), S. 50 f., n° 7. 34 Vgl. J. S e m m l e r , Iussit ... princeps renovare ... praecepta. Zur verfassungsrechtlichen Einordnung der Hochstifte und Abteien in die karolingische Reichskirche, in:

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monastischen und rechtlichen Bindungen an das einstige Mutterkloster 3 5 . Wir gehen vielleicht nicht fehl in der Annahme, daß die von Quellenfälschungen völlig entstellte Frühgeschichte der Abtei Gellone ganz ähnlich verlief. Wilhelm, Graf zu Toulouse, stellte in Anianes U m gebung reichen Besitz - teilweise gräfliches Amtsgut - zur Errichtung eines Klosters zur Verfügung, in dem er als Mönch sein Leben beschließen wollte 3 6 ; der aquitanische Unterkönig steuerte seinerseits fiskalischen Grund und Boden bei 3 7 . Die ersten Mönche kamen aus Aniane, Träger der monastischen Observanz ihres Abtes und ihm nach wie vor unterstehend 3 8 . D o c h scheint Graf Wilhelm seine Stiftung dem karolingischen Herrscher übertragen zu haben 3 9 ; der Lebensbeschreibung Ludwigs des F r o m m e n galt sie jedenfalls als königliches monasterium40. Ludwig der F r o m m e war es denn auch, der Gellone dem Mutterkloster Aniane als cella unterstellte 41 , und folgerichtig fehlt die Abtei im Verzeichnis der aquitanisch-septimanischen Königsklöster aus der Mitte des 9. Jahrhunderts 4 2 . Im 10. Jahrhundert aber unterhielt Gellone keine für uns erkennbare monastische und/oder rechtliche Verbindung zu Aniane mehr 4 3 . O b noch Benedikt von Aniane selbst die

Consuetudines monasticae. Eine Festgabe für Kassius Hallinger aus Anlaß seines 70. Geburtstages (= StAns 85 (Rom, 1982), S. 111-114). 35 D Karl der Kahle 56; vgl. L. d e L a c g e r , Histoire de Castres et de son abbaye de Charlemagne à la Guerre Albigeois (Tarn, 1937), S. 27-43. 36 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 213; R. A 1 a u s/ A. C a s s a n/E. M e y n i a 1, Cartulaires des abbayes d'Aniane et de Gellone (Cartulaire de Gellone) (Montpellier, 1898), S. 144 ff. n° 160; Zu dieser Urkunde P ü c k e r t , Aniane und Gellone (wie Anm. 11), S. 124-129; vorsichtiger T i s s e t , Gellone (wie Anm. 28), S. 35-38 und 44-47. 37 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, MG. SS. II, 617; Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 213; BM 2 517 = A 1 a u s/C a s s a n/M e y n i a 1, S. 209 f. n° 249; ebd. S. 5 f. n° 4; dazu P ü c k e r t , Aniane und Gellone (wie Anm. 11), S. 145-160, und T i s s e t , Gellone (wie Anm. 28) S. 59 ff.; ferner BM 2 752 und 970 = C a s s a n/M e y n i a 1 (wie Anm. 24), S. 55 f. und 61-65, n os 10 und 13; dazu S t e n g e l , Immunität (wie Anm. 28), S. 19 f., Anm. 10. 38 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 213. 39 Vgl. BM 2 522 und 752 = C a s s a n/M e y n i a 1 (wie Anm. 24), S.53-57, n os 9 und 10. 40 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, MG. SS. II, 617. 41 BM 2 522 und 752 = C a s s a n/M e y n i a 1 (wie Anm. 24), S. 53-57, n os 9 und 10; die Echtheit beider Diplome erwies S t e n g e l , Immunität (wie Anm. 28), S. 19 f., Anm. 10, gegen P ü c k e r t , Aniane und Gellone (wie Anm. 11), S. 161-197, und T i s s e t , Gellone (wie Anm. 28), S. 62-67; vgl. jetzt D i c k a u (wie Anm. 28), S. 37-45. 42 Notitia de servitio monasteriorum, ed. P. B e c k e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 497 ff.; zur Datierung des „südfranzösischen Appendix" dieser Klosterliste E. L e s n e , Les ordonnances monastiques de Louis le Pieux et la Notitia de servitio monasteriorum, in: RHEF 6 (1920), S. 483-488. 43 A 1 a u s/C a s s a n/M e y n i a 1 (wie Anm. 36), S. 99 und 15 f. n os 113 und 12.

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Stiftung Wilhelms von Toulouse („von Gellone") ähnlich wie Castres aus seiner Jurisdiktion entließ oder erst seine Nachfolger der Verselbständigung nolentes volentes zustimmten, entzieht sich völlig unserer Kenntnis. Noch ehe Benedikt von Aniane ausgangs des 8. Jahrhunderts seine radikale Hinwendung zur vita monastica im Geiste und nach dem Buchstaben der Benediktinerregel vollzog, fanden im heimatlichen Septimanien Gleichgesinnte den Weg zu ihm. In ihren eigenen Niederlassungen pflegten auch sie die eremitisch bestimmte Lebensweise: Atilius im späteren Saint-Thibery44, Nebridius von Lagrasse45' Anianus (von Caunes) als Vorsteher zweier laurae46. Auf eremitische Anfänge konnten - offenbar unabhängig von Benedikt von Aniane - auch die späteren Benediktinerabteien Conques47, Arles-sur-Tech48 und Sorede49 zurückblicken. Unter Benedikts Einwirkung entschlossen sich Atilius von Saint-Thibery50, Nebridius von Lagrasse51 und Anianus, der seine laurae zu einem coenobium zu Caunes zusammenfügte52, die benediktinische Lebensform zu übernehmen53. Ob der Abt von Aniane auch hinter der Ausformung von Arles-sur-Tech und Sorede als Gemeinschaften benediktinischer Observanz stand, verraten uns die wortkargen Quellen nicht54.

44 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 203. 45 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 203; D Karl der Große 1 8 9 ; H . A t s m a - R . M a r i c h a l - P . G a s n a u l t - J . V e z i n , Chartae latinae antiquiores XVIII (Zürich, 1985), n° 667; vgl. auch die Gesta Karoli Magni ad Carcassonem et Narbonam, ed. F. E. S e h n e e g a n s , Romanistische Bibliothek 15 (Halle/S., 1898), S. 34-100. 46 D e v i c/V a i s s è t e , Histoire (wie Anm. 6), col. 57 f., n° 10; D Karl der Große 178; vgl. E. G r i f f e , Histoire religieuse des anciens pays de l'Aude des origines chrétiennes à la fin de l'epoque carolingienne (Paris, 1933), S. 202 f. und 267 ff. 47 Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici ... carmen, ed. E. F a r a l (1932), S. 22-26, w . 242-301; D Pippin I von Aquitanien 32. 48 Epistulae Helperici abbatis, ed. J. M a b i 11 o n , Annales ordinis s. Benedicti III (Paris, 1704), S. 672 f., n° 10; B M 2 725 = R. d e A b a d a l y d e V i n y a l s , Catalunya carolingia II, 1 (= Institut de estudis catalans. Memories de la Secció históricoarqueolôgica 11, Barcelona, 1926/55), S. 24 ff., n° 2. 49 D Karl der Kahle 320. 50 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 203 und 220. 51 D Karl der Große 189; A t s m a/M a r i c h a 1/G a s n a u 1 t/V e z i n (wie Anm. 45), n° 667; BM2 547 und 548 = D e v i c/V a i s s è t e , Histoire (wie Anm. 6), col. 90 ff. und 96 f., n o s 29 und 32. 52 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 204 und 206; D e v i c/ V a i s s è t e , col. 57 f., n° 10; D Karl der Große 178. 53 Theodulf von Orléans, Carmina, MG. Poetae lat. I, 520 f. n° 30: Ad monachos saneti Bendicti. 54 BM 2 725 und 914 = d e A b a d a l y d e V i n y a 1 s (wie Anm. 48), S. 24 ff.,

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Ohne eine eremitisch gestaltete Phase vorzuschalten, richteten seit etwa 785 Männer, die von Anbeginn an zum Freundeskreis Benedikts von Aniane zählten, ihre Neugründungen als benediktianische monasteria ein: Abt Attala in Saint-Polycarpe55, Abt Olemundus in Montolieu 56 , Abt Nampius in Saint-Hilaire bei Carcassonne57. U m 800/810 begegnen uns als Benediktinerklöster Conques 58 , Saint-Laurent de la Cabrerisse59, Soreze60, Saint-Genis-des-Fontaines61, Cruas62 u. a. m., von denen wir nicht wissen, auf welche Weise ihre Konvente sich die benediktinische Prägung zu eigen machten. Die Regula s. Benedicti als Lebensordnung vermittelte Nebridius von Lagrasse, Benedikts von Aniane Vertrauter63, den sich formierenden Kommunitäten von Psalmodi 64 und Donzere 65 . Uber sein Zellensystem hinaus gewährte Benedikt von Aniane mit den Mitteln seines Klosters den Niederlassungen der gleichen, der benediktinischen Lebensform die materielle Hilfe, deren sie bedurften66.

n° 2 und 267 ff. n° 1; D Karl der Kahle 53; Helperici abbatis epistula, ed. J. M a b i 11 o n , Annales ordinis s. Benedicti III (1704), S. 672 f. n° 10; DD Karl der Kahle 38 und 221. 55 D Karl der Große 305; zu dieser Fälschung W o 1 f f , L'Aquitaine (wie Anm. 26), S. 56, Anm. 243; D Karl der Kahle 50; D Karlmann von Westfranken 52. 56 Theodulf von Orléans, Carmina, MG. Poetae lat. I, 522 n° 30; Alcuini epistulae, MG. Epist. IV, 430 f. n° 272; BM 2 600 = D e v i c/V a i s s è t e (wie Anm. 6), col. 107 ff., n°39. 57 BM 2 564 = D e v i c/V a i s s è t e col. 156 ff., n° 69; D Pippin I von Aquitanien 14; D Karl der Kahle 389. 58 G. D e s j a r d i n s , Cartulaire de l'abbaye de Conques en Rouerge (Paris, 1879), S. 1 ff., n° 1; BM 2 688 = D e s j a r d i n s , S. 409 ff., n° 580; Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici ... carrnen, ed. E. F a r al (1932), S. 26, w . 294-301; D e v i e / V a i s s è t e (wie Anm. 6), col. 81-85, n° 24; D Pippin I von Aquitanien 32. 59 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, MG. SS. II, 617; D Karl der Kahle 41; vgl. G r i f f e , Histoire religieuse (wié Anm. 46), S. 267 ff. 60 BM2 644 = L.-C. B r u g è 1 e s , Chroniques ecclésiastiques du diocèse d'Auch (Toulouse, 1746), preuves 2 e partie, S. 42 f.; vgl. J. A. G i r a r d , Date de la fondation de l'abbaye de Sorèze, in: Revue du Tarn (1963), S. 111-116. 61 BM 2 708 = d e A b a d a l y d e V i n y a 1 s (wie Anm. 48), S. 206 f., n° 1. 62 BM 2 654 = D e v i c/V a i s s è t e (wie Anm. 6) col. 116 f., n° 44; D Lothar 1134. 63 Vgl. G r i f f e , Histoire religieuse (wie Anm. 46), S. 100-103. 64 Chronicon Uticense, edd. D e v i c/J. V a i s s è t e (wie Anm. 6) col. 27; D Karl der Große 303. Die in dieser Fälschung berichtete Beteiligung des Abtes Nebridius von Lagrasse an der monastischen Ausrichtung Psalmodis gibt wohl ein Stück glaubhafter Klostertradition wieder; der Tendenz der Fälschung, Psalmodi zu einem bevorzugt privilegierten Königskloster zu machen, läuft der Nachricht bis zu einem gewissen Grade sogar zuwider. 65 BM 2 525 = P.-F. C h i f f 1 e t , Histoire de l'abbaye et de la ville de Tournus (Dijon, 1664), preuves, S. 260 ff.; vgl. J. d e F o n t - R é a u l x , L'abbaye de Donzère, in: Bulletin de la Société d'archéologie et de statistique de la Drôme 66 (1937/38), S. 235 f. 66 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 208; vgl. auch Benedikts Brief an Abt Georg von Aniane, MG. SS. XV, 220.

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Seine Vita leitete daraus den Anspruch Anianes ab, als capud (!) all dieser coenobia zu fungieren 67 . In der Tat beherbergte Benedikts monasterium Mönche aus den betreffenden Klöstern, die der Abt monastischer Schulung, einer intensiven Einführung ins klösterliche Leben unterzog, das sich an der Regula s. Benedirti ausrichtete und die von Benedikt entwickelten Anordnungen für den Alltag des Gemeinschaftslebens in die Praxis umsetzte. Er selbst bereiste häufig diese monasteria, nicht nur anläßlich freundnachbarlicher Besuche, sondern auch um im Rahmen einer Visitation disziplinäre und organisatorische Fragen zu klären, die monastischen Ideale und die benediktinische Spiritualität zu vermitteln bzw. wachzuhalten 68 . Briefe Alkuins legen es nahe, daß diese benediktinischen Gemeinschaften eine Gebetsverbrüderung miteinander verband 69 ; Benedikt von Aniane selbst erbat auf dem Sterbebett ihr fürbittendes Gebet 70 . Die Grußepistel, die Theodulf von Orléans kurz nach 800 an die turba patrum richtete, benennt den Kreis jener elf Klosteroberen, denen Benedikt von Aniane materielle, ideelle, geistlichmonastische Unterstützung zuwandte; identifizieren lassen sich allerdings nur die Äbte von Lagrasse, Saint-Thibéry, Caunes, Saint-Hilaireen-Carcessès, Saint-Polycarpe und Montolieu. Der Bischof von Orléans seinerseits suchte mit seinem versifizierten Gruß darum nach, man möge auch sein erneuertes monasterium in diesen Kreis aufnehmen 71 . Erweiterungen dieser benediktinischen Klostergruppe waren also erwünscht, zum mindesten nicht ausgeschlossen. Im Jahre 814 berief Ludwig der Fromme, der gerade die Nachfolge des Vaters angetreten hatte, Benedikt von Aniane aus Septimanien ab. Der Reformabt folgte dem Ruf 7 2 und legte 815 den Abtsstab in Aniane in die Hände eines seiner Schüler73. Zwar behielt er sich noch personalpolitische Entscheidungen vor 74 . Doch inzwischen war Nebridius, Abt 67 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, M G . SS. X V , 206. 68 Ebd., S. 208. 69 Alcuini epistulae, M G . Epist. IV, 99 ff. und 340-343 n o s 56, 57, 205 und 206; vgl. P ü c k e r t , Aniane und Gellone (wie A n m . 11), S. 229-234; dazu jetzt D . G e u e n i c h , Gebetsgedenken und anianische Reform - Beobachtungen zu den Verbrüderungsbeziehungen der Abte im Reich Ludwigs des Frommen, in: V u F 38 (Sigmaringen 1989), S. 81 ff. 70 Benedikts von Aniane Abschiedsbrief an Nebridius von Narbonne, M G . SS. X V , 220. 71 Theodulf von Orleans, Carmina, M G . Poetae lat. I, 520 f. n ° 30. 72 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, M G . SS. X V , 215. 73 Annales Anianensis ad a. 814, edd. D e v i c/V a i s s e t e (wie Anm. 6), col. 11 f.; C a s s a n / M e y n i a l , (wie Anm. 24), S. 413 f., n° 290; B M 2 580 = C a s s a n / M e y n i a 1, S. 60 f., n° 12. 74 B M 2 684 = C a s s a n/M e y n i a 1, S. 50 f., n° 7.

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von Lagrasse, der Psalmodi und Donzére der benediktinischen Lebensform erschlossen75 und auch die Unterstellung Gellones unter Aniane gutgeheißen hatte 76 , zum Erzbischof von Narbonne aufgestiegen77. Seine Zustimmung holte Benedikt von Aniane ein, als er der Tochtergründung zu Castres das Wahlrecht gewährte und dem Abt von Aniane nur das fallweise zu übende Recht der Abteinsetzung und der disziplinären Korrektion beließ 78 . In seinem letzten Schreiben, das er vor dem Hinscheiden diktierte, trug der Reformabt Nebridius die geistliche und materielle Fürsorge für Aniane und alle familiares amici, aber auch für das (ehedem?) von Nebridius geleitete monasterium auP 9 . Als Ende 821 zu Aniane eine Abtwahl anstand, fand sich Nebridius von Narbonne an der Seite des kaiserlichen missus Agobard von Lyon ein, um die Neuwahl zu leiten 80 . Nur wenige Monate später wählten die benediktinischen Mönche des Klosters Bañólas ihren neuen Oberen im Beisein des Erzbischofs von Narbonne 81 . Gleiche Regel, gleiche Observanz, gesichert durch die Schulung von Konventualen in einem Musterkonvent und Visitation seitens des Abtes des Klosters, das in der reformatorischen Lebensgestaltung die Priorität beanspruchen durfte, Mitwirkung dieses Oberen bei der Bestellung neuer Klostervorsteher, Gebetsbund, der Lebende und Verstorbene einschloß, das alles deutet auf eine Art Konföderation hin, deren Vorbild man bei Fructuosus von Braga suchte 82 , eine Konföderation, die einer-

75 D Karl der Große 303; BM 2 525 = C h i f f 1 e t , Histoire (wie Anm. 65), S. 260 ff. Die Identität des Gründerabtes von Donzere mit dem Abt von Lagrasse und späteren Erzbischof von Narbonne ist nicht über jeden Zweifel erhaben; nur die seltene Namensform (Nebridius (Nimfridius) und die Gleichzeitigkeit sprechen dafür. Im Falle der Beteiligung Nebridius' von Lagrasse an der monastischen Ausrichtung Psalmodis tritt noch die räumliche Nähe beider Klöster hinzu. 76 Nach J. P l a n t a v i t d e l a P a u s e , Chronologia praesulum Lodovensium (Aramantii, 1634), S. 24, trug eine pervetusta schedula fundationis des Klosters Gellone die Zeugenunterschrift des Bischofs Nebridius, den der Gewährsmann allerdings unter die Oberhirten von Lodeve einreiht. 77 G r i f f e, Histoire religieuse (wie Anm. 46), S. 100 ff. 78 BM 2 684 = C a s s a n/M e y n i a 1 (wie Anm. 24), S. 50 f. n° 7. 79 Abschiedsbrief Benedikts von Aniane an Nebridius von Narbonne, MG. SS. XV, 220. 80 BM 2 743 = C a s s a n/M e y n i a 1 (wie Anm. 24) S. 75 ff. n° 19; zur Datierung des Diploms E. B o s h o f , Erzbischof Agobard von Lyon (= Kölner Historische Abhandlungen 17, Köln/Graz, 1969), S. 81 ff. 81 BM 2 759 = d e A b a d a l y d e V i n y a 1 s (wie Anm. 48), S. 45 ff. n° 1. 82 O. E n g e l s , Schutzgedanke und Landesherrschaft im östlichen Pyrenäenraum (= Spanische Forschungen der Görresgesellschaft II. Reihe 14, Münster/W., 1970), S. 66-70; dazu jedoch A. L i n a g e C o n d e , Fructuose, in: D H G E X I X (Paris, 1981), Sp. 224 f.

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seits das hierarchische Strukturelement der Unterordnung der Tochterabtei unter das Mutterkloster mied, andererseits dennoch auf Fortdauer angelegt war, da ihr Begründer wenigstens seinen unmittelbaren Nachfolger zu präsentieren wußte. Die vorbildliche Lebensführung und der reformatorische Elan der turba patrum mit ihren monachi s. Benedirti, die sich um Benedikt von Aniane scharten, ließ Bischof Theodulfs von Orléans Wahl auf diesen monastischen Reformkreis fallen, als er die geistliche und materielle Erneuerung des alten Bischofskloster Saint-Mesmin de Micy in seiner Diözese in die Wege leitete. Von Benedikt von Aniane erbat er die Reformmönche 83 . Etwa 800 entsandte der Abt von Aniane eine Mönchsgruppe unter der Leitung eines magister, die binnen kurzem dem monasterium zu hoffnungsvoller Blüte verhalf84. In der von seinem Vorgänger errichteten cella Cormery 85 siedelte Alkuin die Konventualen seines monasterium Saint-Martin de Tours an, die sich für die Weiterführung des monastischen Lebens entschieden hatten 86 ; ihre vita monastica sollte fortan im Zeichen der Regula s. Benedicti stehen. Daher erbat er von Benedikt von Aniane eine Reformkolonie 87 . Der septimanische Reformer schickte 20 Konventualen, auch sie geleitet von einem magister98. Die auf diese Weise entstandene benediktinische Gemeinschaft zu Cormery erhielt erst in den endzwanziger Jahren des 9. Jahrhunderts einen eigenen Abt 89 ; die vermögensrechtliche Unterordnung unter Abt und Konvent von Saint-Martin blieb unangetastet90. In die umfassende Erneuerung der Diözese Lyon bezog der von Karl dem Großen berufene Erzbischof Leidrad91 auch das altehrwürdige 83 Theodulf von Orleans, Carmina, MG. Poetae lat. I, 520 f. n° 30. 84 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 209; BM 2 568 = M. B o u q u e t , Recueil des historiens des Gaules et de la France VI (Paris 1749), S. 472 f. n° 23; B M 2 825 = J. T h i 11 i e r - E. J a r r y , Cartulaire de Sainte-Croix d'Orléans I (814-1300) (Paris, 1906), S. 75-78, n° 38. 85 J. J. B o u r a s s é , Cartulaire de Cormery (= Mémoires de la Société archéologique de Touraine 12, Tours, 1861), S. 3 - 7 n°l; BM 2 713 = B o u r a s s é , S. 17 ff. n° 7; vgl. auch die Fälschung D Karl der Große 259. 86 Siehe dazu J. S e m m l e r , Mönche und Kanoniker im Frankenreichs Pippins III. und Karls des Großen, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift ( = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 68, Göttingen, 1980), S. 85 f. 87 Allcuini epistulae, MG. Epist. IV, 308 ff. n° 104. 88 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 210. 89 D Pippin I von Aquitanien 18. 90 BM 2 518, 713, 886 und 967 = B o u r a s s é (wie Anm. 85), S. 13,17 ff., 21-26, n o s 5, 7, 9 und 11; DD Karl der Kahle 2 0 , 1 3 6 , 2 2 6 und 284; D Odo 33. 91 Vgl. J. S e m m l e r , Zu den bayrisch-westfränkischen Beziehungen in karolingischer Zeit, in: Z B L G 29 (1966), S. 406-414; O e x 1 e , Forschungen (wie Anm. 8), S. 146-157.

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Kloster Ile-Barbe ein. Auf die Bitte des Lyonneser Oberhirten hin überstellte Benedikt von Aniane 20 seiner Mönche; dank der bischöflichen Initiative wuchs die so zusammengewachsene klösterliche Gemeinschaft unter einem vom Erzbischof ausgewählten Klostervorsteher 92 zu einem zahlenstarken Konvent heran, der im Metropoliten den Klosterherrn sah 93 . Enge Beziehungen verknüpften Benedikt von Aniane mit Ludwig dem Frommen, der als Unterkönig über Aquitanien und Septimanien gebot, und mit seinem Hof 9 4 . 790/95 übergab der junge König dem Reformabt das Kloster Menat in der Auvergne zur Reform; alsbald sah es zahlreiche Mönche in seinen Mauern 95 . Wenig später vertraute Ludwig der Fromme Benedikt von Aniane Saint-Savin-sur-Gartempe an mit der Maßgabe, monastisches Leben zu wecken 96 . Die klösterliche Gemeinschaft enttäuschte weder die Hoffnungen des Herrschers noch die ihres Lehrers 97 . Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 9. Jahrhunderts entsandte Benedikt von Aniane nahezu 40 Mönche in das Kloster Massay im Berry, das Ludwig der Fromme gleichfalls dem Abte zur Erneuerung übergeben hatte 98 . Freilich bestellte der König der jungen Kommunität den Abt 9 9 . In sechs monasteria Septimaniens und Aquitaniens verpflanzte der Reformabt von Aniane Mönche, die wie er nach St. Benedikts Regel lebten und von ihm selbst in die praktische Ausgestaltung des klösterlichen Gemeinschaftslebens und die Spiritualität benediktinischer conversatio eingeführt worden waren. Einigen dieser Kolonien bestellte er einen magister als Oberen; nur in einem Falle benannte er den künftigen Abt 1 0 0 . Obwohl Benedikt seinen Jüngern notfalls auch materielle 92 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 209; Leidrad von Lyon, Suggestiuncula, ed. A. C o r v i 11 e , Recherches sur l'histoire de Lyon du V e au IX e siècle (Paris, 1928), S. 286. 93 B M 2 595 = N . d e C h a r p i n - F e u g e r o l l e s - G . G u i g u e , Grande pancarte ou cartulaire de l'abbaye de l'Ile-Barbe I (Montbrison, 1923), S. 220 f. n° 3; D Karl von der Provence 8; vgl. O e x 1 e , Forschungen (wie Anm. 8), S. 149-153. 94 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, MG. SS. II, 617; Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, M G . SS. XV, 211 und 213. 95 Ebd. S. 213 f.; vgl. C. L a u r a n s o n - R o s a z , L'Auvergne et ses marges (Verlay, Gévaudan) du VIII e au X I e siècle. La fin du monde antique? (Le Puy-en-Velay, 1987), S. 228. 96 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, M G . SS. XV, 214. 97Vgl. F. C o u t a n s a i s , Les monastères du Poitou avant l'an mil, in: RevMab 53 (1963), S. 14 ff. 98 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 214; Annales Masciacenses ad a. 814, MG. SS. III, 169. 99 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, M G SS. XV, 214. 100 Ebd., 209 u. 214.

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Hilfe angedeihen ließ 101 , weiß seine Vita nur von zweien dieser coenobia, die der Abt des Mutterklosters persönlich aufsuchte 102 ; einer dieser Besuche könnte die Formen einer Visitation angenommen haben 103 . Der von Théodulf von Orléans geäußerte Wunsch, das ihm als Diözesanbischof unterstehende Kloster Saint-Mesmin de Micy der „septimanischen Konföderation" anzuschließen 104 , erstreckte sich demnach lediglich auf den geistlich-monastischen Bereich. Mit Benedikt und seinem Kloster Aniane verbanden die sechs von Schülern des Reformabtes geprägten Gemeinschaften nur die gemeinsame Mönchsregel und die gemeinsame Lebensweise. „Starthilfe" gewährte das Mutterkloster nur in Ausnahmefällen; regelmäßige Visitation durch den Abt von Aniane verboten sich angesichts der von den Eigenklosterherren bestellten Vorsteher von selbst. In seinem Unterkönigreich wandte Ludwig der Fromme noch einer ganzen Reihe von Klöstern seine Fürsorge zu, die über wirtschaftliche Stützungsmaßnahmen hinausgegangen sein mag. Vertreter des Adels und des Episkopats folgten seinem Beispiel 105 . Daß Benedikt von Aniane, seine Freunde oder Schüler 106 diesen monasterio, die benediktinische Lebensform vermittelt hätten, erfahren wir aus der Vita des Reformabtes, die behauptet, omnia pene monasterio, in Aquitania sita hätten die regularis forma übernommen. Was Benedikts Biographie

101 Ebd., 214. 102 Ebd., 209 u. 214. 103 Ebd., 214. 104 Theodolf von Orléans, Carmina, MG. Poetae lat. I, 520 f., n° 30. 105 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, MG. SS. II, 616 f. 106 Arnoldus, der zeitweise als baiolus Ludwigs des Frommen am aquitanischen Hofe weilte, wirkte wohl 817 als missus zusammen mit Benedikt von Aniane im Kloster SaintDenis. Als Abt vermittelte er seiner Mönchsgemeinschaft auf der der Loiremündung vorgelagerten Insel Noirmoutier die Regula s. Benedicti als nunmehr allein gültige monastische Satzung und wurde im gleichen Sinne auch in Saint-Florent-le-Vieil im Anjou tätig: Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, MG. SS. II, 609; BM 2 905 = J. T a r d i f , Monuments historiques. Cartons des rois (Paris, 1866), S. 86-89, n° 124; BM 2 875 = L. M a î t r e , in: BEC 59 (1898), S. 250-253; Annales s. Florentii Salmuransis ad a. 808, ed. L. H a 1 p h e n , Recueil d'annales angevines et vendômoises (= Collection de textes pour servir à l'étude et à l'enseignement de l'histoire, Paris, 1903), S. 113; D Karl der Große 298 (Fälschung). Arnoldus' (Arnulfus') Lebenslauf läßt sich allerdings nur dann in dieser Weise skizzieren, wenn die von F. C o u t a n s a i s , in: RevMab 53 (1963), S. 7 f., und H. K e 11 e r , Zur Struktur der Königsherrschaft im karolingischen und nachkarolingischen Italien, in: QFIAB 47 (1967), S. 149 Anm. 96, befürwortete Personenidentität zutrifft. Vgl. dazu jetzt auch B. K a s t e n , Adalhard von Corbie. Die Biographie eines karolingischen Politikers und Klostervorstehers (= Studia humaniora 3, Düsseldorf, 1986), S. 106, und J.-P. B r u n t e r c ' h , Moines bénédictins et chanoines réformés au secours de Louis le Pieux (830-834), in: Bulletin de la Société des antiquaires de France (1986), S. 73 f. und 83.

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ihrem Helden zuschreibt 107 , rechnet Ermoldus Nigellus dem aquitanischen Unterkönig als Verdienst an108. Tatsächlich entfaltete der Abt von Aniane im Auftrag Ludwigs des Frommen eine rege Visitationstätigkeit. Denen, die mit Buchstaben und Geist der Benediktinerregel noch nicht vertraut waren, brachte er sie nahe eamque per singula capitula discutiens, nota confirmans, ignota elucidansm. Dafür benutzte er auch die Synode von Arles des Jahres 813 als Forum 110 . Welche monasteria mit ihren Gemeinschaften Benedikts Visitationen erreichten, wissen wir nicht, obwohl die meisten reorganisierten bzw. neugegründeten Klöster Aquitaniens und Septimaniens sich bereits im 9. Jahrhundert als Benediktinerklöster ausweisen 111 und, sofern sie nicht anderen Kirchen unterstanden 112 , den Rang von Königsklöstern besaßen 113 . Diejenigen, die sich der Regula s. Benedicti öffneten, verband untereinander nur die gemeinsame Regel und teilweise auch die gemeinsame Praxis benediktinischen Gemeinschaftslebens, die ihnen der Visitator vermittelt hatte 114 . Dessen Auftrag freilich ging vom Herr-

107 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indemis, MG. SS. XV, 211. 108 Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici... Carmen, ed. E. F a r a 1 (1932), S. 22, w . 224-229, und S. 92, w . 1184-1193. 109 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 211. 110 Concilium Arelatense (813), MG. Concilia II, 1, 248 -253; Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, M G . SS. XV, 208. 111 Als Beispiele seien herausgegriffen Charroux (D Karl der Große 194; Miracula s. Genulfi, MG. SS. XV, 1206; BM 2 573 = P. d e M o n s a b e r t , Liber de constitutione, institutione, consecratione, reliquiis, ornamentis et privilegiis Karoffensis coenobii Pictaviensis dioecesis [= Archives historiques du Poitou 16, Poitiers, 1910], S. 13 ff.), SaintMaixent (BM 2 586 und 843 = A. R i c h a r d , Chartes et documents pour servir à l'histoire de l'abbaye de Saint-Maixent [= Archives historiques du Poitou 16, Poitiers, 1886] S. 1 ff. und 6 ff., n o s 1 und 4; D Pippin I von Aquitanien 5; Chronicon s. Maxentii, ed. J. V e r d o n , La Chronique de Saint-Maixent 751-1140 [= Les classiques de l'histoire de France 33, Paris, 1979], S. 74.), Solignac (BM 2 655 = B o u q u e t , Recueil [wie Anm. 66] S. 504 f. n° 69; M. D e 1 o c h e , Cartulaire de l'abbaye de Beaulieu [Paris 1859] S. 1-7 n° 1) und Moissac (D Pippin I von Aquitanien 1; L. L e v i 11 a i n , Sur deux documents carolingiens de l'abbaye de Moissac, in: M-A, 2 e sér. 18 [1914], S. 33 ff.). 112 Vgl. etwa Saint-Gilles (JW. 3264 = MG. Epist. VII, 157 n° 197) und Nouaillé (BM 2 516 = H . A t s m a - J . V e z i n - R . M a r i c h a l , Chartae latinae antiquiores XIX [Zürich, 1987], n° 681). 113 Notitia de servitio monasterium, ed. B e c k e r (wie Anm. 42), S. 498 f. 114 Von Gebetsverbrüderungen und gegenseitigem Totengedenken innerhalb des Kreises der aquitanischen Benediktinerklöster ist kaum etwas bekannt: Bischof Ato, der Reformator Nouaillés, ließ 799 sein eigenes Gedächtnis in Eucharistiefeier und Offizium fest verankern (P. d e M o n s a b e r t , Chartes de l'abbaye de Nouaillé de 678 à 1200 [= Archives historiques du Poitou 49, Poitiers 1936], S. [11] ff., n° 8); Wilhelm „von Gellone" verfügte, daß sein Tod cunctis monasteriis in regno domni Karoli pene sitis angezeigt werde, griff also weit über den septimanisch-aquitanischen Kreis hinaus (Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 213).

Josef Semmler

274

s c h e r aus u n d galt n u r für B e n e d i k t p e r s ö n l i c h 1 1 5 . W e n n B e n e d i k t s V i t a diesen befristeten Visitationsauftrag in die W o r t e kleidet: omnibus regno

suo monasteriis

prefecit

(sc. Benedictum

abbatem)llb,

in

- dann be-

r e c h t i g t uns keine a n d e r e Q u e l l e d a z u , d a r a u s eine U b e r o r d n u n g des A b t e s v o n A n i a n e i m Sinne des H a u p t e s eines h i e r a r c h i s c h

struk-

t u r i e r t e n K l o s t e r v e r b a n d e s abzuleiten: N i c h t einmal ein quoddam

con-

gregationis

corpus läßt sich e r k e n n e n .

III. Sein

imponierendes

Reformprogramm,

das

Kaiser

Ludwig

F r o m m e v o m B e g i n n seiner R e g i e r u n g an u n t e r das M o t t o d e r novatio

regni

Francorum

u n d die exaltatio Francorum

stellte 1 1 7 , zielte n i c h t z u l e t z t auf d e n

d e r K i r c h e a b 1 1 8 . D e n einzelnen K i r c h e n i m

der Rehonor

regnum

wies d e r K a i s e r einen privilegierten P l a t z i m V e r f a s s u n g s -

gefüge des R e i c h e s a n 1 1 9 . F ü r die an diesen K i r c h e n w i r k e n d e n G e i s t lichen hielt er i m g e s a m t e n regnum

geltende, allgemein v e r b i n d l i c h e

S a t z u n g e n b e r e i t 1 2 0 . D a n k d e r V o r g a b e n , die die k a r o l i n g i s c h e

Kir-

115 Vita Benedict! abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 211 und 215. 116 Ebd. 211. 117 Vgl. jetzt J. S e m m l e r , Renovatio regni Francorum. Die Herrschaft Ludwigs des Frommen im Frankenreich 814-829/30, in: P. G o d man/R. C o l l i n s (Hrsg.), Charlemagne's heir. New perspectives on the reign of Louis the Pious (814-840) (Oxford, 1990), S. 125-146. 118 Prooemium generale (818/819); MG. Capit. I, 274 f.; Admonitio ad omnes regni ordines (825) cap. 2, MG. Capit. I, 303; Formulae Senonenses recemtiores, MG. Formulae S. 215 n° 9; Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici ... carmen, ed. E. F a r a 1 (1932) S. 74 ff. und 90 w . 941-993 und 1144 f.; vgl. N. S t a u b a c h , Cultus divinus und karolingische Reform, in: FMASt 18 (1984), S. 555-561; K . F . W e r n e r , Hludovicus Augustus - Gouverner l'empire chrétien - Idees et réalités, in: G o d m a n/C o 11 i n s , S. 63 ff. und 87 ff.; W. H a r t m a n n , Herrscher der Karolingerzeit, in: K. S c h n i t h (Hrsg.), Mittelalterliche Herrscher in Lebensbildern. Von den Karolingern zu den Staufern (Graz/Wien/Köln, 1990), S. 49 f. 119 Vgl. T. v. S i c k e 1, Beiträge zur Diplomatik III, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien, phil.-histor. Klasse 47 (Wien, 1867), S. 216-240; S t e n g e l , Immunität (wie Anm. 28), S. 25-33; F.-L. G a n s h o f , L'Eglise et le pouvoir royal dans la monarchie franque sous Pépin III et Charlemagne, in: Le chiese nei regni dell'Europa occidentale e i loro rapporti con Roma sino ali '800 (= Settimane di studio del Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo 7, Spoleto 1960) S. 124 f.; S e m m 1 e r , Iussit (wie Anm. 34), S. 121-124. 120 Cbronicon Laurissense breve ad a. 816, ed. H. S c h n o r r v . C a r o l s f e l d , in: NA 36 (1911), S. 38 f.; Institutio canonicorum Aquisgranensis, MG. Consilia II, 1, 312421; Institutio sanctimonialium Aquisgranensis, MG. Consilia II, 1, 422—456; vgl. die Epistulae ad arcbiepiscopos missae (816/17), MG. Concilia II, 1, 458-464, und das Capitulare

Benediktinische Reform und kaiserliches Privileg

275

chengesetzgebung seit den vierziger Jahren des 8. Jahrhunderts geschaffen hatte 121 , kam als Lebensordnung der fränkischen Mönche fortan nur noch die Regel St. Benedikts in Frage 1 2 2 . Indem der Kaiser die monachorum causa123 gerade Benedikt von Aniane anvertraute 124 , erteilte er allen anderen monastischen Traditionen eine Absage: Wenn Ludwig der Fromme durch Synodalabschluß und Gesetzespromulgation dem Ideal und der Praxis des Abtes von Aniane, dem Prinzip der una regula, d. h. der Befolgung der Benediktinerregel auch dem Buchstaben nach, exklusive Gültigkeit zu verschaffen suchte 125 , dann mußte das Grundgesetz der Regel ergänzt werden durch einheitliche „Ausführungsbestimmungen", durch die una consuetudonb. Aus Septimanien in seine Nähe berufen, trat Benedikt von Aniane offenbar nacheinander die Klosterleitung im elsässischen Maursmünster 1 2 7 und in der herrscherlichen Stiftung Kornelimünster/Inden bei Aachen an 1 2 8 . Während zweier Synoden im August/September 816 1 2 9 und im Juli 817 1 3 0 entstanden unter dem entscheidenen Einfluß des septimanischen Reformers die beiden kaiserlichen Kapitu-

ecclesiasticitm (818/19) cap. 3, MG. Capit. I, 276, sowie das Concüium in Francia habitum (818/19/29) can. 9, MG. Concilia II, 2, 595. 121 Vgl. J. S e m m 1 e r , Karl der Große und das fränkische Mönchtum, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben II (Düsseldorf, 1965), S. 262-267; d e r s . , Pippin III. und die fränkischen Klöster, in: Francia 3 (1975), S. 130 ff; A n g e n e n d t , Das Frühmittelalter (wie Anm. 19), S. 288 ff. und 320-327. 122 S e m m 1 e r , Benedictus II (wie Anm. 19), S. 3 ff. 123 Capitulare ecclesiasticum (818/19) cap. 5, MG. Capit. 1,276. 124 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215 f. 1 2 5 S e m m l e r , Beschlüsse (wie Anm. 21), S. 22 f.; d e r s . , Benedictus II (wie Anm. 19), S. 9 f. 126 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215 und 216; Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, MG. SS. II, 622; Statuta Murbacensia, e d . J . S e m m l e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 450; Capitula in Auuam directa, ed. H. F r a n k , ebd., S. 333; Capitula notitiarum, cap. 1, ed. H. F r a n k , ebd. S. 341. 127 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215. 128 Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici ... Carmen, ed. E. F a r a l (1932) S. 94 ff., w . 1214-1250; E. E. S t e n g e 1, Die Immunitätsurkunde Ludwigs des Frommen für Kloster Inden (Kornelimünster) (=Abhandlungen und Untersuchungen zur mittelalterlichen Geschichte, Köln/Graz (1960), S. 249-263; vgl. H. Z i e 1 i n s k i , Die Klosterund Kirchengründungen der Karolinger, in: I. C r u s i u s (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte und Struktur der mittelalterlichen Germania Sacra (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 93, Göttingen 1989), S. 119 ff. 129 Synodi I Aquisgranensis decreta authentica (816), ed. J. S e m m 1 e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 457-468. 130 Synodi II Aquisgranensis decreta authentica (817), ed. J. S e m ml e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 472-481.

276

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larien, die die für alle benediktinischen monasteria geltenden, die Regel ausdeutend ergänzenden Bestimmungen enthielten, die man augenscheinlich auf dem Reformreichstag von 818/19 harmonisierend in einem Kapitular zusammenfaßte 131 . Durchführung und Beobachtung jener reichsgesetzlich verankerten una consuetudo überließen Kaiser und Abt nicht dem guten Willen, der Loyalität und dem Engagement der einzelnen Synodalen und Klosteroberen. Die Überwachung der Applikation der neuen Satzungen legten sie vielmehr in die Hände von missi dominiciU2\ Ein bewährtes fränkisches Herrschaftsinstrument gelangte zum Einsatz sowohl im Rahmen der bereits abgegrenzten Zirkumskriptionen 133 als auch in der Form limitierter Spezialaufträge 134 . Die Synodalen, die meist im Beisein des Kaisers getagt hatten 135 , benannten den 1. September 817 als Stichtag für die Aussendung der missilib; unvorhergesehene Ereignisse, die die Regelung des Problems der Herrschaftsnachfolge im Frankenreich in den Vordergrund rückten 137 , erheischten, wie es scheint, eine Verlängerung des Mandats der Königsboten bis zur Reichsversammlung des Jahreswechsels 818/19 1 3 8 . Den missatischen Auftrag zur Inspektion, Visitation und benediktinischen Ausrichtung der Mönchsklöster erteilte Ludwig der Fromme in erster Linie Benedikt von Aniane selbst 139 , aber auch seinen 131 Regula Benedicti abbatis sive Collectio capitularis (818/19?), ed. J. S e m m l e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 515-535; vgl. W. H a r t m a n n , Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (= Konziliengeschichte. Reihe A: Darstellungen, Paderborn/München/Wien/Zürich, 1989), S. 156-164. 132 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215; Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici... carmen, ed. E. F a r a 1 (1932), S. 92, w . 1180-1184; vgl. J. H a n n i g , Pauperiores vassi de palatio? Zur Entstehung der karolingischen Königsbotenorganisation, in: M I Ö G 91 (1983) S. 309-374. 133 Frothar von Toul, Epistolae, MG. Epist. V, 278 n° 3; vgl. dazu K . F . W e r n e r , Missus - marchio - comes. Entre l'administration centrale et l'administration locale dans l'Empire carolingien (= Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs, Sigmaringen, 1984), S. 113-121. 134 Capitulare de inspiciendis monasteriis, MG. Capit. I, 321 f. 135 Hildemar von Corbie-Civate, Expositio regulae, ed. R. M i 11 e r m ü 11 e r , Vita et regula ss. patris Benedicti III (Rgensburg, 1880) S. 301 f. 136 Hludowici imperatoris epistolae ad archiepiscopus missae, MG. Concilia II, 1, 458—464; Statuta Murbacensia, capp. 5 und 10, ed. J. S e m m l e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 443 ff. 137 Vgl. P. R. M c K e o n , 817, une année désastreuse et presque fatale pour les Carolingiens, in: M-A 84 (1978), S. 5-12; vgl. E. B o s h o f , Einheitsidee und Teilungsprinzip in der Regierungszeit Ludwigs des Frommen in: G o d m a n/C o 11 i n s (Hrsg.), Charlemagne's heir (wie Anm. 117), S. 178 ff. 138 Hludowici imperatoris epistolae ad archiepiscopos missae, MG. Concilia II, 1, 450464; Frothar von Toul, Epistolae, MG. Epist. V, 278 n° 3; Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici... carmen, ed. E. F a r a 1 (1932), S. 132 ff., w . 1756-1773. 139 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, MG. SS. II, 622.

Benediktinische Reform und kaiserliches Privileg

277

Schülern, energischen Vertretern seiner monastischen Formung 1 4 0 . Bericht erstatten mußten die missi monastici dem Kaiser und Abt Benedikt 141 . Man wird daraus folgern dürfen, daß Benedikt von Aniane den Einsatz der missi koordinierte. N u r so läßt sich die Aussage seiner Vita praefecit eum ... imperator cunctis in regno suo coenobiis, ut, sicut Aquitaniam Gotiamque norma salutis instruxerat, ita etiam FranciamU2 salutifero imbueret exemploHi mit den uns zur Verfügung stehenden fragmentarischen Quellen in Einklang bringen. Denn Benedikt von Aniane visitierte nachweislich nur Saint-Denis 144 und Sainte-Colombe de Sens 145 . Sollte er mit dem homonymen und gleichzeitigen Abt von Saint-Maur-des-Fosses identisch sein 146 , dann führte er auch Saint-Wandrille der vita monastica zu, wie sie Kaiser und Synoden in den Jahren 816 bis 819 umschrieben hatten 1 4 7 . Von den missi, die in Ferneres 1 4 8 , Saint-Amand 1 4 9 und Saint-Riquier 150 , in SaintGermain-des-Pres 1 5 1 , Fulda 1 5 2 und vielleicht in Prüm 1 5 3 wirkten, wissen

140 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215; Capitula in Auuam directa, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 333. 141 Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici... Carmen, ed. E. F a r a 1 (1932), S. 94, w . 1202-1205. 142 Zur Bedeutung Francia = gesamtes Frankenreich (außer Aquitanien und Septimanien) M. L u g g e , Gallia und Francia im Mittelalter (= Bonner Historische Forschungen 15, Bonn, 1960), S. 26-31. 143 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215. 144 B M 2 905 = T a r d i f , Monuments (wie Anm. 106), S. 86-89 n° 124; L. L e v i 11 a i n , Etudes sur l'abbaye de Saint-Denis à l'époque mérovingienne, in: B E C 86 (1925), S. 36 f.; O e x 1 e , Forschungen (wie Anm. 8), S. 113 f.; J . S e m m 1 e r , SaintDenis: Von der bischöflichen Coemeterialbasilika zur königlichen Benediktinerabtei, in: H. A t s m a (Hrsg.), La Neustrie. Les pays au nord de la Loire de 650 à 850, II (= Beihefte der Francia 16, 2, Sigmaringen, 1989), S. 107 ff. 145 BM 2 961 = M. Q u a n t i n , Cartularie général de l'Yonne I (Auxerre, 1854), S. 49 ff. n° 25. 146 Vgl. K a s t e n , Adalhard (wie Anm. 106), S. 89. 147 Gesta ss. patrum Fontanellensis coenobii, edd. F. L o h i e r - J . L a p o r t e (Paris/Rouen, 1936), S. 97. 148 Vita s. Aidrici episcopi Senonensis, ed. J. M a b i 11 o n , Acta sanctorum ordinis s. Benedicti IV, 1 (Paris, 1675), S. 569 f.; Frothar von Toul, Epistolae, M G . Epist. V, 287 n° 16; Lupus von Ferrières, Correspondance II, ed. L. L e v i 11 a i n , Les classiques de l'histoire de France (Paris, 1935), S. 200-210, n° 130. 149 Annales s. Amandi breves ad a. 819, MG. SS. II, 184; BM 2 757 = A. L e G 1 a y , in: Revue agricole, industrielle et littéraire ... de l'arrondissement de Valenciennes (1854), S. 20 ff. n° 1. 150 Catalogus abbatum Centulensium, MG. SS. XV, 181; MG. Poetae lat. III 316 und 343, n o s 53 und 116. 151 Annales s. Germani Parisiensis ad a. 817, MG. SS. III, 167; Translatio s. Sebastiani, MG. SS. XV, 387; BM2 628 = R. P o u p a r d i n , Recueil de chartes de l'abbaye de SaintGermain-des-Prés des origines au début du X I I I e siècle I (Paris, 1909), S. 39 ff. n° 26. 152 Vita Eigili, MG. SS. X V , 223; Vita Eigili metrica, MG. Poetae lat. II, 99; vgl.

278

Josef Semmler

w i r nicht, o b sie B e n e d i k t s Schule je durchliefen. D i e in C o r b i e z e i t weise tätigen M ö n c h e v o n N o i r m o u t i e r 1 5 4 g e h ö r t e n d e m K o n v e n t A r nulfs an, d e r z u s a m m e n m i t B e n e d i k t v o n A n i a n e d e n K o n v e n t v o n S a i n t - D e n i s vergeblich z u r A n n a h m e d e r B e n e d i k t i n e r r e g e l in i h r e r reichsgesetzlich fixierten R e a l i s a t i o n z u b e w e g e n s u c h t e 1 5 5 . S m a r a g d u s v o n Saint-Mihiel bei V e r d u n , als A b t zuständig für sein K l o s t e r 1 5 6 , als missus

nach Saint-Oyend du Jura157 und M o y e n m o u t i e r

entsandt15?,

legte s e i n e m K o m m e n t a r z u r B e n e d i k t i n e r r e g e l die m o n a s t i s c h e

Ge-

s e t z g e b u n g d e r S y n o d e n v o n A a c h e n 8 1 6 / 1 9 z u g r u n d e 1 5 9 , o h n e je S c h ü ler des A b t e s v o n A n i a n e im eigentlichen Sinne g e w e s e n z u sein 1 6 0 . L ä n g s t stellte die F o r s c h u n g heraus, d a ß die A b t e i R e i c h e n a u 1 6 1 , d a ß

J. S e m m 1 e r , Studien zum Supplex Libellus und zur anianischen Reform in Fulda, in: ZKG 69 (1958), S. 293-296; d e r s . , Die Anfänge Fuldas als Benediktiner- und als Königskloster, in: Fuldaer Geschichtsblätter 56 (1980), S. 186 f. 153 Vgl. M. T a n g 1, Die Urkunde Ludwigs des Frommen für Fulda vom 4. August 817, in: NA 27 (1902) S. 31 mit Anm. 1 154 De translationibus et miraculis s. Filiberti, ed. R. P o u p a r d i n , Monuments de l'histoire des abbayes de Saint-Philibert (= Collection des textes pour servir à l'étude et à l'enseignment de l'histoire, Paris, 1905), S. 66 f.; vgl. J. S e m m 1 e r , Corvey und Herford in der benediktinischen Reformbewegung des 9. Jahrhunderts, in: FMASt 4 (1970) S. 294 f. 155 Vgl. oben Anm. 144. 156 BM 2 633 = A. L e s o r t , Chronique et chartes de l'abbaye de Saint-Mihiel Mettensia 6 (Paris, 1909/12), S. 65 ff., n° 8; O. G. O e x 1 e , Das Kloster St-Mihiel in der Karolingerzeit, in: ZGO 131 (1983), S. 63 f. und 66 f. 157 Catalogus abbatum s. Eugendi Iurensis, MG. SS. XIII, 744; D Ludwig der Blinde (ed. R. P o u p a r d i n) 38. 158 Frothar von Toul, Epistolae, MG. Epist. V, 290 ff. n os 21 und 22. 159 Smaragdus von Saint-Mihiel, Expositio in regulam s. Benedicti, edd. A. S p a n n a g e l - P. E n g e l b e r t , Corpus consuetudinum monasticarum VIII (Siegburg, 1974), S. 150,203 f., 283 und 295. 160 Vgl. F. R ä d 1 e , Studien zum Smaragd von Saint-Mihiel (= Medium Aevum 29, München, 1974), S. 19 f.; O. E b e r h a r d t , Via regia. Der Fürstenspiegel Smaragds von Saint-Mihiel und seine literarische Gattung (= Münstersche Mittelalter-Schriften 28, München, 1977), S. 3 1 ^ 7 . 161 Capitula ad Auuam directa, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 333-336; MG. Formulae S. 570, n os 30 und 31; MG. Epist. V, 301 f. n° 3; MG. Poetae lat. II, 425 n° 1; Bücherverzeichnis des Bibliothekars Reginbert (821/ 22), ed. P. L e h m a n n , Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz I (München, 1918), S. 260, n° 20; dazu M. R o t h e n h ä u s l e r - F . B e y e r l e , Die Kultur der Abtei Reichenau I (München, 1925), S. 280-291; R. K o 11 j e , Einheit und Vielfalt des kirchlichen Lebens in der Karolingerzeit, in: ZKG 76 (1965), S. 332 f.; K. Z e 1 z e r , Zur Stellung des Textus receptus und des interpolierten Textes in der Textgeschichte der Regula s. Benedicti, in: RevBén 88 (1978), S. 217 f. und 242 f.; vgl. jetzt A. Z e 111 e r , Der St. Galler Klosterplan. Überlegungen zu seiner Herkunft und seiner Entstehung, in: G o d m a n/C o 11 i n s (Hrsg.), Charlemagne's heir (wie Anm. 117), S. 659-663.

279

B e n e d i k t i n i s c h e R e f o r m u n d kaiserliches Privileg

Luxeuil162,

Notre-Dame

Landevennec Konvent

164

des

de

Soissons163

und

die b r e t o n i s c h e

Abtei

die n e u e benediktinische O b s e r v a n z a n n a h m e n . ehrwürdigen

Frauenklosters

Remiremont

trat

Der am

11. M a i 8 1 7 z u m ordo s. Benedicti

ü b e r u n d legte a m 8. D e z e m b e r d e s -

selben J a h r e s die sancta professio

a b 1 6 5 . A u c h die M ö n c h s g e m e i n s c h a f t

v o n M o n t i e r e n d e r e n t s c h i e d sich f ü r die v o n K a i s e r u n d S y n o d e n v o r g e s c h r i e b e n e benediktinische S a t z u n g 1 6 6 . O b w o h l m a n auf der Insel Reichenau

Inspektion

und

Instruktion

durch

missi

monastici

er-

w a r t e t e 1 6 7 , w e i s t keine Q u e l l e auf einen r e f o r m a t o r i s c h e n E i n g r i f f B e nedikts v o n A n i a n e o d e r seiner B e a u f t r a g t e n in d e n g e n a n n t e n nasteria

mo-

hin168. W i r erfahren vielmehr, daß Ä b t e und M ö n c h e v o n M u r -

b a c h R e m i r e m o n t s U b e r t r i t t z u m benediktinischen ordo

u n d die R e -

z e p t i o n d e r reichseinheitlichen O b s e r v a n z nachhaltig u n t e r s t ü t z t e n 1 6 9 , d a ß S t a v e l o t - M a l m e d y d e r G e m e i n s c h a f t v o n M o n t i e r e n d e r die

be-

162 Gesta ss. patrum Fontanellensis coenobii, edd. F. L o h i e r - J . L a p o r t e (1936) S. 95 ff.; Miracula ss. Waideberti et Eustasii, MG. SS. XV, 1174. 163 Paschasius Ratpertus, Expositio in psalmum XLIV, M i g n e PL. 120, 995 und 1027; D Karl der Kahle 83; D Ludwig der Deutsche 178; vgl. S e m m 1 e r, Corvey (wie Anm. 154), S. 298-302. 164 Vita s. Winwaloei, ed. A. L e M o y n e d e l a B o r d e r i e , Cartulaire de l'abbaye de Landévennec I (Rennes, 1888), S. 47, 55 und 76; BM 2 672 = B o u q u e t , Recueil (wie II Anm. 66), S. 513 f. n° 80; vgl. R. L a t o u c h e , L'abbaye de Landévennec et la Cornouaille aux IX e et X e siècles, in: M-A 65 (1959), S. 3 f.; B. M e r d r i g n a c , La vie quotidienne dans des monastères bretons au haut moyen âge à partir des vitae carolingiennes, in: Landévennec et le monachisme breton dans le haut moyen âge (= Actes du Colloque du XV e centenaire de l'abbaye de Landévennec ... 1985, Landévennec, 1986), S. 42. 165 Liber memorialis Romaricensis, MG. Libri memoriales I (Dublin/Zürich, 1970), S. 78 und 107. 166 Vita et Miracula s. Bercharii, AA. SS. Oct VII, 1019; Miracula s. Remacli, MG. SS. XV, 435; BM 2 839 = J. M a b i 11 o n , Acta sanctorum ordinis s. Benedicti III (Paris, 1672), S. 630; BM 2 898 = C. L a 1 o r e , Cartulaire de l'abbaye de la Chapelle-auxPlanches, chartes de Montiérender ... (= Collection des principaux cartulaires du diocèse deTroyes IV, Paris/Troyes 1878), S. 122 ff. n° 5. 16 7 Capitula ad Auuam directa, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 333. 168 Benedikt von Aniane wurde von einer der Anlagebände des Gedenkbuchs der Abtei Reichenau als Mitglied des Konvents von Maursmünster auf der Insel Reichenau eingetragen, d. h. unter den bereits Verstorbenen: MG. Libri memoriales et necrologia NS I. p. 82 B 4. Remiremont nahm den Reformabt unter dem 11. Februar erst nach der Mitte des 9. Jahrhunderts in eine seiner nekrologischen Aufzeichungen auf; aus derselben Zeit stammt die Totenliste des Konvents von Kornelimünster, die Benedikt anführt: MG. Libri memoriales 1,95 und 13 f. 169 Vgl. E. H l a w i t s c h k a , Zur Klosterverlegung und zur Annahme der Benediktsregel in Remiremont, in: ZGO 109 (1962) S. 253-261; C. W i l s d o r f , Remiremont et Murbach à l'époque carolingienne, in: Remiremont. L'abbaye et la ville (Nancy, 1980), S. 54 f.

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nediktinische Formung aufprägte 170 . Wie und wann diese beiden Abteien selber sich der von Kaiser und Synoden propagierten Mönchsordnung öffneten, bleibt uns verborgen. Benedikt von Aniane beeinflußte nicht allein entscheidend die Beratungen der Reformsynoden von 816, 817 und 818/19. Er erklärte den Versammelten die Regel St. Benedikts, räumte Zweifel und Irrtümer aus. Vor allem erarbeitete er die consuetudines, die in die synodalen Beschlüsse und die kaiserlichen Kapitularien eingehen sollten 171 . Seinen Konvent zu Kornelimünster, dessen Stärke Ludwig der Fromme auf 30 Mönche beschränkte 172 , stellte er aus Konventualen ihm bekannter monasteria zusammen, deren Namen wir leider nicht erfahren 173 . Sie schulte er, pflanzte ihnen seine monastischen Ideale ein, seine Spiritualität, vermittelte ihnen aber auch die notwendigen theologischen Kenntnisse 174 , um sie zu befähigen, den fremden Mönchen, die nicht nur aus Nachbarklöstern nach Kornelimünster reisten, durch Wort und Beispiel, im praktischen Vollzug benediktinischen Gemeinschaftslebens in singulorum moribus, in incessu habituque formam disciplinamque re-

gulärem vorzustellen und vorzuleben 175 . Dieses „Rotationssystem" sollte freilich nur so lange praktiziert werden 176 , bis genügend einheimische Novizen den Weg ins Kloster Inden gefunden hätten 177 . Dennoch schickten Klostervorsteher Mönche nach Kornelimünster 178

170 Miracula s. Remacli, MG. SS. XV, 435; vgl. F. B a i x , Etude sur l'abbaye et la principauté de Stavelot-Malmédy I (Paris/Charleroi, 1924), S. 74; zuletzt F. N e i s k e , Konvents- und Totenlisten von Montier-en-Der, in: FMASt 14 (1980), S. 252 f. 171 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215; Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici... Carmen, ed. E. F a r a 1 (1932), S. 92 ff., w . 1189-1197. 172 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215; S t e n g e l , Die Immunitätsurkunde (wie Anm. 128), S. 233-259. 173 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215. 174 B. B i s c h o f f , Die ältesten Handschriften der Regula s. Benedicti in Bayern, in: SMGB 92 (1981), S. 12 ff., erschloß das Skriptorium Benedikts von Aniane. 175 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 216. 176Wie jüngst W. J a c o b s e n , Benedikt von Aniane und die Architektur unter Ludwig dem Frommen, in: A. S c h m i d (Hrsg.), Riforma religiosa e arti nelP epoca carolingia (Bologna, 1983), S. 15-22, feststellte, ließ die überraschend kleinräumige Anlage der Klostergründung zu Kornelimünster/Inden nur die Aufnahme einer jeweils geringen Zahl auswärtiger Mönche zu. Vgl. auch d e r s ., Allgemeine Tendenzen im Kirchenbau unter Ludwig dem Frommen, in: G o d m a n/C o 11 i n s (Hrsg.), Charlemagne's heir (wie Anm. 117), S. 641-654. 177 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215. 178 Capitula ad Auuam directa, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 333; MG. Epist. V, 302, n° 3.

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ad speculandam vitam et habitum illorum qui nos in omnibus ... certiores reddant, qui et Ulis boni exempli forma sint ad quos intraverintm. Die von Benedikt von Aniane, von Freunden und Gleichgesinnten durch die Initiative der missi oder der Klosterherren benediktinisch ausgerichteten Konvente verband eine fundamentale Gemeinsamkeit, die Regel, die sie als Grundnorm monastischer Existenz anerkannten, die ihr Leben als Gemeinschaft und als Individuen gestaltete180. Gesichert werden sollte dieses für alle Mönchsniederlassungen im Frankenreiche Ludwigs des Frommen verbindliche monastische Gesetz dadurch, daß Benedikt von Aniane terminum ordinemque observandum cunctis tradiditm,... ut, sicut una omnia eratprofessio, fieret quoque omnium monasteriorum salubris una consuetudo182, ut inter huius professionis viros in toto regno suo (i. e. Hludowici imperatoris) inveniatur varietasm. Es besteht keinerlei Zweifel daran, daß die klösterliche Erneuerung, die Benedikt von Aniane mit Hilfe des Kaisers und des fränkischen Episkopats im gesamten regnum Francorum in Angriff genommen hatte, dieses hohe Ziel anstrebte. Wenn wir jedoch lesen: Perfectum itaque prosperatumque est opus ...et una cunctis generaliter posita obseruatur regula cunctaque monasteria ita adformam unitatis redacta sunt, acsi ab uno magistro et in uno imbuerentur locom wecken die geschickt verteilten Einschränkungen unsere Skepsis. In der Tat reduziert bereits der folgende Satz die „Erfolgsbilanz" auf das rechte Maß: Uniformis mensura in potu, in cibo, in vigiliis, in modulationibus cunctis observanda est traditaiS5. Die uniformis mensura, d. h. die reichseinheitliche consuetudo für alle Benediktinerklöster186, blieb fürs erste ein Angebot, auch wenn die iussio imperialis anmahnte, das praeceptum regulae et constitutiones novellorum conciliorum acutius ... considerare et promp-

179 Statuta Murbacensia, ed. J. S e m m 1 e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 450. 180 Vgl. J. S e m m 1 e r, in: ZKG 71 (1960) S. 45-50 und 63 ff. 181 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 216. 182 Ebd., 215. 183 Capitula notitiarum, cap. 1, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 341. 184 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215. 185 Ebd., 216. 186 Vgl. dazu zuletzt J. F. A n g e r e r , Zur Problematik der Begriffe Regula - Consuetudo - Observanz - Orden, in: SMGB 88 (1977), S. 312-323; K. H a 11 i n g e r , Consuetudo. Begriff, Formen, Forschungsgeschichte, Inhalt in: Untersuchungen zu Kloster und Stift (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 68, Göttingen, 1980), S. 140-166; J. F. A n g e r e r , Consuetudo und Reform, in:VuF 38 (Sigmaringen, 1989), S. 107-116.

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tius exercerew. Ludwig der Fromme selbst zog den Fall in Betracht, daß höhere Gewalt, widrige Bedingungen und mangelnde Voraussetzungen die (sofortige) Übernahme der neuen consuetudo verhinderten 188 . Der Reformabt hinwiederum suchte seine consuetudo nach dem rechten Maß zu gestalten, daß sie geeignet sei für die Eifrigen und die Lauen. Er paßte sie örtlichen und persönlichen Gegebenheiten an, indem er manche strenge Vorschrift fallen ließ oder abänderte propter concordiam unitatis, propter oberservantiam honestatis seu propter considerationem fragilitatism. Manche capitula, die die Reformsynoden von 816 bis 819 erließen, zeugen davon, daß Benedikt von Aniane in diesem Sinne an der Ausgestaltung seiner consuetudo arbeitete 190 . In manchen Punkten konnten sich aber auch die Synodalen nicht auf eine einheitliche Praxis einigen: Die benediktinische Reform des zweiten Jahrzehnts des 9. Jahrhunderts fand zu keiner uniformen consuetudo hin; divergierende Gewohnheiten, voneinander abweichende Vorschriften gehörten somit zum Erbe des gesamten mittelalterlichen Benediktinertums 191 . Der Lebenden und der Toten zu gedenken, verband Benedikt von Aniane die sog. Gradualpsalmen mit der morgendlichen Altarvisi-

187 Capitula notitiarum, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 341. 188 Capitula notitiarum, cap. 1, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 341 ... nisi ubi impossibilitas nonpermittit. 189 Vita Benedicti abbatis Artianensis et Indensis, MG. SS. X V , 216. 190 Änderungen in Benedikts von Aniane Ansichten betrafen die Bewirtung der Gäste des Klosters durch den Abt, die Termine für Bad und Rasur der Mönche, den Genuß von Geflügel und die Verwendung tierischer Fette in der Klosterküche: Synodi I Aquisgranensis decreta authentica (816), cap. 25, ed. J. S e m m l e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963) S. 464 f. - Synodi II Aquisgranensis decreta authentica (817), cap. 14, ed. d e r s . , ebd. S. 476 - Regula Benedicti abbatis sive Collectio capitularis (818/ 19?), cap. 21, ed. d e r s . , ebd. S. 522; Statuta Murbacensia, cap. 21, ed. d e r s . , ebd. S. 447 - Synodi I Aquisgranensis decreta authentica (816), cap. 7, ed. d e r s . , ebd., S. 459 - Synodi II Aquisgranensis authentica (817), cap. 10, ed. d e r s . , ebd. S. 475; Synodi I Aquisgranensis decreta authentica (816), cap. 8, ed. d e r s . , ebd., S. 459 - Synodi II Aquisgranensis decreta authetica (817), cap. 11, ed. d e r s . , ebd. S. 475; Statuta Murbacensia, cap. 12, ed. d e r s . , ebd., S. 445 f. - Synodi I Aquisgranensis decreta authentica (816), capp. 6 und 31, ed. d e r s . , ebd., S. 458 und 466 - Synodi II Aquisgranensis decreta authentica (817), cap. 43, ed. d e r s . , ebd. S. 481 - Regula Benedicti abbatis Anianensis sive Collectio capitularis (818/19?), cap. 77, ed. d e r s . , ebd., S. 537 - Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. X V , 209 - Synodi I Aquisgranensis decreta authentica (816), cap. 20, ed. d e r s . , ebd., 462 f. Vgl. dazu auch T. S c h u 1 e r , .Regula nil impossibile dicit' - Regeltreue und Regelabweichung bei den karolingischen Benediktinern, in: RBSt 10/11 (1981/82), S. 51-62 und 71 ff. 191 S e m m l e r , Benedictus II (wie Anm. 19), S. 28-49; d e r s . , Das Erbe der karolingischen Klosterreform im 10. Jahrhundert, in: VuF 38 (Sigmaringen 1989), S. 50-63.

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tation 192 und schrieb sie seinen Mönchen statt anderer überkommener Formen klösterlichen Gebetsdenkens vor 1 9 3 : Je fünf Psalmen wollte er allen in toto orbe terrarum lebenden Getauften, allen toten Christen und allen in jüngster Zeit Verstorbenen, sowohl den Mönchen als auch allen anderen Christgläubigen, zugewendet wissen 194 . Dabei sollte auch der Hingeschiedenen gedacht werden, von deren Tod die jeweilige Gemeinschaft noch keine Nachricht erhalten habe 195 . Diese Präzisierung verwehrt es uns, auf zwischenklösterliche Verbindungen zu schließen, innerhalb derer briefliche Todesanzeigen oder gar rotuli mortuorum regelmäßig ausgetauscht worden wären 196 . Für den verstorbenen Abt habe die jeweilige Gemeinschaft das anniversarium officium zu feiern, verordnete die Aachener Synode von 817 197 . Genau nach dieser Vorschrift verfuhr Abt Eigil von Fulda, als er nach 818 das bisher in dieser Form nicht übliche Jahrgedächtnis für den ersten Abt des Klosters mit Meßfeier, Gebet und Psalmengesang auf den 17. Dezember legte 198 . Die liturgischen Totenfeiern, die Reichenauer Mönche in Benedikts von Aniane Musterkloster erlebten, griffen nicht über die hauseigene Gemeinschaft hinaus 199 . Die Nonnen von Remiremont, die sich gerade für

192Vgl. C. M o l a s , A proposito del ordo diurnus de san Benito de Aniano, in: Studia monastica 2 (1960), S. 207 f. mit Anm. 13; S e m m 1 e r , Beschlüsse (wie Anm. 21), S. 73 f. 193 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 216. 194 Cod. St. Gallen, Stiftsbibliothek, ms. 914, p. 194, ed. B. A 1 b e r s , Consuetudines monasticae III (Montecassino, 1907), S. 171; Collectio s. Martialis Lemovicensis, capp. 7678, ed. J. S e m m 1 e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 561. 195 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 216. 196 Der regelmäßige Austausch von Totennachrichten und Totenroteln seit etwa 800 lag außerhalb des Wirkungsbereichs Benedikts von Aniane; vgl. Formulae Salicae Merkelianae n° 60; Formulae Salicae Lindenbrogrianae. Additamenta n° 4; Formulae Alsaticae n o s 7 und 12; Formulae codicis Laudunensis n o s 8-11 und 13, MG. Formulae S. 261, 283 f., 331 f. und 516 ff.; B. B i s c h o f f , Salzburger Formelbücher und Briefe aus tassilonischer und karolinigischer Zeit, in: SBA-PPH Jg. 1973, Nr. 4, S. 39 f. n° 16; vgl. U. B e r 1 i è r e , Les fraternités monastiques et leur rôle juridique, in: Mémoires de l'Académie royale de Belgique, Classe des Lettres et des Sciences morales et politiques, 2 e sér. 11 (Brüssel, 1921), Nr. 3 S. 7-26; J. D u f o u r , Le rouleau mortuaire de Boson, abbé de Susa (vers 1130), in: Journal des Savants (1976), S. 237-254; d e r s . , Les rouleaux et encycliques mortuaires de Catalogne (1008-1102), C C M é d . 20 (1977), S. 13—48; N. H u y g h e b a e r t , Les documents nécrologiques (= TS 4 Turnhout, 1972), S. 26-32. 197Synodi II Aquisgranensis décréta authentica (817), cap. 41, ed. J. S e m m 1 e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 481. 198 Vita Eigili, MG. SS. XV, 232; S e m m 1 e r , Supplex Libellus (wie Anm. 152), S. 272 f.; O. G. O e x 1 e , Memorialüberlieferung und Gebetsgedächtnis in Fulda vom 8. bis zum 11. Jahrhundert, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter I (= Münstersche Mittelalter-Schriften 8,1, München, 1978), S. 146 ff. 199 Capitula in Auuam directa, cap. 11, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 336.

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die Benediktinerregel als konventuale Lebensnorm entschieden hatten, verpflichteten sich, für alle Wohltäter ihres Klosters und alle die, die sich ihrem Gebet empfahlen, täglich eine Messe zu feiern 200 . Die Ordnung des Primkapitels 201 , in dem bis auf den heutigen Tag der Toten der eigenen Kommunität und der verbrüderten Konvente gedacht wird 202 , kannte bis zu Beginn des 9. Jahrhunderts das Totengedächtnis noch nicht 203 . Benedikt von Aniane scheiterte bei seinem Vorhaben, die Gemeinsamkeit der von Kaiser, Reformabt, klösterlichen Sendboten und kaiserlichen missi auf die Benediktinerregel verpflichteten Mönchsgemeinschaften auf die una consuetudo, die gleiche klösterliche Lebensund Alltagspraxis, zu gründen. Die Neuordnung des Gebetsgedächtnisses für Lebende und Verstorbene als eines integrierenden Bestandteils der gottesdienstlichen Feier erheischte eine drastische Reduktion, die rigorose Beschneidung von Formen der memoria, die sich in nichtbenediktinischen Traditionen entwickelt hatten 204 . Unter diesen U m ständen eigneten sich für den karolingischen Reformer Gebetsgedächtnis und Totenbund, die geistliche Kommunitäten, erst recht formgleiche Gemeinschaften aufs engste zusammenführten, nicht als Strukturelemente etwaiger Verbandsbildung. Dem Einzelkloster erwuchs keine Beschränkung seiner eigenverantwortlichen Autonomie 2 0 5 .

200 Liber memorialis Romaricensis, M G Libri memoriales I, 1; vgl. K. S c h m i d , Zeugnisse der Memorialüberlieferung aus der Zeit Ludwigs des Frommen, in: G o d m a n/C o 11 i n s (Hrsg.), Charlemagne's heir. (wie Anm. 117), S. 509 ff. 201 Capitula notitiarum, capp. 11-14, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 342 f. 202 Vgl. P. H o f m e i s t e r , Das Totengedächtnis im officium capituli, in: S M G B 70 (1959), S. 189-200; B. d e G a i f f i e r , D e l'usage et de la lecture du martyrologe, in: AnalBoll 79 (1961), S. 40-59, bes. S. 50; O. G. O e x 1 e , Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter, in: FMASt 10 (1976), S. 75 f. J.-L. L e m a î t r e , Liber capituli. Le livre du chapitre des origines au X V I e siècle. L'exemple français, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (= Münstersche Mittelalter-Schriften 48, München, 1984), S. 625 f. 203 Synodi II Aquisgranensis décréta authentica (817), capp. 36 und 39, e d . J . S e m m l e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 480; vgl. K. H a 11 i n g e r , in: Corpus consuetudinum monasticarum VII, 1 (Siegburg 1984), S. 251 f. 204 Vgl. K. H a 11 i n g e r , Das Phänomen der liturgischen Steigerungen Klunys (10./ 11. Jahrhundert), in: Studia historico-ecclesiastica. Festgabe für Prof. Luchesius G. Spätling OFM. (= Bibliotheca Pontificii Athenaei Antoniani 19, Rom, 1977), S. 190-202. 205 Hierin liegt wohl der Grund für die von K. S c h m i d , Mönchtum und Verbrüderung, in: VuF 38 (Sigmaringen, 1989), S. 140 f., konstatierte Zurückhaltung Benedikts von Aniane gegenüber den zeitgenössischen Verbrüderungen.

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IV. Im engeren und weiteren Umkreis seiner eigenen Stiftung Aniane, die er 792 durch eine feierliche Ubereignung an den fränkischen Herrscher in den Status des karolingischen Königsklosters überführte 206 , ordnete Benedikt von Aniane cellae, die er auf Klosterbesitz eingerichtet hatte oder die ihm zur Ansiedlung von Mönchen übertragen worden waren, dem Mutterkloster Aniane unter. Indes spielte selbst im Bereich der eigenen klösterlichen Grundherrschaft dieses hierarchische Verfassungsmodell, der solideste Baustein eines künftigen Klosterverbandes, nur eine untergeordnete Rolle. Lebensfähige cellae entließ Benedikt von Aniane, wenn auch nicht kraft eines einzigen juridischen Aktes, sondern unter Berücksichtigung der personellen und wirtschaftlichen Entwicklung der coenobia in die Unabhängigkeit der autonomen Benediktinerabtei: Castres und wohl auch Gellone 207 . Mit einer Reihe septimanischer Klostervorsteher verband Benedikt von Aniane eine in die siebziger Jahre des 8. Jahrhunderts zurückreichende Freundschaft, bedingt durch die gemeinsame religiösasketische Erfahrung, gespeist durch die gleiche spirituelle Geisteshaltung. Wie Anianes Kommunität konstituierten sich ihre Konvente als anachoretisch ausgerichtete Gemeinschaften und vollzogen mit Benedikt und seiner congregatio die kompromißlose Hinwendung zur Regel St. Benedikts 208 . Innerhalb dieser Klostergruppe, als deren Haupt Aniane galt, half man sich gegenseitig in administrativorganisatorischen Schwierigkeiten. Benedikt von Aniane visitierte die einzelnen Gemeinschaften; seine Autorität fand widerspruchslose Anerkennung in allen Fragen des monastischen Lebens nach der gemeinsamen benediktinischen Observanz. Doch steigert er sie nicht zur hierarchischen Uberordnung. Zu Beginn des Jahres 815 legte er den Abtsstab von Aniane in die Hände eines seiner Schüler, dem naturgemäß die Autorität fehlte, die den Meister umgab. Die monasteria untereinander verband ein Gebetsbund, dessen Fürbitte Benedikt von Aniane selbst in Anspruch nahm, als er den Tod nahen fühlte. Diese „Konföderation", die Regel, gemeinsame consuetudo, Gebetsbund und regelmäßige Visitationen zusammenhielten, sollte ihren Begründer überdauern: Als Benedikt von Aniane Septimanien verließ, um dem kaiserlichen Ruf ins weite Wirkungsfeld des gesamten Frankenreiches zu 206 D Karl der Große 179. 207 S. oben S. 264 ff. 208 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 203-206.

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folgen, trat an seine Stelle Nebridius, als Gründer von Lagrasse einer der ältesten Gefährten des Reformabtes209. Schon vor 800 erreichten Benedikt von Aniane Reformaufträge, die von Ludwig dem Frommen, Unterkönig in Aquitanien und Septimanien, und von geistlichen Klosterherren ausgingen. Der Abt von Aniane entsprach den an ihn herangetragenen Bitten: Von ihm entsandten Reformkolonien stellte er magistri an die Spitze, in einem Fall sogar einen Abt. Sonst jedoch behielten sich die Klosterherren die Berufung des neuen Abtes vor, ein Recht, das die Bestellung von magistri als interimistische Leiter der Reformgruppen in keiner Weise beeinträchtigte. Unter diesen Umständen nimmt es nicht wunder, wenn Aniane als Reformzentrum nur in einzelnen Fällen materielle Aufbauhilfe leisten mußte, wenn sein Abt lediglich sporadisch die kontrollierende Visitation des geistlich-monastischen Vaters durchführen konnte. Gemeinsame Regel und gemeinsame Praxis klösterlichen Lebens allein banden diese Kommunitäten an ihr Mutterkloster210. Währenddessen erneuerte König Ludwig der Fromme eine stattliche Anzahl von monasteria in seinem Machtbereich, sicherte nicht nur ihre ökonomische Existenzgrundlage, sondern verpflichtete Konvente auch auf die Benediktinerregel als gemeinsame Lebensnorm, was freilich erst Quellen des 9. Jahrhunderts zögernd preisgeben. Dem septimanischen Reformabt erteilte der Herrscher den Auftrag, durch Belehrung und Mahnung, durch visitatorische Uberprüfung die Einwurzelung benediktinischen Lebens fürsorglich zu begleiten. Benedikts Auftrag galt in der Tat für das ganze aquitanisch-septimanische Unterkönigreich. Doch blieb er personell beschränkt auf den Reformabt selbst, inhaltlich auf die Hinführung der jeweiligen klösterlichen Gemeinschaft zur benediktinischen Lebensform. Mehr will offenbar die vita Benedicti nicht sagen, wenn auch ihre Formulierung211 Benedikts Position als die Stellung und die Funktion eines aquitanisch-septimanischen „Oberabtes" erscheinen läßt. Das auf die unitas imperii zielende kaiserliche Reformprogramm Ludwigs des Frommen baute wesenhaft auf der unitas ecclesiae auf, die hinwiederum die Geschlossenheit des dogmatischen Lehrgebäudes und der ethischen Postulate, die Einheitlichkeit in gottesdienstlicher Feier und Sakramentspendung, die Uniformität der Lebensweise zumindest 209 S. oben S. 268 f. 210 S. obenS. 267 f 211- Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 211: ... quem (i. e. Benedictum abbatem) ... omnibus in suo regno monasteriisprefecit (sc. Hludowicus rex).

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des Klerus als unabdingbare Voraussetzungen erforderte. Norm und Vorbild zugleich für die kirchliche Doktrin, die Liturgiefeier, die Sakramentspendung, die Lebensführung und die organisatorische Struktur der fränkischen Geistlichkeit stellten Lehre, Brauch und kirchliche Praxis Roms dar212. Als reichseinheitliche Satzung für die Mönche bot sich die Regula s. Benedicti an, die Regel des „römischen Abtes" 213 . Da der Kaiser die Ausrichtung aller Mönchsklöster in seinem Reiche nach der Regel Benedikts von Nursia in die Hände des „zweiten Benedikt" 214 legte, mußten die klösterlichen Gemeinschaften, die das Mönchsleben fortsetzen oder neu beginnen wollten, hinfort die Regula 5. Benedicti nicht nur dem Buchstaben nach befolgen, sie bedurften auch einer genuin benediktinischen consuetudo, eines Komplexes von Ausführungsbestimmungen und gezielten Einzelverordnungen, die die Regel im praktischen Vollzug, in konkreter Situation ausdeutend ergänzten und ihre Beobachtung sicherten215. Benedikt von Aniane unterzog sich dieser Aufgabe. Im Zusammenwirken mit den Synodalen, die sich aus Episkopat und Mönchtum unter dem Vorsitz des Kaisers 816, 817 und 818/19 zu Aachen zusammenfanden 216 , erarbeitete er eine benediktinische consuetudo, Vorreiter und Fundament zugleich aller künftigen benediktinischen consuetudines. Um Regel und consuetudo in allen Mönchsklöstern des Reiches zu verbreiten, stellte Ludwig der Fromme das fränkische Herrschaftsinstrument der missi dominici zur Verfügung. An Benedikt selbst, aber auch an von ihm Ausgewählte erging der missatische Auftrag, die benediktinische Reform - in ihren äußeren, sieht- und kontrollierbaren Aspekten eine Verfassungsreform - in allen monasteria zu begleiten und zu überwachen. Kaiser und Reformabt nahmen die Rechenschaftsberichte der missi entgegen.

212Vgl. jetzt A. A n g e n e n d t , Kaiserherrschaft und Königstaufe. Kaiser, Könige und Päpste als geistliche Patrone in der abendländischen Missionsgeschichte (= Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 15, Berlin/New York 1984), S. 3 2 ^ 5 , 75 f., 81-91 und 310-315. 213 Dazu zuletzt J. W o 11 a s c h , Benedictus abbas Romensis. Das römische Element in der frühen benediktinischen Tradition, in: N . K a m p - J. W o 11 a s c h (Hrsg.), Tradition als historische Kraft (Berlin/New York 1982), S. 119-137. 214 Capitula qualiter observationes sacrae in nonnullis monasteriis babentur quas bonae memoriae Benedictus secundus ... instituit, ed. H. F r a n k , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963), S. 353; vgl. auch Concilium in Francia habitum (821/ 29), can. 9, MG. Concilia II, 2, 591. 215 Statuta Murbacensia, ed. J. S e m m 1 e r , Corpus consuetudinum monasticarum I (1963) S. 441;... quaedam ... secundum auetoritatem regulae, quaedam vero usu et consuetudine prolata sunt; quae consuetudo ... pro lege regulari retineripotent. 216 Vgl. S e m m 1 e r , Beschlüsse (wie Anm. 21), S. 60-65.

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Die missi verbreiteten keine monolithische consuetudo, hatten doch drei vom Kaiser geleitete und von Benedikt von Aniane maßgeblich beeinflußte Reichssynoden das angestrebte Ziel verfehlt, die una consuetudo für alle benediktinischen Gemeinschaften des gesamten Frankenreichs zu erreichen. Hier und dort stieß der reformatorische Zugriff auf Widerstand 2 1 7 ; in manchen monasteria hielten sich die althergebrachten klösterlichen Traditionen neben der neuen Ordnung 2 1 8 , bildeten mit ihr zusammen eine durchaus übertragbare neue consuetudo. Der Auftrag der Sendboten des Kaisers und des Reformabtes war zeitlich, örtlich und sachlich begrenzt. Zwar sollten die Mönchs- und N o n nenklöster im ostfränkischen Raum 2 1 9 , in Italien 220 , im Westfrankreich Karls des Kahlen 221 und in Aquitanien 222 auch noch nach dem Tode Benedikts von Aniane im Februar 821 von herrscherlichen missi kontrolliert und nötigenfalls der benediktinischen Lebensform zugeführt werden, doch standen diese Aktionen, regional umschrieben und zeitlich versetzt, in keinem Zusammenhang mehr mit den vom „zweiten Benedikt" koordinierten missatischen Visitationen der Jahre 817/820. Wie er es bereits im Bereich der Grundherrschaft seiner eigenen Stif217 Als Beispiele seien Saint-Denis und Nivelles genannt: BM 2 905 = T a r d i f , Monuments (wie Anm. 106), S. 86-89, n° 124; Jacques de Guise, Annales Hanoniae, MG. SS. X X X , 162 f.; vgl. J. J. H o e b a n x , L'abbaye de Nivelles des origines au XIV e siècle, in: Mémoires de l'Académie royale de Belgique, Classe des Lettres et des Sciences morales et politiques, tome 46 fase. 4 (Brüssel, 1952), S. 171-183. In Saint-Hilaire-le-Grand vor Poitiers waren wie in Saint-Denis die (benediktinischen) Mönche vorsorglich von den Kanonikern getrennt worden: BM 2 519 = d e M o n s a b e r t , Chartres (wie Anm. 114), S. (14) - (17), n° 9. 2 1 8 S e m m l e r , Beschlüsse (wie Anm. 21), S. 76 ff.; K a s t e n , Adalhard (wie Anm. 106), S. 94-100; jetzt auch P. G a n z , Corbie in the Carlingian Renaissance (= Beihefte der Francia 20, Sigmaringen, 1990), S. 25 f. 219 MG Epist. V, 518; vgl. M. S a n d m a n n , Wirkungsbereiche fuldischer Mönche, in: K. S c h m i d (Hrsg.), Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter (= Münstersche Mittelalter-Schriften 8,2, München, 1978), S. 737. 220 DD Lothar 112, 26 und 35; Codex diplomaticus Langobardiae = Historiae patriae monumenta XIII (Turin 1873) Sp. 218 f., n° 122. 221 Concilium Vemese (844), can. 3; Capitolare Suessionensis synodi (853), capp. 1 und 2, MG. Concilia III, 50 und 284 ff.; Capitulare missorum Attiniacense (854), capp. 9 und 10, MG. Capit. II, 279. 222 Miracula s. Genulfi, MG. SS. XV, 1206 ff. (Saint-Genou de l'Estrée); Vita s. Alpiniani presbyteri, AA. SS. April III, 480 (Ruffec); Annales Lemovicenses ad a. 848, MG. SS. III, 251; Ademar von Chabannes, Historiae, ed. J. C h a v a n o n , Collection de textes pour servir à l'étude et à Penseignment de l'histoire (Paris, 1987) S. 134 f.; Commemoratio abbatum Lemovicensium basilicae s. Marcialis apostoli ed. H. D u p 1 è s - A g i e r , Chroniques de Saint-Martial de Limoges (Paris 1874) S. 1 (Saint-Martial de Limoges); Vita s. Hugonis Aeduensis et Enziacensis, ed. J. M a b i 11 o n , Acta sanctorum ordinis s. Benedicti V (Paris, 1687) S. 94 ff; Rudolf Glaber, Historiae, ed. J. F r a n c e (Oxford 1989) S. 122 ff. (Saint-Martin d'Autun).

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tung Aniane, erst recht innerhalb des Kreises der septimanischen turba patrum223 hatte erkennen lassen, hielt der benediktinische Reformator im aquitanischen Unterkönigreich und später im Großfrankenreich Ludwigs des Frommen strikt an der von der Benediktinerregel vorgegebenen Autonomie des benediktinischen Einzelklosters fest224. Trotz des ihm gewordenen räumlich umfassenden, zeitlich jedoch begrenzten und mit seinem Tode im Jahre 821 endgültig erloschenen missatischen Auftrags225 nutzte er das Instrument der herrscherlichen missi nicht dazu, die benediktinischen Klostergemeinschaften einer dauernden Kontrolle zu unterwerfen und auf diese Weise einen Klosterverband zu schaffen, an dessen Spitze er als „Reichsabt" gestanden hätte226. Älterer Forschung zufolge habe das Gebetsverbrüderungswesen durch Benedikts von Aniane Wirken einen bedeutsamen Aufschwung genommen227. In Wahrheit schenkte der Reformabt aus Septimanien dem Gebets- und Totenbund nur geringe Beachtung; vor allem setzte er ihn überhaupt nicht zur „Stärkung des Bewußtseins der Zusammengehörigkeit aller dieser Klöster" 228 ein: Die Bestimmungen seiner consuetudo, die Praxis seines Musterklosters regelten nur das Lebendenund Totengedächtnis der jeweiligen Gemeinschaft229. Im Zusammenhang mit ihrer Hinwendung zur benediktinischen Lebensform in der Ausprägung, die ihr die monastische Gesetzgebung Ludwigs des From-

223 Theodulf von Orleans, Carmina, MG. Poetae lat. I, 522, n° 3. 224 Als Benedikt von Aniane Maursmünster verließ, um nach Kornelimünster überzusiedeln, legte er sofort den Abtsstab der elsässischen Abtei nieder: Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 215. 225 Ebd. 226 Die in der deutschsprachigen Literatur beliebte Bezeichnung Benedikts von Aniane als „Reichsabt" sollte man besser meiden. Der dem Reformator vom Kaiser erteilte Auftrag erstreckte sich zwar auf cuncta in regno suo (i. e. Hludowici imperatoris) coenobia, deren Insassen er in der vita monastica benediktinischer Prägung unterweisen sollte - falls ihm dies physisch und zeitlich überhaupt möglich gewesen wäre - , er implizierte aber gerade nicht die Position und die Befugnisse eines „Oberabtes" oder „Generalabtes". 227 Vgl. A. E b n e r , Die klösterlichen Gebetsverbrüderungen bis zum Ausgang der karolingischen Zeit (Regensburg/New York/Cincinnati, 1890), S. 43 ff.; A. H a u c k , Kirchengeschichte Deutschlands II 1954), S. 610; H a 11 i n g e r , Gorze - Kluny (wie Anm. 17), S. 581 f.; differenzierend zuletzt J. W o 11 a s c h , Die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung in: K. S c h m i d - J . W o l l a s c h (Hrsg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (= Münstersche Mittelalter-Schriften 48, München, 1984), S. 218 ff. 228 M. R o t h e n h ä u s l e r - K . B e y e r l e , in: Die Kultur der Abtei Reichenau I (1925), S. 291. 229 S c h m i d , Zeugnisse (wie Anm. 200), S. 515-522.

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men gab, beschränkten Remiremont 2 3 0 , C o r v e y 2 3 1 und Santa Giulia in Brescia 232 Eucharistiefeier und Fürbittgebet vorerst auf die hauseigene Kommunität. Eine ähnliche Regelung hatte der Weißenburger K o n v e n t bereits 776/77 getroffen 2 3 3 ; die Anfänge der erst allmählich auf auswärtige Gemeinschaften ausgedehnten Fuldaer Memorialüberlieferung fallen in die gleichen Jahre 2 3 4 . Im irischen Bereich 2 3 5 , unter angelsächsischen Klöstern 2 3 6 begründeten Gebets- und Totenbünde lange v o r Benedikt v o n Aniane den geistig-geistlichen Zusammenhalt von Klöstern 2 3 7 ; St. Pirmin sicherte mit ihrer Hilfe die Observanz der v o n ihm gegründeten bzw. beeinflußten monasteria2iS. D a Salzburg 2 3 9 , St. Gallen 2 4 0 und Pfäfers 2 4 1 v o r den Tagen der benediktinischen R e f o r m 230 Liber memorialis Romaricensis, MG. Libri memoriales I, 1; vgl. E. H1 a w i t s c h k a / K . S c h m i d/G. T e l l e n b a c h , ebd. S. XVI f. 231 Vgl. K. S c h m i d , Zum Liber vitae des Klosters Corvey, in: H. S t o o b (Hrsg.), Ostwestfälische Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde (= Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volkskunde, Reihe I Heft 15, Münster/W., 1970), S. 30/36. 232 H. B e c h e r , Das königliche Frauenkloster San Salvatore/Santa Giulia in Brescia im Spiegel seiner Memorialüberlieferung, in: FMASt 17 (1983), S. 302-305 und 383 f. 233 M. B o r g o l t e , Eine Weißenburger Ubereinkunft von 776/77 zum Gedenken der verstorbenen Brüder, in: ZGO 123 (1975) S. 3-9 und 15. 234 Vgl. O e x 1 e , Memorialüberlieferung (wie Anm. 198), S. 140-146. 235 D. O ' R i a i n - R a e d e l , Spuren irischer Gebetsverbrüderungen zur Zeit Virgils, in:H. D o p s c h - R . J u f f i n g e r (Hrsg.), Virgil von Salzburg. Missionar und Gelehrter (Salzburg, 1985), S. 141-146. 236 Vgl. A. A n g e n e n d t , Missa specialis. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung der Privatmessen, in: FMASt 17 (1983), S. 203-208. 237Siehe dazu A. A n g e n e n d t , Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Totenmemoria, in: S c h m i d/W o 11 a s c h (Hrsg.), Memoria (wie Anm. 227), S. 174 f. 238 A. A n g e n e n d t , Monachi peregrini. Studien zu Pirmin und zu den monastischen Vorstellungen des frühen Mittelalters (= Münstersche Mittelalter-Schriften 6, München, 1972), S. 187-197; K. S c h m i d - O . G. O e x l e , Voraussetzungen und Wirkung des Gebetsbundes von Attigny, in: Francia 2 (1974), S. 101-107; vgl. auch J . S e m m l e r , Pirminius, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 87 (1989), S. 109 f. 239 Vgl. K. F o r s t n e r , Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg (Codices selecti photographice impressi 51, Graz, 1974), S. 18 f.; B. B i s c h o f f , Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken der Karolingerzeit II (Wiesbaden, 1980), S. 83 f.; K. S c h m i d , Probleme der Erschließung des Salzburger Verbrüderungsbuches, in: E. Z w i n k (Hrsg.), Frühes Mönchtum in Salzburg (= Salzburg Diskussionen 4, Salzburg, 1983), S. 175-198; d e r s ., Das liturgische Gebetsgedenken in seiner historischen Relevanz am Beispiel der Verbrüderungsbewegung des früheren Mittelalters, in: Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter (Sigmaringen, 1983), S. 635 ff. 240 MG. Libri confraternitatum S. 140 und S. 141 f.; vgl. J. A u t e n r i e t h , Das St. Galler Verbrüderungsbuch. Möglichkeiten und Grenzen paläographischer Bestimmung, in: FMASt 9 (1975), S. 219 f.; d i e s ., Der Codex Sangallensis 915. Ein Beitrag zur Erforschung der Kapiteloffiziumsbücher, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Bd. 92, Stuttgart, 1977), S. 43 f.; K.

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Ludwigs des Frommen und Benedikts von Aniane ihr Gebetsgedächtnis für Lebende und Verstorbene der eigenen und fremder Kommunitäten ordneten, läßt sich auch in diesen Konventen nicht die Wirkung der benediktinischen Erneuerungsbewegung des zweiten und dritten Jahrzehnts des 9. Jahrhunderts ablesen. Selbst das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, 823/24 angelegt 242 , verdankte einem anderen Anstoß seine Entstehung als dem kurz zuvor erfolgten Anschluß an die von Benedikt von Aniane propagierte, vom Kaiser geförderte Klosterreform 243 . Die klösterliche Erneuerungsbewegung im Zeichen der Benediktinerregel, der Benedikt von Aniane seine Ideale und seine praktischen Weisungen mit auf den Weg gab, deren Zielrichtung und Wesensgehalt er damit bestimmte, kannte als Gemeinsamkeit, auf die ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein sich hätte gründen können, nur die gemeinsame Regel: Einheitliche ergänzende, ausdeutende Bestimmungen für die liturgische Feier, die Organisation des klösterlichen Gemeinschaftslebens und das Verhalten des einzelnen innerhalb der Kommunität, die angestrebte una consuetudo hatte sich nicht realisieren lassen. In strikter Beachtung der Autonomie des benediktinischen Einzelklosters und in der Regel verankerten eigenverantwortlichen Vaterstellung eines jeden Abtes machte Benedikt von Aniane von dem verbandsbildenden Strukturelement der juridischen Abhängigkeit des Tochter- vom Mutterkloster außerhalb des Bereichs der Grundherrschaft des Klosters Aniane keinen Gebrauch. Ebensowenig zog der Reformator das geistig-geistliche Band der Gebetsverbrüderung heran, um durch zwischenklösterliche Beziehung Reform und Observanz abzusichern. Benedikt von Aniane suchte a u f andere Weise Wesen und Inhalt seiner Klosterreform, ihren Fortbestand und ihre Ausbreitung zu gewährleisten: Er mobilisierte Kompetenzen und Macht des kaS c h m i d , Zur historischen Bestimmung des ältesten Eintrags im St. Galler Verbrüderungsbuch, in: Gebetsgedenken (wie A n m . 239), S. 502 ff.; d e r s . , Bemerkungen zur Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis der Visio Wettini, in: ebd. S. 5 1 5 f.; d e r s . , Das ältere und neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch, in: M. B o r g o l t e - D. G e u e n i c h - K. S c h m i d (Hrsg.), Subsidia Sangallensia I (= St. Galler Kultur und Geschichte 16, St. Gallen, 1986), S. 2 0 - 2 4 . 241 D. G e u e n i c h , Die ältere Geschichte von Pfäfers im Spiegel der Mönchslisten des Liber viventium Fabariensis, in: F M A S t 9 (1975), S. 2 2 9 - 2 3 2 . 242 Vgl. K. S c h m i d , in: M G . Libri memoriales et necrologia NS. I (Hannover 1979 S. L X V - L X V I I I . 243 S c h m i d , Bemerkungen zu Anlage (wie A n m . 35), S. 5 1 4 - 5 3 1 .

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rolingischen Herrschers. Kaiser Ludwig der Fromme sonderte auf seine Anregung hin monasteria in regno suo cuncta aus, ... in quibus ... reguläres esse queant und verfügte unter dem herrscherlichen Siegel, ut inconcussa maneant omni tempore244. Unter reguläres abbates verstand die Vita Benedikts von Aniane Abte, die persönlich mit ihren Konventen nach der Regula s. Benedicti lebten und in ihrer Gemeinschaft die benediktinische Erneuerung, wie sie Kaiser, Synoden und Reformabt konzipiert hatten, wenigstens in den Grundzügen durchsetzten. Damit benediktinische Regel und karolingische consuetudo auch weiterhin unangefochten das monastische Leben in all diesen monasteria determinierten, damit reguläres abbates trotz des Wechsels der Personen jederzeit die benediktinische Formung bewahrten und entfaltend weiterentwickelten, mußte der jeweiligen Gemeinschaft das Recht garantiert werden, aus den eigenen Reihen den Oberen zu wählen. Diese Garantie sprach das Wahlprivileg des Klosterherrn aus 245 , bei Königsabteien das kaiserliche Wahlprivileg 246 . Der Wahlpassus des ludowizianischen Wahlprivilegs enthielt zwar keine Wahlordnung 247 , wohl aber die Verpflichtung der wahlberechtigten Gemeinschaft auf die Regel des hl. Benedikt und die Bindung des eligendus bzw. electus an das benediktinische Grundgesetz 248 . Die bruchstückhafte urkundliche Uberlieferung gibt zu erkennen, daß zwischen 814 und 819 nur etwa 15 monasteria um ein solches Wahlprivileg nachsuchten 249 . Der Kaiser jedoch kam den Reformklöstern entgegen: 818/19 erteilte er allen reformierten benediktinischen Gemeinschaften die ex se ipsis eligendi licentia150. Das eigentliche, individuelle Wahlprivileg pflegte Ludwig der Fromme allerdings nicht separat zu verleihen; seine Kanzlei verknüpfte die ex se ipsis eligendi licentia mit der fränkischen Immunität und dem

244 Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis, MG. SS. XV, 217. 245 Diese Zusammenhänge arbeitete bereits L e s n e , Ordonnances (wie Anm. 42), S. 322-329, heraus. 246 Vgl. S e m m l e r , Iussit (wie Anm. 34), S. 111-114. 247 K. H a 11 i n g e r , Regula Benedicti 64 und die Wahlgewohnheiten des 6. bis 12. Jahrhunderts, in: Latinität und Alte Kirche. Festschrift für Rudolf Hanslik zum 70. Geburtstag (= Wiener Studien, Beiheft 8, Wien/Köln/Graz, 1977), S. 119-127, weist in diesem Zusammenhang auf die Wahlordnung der Regula Magistri capp. 92 ff., ed. A. d e V o g ü é , La Règle du Maître (= Sources chrétiennes 106, Paris, 1964), S. 422 ff.,434 und 440 ff., hin. 248 Vgl. die Rekonstruktion des Wahlpassus in den Diplomen Ludwigs des Frommen bei S t e n g e 1, Immunität (wie Anm. 28), S. 645 f. 249 S e m m l e r , Iussit (wie Anm. 34), S. 113 f. Anm. 36. 250 Capitulare ecclesiasticum (818/19) cap. 5, MG. Capit. I, 276.

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karolingischen Königsschutz 251 . Immunität, königlicher Schutz und die Befugnis, den Oberen aus der eigenen geistlichen Gemeinschaft zu erwählen, verliehen seit den Tagen Kaiser Ludwigs des Frommen den monasteria, die auf eigene oder auf kaiserliche Initiative hin dieses dreigliedrige Privileg erwarben, den Status der königsunmittelbaren Klöster. Sie standen damit verfassungsrechtlich auf der gleichen Stufe wie die fränkischen Bischofskirchen, die sich desselben Privilegs erfreuten 252 , galten als privilegierte Glieder der fränkischen Reichskirche 253 , fungierten in ihrer direkten Bindung an den Herrscher als konstituierende Glieder des regnum Francorum2S4. Nicht in einem Klosterverband, den gemeinsame consuetudo, Gebets- und Totenbund, das hierarchische Strukturelement der Zuordnung von monasteria zueinander, zwischenklösterliche Kontrollinstanzen zusammenhielten, sah Benedikt von Aniane seine monastische Erneuerung, die Formung der karolingerzeitlichen monastischen Gemeinschaften gemäß den Vorschriften der Regula s. Benedict i und mit Hilfe der in Auseinandersetzung mit diesem ehrwürdigen Text entwickelten consuetudo, gesichert, sondern im Gefüge der fränkischen Reichskirche, in der Gliedschaft der benediktinischen Kommunitäten im regnum Francorum. In einem Augenblick, da „Kirche" und „Staat" zumindest konzeptionell eine Einheit bildeten, da temporalia, ecclesiastica und spiritualia nichts anderes waren denn verschiedene Aspekte der einen societas christiana, suchte das benediktinische monasterium die Garantie seiner realen, ideellen und spirituellen Existenz beim Herrscher, dem sich damit - und sei es auch nur als Anspruch - Zugriffsmöglichkeiten auftaten, die ihm bislang nicht de facto, wohl aber de iure verwehrt waren.

251 Vgl. F . - L . G a n s h o f , L'immunité dans la monarchie franque, in: Les liens de vasallité et les immunités ( = Recueils de la Société Jean Bodin I, Brüssel 2 1 9 5 8 ) , S. 201 ff.; L. S a n t i f a l l e r , Zur Geschichte des ottonisch-salischen Reichskirchensystems ( = S A W . P H 2 2 9 N r . 1, Wien 2 1 9 6 4 ) , S. 5 3 - 5 8 ; J. F l e c k e n s t e i n , Z u m Begriff der ottonisch-salischen Reichskirche, in: Geschichte - Wirtschaft - Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer (Berlin, 1974), S. 6 4 - 6 8 ; kaum weiterführend E. M a g n o u - N o r t i e r , Recherches sur le privilège d'immunité du IV e au I X e siècle, in: RevMab 60 (1984), S. 4 8 9 - 4 9 7 . 252 S e m m 1 e r , Iussit (wie Anm. 34), S. 1 1 5 - 1 2 0 . 253 Vgl. ebd., S. 1 2 0 - 1 2 4 . 2 5 4 Zuletzt J. F l e c k e n s t e i n , Problematik und Gestalt der ottonisch-salischen Reichskirche, in: K. Schmid (Hrsg.), Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Gerd Tellenbach zum 80. Geburtstag (Sigmaringen, 1985), S. 88.

DAUER, NIEDERGANG UND ERNEUERUNG KLÖSTERLICHER OBSERVANZ IM HOCH- UND SPÄTMITTELALTERLICHEN MÖNCHTUM KRISEN, REFORM- UND INSTITUTIONALISIERUNGSPROBLEME IN DER SICHT UND DEUTUNG BETROFFENER ZEITGENOSSEN KLAUS SCHREINER

Gemeinsames Leben nährt sich aus der Kraft und Kultur der Erneuerung. Mönchisches Leben findet seine Identität in der gewissenhaften „Beobachtung der Regel" (observantia regulae). Um Rechenschaft zu geben, auf welche Ursachen Formzerfall (deformatio) und Regeluntreue (irregularitas vitae) in Mönchsgemeinschaften des hohen und späten Mittelalters zurückzuführen seien, erinnerten zeitgenössische Ordensmänner gleichermaßen an widrige Zeitverhältnisse und menschliche Unzulänglichkeiten. Sie verwiesen auf Seuchen und Naturkatastrophen, auf Krieg und Fehde, auf wirtschaftliche Konjunkturschwankungen und gesellschaftliche Zwänge wie auch auf die durch Sünde geschwächte und gebrochene Natur des Menschen. Die durch den Sündenfall geprägte Verfaßtheit des Menschen zeigte sich ihrer Auffassung nach sowohl in der mangelnden moralischen Kraft von Individuen als auch im destruktiven Wirken anonymer Strukturen und Prozesse. Veränderte Umweltbedingungen, denen sich Mönchsgemeinschaften nicht gewachsen fühlten, anthropologische und geschichtstheologische Konzepte sollten die Dialektik von Krise (dissolutio) und Erneuerung (reformatio) mittelalterlicher Ordensgeschichten erklärbar machen. Die Frage, wie sich Strukturveränderungen im sozialen Umfeld von Klöstern auf diese selbst auswirkten, läßt jedoch keine generalisierenden Antworten zu. Es bedarf der Unterscheidung von Fall zu Fall. Soziale und wirtschaftliche Wirkungen, die von der sozialen Umwelt eines Klosters ausgingen, konnten dessen Gestaltungswillen und Widerstandskraft überfordern. Umgekehrt gilt: Gesellschaftliche Strukturveränderungen konnten die Lebensordnung mittelalterlicher Mönchskonvente nur deshalb aus den Fugen geraten lassen, weil unter den Mönchen selbst die Fähigkeit zu spirituellem Leben erschöpft und der Wille zur Weltentsagung erschlafft waren. Leben im Kloster, das

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hinter den Normen der Regel, Bräuche und Statuten zurückblieb, verstrickte in Krisen und verstärkte die Neigung zu regelwidrigen Denkund Verhaltensweisen. Gemeinsame Gottsuche versteinerte zu gedankenloser Routine. Reformer waren von dem Willen beseelt, aus Wertvorstellungen und Normen der Regel integrations- und identitätsbildende Bestimmungsgründe monastischer Lebensführung zu machen, denen ein hohes Maß an Dauerhaftigkeit zukam. Wie dies möglich und machbar erschien, ist gleichbedeutend mit der Frage nach der Institutionalisierbarkeit von Reform. MODERNE BEGRIFFLICHKEIT UND MITTELALTERLICHER SPRACHGEBRAUCH

Sollen „Institution" und „Institutionalisierung" mehr sein als beliebig verwendbare begriffliche Versatzstücke wissenschaftlicher Arbeit, besteht Anlaß, Rechenschaft zu geben, welche Strukturierungsund Erklärungskraft beiden Begriffen eignet. Zu prüfen bleibt, ob und inwieweit es sprachliche und sachliche Anknüpfungspunkte gibt, mit deren Hilfe sich moderne Begrifflichkeit und monastische Lebenswelt des Mittelalters miteinander vermitteln lassen. Institution ist kein trennscharfer, eindeutig definierter Begriff. Der Gebrauch, den die neuere Sozialwissenschaft von ihm macht1, ist keinesfalls einheitlich. Institutionen bezeichnen normative Leitideen und Verhaltensmuster; daneben können mit Institutionen auch Ämter und Organisationsformen gemeint sein, die normative Verhaltensorientierungen stützen, tragen und ermöglichen. Institution, auf das mittelalterliche Kloster angewandt, meint zum einen den normativen Bereich der Regel (regula), der Bräuche (consuetudines) und Satzungen (statuta)-, zum anderen die organisierte Sozialform Kloster. Diese konstituiert sich als hierarchisch geordneter Personenverband, stellt eine rechts- und eigentumsfähige Korporation dar und besitzt eine architektonische Gestalt, die einen geistlichen Bereich eigenen Rechts gegen die profane Außenwelt abgrenzt. Institutionen begründen Dauer. Sie reduzieren die Unbegrenztheit möglicher Verhaltensweisen; sie verhindern die Beliebigkeit persön-

1 Vgl. in diesem Band Karl A c h a m , Struktur, Funktion und Genese von Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht; Wolfgang B a 1 z e r , Kriterien für Entstehung und Wandel sozialer Institutionen.

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liehen und kollektiven Handelns und machen Handlungsabläufe, die für die Funktionsfähigkeit und den Bestand sozialer Systeme grundlegend sind, vorhersehbar. Institutionalisierung verweist auf die Bildung dauerhafter sozialer Beziehungen, die „sich von der je aktuellen Situation ablösen, so daß soziale Realitäten eigener Art entstehen, die Kommen und Gehen, Leben und Tod der einzelnen Individuen überdauern"2. Institutionalisierung strebt als Prozeßergebnis eine sinnhafte Ordnung von Verhaltensregeln und konkreten Verhaltensweisen an, die einem Sozialgebilde Bestand geben. Klösterliche Institutionen sind kein Garant für Observanz; sie „wollen und können", wie das generell über die Funktionsleistungen von Institutionen gesagt wurde, „nicht den inneren Aufschwung der Person, die Lebendigkeit des Geistes und der Seele in ihrer Selbstkommunikation sicherstellen"; sie garantieren aber deren „dauernde Möglichkeit", indem sie den „Appell, die chronische .Herausforderung'" zur Verwirklichung normgebundener Handlungs- und Bewußtseinsformen „stabilisieren und weitertragen"3. Institutionen, die ihre Geltungskraft einbüßen, verursachen Formzerfall (deformatio), Krise und Identitätsverlust. Krisenerfahrungen, deren Widerspruch zur Regel bewußt wahrgenommen und erfahren wird, provozieren den Ruf nach Reform. Die Frage, was denn das Wesen einer Institution ausmache und was denn den Vorgang der Institutionalisierung charakterisiere, kann deshalb in die Frage nach der Dauerhaftigkeit von Normen und Verhaltensmustern, nach der Identität von Gemeinschaften und Korporationen umformuliert werden. Nachzuprüfen bleibt, ob bereits Zeitgenossen des Mittelalters Vorstellungen entwickelten, die sich mit einem solchen Verständnis von Institution und Institutionalisierung in Verbindung bringen lassen. Insoweit mittelalterliche Autoren institutio als Synonym für regula, instruetio und eruditio gebrauchen, liegt der Akzent auf der Vermittlung und Aneignung normativer Verhaltensregeln. In Wortverbindungen wie institutio regularis oder institutio canonica kommt

2 Niklas L u h m a n n , Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (Frankfurt a. M., 1980) Bd. 2, S. 208. Vgl. auch d e r s . , Zweckbegriff und Systemrationalität. U b e r die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen (Frankfurt a. M., 1973), S. 183. 3 Helmut S c h e 1 s k y , Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie, in : Joachim M a 11 h e s (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie 1 (Frankfurt a. M., 1967), S. 182.

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die dem Wort institutio inhärente normative Grundbedeutung mit wünschenswerter Genauigkeit zum Ausdruck. Thomas von Aquin verwendet institutio als Synonym für ordinatio reipublicae oder gubernationis ratio4. Ein solcher Begriffsgebrauch, der seine aristotelische Prägung kaum verleugnen kann, gibt dem Wort institutio den Charakter eines politisch-sozialen Verfassungs- und Ordnungsbegriffs. Der gesamtgesellschaftliche Bezug von institutio springt unmittelbar in die Augen, wenn Thomas von institutio politiae spricht und in anderem Zusammenhang politia, die latinisierte politeia des Aristoteles, als ordinatio civitatis definiert. Es ist deshalb kaum mißzuverstehen, was Thomas meint, wenn er von institutio ecclesiae, institutio regni oder institutio civitatis spricht. Mit Hilfe derartiger Wortverbindungen sucht er die Verfassungsordnung geistlicher und weltlicher Gemeinwesen auf den Begriff zu bringen. Wird der Gründungsvorgang eines Klosters als institutio beschrieben, geht es nicht allein um die religiöse und disziplinäre Formung monastischer Gemeinschaften durch Regel, Gebräuche und Statuten, sondern darüber hinaus um die urkundliche Verankerung von Rechtsgarantien, um die Übertragung von Liegenschaften und ökonomisch nutzbaren Herrenrechten, um die Planung und den Bau von Kirchen und klösterlichen Funktionsräumen. Soll der komplexe Vorgang einer Klostergründung bezeichnet werden, meint institutio die Bildung eines organisierten sozialen Handlungssystems. Institutio, so ließe sich derselbe Sachverhalt anders umschreiben, bezieht sich auf die Konstitution einer alle klösterlichen Lebensbereiche umfassenden Ordnung, die es ermöglicht und gewährleistet, daß Personen, die sich einer bestimmten observantia regulae verschrieben haben, ihre geistigen und materiellen Grundbedürfnisse erfüllen können. Sein Bemühen, eine „Gemeinschaft für den Herrendienst einzurichten" (dominici scolam servitii constituere), begriff der hl. Benedikt als institutio5. Normative Gestalt nahm diese „Einrichtung" in zahlreichen Weisungen der Regel an, die als norma vitae den Lebenswandel klösterlich lebender Gemeinschaften lenken und bestimmen sollten. Regula als norma rede vivendi zu deuten, mit recte ducere oder mit regere und rectula in Verbindung zu bringen, geht auf Isidors "Etymologien" zurück6. In Anlehnung an Isidor betonte auch Bo4 Vgl. dazu und zum folgenden Index Thomisticus. Sancti Thomae Aquinatis operum omnium indices et concordantiae (s. 1. 1957) Sectio secunda, concordantia prima, vol. 11, 42 627 institutio. 5 S. Benedicti Regula, Prologus 45-46. 6 Isidori etymologiarum liber VI, 16,1; XIX, 18,2.

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naventura, regula sei mit norma identisch und komme von reguläre. Diejenigen, die sich ihr unterwerfen, lenke sie in ihrem Verhältnis zu Gott, zur Welt, zu sich selbst und zu ihren klösterlichen Mitbrüdern7. Klosterregeln, so ließe sich im Anschluß an Bonaventura sagen, institutionalisieren geistliche Grundwerte, die zu verwirklichen Individuen und Gruppen feierlich gelobt haben. Der hl. Franziskus, sagte Bonaventura, verfaßte eine neue Regel (nova regula), weil den religiösen Zielsetzungen des poverello die priorum instituta Sanctorum nicht mehr genügten. Seiner Auffassung nach wurde in den alten Orden der Gedanke der Nachfolge Christi, desgleichen das Ideal der Kontemplation und der Seelsorge nur ex parte erfüllt. Franziskus habe deshalb eine Synthese von Aufgaben, Werten und Funktionen angestrebt, die bislang auf verschiedenartige Ordensgemeinschaften verteilt waren: das Bemühen, durch Tugendstreben den vestigia Christi zu folgen, auf die Coenobiten; die contemplatio auf die Eremiten; die cura animarum auf die Weltkleriker. Bonaventura beschreibt die Gründung des Franziskanerordens als Bündelung bislang getrennter Funktionsbereiche. Er sagt: quia haec tria simul in nullo invenit Ordine, Spiritu sancto edoctus, novam condidit [Franziskus] Regulam et novum Ordinem instituits. Dem fügt Bonaventura erklärend hinzu: Die Verbindung dieser drei Denk-, Verhaltens- und Betätigungsweisen zu einer neuen Lebensform sei nicht allein auf die Bedürfnisse der propria persona des hl. Franz zugeschnitten gewesen, sondern habe zugleich für seine multi cooperatores gelten sollen. Angestrebt habe Franziskus überdies eine Form gemeinsamen Lebens, die von Dauer war, nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft (non solum in praesenti, sed etiam in futuro) das Leben der Minderbrüder maßgeblich prägen sollte9. Als Merkmale gelungener monastischer Institutionalisierung ließen sich demnach benennen: die Dauerhaftigkeit einer norma vitae, die Verklammerung verschiedenartiger Aufgabenbereiche mit Hilfe normativer Ordnungen sowie deren uneingeschränkte Geltungskraft für die Mit-

7 Bonaventura, Sermo super regulam fratrum minorum, in: Opera omnia (Ad Claras Aquas [Quaracchi], 1898), tom. 8, S. 439: Regula idem est quod norma; et dicitur a regulando, quia per earn subiectus quilibet regulatur, scilicet quoad Deum. Quilibet autem Frater per Regulam suam quadrupliciter regulatur, scilicet quoad Deum, quoad mundum, quoad se ipsum et quoad fratrem suum. - Vgl. auch Peter Olivi's Rule Commentary, ed. David F 1 o o d (= Veröffentlichungen des Instituts f ü r europäische Geschichte Mainz 67, Wiesbaden, 1972), S. 117: regula, id est, recta lex et forma vivendi et regula vivifica ad Christi vitam inducens. 8 S e r m o (wie Anm. 7), S. 338. 9 Ebd.

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glieder einer geistlichen Gemeinschaft, die sich durch ihr Gelübde auf eine geregelte vita communis verpflichtet haben. Zur funktionalen Rechtfertigung der franziskanischen Ordensgründung traten geschichtstheologische Argumente. Gott, zu dessen Wesenseigentümlichkeiten es gehöre, seine Pläne in einer zeitlich abgestuften Ordnung zu verwirklichen, habe die Geschichte der Kirche in drei Abschnitte gegliedert. Jede Epoche zeichne sich durch je spezifische Gefahren und Herausforderungen aus. Der Urkirche habe Gott in den Aposteln und deren Schülern wunder- und zeichenkräftige Männer als Lenker gegeben; den wundertätigen Aposteln und Apostelschülern seien in der „mittleren Zeit" (medium tempus) gelehrte Männer gefolgt, die in der Heiligen Schrift, in der Literatur und Philosophie bewandert waren. In der „letzten Zeit", die Bonaventura als seine eigene begreift, habe Gott Männer gesandt, die aus freiem Entschluß betteln und arm leben. Die Apostel und deren Jünger hätten durch ihre Wunderkraft Götzen und Götzenbilder zerstört; die Gelehrten des „Mittelalters" hätten Häresien besiegt; die Armen der Endzeit hätten sich zu einem Orden zusammengeschlossen, um die Habsucht, das Grundübel einer auf Erwerb und Gewinn bedachten Zeit, zu überwinden10. R I N G E N U M D A U E R H A F T I G K E I T U N D E R F A H R U N G E N D E R KRISE

Einen Orden zu gründen, kam dem Versuch gleich, der Geltungskraft einer Regel Dauer zu verschaffen. Die Gründung von Einzelklöstern war auf Dauer angelegt. Weltliche Klosterstifter waren an immerwährendem Gebetsgedenken interessiert. Urkunden, die Schutz gegen Willkür und Gewalt verbrieften, galten als Bürgschaften des Uberdauerns und Uberlebens. „Apostolischer Schutz", ermahnte Innozenz III. 1213 die Mönche von Heisterbach, solle gewährleisten, daß die klösterliche Ordnung (ordo monasticus), die nach der Regel des hl. Benedikt (beati Benedicti regula) und nach der Verfassung der Zisterzienser (institutio Cisterciensium fratrum) im Kloster Heisterbach

10 Bonaventura, De perfectione evangelica qu. 2 c. 20, in: Opera varia theologica (Ad Claras Aquas [Quaracchi], 1891), S. 147 f. Vgl. Josef R a t z i n g e r , Die Geschichtstheologie des Heiligen Bonaventura (München/Zürich, 1959), S. 116; Klaus S c h r e i n e r , „Diversitas Temporum". Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hrsg. von Reinhart H e r z o g und Reinhart K o s e 11 e c k (München, 1987), S. 410.

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eingerichtet worden sei (instituías esse dinoscitur), unverletzt auf ewige Zeiten {perpetua témpora) beobachtet werden solle11. Das päpstliche Privileg bringt alle Gesichtspunkte zur Sprache, die für das Wesen von Institutionen von Belang sind: die Regel als normative Verhaltensstruktur, das Kloster als Organisationsform sowie das Moment der Dauer. Um Dauerhaftigkeit geht es gleichermaßen im normativen und organisatorischen Bereich. Probleme der Institutionalisierung stellen sich auf organisatorischer Ebene als Probleme der rechtlichen und wirtschaftlichen Bestandssicherung. Im normativen Bereich geht es um Fragen der Institutionalisierbarkeit von Lebensordnungen und Reformgrundsätzen. Dem Verlangen nach Dauer korrelierten Erfahrungen der Erschöpfung und des Niedergangs. Jakob von Vitry kritisierte die unheilvollen Konsequenzen klösterlicher Reichtumsbildung. Grenzenlose Besitzungen (immensae possessiones) seien den schwarzen Mönchen zum Verhängnis geworden12. Ihr von weltlicher Wollust geprägter Lebensstil habe sie bei Gott und den Menschen verachtet und verhaßt gemacht. Weit verbreitet sei unter Fürsten und Potentaten die Neigung, sich gewaltsam jene Klostergüter anzueignen, die ihre Vorfahren in frommer Absicht gestiftet hätten. Den Aufstieg und Niedergang des benediktinischen Mönchtums deutet er als Wandlungsprozeß, der nicht ohne innere Folgerichtigkeit zerstörende Kräfte freisetzt. Armut, gibt er zu denken, brachte die klösterliche Lebensform hervor. Von der Regel gebotener und religiös verdienstlicher Konsumverzicht erzeugte Reichtum. Reichtum verursachte die Auflösung der Sitten; Sittenzerfall zerstörte die klösterliche Ordnung. Die ruinierte Klosterordnung führte zur Armut zurück - freilich nicht zur freiwilligen, sondern zu einer durch die Umstände erzwungenen. Der Kreislauf war perfekt. Dessen Folgen umschrieb Jakob von Vitry metaphorisch: „So hat sich der Kopf in den Schwanz verwandelt". Als sich im späten 15. Jahrhundert der Erfurter Benediktiner Nikolaus von Siegen über Voraussetzungen einer dauerhaften regularis observancia Gedanken machte, kam er gleichfalls auf das Wechselver-

11 Urkunden der Abtei Heisterbach, bearb. von Ferdinand S c h m i t z (= Urkundenbücher der geistlichen Stiftungen des Niederrheins 2, Abtei Heisterbach, Bonn, 1908), S. 133. 12 The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A Critical Edition by John Frederick H i n n e b u s c h O. P. (= Spicilegium Friburgense 17, Fribourg [Schweiz], 1972), S. 128 f.

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hältnis zwischen Reichtum und Regeltreue zu sprechen13. Dauerhafte Observanz, meinte er, sei zu erwarten, wenn sich Klöster an das in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geltende fundamentum sacre religionis halten - an humilitas und paupertas, an die vitacio ocii und die brüderliche culparum correcio. Breche aus diesem Verbund gemeinschaftsbildender und gemeinschaftserhaltender Verhaltensweisen ein Bestandteil heraus, sei der Fortbestand einer regelkonformen vita monastica erheblich gefährdet. Von einem vir discretus will er gehört haben, daß zwischen der wirtschaftlichen Ausstattung eines Klosters und der Lebensführung von dessen Konvent eine enge Wechselwirkung bestehe: Leichter und besser werde die Beobachtung der Regel in Bursfelde, in Homburg und in Clus von Dauer sein (cicius, facilius et melius vita monastica atque regularis observancia permanebit in Bur[s]feldia, Hoenburg, Clusa) als in Erfurt, Köln, Fulda, Braunschweig, Bamberg und Hirsau. In Bursfelde, Homburg und Clus stehe den Mönchen kaum das zum Leben Notwendige zur Verfügung; in Erfurt, Köln, Fulda, Braunschweig, Bamberg und Hirsau herrsche an Lebensmitteln Überfluß. Nikolaus von Siegen will nicht von vornherein ausschließen, daß in Klöstern, die von ehrbaren Bürgern reich beschenkt würden, das monastische Leben blühe (vita monastica viget), wenn sie boni discretique prelati haben. Grundsätzlich ist er aber der Auffassung: habundancia et observancia finaliter diu simul non stabunt. Mögen Regeltreue und wirtschaftlicher Uberfluß unter gottesfürchtigen Prälaten „nebeneinander für eine Zeitlang Bestand haben" (insimul ad tempus perdurabunt), langfristig zerstört Reichtum die Beobachtung der Regel {finaliter habundancia destruit observanciam). Es ist ein Erfahrungsargument, wenn Nikolaus von Siegen behauptet, daß nur wenige Orden in der Lage seien, Reichtum bene et licite zu gebrauchen. Deshalb seine leidenschaftliche Warnung: nimia rerum temporalium habundancia destruit vitam monasticam et ordinem S. Benedictz14. Nikolaus von Siegen ist sich der dialektischen Verklammerung von Regeltreue und Reichtum bewußt 15 . Observanz läßt 13 Nicolai de Siegen, Chronicon Ecclesiasticum, hg. von Franz X . W e g e 1 e , ( = Thüringer Geschichtsquellen 2, Jena, 1855), S. 416 f. Zur Biographie des Chronisten Nikolaus (Bottenbach) von Siegen vgl. Barbara F r a n k , Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Klosterreform und der Bursfelder Union (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 34, Studien zur Germania Sacra 11, Göttingen, 1973), S. 266-268. 14 Nicolai de Siegen (wie Anm. 13), S. 417. 15 Ebd., S. 10: Genuit quondam sancta religio divicias et honores: sed divicie destruunt sacram religionem, ut matrem filia suffocavit. - Das Bild von der Tochter (= Reichtum),

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Wohlstand entstehen, Reichtum verweltlichen. Wirtschaftliche Existenzsicherung, die den Normen der Regel entgleitet, zerstört Observanz. Als Kenner benediktinischer Ordensgeschichte stellte Abt Johannes Trithemius an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert fest, daß der fervor devotionis monachorum, dem das benediktinische Mönchtum seine großen Glanzzeiten verdankte, stets nur von begrenzter Dauer gewesen sei. Zeiten hochgemuter Aufbrüche seien immer wieder abgelöst worden durch Jahre und Jahrhunderte des spannungslosen Mittelmaßes, der halbherzigen Kompromisse, der verblaßten und verbrauchten Ideale16. Um Blüte und Niedergang des Ordenswesens verständlich zu machen, erinnerte Johannes Trithemius an die Einsicht, daß „nichts Dauerhaftes im Menschlichen, nichts Bleibendes im Hinfälligen" sei {nihil stabile in humanis, nihil perpetuum in caducis). Die Wahrheit dieses Grundsatzes sei auch an der Geschichte benediktinisch lebender Mönche ablesbar. Aufstieg und Niedergang des Mönchswesens würden einer der monastischen Lebensform innewohnenden Logik folgen. Mit gleichbleibender Hartnäckigkeit brandmarkte Trithemius die unselige Verquickung von klösterlicher Lebensführung und wirtschaftlichem Reichtum, von Geld und Geist. Enthaltsames Leben habe Reichtum hervorgebracht. Die Fülle zeitlicher Güter hingegen habe Klöster in Armut gestürzt. Solange die Mönche arm und niedriger Herkunft waren, hätten sie in Wahrheit Gott verehrt; reich geworden, habe Wollust die Einfalt vertrieben, Demut sei durch die Überheblichkeit adliger Konventsherren zerstört worden. Reichtum, dessen Gebrauch nicht mehr durch den Willen zur Askese und zu mitmenschlicher Caritas bestimmt werde, verhalte sich langfristig wie eine Tochter, die ihrer Mutter den Hals zuschnüre 17 . Das Verhältnis zwischen Reichtum und Observanz sei mit Kindern vergleichbar, die, groß, anmaßend und selbstherrlich geworden, ihre Eltern verschlingen. Reichtum und Uberfluß an zeitlichen Gütern, zwei aus dem Geist der Askese geborene Söhne des Mönchtums, hätten im Fortgang der Zeit die Frömmigkeit des Geistes und des Herzens (mentium devotio) zerstört und ihre „hei-

die ihre Mutter (= observante Lebensführung der Mönche) verschlingt, gebraucht auch Trithemius, um den nämlichen Sachverhalt zu beschreiben. 16 Johannes Trithemius, Sermones et exhortationes libri duo, sermo 2: Que sit ordinatio vite monastice bona (Argentine, 1516), f. LXI V . 17 Ebd.

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lige Mutter" (sancta mater) in blinder Überheblichkeit verhöhnt und verachtet18. W E G E AUS DER KRISE: VERBANDSBILDUNG, STATUTENGEBUNG , VISITATION

Einstmals, schreibt Johannes Trithemius, auf die Geschichte seines Ordens Rückschau haltend, hätten im Benediktinerorden „viele Reformen" (mahne reformationes) geblüht. Alle seien sie im Strom der Geschichte untergegangen; keine habe bis heute fortwirkende Spuren hinterlassen - nicht einmal die reformatio Cluniacensis, die aufgrund ihrer räumlichen Ausdehnung (ex dilatione) ihre Reformkraft verzettelt und verloren habe19. Nahezu 60 Jahre bestehe nunmehr die sancta Bursfeldensis reformatio, die als „Schule der Demut" (schola humilitatis), als „Lehrmeisterin der Weisheit" (doctrix sapientiae), als „Beispiel der Tugend" (virtutis exemplum) und „Norm der Disziplin" (norma disciplinae) Lob und Anerkennung verdiene. Trithemius rühmt die Bursfelder als „heilige Einheit von Mönchen" (sancta monachorum unio), bei denen gegenseitige Liebe herrsche, demütige Gehorsamsbereitschaft bestehe und „heilige Beharrlichkeit" (perseverantia sancta) Triumphe feiere20. Dennoch: In die Zuversicht des Johannes Trithemius mischen sich Gefühle des Zweifels. „Was soll ich sagen", fragt er die personifizierte Bursfelder Reform, „über Deine Dauer, o erwählter Weinberg des Gottes Sabaoth" ? „Wirst auch Du im Laufe der Zeit nach Art der übrigen untergehen"21 ? Trithemius schlüpft nicht in die Rolle des alleswissenden Propheten. Seine Prognose stützt er auf Erfahrungen der Vergangenheit. Er nennt zwei Sachverhalte, die seiner Ansicht nach auf die Dauerhaftigkeit der Bursfelder Reform (huius reformationis perseverantia) hoffen lassen: das jährliche Generalkapitel (annale Capitulum) und die Einrichtung der Visitation (officium visitationis). Nehme man eines von diesen reformstabilisierenden Elementen weg, beteuert Trithemius, „wird die Reform schnell zu Grunde gehen" (cito reformatio peribit). Setze man

18 Johannes Trithemius, Opera pia et spiritualia (Moguntiae, 1604), S. 851. 19 Johannes Trithemius, Liber luguribus des statu et ruina monastici ordinis c. IX (Bamberg 1739), f. 7r. Zu der 1493 im Druck erschienenen Rede vgl. Klaus A r n o l d , Johannes Trithemius (1462 - 1516) (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 23, Würzburg, 1971), S. 31 u. 229. 20 Opera pia et spiritualia (wie Anm. 18), S. 852. 21 Ebd.

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das Jahreskapitel aus und stelle man die regelmäßigen Visitationen der unierten Klöster ein, werde es mit der reformatio Bursfeldensium bald ein Ende haben. Was die beiden Augen für den Kopf des Menschen bedeuten, dasselbe würden Jahreskapitel und Visitation in „unserer Reform" (nostra reformatio) bewirken. Wer einem Menschen die Augen ausreiße, mache ihn blind und häßlich. Auf Jahreskapitel und Visitation zu verzichten, komme der Absicht gleich, die Reform in ein wirkungsloses Nichts zu verwandeln (reformationem ad nihilum redigere)22. Die Argumente des Johannes Trithemius hatten Tradition. In dem .Dialogus duorum monachorum', einer in der Mitte des 12. Jahrhunderts vermutlich von dem Prüfeninger Mönch Idung verfaßten Schrift, rühmt ein Zisterzienser die ratio consulta der zisterziensischen Ordensverfassung. Alle Klöster des Zisterzienserordens würden „einen Körper" ( u n u m corpus) bilden, der durch e i n Haupt und e i n e n Jahr für Jahr auf dem Generalkapitel neu gebildeten Rat gelenkt werde. Diese Ordnung, bekräftigt der zisterziensische Anonymus, „macht die Lebensform unseres Ordens dauerhaft" (facit religionem nostri ordinis durabilem)23. Benediktineräbte und Benediktinerkonvente hingegen seien „kopflos" (acephahli), weil sie keinen gemeinsamen Lehrer (magister) über sich haben. Jeder Benediktinerabt sei sein eigener Herr und würde deshalb in seinem Kloster selbstherrlich schalten und walten. Regellosigkeit, ein Faktor von Instabilität, sei die unmittelbare Folge. Deshalb die emphatische Feststellung des Zisterziensers: „Das ist die Ursache, weshalb die klösterliche Ordnung in euren Klöstern nicht dauerhaft ist" (Haec est causa quod religio in vestris monasteriis non est durabilis)24. Die Dauerhaftigkeit observanten Lebens werde bei Benediktinern außerdem durch all jene Ordnungen und Verhaltensweisen untergraben, die contra decorem monasticae religionis wirken: insbesondere die starke Abhängigkeit vom jeweiligen Ortsbischof sowie die Tatsache, daß Äbte von Benediktinerklöstern durch Bischöfe in publico ab- und eingesetzt werden. Außerdem würden Zehntrechte, Einnahmen aus Höfen und Mühlen, Abgaben von Bauern und der Besitz bäuerlicher

22 Ebd, S. 852 f. 23 Le moine Idung et ses deux ouvrages: .Argumentum super quatuor questionibus' et .Dialogus duorum monarchorum', ed. R. B. C . H u y g e n s (Spoleto, 1980) S. 168 f. Zur Biographie Idungs, der in der Benediktinerabtei Prüfening Profeß ablegte, dort aber nicht blieb, sondern in den Zisterzienserorden überwechselte, vgl. ebd., S. 6 - 2 0 . 24 Ebd., S. 168.

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Eigenleute den heiligen Sabbat der Mönche stören. Wer über weltlichen Besitz- und Herrschaftstitel verfüge, verstricke sich zwangsläufig in die Unrast weltlicher Rechtsstreitigkeiten. Zisterzienser hingegen würden aufgrund ihres „rechtmäßigen Besitztums" (legitima possessio), das sie ohne Ausübung von Herrschaft bewirtschaften, klösterliche Ruhe (monastica quies) genießen und sich als ordo contemplativus fühlen, indes die Benediktiner aufgrund ihrer anderen Verfassung als ordo activus zu betrachten seien 25 . Institutionalisierte Verbandsbildung, die hierarchische Organisationsstrukturen zur Bedingung für die Möglichkeit dauerhafter Regeltreue macht, sichert langfristig die Identität eines Klosters und einer Ordensgemeinschaft. Zur Korrektur von Lastern und zur Erhaltung der Liebe (ad vitiorum correctionem et caritatis conservationem), meinte Caesarius von Heisterbach (1180-1240), hätten die zisterziensischen Gründungsväter zwei Einrichtungen geschaffen: das Generalkapitel und die jährlich stattfindenden Visitationen der einzelnen Häuser 26 . Die Kartäuser hielten sich an den Grundsatz, daß ohne regelmäßig stattfindende Visitationen eine regelkonforme Disziplin nicht lange bestehen könne (nec regularis disciplina diu Stare nisi visitationes rite faciant)27. Visitation bedurfte allgemein verbindlicher Normen, an denen regelwidrige Devianz gemessen werden konnte. Normsetzende Statutengebung setzte Verbandsbildung voraus. Was Verbandsbildung (1), Statutengebung (2) und Visitation (3) in Theorie und Praxis mittelalterlichen Reformstrebens miteinander verbindet, ist angestrengtes Bemühen, die unitas ordinis durch gleichförmige Observanz und kontrollierbare Abhängigkeit langfristig zu sichern. 1. V e r b a n d s b i l d u n g . Die Einsicht, daß das Einzelkloster der Einbindung in eine größere Gemeinschaft bedarf, um es gegen deformatio und dissolutio disciplinae, gegen nachlassenden vigor und erkaltende Caritas zu schützen, macht das 12. und 13. Jahrhundert zur klassischen Zeit klösterlicher Verbandsbildung. Ansätze zur rechtlichen Gestaltung von Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Haupt (caput) und Gliedern (membra) zeichnet sich am frühesten bei den Cluniazensern ab. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts auf25 Ebd. 26 Caesarius Heisterbachensis, Dialogus rairaculorum, ree. Josephus S t r a n g e (Coloniae, Bonnae et Bruxellis, 1851), vol. 1, S. 6 f. 27 Carolus Le Couteux, Annales Ordinis Cartusiensis ab anno 1084 ad annum 1429 (Monstrolii, 1890), vol. 7, S. 353.

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kommende Wortbildungen wie Ordo cluniacensis, Cluniacensis ecclesia oder Congregatio cluniacensis wurden zu Schlüsselbegriffen für ein monastisches Selbstverständnis28. Seit 1160 nannte sich der Abt von Cluny Abbas abbatum, um die „beinahe unbeschränkte Machtfülle", die er als Abt von Cluny in dem cluniazensischen Ordensverband beanspruchte, auf den Begriff und zum Ausdruck zu bringen29. Die neue Begrifflichkeit indiziert Ideal und Wirklichkeit einer veränderten Verfassungsordnung, die festschreibt, was in dem einen Corpus cluniacensis ecclesiae, dem Haupt, der Zentrale in Cluny, und den Gliedern, den abhängigen Prioraten und Abteien, an Rechten und Pflichten zukommt. Als Dominus et pater, Prior abbas, Pater principalis et caput ordinis, Pater et iudex totius ordinis, Pater et principium ordinis beanspruchte der Abt von Cluny das regimen über alle jene Klöster, die jure obedientiae oder jure proprietario zu Cluny gehörten30. Im Jahre 1132 hielt Abt Petrus Venerabiiis das erste Generalkapitel ab, an dem nicht weniger als 200 Prioren und 1200 Mönche teilgenommen haben sollen31. Zentralismus, Uniformität und Visitation sollten gewährleisten, was Gesinnung und guter Wille allein offenkundig nicht zustande brachten: die Dauerhaftigkeit von Observanz. Die Zisterzienser machten in ihrer Carta caritatis von 1119 das regelmäßige Generalkapitel und die regelmäßige Visitation zu Strukturprinzipien klösterlicher Verbandsbildung32. Eine neue Generation, die mit neuen Ideen die Geschäfte der Reform betrieb, hatte sich Gehör und Geltung verschafft. Um zwischen Anpassungsdruck und Observanz die eigene

28 Horst W o l t e r , Ordericus Vitalis. Ein Beitrag zur kluniàzensischen Geschichtsschreibung ( = Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 7, Mainz, 1955), S. 38 f.; Joachim W o 11 a s c h, Mönchtum des Mittelalters zwischen Kirche und Welt ( = Münstersche Mittelalter - Schriften 7, München, 1973), S. 157 f. u. 178. 29 Viktor D a m m e r t z , Das Verfassungsrecht der benediktinischen Mönchskongregationen in Geschichte und Gegenwart (= Kirchengeschichtliche Quellen und Studien 6, St. Ottilien, 1963), S. 20 f.; vgl auch Gert M e l v i l l e , Die cluniazensische „Reformatio tarn in capite quam in membris". Institutioneller Wandel zwischen Anpassung und Bewahrung, in: Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Mittelalter, hrsg. von J. M i e t h k e u. K. S c h r e i n e r (im Druck). 30 Raphael M o 1 i t o r , Aus der Rechtsgeschichte benediktinischer Verbände, Bd. 1 : Verbände von Kloster zu Kloster (Münster i. W., 1928), S. 123 f.; D a m m e r t z , S. 20. 31 Statuts, chapitres généraux et visites de l'ordre de Cluny, ed. G. C h a r v i n (Paris, 1965), tom. 1, S. 20. 32 Carta caritatis prior, c. V.: Ut semel per annum mater visitet filiam; c. VII: De generali capitalo abbatum Cistercium. Vgl. Les plus anciens textes de Cîteaux, ed. Jean de la C r o i x B o u t o n et Jean Baptiste V a n D a m m e (= Studia et Documenta 2, Achei, 1974), S. 94 f. Vgl. auch Summa cartae caritatis, c. III: De generali statuto inter abbatias; c. IV: De annuo abbatum capitulo. Ebd., S. 117 f.

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Identität zu wahren, bedurfte es ihrer Auffassung nach zentraler Leitungs- und Kontrollinstanzen. Die Anfänge prämonstratensischer Ordensbildung stellen sich nicht weniger deutlich als Prozesse der „Institutionalisierung" und „Zentralisierung" dar. Die Geschichte der frühen Prämonstratenser dokumentiert großes, fast grenzenloses Vertrauen in die reformierende Kraft klösterlicher Verbandsbildung. Der Zusammenschluß von Einzelklöstern in einem hierarchisch organisierten Orden galt, wie die Frühgeschichte der Prämonstratenser eindrucksvoll zu erkennen gibt, als Heilmittel gegen Krisen und Bollwerk der Reform. Als sich Norbert 1126 entschloß, den erzbischöflichen Stuhl von Magdeburg zu besteigen, stürzte er seine Anhängerschaft, eine vornehmlich auf seine Person ausgerichtete Reformbewegung, „in eine existenzbedrohende Krise" 33 . In der zurückgebliebenen Herde machte sich Führungs- und Orientierungslosigkeit breit. Verbindliche Statuten waren nicht vorhanden; stabilisierende Organisationsformen boten keinen Rückhalt. Die Vita Norberts spricht von drohender Auflösung der Reformgemeinschaft (dissolucio ordinis). Die Erfahrung einer Grenzsituation, in der es um Sein und Nichtsein ging, bewirkte, „daß nun eine Organisationsstruktur entwickelt wurde, die in völliger Abwendung von der bisherigen Ordnung das personale Moment weitgehend ausschaltete und die auf die klare Regelung einer in festen rechtlichen und organisatorischen Bestimmungen zusammenwirkenden Reformgruppe ausgerichtet war" 34 . Das Überleben des Ordens durch die Schaffung dauerhafter Organisationsstrukturen gesichert zu haben, ist vornehmlich Werk und Verdienst des Hugo von Fosses (1128-1161). Hugo von Fosses war einer der ersten Schüler Norberts und dessen Nachfolger als Abt von Premontre. Den Verfassungs- und Reformtendenzen der Zeit folgend, machte er das jährlich tagende Generalkapitel und die nach dem Filiationsprinzip durchzuführende Visitation zu festen Einrichtungen prämonstratensischen Ordenslebens. Die 1130 abgefaßten ,Consuetudines' legten fest, „daß einmal im Jahr zum Zweck der gegenseitigen Visitation, um die Angelegenheiten des ordo zu regeln, den Frieden zu festigen und die Liebe zu fördern, alle Abte in gleicher Weise zum col33 Stefan W e i n f u r t e r , Norbert von Xanten und die Entstehung des Prämonstratenserordens, in: Barbarossa und die Prämonstratenser, hg. von der Gesellschaft für staufische Geschichte Göppingen (= Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 10, Göppingen, 1989), S. 76. 34 Ebd., S. 77.

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loquium zusammenkommen müssen, und zwar an einem geeigneten Ort, den sie im gemeinsamen Beschluß bestimmen. Dort sollten sie hinsichtlich der zu korrigierenden Übertretungen dem Herrn Abt der Kirche von Premontre und der heiligen Versammlung ehrfürchtig gehorchen" 35 . Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des zentralistischen Organisationsprinzips ergaben sich zum einen aus der fortdauernden Korrektionsgewalt der Bischöfe, zum anderen aus Spaltungen innerhalb des Ordens selbst. Prämonstratenserstifte, die den Vorrang von Premontre nicht anerkannten, besuchten auch nicht die Generalkapitel und waren gleichfalls nicht bereit, den „unabänderlichen Rechtscharakter" der prämonstratensischen ,Consuetudines' zu akzeptieren 36 . Widerstände vermochten Abt Hugo von Fosses nicht zu entmutigen - im Gegenteil. Erfahrene Schwierigkeiten motivierten zu größerer Anstrengung. Mit Erfolg gelang es ihm, „die Institutionalisierung und Zentralisierung des Ordens weiter zu verfolgen und schließlich ein Kontrollsystem, ja geradezu ein Zwangssystem zu entwickeln, das weit über die Organisationsformen der Zisterzienser hinausging" 37 . Neu und ungewöhnlich war insbesondere die Aufgliederung des Ordens in Ordensprovinzen, deren Abteien jährlich einmal von zwei circatores visitiert werden sollten. „Mit den Ordensprovinzen, den Zirkarien, sollte anstelle der Konventsbeziehungen das Territorialprinzip eingeführt werden, und mit den Circatores wurde eine das bisherige Filiationsprinzip entmachtende Kontrollorganisation eingerichtet, sozusagen eine neutrale und immer anrufbare Aufsichtsbehörde" 38 . Der Wille zur Versachlichung ist evident. Reformerischer Aufbruch sollte durch Reforminstitutionen gesichert werden. Das 4. Laterankonzil von 1215 verpflichtete alle Benediktinermönche, alle drei Jahre auf regionaler Ebene iuxta morem Cisterciensis ordinis Abteversammlungen abzuhalten, die sich über die reformatio ordinis Gedanken machen und insbesondere auf die Visitation der zu ihrem Sprengel gehörenden Abteien bedacht sind 39 . Benediktinische Abtekapitel, die im Laufe des 13. Jahrhunderts in England, Frankreich und Deutschland abgehalten wurden 40 , geben zu erkennen, daß die In35 Ebd., S. 78. 36 Ebd., S. 84. 37 Ebd., S. 82 f. 38 Ebd., S. 84. 39 D a m m e r t z (wie Anm. 29), S. 44 und Anm. 16. 40 Zu den .chapitres généraux' und .chapitres provinciaux' des französischen Benediktinerordens während des hohen und späten Mittelalters vgl. Ursmer B e r 1 i è r e,

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itiative des Konzils nicht gänzlich ignoriert wurde. Der Konzilsbeschluß gab Anstöße. Dauer war diesem nicht beschieden. Das Ideal der Autonomie war bei den Benediktinern stärker ausgeprägt als die Einsicht in die Notwendigkeit überregionaler Zusammenschlüsse. Verbandsbildung galt im 13. Jahrhundert als Grundbedingung dauerhafter Observanz. Die Bettelorden - Dominikaner, Franziskaner, Augustiner - Eremiten und Karmeliten - machten von Anfang an Provinzial- und Generalkapitel zu konstitutiven Elementen ihrer Ordensverfassung. Papst Benedikt XII. versuchte in seiner Reformbulle Summa magistri dignatio, der sogenannten Benedictina (1336), von neuem, dem Orden der schwarzen Mönche eine neue organisatorische Gestalt zu geben. Er teilte den Orden in 36 Provinzen ein, innerhalb deren alle drei Jahre Provinzialkapitel stattfinden sollten. Deren Aufgabe sollte es sein, sich mit disziplinären, wirtschaftlichen und sozialen Belangen der Reform zu befassen. Jährliche Generalkapitel abzuhalten, wurde jenen Benediktinerabteien aufgetragen, denen andere Benediktinerklöster unterstellt waren41. Von neuem belebt und verstärkt ausgebaut wurde die Institution des Generalkapitels in den benediktinischen Reformkongregationen des 15. Jahrhunderts. In der Kongregation von St. Justina in Padua, einer Schöpfung Ludovicos Barbo (1382-1443) aus dem Jahre 1419, bildete das Generalkapitel „die oberste Instanz für alle Angelegenheiten innerhalb der Kongregation"42. Das regimen congregationis war mit einer Gewaltenfülle ausgestattet, die den Einzelkonventen selbst das Recht auf freie Abtswahl nahm und kraft deren jeder Klosterobere von den Definitoren des Generalkapitels eingesetzt wurde. Die Bursfelder Union, 1446 durch ein päpstliches Privileg offiziell anerkannt und rechtlich fundiert, verstand sich als „ein Leib und ein Kapitel" (unum Les chapitres généraux de l'ordre de St-Benoît du X I I I e au X V e siècle, in: RevBén 9 (1892), S. 5 4 5 - 5 5 7 ; Documents inédits pour servir à l'histoire ecclésiastique de la Belgique, publies par U r s m e r B e r 1 i è r e (Maredsous, 1894), T o m e 1, S. 5 8 - 1 1 7 . - Zu den Verhältnissen in England vgl. Documents Illustrating the Activities of the General and Provincial Chapters of the English Black Monks 1 2 1 5 - 1 2 4 0 , ed. by William A b e l (London, 1931). - Zu den Verhältnissen in Deutschland vgl. Joseph Z e 11 e r , Drei P r o vinzialkapitel O . S. B. in der Kirchenprovinz Mainz aus den Tagen des Papstes H o n o rius III. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Klosters Hirsau im 13. Jahrhundert, in: S M B O 43 (1925), S. 7 3 - 9 7 ; F r a n k (wie A n m 13), S. 3 6 4 - 3 6 6 („Statuten des Erfurter Äbtekapitels aus dem Jahre 1259"). 41 Bullarium privilegiorum ac diplomatum R o m a n o r u m pontificium amplissima collectio (Romae, 1740), vol. 3, S. 2 1 5 - 2 1 7 . Vgl. Philipp H o f m e i s t e r , Die Teilnehmer an den Generalkapiteln im Benediktinerorden, in: E J C a n 5 (1949), S. 3 7 5 - 3 7 8 . 42 D a m m e r t z (wie A n m . 29), S. 50.

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corpus et capitulum). In ihrem jährlich tagenden Generalkapitel, dem der Abt von Bursfelde als presidens principalis und als caput et legitimus superior vorstand, fanden die Bursfelder das „stärkste Band ihrer Einheit"«. Reform bedurfte der Institutionalisierung. Als reine Bewegung des Geistes, von der sich Mönche anstecken ließen, war sie nicht denkbar. Dem Melker Reformkreis, der sich keine straffe Organistion gegeben hatte, wurde deshalb mangelnde „Dauerhaftigkeit" (constantia) zum Vorwurf gemacht 44 . In der Tat: Den Melkern fehlte eine durch eindeutige Zugehörigkeitskriterien definierte Organisation. Es gab bei ihnen kein jährlich tagendes Generalkapitel, vor dem sich die einzelnen Mitgliedsklöster hätten verantworten müssen, keine gemeinsame Kasse, keine mit Aufsichtsrechten ausgestattete Verbandsspitze und keine regelmäßig durchzuführenden Visitationen, die nachprüften, ob die in den Melker Gewohnheiten festgeschriebenen Normen auch tatsächlich eingehalten wurden. Melk besaß im strengen Sinne nicht den Charakter einer Kongregation. Reformerische Wirksamkeit kam durch persönliche Kontakte zwischen befreundeten Äbten zustande, nicht aufgrund rechtlich abgesicherter Handlungsvollmachten. Gemeinsamkeit stifteten gemeinsame geistig-religiöse Ideale, nicht Verbandszugehörigkeit, nicht die strikte Einhaltung kontrollierbarer Gewohnheiten. 2. S t a t u t e n g e b u n g . Den Statuten und Konstitutionen, die von Provinzial- und Generalkapiteln erlassen wurden, traute man zu, daß sie die unitas ordinis sicherstellen, ad spiritualis vitae concordiam beitragen und vor allem die perseverantia religionis gewährleisten. Schriftlich abgefaßte Statuten, so lautete eine oftmals ausgesprochene Uberzeugung, geben Handlungssicherheit, nähren die Bereitschaft zur Regeltreue und stärken den Willen zum sittlichen Fortschritt. Schriftlichkeit bedeutet verstärkte Normalität und gesteigerte Geltungskraft von Regeln und Statuten. Die Dominikaner vertraten in ihren Konstitutionen den Grundsatz, daß schriftlich ausformulierte Handlungsgrundsätze angemessener, ge43 M o 1 i t o r (wie Anm. 30) Bd. 1, S. 205. Zum presidens principalis vgl. Die Generalkapitels-Rezesse der Bursfelder Kongregation, Bd. 1: 1458-1530, hrsg. von Paulus V o l k (Siegburg, 1955), S. 26; zum caput et legitimus superior vgl. M o 1 i t o r, Bd. 1, S. 297. 44 Mangelnde constantia gibt Johannes Trithemius als Grund dafür an, weshalb sich das Kloster Hirsau vom Melker Reformkreis abwandte und sich den Bursfeldern anschloß. Vgl. Klaus S c h r e i n e r , Sozial- und standesgeschichtliche Untersuchungen zu den Benediktinerkonventen im östlichen Schwarzwald (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Bd. 31, Stuttgart, 1964), S. 80.

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nauer und vollständiger (competentius et plenius) eingehalten werden können als bloß mündlich überlieferte Handlungsmuster, die im konkreten Entscheidungsfall subjektiver Deutung und Aneignung überlassen bleiben. Der Dominikanergeneral Humbertus de Romanis (t 1277) kommentierte diese Auffassung in der Mitte des 13. Jahrhunderts folgendermaßen: Es gibt Mönche, die außer ihrer Regel nichts Geschriebenes (nulla scripta) besitzen. In ihren Handlungen (in agendis suis) würden sie sich auf das Herkommen stützen, die consuetudo, oder auf ihre Einsicht, ihre ratio, indem sie einfach tun, was ihnen als vernunftgemäß (rationabile) erscheine45. Erheblich lobenswerter sei es jedoch, sich an Geschriebenes zu halten. Was nämlich in scriptis festgehalten werde, sei leichter erlernbar (facilius addiscitur). Geschriebenes, fährt Humbertus in seiner Lobrede auf die wohltätige Macht von Texten fort, falle nicht so leicht dem Vergessen anheim. Geschriebene, in Texten verankerte Normen würden Menschen, die einer klaren Handlungsorientierung bedürfen, bestimmter, angemessener und hinreichender unterweisen als mündlich überlieferte Normen. Von schriftlichen Handlungsnormen sei zu erwarten, daß sie mit größerer Diskretion und mit größerer Besonnenheit zustande gekommen seien als bloß mündlich weitergegebene. Es bilde die Ausnahme, daß der Einzelne von sich aus über jenes Maß an Handlungswissen verfüge, das Texte (scripta) vermitteln. Insbesondere komme es, wenn über das Verhalten einer Gruppe entschieden werden müsse, darauf an, sich auf geschriebene Normen stützen zu können. Wo scripta fehlen, würden oftmals Zweifel über das Richtige aufkommen, selbst bei Klugen und Weisen (sapientes). Ohne passende schriftliche Hilfen würden in offenen Entscheidungssituationen Kontroversen und Konflikte entstehen; scripta hingegen, meint Humbertus mit ungebrochenem Vertrauen in die Kraft des Geschriebenen, würden Streitereien schlichten und beenden. Schriften, die man vorlese, würden zum Handeln motivieren (incitant ad agendum). Es gebe zudem ein höheres Maß an Autorität, wenn man seine Handlungsziele an Hand schriftlicher Argumente begründen könne. Das gelte insbesondere für Amtsträger, die mit Hilfe von Geschriebenem ihre Untergebenen besser (melius) zur Erfüllung ihrer Pflichten anspornen können. Darauf sei es zurückzuführen, daß der Orden darauf bestehe, nicht nur seine Konstitutionen, sondern auch die Rezesse von General- und Provinzial45 Humbertus de Romanis, Opera de vita regulari, ed. Joachim Joseph B e r t h i e r , vol. 2: Expositio in Constitutiones (Marietti, 1956), S. 8 f., c. IV: Quare expedit agenda scripto commendari.

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kapiteln in eine schriftliche Form zu bringen {in scriptis rediguntur). In allen Klöstern mußten deshalb diese für das dominikanische Ordensleben normgebenden Texte vorhanden sein, damit sie mit großer Sorgfalt beobachtet werden können 46 . Keine Äbteversammlung, kein Provinzial- und Generalkapitel versäumte, den anwesenden Äbten und Prioren einzuschärfen, daß sie die gemeinsam beschlossenen Statuten abschreiben oder abschreiben lassen und ein- oder zweimal im Jahr in ihren Konventen zur Vorlesung bringen sollten. Die Quellenbelege für derartige Monita sind Legion. Nicht weniger häufig sind die Klagen über entsprechende Defizite. Das cluniazensische Generalkapitel von 1311 hielt es für einen unhaltbaren Zustand, daß ein Priorat weder die scripte consuetudines des Ordens besitze noch eine régula sancti Benedicti. Insofern brauche es nicht zu wundern, daß dort das Offizium nicht in angemessener Weise (prout decet) gefeiert werden könne 47 . Neue Normen, die Geltung beanspruchten, bedurften der publicatio. Veröffentlichung gebot Verschriftlichung und geordnete Weitergabe des Beschlossenen. Die Fülle der jeweils anfallenden Einzelbeschlüsse verlangte nach Ordnung. Die erste Kodifikation der zisterziensischen Generalkapitelsbeschlüsse wurde 1202 vorgenommen 48 . Bereits zwei Jahre später beschloß das zisterziensische Generalkapitel, daß der libellas definitionum möglichst schnell (quam citius) in den Besitz aller Abte gelangen solle. Auf diese Weise sollte ausgeschlossen bleiben, daß sich ein Abt rechtfertigend und entschuldigend auf sein Unwissen berufe, wenn er gegen eine Norm verstoßen habe49. Das Generalkapitel von 1214 wandte sich gegen die Pflichtvergessenheit von Äbten, die, wenn das Generalkapitel zu Ende ist, nicht die von diesem gefaßten Beschlüsse mit nach Hause nehmen, um sie dort in den Kapitelsversammlungen ihrer Konvente vorzulesen. Äbte, die an der Teilnahme eines Generalkapitels verhindert waren, sollten sich von ihren Vateräbten die verabschiedeten Generalkapitelsbeschlüsse schnellstmöglich besorgen 50 . Darüber hinaus sollten sich die Visitatoren kundig machen, ob das von ihnen visitierte Kloster jeweils im Besitz der jüngsten Generalkapitelsbeschlüsse sei. Nachlässige Äbte 46 Ebd. S. 9. 47 C h a r v i n (wie A n m . 31), tom. 2, S. 314. Vgl. Albert S c h m i d t , Zusätze als Problem des monastischen Stundengebets im Mittelalter (Münster i. W., 1986), S. 53 f. 48 Bernard L u c e t , La codification cistercienne de 1202 et son évolution ultérieure (= Bibliotheca cisterciensis 2, Roma, 1964). 4 9 Statuta capitulorum generalium ordinis cisterciensis ab anno 1 1 1 6 ad annum 1786, ed. Joseph M. C a n i v e z (Louvain, 1933), tom. 1 ( 1 1 1 6 - 1 2 2 0 ) , S. 296. 50 Ebd., S. 390 f.

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sollten bestraft werden. 1228 entschloß sich das Generalkapitel, daß seine Beschlüsse jedem Konvent dreimal im Jahr vorgelesen werden sollten51. Von den Grundsätzen der Zisterzienser ging eine breite Wirkungsgeschichte auf das spätmittelalterliche Ordenswesen aus. Das Generalkapitel der Dominikaner beschloß 1245, daß in jedem Konvent ein Quaternus (unus quaternus) vorhanden sein solle (vier Doppelblätter also, die sich im Bedarfsfall zu einem Kodex zusammenbinden lassen), in denen die jährlich anfallenden acta capituli generalis et provincialis eingetragen und viermal im Jahr vorgelesen werden sollten52. Das 1260 in Narbonne tagende Generalkapitel der Franziskaner beschloß, daß der Guardian eines jeden Hauses die constitutiones generales besitzen und in seine persönliche Obhut nehmen solle. Einmal im Jahr sollten die Generalkonstitutionen dem Konvent vorgelesen werden, insbesondere deren erste sieben Kapitel, welche die Gemeinschaft im ganzen betreffen53. Neu ist das von den Franziskanern ausgesprochene Gebot der Geheimhaltung. Kein Außenstehender soll von dem erfahren, was Franziskaner auf Generalkapiteln beschließen. Neu ist außerdem der ausdrückliche Hinweis, daß die alten, bislang geltenden Statuten zu vernichten seien54. Schriftlichkeit sollte nicht nur Kontinuität sichern, Schriftlichkeit bewährte sich auch als Mittel der Innovation. Kam es darauf an, Normen klösterlichen Zusammenlebens durch geregelte Verfahren stabil zu halten, nahm auch die subjektive Veränderung normativer Texte eine neue Dimension an. Das hängt offenkundig mit dem Funktionswandel zusammen, den consuetudines, constitutiones und statuta seit dem ausgehenden 11. und insbesondere seit dem beginnenden 12. Jahrhundert durchgemacht hatten.55 Klöster51 Ebd., tom. 2, S. 14 f. 52 Acta capitulorum generalium ordinis praedicatorum, ree. Benedictus Maria R e i c h e r t (= Monumenta ordinis fratrum práedicatorum histórica 3, Romae/Stuttgardiae, 1898), vol. 1 (1220-1303), S. 32. 53 Elmar W a g n e r , Historia constitutionum generalium ordinis fratrum minorum (Romae 1954), S. 44. - Zur Institutionen- und Verfassungsbildung der Franziskaner vgl. auch Giovanni O d o a r d i, L'evoluzione instituzionale dell'ordine codificata e difesa da S. Bonaventura, in: San Bonaventura maestro de vita Franciscana et di sapienza Christiana (= Atti del congresso internazionale per il VII centenario di San Bonaventura da Bagnoregio, Roma 19-26 settembre 1974, Roma, 1976), S. 137-185. 54 W a g n e r , S. 44: gardianus ... caveat, quod extraneis nullatenus [constitutiones generales] communicet; ... istis publicatis [constitutionibus a capitulo generali anno 1260 Narbonae celebrato codificatisi> veteres destruantur. 55 Vgl. dazu Klaus S c h r e i n e r , Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform. Funktionen von Schriftlichkeit im Ordenswesen des hohen und späten Mittel-

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liehe Gebräuche und Ordnungen dienten seitdem nicht mehr allein der Vereinheitlichung von Lebensgewohnheiten, die auf eingeübter Praxis und mündlich tradiertem Wissen beruhten. Sie hörten auf, bloße Stütze des Gedächtnisses zu sein. Als förmlich beschlossene, durch Mehrheitsentscheidung rational gesetzte Ordnungen gewannen sie die Geltungskraft autonomer Normen, die auf die Rechtfertigung durch Tradition und Gedächtnis nicht mehr unabdingbar angewiesen waren. Mit Hilfe des Mediums Schrift konnten sie verallgemeinert, kontrolliert und eingeklagt werden. Satzungen, die in einem Entscheidungsgremium förmlich verabschiedet und im Anschluß daran in eine allgemeine verbindliche schriftliche Form gebracht worden waren, ermöglichten und begründeten den Tatbestand strafbarer Fälschung - ein Sachverhalt, der in der intensiv geführten Fälschungsdiskussion der letzten Jahre m. E. nicht genug bedacht und berücksichtigt wurde. Ob Textveränderung durch fromme Absicht gerechtfertigt erscheint oder zum Fälscher macht, hängt von der Qualität des Textes ab, die durch die Art und Weise seines Zustandekommens, durch seinen Geltungsanspruch und seine Funktion definiert ist. Erst die Veränderung förmlich beschlossener und schriftlich verankerter Gewohnheiten disqualifiziert den nachbessernden Eingriff als Fälschung, den Mönch, der das tat, als strafwürdigen falsarius56. So verstandene und gehandhabte Schriftlichkeit ist mehr als bloße Gedächtnishilfe. Sie ist Ausdrucksform von Reformstreben und Niederschlag klösterlicher Verbandsbildung, die ohne verstärkte Ausbildung und Handhabung schriftlicher Kommunikationsformen schlechterdings nicht zu bewerkstelligen war. Die 1482 im Kloster Blaubeuren versammelten Äbte der Benediktinerprovinz Mainz-Bamberg begannen ihre Beratungen mit der Feststellung, daß die seitherigen Kapitelsbeschlüsse wenig oder keinen Nutzen, niemals jedoch erkennbare Wirkungen gezeigt hätten. Die mangelnde Effizienz der immer wieder beschlossenen Reformalters, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hrsg. v. Hagen K e l l e r u. Klaus G r u b m ü l l e r (München, 1992). 56 In den Statuten der Cluniazenser, Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner begegnen immer wieder Strafandrohungen gegen Mönche, die sich als falsarii cartarum et sigillorum vergangen haben. Sie systematisch zu erfassen und im Kontext der mittelalterlichen Fälschungsproblematik zu interpretieren, wäre eine lohnenswerte Sache. - Zum Siegelmißbrauch bei den Cluniazensern vgl. Gert M e 1 v i 11 e , Verwendung, Schutz und Mißbrauch des Siegels bei den Cluniazensern im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert, in: Fälschungen im Mittelalter (= Schriften der M G H 33, IV, Hannover, 1988), S. 673-702.

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maßnahmen führten sie nicht zuletzt darauf zurück, daß die Kapitelsrezesse zum großen Nachteil und Schaden des Ordens in zahlreichen Klöstern unbekannt geblieben seien. Jedem Abt wurde unter Strafandrohung eingeschärft, sich ein „besonderes Buch" (specialis Uber) anzufertigen, das alle seit dem Konzil von Konstanz gefaßten Kapitelsbeschlüsse vollständig enthalte. Die in Blaubeuren vereinbarten Reformmaßnahmen sollten zum besseren „Wachstum des Ordens" (pro incremento ordinis) alle Vierteljahre in den einzelnen Konventen vorgelesen werden 57 . Die Benediktineräbte, die 1490 in St. Aegidien in Nürnberg Provinzialkapitel hielten, beteuerten nachdrücklich, sie wollten nichts Neues beschließen, sondern alte, längst bekannte Statuten von neuem in Erinnerung bringen: die seit dem Konstanzer Konzil verabschiedeten Kapitelsrezesse; die päpstlichen Dekrete; die Reformstatuten von Basel und nicht zuletzt die Konstitutionen des Kardinallegaten Nikolaus von Cues. Sämtliche Reformstatuten sollten gedruckt, den einzelnen Klöstern auf deren Kosten übersandt und Jahr für Jahr durch den Prior oder einen anderen Mönch im Kapitel vorgelesen werden 58 . Mit der Redaktion und Herausgabe wurde Johannes Trithemius beauftragt. Bereits ein Jahr später legte er den Präsidenten des Kapitels die Constitutiones provincialium capitulorum ordinis sancti Benedicti per provinciam Moguntinam et diocesim Bambergensem vor. Das 1493 in Hirsau tagende Provinzialkapitel beschloß den Druck der von Trithemius zusammengestellten Rezeßsammlung. Deren Drucklegung erfolgte noch im gleichen Jahr in Nürnberg 59 . Mindestens einmal in drei Jahren sollte die Sammlung der Kapitelsrezesse „öffentlich" {publice), d. h. im Kapitelsaal vor versammeltem Konvent, vorgelesen werden. Trithemius hatte sein Editionsgeschäft als abbreviatura betrieben. Seine Sammlung enthielt keine ausführlichen Protokolle, sondern stark verkürzte Kapitelsbeschlüsse. Gesteigerten Informationsbedürfnissen 57 Vgl. dazu Klaus S c h r e i n e r , Mönchtum im Geist der Benediktregel. Erneuerungswille und Reformstreben im Kloster Blaubeuren während des hohen und späten Mittelalters, in: Blaubeuren. Die Entwicklung einer Siedlung in Südwestdeutschland, hrsg. von Hansmartin D e c k e r - H a u f f und Immo E b e r l (Sigmaringen, 1986), S. 110. 58 Urkundenbuch der Benediktiner-Abtei St. Stephan in Würzburg, bearb. von Georg S c h r ö t t e r (Würzburg, 1932) Bd. 2, S. 734 f. Vgl. S c h r e i n e r , Mönchtum im Geist der Benediktregel, S. 110. 59 A r n o l d (wie Änm. 19), S. 42 f. - Insofern ist meine Vermutung, wonach es den in Nürnberg tagenden Benediktineräbten nicht gelungen ist, „der guten Absicht die entschlossene Tat folgen zu lassen" (Mönchtum im Geist der Benediktregel, S. 110) zu korrigieren.

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genügte das auf die Dauer nicht mehr, weshalb die 1518 in St. Stephan in Würzburg versammelten Abte den Beschluß faßteri, „daß die Rezesse der Provinzialkapitel Wort für Wort in einem Band gedruckt werden sollen". Jeder Abt wurde im voraus verpflichtet, das gedruckte Statutenbuch käuflich zu erwerben. Gedruckt wurde es nie60. Nicht zustande kam auch die Drucklegung der Bursfelder Statuten - eine Aufgabe, mit der 1497 gleichfalls Johannes Trithemius betraut worden war61. Die Statutenproduktion blühte. Skeptische Ordensmänner warnten vor der multitudo statutorum. Je größer die Zahl der Verordnungen, gaben sie zu bedenken, desto größer die Gefahr des Vergessens und der Übertretung (oblivionis et transgressionis periculum)62. Kasuistik weckte Skepsis, der die Zeitgenossen nicht auswichen. Das Nebeneinander der einen Regel und der vielen Statuten suchten die 1260 in Narbonne tagenden Franziskaner folgendermaßen zu rechtfertigen: Die zahlreichen in Statuten ausgesprochenen Weisungen und Verhaltensregeln seien in die „Substanz der gelobten Regel" (regule promisse substantia) eingeschlossen. Es komme deshalb nur darauf an, den in der Regel implizit enthaltenen Normenvorrat zu entfalten (explicare) 63 . Johannes Trithemius machte geltend, daß alle Regeln, Gebräuche und Statuten der Mönche auf das Evangelium hingeordnet seien. Nur die Orientierung des Mönchslebens am Evangelium könne verhindern, daß der Ordnungs- und Disziplinierungswille, wie er in der Strenge zahlreicher Statuten zum Ausdruck komme, judaistische Gesetzesfrömmigkeit hervorbringe. Sein diesbezüglicher Grundsatz lautete: Non enim propter constitutiones monasticas euangelium, sed propter euangelium statuta sunt facta monachorum. Auch der Mönch, der an Regeln und Statuten gebunden sei, könne nur als Christ gerettet werden64. Im euangelium iesu christi erblickte Trithemius das eigentliche Lebensgesetz (lex) der Mönche. Mit dieser Uberzeugung verband er geharnischte Kritik am deformierten Leben der Mönche, das seiner Auf60 Vgl. S c h r e i n e r , Mönchtum im Geist der Benediktregel (wie Anm. 57), S. 110. 61 V o l k (wie Anm. 43), Bd. 1, S. 27 f.; A r n o 1 d (wie Anm. 19), S. 42. 62 So die Benediktineräbte der Benediktinerprovinz Mainz-Bamberg, die 1464 in Würzburg ihre Kapitelsversammlung abhielten. Vgl. Trithemius, Opera put et spiritualia (wie Anm. 18), S. 1053. - Zur Kritik des Giovanni di Parma, der von 1247 bis 1257 Ordensgeneral der Franziskaner war, an der multitudo constitutionum vgl. W a g n e r , (wie Anm. 53), S. 42; O d o a r d i, L'evoluzione istituzionale (wie Anm. 53), S. 138. 63 M. B i h 1, Statuta generalia ordinis edita in capitulis generalibus celebratis Narbonae anno 1260, Assisii anno 1279 atque Parisiis anno 1292, in: AFrH 34 (1941), S. 37. 64 Trithemius, Sermones (wie Anm. 16), f. VIIIV.

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fassung nach nicht nur auf fehlende Willensanstrengung zurückzuführen war, sondern auch mit vernachlässigter Lektüre und mangelndem Interesse an verschriftlichen Normen zu tun hatte. In den Händen geistig desinteressierter Mönche finde man niemals einen codex divinae scripturae. Geistig abgestumpfte Mönche würden die Regel nicht lesen, nicht auf die Statuten achten und die Beschlüsse der Väter irgnorieren. Kurz: Sie leben gegen schriftlich verankerte Lebensregeln gegen die Statuten (contra statuta), gegen die Rechte (contra jura), gegen die Regel (contra regulam). Mönche, die mit der Reform beginnen wollen, besitzen die „Hilfe des Rechts" {juris auxilia), die Regel (regula) und die Statuten (statuta), auf die sie sich stützen können 65 . Gleichwohl: Spätmittelalterliche Ordensmänner empfanden Statuten nicht allein als hilfreiche Stützen monastischer Lebensführung. Zweifel an der Wirksamkeit und Legitimität einer überbordenden Statutengebung ließ die Frage aufkommen, wie denn Statuten Dauer garantieren sollen, wenn sie ständig verändert oder durch Dispens förmlich aufgehoben werden? Spätmittelalterliche Reformer haben sich die Antwort auf diese Frage nicht leicht gemacht. Generell und grundsätzlich sollte Normwandel subjektiver Beliebigkeit entzogen bleiben; nur verfaßten Gremien wurde das Recht eingeräumt, Statuten zu geben, zu verändern und abzuschaffen. Die Änderung (mutatio) der Statuten, schreibt Peter Olivi in seinem Kommentar zur Franziskus-Regel, dürfte nicht dem Generalminister allein überlassen bleiben, sondern müsse assensu capituli generalis erfolgen. Statuten zu verändern, sei nur dann rechtens, wenn das nicht allein durch „bloße Notwendigkeit" (mera necessitas), sondern auch durch den Nutzen und Fortschritt des Ordens (ordinis profectus et utilitas) erforderlich sei 66 . Die Dominikaner hatten bereits 1241 beschlossen, daß weder Generalminister noch Provinzialprioren berechtigt seien, an Konstitutionen, Statuten und Gewohnheiten des Ordens etwas zu ändern, wenn das nicht auf drei Generalkapiteln mehrheitlich beschlossen und be-

65 Trithemius, Liber lugubris (wie Anm. 19), c. IX, f. F ST'V; G 2 r . 66 Peter Olivi's Rule Commentary (wie Anm. 7), S. 180.

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stätigt werde67 - ein Grundsatz, den im 15. Jahrhundert auch die Bursfelder beherzigten68. Stabilisierend wirken sollte überdies bedachtsam gehandhabter Dispens. Nur eine evidens necessitas oder necessitas cogens, forderte Peter Olivi, sollte eine Ausnahme von der Regel (dispensatio) zulassen69. So zu argumentieren, hatte Tradition. Bernhard von Clairvaux hatte, was die Veränderbarkeit und Unveränderbarkeit von Normen anbetrifft, drei Bereiche von unterschiedlicher Geltungskraft unterschieden: einen feststehenden {stabile), einen unverletzbaren (inviolabile) und einen unveränderbaren (incommutabile) 70 . Zum ersten rechnet er die Mönchsregeln der heiligen Basilius, Augustinus und Benedikt sowie von der Kirche erlassene authentici canones; zum zweiten gehören die von Gott gegebenen zehn Gebote, zum dritten die Seligpreisungen der Bergpredigt sowie alles, was im Neuen und Alten Testament über heilsnotwendige Tugenden - wie die Liebe, die Demut, die Sanftmut - überliefert wird. Das necessarium incommutabile kann nicht einmal von Gott verändert werden; vom necessarium inviolabile kann kein Mensch dispensieren, wohl aber Gott selbst, wie Beispiele aus dem Alten Bund zeigen. Dispens ist nur im Bereich des necessarium stabile statthaft. Aber nicht jedem Untergebenen kommt es zu, das abzuwandeln und zu verändern (variare vel mutare), was die Sancti überlieferten. Dieses Recht steht nur den mit geistlichen Vollmachten ausgestatteten kirchlichen Vorstehern (praepositi; praelati) zu. Diese sind jedoch verpflichtet, aus Gründen der Notwendigkeit eine fidelis etprovida dispensatio vorzunehmen. Nur wenn es die ratio necessitatis erforderlich mache, betont Bernhard, soll der Buchstabe der

67 R e i c h e r t (wie Anm. 52), (vol. 1), S. 20: Approbamus has constituáones. generale statutum ordinis vel consuetudinem diu optentam et communiter in ordine approbatam. nec magister ordinis nec priores provinciales aliquatenus valeant inmutare, nisi per tria capitula generalia fuerit approbatum. Vgl. auch Raymond C r e y t e n s , Les constitutions des frères prêcheurs dans la rédaction de s. Raymond de Peñafort, in: APraed 18 (1948), S. 29 f.: Et ut multitudo constitutionum evitetur, prohibemus ne de cetero aliquid statuatur, nisi per duo capitula continua fuerit approbatum, et tunc in tertio capitulo immediate sequente, poterit confirmari vel deieri, sive per priores provinciales sive per alios diffinitores, ubicumque illud tertium capitulum celebretur, Interpretationes regule vel constitutionum facte a generali capitulo non habeant vim constitutionis, nisi per tria capitula approbentur. 68 Generalkapitels-Rezesse (wie Anm. 43), 1, S. 22: Nulla tarnen, constitucio firma et efficax censeatur, nisi per tria capitula annalia continua roboretur. Zu der Formel confirmata sunt pro tercio statuta vgl. ebd., S. 175. 69 Peter Olivi's Rule Commentary (wie Anm. 7), S. 132 f. 70 S. Bernardus, Liber de praeeepto et dispensatione II, 4, in: Opera, vol. 3: Tractatus et opuscula, ed. J. L e c 1 e r c q et A. M. R o c h a i s (Romae, 1963), S. 256.

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Regel für geraume Zeit der Liebe weichen. Kirchlicher Rechtsgrundsatz sei, daß Notwendigkeit eine Veränderung des Gesetzes (mutatio legis) rechtfertige71. Notwendigkeit kenne kein Gesetz und lasse deshalb die Ausnahme von der Regel zu (Necessitas quippe non habet legem et ob hoc excusat dispensationem)72. Der Ordensstand, versicherte Johannes Gerson (1363-1429), verdanke seine regelkonforme innere und äußere Verfassung vornehmlich der stabilitas constitutionum. Wie jede Verfassung eines Gemeinwesens durch die legum stabilitas, jeder lebendige Körper durch die soliditas nervorum erhalten werde, so sei der Bestand des Mönchtums von der unverbrüchlichen Geltungskraft seiner Konstitutionen abhängig. Nichts schade dem Ordenswesen mehr als unbedacht gehandhabte variado in constitutionibus. Unbegründet und willkürlich gewährte Dispens habe schon manche Kloster- und Ordensgemeinschaft (religiones) zu Fall gebracht. Die Vorsteher klösterlicher Gemeinschaften, die kraft ihres Amtes zur Auslegung klösterlicher Ordnungen berufen seien, würden dispensationes in dissipationes verwandeln, wenn sie bei der Gewährung von Ausnahmeregelungen das Gemeingut des Ordens (bonum religionis) und den Fortschritt des einzelnen Mönchs (profectus religiöst) nicht im Auge behalten73. Um die Observanz klösterlicher Gemeinschaften zu erhalten, schrieb der Erfurter Kartäuser Johannes Hagen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, sei es unabdingbar, daß Äbte racionabiliter Dispens erteilen. Nur „Schwächen und Notwendigkeiten einzelner Personen" (infirmitates et necessitates personarían singularium), betonte er, würden Abweichungen von der Regel und den Statuten rechtfertigen. Würden Äbte unterschiedslos und ohne triftigen Grund (indiscrete et sine causa) allgemeine Dispense (generales dispensaciones) erteilen, käme eine so gewährte dispensado in Wirklichkeit einer dissipacio et destructio gleich74. Johannes Trithemius unterschied zwischen „gerechter Dispens" (dispensado justa) und einer solchen, die durch Täuschung, List und Lüge 71 Ebd. II, 4—III, 7, S. 256-258. 72 Ebd. V, 11, S. 261: Necessitas... non habet legem, et ob hoc excusat dispensationem. 73 Johannes Gerson à Guillaume Minaudi, de la Grande Chartreuse Lyon, 30 octobre 1422, in: Oeuvres complètes, ed. Mgr. G l o r i e u x , vol. 2: L'oeuvre épistolaire (Paris/Tournai/Rome/New York, 1960), S. 240, 238. 74 Johannes Hagen, Tractatus de diversis gravaminibus religiosorum, c. I X (s. 1. 1465), f. b v - b 2 r . - Vgl. auch Jean Gerson, Regulae Mandatorum, in: Oeuvres complètes, vol. 9: L'oeuvre doctrinale (Paris, 1973), S. 99: Dispensatio praelatorum quae est juris communis quaedam relaxado seu mitigatio, locum habet praecipue circa casus particulares et personas singulares; quoniam aliqua statuta sunt pro communitate, quae huic personae vel Uli, et in isto casu vel illo, non ita sicut suntposita, congruere dignoscuntur.

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erschlichen werde 75 . Nach Ansicht des Trithemius mußten vier Kriterien erfüllt sein, sollte eine vom Papst gewährte Dispens rechtens sein: offenkundige Notwendigkeit (necessitas evidens et manifesta), unverfälschte Angemessenheit (congruentia vera), öffentlicher, nicht privater Nutzen (utilitas non privata, sed publica), nicht vorgetäuschte, sondern in der Sache selbst begründete Ehrbarkeit (bonestas non ficta sed proprio). Die Attacken des Trithemius richteten sich insbesondere gegen Ordensbrüder, die mit päpstlicher Billigung ihren Ordensberuf aufgeben, um das bequemere, weniger asketische Leben weltlicher Chorherren zu führen. Trithemius gab zu bedenken: Vom Papst urkundlich verbriefter Dispens, der auf „falschen Erzählungen von Mönchen" (falsae narrationes monachorum) beruhe, garantiere vor Gott keine Sicherheit. Ein .Apostat', der durch eine trickreich ergatterte päpstliche Bulle sich von der Ordensprofeß habe befreien lassen, besitze keine sichere Gewähr, an den Freuden der ewigen Seeligkeit teilhaben zu dürfen. Er möge sich vorsehen, daß er nach seinem Tod nicht einem illiteraten Dämon begegne, der, weil er nicht lesen könne, seine Appellationen an den Papst nicht anerkenne und die Gründe seiner Freistellung vom Ordensgelübde verwerfe.Wer sich den Bruch seines Gelübdes durch „betrügerisch erwirkte Urkunden" (fraude impetratae litterulae) bestätigen und absegnen lasse, habe vor Gott keinen Fürsprecher mehr. Uber den Heilswert einer päpstlichen Bulle entscheide weder die Autorität des Papstes noch die Geltungskraft des Geschriebenen, sondern die Gesinnung des jeweiligen Petenten. 3. V i s i t a t i o n . Neben Generalkapitel und Statutengebung zählte die Visitation zu jenen Institutionen, denen Klostermenschen des hohen und späten Mittelalters zutrauten, Observanz langfristig zu stabilisieren. Schriftlichkeit des Verfahrens wurde zu jenen Voraussetzungen gerechnet, die Visitationen zu Instrumentarien wirksamer Reform machen. Ein Vaterabt, heißt es in der zisterziensischen Summa cartae caritatis, der seine Visitationspflichten wahrnehme, solle sein Tochterkloster caritative corrigere7b. Die gebotene liebende Zurechtweisung erfolgte mündlich; Schriftliches war dabei noch nicht im Spiel. Ein visitierender Benediktinerabt des 15. Jahrhunderts bedurfte, um dasselbe zu tun, einer schriftlichen Vollmacht des Provinzialkapitels. Er mußte sich von Fürsten und Landesherren schriftliche Geleitbriefe ausstellen lassen. Er trug vielfach ein eigenes Handbuch für Visitatoren bei sich, das Statuten, Vorlagen für Kapitelsansprachen und daneben ein 75 Trithemius, Liber lugubris (wie Anm. 19), f. C v - C 2V. 76 Les plus anciens textes de Citeaux (wie Anm. 32), S. 117.

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über 100 Fragen umfassendes Interrogatorium enthielt, das der Befragung des zu visitierenden Abtes und Konventes zugrundegelegt werden sollte. Die als Visitatoren agierenden Abte waren gehalten, Kritik und Beschwerden von Konventsmitgliedern zu protokollieren (bzw. entsprechende deposita anzufertigen) und vor allem in zweifacher Ausfertigung eine carta visitationis auszustellen, von denen ein Exemplar im Kloster bleiben sollte, das andere dem Präsidium des Provinzial- oder Generalkapitels ausgehändigt werden mußte. Zwischen beiden Polen lassen sich, wenn man Visitationen nach dem Grad ihrer Verschriftlichung befragt, mannigfache Zwischenformen ausmachen. Der 1212 zusammengestellte Libellus definitionum der Zisterzienser, die früheste Kodifikation der zisterziensischen Generalkapitelsbeschlüsse, sah vor, daß der Visitator in einer mit seinem Siegel versehenen Urkunde (in carta sigillo suo sigillata) sorgfältig jene Sachverhalte niederschreibt, die seiner Einsicht und Entscheidung nach verbessert und neu geordnet werden sollten. Die von ihm ausgefertigte Visitationsurkunde möge er dem Kantor aushändigen, der sie bei der Visitation des darauffolgenden Jahres vorlesen solle77. Die ältesten Dominikaner-Statuten trafen folgende Regelung: Die Visitatoren sollten vor Ort mündlich (verbo) ihre Rügen und Verbesserungswünsche vortragen; an das General- oder Provinzialkapitel hingegen sollten sie schriftlich (scripta) berichten78. Damals muß auch Cluny dazu übergegangen sein, in den Pflichtenkanon der Visitatoren die Anfertigung schriftlicher Rechenschaftsberichte aufzunehmen. Aus dem Jahre 1245 haben sich nicht weniger als fünf Rezesse erhalten, in denen sich Prioren durch Brief und Siegel verpflichten, den Beschwerden der Visitatoren Rechnung zu tragen und die angemahnten Mängel zu beheben79. Von den Rezessen wurden zwei Ausfertigungen hergestellt. Eine wurde im Kloster hinterlegt; die andere expedierten die Visitatoren nach Cluny. Das im Kloster deponierte Exemplar mußte bei der nächsten Visitation den Visitatoren

77 L u c e t (wie Anm. 48), S. 86. 78 Consuetudines fratrum predicatorum, dist. II, cap. 18, in: De oudste Constituties van de Dominicanen. Voorgeschiedenis, Tekst, Bronnen, Ontstaan en Ontwikkeling (1215-1237), Met Uitgave van de Tekst door A. H . T h o m a s (Leuven, 1965), S. 354 f. 79 M e 1 v i 1 ] e , Verwendung, Schutz und Mißbrauch des Siegels (wie Anm. 56), S. 683. Zum Visitationswesen der Cluniazenser vgl. auch S c h m i d t , Zusätze (wie Anm. 47), S. 54 f.; vgl. zur Organisation der Cluniazenser im 13. Jahrhundert den Uberblick von Gert M e 1 v i 11 e , Cluny après „Cluny". Le treizième siècle: un champ de recherches, in: Francia 17 (1990), S. 91-124; d e r s ., Die cluniazensische „Reformatio" (wie Anm. 29).

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ausgehändigt werden, um diesen die Möglichkeit zu geben, sich über disziplinäre Fort-.und Rückschritte ein Urteil zu bilden. Den Kartäusern blieb es vorbehalten, in ihren Statuta antiqua von 1259 aus der Visitation ein ausnehmend genau geregeltes System permanenter Überwachung gemacht zu haben80. Streng gehandhabte Visitation sollte Kartäusergemeinschaften befähigen, an ihrem ursprünglichen rigor ordinis festzuhalten. Die damals verabschiedeten Statuta antiqua enthielten einen Fragenkatalog, nach dem die beiden Klostervisitatoren vorgehen sollten. An Hand der charta visitatorum, die ihre Vorgänger ausgestellt hatten, sollten sie sich kundig machen, ob die von diesen geforderten emendationes tatsächlich erfüllt worden waren. Bei der Befragung der einzelnen Mönche, die stets die Doppelrolle von Anklägern und Beklagten spielten, sollten sie sich Notizen machen. Das Ergebnis der Visitation sollten sie in einer doppelt ausgefertigten Visitationsurkunde festhalten. Ein Exemplar blieb im Kloster und sollte zweimal jährlich im Kapitel vorgelesen werden; das andere ging auf Kosten des visitierten Konvents an den Generalprior der Grande Chartreuse. Diesen erreichten Jahr für Jahr nahezu 100 Visitationsprotokolle (15. Jahrhundert), an Hand deren er sich ein genaues Bild über den jeweiligen Zustand des Ordens machen konnte. War die Visitation abgeschlossen, wurde die Visitationsurkunde des Vorjahres vernichtet. Sorge um den guten Ruf des Ordens gebot strikte Geheimhaltung. Die alte Visitationsurkunde wurde deshalb verbrannt; deshalb war es auch streng untersagt, die neue charta visitationis durch einen weltlichen Laienschreiber zu Papier bringen zu lassen. Gleichwohl: Nicht alle Visitationsprotokolle sind mit der geforderten Unnachsichtigkeit vernichtet worden. Visitationsprotokolle der Kartäuser, die es eigentlich gar nicht geben sollte, lassen sich immer wieder dingfest machen81. 80 Statuta antiqua, pars 2, cap. 30 § 18: De visitationibus generalibus et privatis, in: Consuetudines et statuta ordinis cartusiensis (Basileae, 1510). - Z u m Visitationswesen der Kartäuser vgl. Heinrich R ü t h i n g , D e r Kartäuser Heinrich Egher von Kalkar 1328— 1408 ( = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 18, Studien zur Germania Sacra 8, Göttingen, 1967), S. 6 6 f.; d e r s ., ,Die Wächter Israels'. Ein Beitrag zur Geschichte der Visitationen im Kartäuserorden, in: Die Kartäuser. Der Orden der schweigenden Mönche, hrsg. von Marijan Z a d n i k a r i n Verbindung mit Martin W i e 1 a n d (Köln, 1983), S. 1 6 9 - 1 8 3 ; d e r s . , Die Kartäuser und die spätmittelalterlichen Ordensreformen, in: Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, hrsg. von Kaspar E 1 m ( = Berliner Historische Studien 14, Berlin, 1989) S. 47 f.; Johannes S i m m e r t , Z u r Geschichte der Generalkapitel der Kartäuser und ihrer Akten (cartae), in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag ( = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/111, Göttingen, 1972), Bd. 3, S. 6 7 7 - 6 9 2 . 81 R ü t h i n g , ,Die Wächter Israels', S. 171.

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Wie eine Visitationsurkunde aussehen sollte, beschreibt Johannes Trithemius in seinem Tractatus de visitatione monachorum82. Der gelehrte Abt lehnte sich stark an die Visitationsbräuche der Bursfelder an; diese hinwiederum waren auf weite Strecken den Visitationsgebräuchen der Kartäuser gefolgt83. In der charta visitationis solle die „Verfassung der visitierten Mönche" (status monachorum visitatorum) festgehalten werden; insbesondere komme es darauf an, individuelle und kollektive Verhaltensweisen zu benennen, die der Besserung bedürfen. Gegen Vergeßlichkeit seien Strafmaßnahmen anzudrohen. Eingefügt werden sollten der Urkunde außerdem Angaben über die Stärke des Konvents, sowie über die Höhe der Einkünfte und das Ausmaß der Schulden. In der Urkunde sei außerdem zu vermerken, wie oft diese während des Jahres im Konvent vorgelesen werden solle. Zu siegeln sei die Urkunde mit den Siegeln der beiden Visitatoren. Schließlich solle von der Visitationsurkunde eine Abschrift angefertigt werden, sei es durch die Visitatoren selbst, sei es durch die visitierten Mönche, nicht aber durch einen weltlichen Schreiber, der von den Mängeln der Mönche nichts zu wissen brauche. Diese Kopie hätten die Visitatoren dem Provinzialkapitel auszuhändigen. Auf keinen Fall dürften aber die Visitatoren die scedulae depositorum, d. h. die Zettel, auf denen die von Mönchen geäußerten Beschwerden über ihren Abt und ihre Mitbrüder stehen, dem Abt des visitierten Klosters überlassen. Gelegenheit, in boshafter Absicht Rache zu nehmen, solle dem Abt nicht gegeben werden. Die Visitatoren sollten die Zettel verbrennen oder im Bedarfsfall dem Präsidenten des Provinzialkapitels vorlegen. Ob ein Abt auf eine Beseitigung der urkundlich festgehaltenen Regelwidrigkeiten und Verstöße bedacht war oder nicht, sollten die Visitatoren bei der nächsten Visitation nachprüfen. Dann nämlich wäre der Konvent, wie es der normierte Fragenkatalog vorsah, zu fragen, ob der Abt die carta ultima e visitationis beobachtet habe oder nicht. Theorie und Praxis der Visitation waren im späten Mittelalter nicht unumstritten. Was den einen als Säule der Erneuerung galt, verurteilten andere als Quelle dauernder Zwietracht und Denunziation. Aus dem Melker Reformprogramm blieb sie ausgespart. Als Visitatoren sind 82 Johannes Trithemius, De visitatione monachorum, cap. X X V I I : De charta visitationis facienda, in: Opera pia et spiritualia (wie Anm. 18), S. 997. - Trithems Darlegungen stimmen wörtlich überein mit dem Abschnitt De charta visitationis facienda aus dem Modus visitandi aliquod monasterium, das nach 1422 abgefaßt wurde und vermutlich Johannes Rode ( t 1439), Abt von St. Matthias in Trier, zum Verfasser hat. Vgl. Generalkapitels-Rezesse (wie Anm. 43), 2, S. X X I I I u. XVI. 83 Vgl. dazu R ü t h i n g , Kartäuser und Ordensreformen (wie Anm. 80), S. 41, Anm. 36.

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Melker Reformmönche nur dann aktiv geworden, wenn sie von ihrem Bischof, ihrem Landesherrn oder vom Salzburger Provinzialkapitel dazu beauftragt wurden. Z E I T G E B U N D E N E R E G E L A U S L E G U N G ALS F A K T O R D E R D A U E R

Innovationsbereitschaft bewährte sich als Faktor der Dauer. Wille zu zeitgemäßer Erneuerung trug dazu bei, Reformen langfristig zu festigen. Ob klösterliche Institutionen systemerhaltend wirkten oder nicht, hing auch und vor allem von der Fähigkeit ihrer Träger ab, Herausforderungen, die von ihrer geistigen und politisch-sozialen Umwelt ausgingen, produktiv zu verarbeiten. Ordensgeschichte erschöpft sich nicht in bloßer Nachahmung normgebender Gründungsgeschichten. Auch Mönche sind gehalten, angesichts neu sich bildender Denk- und Lebensformen neue Identitäten auszubilden. Den Wandel ihrer klösterlichen Lebensweisen begriffen sie nicht als Traditionsbruch, als Regeluntreue und Identitätsverlust, sondern als zeitgebundene Auslegung und Verwirklichung der Regel. Wahrnehmung und Erfahrung des Wandels waren im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters ein allgegenwärtiges Phänomen. Neue Orden entstanden, welche die diversitas religionum vergrößerten und gewohnte Gleichförmigkeit (uniformitas) durch Vielgestaltigkeit ersetzten. Unter dem Einfluß sich wandelnder Lebens- und Umweltbedingungen wurden überkommene Normen in Frage gestellt, abgewandelt und durch neue ersetzt. Neuheit konnte nicht länger als Unwert diskriminiert werden. Der Gott der Christen, argumentierte Anselm von Havelberg (um 1099-1158), fördere stets das Neue, weil er wisse, „daß sich die Einrichtung und Gemeinschaftsformen im Trott der Gewohnheit verbrauchen und immer geistige Trägheit droht" 84 . Es sei ein und derselbe Geist Gottes, der „in verschiedenen Zeiten und in verschiedenartigen geistlichen Lebensformen" (in diversis temporibus et in diversis ordinibus) erneuernd am Werke sei. Nur eine „neue religiöse Lebensform" (nova religio) sei imstande, glaubende Christen, welche Gewöhnung an das traditionelle Ordenswesen abgestumpft habe, für Reformen der Kirche und des Mönchtums zu interessieren85. 84 Wilhelm B e r g e s , Anselm von Havelberg in der Geistesgeschichte des 12. Jahrhunderts, in: J G M O D t l 5 (1956), S. 52. 85 Das ist der Grundgedanke von Anselms Schrift Anticimenon id est Uber contra positorum sub dialogo conscriptus, in: M i g n e PL 188, Sp. 1142-1160. Zu deren Deutung vgl. Wilfried E b e r h a r d , Ansätze zur Bewältigung ideologischer Pluralität im

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Einen gewichtigen theologischen Rechtfertigungsgrund für die zahlreichen Veränderungen und Neuheiten in Kirche und Mönchtum erblickt er in den großen heilsgeschichtlichen „Wandlungen" (transpositiones sive mutationes), in denen Gott wie ein weiser Erzieher und Arzt die Menschen von einer niederen zu einer höheren Stufe der Erkenntnis und des Glaubens geführt habe. Einen weiteren Grund für die Möglichkeit und Legimität kirchlicher varietates erblickt Anselm in dem e i n e n heiligen Geist, der sich „als vielfältig erweist in der vielfältigen Verteilung seiner Gaben" (multiplex in multifaria donorum suorum distributione). Was der Kirche, unbeschadet voneinander abweichender, ja sogar mitunter widersprüchlicher Gebote, Kult- und Lebensformen Zusammenhang gebe, sei der Glaube ihrer Träger. Dieser bewirkte, daß sich qualitativ verschiedene Zeiten - wie die Zeit des Naturgesetzes, des geschriebenen Gesetzes und des Evangeliums - zu einer geschichtlichen Einheit verflechten. „Vielheit", ein Strukturprinzip göttlichen Schöpfungs- und Offenbarungshandelns, rechtfertige auch die Pluralität klösterlicher Lebens- und Gemeinschaftsformen. Die von Gott gewollte „Vielheit" schließe erzwungene Uniformität aus und gebiete Duldung, keine unzeitige Verurteilung und gewaltsame Vereinheitlichung. Prozesse der Differenzierung rückgängig machen zu wollen, sei theologisch nicht legitim. Pluralität verlange Toleranz- auch im Bereich des Ordenswesens. Es war aber nicht allein die Entstehung neuer religiöser Gemeinschaften, welche aufgrund ihrer novitas Rechtfertigungsprobleme aufwarfen; auch der Wandel von Ordensgebräuchen bedurfte der Legitimation. Auf der unmodifizierten puntas regulae zu beharren, hielten mitunter selbst Reformmönche für anachronistisch. In seinem 850 abgefaßten Regelkommentar schrieb der fränkische Mönch Hildemar, daß die Bestimmungen, die der hl. Benedikt über die Aufnahme und Bewirtung der Gäste ehedem getroffen habe (Reg. c. 53), in der Gegenwart kaum noch zu erfüllen seien. Einmal habe die Zahl der täglich an der Klosterpforte erscheinenden Gäste gegenüber den Zeiten Benedikts erheblich zugenommen; zum anderen sperre sich das soziale Selbstgefühl der Vornehmen und Reichen gegen das Ritual der Fußwaschung. Wenn wir den Reichen, beteuerte Hildemar, „die Füße waschen würden wie den Armen, wird es keine Ehre für die Reichen sein, sondern eher ein Verlachen, und es wird als Torheit gewertet und wird sogar dem Klo12. Jahrhundert: Pierre Abelard und Anselm von Havelberg, in: HJB 105 (1985), S. 368-387; S c h r e i n e r , „Diversitas temporum" (wie Anm. 10), S. 415 f.

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ster Schaden bringen"86. Hildemar wollte sagen: Verändert sich der gesellschaftliche Zusammenhang, auf den eine Bestimmung zugeschnitten ist, erscheint es rechtens, diese situationsgerecht abzuwandeln und mit den veränderten Gegebenheiten in Einklang zu bringen. Von selbst verstanden sich derartige Begründungen nicht. Als ein Schüler Poppos von Stablo 1032 in Hersfeld cluniazensische Bräuche einführte, reagierten benachbarte Reichsmönche verärgert und stellten abschätzig fest: inibi mutata est consuetudos?. Hinter dieser Nachricht des Hildesheimer Annalisten verbarg sich der unausgesprochene Vorwurf, daß es Mönchen nicht zukomme, sich der Autorität des hl. Benedikt zu entziehen und an seiner Regel Veränderungen vorzunehmen. Um sich - gleichsam in einem Akt der Notwehr - gegen Hirsauer Reformversuche zu wehren, verfaßten Mönche aus Lorsch ein Spottgedicht, das sie, zusammen mit einer Bittschrift um Vertreibung der Hirsauer Eindringlinge, 1111 Kaiser Heinrich V. überreichten88. Jener Anonymus, der zu Anfang des 12. Jahrhunderts einen Traktat 'De diversis ordinibus et professionibus' schrieb, räumte ein, daß es sowohl unter den Mönchen als auch unter den Kanonikern Leute gebe, die es strikt ablehnen, daß in der Kirche im Hinblick auf die Zeit, den Ort und die Person etwas verändert wird (nolentes aliquid pro tempore et loco et persona in aecclesia mutarif9. Als eine lothringische Äbteversammlung, die 1131 in Reims tagte, das Totengedächtniswesen für die Verstorbenen der in der Reimser Kirchenprovinz zusammengeschlossenen Benediktinerklöster neu regelte, eine Kürzung der Psalmodie vereinbarte und sich - sichtlich unter dem Einfluß von Citeaux - für jährlich abzuhaltende Abteversammlungen 86 T h o m a s S c h u 1 e r , Ungleiche Gastlichkeit. Das karolingische Benediktinerkloster, seine Gäste und die christlich-monastische N o r m (Diss. Bielefeld, 1979), S. 204. 87 Kassius H a 11 i n g e r , Consuetudo. Begriff, Formen, Forschungsgeschichte, Inhalte, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift, hrsg. vom Max-Planck-Institut für Geschichte (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 68, Studien zur Germania Sacra 14, Göttingen 1980), S. 149. 88 Hermann J a k o b s , Die Hirsauer. Ihre Ausbreitung und Rechtsstellung im Zeitalter des Investiturstreits (= Kölner Historische Abhandlungen 4, K ö l n / G r a z 1961), S. 32, 200, 2 1 3 f; Klaus S c h r e i n e r , Hirsau, Urban II. und Johannes Trithemius. Ein gefälschtes Papstprivileg als Quelle für das Geschichts-, Reform- und Rechtsbewußtsein des Klosters Hirsau im 12. Jahrhundert, in: D A 43 (1987), S. 4 8 6 f. 89 Libellas de diversis ordinibus et professionibus qui sunt in aecclesia. Ed. and transi, by Giles C o n s t a b l e and B. S m i t h (Oxford, 1972), S. 34. Vgl. Jean L e c 1 e r c q , Diversification et identité dans le monachisme au X l l e siècle, in: Studia Monastica 28 ( 1 9 8 6 ) S. 5 3 - 5 5 ; Klaus S c h r e i n e r , Sozialer Wandel im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung des späten Mittelalters, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hrsg. von Hans P a t z e (= V u F 31, Sigmaringen 1987), S. 259.

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aussprach, legte Matthäus von Albano (+1135), päpstlicher Kardinallegat für Frankreich und Deutschland, Einspruch ein. Matthäus, „ein wahrhaft frommer Mann voll der reinsten Absichten", der, unbefriedigt vom Leben als Kanoniker, in dem Pariser Cluniazenserpriorat St. Martin-des-Champs Mönch geworden war, fühlte sich so sehr der Lebenspraxis Clunys verpflichtet, „daß er während seiner gesamten Laufbahn Clunys Observanz verteidigte" 90 . Zisterziensisches Gedankengut zu übernehmen, mußte ihm deshalb „als Einbruch in das System Clunys erscheinen, der ihn in seinen innersten Uberzeugungen traf und zu heftiger Gegenwehr herausforderte" 91 . Von größerem Interesse als das Veto des Kardinallegaten im Namen des Herkommens ist die Reaktion der Betroffenen. Ins Zentrum ihrer Widerrede rücken die Wortführer des Reimser Provinzkapitels das Spannungsverhältnis zwischen Gesetz {lex; mandato.) und Freiheit (li-

bertas,; libertas spiritus; libertas Christi), Gewohnheit (consuetudo) und

Vernunft {ratio), zwischen den vielen Bräuchen {consuetudines) und der einen Regel {regula). Gegen das „Gesetz der Gewohnheiten" {lex consuetudinum) pochen sie auf das Recht der Freiheit und das Argument der Vernunft; sie erheben den Anspruch, im Namen von Nutzen {utilitas) und Notwendigkeit {necessitas) Gewohnheiten verändern und abschaffen zu dürfen, die sich durch triftige Handlungsgründe nicht mehr rechtfertigen lassen92. Als Menschen, schreiben die lothringischen Äbte dem traditionsbewußten Kardinallegaten, wollen sie behandelt werden, nicht wie Esel, denen, wenn sie in einer Mühle im Kreis gehen müssen, mitunter die Augen verbunden werden, damit sie nicht merken, wie sie einen „Kreis immerwährender Gewohnheit" {continuae consuetudinis girus) ausschreiten müssen, sich unablässig bewegen, aber nicht vom Fleck kommen. Als vernunftbegabte Individuen lehnen es die Abte ab, sich durch einen Schleier des Gesetzes die Augen der Vernunft {rationis oculi) verdunkeln zu lassen, um ständig laufen zu müssen, aber nicht zu

90 S c h m i d t , Zusätze (wie Anm. 47), S. 100. 91 Ebd. - Herausgegeben und zum Druck gebracht wurde das Votum des Kardinallegaten Matthäus von Albano von Ursmer B e r 1 i é r e , Documents inédits pour servir a l'histoire ecclésiastique de la Belgique (Maredsous 1894), Tome 1, S. 93-102. - Zum historischen Kontext der Debatte vgl. S c h m i d t , Zusätze (wie Anm. 47), S. 97-106. 92 Ebd., S. 103-110, hier: 103 f. - Zur Verfasserschaft der Replik vgl. L e c 1 e r c q , Diversification et identité (wie Anm. 89), S. 68. Als Verfasser hat man Wilhelm von SaintThierry vermutet. Zur Berufung auf den freiheitsstiftenden „Geist Gottes", der Reformforderungen und Rechtsänderungen rechtfertigen soll, durch Mönche und Theologen des 11. und 12. Jahrhunderts, vgl. S c h r e i n e r , Hirsau, Urban II. und Johannes Trithemius (wie Anm. 88), S. 501 und Anm. 98, 526.

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wisssen wohin und wie 93 . Maßstab ihrer Gewohnheiten sei die Regel. Der Sinn der Gewohnheiten bestünde in ihrer Hilfe zur Beobachtung der Regel (in adiutorium regulé), nicht umgekehrt. Gewohnheiten sollten Mönche befähigen, sich in ihrem Denken und Verhalten der Regel anzunähern und sie letzlich erfüllbar zu machen. Wenn sie sich bei der Lesung des Evangeliums in der Vigil, schreiben die Abte, keine priesterlichen Gewänder anlegen oder sich an Feiertagen nicht weiß kleiden, sondern ihren gewöhnlichen Habit (regularis habitas) tragen, sei das nicht als Verachtung einer altehrwürdigen Gewohnheit zu betrachten, sondern als Ausdrucksform einer vernunftgemäßen Entscheidung. Die Zeit, die sie für das ständige An- und Auskleiden benötigen, würden sie lieber für die Psalmodie und andere notwendige Verrichtungen verwenden94. Um unterschiedliche Lebensgewohnheiten in Klöstern zu rechtfertigen, seien auch strukturelle Tatbestände im Auge zu behalten. Kleine Gemeinschaften könnten Dinge tun, welche die Cluniacensium multitudo nicht zulasse, wie auch umgekehrt ihre paucitas ausschließe, was in Cluny möglich sei. In allem, was sie tun, würden sie sich nicht an eine unveränderbare Stetigkeit (constantia) ihrer Gewohnheiten halten, sondern Veränderungen vornehmen, wenn es die ratio cum charitate gebiete oder die Charitas cum ratione einen besseren Rat gebe95. Spätmittelalterliche Eiferer bezeichneten jene als destructores observantiae, die dafür eintraten, auf „die Zeiten, in denen wir jetzt leben" (témpora, in quibus modo sumus), Rücksicht nehmen zu sollen. Als sündhafte Begierde wurde es gebrandmarkt, wenn vermeintliche oder tatsächliche Gegner einer vita regularis sive observantia behaupten, Regel (regula), Ordensstatuten (statua ordinis) und Generalkapitelsbeschlüsse (statuta patrum) würden den „Notwendigkeiten der Zeit" (temporales necessitates) widersprechen und seien deshalb zu verändern 96 . Das waren Einzelstimmen, die Beachtung verdienen. Durchgesetzt haben sie sich nicht. Die Repräsentanten der großen Mönchsorden Petrus Venerabiiis, Bernhard von Clairvaux, Bonaventura - argumentierten im Interesse des Wandels. Normen zu verändern, hielten 93 B e r 1 i è r e , Documents inédits (wie Anm. 91), 103. 94 Ebd., S. 109 f. 95 Ebd., S. 110. 96 So der Augustinereremit Johannes von Paltz ( t 1511). Vgl. Berndt H a m m , Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis (= Beiträge zur historischen Theologie 65, Tübingen, 1982), S. 296 und Anm. 524 und 525.

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sie für theologisch legitim. Traditionalismus, der um jeden Preis an wandlungsbedürftigen Auffassungen und Gewohnheiten festhält, war nicht ihre Sache. Sie nannten Gründe (causae) und Voraussetzungen (condiciones), die es dringlich und rechtens erscheinen ließen, Regel und Gebräuche zeitgemäß auszulegen und abzuwandeln. Als den Cluniazensern von den Zisterziensern vorgeworfen wurde, die Regel Benedikts ihren eigenen Interessen anzupassen, wehrten sich diese in der Uberzeugung, die Satzungen Benedikts nicht gedankenlos verwässert und verfälscht zu haben. Petrus Venerabiiis unterschied zwischen „göttlichen Weisungen" (divina mandato), die „unveränderlich" (immobilia), und solchen, die „veränderlich" (mobilia) sind. Zu den „veränderlichen Weisungen" Gottes rechnete er alle kirchlichen Kanones und Dekrete, die pro ratione causarum et temporum abgewandelt und aufgehoben werden können. Die Vielfalt (diversitas) kirchlicher und monastischer Lebensordnungen beruhe nicht auf gegensätzlicher Unvereinbarkeit (adversitas), sondern sei als eine Erscheinungsform der Liebe (caritas) zu verstehen, welche zum Heil der Menschen in verschiedenen Zeiten (diversis temporibus) auch verschiedene Verhaltensregeln (diversa mandata) zur Pflicht mache 97 . Im einzelnen begründete Petrus Venerabiiis den Wandel klösterlicher Verhaltensnormen so: Die Zeitgebundenheit von Normen, an denen Cluniazensermönche ihr gemeinsames Leben ausrichten, habe nichts mit Selbstherrlichkeit und Willkür zu tun. Die treibende Kraft normativer Veränderungen sei die Liebe, welche alte Vorschriften verändert, neue entstehen läßt und darauf bedacht ist, „je nach Sitte, Zeit und Ort, bald allgemein, bald besonders" (pro moribus, temporibus, locis, nunc generaliter, nunc specialiter) zum Heil der Menschen zu wirken. Weil die Regel Benedikts, argumentierte er, im Geist der Liebe verfaßt worden sei, dürfe sie auch im Geist der Liebe verändert werden, um sie mit den Erfordernissen der Zeit, den herrschenden Sitten und den örtlichen Gepflogenheiten in Ubereinstimmung zu bringen (temporibus et moribus ac locis congruere)9S. Als Petrus Venerabiiis auf außerordentlichen Generalkapiteln der ecclesia Cluniacensis 1132 und 1146 neue Statuten beraten, beschließen und promulgieren ließ, fühlte er sich verpflichtet, die causa mutationum ausführlich darzulegen und eingehend zu begründen, „aus welcher Vernunftursache" (qua ratione) die einzelnen Gebräuche verändert worden 97 The Letters of Peter the Venerable, ed., with an Introduction and Notes, by Giles C o n s t a b l e (Cambridge [Massachusetts], 1967) S. 88 f., 96, 99. 98 Ebd., S. 92.

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seien. Es sei ein Unterschied zu machen zwischen dem, was das ewige Gesetz Gottes als unveränderliches Gebot vorschreibe, und dem, „was von Menschen eines zeitlichen Nutzens wegen für begrenzte Zeit, nicht für ewige Dauer verordnet wird". Das Gesetz Gottes, von dem das ewige Heil des Menschen abhänge, dürfe nicht verändert werden, wohl aber die von Menschen gesetzten Normen, die dem Wandel unterworfen sind, weil das, was sich ehedem als nützlich bewährte, sich später als schädlich erwies. Was zum Wesen der Tugend gehöre (que vere virtutis sunt), sei unveränderlich; veränderbar hingegen seien die „Stützen der Tugend" (adjumenta virtutum), die je nach Erfordernis der Sache, Person und Zeit (pro congruentia rerum, personarum et temporum) festgelegt und abgewandelt werden dürfen. Unveränderbar sei das Gebot des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe; verringert, gesteigert oder abgeschafft werden dürften hingegen die Regeln für das Fasten, die Vigilien, die Handarbeit und die körperliche Askese, soweit es dafür eine triftige necessitatis vel caritatis causa gebe". Für Veränderungen spreche auch die geschichtliche Erfahrung. Die Abte Odo und Hugo, zwei heilige Männer, hätten die Gewohnheiten Clunys wiederholt geändert, wenn es eine urgens necessitas oder utilis causa erforderlich machten. Vieles hätten frühere Abte nützlich eingerichtet, was von ihren Nachfolgern certa intervenierte causa wiederum verändert worden sei. „Diesen", bekennt Petrus, „bin ich gefolgt, indem ich einiges in den alten Gebräuchen veränderte, weil es begründeter Nutzen so verlangte". Petrus Venerabiiis ist fest davon überzeugt, durch die von ihm angeregten und beschlossenen Veränderungen nicht vom Pfad der heiligen Väter abgewichen zu sein. Nicht allein seinem Urteil sei er gefolgt, sondern auch dem Rat gottesfürchtiger und weiser Brüder. Veränderungen vorgenommen habe er schließlich mit Zustimmung des Generalkapitels (capituli universalis assensu)100. Abt Petrus Venerabiiis wollte zum Ausdruck bringen: Normwandel ist theologisch legitim, sofern die Grenzen zwischen Wandelbarem und Unwandelbarem beachtet werden. Für einen Wandel der cluniazensischen Gewohnheiten sprechen zweckrationale und legale Handlungsnormen. Die vorgenommenen Veränderungen beruhen auf dem Konsens der Betroffenen und sind durch ein Verfahren legimitiert, das den Orden in seiner Gesamtheit zum verantwortlichen Träger von Normveränderung macht; Wandel kann durch theologische Einsichten

99 C h a r v i n (wie Anm. 31), 1, S. 21. 100 Ebd., S. 21 f.; vgl. auch den Beitrag von Eva-Maria P i n k 1 in diesem Bande.

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und geschichtliche Beispiele gestützt werden; Einsicht und Erfahrung lassen ihn als nützlich und notwendig erscheinen. Selbst Bernhard von Clairvaux, der beanspruchte, daß die grauen Mönche die Regel des hl. Benedikt wortwörtlich erfüllen, konnte Abweichungen von der Regel im Namen der Notwendigkeit rechtfertigen. Er räumt ein, daß die Liebe, die unverbrüchliche Regel Gottes, der Ordensregel des hl. Benedikt überlegen sei. „So mag es denn geschehen, daß hin und wieder der Regelbuchstabe zeitweilig der Liebe weicht, wenn es das Gebot der Not (ratio necessitatis) erheischt"101. In anderem Zusammenhang zitierte Bernhard den auf Papst Leo zurückgehenden und im Kirchenrecht verankerten Grundsatz: Ex necessitate enim fit mutatio legis102. Bernhards Gedankengänge machten Schule. Auch im Spätmittelalter und in der beginnenden Neuzeit zitierten Mönche, wenn sie Abweichungen von der Regel rechtfertigen wollten, mit Vorliebe Bernhards Grundsatz, wonach die „Veränderung des Gesetzes" (mutatio legis), wenn sie „aus Notwendigkeit" (ex necessitate) erfolge, rechtens sei103. Das Dreigespann Notwendigkeit, Nutzen und Zeit wurde im Spätmittelalter zu einer beliebten Argumentationsfigur, um Veränderungen des kirchlichen und weltlichen Rechts zu begründen. Es sei keinesfalls tadelnswert, argumentierten die Teilnehmer des vierten Laterankonzils (1215), wenn sich secundum varietatem temporum menschliche Lebensund Handlungsnormen ändern, zumal wenn eine urgens necessitas oder eine evidens utilitas das erfordere. Gott selbst habe von dem, was er im Alten Bunde festgelegt habe, im Neuen einiges „geändert" (mutavit)104. Der ratio humana mutabilis, argumentierte Thomas von Aquin, entspreche eine lex mutabilis. Es komme deshalb darauf an, Gesetze mit dem im Fortgang der Zeit erreichten Vollkommenheitsgrad der menschlichen Vernunft in Einklang zu bringen. Gesetze könnten außerdem geändert werden angesichts veränderter menschlicher Lebensbedingungen (propter mutationem conditionum hominum). Richtmaß für ein gutes Gesetz sei die utilitas communis, das allgemeine Wohl, der öffentliche Nutzen, welcher Von den verschiedenen Lebenbedingungen der Menschen abhänge. Die Unwandelbarkeit der lex naturalis 101 Bernardus, De praecepto et dispensatione IV, 9, in: Opera (wie Anm. 70), vol. 3, S. 259: Esto proinde ut interdum Regulae littera cedat pro tempore cantati, cum ratio necessitatis exegerit. 102 Ebd., II, 5, in: Opera, vol. 3, S. 257. 103 Paulus V o l k , Die Stellung der Bursfelder Kongregation zum Abstinenzindult von 1523, in: RevBén 42 (1930), S. 242. 104 M a n s i , Collectio conciliorum, torn. 22, Sp. 1035.

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schließe die Wandelbarkeit der lex humana nicht aus. Was sich verändere, seien nicht die im Naturgesetz enthaltenen praecepta universalia, sondern die geschichtlichen Voraussetzungen für deren Verwirklichung. Gesetze seien deshalb dazu da, aus naturrechtlichen Prinzipien zeit- und situationsgemäßes Recht zu machen105. B O N A V E N T U R A Ü B E R U R S A C H E N V O N STRUKTUR- U N D V E R H A L T E N S W A N D E L IM F R A N Z I S K A N E R O R D E N

Der Fortgang der Zeit rechtfertigte Verschiedenheit (varietas) und Wandel (mutatio). Als B o n a v e n t u r a (1217-1274), der geistvolle Franziskanertheologe, General des Franziskanerordens und Kardinal, über den Wandel des franziskanischen Lebensstils nachdachte, flüchtete er nicht in gängige Gemeinplätze, sondern nannte konkrete Ursachen106. Auf die Frage, weshalb die Minderbrüder, unbeschadet ihres von der Regel gebotenen Armutsgelübdes, häufiger in den Häusern der Reichen einkehren als in den Hütten der Armen, nannte Bonaventura drei Gründe: das Bedürfnis nach materieller Existenzsicherung (nostra necessitas), die „Not der Armen" (pauperum inopia) und schließlich das „Heil der Reichen" (divitum salus). Im einzelnen gab Bonaventura folgendes zu bedenken. Wenn Franziskanermönche über Land ziehen, erschöpft und von Hunger geplagt sind, bestehe größere Hoffnung, in den Häusern der Reichen gestärkt und gesättigt zu werden, als „bei jenen, die wir nicht kennen". Am Tisch der Armen zu essen, verursache Schmerz, weil diese nur das besitzen, was sie sich täglich mit ihrer Hände Arbeit mühselig verdienen. Reiche und mächtige Personen bedürften zudem des seelsorgerlichen Zuspruchs ungleich dringender als arme. Arme Menschen würden, weil sie in dieser Welt eh keinen Trost finden, ganz von sich aus nach himmlischen Tröstungen verlangen. Wer hingegen im Wohlstand lebe, fühle sich nicht veranlaßt, seinen Blick auf himmlische Güter zu richten. Insofern gebe der Kontakt mit reichen Leuten Franziskanermönchen Gelegenheit, Edelleute und vermögende Stadtbürger mit der „Lehre des Heils" vertraut zu machen107. Überdies nütze ein bekehrter Reicher der Kirche mehr als ein frommer Armer. Die salus pauperis sei sich selbst 105 Vgl. S c h r e i n e r , Sozialer Wandel (wie Anm. 89), S. 266. 106 So in seinen Determinationes quaestionum circa Regulam Fratrum minorum, in denen er auf konkrete Fragen, die sich mit dem Verfassungs- und Verhaltenswandel des Ordens befassen, konkrete Antworten gibt. Vgl. S. Bonaventura, Opera omnia (wie Anm. 7), tom. 8, S. 337-374. 107 Das auf die Frage, cur Fratres magis frequent mensas divitum quam pauperum. Vgl. Determinationes quaestionum p. I, qu. 22, in: ebd., S. 352 f.

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genug; der sittlich und religiös erneuerte Reiche hingegen bilde ein leuchtendes Beispiel für viele. Vom humilis pauper gehe keine Ausstrahlung aus; der fromme Reiche dagegen wirke missionarisch 108 . Bonaventura machte überdies auf strukturelle Bedingungen aufmerksam, die erklären sollten, weshalb sich Franziskanermönche nicht mehr in hergebrachter Strenge an die Regel hielten. Bonaventura schrieb: Die Zahl der Minderbrüder sei erheblich gewachsen, was zur Folge habe, daß Franziskanermönche mehr und öfters bei Laienchristen um ihren Lebensunterhalt betteln müssen als das in früheren Zeiten der Fall war - eine Tatsache, welche die Sympathie gegenüber den Minderbrüdern nicht gehoben habe, sondern den Eindruck gesteigerter Habgier weckte. Mehr betteln müßten die Jünger des hl. Franziskus auch deshalb, weil sie in ihren Klöstern „sehr viele Schwache und Kranke" (plures debiles et infirmi) haben. Diese seien, weil sie ihr Leben lang die Last einer strengen Ordensdiziplin und einer harten Armut getragen hätten, körperlich derart erschöpft, daß sie brüderlicher Pflege bedürfen, wolle man sie nicht wie „krankes Viehzeug" (infirma pecora) dahinsiechen lassen 109 . Und nicht zuletzt: Die Zahl der Bettelorden habe sich vergrößert. Die Zahl der Bettler sei größer geworden. Die Minderbrüder müßten deshalb latius tanto vagari, konkret: ihre Bettelbezirke erheblich ausweiten, was Zeit koste und dem gemeinsamen Leben abträglich sei. Was man den Jüngern des hl. Franziskus früher ungefragt aus freien Stücken geschenkt habe, würden sie nunmehr mit Scham zusammenbetteln. Aufgrund der vielen Bettelmönche seien die um Hilfe angegangenen Weltleute erschöpft (ex multitudine petentium homines sunt lassati)110. Hinzu komme ein weiteres: Der Orden der Minderbrüder würde viele imbecilles aufnehmen, die dem rigor Ordinis nicht gewachsen seien, desgleichen „viele Arme" (multi pauperes), die nicht Gottes

108 Das auf die Frage, quare Religiosi plus honorent divites quam pauperes. Vgl. Determinationes quaestionum p. I, qu. 23, in: ebd., S. 353. - Der Abstand zwischen der Argumentation des Bonaventura und den ursprünglichen Zielsetzungen des Hl. Franziskus ist evident. In der Regula prima hatte die franziskanische Gründergeneration ihr Sozialverhalten folgendermaßen definiert: Et debent gaudere, quando conversantur inter viles et despectas personas, inter pauperes et debiles et infirmos et leprosos et iuxta viam mendicantes. Vgl. Regula non bullata quae dicitur prima, in: Analekten zur Geschichte des Franciscus von Assisi, hg. von Heinrich B o e h m e r , 2. Aufl., durchgesehen von Friedrich W i e g a n d , 3. Aufl. mit einem Nachtrag von Carl A n d r e s e n (Tübingen, 1961), S. 7. 109 Determinationes quaestionum p. I, qu. 8: Cur Fratres modo plura petant quam olim, in: Opera omnia 8, S. 342 f. 110 Ebd., S. 343.

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wegen, sondern pro sustentatione vitae Anschluß an eine klösterliche Lebensgemeinschaft suchen; schließlich: der Orden würde, was Außenstehenden kaum verständlich zu machen sei, viele incompositi moribus, sittlich ungehobelte Leute also, aufnehmen, die sich kaum von ihrem zur schlechten Gewohnheit gewordenen Lebenswandel abbringen ließen111. Bonaventura erklärte und rechtfertigte die seit der Gründung des Ordens veränderte personelle Zusammensetzung der Konvente so: Nehme der Orden inutiles personae auf, was ihm oftmals zur confusio gereiche, so insbesondere aus Mitleid (compassio) mit den um Aufnahme Bittenden, die außerhalb des Klosters keine Lebenschance hätten. Um die personelle Umstrukturierung des Ordens und deren nachteilige Folgen verständlich zu machen, erinnert Bonaventura an die Urkirche, deren sittlich-religiöses Niveau gleichfalls gesunken sei, als sich die kleine Herde des Anfangs, die noch ein Herz und eine Seele war, zur universalen Großkirche verwandelte112. Es fällt auf, wie nachdrücklich Bonaventura auf die personelle Zusammensetzung des Ordens abhebt, um dessen zunehmenden Abstand von der Regel zu erklären. Dem Orden, stellt Bonaventura fest, mache die multitudo intrantium erheblich zu schaffen. Ein großes Schiff sei viel schwieriger zu lenken als ein kleines. Zwischen wenigen lasse sich viel leichter eine Gemeinsamkeit der Ideen, Interessen und Gefühle erreichen als unter vielen113. Im Klartext: Ein großer Ordensverband mit zahlreichen Gemeinschaften und noch mehr Einzelpersonen verursacht schwer zu lösende Integrationsprobleme. Je größer der Orden, desto größerer Anstrengung bedarf es, der Zersplitterung der Denk- und Lebensformen Einhalt zu gebieten. Den personellen Umfang des Gesamtordens findet Bonaventura bedenklich, nicht aber große Konvente, in denen gemeinhin größere Zucht herrsche, weil die anfallenden Pflichten und Dienstleistungen sich auf mehrere Ordensbrüder verteilen ließen. Ein größerer, arbeitsteiliger Konvent ermögliche gegenseitige Kontrolle, tiefere Frömmigkeit, intensiveres Studium der Theologie und größeren Nutzen für die kirchliche Allgemeinheit. In kleineren Ordenshäusern hingegen, in 111 Determinationes quaestionum p. I, qu. 10: Cur non omnes indifferenter recipiantur ad Ordinem, in: ebd., S. 344. 112 Determinationes quaestionum p. I, qu. 15: Cur inutiles personae recipiantur ad Ordinem, in: ebd., S. 347. 113 Determinationes quaestionum p. I, qu. 19: Quas ob causas in vita religiosa Ordines deficiant, etsi in quibusdam caeremonialibus proficere videantur, in: ebd., S. 349-351, hier: S. 349.

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denen sich einige auf Termineien aufhalten, andere im Dorf um Almosen betteln, andere hinwiederum krank und schwach sind, gedeihe keine disciplina Religionis, kein Studium und keine devotio114. Strukturell bedingt ist nach Auffassung Bonaventuras ein weiterer Defekt: der Generationenabstand. Diejenigen, legt Bonaventura mit bemerkenswerter Offenheit dar, die anfänglich den Orden "in seiner Strenge" (in suo vigore) getragen haben, sterben aus oder sind zu schwach, um den Jüngeren noch „Beispiele kompromißloser Strenge" (arduae rigoris exempla) geben zu können. Neu Eintretende würden nur das nachahmen, was sie unmittelbar wahrnehmen; sie wollten sich auch nicht wie die antiqui durch rigorose Askese selbst ruinieren und würden deshalb ihre Körper schonen (parcentes corpori). Weil die Alten aufgrund ihrer physischen Schwäche nicht mehr in der Lage seien, mit gutem Beispiel voranzugehen, würden diese auch fürchten, die iuniores zurechtzuweisen (corrigere) n5 . Eine weitere Ursache sei das Einschleichen von non bonae consuetudines, die von den einen gebilligt, von den anderen bekämpft werden. Einvernehmen über das, was das franziskanische Ordensideal eigentlich war und sein sollte, verstand sich nicht mehr von selbst. Der General des Ordens sah sich erheblichen Schwierigkeiten gegenüber, auseinanderstrebende Auffassungen, divergierende Gebräuche und Lebensstile unter Kontrolle zu halten116. Was Bonaventura nur vage andeutete, wurde im späten Mittelalter zu einem expliziten Reformziel die uniformitas ordinis. Ziel aller Reformen blieb der unus observantiarum modus, weil Verschiedenheit der Regelbeobachtung (diversitas seu varietas observantiarum) zur Ursache von Irrtum, Zwietracht und nachlassender Regeltreue werde. Was sich überdies nachteilig auf eine strenge Beobachtung der Regel auswirke, sei die zunehmende Inanspruchnahme durch äußere Geschäfte, die ablenken, zerstreuen und den affectus devotionis auslöschen117. Das alles rechnet Bonaventura zu den causae communes, die den vigor ordinis gefährden. Zu den speciales causae zählt er die erheblich gewachsene Notdurft (nimia inopia), die Minderbrüder dazu verleite, als Eigentümer von Geld und Gütern für sich selbst zu sorgen, weil für sie in communi nicht mehr gesorgt werden könne. Umgekehrt mache

114 Determinationes quaestionum p. II, q u . 15: Cur Fratres non habitent pauci in domibuspauperculis, in: ebd., S. 3 6 7 f. 115 Determinationes quaestionum p. I, q u . 19, in: ebd., S. 349.

116 Ebd., S. 350. 117 Ebd.

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maßloser Reichtum (nimiae opes) fleischlich, stolz und streitsüchtig. Eine weitere Ursache des Niedergangs sei der häufige Kontakt mit Weltleuten (frequentia inter saeculares), der Gelegenheit zur Versuchung des Fleisches gebe und eine Quelle weltlicher Verflachung darstelle. Hinzu komme der häufige Wechsel der Vorsteher (frequens mutatio praelatorum), die in der knapp bemessenen Zeit, in der sie eine Gemeinschaft leiten, den status ordinis nicht verbessern könnten. Aufgrund dieser und anderer Ursachen, bemerkt Bonaventura abschließend, sei der status religionis so sehr gesunken, daß kaum noch Hoffnung auf wirksame Reform bestehe118. Die Begeisterung des großen Aufbruchs war abgeflaut. Die Veränderung zum Schlechten machte Bonaventura nachdenklich, aber nicht hoffnungslos. Bonaventura vertraute auf die Guten im Orden, die sich durch das schlechte Beispiel ihrer selbstzufriedenen Mitbrüder zu verstärktem Tugendstreben anspornen lassen. Er mahnte zu Duldsamkeit, zum patienter tolerare der falschen Brüder, weil er überzeugt war, daß eine solche Gesinnung dem Orden langfristig zum Fortschritt gereiche119. Bonaventura vertraute auf den guten Kern im Orden und dessen Fähigkeit und Willen zur Erneuerung. Bonaventura beschrieb mit bemerkenswerter Offenheit die Gebrechen seines Ordens. Sein kritisches Nachdenken beeindruckt durch unbeschönigte Konkretheit. Keiner der ordenseigenen und ordensfremden Kritiker, die über spätmittelalterliche Franziskaner Spott und Häme ausbreiteten, erreichte jene Wirklichkeitsnähe und analytische Genauigkeit, die Bonaventuras Reflexionen über Gegenwart und Geschichte der Franziskaner auszeichnen. Spätmittelalterliche Ordensreformer, die ungebrochenes Leben aus der Kraft des Ursprungs nur noch aus der Literatur kannten, fragten nicht nach strukturellen Faktoren des Wandels, sondern beklagten in allgemein gehaltenen Wendungen, daß menschliche Unvermögen, geistige und religiöse Trägheit, insbesondere die omissio studii den Willen gelähmt hätten, charismatische Entwürfe des Anfangs in dauerhafte Ordnungen klösterlichen Zusammenlebens umzuwandeln. Nachlassende Zucht (status laxior) wurde als selbstverschuldete oder schicksalhafte Entfernung vom „heiligen Wandel" der Ordensgründer (fundatores) und „ersten Erneuerer" (primi reformatores) gedeutet. Erneuerung definierten reformwillige Ordensmänner als Rückkehr zur ursprünglichen forma prima, die Ordensstifter und Gründungskonvente durch ihre strenge Beobachtung 118 Ebd. 119 Ebd.

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der Regel, der Statuten und Gebräuche begründet hatten. Die Vorstellung, daß Reform authentische Vergangenheit wiederherstelle, sollte wachsendem Legitimationsbedarf Genüge tun - wohl wissend, daß Reform auch immer mit Rücksichten auf gewandelte Zeitverhältnisse zu tun hat. Auf ihrem 1485 in Augsburg abgehaltenen Kapitel bekannten sich die Abte der Provinz Mainz-Bamberg zu dem Grundsatz: „Wir sind der Auffassung, daß die Satzungen nach der Verschiedenheit der Zeiten zu verändern sind" (pro temporum varietate duximus varianda statuta)120. Sie formulierten diesen Satz im Blick auf die in der Regel Benedikts vorgesehenen Strafmaßnahmen. Unverbesserliche Mönche sollten nach Ansicht Benedikts aus dem Kloster vertrieben werden. In diesem Punkt wollten die in Augsburg tagenden Abte ihrem Vater Benedikt nicht folgen. Die Vertreibung unverbesserlicher Mönche, hatte bereits Bonaventura gesagt, verursache in der Öffentlichkeit Ärgernis. Die Benediktineräbte meinten: Es sei gefährlich, einem aus der Gemeinschaft ausgestoßenen Mönch Gelegenheit zu geben, daß er regellos herumvagiere und noch Schlimmeres tue als das, was er im Kloster verübt habe. Einen unverbesserlichen Mönch solle man für längere Zeit in den carcer des Klosters stecken. Eine derartige Einrichtung zur Disziplinierung und Bestrafung widerborstiger Mönche war in der Regel Benedikts bekanntermaßen nicht vorgesehen. Eine von Benedikt vorgesehene Strafmaßnahme hatte sich nach Ansicht spätmittelalterlicher Abte nicht bewährt. Zwischenzeitlich gewonnene Erfahrung ließen es gerechtfertigt erscheinen, von einer Norm des Ordensgründers Abstand zu nehmen. Kontinuitätsstiftung bedurfte zeitgemäßen Wandels. SCHLUSSBETRACHTUNGEN

Die Welt, in der Mönche des Mittelalters lebten, war eine Welt des Wandels. Institutionalisierte Normen und Verfahren sollten dazu beitragen, in den Wechselfällen der Zeit sich selbst und der Regel treu zu bleiben. Institutionalisierung meinte - im Wort und Sachverstand mittelalterlicher Mönche ausgedrückt - den Versuch, Handlungsnormen und Organisationsformen mit einer vis stabilitatis auszustatten, die gegen zeitbedingte Anfechtungen und Krisen resistent machte. Sollte monastisches Dasein nicht verflachen und versteinern, sondern sich aus dem Geist des Anfangs ständig erneuern, bedurfte es institutionalisierter Rahmenordnungen, welche die Beständigkeit religiös120 Trithemius, Opera pia et spiritualia (wie Anm. 18), S. 1059.

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sittlicher Lebensvollzüge stützten, Einheit herstellten und Kontrolle ermöglichten. Visitationen, Provinzial- und Generalkapitel verstanden mittelalterliche Ordenstheologen nicht als kirchen- oder ordensrechtliche Pflichtübungen, sondern als Veranstaltungen im Dienste „lobenswerter Einheit" (laudabilis uniformitas), die sich im gemeinsamen Leben von Mönchen und Konventen widerspiegeln sollte. Werde ein Provinzialkapitel, schrieb Johannes Trithemius, mit Eifer (zelus), Verstand (scientia) und Frömmigkeit (pietas) abgehalten, bewähre es sich als außerordentliche Kraft der Dauer (maxima vis stabilitatis), die das Wachstum regeltreuer Zucht (incrementum diciplinae regularis) fördere und als Band der Einheit (adunatio unitatis) wirke121. Das ist e i n Aspekt. Spätmittelalterliche Reformer warnten zugleich auch immer vor der Gefahr, alle nur denkbaren Handlungen und Verhaltensweisen mit Hilfe von Statuten regeln und normieren zu wollen. Die multitudo statutorum, argumentierte das 1464 in Würzburg tagende Provinzialkapitel der Benediktiner, vermehre nur die transgressionis materia. Die Fülle der seither erlassenen Verordnungen habe in den Klöstern der Provinz nur „mäßige Frucht" (modicus fructus) gezeigt. Es genüge und sei langfristig wirksamer, die „Beobachtung der alten Konstitutionen" (veterum observantia constitutionum) einzuschärfen, als immer wieder neue zu beschließen122. Gegen die reformerische Kraft einer überbordenden Statutenflut bestanden Zweifel und Bedenken. Das Votum selbstkritischer Ordensreformer zeigt: Die Reformkonzepte hoch- und spätmittelalterlicher Ordenstheologen erschöpften sich nicht in Plädoyers für perfekt funktionierende Organisationsformen. Das institutionelle Gehäuse, das regeltreues Leben ermöglichen sollte, bedurfte der Anreicherung mit geistlichen und ethischen Inhalten. Nicht lange, beteuerte Johannes Trithemius, könne Reform bestehen, wenn Äbte und Mönche sowohl das Studium biblischer und theologischer Schriften vernachlässigen, als auch die Ehrbarkeit sittlicher Lebensführung verachten. Große Bauten und grenzenloser Landbesitz würden im Orden keine dauerhafte Disziplin (stabilis disciplina) begründen. Reichtum nähre eine Gesinnung eitler Nichtigkeit; Mönche, die ihr Herz an äußere Güter hängen, würden sich ihrer Ehrbarkeit berauben. Wer hingegen biblische, theologische und erbauliche Bücher lese, lasse sich zur Liebe Gottes anspornen, bewahre die Observanz {observantia regularis) und vermehre seine Frömmigkeit. Allein beharrliche Lektüre theologischer und erbaulicher Schriften gewährleiste 121 Trithemius, Liber lugubris (wie Anm. 19), f. F 4 r v . 122 Trithemius, Opera pia et spiritualia (wie Anm. 18), S. 1053.

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dauerhafte Reform 123 . Johannes Trithemius vertraute auf die kontinuitätsbildende Kraft theologischen Studiums, die Erneuerungsimpulse beharrlicher Lektüre und geistlicher Meditation. Der Augustinereremit Conrad von Zenn (t 1460) vertrat in seinem Liber de vita monastica den Grundsatz: Regeln und von Menschen gemachte Konstitutionen seien in der monastischen Lebensführung bedeutsam für das Verhalten des äußeren Menschen; die Hl. Schrift bilde den inneren Menschen, „was besser ist" 124 . Johannes von Paltz (t 1511), ein Ordensbruder Conrads von Zenn, betrachtete die Liebe (Caritas) und die „Suche nach dem Reich Gottes" (quaerere regnum dei), um das Mönche sich zuerst und vor allem anderen bemühen sollen (Mt. 6,33), als Leitidee und Kerngedanken klösterlicher Observanz. Gestützt werden sollte die Praxis der Liebe und die Suche nach Gott durch „ein Korsett äußerer Reglementierungen, die von den Ordensleuten auch dann befolgt werden können und ihnen Halt geben, wenn die gratia devotionis entzogen ist, wenn sie nicht mehr die geistliche Süße der ersten Begeisterung in sich spüren und trocken (aridi) geworden sind" 125 . Mönche des Mittelalters wußten von der Wichtigkeit verschriftlichter Normen und Statuten, die Reformen Dauer zu geben vermögen, wenn sie als Aufforderung zur Wiederholung und Habitualisierung re-

123 Ebd., S. 854. - Den Grundsatz, daß nur die Beschäftigung mit der Hl. Schrift und der Theologie der Kirchenväter der Klosterreform Dauer vermitteln könne, vertrat auch der dominikanische Reformtheologe Johannes Nider aus Isny (um 1380-1438), Vgl. Klaus S c h r e i n e r , Bücher, Bibliotheken und .gemeiner Nutzen' im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit. Geistes- und sozialgeschichtliche Beiträge zur Frage nach der .utilitas librorum', in: Bibliothek und Wissenschaft 9 (1975) S. 217 und Anm. 60. - Der Zusammenhang zwischen Tugend und Dauer wurde auch im Hinblick auf den Bestand weltlicher Gemeinwesen betont. So Erasmus von Rotterdam: Regnum quod virtute administratur ac benevolentia non solum quietium est ac iucundius, verum etiam diutumius ac stabilius. Vgl. Bruno S i n g e r , Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation (= Humanistische Bibliothek I, 34, München 1981), S. 182. 124 Hellmut Z s c h o c h , Klosterreform und monastische Spiritualität im 15. Jahrhundert. Conrad von Zenn OESA (+ 1460) und sein Liber de vita monastica (= Beiträge zur historischen Theologie 75, Tübingen, 1988), S. 154 Anm. 126: Regulae enim et constitutiones traditae ab hominibus informant in religione exteriorem hominem in moribus, sed scripturae sacrae interiorem, quod melius est. - Franziskus hatte den Mönchsberuf als vivere secundum formam sancti Evangelii definiert. Vgl. Duane V. L a p s a n s k i , Perfectio evangelica. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung im frühfranziskanischen Schrifttum (München/Paderborn/Wien 1974). Bonaventura betrachtete die franziskanische Regel als Beobachtung und Verwirklichung des Evangeliums. Vgl. Expositio super regulam fratrum minorum, cap. 1, in: Opera omnia 8 (wie Anm. 7), S. 393: Regula haec est, scilicet Domini nostri Iesu Christi sanctum Evangelium observare. Hoc idcirco dicitur, quia tota Regulae substantia de fönte trahitur evangelicae puritatis. 125 H a m m , Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 96), S. 297.

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formgerechten Denkens und Handelns gelesen werden. Sie wußten, daß scripta manent, wenn sie von Zeit zu Zeit mit der eigenen Erfahrung in Ubereinstimmung gebracht werden. Sie wußten aber auch, daß geschriebene Wörter und Statuten, wenn ihre Appelle von den Angesprochenen überhört und nicht angenommen werden, dauerhaft und tot sind.

D I E NEUORGANISATION DES CLUNIAZENSISCHEN VERBANDES (1146-1314) IN DER R E F L E X I O N DER BETROFFENEN EVA-MARIA PINKL

Que ergo de statu nostri Ordinis certis ex causis hactenus relaxata vidimus, causis eisdem desistentibus, in pristinum rigorem revocari desideramus1. Diese eindringliche Forderung findet sich in den c l u n i a z e n s i s c h e n R e f o r m s t a t u t e n von 1205/06 2 . Mit noch zahlreichen anderen, ähnlich lautenden Beispielen könnte belegt werden, daß im 13. Jahrhundert die Notwendigkeit einer Reform des cluniazensischen Verbandes tatsächlich erkannt worden war. Auch von der Forschung wird das Cluny des 13. und 14. Jahrhunderts allgemein mit Attributen wie Z e r f a l l oder K r i s e charakterisiert3. Verschiedene Ursachen hatten hierzu beigetragen4. Der Ausbau zum monastischen Reformzentrum Cluny war seit seiner Gründung (910) durch eine ununterbrochene Folge von fünf außergewöhnlich lange regierenden Äbten mit großer charismatischer Ausstrahlung und Führungsqualität begünstigt worden. Dank Petrus Venerabiiis (1122-57), dessen Abbatiat sich an die kritische Phase der

1 G . C h a r v i n , Statuts, chapitres généraux et visites de l'ordre de Cluny, B d . l , (Paris, 1965), S.53 (künftig zit.: C h a r v i n) 2 Vgl. dazu noch ausführlicher unten, S. 352. 3 Vgl. z. B. N . B u l s t , Cluny, Cluniazenser, in: L M A 2 (1983), Sp.2176; A. d i P a 1 o , Innozenzo III e gli ordini religiosi (Roma, 1957), S. 27; G . S c h r e i b e r , Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert, Bd.l (Stuttgart, 1910), S. 302 ff.; M. P a c a u t , L'ordre de Cluny (909-1789) (Paris, 1986), S. 229 ff.; A. H. B r e d e r o , Comment les institutions de l'ordre de Cluny se sont rapprochées de Citeaux, in: D e r s . , Cluny et Citeaux au douzième siècle. L ' Histoire d'une controverse monastique (Amsterdam, 1985), S.181. Bredero spricht von einer „institutionellen Sackgasse", in die Cluny geraten war und aus der es kein leichtes Entrinnen gab. S. mit stärkerer Differenzierung auch jüngst G. M e 1 v i 11 e , Cluny après „Cluny". Le treizième siècle: un champ de recherches, in: Francia 17 (1990), S. 91-124. 4 Im folgenden wird in erster Linie auf Mängel in der Organisation des Verbandes hingewiesen werden. Vgl. hierzu ausführlich meine Dissertation: E. P i n k l , Die Umgestaltung des cluniazensischen Verbandes. Entwicklungsphasen der Verfassung vom ausgehenden 12. bis zum beginnenden 14. Jahrhundert (München, masch. 1989), S. 79 ff. (Druck in Vorbereitung).

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Regierung des Pontius 5 anschloß, konnte diese Kontinuität noch bis zu dessen Tod gewahrt bleiben, brach danach jedoch ab. Bis dahin war der nur locker organisierte Verband, bestehend aus vielen, über weite Gebiete Westeuropas verbreiteten Klöstern, vor allem auch durch diese Äbte zusammengehalten worden. Mit beträchtlichen Machtbefugnissen6 ausgestattet standen sie an der Spitze des Verbandes; auf sie allein mußte jeder Mönch die Profeß ablegen, nicht auf ein Kloster oder gar einen Orden 7 . Trotz des völlig uneinheitlichen Rechtsstatus 8 , der die einzelnen Häuser an das Mutterhaus band, war ein Konsens all der Klöster, die als cluniazensische bezeichnet wurden, in wenigstens drei Punkten vorhanden: Die Regula Benedicti, die Consuetudines und die Anerkennung der A u t o r i t ä t d e s A b t e s von Cluny. Diese drei Grundwerte genügten im 10., 11. und teilweise noch im 12. Jahrhundert, um eine cluniazensische Bewegung entstehen zu lassen; sie waren es in erster Linie, die den Erfolg dieser Bewegung ausmachten. An eine einheitliche Organisation, an geregelte Abhängigkeitsverhältnisse wurde nicht gedacht 9 . In der Mitte des 12. Jahrhunderts begannen sich die fehlende Normierung der Rechtsverhältnisse und die selten exakt bestimmte Festlegung der Abhängigkeit zwischen Abteien und Prioraten auf der einen und Mutterhaus auf der anderen Seite für den Verband als problematisch herauszustellen. Allenthalben häuften sich Abspaltungsversuche einzelner Häuser, die sich nicht länger dem hierarchischen System unterordnen wollten. Ohne diese Bereitschaft 5 Vgl. dazu noch unten, S. 347 f. und vor allem ausführlicher E. P i n k l , Der Statutenprolog des Petrus Venerabiiis, in: Universität und Bildung. Festschrift L. Boehm, hrsg. von W. M ü l l e r , W . J . S m o l k a . H . Z e d e l m a i e r (München, 1991), S. 3 ff. Siehe auch den Beitrag von K. S c h r e i n e r in diesem Band. 6 Vgl. P. S a 1 m o n, L'abbé dans la tradition monastique. Contribution à l'histoire du caractère des supérieurs religieux en Occident (= Histoire et sociologie de l'Eglise, Bd. 2, Paris, 1962), S. 56. 7 Nur die auf den Abt von Cluny abgelegte Profeß entschied über die Zugehörigkeit zum Verband. Vgl. J . W o 11 a s c h , Mönchtum des Mittelalters zwischen Kirche und Welt (Freiburg, 1963), S. 155, und P i n k 1 (wie Anm. 4), S. 80 f. 8 Deshalb kritisierte Wollasch den „farblosen, in der Forschung eingebürgerten Begriff .Klösterverband'". Denn die Frage, so Wollasch, nach welchen Kriterien Klöster als cluniazensische bezeichnet werden, sei weder scharf gestellt, geschweige denn beantwortet. Vgl. W o 11 a s c h (wie Anm. 7), S. 149. Vgl. auch P i n k l (wie Anm. 4), S. 82 ff. 9 Doch gab es grundsätzlich drei Möglichkeiten der Bindung an Cluny. Einmal wurden neugegründete Klöster von Anfang an Cluny unterstellt. Dann wurden bereits lange existierende Häuser Cluny zur Reform übergeben. Oder Cluny erhielt den Auftrag zu reformieren, ohne daß das Kloster übertragen wurde. Diese Abhängigkeitsverhältnisse behandelt ausführlich R. M o 1 i t o r , Aus der Rechtsgeschichte benediktinischer Verbände. Untersuchungen und Skizzen, Bd. 1 Verbände von Kloster zu Kloster (Münster, 1928), S. 111 ff.; s. künftig D. P o e c k , Cluniacensis Ecclesia (Habil.-Schr. masch., Münster, 1987).

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes war aber die zentrale Leitung des Verbandes durch einen Abt nicht mehr möglich. Auch hatte Cluny seine führende Stellung als Reformzentrum, als Erneuerer der gesamten Christenheit, als politische Kraft längst an andere Orden verloren, die mit ihrem Programm den Bedürfnissen der Zeit besser nachzukommen verstanden 10 . Um diesen Niedergangstendenzen und Auflösungserscheinungen entgegenzuwirken, wurden entsprechende Maßnahmen ergriffen. So setzte mit dem Beginn des 13. Jahrhunderts jene Epoche der Geschichte Clunys ein, in der sich das institutionelle Gefüge des Verbandes grundlegend wandelte 11 . Initiiert wurden die dazu notwendigen Schritte durch Äbte 12 auf der einen und Päpste auf der anderen Seite; von den ersteren wurden S t a t u t e n erlassen, von den Päpsten Reformdekrete. Man richtete jährliche Generalkapitel ein, bestimmte Definitoren, Visitatoren und andere Organe 13 . Die Phase, in der der Verband der Cluniazenser mit Hilfe von gesetzgebenden Maßnahmen eine Neuordnung erhielt, erstreckte sich vom beginnenden 13. Jahrhundert bis zum Jahre 1314, in dem für lange Zeit die vorerst letzten umfassenden Statuten promulgiert wurden, so daß sich hier eine Zäsur anbietet14. Im Laufe dieses langen und schwierigen Institutionalisierungsprozesses erhielt der bisher nur locker organisierte Klosterverband die Strukturen eines Ordens, der mit ver-

10 Mit dem 13. Jahrhundert erwachsen neben den Zisterziensern vor allem auch die Bettelorden als Konkurrenz für Cluny, weil sie durch ihre seelsorgerische Tätigkeit für die Bevölkerung eine wichtige Lücke füllten. Zudem wurden sie dem Papsttum für die Durchsetzung der kurialen Politik unentbehrlich. Für die Konkurrenzsituation zwischen den Cluniazensern und den Bettelorden fehlt es noch an Untersuchungen, für die Rivalität zu anderen Orden vgl. beispielsweise Th. S c h i e f f e r , Cluny und der Investiturstreit, in: H. R i c h t e r (Hrsg.), Cluny. Beiträge zu Gestalt und Wirkung der cluniazensischen Reform (Darmstadt, 1975), S. 253; C. V i o 1 a n t e , Das cluniazensische Mönchtum in der politischen und kirchlichen Welt des 10. und 11 .Jahrhunderts, in: Ebd., S. 141 ff.; W o 11 a s c h (wie Anm. 7), S. 172 ff.; oder P a c a u t (wie Anm. 3), S. 230 f. 11 Diese Thematik behandelt ausführlich meine Dissertation, vgl. P i n k 1 (wie Anm.

4).

12 Teilweise wurden die Statuten auch von den Definitoren erlassen, vgl. hierzu noch unten, S. 352. 13 Vgl. P a c a u t (wie Anm. 3), S. 242, der von einem „renforcement des institutions" spricht; P i n k 1 (wie Anm. 4) und S c h r e i n e r (wie Anm. 5), bes. S. 307. 14 Die nächsten Statuten wurden erst wieder 1399 von Abt Johannes de Cosant erlassen. Auch von den Reformmaßnahmen Papst Benedikts XII. (1335-1342) für die Benediktiner war Cluny nicht betroffen, vgl. B. G u i l l e m a i n , Benedetto XII., in: DBI 8 (1966), S. 380., und den Beitrag von F. J. F e 11 e n in diesem Bande.

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schiedenenen Organen und Instanzen von jeweils spezifisch zugemessener Kompetenz ausgestattet war 15 . Der Akt der Neuorganisation des monastischen Verbandes „Cluny" war zu gravierend, als daß seine Initiatoren nicht über ihn reflektiert hätten. Die vorliegende Untersuchung will für den bereits skizzierten Zeitraum einen Uberblick über die Reflexionen, die sich in Statutenprologen und Reformbullen finden, geben. Folgende Gesichtspunkte werden dabei im Vordergrund stehen: Zunächst soll dargelegt werden, warum die Gesetzgeber ein Eingreifen in die Organisation des Verbandes für nötig hielten und wie sie ihr Handeln rechtfertigten. Herausgearbeitet werden soll dabei auch, ob im Selbstverständnis dieser gesetzgebenden Äbte im Laufe von über 150 Jahren Veränderungen feststellbar sind. Ferner wird untersucht werden, mit welchem Reformprinzip die Legislatoren glaubten, die Institution neu organisieren zu können. Wurde, so ist zu fragen, der alte Idealzustand jener Epoche heraufbeschworen, in der der Verband noch ohne größere Probleme von einem einzigen Abt geleitet worden war? Oder aus welchen Gründen wurde stattdessen für eine Reformierung der Organisation, d. h. für eine Veränderung der Struktur des Verbandes, plädiert? Als besonders ergiebige Quelle für Überlegungen zu diesen drei Aspekten haben sich die Prologe zu den Statuten herausgestellt16. Sprachlich meist klar abgehoben von der üblichen, eher technischen Rechtssprache der Statutenwerke versuchen die Gesetzgeber mit den Prologen ihre Adressaten direkt anzusprechen und für die eigene Sache gewogen zu machen. Oft äußern sie sich an diesen exponierten Stellen in einer Art Grundsatzerklärung über ihre Ansichten und Ideale, über Ziele und Motive ihres Handelns 17 .

15 Vgl. hierzu P i n k l (wie Anm. 4). Dieser Institutionalisierungsprozeß ist selbstverständlich auch bei anderen O r d e n feststellbar; vgl. G. M e 1 v i 11 e , Zur Funktion der Schriftlichkeit im institutionellen Gefüge mittelalterlicher Orden, in: F M A S t 25 (1991), S. 3 9 1 - 4 1 7 . 16 Manchmal finden sich solch grundsätzliche Überlegungen auch in Unterpunkten eines Statutenwerkes, vgl. etwa den ersten Abschnitt der zweiten Statuten A b t H u g o s V., C h a r v i n 1, S. 53 f. Auch in den Reformstatuten der Salzburger Augustiner C h o r herren von 1218 werden nicht in einem Prolog, sondern im ersten Punkt einige grundsätzliche Erklärungen abgegeben, vgl. G. M e e r s s e m a n , Die Reform der Salzburger Augustinerstifte ( 1 2 1 8 ) - e i n e Folge des IV. Laterankonzils (1215), in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 48 (1954), S. 90. 17 Interessant wäre ein Vergleich mit zeitgleichen Prologen von Verfassungen anderer Orden, was im Rahmen dieser Untersuchungen nur ansatzweise geleistet werden kann. Bei einem Blick in die Statuten der Generalkapitel des Zisterzienserordens stellt man fest, daß diese in der Regel nur mit einem formelhaften Incipit beginnen, während auf grund-

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes In Anbetracht des zur Verfügung stehenden Raumes kann hier nicht untersucht werden, inwieweit sich die in den Prologen entworfene Verfassungstheorie mit der Wirklichkeit deckte, wie die cluniazensischen Reformmaßnahmen im einzelnen aussahen und ob sie in der Praxis durchgesetzt werden konnten 18 . Desgleichen können die Reflexionen der Päpste, die gleichfalls verändernd in die Struktur des cluniazensischen Verbandes eingegriffen hatten, nur anhand von zwei, freilich wichtigen, Beispielen miteinbezogen werden, nämlich mit den Prologen der Reformbullen von Gregor IX. und Nikolaus IV. Bereits in der Mitte des 12. Jahrhunderts wurden von Petrus Venerabilis erstmals umfassende Statuten19 verfaßt, als der Verband nach dem Abbatiat des Pontius 20 eine erste große Krise hinter sich gebracht hatte. Erstmals beschränkte sich ein cluniazensischer Abt nicht nur auf den Rückgriff auf längst gebräuchliche Gewohnheiten (Corasuetudines21), sondern setzte Recht, das sich erst noch zu bewähren hatte. Die Thematik des Statutenprologes kreist um die Frage nach der

sätzliche Äußerungen kein Wert gelegt zu werden scheint. Dabei muß man freilich bedenken, daß Statutenerlasse durch zisterziensische Generalkapitel selbstverständliche Verfahrensweisen waren, die keiner ausdrücklichen Rechtfertigung bedurften, weil sie bereits in der Charta Caritatis (1119) und in den sog. Instituta Generalis Capitali (um 1134), den beiden grundlegenden normativen Schriften des Zisterzienserordens, sanktioniert worden waren. Bei den Cluniazensern hingegen gab es nie vergleichbare Verfassungsurkunden. In der Charta Caritatis findet man als Einleitung: In hoc ergo decreto predicti fratres mutue pacis futurum precaventes naufragium, elucidaverunt et statuerunt, suisque posteris reliquerunt, quo pacto quove modo, immo qua cantate monachi eorum, per abbacias in diversis mundi partibus corporibus divisi animis indissolubiliter conglutinarentur. Hoc etiam decretum cartam caritatis vocari censebant quia eius statutum omnis exactionis gravamen propulsans solam caritatem et animarum utilitatem in divinis humanis exequitur. Ed. J. C a n i v e z , Statuta capitulum generalium ordinis cisterciensis, Bd.l (Louvain, 1933), S. XXVI. Und zur Einführung des Generalkapitels wird bemerkt: In quo capitulo de salutate animarum suarum tractent in observatione sancte regule vel ordinis si quid est emendandum vel augendum ordinent, bonum pacis et caritatis inter se reforment. Ebd., S. XXVIII. Vgl. hierzu auch J.-B. M a h n , L'ordre cistercien et son gouvernement des origines au milieu du XIII e siècle (Paris, 1951; Nd. 1982), S. 198 f. 18 Ich habe versucht, mit meiner Dissertation diesen Forschungsbeitrag zu leisten. Gegenstand der Arbeit ist die Darstellung des Institutionalisierungsprozesses des cluniazensischen Verbandes von 1200 bis 1314. Vgl. P i n k 1 (wie Anm. 4). 19 Vgl. C h a r v i n 1.S.21 ff. 20 Vgl. hierzu G. T e l l e n b a c h , Der Sturz des Abtes Pontius von Cluny und seine geschichtliche Bedeutung, in: QFIAB 42/43 (1963), S. 13 ff. 21 Zu dem Begriff „consuetudo" vgl. K. H a l l i n g e r , Consuetudo. Begriff, Formen, Forschungsbericht, Inhalt, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift, hrsg. vom Max-Planck-Institut für Geschichte (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 68, Göttingen, 1980), S. 140 ff. und d e r s . (Hrsg.), Corpus Consuetudinum Monasticarum 1 (Siegburg, 1963), S. XII ff.

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Veränderbarkeit von Recht22. Verändert werden dürften, so Petrus, nur die von den Menschen geschaffenen adiumenta virtutis, nicht aber das unveränderbare und ewig gleichbleibende göttliche Gesetz. Wenn die salus eterna bewahrt werden solle23, müsse das göttliche Recht unverändert erhalten bleiben. Petrus' Statuten handeln von Liturgie und Chordienst, Aufnahme der Novizen, Mönchs- und Priesterweihe, Spiritualität und Fastengewohnheiten, Schweigepflicht, Ernährung und Kleidung. Er beabsichtigte nicht, völlig Neues zu schaffen; vielmehr wollte er - um vorhandene Mißstände zu beseitigen - die Anpassung altbewährter Gebräuche, die nach seiner Definition im Prolog veränderbar sind, an andere Zeitumstände. Es hatte sich mit Petrus Venerabiiis ein Abt zu Wort gemeldet, der trotz einiger verbandsinterner Schwierigkeiten24 letztlich wußte, daß die einzelnen Glieder des Verbandes mit dem Glauben an die alles verbindenden, gemeinsamen Grundwerte noch hinter ihm standen. In diesem Bewußtsein versuchte Petrus, seine Adressaten mit seinen Erlassen zu überzeugen und nicht auf oktroyiertes Recht zu setzen. Jedes einzelne Statut wird begründet, stets eingeleitet mit der Wendung causa instituti hujus fuit....25. In seinem Prolog gab sich Petrus selbstbewußt als Verfasser und Initiator der Statuten zu erkennen und rechtfertigte die durch ihn vorgenommenen Rechtsänderungen. Bezeichnenderweise wählte er für die Vorbemerkung im Gegensatz zu den nachfolgenden, unpersönlich gehaltenen Statuten nahezu durchgängig die Ich-Form. Trotzdem versicherte Petrus, er habe die Statuten gemäß der regula Benedicti26 mit dem Rat der weisen Brüder und der Zustimmung des Capitulum universale verfaßt.

22 Die nachfolgenden Ausführungen zum Prolog des Petrus Venerabiiis sind bewußt sehr knapp gehalten. Denn eine ausführliche Untersuchung des Prologes liegt bereits vor. Vgl. P i n k l (wie Anm. 4) und S c h r e i n e r (wie Anm. 5), S. 329 f. 23 Vgl. C h a r v i n 1, S. 21. Der Gedankengang in Petrus' Prolog entspricht den Überlegungen der zeitgenössischen Kanonisten. Im Rahmen vorliegender Untersuchung sei nur auf den Uberblick bei P i n k l (wie Anm. 5) hingewiesen. 24 S. Anm. 20. 25 Z . B . C h a r v i n 1 , S . 2 2 . 26 Vgl. Kapitel 3 der Benediktsregel. Dort ist die Rede davon, daß der Abt in wichtigen Dingen die Brüder, in weniger wichtigen Dingen die seniores um Rat fragen solle. Vgl. hierzu U. K. J a c o b s , Die Regula Benedicti als Rechtsbuch. Eine rechtshistorische und rechtstheologische Untersuchung (= Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 16, Köln/Wien, 1987), S. 3 2 ^ 0 .

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes Etwa ein halbes Jahrhundert nach dem Statutenerlaß des Petrus Venerabilis, am 29. 10.1200, promulgierte Abt HugoV. (1199-1207) wieder Statuten27, deren Inhalt und Tenor ein völlig anderer war. Den Bestimmungen voraus geht eine Klage über die deformatio des Verbandes: Itaque cum... in religiosis et maxime in glorioso membro ecclesie, Cluniacensi videlicet cenobio, vel in membris ejus virtutis splendor obscuretur ...2S. Eindringlich erklingt der Ruf nach reformatio und restauratio. Der Erlaß muß auch als Reflex auf die letzten 50 Jahre verstanden werden, die von vielen Abtswechseln und kurzen Abbatiaten schwacher Persönlichkeiten29, von Auflösungserscheinungen und Abspaltungstendenzen30 geprägt gewesen waren. In dieser Zeit waren die oben angesprochenen Schwächen der cluniazensischen Organisation nicht mehr zu übersehen. Neben den verbandsinternen Problemen, die sich hauptsächlich durch wiederholte Abdankungen, Absetzungen und frühe Tode 31 der Äbte einstellten, waren die Jahre darüber hinaus von Schwierigkeiten mit dem Adel 32 und vor allem dem Papsttum gezeichnet33. Erst unter Abt Hugo IV. (1183-99) und HugoV. verbesserten sich die Beziehungen zum Papsttum wieder. Die Päpste bestätigten die Privilegien Clunys, wenn sie auch - allen voran Inno27 Ed. C h a r v i n 1, S. 40 ff. Vgl. P i n k 1 (wie Anm. 4), S. 84 ff., und in Kürze G. M e 1 v i 11 e , Die cluniazensische „Reformatio tarn in capite quam in membris". Institutioneller Wandel zwischen Anpassung und Bewahrung, in: J . M i e t h k e / K. S c h r e i n e r (Hrsg.), Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Mittelalter (Sigmaringen, 1992). (Ich habe für die Manuskriptfassung zu danken.) 28 Ed. C h a r v i n 1 . S . 4 1 . 29 Man führe sich vor Augen, daß von 910 bis 1109 fünf Äbte regierten, von 1158 bis 1199 hingegen neun! Vgl. P a c a u t (wie Anm. 3), S. 234. Für die Zeit nach Petrus Venerabilis vgl. die Arbeit von N . H u y g h e b a e r t , Une crise à Cluny en 1157: L'élection de Robert le Gros successeur de Pierre le Vénérable, in: RevMab 93 (1983), S. 337 ff. 30 Besonders die englische Provinz versuchte verstärkt, sich vom Verband zu lösen, vgl. G . d e V a l o u s , Cluny, in: D H G E 13, Sp. 75. Aber auch einzelne Häuser, wie etwa Baume oder Vézelay, strebten nach Unabhängigkeit; vgl. P a c a u t (wie Anm. 3), S. 241, und in Kürze umfassend F. C y g 1 e r , L'ordre de Cluny et les „rebelliones" au X I I I e siècle, in: Francia 19 (1992). 31 Von den sieben Äbten, die zwischen Petrus Venerabiiis und H u g o V . regierten, dankten zwei ab, drei wurden abgesetzt und zwei starben sehr früh. Vgl. den Überblick bei V a 1 o u s , Sp. 72-76. 32 Die schwerwiegendste Auseinandersetzung mit dem Adel hatte Cluny in dieser Zeit während des Abbatiats Stephans I. (1161-73) mit den Grafen von Chalon auszutragen, die nach Streitigkeiten Cluny angreifen und plündern ließen. Erst durch Vermittlung des französischen Königs konnte der Streit beigelegt werden. Vgl. V a l o u s (wie Anm. 30), Sp. 74 und L. R a f f i n , Une forteresse clunisienne. Le château de Lourdon, in: Annales de l'Académie de Mâcon, 3 e sér., 1.15 (1910), S. 164 ff. 33 Bei dem unklugen Versuch, während des Schismas von 1159 zwischen Alexander III. und Victor IV. die Neutralität zu wahren, übersah der unentschlossene Abt Hugo III. (1158-61), auf wessen Seite die Macht lag und riskierte so, daß das Interdikt über den ge-

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zenz III. 34 - gleichzeitig vermehrt auf einer Reform des Verbandes insistierten. Vor diesem Hintergrund werden Hugos V. grundlegende Reformmaßnahmen verständlich. So schrieb der Abt in seinen Statuten nicht nur eine strenge Regelung des klösterlichen Lebens vor und setzte für Überschreitungen Strafen fest 35 ; er bestimmte ferner Instanzen zur Neuorganisation des Verbandes: Ein jährlich stattfindendes Generalkapitel, Definitoren, camerarii als Kontrollorgane in den neu geschaffenen Provinzen 36 und Visitatoren für das Mutterhaus; Abt Hugo versicherte, auch er wolle sich diesem neuen Gesetz unterwerfen. Trotz dieser Eingliederung in das neue cluniazensische Instanzengefüge, trotz der Übertragung von Macht an andere Verbandsorgane, sah sich der Abt allerdings nach wie vor als Haupt des Verbandes 37 . So konnte etwa mit der Visitation des Mutterhauses dessen Vorbildlichkeit und damit die des Abtes bewiesen werden. Die Provinzkämmerer arbeiteten direkt mit dem Abt zusammen, lieferten ihm einerseits Informationen, übten andererseits seine Befehle aus. Anders als Petrus, der basierend und immer wieder verweisend auf christliche Werte mit Argumenten überzeugen wollte, verfügte Hugo

samten Orden verhängt wurde. Schließlich wurde nur er selbst von Alexander III., der sich in Frankreich schnell hatte behaupten können, exkommuniziert. Derselbe Papst schränkte 1174 die absolute Machtposition des Abtes in der Verwaltung dahingehend ein, daß er diesem untersagte, ohne Zustimmung des Kapitels Klostergüter zu veräußern, vgl. Bullarium Cluniacense, hrsg. von P. S i m o n , Lyon (1680), S. 74 (künftig zit.: Bull.Clun.) 34 Vgl. U. B e r 1 i è r e , Innozent III et la réorganisation des monastères bénédictins, in: RevBén 3 (1920), S. 145 f., und d i P a 1 o (wie Anm. 3), S. 27 f. Den Erzbischof von Toledo wies Innozenz III. beispielsweise darauf hin, daß der Abt von Cluny nach Spanien kommen werde, pro reformatione circa domos und forderte ihn auf, ... ipsum (= Abt von Cluny) pro reverentia beati Petri et nostra,... benigne recipere ac honeste tractare curetis, ac consilium et auxilium vestrum, in quibus pro reformatione domorum et Ordinis indiguerit, si studeatis liberaliter impertiri. Vgl. Bull.Clun., S. 99. Es finden sich weitere, ähnlich lautende Beispiele, vgl. etwa Bull.Clun., S. 100 u. S. 103. 35 Diese disziplinarischen Maßnahmen betrafen die Aufnahme ins Kloster (S. 42 f., § 3-10), die Amterbesetzung (S. 48, § 46, S. 49, § 55), die Auswahl bzw. Absetzung der Prioren (S. 47, § 39), die Gyrovagen (S. 46, § 35), weniger ausführlich auch das Armuts(S. 43, § 13) und Schweigegebot (S. 43 f., §14) oder das Almosenwesen (S. 46, § 33), während spirituelle Fragen nahezu keine Berücksichtigung fanden. 36 Valous geht davon aus, daß die Ordensprovinzen zur Zeit Hugos V, eingeführt wurden, ohne daß es im vorhandenen Quellenmaterial einen eindeutigen Beleg hierfür gibt, vgl. G. d e V a l o u s , Le monachisme clunisien des origines au XV e siècle, Bd. 2 (Paris, 1970), S. 22. Fest steht, daß es die Provinzeinteilung gab, als Hugo seine Statuten promulgierte. Vgl. etwa die Einführung des camerarius provincialis, Charvin I, S. 50. Siehe dazu P a c a u t (wie Anm. 3), S. 340. 37 Vgl. hierzu M e 1 v i 11 e (wie Anm. 27).

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes Neuerungen, ohne Begründungen abzugeben; dementsprechend rigoroser klingen seine Worte. Auch in den Prologen der Statuten Petrus' und Hugos sind diese Unterschiede offensichtlich. Petrus hatte stets nur von der Notwendigkeit einer mutatio der adjumenta virtutis gesprochen, um die vorhandene salus eterna bewahren zu können, während Hugo nun reformatio und restauratio forderte, um die deformatio zu beheben. Einleitend berichtet Hugo kurz von den strahlenden Anfängen seines Verbandes. Dies alles jedoch sei nun Vergangenheit. In bildhafter Sprache beginnt eine Schilderung des beklagenswerten Zustandes der Cluniazenser. Nunc autem, quod lugubres dicimus, non tantum aurum esse desinimus, sed insuper auri mutatus est color optimus,...38. Bei dem ruhmvollen Mitglied der Kirche, beim cluniazensischen Verband, habe sich der splendor virtutis verdunkelt. Zum einen ad honorem Dei commissorum providere saluti39, zum anderen aber - und sogleich wird die Klage wieder aufgenommen - cavere a periculo, ne forte positi custodes, vineam nostram non custodierimus, ea que a patribus dudum sancita sunt, sed in parte per incuriam deformata, sei eine Reform anstrebenswert (intendimus reformare). Der Prolog ist wie der des Petrus auf den Gegensätzen von einst und jetzt aufgebaut40. Aber im Unterschied zu Petrus verzichtet Hugo fast vollständig darauf, ideelle Grundwerte zu proklamieren. Hugo kommt es auf die reformatio der momentanen Situation an. Die Voraussetzungen, von denen die beiden Äbte, deren Regierungszeit kaum 50 Jahre auseinanderlag, auszugehen hatten, unterschieden sich grundsätzlich41. In der Zeit Hugos V. war vom alten Idealzustand, dem sich Petrus Venerabilis noch zugehörig fühlen konnte, nicht mehr viel zu spüren. Auch die Cluniazenser waren in der Zwischenzeit von einer übergeordneten Veränderlichkeit eingeholt worden, der sie sich nicht entziehen konnten. Es war offensichtlich, daß eine reformatio des Verbandes unumgänglich war, sollte dieser konkurrenz- und damit überlebensfähig bleiben. Auch Abt Hugo hatte dies erkannt, und er teilte diese Einsicht

38 C h a r v i n 1, S. 41. 39 Von Papst Bonifaz VIII. (1294-1303) wurde 200 Jahre später in seiner Bulle Unam Sanctam „die totale Unterwerfung unter die päpstliche Macht de necessitate salutis gefordert", vgl. S. G a g n e r , Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Stockholm/ Uppsala/ Göteborg, 1960), S. 179. 40 Nur vom Kartäuserorden wurden nie vergleichbare Reformmaßnahmen gefordert, sondern festgestellt: Cartusia numquam reformata, quia numquam deformata. Vgl. hierzu J. D u b o i s , Certosini, in: DIP 2 (1975), Sp. 803-805. 41 Vgl. dazu auch oben den knappen Uberblick über die Zeit zwischen den beiden Abbatiaten, S. 349.

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mit Papst Innozenz III., auf dessen Reformpläne er sich im Prolog zu seinen Statuten explizit bezog 42 . Noch während des Abbatiates Hugos wurden aufs neue Statuten43 promulgiert (1205/06). Es gibt eindeutige Belege dafür, daß zumindest wesentliche Teile der Bestimmungen von den Definitoren erlassen worden waren 44 , die so einen Teil der gesetzgebenden Gewalt und damit einen bislang zentralen Machtbereich des Abtes von Cluny übernommen hatten. In diesen zweiten Statuten wird besonders auf organisatorische Fragen aus dem Bereich der temporalia Wert gelegt45. Ohne eigentlichen Prolog verfaßt, wird den Erlassen als Vorbemerkung des ersten Abschnitts, in dem der Abt behandelt wird, eine Grundsatzerklärung vorangestellt, die vehement verlangt: Que ergo de statu nostri Ordinis certis ex causis hactenus relaxata vidimus, causis eisdem desistentibus, in pristinum rigorem revocari desideramus.46 Unter allen Umständen sei, so war vorher noch bemerkt worden, die integritas ordinis zu bewahren: Quoniam aha est legitimi ordinis rectitudo, alia ex necessitate ordinis dispensativa remissio, justum est ut, necessitate cessante, ordinis integritas inviolabiliter conservetur,.... Die Begrifflichkeit weist teilweise eine auffällige Ähnlichkeit mit der des Petrus Venerabiiis auf. Auch jetzt ist die necessitas Kriterium für dispensatio; und an späterer Stelle wird der ideale Abt als ein Abbild der sinceritas doctrine stilisiert - auch Petrus hatte von der sinceritas als einem der wichtigsten Grundwerte gesprochen. Ganz bewußt wird im Prolog die bewährte Begrifflichkeit zitiert. Im Unterschied zu dem fast durchgängig positiven Ton von Petrus' Prolog wird nunmehr allerdings mit strengen Worten nicht gespart. Gleichsam

42 C h a r v i n 1, S. 41. 43 Ed. ebd., S. 52 ff. 4 4 Vgl. z. B. ebd., S. 55: Venerabiiis patris nostri domini Hugonis Abbatis sanctionibus inherentes, nos qui sumus in Capituli generali definitores constituti, statutimus.... Vgl. P i n k l (wie A n m . 4), S. 109 ff. und M e 1 v i 11 e (wie A n m . 27). 45 Geregelt werden der Aufgabenbereich der Prioren bzw. ihre Bestrafung bei Vergehen (z. B. Charvin 1, S. 57 f., § 1 2 - § 15), der Verkauf von Häusern (S. 58, § 17) die A b rechnung (S. 57 f., § 1 5 ) und Aufnahmebedingungen (S. 57, § 1 1 ) . Außerdem vervollständigen diese Statuten das Verfassungsgefüge in einigen Details. Beispielsweise wird bestimmt, daß der A b t von Cluny 12 sapientes fratres bei Entscheidungen zu befragen hat, (S. 54, § 1) und daß die Prioren aus entfernteren Provinzen nur jedes zweite Jahr am Generalkapitel teilnehmen müssen (S. 59, § 26). 4 6 C h a r v i n 1, S. 53. Ganz ähnlich lautet eine Feststellung im Generalkapitelbeschluß der Prämonstratenser von 1209: ...damna et scandala saepius in Ordine nostro oriantur, ac proinde rigor, et tenor regularis Ordinis penitus enervetur;.... Ed. J. B. V a l v e k e n s , Acta et decreta capitulorum generalium Ordinis Praemonstratensis (Averbode, 1966), S. 4.

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes als Ergänzung zum Prolog der Statuten von 1200, der in erster Linie dem beklagenswerten Zustand des Verbandes gegolten hatte, werden jetzt die erstrebens- bzw. erhaltenswerten Ideale ausdrücklich betont. Wo indes Petrus fides, spes und Caritas gefordert hatte, ist nun die Rede von rectitudo, integritas und rigor, die es zu bewahren bzw. wiederherzustellen gelte. Eine Behebung der deformatio seines Verbandes kann sich Hugo V. nur vorstellen, wenn der alte rigor wieder vorhanden sein wird. Der Tenor der nächsten Zeilen der Statuten klingt wieder altbekannt. Im Abt, dem pater et principium Ordinis, erkenne man wie in einem Spiegel die Reinheit der Lehre und den Erfolg des guten Werkes. Erneut erfolgt ein Verweis auf die „alten Zeiten". Doch im Kontrast zu dieser Einstimmung folgen dann Maßregeln für das Leben des Abtes in der Gemeinschaft 47 . Die Visitatoren des Mutterhauses haben, so wird im nächsten Erlaß festgesetzt, bei ihrer Amtsausübung nicht nur den status ecclesie in temporalibus et spiritualibus, sondern auch die persona ipsius domini Abbatis Cluniacensis zu überwachen. Damit werden die nun gleichfalls in ein Normensystem eingebundenen Verhaltensweisen des Abtes überprüfbar. Freilich bleibt er unangefochten pater et principium Ordinis. Erst 1276, während der Regierungszeit Abt Yvos II. (1275-89), wurden wieder Statuten promulgiert, was freilich nicht bedeutet haben muß, daß die Anordnungen Abt Hugos V. sogleich auf fruchtbaren Boden gefallen und bis dahin unverändert praktiziert worden waren 48 . Jedenfalls schickte Innozenz III. bereits 1213 im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten mit dem Tochterkloster La Charité einen ersten energischen Mahnbrief, der allen Äbten und Prioren des Ordens befahl, sich an die alte Disziplin zu erinnern und gemeinsam auf den jährlichen Generalkapiteln eine Reform durchzusetzen49.

47 Er hat mit dem Konvent im Refektorium zu essen und im Dormitorium zu schlafen, darf sich keine weltlichen Bediensteten wählen, muß seine Equipage begrenzen, darf kein cluniazensisches Gut entfremden und keine neuen Gesänge bei Gottesdiensten einführen, vgl. C h a r v i n 1, S. 53 f. 48 Die Überlieferungslage ist zu dieser Zeit so schlecht, daß keine eindeutigen Aussagen - etwa über die Häufigkeit der stattgefundenen Generalkapitel - gemacht werden können. 49 Dabei solle man sich, so der Papst, der Führung des Abtes, dem man obedientiam et reverentiam schulde, unterstellen. Die Bedeutung der Stellung des Abtes stand für Innozenz III., trotz der Befürwortung der Generalkapitel, noch außer Frage. Vgl. M i g n e . P L 216, Sp. 791 f.

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20 Jahre später erfolgte dann durch die Reformbulle Behemotbso Papst Gregors IX. der erste gesetzgebende Zugriff auf Cluny durch eine übergeordnete Macht 51 . Beim Pathos und Ernst der eindrucksvollen Worte der Arenga dieser Bulle kann man sich der Vorstellung, daß der damalige Zustand des ordo Cluniacensis tatsächlich ein scandalum52 wie der Papst es bezeichnete und womit er sein Eingreifen rechtfertigte53 - gewesen sein mußte, kaum entziehen: Sane dolore confodimur in occulto, et rubore perfundimur in aperto, quia cum ordo Clun. in Ecclesiae paradiso dextera divina plantatus, a mari usque ad mare protensis palmitibus gratos flores, et uberes fructus producere soleret honestatis: nunc in amaritudinem alienae vitis conversus producit labruscas stuporem dentibus facientes ... Domus quoque vestrae in multis locis desolatae sunt, sicut in vastitate bostili; et multae derelictae sunt sicut umbraculum in vinea et sicut tugurium in cucumerario, et velut civitas quae vastatur.54 Die Forderung nach einer grundlegenden Reform ist offensichtlich: Quare cupientes deformatum ordinem reformare, et in-

50 Bereits die Wahl dieses Incipits verweist auf das Programm der Bulle. Bei den Kirchenvätern wurde Behemoth häufig mit dem Satan identifiziert. 51 Ed. Bull.Clun., S. 110 f. Weitgehend übernahm Gregor für den Bereich Verfassung die Bestimmungen der Statuten aus der Zeit Abt Hugos, passagenweise sogar wörtlich; die meisten Unklarheiten blieben nach wie vor bestehen. Eine der wenigen wichtigen Neuerungen war die Einführung des Visitatorenamtes für die Provinzen, eine Aufgabe, die bisher die camerarii provinciales ausgeübt hatten, vgl. C h a r v i n 1, S. 50. Vgl. P i n k l (wie Anm. 4), S. 130 ff. und M e 1 v i 11 e (wie Anm. 27). Zur Reformpolitik der Päpste gegenüber Cluny s. umfassend F. N e i s k e, Reform oder Kodifikation? Päpstliche Statuten für Cluny im 13. Jahrhundert, in: AHP 26 (1988), S. 71-118. 52 Vgl. zur Bedeutung dieses Begriffs L. B u i s s o n , Potestas und Caritas. Die päpstliche Gewalt im Spätmittelalter (Köln/Graz, 1958). Für unseren Zusammenhang besonders wichtig sind die Bemerkungen zu Papst Innozenz III., der unter scandalum eine Verletzung der Ordnung des Rechts verstand, S. 133-137 und zu Innozenz IV., der dem Gesetzgeber bei einem scandalum zugestand, S. 142, „er (der Gesetzgeber) könne bei scandalum als einer iusta causa etwas anderes anordnen und in bestimmten Fällen das Gegenteil festlegen". Der Begriff findet sich beispielsweise auch noch in der Promulgationsbulle Sacrosanctae zum Liber sextus Papst Bonifaz' VIII. Der Papst erklärt dort, daß unter der Menschheit entstehende scandala durch Gesetzgebung wieder beseitigt werden müßten, vgl. G a g n é r (wie Anm. 39), S. 133. Vgl. auch die Arbeit von G. S t ä h 1 i n , Untersuchungen zur Geschichte eines biblischen Begriffs (Gütersloh, 1930). In dem Kapitel über „die jüngeren patristischen Abwandlungen" äußert sich Stählin wie folgt zu den Bedeutungen von scandalum: „ ... Aus der Erschütterung des Glaubens wird wie im Griechischen a. der religiöse Anstoß, und dieser verengt sich noch b. zum dogmatischen Anstoß sowie - unter Mitwirkung anderer Faktoren - c. zur theologischen Irrung, zur Häresie". 53 Petrus Venerabiiis hatte noch davon gesprochen, daß er mit seinem Statutenerlaß einem scandalum vorbeugen wolle, das drohe, wenn die Notwendigkeit der Rechtsveränderung mißachtet würde, vgl. P i n k l (wie Anm. 5). 54 Bull.Clun., S. 110.

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes staurare collapsum...55. Anschaulich beschreibt Gregor den skandalösen Zustand des ordo Cluniacensis. Wie Hugo spricht Gregor von der deformatio des Verbandes, verlangt reformatio und ein instaurare collapsum56. Nicht nur mit dieser herben Kritik in der Arenga der Reformbulle, vor allem auch mit den ständigen Hinweisen, sich am Vorbild der Zisterzienser zu orientieren, attackierte der Papst das cluniazensische Selbstbewußtsein. Auslösendes Moment für diesen legislatorischen Zugriff Papst Gregors war sicherlich auch, daß sich die unmittelbaren Nachfolger Abt Hugos zwar als fähige Verwalter auszeichneten und den materiellen Wohlstand vergrößerten, sich aber weniger um ideelle Inhalte oder Disziplin kümmerten57. Auch die Neuorganisation des Verbandes funktionierte - soweit sich auf Grund der schlechten Quellenlage überhaupt Aussagen machen lassen - wohl noch nicht optimal 58 . So leuchtet es ein, daß das erstarkte Papsttum versuchte, nicht nur auf die Besetzung des Abtsstuhles59, sondern auch auf Verfassungsstruktur und disziplinarische Verhaltensregeln des Ordens Einfluß auszuüben. Einer der Höhepunkte dieser Bemühungen war jene Reformbulle Gregors IX., mit der der Papst verändernd in die Verbandsstruktur eingegriffen hatte. Auch der Abt konnte sich dieser Entwicklung nicht entziehen. Seit der Bulle Gregors bestand schließlich sogar die durch Gesetz sanktionierte Möglichkeit der Absetzung des Abtes 60 . Anhand der auf diese Bulle folgenden Generalkapitelbeschlüsse und Visitationsakten ist jedoch festzustellen, „daß hier weiterhin an der grundsätzlichen Zentrierung auf Cluny, die somit in dessen Abt auch eines im Alltag der Geschäfte persönlich führenden Exekutivorgans bedurfte, nicht gerüttelt wurde" 61 . Die Verfassungsentwicklung erfuhr während der Regierung Abt Wilhelms von Pontoise (1244-57) eine Gegenbewegung. Nicht ohne Erfolg bemühte sich Wilhelm nämlich um einen anderen Weg der 55 Ebd. 56 Bei Hugo findet sich restaurare dilapsum, vgl. C h a r v i n 1, S. 41. 57 Vgl. V a 1 o u s (wie Anm. 30), Sp. 78 ff. 58 Vgl. B r e d e r o (wie Anm. 3), S. 188; P i n k 1 (wie Anm. 4), S. 118 ff. 59 Vgl. V a 1 o u s (wie Anm. 30), Sp. 80. Dort werden die Äbte Roland ( 1 2 2 0 - 2 8 ) und Bartholomäus ( 1 2 2 8 - 3 0 ) als Protégés des Papstes beschrieben. Zu einer regelmäßigen Beeinflussung der Abtwahl durch die Päpste kam es jedoch erst mit der avignonesischen Zeit des Papsttums. 60 Vgl. Bull.Clun., S. 110. Die vier Visitatoren von Cluny erhalten das Recht, den Abt unter bestimmten Bedingungen zum Rücktritt aufzufordern. Bei dessen Weigerung sollte der Heilige Stuhl eingeschaltet werden. 61 M e l v i l l e (wie Anm. 27).

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Reform, deren Grundlage wie einst eine charismatisch-monarchische Leitung des Ordens durch den Abt von Cluny sein sollte62. Als Abt von Cluny forderte Wilhelm von allen Äbten und Prioren des Verbandes eine schriftliche Versicherung ihres Gehorsams, die tatsächlich in einer ungewöhnlich hohen Zahl geleistet wurden63. Durch die Anordnung einer täglichen Messe für Papst Innozenz IV. verstand er es, sich mit dem Papsttum gutzustellen. Innozenz reagierte 1247 mit einem Privileg für den Abt, „in dem alles, was bisher an korporativer Mitsprache gewonnen war, wieder rückgängig gemacht zu sein schien" 64 . Alle Prioren und Mönche, so lautet die Anordnung, seien dem Abt von Cluny unterworfen, hätten ihm allein oboedientia zu versprechen und er allein könne sie ein- und absetzen. Nos attendentes quod haec omnia reddunt eumdem Ordinem celebrem et insignem; cum populus sub uno Rectore prosperare consueverit, et cadere sub diversis65. Somit ignorierte der Papst die Änderungen im cluniazensichen Verfassungsgefüge völlig. Auch die Abt Yvo I. (1257-75) gewidmeten Exhortatiunculae, eine Mahnschrift des Girardus de Arvernia aus dem Jahre 1272 an die Cluniazenser, propagierten eine entsprechende Reformidee 66 . Dem mit Hilfe von Statuten und Reformbullen unternommenen Versuch der institutionellen Reformierung setzte Girardus ein Plädoyer für die „Reform der Gesinnung" 67 entgegen. Girardus sprach nicht von Sanktionen und Normen, sondern appellierte an die alten monastischen Grundwerte und forderte die Anerkennung der auctoritas des Abtes als alleinigem Leiter des Verbandes. Kurz nach der Mahnschrift des Girardus wurden die Statuten Abt Yvos II. erlassen68, deren erster Punkt folgendermaßen beginnt: Sacri canones ad id visitationis officium inter cetera statuerunt ut religionis sanctitas, fraternitatis unitas, morum honestas, et locorum tarn in spiritualibus quam temporalibus honor et commoditas, prout ad Dei honorem et laudem expedit, conserventur; et que circa hec correctionis et 62 Vgl. dazu ausführlicher M e 1 v i 11 e (wie A n m . 2 7 ) und Bredero (wie Anm. 3), S. 197 ff. 63 Vgl. P i n k l (wie Anm. 4), S. 33 Anm. 75. 64 M e 1 v i 11 e (wie Anm. 27). Vgl. auch P i n k l (wie A n m 4) S. 63 f. 65 Bull.Clun., S. 117 Sp. 1. 6 6 Zu dieser bislang noch völlig unbekannten Reformschrift vgl. den Aufsatz von G. M e 1 v i 11 e , Die „Exhortatiunculae" des Girardus de Arvernia an die Cluniazenser. Bilanz im Alltag einer Reformierungsphase, in: Ecclesia et Regnum. Festschrift für J. Schmale, hrsg. von D . B e r g und H . - W . G o e t z (Bochum, 1989), S. 2 0 3 - 2 3 4 . 67 Ebd., S. 232. 68 Ed. C h a r v i n 1, S. 60 ff. Zu diesen Statuten vgl. ausführlicher P i n k l (wie A n m 4), S. 170 ff., und M e 1 v i 11 e (wie Anm. 27).

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes reformationis bono indigent, juste corrigantur et debite reformentur69. Der Wandel gegenüber der Rhetorik eines Petrus oder eines Hugos ist offensichtlich. Zwar ist erneut die Rede von reformatio, von correctio, doch haben die Begriffe an Gewichtigkeit verloren. Nüchtern wird erklärt, daß eine reformatio erfolgen solle, wenn es nötig sei. Wie anders hatten die beschwörenden Aufrufe von Abt Hugo und Papst Gregor geklungen! Stattdessen gewinnt das conservare wieder an Bedeutung, zu dem einst auch Petrus Venerabiiis aufgefordert hatte. Die Werte indes, die nun als bewahrenswert definiert werden, unterscheiden sich von denen des Petrus. Nur im Rahmen des officium visitationis, also einem Organisationsprinzip untergeordnet, wird verlangt, daß die Heiligkeit des Ordens, ein ehrenvoller Lebenswandel, die fraternitas und in bezug auf spiritualia und temporalia intakte Häuser zu bewahren seien, wie es sich ad Dei honorem et laudem gehöre. Gegenüber den Maximen des Jahres 1146 ist eine merkliche Versachlichung festzustellen. Dabei soll nicht unterstellt werden, daß Petrus Venerabiiis diese in den Statuten Yvos genannten Bedingungen nicht auch für bewahrenswert gehalten hatte. Tatsache ist aber andererseits, daß er sie nicht explizit nannte, sondern wohl davon ausging, daß sie sich zwangsläufig einstellten, wenn die christlichen Grundwerte garantiert waren. Von der Bewahrung der göttlichen lex eterna ist hingegen 1276 keine Rede mehr. Die Dinge, die einer Erwähnung für wert gehalten wurden, hatten sich verändert. Nun stand der Wunsch nach einer funktionierenden Organisationsstruktur im Vordergrund. In diesem Sinne wird - kaum sind die einleitenden Worte der Statuten von 1276 verklungen - im nämlichen Abschnitt verlangt:... quod beati Benedicti Regula et Capituli generalis statuta custodiantur ab Omnibus sicut decet70. Allein, es bleibt nicht bei dieser Forderung, sondern zugleich wird darauf hingewiesen, wie man sich die praktische Durchführung vorzustellen habe. In den Konventualprioraten sollten Statuten vorhanden sein, die immer an den Kaienden eines Monats zu verlesen seien, so daß niemand ein Fehlverhalten mit der Unkenntnis der Statuten entschuldigen könne. Und auch bei nahezu allen anderen Erlassen erfolgen detaillierte Angaben, um deren Durchführbarkeit unter verschiedenen Bedingungen zu gewährleisten.

69 C h a r v i n 1, S. 60. 70 Ebd.

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Ein Jahr später zeichnete Abt Yvo dann für eine Ordensprovinz erneut als Legislator71: Auf einem Provinzialkapitel72 verfügte er speziell für England Statuten73, wohl um die Ordensprovinz, in der sich Loslösungstendenzen häuften, wieder enger an den Verband zu binden. Wie die Erlasse des Vorjahres beginnen auch diese Statuten ohne Vorbemerkung, außer einer kurzen Referenz an den Vorgänger: Bone memorie Yvonis, predecessoris nostri, statutum74. Ebenso fehlt ihnen - wie ja auch schon den Verfügungen von 1276 - so etwas wie eine Grundsatzerklärung. Im Rahmen des ersten Artikels, der das Umherschweifen der Mönche untersagt, nennt Yvo als Gründe für dieses Verbot die ho-

nestas Ordinis, die salas animarum und die bona Ordinis, die durch vagationes gefährdet seien. Wieder stehen eher praktische Erwägungen im Vordergrund. Die stilistische Darlegung dieser beiden Statutenwerke entspricht der Entwicklung hin zu einer zunehmenden Verrechtlichung. Die Bestimmungen klingen nüchterner, klarer, durchdachter; lange Einleitungen, beschwörende Worte oder anklagende Schilderungen fehlen. Die Tatsache, daß das Verhalten vieler Ordensangehöriger zu wünschen übrig läßt, wird als bekannt vorausgesetzt. So wurde hauptsächlich die Bestrafung von Mönchen und Prioren bei Fehlverhalten festgelegt75. Disziplinarische Verhaltensregeln standen im Vordergrund, die neuen Verfassungsorgane blieben erhalten. Der Abt war dem festgesetzten Verfassungsgefüge insoweit eingegliedert, als er die Beschlüsse des Generalkapitels, die, wie es heißt, für alle (also auch für ihn) Gültigkeit hatten76, anerkennen mußte. Am cluniazensischen Verfassungsgefüge wurden erst wieder 1289 durch die Reformbulle Papst Nikolaus' IV. (1288-92) wichtige Änderungen vorgenommen. Nikolaus hatte zwar die Neuerungen Abt 71 Vgl. P i n k l (wie Anm. 4), S. 172 ff. 72 Wenn die Quellen annähernd vollständig sind, fanden Provinzialkapitel nur sehr vereinzelt statt. Man muß diese Kapitel als außerplanmäßige Veranstaltungen verstehen, mit denen Abte Clunys versuchten, durch Präsenz ihrer Person und spezielle Erlasse sich abspaltende Provinzen wieder enger an den Verband zu binden. Vgl. hierzu P i n k l (wie A n m . 4), S. 172 ff. 73 E d . C h a r v i n 1, S. 65 ff. N o c h stärker im Vordergrund als in den Statuten von 1276 stehen Verbote und Strafen. 74 Ebd., S. 66. 75 Exakt ist das Strafmaß fixiert, das droht, wenn ein Ordensangehöriger Geldgeschäfte mit Juden betreibt ( C h a r v i n 1, S. 62, § 6), dem Spiel verfallen ist (S. 62, § 5) oder Umgang mit Frauen hat (S. 63, § 9). Weiter ist die Rede von der Habsucht der Prioren, die ihre Pflichten vergessen (S. 62 f., § 7), von unrechtmäßigen Güterübertragungen an Laien (S. 64, § 3) oder vom Mißbrauch der Urkunden des Heiligen Stuhls (S. 64,§ 5), und wieder wird die entsprechende Strafe mitgeteilt. 76 Charvin 1, S. 61.

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes Hugos bzw. Papst Gregors prinzipiell übernommen - so etwa das Generalkapitel, die Definitoren und Visitatoren - , doch spezifizierte er viele Bestimmungen bzw. regelte sie endlich exakt77. Generell besticht die Bulle durch die Präzision und Bestimmtheit ihrer Angaben. Der Zugriff Nikolaus' IV. auf den Orden war realistischer, versierter und rigoroser, auch wenn er auf anklagende Worte oder Verweise auf die Zisterzienser, die Gregors Bulle gekennzeichnet hatten, gänzlich verzichtete. Dafür zeigte er deutlicher auf, als dies je zuvor geschehen war, wie sehr sich die Ordensstruktur gewandelt hatte. Vor allem das Definitorengremium erfuhr durch die päpstliche Bulle einen Machtzuwachs78. Im Prolog der Reformbulle79 formulierte Nikolaus IV. nach einer geschickten Einleitung seine Forderung in aller Deutlichkeit. In der Tradition Christi, des regis pacifici, und als dessen Stellvertreter, so beginnt der Papst, erstrebe er das bonum pacis und die unitas concordiae stabilis aller Gläubigen, besonders aber der Cluniazenser, ut divinorum cultui, cui salubris illos dedicavit intentio, liberius et commodius immorentur. Deshalb sei es wünschenswert, daß zwischen Papsttum und Cluniazensern tranquilla pax vigeat, fraterna Charitas serveat, animorum identitas perseveretso. Der Wunsch nach der Gewährleistung von pax ist Thema dieser ersten Sätze. Ausgehend von den Bestrebungen des Friedensbringers Christus fordert Nikolaus Frieden für alle Gläubigen, vor

77 Beispielsweise wurden erst jetzt die Anzahl der zu wählenden Definitoren und ein wohldurchdachter Wahlmodus festgelegt. Das Ungewöhnliche an dieser Regelung der Wahl ist, daß die Träger der Macht, die Definitoren, am Ende jedes Generalkapitels ihre eigenen Nachfolger zu wählen hatten, vgl. Bull.Clun., S. 153. Vgl. hierzu M e 1 v i 11 e (wie Anm. 27). 78 Aufgaben des Abtes von Cluny waren zum Teil an die Definitoren übergegangen. Sie urteilten und bestraften am Generalkapitel oder setzten entsprechend Bevollmächtigte ein - etwa die Visitatoren oder auch den Abt von Cluny (ad Judicium domini Abbatis). Desgleichen fungierten sie als Gesetzgeber für den Gesamtverband, sei es, daß sie für einen Teil der Statuten als Verfasser zeichneten (vgl. oben, S. 352) oder daß sie auf den Generalkapiteln allgemeingültige Bestimmungen erließen (vgl. z. B. C h a r v i n 1, S. 369 oder 397 f.). 79 Ed. Bull.Clun., S. 152. 80 Papst Honorius IV. (1285-87), der Vorgänger Nikolaus' IV., hatte sich um eine Reform des Ordens von Grandmont bemüht. Der Prolog der auf diese Initiative zurückgehenden Reformstatuten weist Ähnlichkeiten mit den Worten Nikolaus' auf: Nos... judices, reformatores, correctores ordinis Grandimontensis a Sede Apostólica députait, gratem Deo reformationem et pacem dicti ordinis pro desiderio affectantes, ad amputandam omnem dissolutionis et turbationis materiam sollicite intendimus, ut cultus sacre religionis debita sit observatione pacificus et in ipsa Deo fideliter per omnia serviatur. Vgl. hierzu J. B e c q u e t , Les statuts de réforme de l'ordre de Grandmont au XIII e siècle, in: RevMab 59 (1978), S. 138.

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allem für die Cluniazenser, aber auch zwischen dem Papsttum und den Cluniazensern 81 . Als weitere Grundbedingungen, die er erfüllt sehen möchte, führt er die unitas bzw. identitas und die caritas an. Nach diesen Worten, mit denen das Streben nach Harmonie überzeugend vorgebracht worden war, schlägt der Papst dann einen anderen Ton an. Das, was Gregor IX., der Vorgänger, um einen statum prosperum et tranquillum zu erreichen, pro reformatione Cluniacensis Ordinis getan hatte, müsse districte et inviolabiliter observan. Er selbst, so fährt Nikolaus fort, wolle für die leichtere Durchführbarkeit einiger Bestimmungen des Vorgängers sorgen. Nach dieser erneuten Einlenkung verlangt der Papst dann zuletzt nachdrücklich: ut statuta ipsa juxta moderationem nostram prout notantur inferius in eodem ordine perpetuis futuris temporibus observentur*2. Gregor IX. hatte trotz seiner pathetischen Worte nur insistierend dazu aufgefordert: Quare cupientes deformatum Ordinem reformare83 bzw. am Ende seiner Bulle: ... praescripta statuta studeatis inviolabiliter observare84. Nikolaus hingegen bat nicht um die Befolgung seiner Anordnungen, er befahl sie. Am Generalkapitel von 1301 promulgierte Abt Bertrand (1295 bis 1308) erneut Statuten85. Die im Spätmittelalter in vielen Bereichen spürbare Verrechtlichung und Spezifizierung bestimmt auch Bertrands Dekrete. In 128 Unterpunkten, die in vier Gruppen aufgeteilt sind, werden alle Einzelheiten geregelt. Im ersten Teil sind Vergehen zusammengefaßt, die die Exkommunikation nach sich zogen86, Teil zwei handelt von Verfügungen, bei deren Mißachtung geringere Strafen verhängt wurden 87 . Im dritten Teil folgen Rechte und Pflichten einiger Amts-

81 Auch im Prolog der Charta Caritatis war die Garantie der mutua pax (zwischen Papsttum und Zisterziensern) ein zentraler Aspekt gewesen, vgl. Anm. 17. 82 Bull.Clun., S. 152. 83 Ebd., S. 110. 84 Ebd., S. 111. 85 Ed. C h a r v i n 1, S. 68 ff. Vgl. M e l v i l l e (wie Anm. 27), und P i n k l (wie Anm. 4), S. 214 ff. 86 Exkommuniziert wurde beispielsweise, wer betrog (S. 70f, § 2), ohne Erlaubnis die Alpen überschritt (S. 71, § 3), das Kloster nachts heimlich verließ (S. 71, § 4), um Geld spielte (S. 71, § 5), einen Prior oder Subprior wählte (S. 71, § 6), sich gegen Obere verschwor (S. 71, § 8), ohne Erlaubnis Mönche ernannte (S. 72, § 17), usw. 87 Die thematische Spannbreite dieses längsten Teils (S. 73-84) reicht von Bestimmungen zum Generalkapitel (§ 26-29), zur Verbreitung der Definitionen (§ 28), zum Wahlmodus bestimmter Amtsträger (z. B. § 33) über Verbote des Verkaufs oder der Verpfändung cluniazensischen Gutes (z. B. § 45 oder § 50) bis hin zur Regelung des Ablaufs des Klosterlebens (z. B. § 60) oder liturgischer Bräuche (z. B. § 36).

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes träger88; der vierte Teil dreht sich um all die Verordnungen, die principaliter conventum cluniaci et decanos circumjacentes ecclesie cluniaci99 betreffen. Abt Bertrand hielt die Vorbemerkung zu seinem ausführlichen Statutenwerk für den geeigneten Ort, diese Inhaltsangabe mitzuteilen, womit er seinen Adressaten den Zugriff auf das umfangreiche Werk erleichterte90. Im Detail informierte er im Prolog seine Leser auch darüber, daß er zwar diese Gesetze erlassen und einige Hinzufügungen angebracht habe, der größere Teil aber durch die Römische Kirche, seine Vorgänger und die Definitoren zustande gekommen sei: Nos frater Bertrandus, miseratione divina Cluniacensis ecclesie minister humilis, de consilio diffinitorum nostri generalis Capituli Cluniacensis et majorum de conventu nostro Cluniacensi et aliorum quam plurimum de dicto Ordine seniorum, salva sancte Sedis apostolice auctoritate, nonnulla per romanam Eclesiam, alia vero per predecessores nostros, rursus et quedam per diffinitores generalis Capituli Cluniacensis ad utilitatem totius Ordinis bactenus introductus, una cum quibusdam aliis per nos additis in hoc volumine modicum salubriter et utiliter duximus redigenda91. Das, was Bertrand durch den Statutenerlaß gewährleistet sah, ruft zunächst die Jahre 1276 bzw. 1277 ins Gedächtnis: Ad Dei omnipotentis honorem et ecclesie Cluniacensis ac totius Ordinis sibi commissi decorem, enecnon et ad fructus uberiores in jam ecclesia et Ordine futuris temporibus spiritualiter et temporaliter producendos92. Doch ist auch Bertrand nicht frei von pragmatischen Überlegungen; er spricht davon, daß die Verfügungen der utilitas totius Ordinis dienten. Dieser Begriff erinnert an den Prolog des Petrus Venerabiiis. Für Petrus war die utilitas zum einen zusätzlich zur necessitas Maßstab für Veränderung gewesen, zum anderen sprach er von der utilitas des menschlichen Rechts93. Die Begriffe hatte Petrus anhand von Beispielen erläutert. Bei Bertrand lautet die knappe Begründung für den Statutenerlaß: ...ad utilitatem totius Ordinis94. Damit ist die utilitas nicht mehr als zeitgebundene Dimension

88 Insbesondere die camerarii provinciales und die Visitatoren werden ausführlich behandelt (S. 8 4 - 8 8 ) . 89 C h a r v i n 1, S. 88. 90 Vgl. hierzu M e 1 v i 11 e (wie A n m . 15), S. 405 f. 91 C h a r v i n 1, S. 70. 92 Ebd., S. 70. 93 Vgl. P i n k 1 (wie A n m . 5). 94 In vergleichbarer W e i s e wird utilitas in den Konstitutionen des Predigerordens von 1228 v e r w e n d e t : . . . quasdam constitutiones ad utilitatem et honestatem et conservationem ordinis ... ediderunt. Vgl. hierzu H . C. S c h e e b e n , D i e Konstitutionen des Prediger-

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auslösendes Moment für Veränderung, sondern wird zu einer pauschal mit den Bedürfnissen des Verbandes gleichgesetzten Kategorie, um derentwillen die Veränderungen geschehen sollen. Was man sich unter der utilitas Ordinis genauer vorzustellen hat, wird allerdings nicht geklärt. Zwar unterscheiden sich diese Verordnungen von den früheren durch zunehmende Genauigkeit, Ausführlichkeit und größere Übersichtlichkeit. Doch werden andererseits unscharfe und wenig konkrete Erklärungen, wie die utilitas Ordinis, nicht näher erläutert. Die gleichfalls zunehmende Versachlichung mag Grund für diese Entwicklung sein, die zwar Raum ließ für die exakte Festlegung jedes Details, dafür aber ausschweifende Grundsatzerklärungen nicht mehr für nötig hielt. Von entscheidender Bedeutung ist, wie wenig sich letztendlich die Begrifflichkeit der beiden Statutenprologe verändert hat. Allein die Schwerpunktsetzung ist eine andere. Auch am Verfassungsgefüge änderte Bertrand nichts Wesentliches 95 ; nur die Neuerungen, die Nikolaus IV. durchzusetzen bestrebt gewesen war, entfielen. Dies konnte sich Bertrand erlauben, weil er sich durch Papst Bonifaz VIII. entsprechend unterstützt sah. Bonifaz hatte nicht nur die Bulle Nikolaus' mehr oder weniger außer Kraft gesetzt 96 , sondern in der Bestätigungsurkunde für Bertrand diesem cura, administratio et regimen über Mutterhaus wie alle membra übertragen 97 . Wenig verwunderlich ist in diesem Zusammenhang, daß Bertrand für die vier heiliggesprochenen Äbte Clunys einen Gedenktag bestimmte 98 und damit ganz bewußt an die Zeit erinnerte, in der der Verband von einem einzigen mächtigen Abt geleitet worden war. Bereits 1314 erließ der Nachfolger von Bertrand, Heinrich I. (1308 bis 1319), wieder Statuten 99 , zu einer Zeit, als die Epoche des avignonesischen Papsttums und damit eine neue Phase der Geschichte Clunys bereits begonnen hatte. Zu nahe befanden sich die Päpste nun an Cluny, als daß sie nicht die dortigen Abtswahlen regelmäßig beeinflußt hätten. Die Entwicklung Clunys „à la collation pontificale comme un quelconque bénéfice" 100 war nicht mehr aufzuhalten! Bezeichnend ist, daß Ordens unter Jordan von Sachsen ( = Quellen und Forschungen zur Geschichte des D o minikanerordens in Deutschland 38, Köln/Leipzig, 1939), S 48. 95 Vgl. M e 1 v i 11 e (wie A n m . 27). 96 Bull.Clun., S. 163 Sp. 1. Vgl. M e l v i l l e (wie A n m . 2 7 ) , und P i n k l (wie A n m . 4), S. 73. 97 Bull.Clun., S. 161 Sp. 1. 98 C h a r v i n 1, S. 75 § 39. 99 Ed. ebd., S. 98 ff. Vgl. M e l v i l l e (wie Anm. 27), und P i n k l (wie A n m . 4), S. 2 4 0 ff. 100 Diese Formulierung benutzt V a 1 o u s (wie Anm. 30), Sp. 98.

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes mit Heinrich der ehemalige Prokurator des Ordens an der päpstlichen Kurie den Abtsstuhl bestiegen hatte101. Wie sein Vorgänger zeichnete auch Heinrich als Herausgeber der von den Päpsten und seinen Vorgängern verfügten Statuten, sein Prolog ist ähnlich konzipiert wie der Bertrands: Collectio Statutorum per summos romanos Pontifices et bone memorie predecessores Abbates Cluniacenses, pro qualitate et necessitate temporum varietateque casuum, in toto Cluniacensi Ordine editorum. Ordinata per venerabilem in Christo patrem, dominus Henricus,..., Abbatem Cluniacensem, ..., in quatuor particulas distinctas102. Wieder werden ohne jedes Beiwerk in formelhafter Verkürzung die Beweggründe für den Statutenerlaß genannt: pro qualitate et necessitate temporum varietateque casuum10i. Der Begriff der necessitas weist erneut zurück auf den Prolog des Petrus Venerabiiis. Retrospektiv führt Heinrich neben der varietas casuumm auch die qualitas bzw. die necessitas temporum, also eine Notwendigkeit, die andere Zeitumstände fordern, als Beweggründe für die Statutensammlung an. Auch Petrus hatte die necessitas als Veränderung auslösende Kategorie diskutiert. Allerdings war der Begriff von ihm, als er noch am Anfang einer Entwicklung stand, die hier bis hin zu Abt Heinrich skizziert wurde, ausführlich besprochen und gleichsam als eines der Leitmotive des Prologes immer wieder aufgenommen worden. Anders verfährt Heinrich, der ohne weitere Erläuterung von der necessitas temporum spricht; dafür wurden nunmehr andere inhaltliche Schwerpunkte gesetzt.

101 Doch pflegte Heinrich nicht nur gute Beziehungen zum Papsttum, was beispielsweise die Bestätigung der cluniazensischen Privilegien durch Clemens V. 1312 am Konzil von Vienne belegt. In gleicher Weise konnte Cluny von Seiten des französischen Königtums mit Unterstützung gegen Adel und Städte rechnen, vgl. V a 1 o u s (wie Anm. 30), Sp. 96. 102 Vgl. C h a r v i n 1, S. 98 f. 103 Ebd., S. 98. 104 Als Vergleich sei auf die Promulgationsbulle zum Liber sextus (1298) hingewiesen. Dort formulierte der aus der plenitudo potestatis heraus agierende Papst Bonifaz VIII. die ganz ähnliche Problematik, akzentuierte sie freilich ungleich schärfer: „Er (= Bonifaz VIII.) interpretiert, ergänzt, ändert, schafft Neues. Seine Juristenkommission hat er mit der Ausarbeitung eines Gesetzbuches beauftragt, das aus seinen eigenen constitutione.s sowie auch aus dem nach dem Liber extra entstandenen Dekretalenrecht seiner Vorgänger geschöpft ist. Die letztgenannten Dekretalen übernimmt er in Auswahl nach eigenem Gutdünken -pluribus ex ipsis, quum vel temporales, aut sibi ipsis vel aliis iuribtts contrariae, seu omnino superfluae viderentur, penitus resecatis, reliquas, quibusdam ex eis abbreviatis, et aliquibus in toto vel in parte mutatis, multisque correctionibus, detractionibus et additionibus, prout experdire vidimus, factis in ipsis." Vgl. G a g n e r (wie Anm. 39), S. 134.

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Nach einer kurzen Erläuterung der Inhalte der vier Teile des Statutenwerkes von 1314 schließt sich ein mit prefacio überschriebener Abschnitt an105. Wie sein Vorgänger zählt Heinrich die für die Erlasse Verantwortlichen auf - obwohl er die wichtigsten bereits eingangs genannt hatte - , während er sich selbst, wie er angibt, abgesehen von kleinen Hinzufügungen nur noch auf die Ordnung von Verfügungen der Vorgänger, Definitoren und des Papsttums beschränke106. Den Nutzen dieser Tätigkeit betont er ausdrücklich: ...ad beatissime Trinitatis gloriam et honorem, ad animarum nobis commissarum salutem, ad regularis discipline observationem effaciorem, ad religionis promotionem, et spiritualium fructum productionem uberiorem, ... 107 . Mehr als alle seiner hier zitierten Vorgänger - vielleicht mit der Ausnahme des Petrus Venerabiiis - legt Heinrich auf die pastorale Funktion des Abtes von Cluny Wert. In diesem Sinne wird in dem Statut, in dem vom Gedenktag der heiligen Abte von Cluny die Rede ist, stärker als bei Bertrand deren Vorbildlichkeit betont. „Durch diesen Rückgriff auf eine pastoral begründete Legitimation der Herrschaft der Abte von Cluny" 108 macht Heinrich viel mehr Zugeständnisse an das neue cluniazensische Verfassungsgefüge als sein Vorgänger Bertrand. Zum Teil wurden sogar wieder Bestimmungen Papst Nikolaus' aufgenommen 109 . Einen großen Teil der Bestimmungen übernahm Heinrich auch wörtlich von Bertrand, doch wählte er eine übersichtlichere Unterteilung der 110 Einzelpunkte: Liturgisches Leben, praktisches Leben, Instanz des Generalkapitels, Organisation des Verbandes lauten die vier Bereiche, denen die Erlasse zugeordnet werden110. Obwohl sich Heinrich bewußt in die Tradition der Blütezeit Clunys stellt, ist mit seinen

105 C h a r v i n 1,S.99. 106 Der Aufgabenbereich Gesetzgebung befand sich seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich in der Hand des Abtes, vgl. oben S. 352. 107 C h a r v i n 1.S.99. 108 M e 1 v i 11 e (wie Anm. 27). 109 Vgl. z. B. C h a r v i n S. 110 § 40, wo festgelegt ist, daß die Definitoren die Visitatoren ernennen sollen. Vgl. hierzu M e 1 v i 11 e (wie Anm. 27). 110 Im ersten ( C h a r v i n 1, S. 99-102) und zweiten (ebd., S. 102-108) Teil werden all die Themen abgedeckt, die man unter den Uberschriften de divinis et spiritualibus bzw. de observantiis regularibus erwartet. Abschnitt drei (ebd., S. 108-114) behandelt neben dem Generalkapitel vor allem die Aufgaben der Definitoren und Visitatoren. Im vierten (ebd., S. 114-130) und längsten Teil geht es um die Vergabe der Priorate, um die Pflichten bzw. die Vergehen der Prioren - wobei entsprechende Strafmaßnahmen angeführt sind - um Aufnahme- und Verkaufsbedingungen. Abschließend (ebd., S. 130-137) wird in mehr als 20 Punkten sehr viel ausführlicher als bei Bertrand das Studium am Collegium in Paris besprochen. Vgl. hierzu J. E. S u 11 i v a n , Studia monastica. Benedictine and Cluniac Monks at the University of Paris, 1229-1500 (Ann Arbor, 1982), bes. S. 35.

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes Statuten ein weiterer Schritt der Formalisierung erreicht, der sich vor allem in einer übersichtlicheren Gliederung der vielen Unterpunkte und einer detaillierteren Festlegung von Einzelheiten bemerkbar macht111. In dem hier skizzierten Zeitraum hat ein deutlicher Wandel im Selbstverständnis der gesetzgebenden Äbte stattgefunden112, auch wenn sich die Stellung des Abtes von Cluny letztendlich weniger verändert hat, als man vermuten könnte. Mit Petrus Venerabiiis hatte erstmals ein cluniazensischer Abt Statuten angeordnet - im Gegensatz zu den bislang üblichen ConsuetudinesUi. Aus dem Bewußtsein seiner charismatischen Führungsstellung und dem Vertrauen darauf, daß noch alle Glieder des Verbandes an die gemeinsamen monastischen Grundwerte glaubten, war er diesem Schritt gewachsen und konnte souverän (wenn auch nach eingehender Beratung) als allein Verantwortlicher des Erlasses zeichnen. Petrus' Verordnungen unterscheiden sich von denen seiner Nachfolger, weil er nicht nur absolut Recht setzte, sondern auch überzeugen wollte, indem er sowohl eine grundsätzliche Rechtfertigung lieferte, wie auch jedes einzelne Statut begründete. Ganz anders stellte sich 50 Jahre später Abt Hugo in seinen Erlassen dar, der allerdings nicht mehr davon ausgehen konnte, daß der Verband geschlossen hinter ihm stand. Hugo war gezwungen, sich äußeren Erfordernissen anzupassen, und er tat dies, indem er eine Verfassungsänderung verfügte und dabei ein neues Instanzengefüge schuf, an das er Macht abgab und dem er sich einfügte. In seiner Rolle als Gesetzgeber, soweit sie nicht von den Definitoren übernommen worden war114, verfuhr er autoritär, ausgehend von einer bitteren Klage über den beklagenswerten Zustand des Verbandes. Zwar hatte sich Hugo den neuen Normen untergeordnet, doch die Heftigkeit seiner Worte im

111 Vgl. M e 1V i 11 e (wie Anm. 15), S. 405 f. 112 Auch das Selbstverständnis der Päpste, die ihrerseits für Cluny Gesetze erließen, hat sich verändert. Im ersten legislatorischen Zugriff eines Papstes, Gregors IX., wird in den wenig distanzierten, heftigen Worten des Prologes die Entrüstung über den Zustand des ordo Cluniacensis deutlich. Die Maßnahmen indes, mit denen Gregor versuchte, Abhilfe zu schaffen, blieben teilweise unzureichend und ungenau und zeugten von mangelnder Erfahrung. Vgl. ausführlicher oben, S. 354 f. Papst Nikolaus IV. hingegen leitete gute 50 Jahre später seine Bulle zunächst verbindlich ein, pochte dann aber vehement auf die Durchführung seiner präzisen Anweisungen. Die Tatsache, daß der Papst die Reformierung eines Ordens bestimmte, scheint für ihn selbstverständlicher geworden zu sein. Vgl. ausführlicher oben, S. 358 ff. 113 Zum Unterschied vgl. oben, S. 347 f. 114 Vgl. hierzu oben, S. 352.

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Prolog zeugt davon, wie wenig er sich noch an die neue Rolle gewöhnt hatte. Abt Yvo hingegen, der nach mehr als sieben Jahrzehnten erneut Statuten verfügte, hatte sich mit der veränderten Stellung des Abtes von Cluny längst abgefunden. Selbstverständlich tauchen in seinen Statuten die neuen Organe des Verbandes auf. Ausführlicher ging Yvo jedoch nicht auf die Amter ein, ebenso wie er sich kaum grundsätzlich zu seinen Erlassen äußerte. Ihm kam es weniger auf die Gewährleistung ideeller Grundwerte an als auf den geregelten Ablauf der Organisation des Verbandes, den er notfalls auch mit Strafmaßnahmen gewährleistet wissen wollte. Auch wenn die Äbte von Cluny zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Bereich der Gesetzgebung von eigenständigen Legislatoren nunmehr zu reinen Promulgatoren geworden waren - wie dies Bertrand und Heinrich in den Prologen ihrer Statuten formulierten - , blieben sie dennoch mehr als nur von anderen Instanzen dirigierte, oberste Repräsentanten des ordo Cluniacensis. Nach wie vor war der Abt von Cluny das mit vielen Vorrechten und Entscheidungskompetenzen ausgestattete Haupt des Verbandes. Im Vergleich mit den ersten Gesetzgebern war der Statutenerlaß für Bertrand und Heinrich inzwischen zur Gewohnheit geworden. Vieles konnten sie rückblickend nüchterner beurteilen. Und auch der anfänglich zündende Reformgedanke gehörte nunmehr wohl schon eher zu den alltäglichen Gegebenheiten. Ebenfalls verändert hatten sich im Laufe der Jahre die Begründungen, die die Gesetzgeber für ihren Eingriff in die Organisationsprinzipien des Verbandes lieferten. In der Regel genügte ihnen als Rechtfertigung, die entsprechenden Maßnahmen für notwendig zu erklären. Petrus Venerabiiis etwa hielt seine Statuten als Bedingung für den Erhalt der Caritas für unverzichtbar. Nur Petrus war es aber andererseits, der zusätzlich zu dieser Begründung einen Nachweis erbrachte. Diese Begründungen erfolgten wohl nicht allein, um seine Adressaten zu überzeugen, sondern weil auch für ihn selbst der Akt einer derartigen Statutengesetzgebung völlig neu war. Petrus hatte seine Statuten prospektiv angeordnet, um die christlichen Grundwerte, die er als Voraussetzung für einen intakten Verband der Cluniazenser ansah, auch für die Zukunft zu garantieren. Abt Hugo hingegen reagierte mit seinen Reformmaßnahmen auf gänzlich andere Bedingungen 115 . Dementsprechend unterscheidet sich

115 Hierzu vgl. oben, S. 349.

Die Neuorganisation des cluniazensischen Verbandes seine Argumentation von der des Petrus. Als Nachweis für sein Eingreifen in die Verbandsstruktur führt Hugo die deformatio des Verbandes an. Um diesen schlechten Zustand zu beheben, ordnete er eine reformatio an, die neben anderen Maßnahmen vor allem auch eine Verfassungsänderung vorsah 116 . Nur so könne, lautet die Begründung, der pristinus rigor wiederhergestellt werden. Wo Petrus für den Erhalt der Caritas gesprochen hatte, machte sich Hugo nun für die Erneuerung des rigor und die Bewahrung der integritas Ordinis stark. In der rund 30 Jahre später verfaßten Reformbulle Papst Gregors klingen mit Hugos Worten vergleichbare Argumente an: Der Zustand des Verbandes, so der Papst, sei ein scandalum, und deshalb sei eine Reform notwendig. Mit der erneut etwa 40 Jahre später zu datierenden Bemerkung in den Statuten Abt Yvos ist gegenüber den emphatischen Appellen von Abt Hugo und Papst Gregor eine deutliche Ernüchterung eingetreten. Zwar spricht auch Yvo von reformatio, doch ist die Bedeutung des Begriffs längst zur Gewohnheit geworden. Und auch all das, was Yvo durch reformatio und correctio garantiert sieht, klingt sachlicher, nämlich sanctitas, fraternitas, honestas, commoditas, honor und bona Ordinisu?. Gleichzeitig verzichtet Yvo auf eine Klage über den inzwischen hinreichend bekannt schlechten Zustand der Cluniazenser, vielmehr setzt er das Wissen hierüber voraus und nennt, ohne ausschweifende Worte vorauszuschicken, seine Maßregelungen für das mönchische Zusammenleben. An der Verfassung änderte Yvo nichts. Dies unternahm 13 Jahre später Papst Nikolaus IV. mit seiner Reformbulle, die sich in der Präzision ihrer Anordnungen von den bisherigen Erlassen deutlich unterschied. Abgesehen von den ersten verbindlichen Worten, in denen der Papst die Hoffnung äußert, im Sinne des Friedensbringers Christi allenthalben tranquilla pax und unitas zu erreichen, verlangt die Bulle ansonsten nachdrücklich die Befolgung ihrer Anordnungen. Nur in der äußert geschickt formulierten Einleitung spricht der Papst - wenn auch sehr unkonkret - von ideellen Zielen, die er durch den erneuten Zugriff auf den Orden erreichen will. Doch kommt dem Prolog nur der Stellenwert eines rhetorischen Vorspiels zu, denn ansonsten ist der Ton der Bulle ein gänzlich anderer, nämlich konkret, präzise, bestimmt, ja fast absolut. In den einleitenden Erklärungen der beiden Äbte, die am Ende des hier untersuchten Zeitraumes stehen, wird erneut offenkundig, wie sehr 116 Hierzu vgl. oben, S. 351. 117 Vgl. oben, S. 356 f.

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sich die inhaltlichen Schwerpunkte verlagert hatten. Zwar nutzte Bertrand seinen Prolog auch, um Reflexionen über cluniazensische Grundwerte anzustellen oder um Kritik am Verband zu üben und alte, bessere Zeiten heraufzubeschwören. Ad utilitatem Ordinis lautete der nicht näher ausgeführte Leitgedanke des Prologes. Gewährleistet sah Bertrand mit dem Erlaß außerdem eine Erhöhung der Ehre und des Ansehens Gottes und des cluniazensischen Verbandes. Und Abt Heinrich, der wie Bertrand nur als Herausgeber der Statuten an Stelle von anderen Instanzen zeichnete, versprach in seiner knapp gehaltenen Einleitung, durch den Erlaß, der de necessitate temporum notwendig sei, den Ruhm und die Ehre Gottes zu vermehren. Auf eine längere Erklärung verzichtete er und schickte stattdessen voraus, was im Zuge einer allgemeinen Verrechtlichung, Versachlichung und Formalisierung wichtiger geworden zu sein scheint: eine Inhaltsangabe, um sich in den in viele Unterpunkte gegliederten und alle Bereiche abdeckenden Verfügungen zurechtzufinden sowie eine Referenz an all die Instanzen, die am Statutenwerk beteiligt gewesen waren. Die Vorstellungen von Reform in den besprochenen Prologen klingen zunächst widersprüchlich. Zum einen plädierte man für die Veränderung der Organisation des Verbandes. Man führte neue Ämter ein, verteilte die Aufgabenbereiche um und verrechtlichte das gemeinschaftliche Leben durch disziplinarische Verhaltensregeln. Andererseits ging man jedoch nie soweit, daß man die cluniazensische Idee völlig aufgab. Man versuchte vielmehr - und dies klingt auch in den altbekannten Begiffen an, die in den Prologen immer wieder zitiert werden - die traditionellen Werte zu bewahren und mit der neuen Organisationsform in Einklang zu bringen. Dies bedeutete, daß der Abt von Cluny, auch wenn er Aufgabenbereiche an neue Instanzen abgeben mußte, das caput des ordo cluniacensis geblieben war.

D I E O R D E N S R E F O R M E N B E N E D I K T S XII. U N T E R INSTITUTIONENGESCHICHTLICHEM ASPEKT FRANZ J. FELTEN Prof. Dr. Kaspar Elm sexagenario ad mukös annos feliciter

Die Ordensreformen Benedikts1 scheinen mir gut in den Kontext dieses Bandes zu passen, da sie sich mit Gebilden langer Dauer beschäftigen, die trotz der Unterschiede im Einzelnen, insbesondere, was den Grad ihrer Ausformung betrifft, und trotz der in anderen Beiträgen geäußerten Vorbehalte gegenüber der Verwendbarkeit des Begriffes ,In1 Die Reformen Benedikts werden in allen Arbeiten zu seinem Pontifikat gebührend gewürdigt, ja sie rechtfertigen erst die monographische Behandlung dieses ansonsten angeblich wenig bedeutenden Papstes - so seinerzeit K. Ja c o b in seiner in Jena bei Cartellieri angefertigten Dissertation: Studien über Papst Benedict X I I . (20. Dezember 1334 bis 25. April 1342.) (1909), S. 17 ff. Von den biographischen Skizzen sind die von G. M o l l a t , Les Papes d'Avignon (1305-1378) (1912, 1965 1 0 ), S. 73-88, L. J a d i n , Benoît X I I , in: D H G E 8 (1935), Sp. 116-135, B. G u i l l e m a i n , Benedetto X I I , in: D B I 8 (1966), Sp. 378-384 hervorzuheben. Mit den Ordensreformen befaßten sich ausführlicher J . - B . M a h n , Le Pape Benoît X I I et les Cisterciens (= B E H E 295, 1949) und C. S c h m i t t , Un pape réformateur et un défenseur de l'unité de l'Eglise. Benoît X I I et l'Ordre des Frères Mineurs (1334-1342) (1959). - Für die Benediktiner gibt es eine Reihe von Einzelstudien, s. unten Anm. 2 , 1 2 3 , 1 3 4 . - Für die Dominikaner immer noch grundlegend, aber in seiner traditionell apologetischen Argumentation überholt: D . A. M o r t i e r , Histoire des Maîtres généraux de l'Ordre des Frères Prêcheurs, III (1907), S. 87 bis 167; das .Mémoire de diplôme d'Etudes supérieures, préparé sous la direction de M. le Prof. Ed. Perroy' von M. M i l l s , Benoît X I I . et la réforme des ordres mendiants (vgl. R H E F 40 [1954] S. 187) ist unauffindbar; vgl. jetzt F. J . F e 11 e n, Le pape Benoît X I I (1334-1342) et les frères Prêcheurs, in: La papauté d'Avignon et le Languedoc 1316— 1342 (= Cahiers de Fanjeaux 26, 1991), S. 307-342. - In jüngerer Zeit wird die Notwendigkeit des ordensübergreifenden Vergleichs und im Zusammenhang mit anderen Reformmaßnahmen zunehmend betont: B . S c h i m m e l p f e n n i g , Zisterzienserideal und Kirchenreform - Benedikt X I I . (1334-1342) als Reformpapst, in: ZisterzienserStudien III (= Stud. z. europ. Geschichte 13, 1976), S. 11-43; mit Akzent auf den Studienbestimmungen: L. B o e h m , Papst Benedikt X I I . (1334-1342) als Förderer der Ordensstudien. Restaurator - Reformator - oder Deformator regulärer Lebensform?, in: Secundum Regulam Vivere. Festschrift für P. N . Backmund O . Praem. hg. v. G. M e 1 v i l l e (1978), S. 281-310. Zuletzt zog G . M e 1 v i 11 e eine Bilanz dieser und anderer neuerer Arbeiten in: Quellenkundliche Beiträge zum Pontifikat Benedikts X I I . anhand von neu aufgefundenen „Gesta", Teil I (mit Textedition), in: H J B 102 (1982) S.144-182; bei seinem Quellenfund handelt es sich um eine Variante der ,Vita Quinta' (vgl. S. B a 1 u z e , Vitae paparum Avenionensium ..., nouv. éd. ... par G . M o l l a t [1916— 1928] I, S. 226-230).

Franz J. Feiten

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stitution'

werden können.

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Reformversuche

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Mendikantenorden

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h a b e n 3 . D i e R e g u l a r k a n o n i k e r k a n n ich hier m i t g u t e m G e w i s s e n hintanstellen, e n t s p r i c h t d o c h ,ihre' B u l l e Ad w e i t h i n d e r Summi

magistri

decorem

v o m 15. M a i

1339

f ü r die B e n e d i k t i n e r v o m 2 0 . J u l i 1 3 3 6 ; das

2 P. S c h m i e d e r , Die Benediktiner-Ordensreform des 13. und 14.Jahrhunderts. (1867); d e r s., Zur Geschichte der Durchführung der Benedictina in Deutschland im 14. Jahrhundert, in: S M B 0 4 (1883), S. 278-289,5 (1884), S. 10-110; W. A. P a n t i n , The General and Provincial Chapters of the English Black Monks 1215-1540, in: TRHS s. 4, 10 [1927], S. 195-263; Documents illustrating the Activities of the General and Provincial Chapters of the English Black Monks 1215-1240 ed. W. A. P a n t i n (= Camden Third Sériés XLV, 1931, XLVII, 1933, LIV 1937); L. N o v e l l i , La Provincia Ecclesiastica Ravennate nel Capitolo Monastico del 1337, in: Atti dei Convegni di Cesena e Ravenna (1966-1967), I (= Centro di Studi e Ricerche sulla antica Provincia Ecclesiastica Ravennate 1, (1969), S. 163-327; nicht ganz korrekte und inzwischen z. T. ergänzte Listen von General- und Provinzialkapiteln veröffentlichte mehrfach U. B e r 1 i é r e (zunächst in der RevBén 8 ff., zusammengefaßt in: Mélanges d'histoire bénédictine 4 [1902] S. 52-171); zum Zusammenhang Ph. S c h m i t z , Geschichte des Benediktinerordens Bd. 3, Die äußere Entwicklung des Ordens vom Wormser Konkordat (1122) bis zum Konzil von Trient, ins Deutsche übertragen und hg. von R. T s c h u d y (1955), S. 71-79; das Mémoire ... von J. L e g e r , Benoît XII et la réforme de l'ordre bénédictin (Paris 1952), ist ungedruckt; vgl. RHEF 40 (1954), S. 187. 3 Bekanntlich haben sich die Dominikaner so erfolgreich gegen Benedikts Reformpläne gewehrt, daß eine Bulle nie erlassen wurde; über ihren Inhalt - und das Motiv des Widerstandes - ist nichts Sicheres bekannt, so daß noch heute Benedikts Haltung „unklar" erscheint; so zuletzt, in Zusammenfassung der Forschung, B. N e i d i g e r , Mendikanten zwischen Ordensideal und städtischer Realität. Untersuchungen zum wirtschaftlichen Verhalten der Bettelorden in Basel (= Ordensstudien III, Berliner Hist. Stud. 5, 1981), S. 63 mit Anm. 135. Traditionell wurde der Widerstand des Ordens seit dem 16. Jahrhundert damit gerechtfertigt, daß Benedikt ihm den Charakter eines Bettelordens nehmen wollte; so noch M o r t i e r (wie Anm. 1). In Quellen der Zeit dagegen wird Benedikt unterstellt, er habe die Legitimität des Besitzes angezweifelt, den Orden also auf die strenge Beachtung der Konstitutionen festlegen wollen. Eine neuerliche detaillierte Untersuchung unter Einschluß der Beziehungen des Ordens zu den Päpsten vor Benedikt bestätigte mir im Kern die Darstellung des gemeinhin wegen .Gehässigkeit' abgelehnten zeitgenössischen Dominikanerchronisten Galvano della Flamma, der mit der Betonung der Ordensautonomie gegen den Eingriff des Papstes offensichtlich die Meinung ,des Ordens' (der Ordensleitung wie der meisten Mitglieder) widerspiegelt. Vgl. schon B. A 11 a n e r , Venturino von Bergamo 1304—1346 (= Kirchengeschichtl. Abh. hg. v. M. S d r a 1 e k IX, 2, 1911), S. 158-168, bes. S. 167. Den Franziskanern galt Benedikt bis in die jüngste Zeit als .Deformator' ihres Ideals, der ihnen mit der Bulle Redemptor noster vom 28. November 1337 eine monastische Lebensweise habe überstülpen wollen. C. S c h m i t t , selbst OFM, hat die Genese des Vorwurfs seit dem Mittelalter nachgezeichnet und Benedikt, vielleicht allzu beflissen, davon frei zu sprechen versucht, wie schon der Titel signalisiert (wie Anm. 1, bes. S. 72-84; vgl. S. 13 f.).

Die Ordensreformen Benedikts X I I .

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gilt auch für die .Durchführungsbestimmungen' und die Maßnahmen zur Umsetzung in die Praxis 4 . Zisterzienser und Benediktiner aber unterscheiden sich so erheblich in der Organisationsform, in der sie das gemeinsame Ziel erreichen wollen, daß ein Vergleich unter institutionengeschichtlichem Aspekt lohnend erscheint, mußte doch jeder Reformeingriff auch von höchster Stelle sich auf diese Gegebenheiten einstellen: In bewußter Absetzung von gleichzeitigen benediktinischen Organisationsformen machen die Zisterzienser bewußt den Schritt hin zum .Orden' im modernen Sinn: Sie betonen im Unterschied zu Cluny wie zu den späteren Bettelorden die Selbständigkeit des Einzelklosters (insbesondere auch in finanzieller Hinsicht) unter dem alleinverantwortlichen Abt. Sie schaffen aber zugleich neben der für alle verbindlichen einheitlichen Lebensform die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Kontrolle, ihrer Fortentwicklung und gegebenenfalls ihrer .Reform' von außen: durch die regelmäßige Visitation der Töchter durch die Vateräbte und das Generalkapitel aller Äbte. Bereits die Carta Caritatis, die über alle Überarbeitungen der Statuten hinweg ihren Rang als grundlegendes Verfassungselement des Ordens bewahrt hat, definiert als dessen erste Aufgabe: ordinis reparandi. Ebenfalls seit den Anfängen verankert ist die Pflicht, persönlich zu erscheinen und notleidende Abteien brüderlich zu unterstützen -

4 Neben der gemeinhin zitierten Edition im Magnum Bullarium Romanum III, 2 ed. C. C o q u e l i n e s (1741; Nd. 1964), S. 264-286 und den Papstregistern (J.-M. V i d a l , Benoît XII [1334-1342] Lettres communes (1904), Nr. 7442, 7524, 8315, 9026, 9049, 9112, 9113; G. D a u m e t , Benoît XII. [1334-1342] Lettres closes, patentes et curiales se rapportant à la France [1920], Nr. 611-616); vgl. Chapters of the Augustinian Canons ed. H. E. S a 11 e r (= Oxford Historical Society, Bd. LXXIV, 1922), S. 214-267; S. 154-161 auch die Schreiben des Papstes an die mit der Durchführung seiner Forderungen betrauten Prioren in England und die Geldforderungen der mit der Organisation in Avignon betrauten Kurialen (vgl. unten S. 384 ff. zu den Benediktinern). Zum inhaltlichen Vergleich mit Summi magistri s. die Tabelle bei S c h i m m e l p f e n n i g (wie Anm. 1), S. 32-33 und B o e h m (wie Anm. 1). Zur Bewertung der Bulle und ihrer (noch ganz unzureichend erforschten) Aus- und Nachwirkung neben der Einleitung Salters jetzt L. M i 1 i s , Reformatory Attempts within the Ordo Canonicus in the Late Middle Ages, in: Reform- und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, hg. v. K. E 1 m (= Ordensstudien IV, Berl. Hist. Stud. 14, 1988), S. 61-69. Symptomatisch für die Vernachlässigung der spätmittelalterlichen Geschichte der Kanoniker sind die Artikel von C. D e r e i n e (Chanoines, in: D H G E 12 [1953], Sp. 353-405), C. D. F o n s e c a (Augustiner-Chorherren, in: LexMA 1 [1980], Sp. 1219 f.), die sich auf die Zeit vor 1200 beschränken). Vgl. auch S. W e i n f u r t e r , Neuere Forschung zu den Regularkanonikern im Deutschen Reich des 11. und 12. Jahrhunderts, in: HZ 224 (1977), S. 379-397, hier 397; K. E l m , Verfall und Erneuerung des Ordenswesens im Spätmittelalter. Forschungen und Forschungsaufgaben, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift, hg. v. Max-Planck-Institut f. Gesch. (= Veröff. 68, Studien zur Germania Sacra 14, 1980), S. 188-238, hier S. 211.

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Prinzipien, die jahrhundertelang das Selbstverständnis der Zisterzienser bestimmten, auch wenn im Laufe der Zeit Änderungen und Präzisierungen nötig wurden 5 . An dieses Selbstverständnis, das in arengenartigen Formulierungen vieler Generalkapitelsbeschlüsse immer wieder ausgedrückt wird - und vor allem an die seit zwei Jahrhunderten eingespielte Praxis von Bestätigung alter und Findung neuer Normen, ihrer Implementierung und Durchsetzung mit Hilfe von Kontrollen und Repression - kann Benedikt 1335 anknüpfen. Ganz anders die Situation bei den Benediktinern, die ja niemals einen einheitlichen Orden gebildet haben. Hier hatte es Benedikt mit einer verwirrenden Fülle von Verfassungsformen zu tun: das völlig selbständige Einzelkloster unter der Leitung des allein verantwortlichen Abts bei nur loser Aufsicht des Ortsbischofs - wie es dem Regelgeber und vielen seiner Söhne, selbst Kanonisten, zu allen Zeiten als N o r m vorschwebte - steht neben Klostergruppen und hierarchisch gestuften Verbänden, von denen Cluny nur der größte und bekannteste ist. Hier stellt sich von Anfang an, die Regel selbst ist dafür Zeuge, das Problem, wie negative Entwicklungen eines Klosters verhindert, positiv gewendet, wie eine Reform auch gegen den Willen des Abtes ermöglicht werden kann. Alle Reformer haben mit diesem Problem des in seinem Kloster nahezu allmächtigen Benediktinerabtes 6 gekämpft und unterschiedliche Lösungen dafür gefunden, bis hin zur radikalen Aufhebung der Selbständigkeit zugunsten der Fiktion des Großkonvents mit einem Abt an 5 Die Carta Caritatis in der Form, die sie bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts gefunden hat, bleibt Kernstück der Verfassung und steht am Anfang aller späteren Überarbeitungen der Statuten; es folgt als zweiter Grundstein die .Clementina', die Bulle Parvus Fons Papst Clemens' IV. von 1265 ( P o t t h a s t , Reg. 19185 mit übersichtlicher Gliederung; ed. J. M. C a n i v e z , Statuta Capitulorum Generalium Ordinis Cisterciensis ab anno 1116 ad annum 1786, [= Bibl. RHE 11-14 B, 1935-1941] III, S. 22-30. Die verschiedenen Versionen der Carta caritatis und der übrigen grundlegenden Texte ed. J. B o u t o n/ J.-B. v a n D a m m e , Les plus anciens textes de Citeaux (= CCCist. Studia et documenta 2, 1974), hier S. 117-121 [Zitat S. 118]); vgl. ebd. (... in sinistris corrigendis) und S. 133-139. - Zu der gerade in den letzten Jahren heftig diskutierten Problematik der für das Selbstverständnis der Zisterzienser (bis heute) zentralen frühen Quellen ein abgewogener Uberblick von E. M i k k e r s , Die Charta caritatis und die Gründung von Citeaux, Rottenburger Jb. für Kirchengesch. 4 (1985) S. 13-22; vgl. auch die Beiträge von K. E l m , J . M i e t h k e , C . M o s s i g und B. S c h i m m e l p f e n n i g , in: Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit. (Katalog zur Aachener Ausstellung von 1980, = Schriften des Rheinischen Museumsamtes 10, 19812). Zur Parvus Fons unten S. 429 f. mit Anm. 179. 6 Klassisch die Darstellung des englischen Bendiktinerabtes C. B u t l e r , Benedictine Monasticism (1919, 19242, Nd. 1961), S. 186-189; zur Problematik der Abtskonzeption und ihrer Interpretationen vgl. F. J. F e i t e n , Die Herrschaft des Abtes, in: Herrschaftsformen der Kirche, hrsg. von F. P r i n z (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 33 , 1988), S. 147-296 und unten S. 429 ff.

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der Spitze eines Verbandes abhängiger Priorate. Großabteien wie Marmoutier oder Monte Cassino, St-Albans oder St-Victor de Marseille, aber auch kleinere oder weniger bekannte wie Flavigny oder Tournus, Bourgueil oder Evron, Coulombs und Bonnevaux, St-Père de Chartres und La Trinité, St-Aubin d'Angers und Ste-Croix de Bordeaux und viele andere demonstrieren die Einheit der großen Klosterfamilie dadurch, daß sie, wie schon der Mönchsvater Pachomius, ihre Prioren regelmäßig, meist zu einem bestimmten Termin, in der Hauptabtei versammeln 7 . Wächst diesen Generalkapiteln, wie dem zisterziensischen, Satzungs-, Kontroll- und Sanktionsgewalt zu, dann gehören sie zu einem Typus normstiftender und -durchsetzender Äbteversammlungen, der sich durch die besondere Bindung an eine Abtei von Zusammenkünften aufgrund regionaler Kriterien unterscheidet. Zu diesem zweiten Typus gehören die Diözesansynoden, die insbesondere im späten Mittelalter von den Bischöfen wieder für die Reform der Klöster eingesetzt werden, wobei es sofort zu Problemen mit den exemten Abteien kommt, vor allem aber die ,Provinzialkapitel', die bewußt exemte und nichtexemte Äbte eines ordo in einer näher zu definierenden Region zusammenfassen wollen 8 . Diese Form wird, schon in ihren autonomen Anfängen, ich erinnere an Reims seit 1131 und Rouen zu Beginn des 13. Jahrhundert., von den Päpsten gefördert, mit dem berühmten c. 12 des IV. Laterankonzils verpflichtend gemacht und in der Folge verschiedentlich eingeschärft - zunächst, und nicht ohne eigene Schuld der Gesetzgeber, mit sehr unterschiedlichem Erfolg 9 . Das haben

7 Statt Einzelnachweisen R. M o 1 i t o r , Aus der Rechtsgeschichte benediktinischer Verbände. Untersuchungen und Skizzen, 3 Bde. (1928-1933); J. H o u r 1 i e r , Le Chapitre général jusqu'au moment du Grand Schisme. Origines - développement - étude juridique (1936); J. W o 11 a s c h , Mönchtum des Mittelalters zwischen Kirche und Welt (= MMS 7, 1972), bes. S. 136-186; jetzt auch die ausführlichen Artikel .Benediktiner (,-innen)', in: TRE 5 (1979) S. 549-560 (von K. S. F r a n k ) , in: LexMA 1 (1980) Sp. 1869-1901 (versch. Autoren); .Cluny, Cluniazenser' in: LMA 2 (1983), Sp. 2172-2191 (versch. Autoren). 8 Zur Unterscheidung der in der Literatur wie in den Quellen promiscue gebrauchten Bezeichnungen, was zuweilen zu unerfreulichen Verwirrungen führt, vor allem seit die Reformverbände des 15. Jahrhunderts auch noch eigene Kapitel abhielten, schon J. Z e 11 e r , Das Provinzialkapitel im Stifte Petershausen im Jahre 1417. Ein Beitrag zur Geschichte der Reform im Benediktinerorden zur Zeit des Konstanzer Konzils, in: SMGB 10 (1922), S. 1-73, hier S. 5, Anm. 8. 9 Traditionell werden die mangelnde Präzision der Bestimmungen und der psychologische Fehlgriff, die Zisterzienser nicht nur als Muster vorzugeben, sondern auch an der Durchführung der Reformkapitel zu beteiligen, für den relativen Mißerfolg verantwortlich gemacht; für die Empfindungen der Betroffenen nur zwei Belege: In einem Manuskript aus Worcester findet sich am Ende einer Abschrift der Statuten Gregors (s. folg. Anm.) von 1253 der unfromme Wunsch: tu autem domine auctorem confunde (zit. bei

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die Bemühungen eines Innozenz III., Honorius III., Gregor IX. mit denen Benedikts XII. gemeinsam - wie auch die inhaltliche Ubereinstimmung über vier Generationen bemerkenswert ist 10 . Bemerkenswert aber sind vor allem die methodischen Unterschiede des Vorgehens bei den Reformversuchen des 13. Jahrhunderts und bei Benedikt. Er und seine Berater haben sichtlich aus den Fehlschlägen der Vergangenheit gelernt: Sie arbeiten nicht nur genauere Anweisungen aus, sondern bemühen sich auch, die Akzeptanz der Reform zu erhöhen. Zunächst beginnen sie nicht mit einer Klage über die verheerenden Zustände, die eine Intervention dringlich erscheinen lassen, sondern stimmen die Adressaten positiv ein; sie loben die jeweils angesprochene Gemeinschaft, ihre Satzungen und ihre Lebensweise. Um dieses hohe Niveau zu halten und noch zu verbessern, hat der Papst nach reiflicher Erwägung und langen Beratungen einige Statuten herausgegeben, die er zur Annahme empfiehlt. Dieser den großen Bullen für Zisterzienser, Benediktiner und Franziskaner 11 gemeinsame Tenor P a n t i n [wie Anm. 2], S. 198); noch um 1380 hat der mit Recht berühmte Chronist und Abt Johannes von St. Bertin das scharfe Urteil seiner Vorlage (Abt Wilhelm von Andres, nach 1234) über Gregors Reformen, das den verletzten Stolz deutlich erkennen läßt, wörtlich übernommen und sich damit zu eigen gemacht ( M G H SS XXV, S. 839 f. bzw. XXIV, S. 722). Zur sehr ungleichmäßigen Aufarbeitung und ambivalenten Beurteilung der Reformen des 13. Jahrhunderts vgl. nur S. H i 1 p i s c h, Geschichte des benediktinischen Mönchtums (1929), bes. S. 279; M o 1 i t o r (wie Anm. 7); S c h m i t z (wie Anm. 2); H o u r 1 i e r (wie Anm. 7); vgl. auch unten S. 411 ff. 10 Eine Reihe von Problemen stellt sich über die Jahrhunderte hinweg in ähnlicher Form, immer wieder geht es - ungeachtet der z. T. interessanten Unterschiede im Detail um das rechte Verhalten im Kloster, um Kleidung und Nahrung, um Armut des einzelnen und rechte Verwaltung des gemeinsamen Besitzes. Wichtiges Beispiel mit langer (normativer) Nachwirkung: Gregors IX. Statuten für die Benediktiner, die in zwei Versionen, einer ursprünglichen Fassung von 1235 und einer gemäßigten Revision von 1237, an zahlreiche Klöster verschickt wurden; ed. L. A u v r a y , Les Registres de Grégoire IX. Recueil des Bulles de ce Pape (1896-1955), Nr. 3045A und B in Paralleldruck, der die Milderungen sehr gut sichtbar werden läßt; (die knappe Einleitung ist korrekturbedürftig). Vgl. z. B. cc. 15-19, 22-25, 33-34 mit Summi magistri cc. 17-18; cc. 30-32 mit cc. 12 und 16; cc. 26-29 mit cc. 9-10. Von daher - und sicher auch aus der Qualität der Statuten - dürfte sich erklären, daß sie trotz der vielen Dispensen und der sehr unterschiedlich intensiven Abhaltung von Provinzialkapiteln lange Zeit als Norm geschätzt und noch im 16. Jahrhundert immer wieder, auch unabhängig von Summi magistri, abgeschrieben wurden. Der Kontext (häufig stehen sie zusammen mit anderen, z. T. unmittelbar praxisbezogenen Reformtexten, z. B. clm 16639, 19114, 19639, 24792 aus dem Bereich der Melker Reform) zeigt, daß sie nicht nur theoretisches oder historisches Interesse fanden. In Handschriften der Cluniazenser finden wir sie oft mit der Bulle Nikolaus' IV. ( P o t t h a s t Reg 23077), die diese als grundlegende Ordnung ihres Ordo betrachteten, so z. B. in Paris, B N nouv. acq. lat. 1500 aus dem 15. Jahrhundert (daneben enthält die Hs. noch den Regelkommentar Bernhards von Monte Cassino) und Toulouse, Bibl. Mun. ms 413 mit Statuten. 11 Fulgens sicut Stella ed. C o q u e l i n e s (wie Anm. 4), S. 203-213, C a n i v e z (wie

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- in der letzten für die Chorherren ist die Einleitung viel schlichter wird aber, den unterschiedlichen Adressaten und ihrem Verhältnis zum Papst entsprechend, in charakteristischer Weise variiert. Dabei wird die .Legitimation' der Konstitutionen zunehmend betont: Bei den Zisterziensern ,reicht', daß der Abt von Citeaux und drei der vier Primaräbte als Berater daran mitgewirkt haben. Bei den Benediktinern sind es schon sechs Äbte, deren Qualifikation als doctores decretorum eigens herausgestrichen wird, dazu .einige' (nicht namentlich genannte) Kardinäle. Bei den Franziskanern, deren Verhältnis zum Papsttum seit langem gespannt war, auch Benedikt hatte sich schon in einem seiner ersten Konsistorien ein Wortgefecht mit ihrem Prokurator geliefert 12 , werden fünf Kardinäle, ein Patriarch und ein Bischof, zwei Benediktineräbte, und nicht weniger als 15 Franziskaner, darunter der Generalminister, sechs Provinzialminister, zwei ehemalige Minister, fünf Magister der Theologie und der Prokurator an der Kurie namentlich genannt 13 . Mit den Zisterziensern tut sich Benedikt offenbar am leichtesten. Gleich nach seinem Lob, gekleidet in das in ihren Statuten 14 - aber nicht nur dort - beliebte Bild vom strahlenden Morgenstern, kann er auf seine Zugehörigkeit zum Orden verweisen, seinen frommen Eifer und seine Liebe zu ihm. Sie veranlassen ihn nun, da ihm sein neues Amt die Möglichkeit dazu gibt, einige Dinge zu regeln, die wie er seit langem weiß, der päpstlichen Fürsorge bedurften, pro urgenti necessitate ac eviAnm. 5), S. 410-436 (unterschiedliche Einteilung); Summi magistri ed. C o q u e l i n e s , S. 214-240; Redemptor noster ed. M. B i h 1, Ordinationes a Benedicto X I I pro Fratribus Minoribus promulgatae per bullam 18 nov. 1336, in: A F L M 30 (1937), S. 309-390; Ad decorem (wie Anm. 5). - Wie die Prologe der Bullen formuliert auch die Einladung an die Dominikaner vom 18. Dez. 1337, zur Beratung der Reform nach Avignon zu kommen (J.-M. V i d a 1/G. M o 11 a t , Benoît XII. [1334-1342]. Lettres closes et patentes intéressant les pays autres que la France [1950], Nr. 1614; Text bei M o r t i e r [wie Anm. 1], S. 116 Anm. 1). 12 Zentrale Quellen sind die zeitgleichen, in die Chronik von Königssaal inserierten Berichte des Ordensprokurators und seines Notars (ed. J. L o s e r t h , Die Königssaaler Geschichtsquellen [SSrerAustr I, 8], S. 514 f) und der eines Unbekannten, der in verschiedene deutsche Geschichtswerke einging; minutiöse Analyse bei Schimm e l p f e n n i g (wie Anm. 1), S. 16-21. 13 Noch stärker war die Verhandlungsdelegation der Dominikaner mit 22 bzw. 17 Personen im Jahre 1339; s. K. H. S c h ä f e r , Die Ausgaben der Apostolischen Kammer unter Benedikt XII., Klemens VI. und Innozenz VI. (= Vatik. Quellen zur Geschichte der päpstl. Hof- und Finanzverwaltung 1316-1378, 3, 1914), S. 91; V i d a l (wie Anm. 5), 8986. 14 Statuten zit. nach C a n i v e z (wie Anm. 5), aber nur mit Jahr und c., hier 1301. 3; vgl. auch - ebenfalls im Zusammenhang mit einem Reformeingriff - Papst Urban IV. am 15. März 1264; ed. J. G u i r a u d , Les Registres d'Urbain IV (1261-1264). Recueil des Bulles de ce Pape ... (1901), Nr. 862.

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denti utilitate. Danach geht es sofort konkret zur Sache: zur Einführung eines Konventssiegels 15 . Bei den Benediktinern beruft sich der Papst zunächst auf sein Amt, die ihnen auch aus ihrer Regel vertraute Verantwortung des Hirten für seine Herde. Er lobt dann ihre religio mit Worten, die teilweise dem Prolog der Bulle Fulgens entsprechen; er beteuert, ihm sei bekannt, daß für ihren gesunden und glücklichen Zustand gesorgt sei, tarn per reguläres institutiones der längst verstorbenen Väter, quam etiam per juridicas sanctiones. Wieso bedarf es dann neuer Statuten? Nur aus Sorge um noch größeres Heil und noch besseres Wohlergehen, nicht etwa, um dringenden Mißständen - wie er sie bei den Zisterziensern dezent angedeutet hatte - abzuhelfen, werden sie erlassen, sondern, wie ausdrücklich und wortreich ausgeführt wird, ut eadem religio ... floreat, ... fulgeat, ... praeemineat ... rutilet, nec decrescat ... sed potius augeatur, vigeatque ... caritatis soliditas, & persistât sanctimoniae fortitudo. Sie geben sich nicht als Reaktion auf eine Krise; sie wollen allenfalls vorbeugen, damit der Wohlstand nicht ab-, sondern zunehme; soliditas caritatis und sanctimoniae fortitudo sollen nicht wieder belebt werden, sondern fortbestehen. Bestehende Rechte und Statuten sollen, wie hier eigens betont wird, nicht abgeschafft, sondern bestätigt werden (approbare), freilich - soweit sie diesen päpstlichen nicht expresse entgegenstehen. Man muß nicht viel von der Lage der Benediktiner um 1336 wissen, um zu erkennen, daß hier eine diplomatische Erklärung vorliegt, die wohl den Vorbehalten der auf ihre Selbständigkeit bedachten Benediktiner entgegenkommen wollte - wenn es nicht gar ein ausgehandelter Kompromiß war 16 . Die Meinung des Papstes jedenfalls war entschieden schlechter: Im Bewußtsein, daß der Orden der Cluniacenser und der Benediktiner und 15 Bull. Rom. §§ 1-3, C a n i v e z 1-2; ein Siegel des Konvents, das Benediktiner seit mehr als 150 Jahren gebrauchten, hatten die Zisterzienser ausdrücklich verboten (Stat. 1218. 17 und 45; danach im Libellas diffinitionum seit 1237 (ed. B. L u c e t , Les codifications cisterciennes de 1237 et de 1257, [= Sources d'histoire médiévale publ. par l'Institut de Recherche et d'Histoire des Textes, 1977], S. 297 f.). Das Statute of Carlisle forderte es bereits 1306 für die englischen Klöster der Zisterzienser und Prämonstratenser, die noch keines hatten; vgl. R. H. S n a p e , English Monastic Finances in the Middle Ages (1926), S. 58, und unten S. 401 ff. 16 Prolog, S. 214 f. Nicht zu lösen ist das immer wiederkehrende Problem, wer beteiligt war, welche Ideen einflössen, welche zurückgewiesen wurden, obgleich dies gerade bei den Bullen, die im Zusammenwirken der Kurie mit Ordensvertretern erarbeitet wurden, besonders interessant wäre; vgl. auch H. H e i m p e 1, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162-1447, Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel (= Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 52, 1982), S. 366 ff.

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ihre Angehörigen dringend einer Reform bedürften, schrieb er am 22. Dezember 1335 an den französischen König, habe er den Abt von Cluny und einige Äbte schon vor einiger Zeit (pridem) nach Avignon gerufen, um mit ihnen eine reformatio zum Lobe Gottes, zum Heile der Seelen und zum Nutzen dieser .Orden' zu bewerkstelligen. Man habe dank ihrer Hilfe auch schon einen guten Teil der Arbeit vollendet, aber noch nicht zu einem Ende gelangen können - cum multa circa illam occurrerint et occurrant ardua. Das klingt härter als die quamplurimi articuli, die nach" Fulgens der päpstlichen Regelung bedurften, und erst recht härter als der schöne Prolog der benediktinischen Bulle. Wie lange die Äbte schon in Avignon waren, wissen wir nicht, es scheint aber eine beträchtliche Zeit verstrichen zu sein, und der Papst täuschte sich, wenn er hoffte, die Reform werde in Kürze {in proximo) abgeschlossen sein17 - d i e Bulle ließ noch sieben Monate auf sich warten. Im Lichte der päpstlichen Äußerungen vom Dezember, wenn diese nicht rein diplomatischer Natur waren, wofür wenig spricht, wird man darin eher ein Indiz für die Schwierigkeit der Verhandlungen als für mangelnde Intensität der Arbeit sehen wollen. Dieser Brief gibt, in Verbindung mit anderen Dokumenten, auch einen wertvollen Hinweis für die Beantwortung der Frage, wann der Papst die Reform der einzelnen Orden ins Auge gefaßt hat, ob es sich dabei um einzelne Maßnahmen handelte, die von Fall zu Fall, als Reaktion auf ihm bekannte oder dargelegte .Mißstände', ergriffen wurden, oder um die Entfaltung eines reformerischen Programms, das er von Beginn seines Pontifikates an im Blick hatte und nacheinander .abarbeitete'. Seine eigene Vergangenheit, die Reihenfolge und die zeitliche Staffelung der Bullen legt ja die verbreitete Interpretation nahe, Benedikt habe zunächst die Reform der ihm näherstehenden und aus eigener Erfahrung bekannten Zisterzienser ins Auge gefaßt, sich dann den verwandten Benediktinern, später den ihm ferner stehenden Mendikanten und schließlich den Kanonikern zugewandt. Dies gilt nur für die Vorlage der Ergebnisse, der Bullen, wozu es ja bei den Dominikanern trotz langer Arbeit nie kam, nicht aber für den Beginn der Vorbereitungen und die Entwicklung einer Konzeption. Benedikts Formulierung im Prolog von Fulgens über die Möglichkeiten, die ihm sein neues Amt nunmehr gegeben habe, die sicher bezeugte Tatsache, daß schon 1335 zumindest auch an der Reform der Benediktiner und der

17 D a u m e t (wie Anm. 4), 131; Stat. Cluny 1336 (ed. G. C h a r v i n , Statuts, Chapitres généraux et visites de l'ordre de Cluny, 9 Bde., 1965-1979, hier III, S. 237).

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Franziskaner gearbeitet wurde 1 8 , läßt an die Realisierung eines persönlichen Programms denken, auch wenn in den Ankündigungen Benedikts in seinen ersten Konsistorien kein Hinweis auf eine umfassende Ordensreform, sondern nur eine Erklärung gegen die an der Kurie vagierenden Mönche und die, von den Mendikanten selbst provozierte Aussage zur Gültigkeit der Bulle Super cathedram zu finden ist 19 . So gab sich Durandus, der Prokurator der Zisterzienser an der Kurie, am Tage nach der Krönung Benedikts noch ganz seiner ungetrübten Freude über die Erhebung .ihres' Kardinals auf den Stuhl Petri hin: In ihm werde der Orden, dem er in einem geringeren Amt ein frommer promotor gewesen 20 , nach allen Gesetzen der Ratio nun einen äußerst großzügigen Liebhaber {gratiosissimum amatorem) haben; nicht umsonst habe er sich ja Benedikt genannt. Offenbar war der Prokurator noch nicht, wie zu Zeiten Johannes' X X I I . , durch eine ,drohende Reform' des Ordens alarmiert 21 . Gegenüber der Betonung der persönlichen Intentionen Benedikts sollte man aber die Möglichkeit nicht außer acht lassen, daß die Ordensführung der Zisterzienser zunächst die treibende Kraft war. Sah sie nun die Chance, da ihr promotor die Macht dazu hatte, einige Probleme, die sie mit Generalkapitelsbeschlüssen nicht befriedigend hatte lösen können, nun mit Hilfe der höheren Autorität des Papstes gegen Widerstände im Orden .durchzusetzen? Das könnte auch für Dinge gelten, die man gern Benedikt persönlich zuschreibt, wie etwa die detallierten Vor18 Vgl. etwa S c h m i t t (wie Anm. 1), S. 3 und 12, dagegen aber die Belege bei S c h ä f e r (wie Anm. 13), S. 21 und 45 zum 11. Dez. 1335 und 26. Juni 1336., sowie oben Anm. 11, 13 und 17. 19 Vgl. S c h i m m e l p f e n n i g (wie Anm. 1), S. 16-21. 20 Benedikt war jahrelang Kardinalprotektor seines Ordens; 1328 beschloß das Generalkapitel die Aufbringung der Pension für ihn (c. 13); ihre Höhe und die Erwartungen, die daran geknüpft waren, gehen aus der päpstlichen Bestätigung vom 22. Okt. 1328 hervor (G. M o 11 a t , Jean X X I I . [1316-1334], Lettres communes, 16 Bde. [1916-1947], hinfort abgekürzt RJ, Nr. 3715). Bei einer Dotierung von 2000 fl., die schon im nächsten Jahr erhöht wurde, wird man in dieser bei den Zisterziensern noch unzureichend erforschten .Lobbyistentätigkeit' mehr als ein .Ehrenamt' sehen - und die .Klienten' erwarten einen entsprechenden .Ertrag', wenn dies auch nur selten so deutlich bezeugt ist wie in R J 3715, in einer Urkunde Papst Alexanders IV. von 1257 (ed. J . - B . M a h n , L'ordre cistercien et son gouvernement des origines au milieu du X I I I e siècle [1098-1265] [= Bibl. des Ecoles Françaises d'Athènes et de Rome 61, 1945], S. 270; vgl. das Zehntprivileg ebd. 271) oder in der Chronik der englischen Zisterze Meaux (ed. E. A. B o n d , 3 Bde. [RerBrit], 1866-1868, III, S. 153). Vgl. auch unten S. 406 mit Anm. 101. 21 Wie Anm. 12. Für die .Gefahren' in den ersten Jahren Johannes' X X I I . vgl. die Statuten 1316. 1, 1317. 7 und 18, 1318. 19, 1319. 3 und das Gutachten des Abtes von Chaâlis, Jacques de Thérines, der schon in Vienne die Privilegien seines Ordens erfolgreich verteidigt hatte; N . V a l o i s , Un Plaidoyer du X I V e au faveur des Cisterciens, in: B E C 49

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Schriften über das Studium der Mönche, die in den Bullen für die Benediktiner, Zisterzienser und Kanoniker schon durch ihren Umfang auffallen22. Sie sind es auch, die er bei seinen jährlichen Briefen an das Generalkapitel der Zisterzienser über die allgemeinen Mahnungen zur Beachtung der neuen Statuten hinaus, den Äbten als einzige besonders ans Herz legt. Andererseits zeigt ein Vergleich auch nur mit den Statuten der Zisterzienser (von denen der Dominikaner ganz zu schweigen, selbst die Cluniazenser beschäftigten sich auf ihren Generalkapiteln immer wieder damit), daß diese Probleme brandaktuell sind, daß die Zisterzienser besonders in den Jahren unmittelbar vor Benedikts Pontifikat energische Anstrengungen zu einer gründlichen Reorganisation machen - die er und seine Berater in Fulgens aufgreifen. Benedikt ist hier also weniger wegweisend als bestätigend und helfend tätig; es sei denn man wollte ihn als spiritus rector hinter den jahrzehntelangen Bemühungen des Generalkapitels sehen. Dafür aber gibt es keinen Anhaltspunkt, da er just zu der Zeit, als die Intensität der Beschlüsse zunimmt, bereits Bischof war, wie er auch vorher nie auf einem Generalkapitel nachzuweisen ist. Ahnlich ist auch das Insistieren in seinen Briefen an das Generalkapitel nicht allein als Ausdruck eines persönlichen Anliegens zu interpretieren; es bestätigt, wie schon die ständige Wiederkehr der Forderungen, mehr noch der Klagen, und die immer erneuten ,Reformversuche' in den Akten des Generalkapitels, daß sie nur schwer in die Tat umzusetzen waren und besonderen Nachdrucks bedurften23. Ähnliches gilt für die Organisation der Ordensfinanzen - Ausschreibung, Eintreibung und Verwaltung der seit geraumer Zeit jedes Jahr verfügten .Kontributionen' der einzelnen Abteien, welche die .kindliche Hilfe für die Mutter' aus der Frühzeit abgelöst hatten. Insbesondere seit dem Ende des 13. Jahrhunderts mußte der Orden immer größere Summen für Zahlungen an Herrscher, an Päpste, an verschiedene Interessenvertreter an der Kurie, für Verwaltungs- und Organisationskosten etc. aufbringen. Auch hier zeigen schon die Statuten, wie schwer die Forderungen der Ordensspitze zu realisieren waren24. (1908), S. 352-368; zur Seriosität seiner (finanziellen) Argumente zuletzt P. K i n g , The Finances of the Cistercian Order in the Fourteenth Century [= Cistercian Studies Series 85, 1985], S. 95 f.). Zu gleichzeitigen Gerüchten bei den Benediktinern P a n t i n (wie Anm.2), S. 211 f. 22 Vgl. insbesondere B o e h m (wie Anm. 1). Schon M a h n (wie Anm. 1), S. 50-75, hatte ihnen als einzigem Gegenstand der Bulle ein eigenes Kapitel gewidmet. 23 Vgl. unten Anm. 77. 24 Die Statuten lassen die verschiedenen Aspekte der Entwicklung deutlich erkennen. Insbesondere seit dem Beginn des Pontifikats Johannes' X X I I . scheinen sich die Probleme

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Immer wieder, nicht nur bei den Zisterziensern, sondern auch bei den auf Distanz bedachten Benediktiner, bei Franziskanern oder Dominikanern, finden sich Beispiele dafür, daß sich führende Äbte bzw. die Ordensleitung an den Papst wandten, um seine Hilfe gegen Mißachtung der ordensinternen Normen zu erbitten, Maßnahmen zu legitimieren, die auf dem .ordentlichen Verfahrensweg' nicht oder nur schwer durchgesetzt werden konnten. Das war scheinbar unproblematisch, wenn die Interessen der Ordensleitung und des Papstes identisch waren, wie bei den beiden genannten Bereichen oder auch beim Besuch der Generalkapitel. Zugleich aber öffneten derartige Bitten, auch im positiven Fall, eines der,Einfallstore' für den päpstlichen Zugriff auf Ordens- und Klosterinterna, wie sich gerade unter Johannes X X I I . und Benedikt X I I . zeigte. Keineswegs aber läßt sich die Bulle auf die Erfüllung von Wünschen der Äbte reduzieren; die Einführung eines Konventssiegels z. B. widersprach den zisterziensischen Normen und den Interessen der Äbte, wurde aber dennoch als erster Punkt in der Bulle gefordert. Umgekehrt fand ein altes Anliegen der Ordensspitze keine Berücksichtigung, obwohl Benedikt damit während seiner Zeit als Kardinal betraut worden war: Wie andere Klosterverbände und Orden auch versuchten die Zisterzienser den .Drang' einzelner Äbte und Mönche zur Kurie zu drosseln. Wenn die Reise schon nicht zu unterbinden war, so wollte man sie zumindest kontrollieren und möglichen Schaden für die Gesamtheit abwenden. Die entsprechenden Maßnahmen des Generalkapitels insbesondere unter den Pontifikat Johannes' X X I I . hatten offenbar nicht den gewünschten Erfolg, so daß der Papst, auf Bitten des Abtes von Citeaux, den Kardinal Jacques Fournier mit einer Untersuchung des Problems der vagierenden Zisterzienser an der Kurie betraute 25 . - Danach hören wir nichts mehr davon, auch nicht in der Bulle, denn in diesem Punkt stimmten die Interessen des Papstes und der Ordensleitung nur zum Teil überein. Auch er war gegen das Vagieren der Mönche, wie er in einer eigenen Bulle demonstrierte, zugleich aber hatte er auch ein Interesse daran, .ungefilterte' Informationen aus dem Orden zu bekommen 26 . verschärft zu haben, neue Organisationsformen gesucht worden zu sein; vgl. etwa Stat. 1321. 15, 1322. 10, 1323. 9, 1326. 4 (ganz detailliert), 1328.14, 1329. 7, 1330. 8 und 10, 1331. 7 und 11, 1334. 4 (wiederum sehr ausführlich). Zu den Finanzen des Ordens jetzt, mit Schwerpunkt auf der Zeit nach 1337, K i n g (wie Anm. 21). 25 RJ (wie Anm. 20), 47550. 26 Neben finanziellen und disziplinarischen Gründen spielt für die Orden vor allem die Abschirmung gegen externe Autoritäten jeder Art eine entscheidende Rolle. Vgl.

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Benedikt täuschte sich über den Interessengegensatz und die Schwierigkeiten, die Bulle tatsächlich durchzusetzen, nicht; in deutlich schärferem Ton als in der Bulle selbst forderte er in seinem Brief an das Generalkapitel, die Annahme und Beachtung der Bulle: attendentes pridem itaque quod ordo predictus qui propter abusum et ineffrenatam audatiam nonnullorum professorum ipsius, multus concussus extitit actenus spiritualibus incommodis et in posterum concuti, nisi remediis provideretur salubribus27.

Dieses Problem möglicher unterschiedlicher Interessen der an den z. T. langwierigen Beratungen Beteiligten, wie viele andere technischer und inhaltlicher Art, lassen sich freilich nur unzureichend klären, da .Akten aus dem Geschäftsgang' (Einladungen, Entwürfe, Gutachten, etc.) bis auf verschwindende Ausnahmen28 offenbar nicht überliefert sind. Wir wüßten insbesondere gern, in welchen Punkten z. B. die Bulle Fulgens über die Wünsche ,der Ordensvertreter' hinaus gegangen ist, wo sie dahinter zurückgeblieben ist, wo sie sich bewußt darüber hinweggesetzt hat - zumal wir nicht wissen, ob diese einer Meinung waren, und wenn ja welcher; ebensowenig kennen wir die .ursprünglichen Intentionen' Benedikts und seiner Umgebung, so daß die Bulle für uns das Resultat zweier unbekannter Vektoren ist, deren Richtung und Stärke wir kaum abschätzen können. Ja, wir können meist nicht einmal

schon Carta Caritatis (wie Anm. 5, S. 133) und Lib. diff. von 1237/57 Dist. IV. 31-33/1-3 (wie Anm. 15, S. 254 f. und ebd. 104 f.); dazu P o t t h a s t , Reg 24471, die Verschärfung in Stat. 1318. 9, 1324. 6, 1329. 6 und die Argumente der Denkschrift (wie Anm. 28), S. 125-129. Das .Ringen' zwischen Kurie und Orden wird besonders deutlich bei den Dominikanern; Höhepunkt einerseits: Acta capitulorum generalium ordirtis Praedicatorum, ed. B. M. R e i c h e r t , II (=Monumenta Ordinis Fratrum Praedicatorum 4,1899), S. 240; vgl. S. 249 zum Abbruch der Serie im Jahre 1337 bis 1342, und V i d a 1/ M o 11 a t (wie Anm. 11), 1711 andererseits. 27 D a u m e t (wie Anm. 4), 93. 28 Gemeinhin glaubt man auch ein ,Gegengutachten' zum .Entwurf' der Bulle zu besitzen; ed. M a h n (wie Anm. 1), S. 83-135 als „Protestation des abbés cisterciens contre la réforme projetée par Benoît XII.". Mahn datierte sie, vor allem wegen des Protests gegen das Konventsiegel, ins Vorfeld von Fulgens, doch war er sich nicht so sicher, wie es die ihm folgende Literatur allenthalben annahm (vgl. bes. S. 42 Anm. 3; anscheinend war ihm - und seiner Herausgeberin - der Hinweis bei B a 1 u z e/M o 11 a t [wie Anm. 1], 2, S. 309 nicht bekannt; vgl. S. 5). Der nur in einer Art Entwurf und in einer Handschrift überlieferte relativ lange Text bedarf noch einer genaueren Analyse, bereitet er doch einige formale wie inhaltliche Probleme, die es schwer machen, ihn in unmittelbaren Zusammenhang mit Fulgens zu bringen. Mußte man z. B. den Zisterzienser Benedikt XII. über die Carta Caritatis, die Konstitutionen, wesentliche Verfassungselemente und Brau-

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mit Sicherheit sagen, wann die Beratungen begannen und wer im einzelnen daran beteiligt war. Auf jeden Fall muß die Arbeit sehr bald und sehr zügig begonnen worden sein, denn kaum sechs Monate nach Benedikts Krönung liegt Fulgens vor. Und das ist auch für einen Orden mit einer gut funktionierenden Zentralgewalt und einer effektiven Vertretung an der Kurie, über beides verfügten die Zisterzienser zu der Zeit, knapp. Zu den ergänzenden Quellen, die auf die Entstehung dieser Bulle Licht werfen können, gehören insbesondere das zitierte Schreiben des Papstes vom 12. August 1335, wo er neben den Äbten, die wir schon aus der Bulle kennen, nur vage von weiteren viri providi et discreti spricht, die Rechnungsbücher der päpstlichen Kammer und schließlich die Beschlüsse des Generalkapitels selbst. Die Rechnungsbücher notieren zum 6. - 13. Mai 1335: comederunt 6 abbates ord. eist., zum 8. - 15. Juli: comederunt abbas Cist. et multi magistri - sind es die erwähnten viri providi? Ein Zusammenhang mit der Bulle kann in beiden Fällen nicht bewiesen werden, aber immerhin wurde sie am 12. Juli ausgefertigt29. Leider werden, im Unterschied zu Franziskanern oder Dominikanern keine Namen genannt, doch lassen sich die sechs Äbte vom Mai mit einiger Sicherheit identifizieren, wenn sie im Zusammenhang mit der Bulle stehen. Sie selbst, der Papstbrief vom August und ein Generalkapitelbeschluß vom September 1335 nennen vier Berater: die Äbte von Citeaux, La Ferte, Clairvaux und Morimond - das sind alle Primaräbte mit Ausnahme des Abtes Thomas von Pontigny. Warum er fehlte, ist nicht zu ermitteln30. Die Delegation der Zisterzienser war aber mit Sicherheit viel größer, beschloß doch das Generalkapitel 1335 eine Sonderumlage in Höhe von nicht weniger als 24 000 1. tur. necessario faciendam pro expensis et servitiis f actis in romana curia per dominos Cistercii, Firmitatis, Claraevallis et Morimundi in visitatione che seines Ordens .informieren' (S. 85, 118-122)? Konnte man ihn mit Behauptungen zu überzeugen hoffen, die schon Beschlüsse der Generalkapitel glatt widerlegten (S. 112 oder 134 z. B.)? Sehr fragwürdig erscheint mir die Idee eines Zusammenspiels Benedikts mit reformfreudigen .einfachen Mönchen' gegen die .die Abte' (S. 42 Anm. 3, S. 135 Anm. 1); vgl.dagegenS. 86, 108 mit D a u m e t (wie Anm. 4), 93. 29 S c h ä f e r (wie Anm. 13), S. 21; V i d a 1 (wie Anm. 5), 2344 - übrigens mit der hohen Taxe von 350/400 (vgl. unten Anm. 118). Diese magistri sind wohl zu unterscheiden von denen der Theologenkommission zur Visio-Frage, deren Arbeit seit dem 4. Juli bezeugt ist; S c h ä f e r , S. 22; vgl. A. M a i e r , Schriften, Daten und Personen aus dem Visio-Streit unter Johann X X I I . (1971), wieder in: d i e s . , Ausgehendes Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Geistesgeschichte des 14. Jahrhunderts (= Storia e letteratura 9 7 , 1 0 5 , 1 3 8 , 1 9 6 4 - 1 9 7 7 ) , Bd. 3, S. 543-590, bes. S. 569 und 581 f. 30 Der von G. M ü l l e r genannte Grund - er habe sein Kloster in Schulden gestürzt (Vom Cisterzienserorden [1927], S. 101) - überzeugt nicht.

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domini Summi pontificis (c. 6), die offizielle Ordensspitze. Gleichzeitig ratifizierte es ein Darlehen von 13 000 fl., das die genannten Abte und

der von Hautecombe pro expensis et servitiis f actis in romana curia ra-

tione et nomine totius ordinis aufgenommen hatten, (c. 7). Man wird daraus schließen können, daß auch Stefan von Hautecombe zu den Beratern der Bulle gehört hatte. Das gleiche möchte ich analog zu den Franziskanern für den Ordensprokurator und Abt Wilhelm von Boulbonne annehmen. Abt seit 1316, Magister in Paris 1319, war er seither wiederholt mit Fragen der Studienreform und Statutenänderungen betraut worden und hatte, wohl seit seinen Pariser Studientagen, enge Beziehungen zu Benedikt XII. 3 1 . Beide Äbte wurden 1335-1337 häufiger als andere Zisterzienser als Exekutoren kurialer Entscheidungen eingesetzt 32 ; beide wurden 1335 bzw. 1338, vom Generalkapitel mit der reformatio et renovatio Libelli diffinitionum, 1338 unter Berücksichtigung der neuen päpstlichen Statuten, beauftragt, beide waren auch noch später mit dieser Problematik befaßt 33 . Der finanzielle Aufwand für die Verhandlungen war übrigens enorm, wenn wir auch kaum ahnen können, wo das viele Geld geblieben ist. Dasselbe gilt für die häufiger erwähnten Kontributionen ,zur Verteidigung der Freiheit des Ordens' in früheren Jahren. Neben dem Aufwand für den Lebensunterhalt und Honorare für eine vermutlich kopfstarke Delegation, die sich monatelang in Avignon aufhielt, was wir aber nicht wissen und auch nicht berechnen können 34 , sowie dem .regulären Aufwand' für die Interessenvertretung an der Kurie, wird man vor allem an .nützliche Aufwendungen' denken, die auch heute kaum verbucht werden 35 . 31 Vgl. schon RJ (wie Anm. 20), 9388; zu den Statuten von 1321 bis 1334 s. unten Anm. 77; V i d a 1 (wie Anm. 5), .7, 399,2426 etc. und unten S. 405 f. 32 Für Stefan: V i d a l 20, 2886, 3080, 3119, 4130, 4199, 4417, 4431, 5816 (vom 27. Nov. 1337) - andere Zisterzienseräbte kommen dagegen hier kaum vor. 33 Stat. 1355. 8, 1338. 11 Stefan mit dem Abt von Chassagne; vgl. unten S. 405 f. 34 Vgl. die bescheidenen Summen, die Benedikt für die Mitglieder der VisioKommission (wie Anm. 29) und für die franziskanischen und dominikanischen Berater aufwandte (200 fl. z. B. am 11. Dez. 1335; S c h ä f e r [wie Anm. 13], S. 21 f., 91). 35 Zur Größenordnung: Der Kardinalprotektor bezog 3000 fl. im Jahr, der Kardinal Napoleon Orsini auch noch 400 fl., der Ordensprokurator 250 fl.; aus den 1337 - und damit für uns zu spät - einsetzenden Abrechnungen gehen auch .außerordentliche' Aufwendungen des Ordens hervor; so Geschenke von 800 fl. für Benedikt im Jahre 1338 (dazu noch Wein), von 3411 l.tur. und 825 fl. im Jahre 1340; vgl. K i n g (wie Anm. 21), S. 174 ff. mit Beträgen bis zu 20 fl. für Bischöfe und Kardinäle und 15. s. für Türhüter etc. Die in den Statuten genannten Summen werden keinesfalls erreicht; sie entsprechen ungefähr denen, die C. B r ü h l als Aufwand für Heinrichs VII. Italienzug berechnet hat (Fodrum, gistum und servitium regis [Kölner Hist. Abh. 14, 1-2, 1968], S. 636-640). Von erheblichem Aufwand durch die Beratungen erfahren wir auch in Cluny und St.-Victor, für die Verteidigung der Freiheit des Ordens bei den Dominikanern.

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Konnte Benedikt sich bei seinem Orden für die Erarbeitung und Publikation der Bulle an die verfassungsmäßige Spitze wenden und auf eine alle Zisterzienser verpflichtende gemeinsame Norm rekurrieren, so mußte das Verfahren bei den vergleichsweise unorganisierten Benediktinern sehr viel komplizierter sein. Der Papst selbst weist darauf hin in seinem bereits zitierten Brief an den französischen König36. Die Schwierigkeiten begannen bereits mit der Zusammenstellung der Kommission. Wer war so legitimiert für alle Benediktiner zu sprechen, wie es der Abt von Citeaux und die Primaräbte für die Zisterzienser waren? Niemand, also hatte der Papst wohl freie Hand, wen er einlud. Deshalb und angesichts der Vielfalt bendiktinischer Lebensformen verdienen die monastischen Berater der Bulle Summi magistri besondere Aufmerksamkeit. Woher kommen sie? Welche Ausbildung, welcher Werdegang, welches monastische und sonstige Milieu, welche Erfahrungen in Kloster und Welt haben sie geprägt? Halten wir uns zunächst an die Aussagen der Bulle. Sie nennt sechs Abte, von anderen Beratern wissen wir nichts, obwohl es sie zweifellos gegeben hat; sie alle waren Abte bedeutender Klöster und, wie eigens betont, decretorum doctores, eine bei den Benediktinern nicht seltene Kombination, während den Zisterziensern das Jurastudium neuerlich streng verboten worden war 37 . Sie alle stammten aus dem Süden bzw. der Mitte Frankreichs, wie unter einem .avignonesischen Papst' fast zu erwarten. Was qualifizierte sie sonst noch? Der Abt von Cluny, Pierre de Chastelus, bot sich an, als Haupt des größten Verbandes, der reiche Erfahrungen mit Statuten und Generalkapiteln, aber auch mit Verfassung- und Disziplinproblemen im eigenen Verband wie in anderen Klöstern hatte - und seit Jahrzehnten in engen Beziehungen zur Kurie stand. Schon als Prior von Roussac (Diöc. Limoges) war der Sproß eines Adelsgeschlechtes aus der Creuse 1313 mit einer Untersuchung der schweren Vorwürfe gegen den Abt Wilhelm von St-Victor in Marseille beauftragt worden; auch unter Johannes XXII., unter dem er schnell Karriere machte, wurde er dort wieder aktiv, nun, seit dem 31. Oktober 1316, als Abt von St-Serge d'Angers. Wenig später wurde er Abt in Montolieu (bei Carcassonne) und am 5. November 1322 in Cluny. Bei diesem schnellen Aufstieg kam ihm sicher zugute, daß er nicht nur als procurator seines Ordens an der Kurie, sondern auch für diese selbst wieder tätig war 38 . Bereits die 36 D a u m e t ( w i e A n m . 4 ) , 131. 37 Fulgens hatte gerade das strikte Verbot festgeschrieben. 38 Regestum Clementis Papae V ... ed. cura et studio monachorum ordinis s. Benedicti, 8 Bde. (1884-1892), Nr. 9561 f; RJ (wie Anm. 20), 2490, 3079; 1676, 13833, 16564.

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Papsturkunden, die er sich nach seiner Erhebung ausstellen ließ, zeigen auf deutlichste die Probleme des Verbandes, insbesondere auch die (vor allem durch die Verpflichtungen gegenüber der Kurie) schwierige finanzielle Situation Clunys, desgleichen die Bemühungen des neuen Abtes ihrer Herr zu werden, meist in enger Zusammenarbeit mit dem Papst, der aber auch erheblich durch seine Forderungen und Interventionen zu den Problemen des Klosters und des Verbandes beitrug 39 . Wie Petrus seine .eigentlichen', monastischen Aufgaben als Abt wie als Haupt seines Klosterverbandes einschätzte und wahrnahm, ist schwer zu sagen. Die faktische Leitung des großen Konvents in Cluny lag beim Großprior, der auch mit den Definitoren die Generalkapitel abhielt, bei denen Petrus nicht immer zugegen war, genausowenig wie bei der anschließenden Visitation in Cluny. Petrus dürfte wenig dort geweilt haben, mußte er doch neben seinen Verpflichtungen gegenüber der Kurie auch dem französischen König zur Verfügung stehen; so ließ er sich 1333 als consiliarius regis vom Papsf das Recht geben, seiner Visitationspflicht durch Vertreter genügen zu dürfen; 1335 reklamierte der französische König bekanntlich bei Benedikt seine .ständige Präsenz' in Paris; Ende 1342, wenige Monate nach Benedikts Tod, wurde er von Clemens VI. zum Bischof von Valence-Die erhoben 40 . Über eine ähnlich reiche Erfahrung mit der Leitung eines Großverbandes, in engen Beziehungen zur Kurie, verfügte auch Johannes von La Chaise-Dieu. Der Sohn einer erst in seiner Generation zum Rittertum aufgestiegenen reichen Kaufmannsfamilie in Le Puy wurde als Prior von Cabrespine (Diöc. Rodez) 1318 zum Abt gewählt und war bis 1342, als er von seinem ehemaligen Mönch, Papst Clemens VI., - Nach G. d e V a l o u s verdankte er dem Papst seine ,Wahl' in Cluny (Le monachisme clunisien des origines au X V e s., 2 Bde. [1970 2 ], Bd. 2, S. 127; seine Hinweise zu Petrus, auch in D H G E 13, Sp. 99 s.v. Cluny, sind unzureichend, teilweise falsch). 39 Vgl. etwa 16640, 18189, 1 9 2 1 4 , 1 9 2 2 6 , 1 9 2 4 5 , 1 9 8 6 0 - 6 2 , 28522; insgesamt erfahren wir hier von 26000 fl. Darlehensaufnahmen. Reiche Zeugnisse liefern die z. Zt. unter Leitung von Herrn M e 1 v i 11 e untersuchten Statuten, Definitionen und Visitationsberichte Clunys (wie Anm. 17), auf die ich daher nicht näher eingehen möchte; s. als ersten Uberblick G. M e 1 v i 11 e, Cluny après „Cluny". Le treizième siècle: un champ de recherches, in: Francia 17 (1990), S. 91—124 . C h a r v i n (wie Anm.17) ediert im .Statutenband' (Bd. 1) keine .Texte aus der Zeit des Abtes Petrus; vgl. aber in Bd. 2, S. 535-539 unter den Diffinitiones Allemanniae und 3, S. 2 2 - 2 4 unter Diff. Arvemiae und eine Reihe von Urkunden, die Papst Johannes X X I I . auf Wunsch des Abtes ausstellte (RJ 19189, 29767, 52325, 52611 etc). 40 RJ 62190 ...et percipiendi summae a Nicoiao Papa IV statuta pro qualibet die; D a u m e t (wie Anm. 4), 131; Hierarchia catholica medii aevi, I. ed. K. E u b e 1 (1913 2 ; Nd. 1960), S. 513; Nachfolger wurde einer der Favoriten Clemens' VI. Petrus ist als Bischof von Valence noch jahrelang bezeugt; vgl. noch B a l u z e / M o l l a t (wie Anm. 1), 2, S. 348.,

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ebenfalls zum Bischof (seiner Heimatstadt) erhoben wurde, „un des plus savants et des plus énergiques parmi les supérieurs de la ChaiseDieu" 41 . Diese Qualitäten waren in seinem Kloster, wie in dem von ihm abhängigen Verband auch notwendig, waren doch beide zu Beginn seines Abbatiats von schweren Problemen erschüttert. Konzilianter als seine Vorgänger arrangierte er sich mit der Entwicklung im Innern, die auch in La Chaise-Dieu zu einer weitgehenden Trennung zwischen Konvent und Abt geführt hatte. Ihren äußeren Ausdruck kann man in der Residenz des Abtes in einem seit 1307 bezeugten, 4 km vom Kloster entfernten Schloß, ihre rechtliche Ausformung in den .Statuten' von 1303 sehen - einem in Rom unter Vermittlung zweier Kardinäle zwischen Prokuratoren des Abtes und des Konventes bzw. der Prioren ausgehandelten, von beiden Seiten und den Kardinälen besiegelten förmlichen Vertrag, der vor allem die Rechte des Abtes beschneidet 42 . Johannes akzeptiert auch das Verlangen der Mönche, die Verwaltung des Konventsvermögens in die Hand eines von ihnen zu wählenden und abzusetzenden Pitanziars zu legen, während sein Vorgänger, in Verkennung der Realität, ihn in seine Abhängigkeit hatte bringen wollen. Wieweit der doctor utriusque, den Kardinal Petrus de Pratis, ein enger Landsmann Johannes' X X I I . und seit 1325 Vizekanzler, an der Kurie eingeführt hatte, wo er als auditor fungierte 43 , dennoch in seinem Kloster .präsent' war, ist schwer zu sagen. Einerseits hatte er 1318 bereits zwei Prioren, den Kämmerer und Infirmar der Abtei zu seinen Generalvikaren bestellt und ist dort sehr viel weniger nachzuweisen als im Dienst der Kurie, die er umgekehrt (wie Petrus) auch für seine Zwecke nutzte; andererseits setzte er immerhin Summi magistri in seinem Kloster zumindest in Statuten um. Tiefere monastische Interessen wird man auch bei ihm nicht annehmen wollen; sehr schnell jedenfalls nutzte er die Chance, daß einer seiner ehemaligen Mönche nach Benedikts Tod

41 P.-R. G a u s s i n , L'Abbaye de la Chaise-Dieu (1043-1518) (1962), S. 416, ähnlich S. 423. Die sehr ausführliche Monographie informiert über die Struktur und Entwicklung der Abtei und des Verbandes, die das angedeutete Bild vielfach vertiefen und belegen könnte (vgl. bes. S. 207-211, S. 423-457 über die Äbte, S. 461-524 über die Ämter des Klosters und die Einkünfte des Konvents); im Folgenden sind die Angaben über Johannes (S.416—423) ergänzt aus den Papstregistern und GChr 2, Sp. 342. 42 Articuli inter abbatem et conventum, ed. als „Statuts de réforme de l'abbé Äymon de la Queille (1303)" bei G a u s s i n , S. 683 f.; die in der Einleitung betonte ,Satzung ' durch den Abt wird durch den Inhalt mehr als relativiert. 43 Pierre Despres, der erst 1361 starb, war, zunächst als Erzb. von Aix, einer der engsten Mitarbeiter Johannes' XXII.; B a l u z e / M o l l a t (wie Anm. 1), 2, S. 245-249. Als Johannes 1318 Abt wurde, ging sein Priorat an einen Kardinal, der es aber bald gegen ein anderes eintauschte (RJ wie Anm. 20], 7301,9475 f.).

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den Stuhl Petri bestieg, für den Ausbau der quasiepiskopalen Rechte des Abtes von La Chaise-Dieu, bevor er sich selbst zum Bischof seiner Heimatstadt erheben ließ 44 . Reiche, aber sehr wechselhafte Erfahrungen als Abt eines großen Kloster mit zahlreichen abhängigen Prioraten hatte auch Abt Gregor von Issoire, war er doch schon von Clemens V. einerseits mit der Inquisition gegen die Templer in Spanien betraut, andererseits bereits 1312 von der Leitung seines Klosters suspendiert worden, nachdem ihm seine Mönche Simonie, Meineid, Fälschung und andere Verbrechen vorgeworfen hatten. Dasselbe widerfuhr ihm unter Johannes X X I I . 1322/1323 und wiederum 1332. Erst Benedikt setzte ihn 1335 wieder in sein Amt ein. Warum er in offensichtlichem Widerspruch zur .Aktenlage' anscheinend an seine Unschuld glaubte und ihn sogar zur Erarbeitung der Bulle heranzog, wissen wir nicht, hatte er doch bald selbst Grund zur Klage über den offenbar eigenwilligen Prälaten 45 . Abt Raymund von Psalmody (Diöc. Nîmes) hatte seit Jahrzehnten Führungspositionen in Klöstern seiner südfranzösischen Heimat inne, darunter Abteien wie St-Guilhem du Désert (Diöc. Lodève) (1317-1324) und das berühmte St-Gilles (bei Nîmes), bevor er 1332 nach Psalmody transferiert wurde. Aktivitäten Raimunds an der Kurie sind nicht erkennbar; er blieb auch, neben dem problematischen Gregor von Issoire, als einziger der Berater Abt bis zu seinem Tod (1343). Seine Klöster freilich gehörten zu denen, deren Ämter und Priorate in besonderer Weise dem Zugriff des Papsttums, auch unter Benedikt XII., offenstanden 46 . Ganz im Vordergrund steht die kuriale Tätigkeit bei seinem (übernächsten) Nachfolger in St-Gilles, Gilbert von Cantobre. Er gehört zu den Männern, die beispielhaft die Kontinuität des kurialen Apparats verkörpern, erhob doch Benedikt bereits in einem seiner ersten Regierungsakte den langjährigen Mitarbeiter seines Vorgängers zum Abt 44 Die Privilegien datieren vom 5. Juli; Abb. des Registereintrags bei G a u s s i n , S. 685 f.; Bischof wurde Johannes bereits am 25. Sept. ( E u b e 1 [wie Anm. 40], S. 91). Er starb 1355 und ließ sich wie Clemens VI. in La Chaise Dieu begraben. 45 Leider ist hier nicht Raum, das farbige Bild von den Auseinandersetzungen wiederzugeben, das die Quellen zu zeichnen erlauben. Vgl. nur aus der Spätzeit: Benedikt XII. nennt sein Verhalten ihm gegenüber im Streit um Priorate contumaciter et irreverenter ( V i d a l / M o l l a t [wie Anm. 11], 956; vgl. 955, 1230). 1340 wendet er sich an den Bischof von Clermont, um Gregor dazu zu bringen, Summi magistri in seinem Kloster anzuwenden, nachdem eine direkte Intervention nichts genutzt hatte ( V i d a l [wie Anm. 5], 8172,9070). 46 Seine Karriere ist seit 1301 zu verfolgen; GChr 6, Sp. 478 (das Todesdatum ist zu korrigieren); RJ 4313, 19273, 56536. Man kann vermuten, daß er St-Gilles für Hugo Roger, den am selben Tag zum Abt erhobenen Bruder des späteren Papstes Clemens VI.

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des altehrwürdigen Marseiller Klosters St-Victor und damit zum Haupt eines Verbandes von 300 Prioraten 4 7 . Die Karriere des Adligen aus dem Aveyron ist im Detail zu verfolgen, seit er, noch als Student des kanonischen Rechts, Amt (und Pfründen vor allem) eines Sakristans und Kämmerers des von seinem Onkel geleiteten Klosters (seit 1317 Domstifts) St-Papoul am Fuße der Pyrenäen innehatte 48 . Im Gefolge seines Bischofs Raymund, ebenfalls Benediktiner und großer Kanonist, der 1327 mit Jacques Fournier, dem späteren Benedikt XII., zum Kardinal erhoben wurde, kam er schon damals mit diesem in Kontakt 4 9 . 1326

.frei machte', der bis dahin nur Prior von St-Gervais bei Rouen gewesen war, drei Monate später aber bereits St-Jean-d'Angély (Diöc. Saintes) erhielt (RJ 56537, 57741, 57449). Zu diesem Pfründenjäger par excellence, der unter seinem Bruder natürlich schnell zum Kardinal aufstieg und 1362 sogar hätte Papst werden können, vgl. nur B a l u z e / M o l l a t (wie Anm. 1) 2, S. 354-357 und B. G u i 11 e m a i n , La Cour pontificale d'Avignon 1309-1376. Etude d'une société (1966 2 ), S. 159, 170, 188 f. u. ö., die beide für die Frühzeit durch R J ergänzt werden können. Zur Personalpolitik der Kurie in Psalmody vgl. nur die besonders krassen Fälle bei A. C o u 1 o n , Lettres secrètes et curiales du Pape Jean X X I I . (1316-1334) relatives à la France [1900 ff.]), 4507,4618) oder die Serie vom 8. April 1334 (RJ 62973-62980). 47 V i d a 1, 13. Die früheren Epochen der von Johannes Cassian gegründeten Abtei, insbesondere ihr .goldenes Zeitalter' nach der Reform von 977, als sie ihren .Kirchenstaat' bis nach Spanien ausbreitete, sind erheblich besser erforscht als ihre spätmittelalterliche Geschichte; P. S c h m i d , Die Entstehung des Marseiller Kirchenstaates, in: A U F 10 (1928), S. 176-207, 11 (1929), S. 138-152; E. B a r a t i e r , La fondation et l'étendue du temporel de St-Victor, in: Actes du Congrès St-Victor, Provence Historique 16 (1966), S. 397-405 aufgrund einer ungedruckten thèse von J . C. D e v o s ; vgl. Anm. 53 und 62. 48 Das Schloß Cantobre liegt bei Nant. Zur Familie, die mehrere Mitglieder in Ämtern verschiedener Klöster des Languedoc plazieren konnte, und zum Umfeld: A. D e b a t , Gilbert de Cantobre avant son èpiscopat, in: Revue du Rouergue 28 (1974), S. 127-143, 251-271, mit reicher Lokalkenntnis und vielen Spekulationen, aber ohne Berücksichtigung der Papstregister! St-Papoul gehört zu den zahlreichen Benediktinerklöstern (und -prioraten), die Johannes X X I I . 1317 zu Bistümern erhob; vgl. z. B. auch Alet, Castres, Montauban (Priorat von La Chaise-Dieu), St-Flour (von Cluny). Die Geschichte von St-Papoul ist trotz erfreulicher Quellenlage kaum erforscht; vgl. aber die ausgezeichnete Analyse eines verwandten Falles: J . L. B i g e t , Une abbaye urbaine qui devient cathédrale: St-Benoît de Castres, in: Les Moines Noirs ( X I I e - X I V e s.) (= Cahiers de Fanjeaux 19, 1984), S. 152-192. Aus der Zeit Gilberts als Kämmerer sind Statuten erhalten, die wohl auf Konflikte des nunmehrigen Kapitels mit seinem neuen Bischof zurückgehen (vgl. RJ 9684). Sie zeigen uns ein kleines Kloster, dessen Besitz und Einkünfte auf fest mit bestimmten Prioraten verbundene Ämter verteilt und die (Leistungs)Pflichten jedes einzelnen bis ins Detail festgehalten sind (Arch. dép. de l'Aude G 90), wie wir es in extremer Form ja auch aus La Chaise-Dieu, St-Victor etc. kennen. 49 1319 wird er an der Spitze der Zeugen im berühmten Ketzerprozeß gegen den Franziskaner Bernard Délicieux genannt; die Prozeßakten ed. B a l u z e / M o l l a t (wie Anm. 1), 3, S. 279 ff.; dazu zuletzt J.-B. B i g e t , Autour de Bernard Délicieux. Franciscanisme et société en Languedoc entre 1295 et 1330, in: R H E F 70 (1984), S. 75-93. Richter waren Raymond de Mostuéjols und Jacques Fournier; en passant sei angemerkt, daß ihr Urteil nach dem Geschmack der Inquisition und der Vertreter des Königs und schließlich, trotz des energischen Protests der Bischöfe, auch des Papstes zu mild ausfiel -

Die Ordensreformen Benedikts X I I .

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s e t z t e ihn J o h a n n e s X X I I . als A b t v o n S. J u a n d e P e n a , d e r G r a b l e g e d e r a r a g o n e s i s c h e n H e r r s c h e r d u r c h , o b w o h l die M ö n c h e ihren P r i o r z u m A b t gewählt, K ö n i g J a y m e diesen e m p f o h l e n h a t t e u n d a m 2 6 . A p r i l 1 3 2 6 gegen die E r h e b u n g eines . L a n d f r e m d e n ' in d e r z u r F e s t u n g ausg e b a u t e n G r a b l e g e seiner V o r f a h r e n heftig p r o t e s t i e r t hatte. W i e oft G i l b e r t sein K l o s t e r i m f e r n e n Spanien gesehen hat, wissen w i r nicht. W o h l n i c h t sehr häufig, w e n n w i r einerseites seinen E i n s a t z i m D i e n s t d e r K u r i e , andererseits die spärlichen Z e u g n i s s e , die ihn ü b e r h a u p t in K o n t a k t m i t seinem K l o s t e r zeigen, u n d die R e a k t i o n des K ö n i g s b e trachten50. St-Gilles lag n u r 5 0 k m südlich v o n A v i g n o n u n d erleichterte es i h m , sich n e b e n seiner n o c h gesteigerten T ä t i g k e i t f ü r die K u r i e a u c h u m die B e l a n g e seines K l o s t e r s z u k ü m m e r n . A m 3. S e p t e m b e r 1 3 3 2 hielt er z. B . ein Generalkapitel d o r t ab; andererseits wissen w i r , d a ß er sich d u r c h P r o k u r a t o r e n v e r t r e t e n ließ 5 1 . S t - V i c t o r schließlich, das er bis 1 3 3 9 regierte, als er n o c h v o n B e n e d i k t X I I . z u m B i s c h o f i m h e i m a t l i c h e n ( u n d zugleich d e r K u r i e e n g auch das gehört zu dem Bild des .Ketzerbekämpfers' Jacques Fournier. Raimunds Biographie, der aus demselben Milieu wie Gilbert stammt, bietet ein weiteres Beispiel für die Karriere eines südfranzösischen Benediktiners seiner Zeit, von der Profeß im Kloster eines Onkels, über Pfründen und Priorate in jungen Jahren, Jurastudium, Amter und diplomatische (und andere) Aufgaben im Dienst der Kurie bis zum Bischof (verschiedener Bistümer) und Kardinal ( B a l u z e / M o l l a t 2 , bes. S. 259-262, zu ergänzen durch die Papstregister seit Clemens V.). 1335 war er der einzige Benediktiner unter den Kardinälen; ob er (deshalb) an der Vorbereitung der Summi magistri beteiligt war, so B a l u z e / M o l l a t (wie Anm. 1) 2, S. 261 (in Korrektur der .achten Vita' Benedikts, die seinen Kollegen Petrus von Chappes als Förderer der Benediktinerreform nennt), muß offen bleiben; immerhin starb Raimund schon am 12. Nov. 1335. 50 Als Johannes XXII. ihn am 29. Mai 1332 auf den durch den Weggang Hugo Rogers nach S. Jean d'Angély freigewordenen Abtsstuhl von St-Gilles transferierte, verlangte König Jayme vom Papst und dem neuen Abt, daß dieser in S. Juan residieren sollte; man kann zweifeln, ob er damit mehr Erfolg hatte als 1326, stammte doch der Mann des Papstes aus einem Priorat der Diözese Cahors. Provisionen: RJ (wie Anm. 20), 2448, 24808, 26538 bzw. 57329, 57338 (vgl. dagegen noch 15299 von 1322); dazu J. J. B a u e r , Die Abtwahlen in Katalonien und Aragon zur Zeit des Avignoneser Papsttums, in: R Q 62 (1967), S. 184-213, hier 197-201; zu den Kontakten mit seinem Kloster RJ 25621, 28024, 28122, 51296, 44103, 44108 und die von D e b a t (wie Anm. 48), S. 264 Anm. 64, erwähnten beiden Prokurationen. Vgl. dagegen die ca. 7 Einträge, die ihn im Dienst der Kurie zeigen. 51 Allein in RJ (wie Anm. 20) finden sich nach dem Transfer nach St-Gilles am 29. Mai 1332 noch 40 Belege für nur 30 Monate, darunter eine diplomatische Mission im Dauphiné; unter Benedikt geht die kuriale Tätigkeit sofort ( V i d a l [wie Anm. 5], 491 vom 10. Jan. 1335) und unvermindert weiter. Zu St-Gilles s. GChr 6, Sp. 499. Gilbert bemüht sich um die Rückgabe entfremdeter Klostergüter, muß aber andererseits hinnehmen, daß Priorate und Ämter seines Klosters (ohne Erwähnung des Abtes) vom Papst an Mönche, Kanoniker und Kardinäle vergeben werden (etwa RJ 60202, 60380,63338,63340 f., 63818,63820; 62352).

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v e r b u n d e n e n ) R o d e z e r h o b e n w u r d e 5 2 - als erster der . R e f o r m e r ' v o n 1 3 3 6 , die fast alle aus d e m K l o s t e r in h ö h e r e Ä m t e r .drängten', g e h ö r t z u den Klosterverbänden, v o n denen uns eine Reihe v o n Statuten seit d e m E n d e des 12., in g r ö ß e r e m U m f a n g seit d e m E n d e des 13. J a h r hunderts erhalten sind, die uns Einblick in die Strukturen, die P r o b l e m e und die L ö s u n g s v e r s u c h e einer g r o ß e n A b t e i a m V o r a b e n d und in der Zeit der R e f o r m b u l l e Benedikts erlauben 5 3 . Deutlich w i r d w i e d e r u m , daß der A b t de facto außerhalb des Klosterlebens steht, das v o m K l a u stralprior geleitet w i r d 5 4 , daß die Inhaber d e r K l o s t e r ä m t e r , die P r i o r e n u n d die .einfachen' M ö n c h e als deutlich unterschiedene G r u p p e n mit divergierenden Interessen erscheinen - und daß ein Gutteil der Schwierigkeiten, v o r allem finanzieller N a t u r d e m P a p s t t u m sind, presertim

postquam

sedes

apostolica

extitit

citra

zuzuschreiben montes55.

Von

daher - aber auch aus den harten Konflikten mit d e m A b t , insbesondere mit Guillaume de Sabran, consiliarius

u n d consanguineus

Karls v o n Si-

52 V i d a 1 6525. 1336 hatte dort Benedikt die Wahl des Kapitels annulliert, um Bernard d'Albi, einen seiner engen Vertrauten noch aus Pamiers, zu plazieren; Johannes hatte noch das Bistum reserviert ( V i d a 1 2506); auf familiari experientia verweist Benedikt 1335 bei seiner Berufung zum capellanus commensalis ( V i d a l / M o l l a t [wie Anm. 11], 497). Der Magister und licjur mit guten Beziehungen zum französischen König wurde 1338 auch zum Kardinal erhoben und hatte Benedikt so viel Anhänglichkeit bewahrt, daß er 1350 sein Grab zu Füßen Benedikts wählte (vgl. nur G. M o 11 a t , in: DHGE 8 [1935], Sp. 572 f. und S c h i m m e l p f e n n i g [wie Anm. 1], S. 40). Sein Vorgänger in Rodez war Pierre de Castelnau, der seit Jugendzeiten in engem Kontakt zu Johannes XXII. gestanden hatte (vgl. nur RJ 1431f); 1319 hatte er die Wahl des erst Zwanzigjährigen, der aber bereits mit einer Fülle von Pfründen ausgestattet war, bestätigt (RJ 9054). 53 Bereits die ältesten sind das direkte Resultat krisenhafter Auseinandersetzungen, die mit Hilfe des Papstes und seiner Legaten geschlichtet wurden (Cartulaire de l'abbaye de St-Victor de Marseille, ed. B. G u e r a r d , avec la collaboration de A. M a r i o n et L. D e 1 i s 1 e , 2 Bde. [CDHistFr, 1857], Nr. 855 f, 877-879, 881). Relativ ausführliche Statuten, vor allem aus der Zeit zwischen 1288 und 1330, auf die ich mich im folgenden hauptsächlich beziehe, gab L. G u i l l o r e a u i n RMab 6 (1910) - 9 (1913) heraus; weitere von 1259-1338 sind noch nicht ediert. Diese Quellen sind für uns umso interessanter, als die Päpste seit Jahrzehnten die Beziehungen zu St-Victor in jeder Hinsicht intensiviert hatten (vgl. nur Cartulaire 861-864, 876, 882-884; zum Eingreifen Clemens' V. und Johannes' XXII. s. oben Anm. 38 und RJ 22699). 54 Schon 1294 wird festgelegt, daß der Prior eines der wichtigsten Rechte des Abtes wahrnimmt und nachlässige Amtsträger bestraft (RMab 6, S. 314). Vgl. die Reorganisation der zentralen Verwaltung 1324 (RMab 8, S. 398^*00). So kann der Abt 1337 im Zuge der Durchführung der Bulle vom Provinzialkapitel, das er einberufen und geleitet hatte, zusammen mit dem von Montmajour zum Visitator seiner eigenen Abtei bestellt werden (Cartulaire 1131). 55 So der Visitationsbericht von 1337 im ersten Punkt (Cartulaire 1131, S. 609). Andererseits sollte man auch die Unterstützung nicht vergessen, die etwa Abt Guillaume de Cardaillac 1325 bei seinen Bemühungen um Reorganisation von Seiten des Papstes erfuhr (z. B. RJ 22698-22704).

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zilien, die immer wieder das Eingreifen der Kurie provozierten, erklären sich die mehrfach wiederholten Versuche der Generalkapitel, die Ämter und Priorate den Mönchen von St-Victor vorzubehalten und die Äbte zur Einhaltung der ausgehandelten Statuten zu zwingen56. Typisch ist auch das Bemühen um Aufrechterhaltung der monastischen Disziplin und eines funktionierenden Klosterlebens - fast ist man versucht mit Max Weber vom .Betrieb' zu sprechen - durch detallierte Regelung von Kleidung und Nahrung (unter Rückgriff auf die Bulle Ne in agro Clemens' V.), von Gottesdienst und Krankenversorgung, durch minutiöse Festschreibung der Pflichten, vor allem der finanzieller Natur, bis hin zum Anspruch auf den Pferdemist57. Als Mittel, die Erhaltung der selbstgesetzten Normen zu sichern, erscheinen Eidesleistung aller Mönche, insbesondere der Amtsträger und Prioren, regelmäßige Rechenschaftslegung der Verwalter, jährliche Visitation der Priorate, regelmäßiger Besuch der Generalkapitel und zumindest Besitz der dort gefaßten Beschlüsse, nicht zuletzt Residenzpflicht der Prioren. Wie inzwischen üblich, werden all diese Forderungen durch die Androhung schwerer Strafen (immer wieder Amtsenthebung und Exkommunikation) unterstrichen. Man bemüht sich um Stabilisierung der kritischen finanziellen Situation durch Einschränkung des Aufwandes58 und Sicherung der Einnahmen, wozu neben der Verpflichtung zur Zahlung der üblichen Abgaben auch gehört, daß die Mönche an einer guten Wirtschaftsführung ihrer Ämter und Priorate direkt interessiert werden, d. h. durch materiellen Anreiz, der ihnen individuell zugute kommt - ein interessanter Aspekt zur Diskussion um die proprietarii. Aus der .Besitzgarantie auf Lebenszeit' folgt aber, wie in La Chaise-

56 Schon 1288 und 1294. 14 ( R M a b 6, S. 315 und 319). Die Papstregister belegen, in welch' hohem Maß die Priorate und Ämter an der Kurie vergeben wurden - an Kardinäle sowieso, aber selbst an Dominikaner, auf Bitten des Königs von Sizilien (Potthast Reg 24507-24509, 24065); die Statuten lassen gelegentlich den Druck, der dabei ausgeübt wurde, und die (kostspieligen) Bemühungen um Rückkehr entfremdeter Priorate erkennen (z. B. R M a b 6, S. 240; 9, S. 18, w o dem Abt 1500 fl. zugebilligt werden - in rehabendoprioratus ... subiit in romana curia). Zur Verpflichtung des Abtes vgl. z. B. 1305, 1312, 1330 (RMab 7, S. 225 f., 312; 9, S. 16). 57 So 1324 am Anfang des Abschnitts de Omnibus officialibus monasterii unter Beschwörung der alten Tradition - noch vor den übrigen, zentralen Pflichten des Kellers ( R M a b 9, S. 6). 58 Auch hier setzt man beim Repräsentationsaufwand des Abtes und seinen Prokurationsforderungen an - mit 16 Pferden soll er sich begnügen (!) und nicht mehr als 9 s. pro T a g beanspruchen (RMab 7, S. 231 von 1312). Vgl. auch Arch. dep. Bouches du Rhone H 187 (Reduktion des A u f w a n d s der Ämter wegen Schulden) und den Prozeß, den der Nachfolger gegen Abt Guillaume de Sabran 1325 anstrengte und gewann (RJ 22476; H 237).

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Dieu oder Cluny, daß umso mehr darauf geachtet werden muß, das Erbe verstorbener Mönche und Prioren sicherzustellen59. Nicht zuletzt finden sich auch hier Bestimmungen über das Studium im Kloster und an der Universität 60 , sowie Hinweise auf hohe Kosten, die dem Abt an der Kurie propter suam novitatem et subsidium camerae und zur Wahrung der Rechte des Klosters gegen .Ubergriffe' geistlicher und weltlicher Herren entstanden sind61. Kurzum, wir sehen in St-Victor besonders deutlich viele Erscheinungen, die als zeittypisch in großen Benediktinerklöstern gelten können, gegen die Reformer um der Reinheit der Regel und noch mehr um des schieren Uberlebens willen vorgehen, so auch Benedikts Bulle 1336, mit z. T. denselben Mitteln, die hier und anderwärts die Verhältnisse bessern sollten. In St-Victor jedenfalls war der Erfolg sehr begrenzt; 1337 war die Lage, wie die im Zuge der Summi magistri durchgeführte Bestandsaufnahme zeigt, schlecht und sie besserte sich auch danach nicht nachhaltig62. Wesentlich weniger Einblick in die inneren Verhältnisse haben wir bei Montolieu, der Abtei des letzten in der Bulle genannten Beraters, wurden doch die Archivalien 1793 feierlich verbrannt 63 ; umso bekannter ist Abt Wilhelm selbst, obgleich die Existenz von mindestens einem Namensvetter bis in jüngste Zeit für Verwirrung über seine monastische Karriere gesorgt hat. Die wenigen Zeugnisse über Montolieu reichen aber aus, um es in das nun schon vertraute Bild einzuordnen: Es 59 RMab 6, S. 327; 7, S. 231, 9, S. 15 f. Dieses Anliegen der Statuten zahlreicher Klöster ist sicheres Indiz für u. U. beträchtlichen Privatbesitz. 60 RMab 8, S. 1 f; vgl. schon Cartulaire (wie Anm. 53), 898. 61 Einige Zahlen: 3000 fl. in 1328, 1500 fl. in 1330, dazu .Gehalt' für den Prokurator an der Kurie (100 fl.) und .Spesen'; vier namentlich genannte Prioren werden daher 1330 beauftragt, eine feste Taxe von 5 fl. von jedem Priorat pro negociis et causis monasterii et membrorum einzutreiben (RMab 9, S. 13 f., S. 18, S. 14, S. 16). Als Beispiel für die zahlreichen Prozesse mit den Diözesangewalten hier nur die aus den Jahren 1328-1334; Arch. dep. Bouches du Rhone H 244, 247, 246, 250; 257; 251, 254). 62 Der übernächste Nachfolger Gilberts (Stefan von Ciapiers) ließ die Statuten im Sinne der Summi magistri überarbeiten (Arch. dep. Bouches du Rhone H 656). Erfreulich für St-Victor war der Pontifikat Urbans V., der 1362 als Abt zum Papst gewählt wurde und St-Victor weiterhin durch Generalvikare regierte; vgl. die allzu knappen Bemerkungen bei J.-C. D e v o s , L'abbaye de St-Victor au temps d'Urbain V, Provence Historique 16 (1966), S. 453- 460; zum äußeren Bestand nach einer detaillierten Aufnahme im Jahre 1380 B a r a t i e r (wie Anm. 47); auf innere Probleme werfen ein Licht die Klagen des Abtes von 1384, 1387, 1388 über die .falschen und korrupten Mönche', über Simonie, Vagieren, Streit um Stiefel etc. (Paris, Arch. Nat. L 888 B, f. 23-27). 63 In den Arch. dep. de l'Aude liegt nur ein Stück aus der Zeit vor 1336, eine Anniversarstiftung (H 192). Sporadische Ergänzungen sind möglich mit Hilfe der ,Collections Baluze, Doat und Languedoc' der Bibl. Nat. in Paris und der Papstregister. Umso wertvoller: GChr. 6, hier bes. Sp. 686-693.

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gehört zu den großen Klöstern mit zahlreichen Prioraten, in denen aus dem Klostergut Vermögensmassen ausgesondert sind, über die individuell verfügt wird; Abt, Offiziale und Prioren erscheinen als selbständig wirtschaftende Subjekte neben dem Konvent. Das wirtschaftliche Wohlergehen wie die vita communis blieben davon nicht unberührt, umso mehr, als Montolieu seit der Regierungszeit Clemens' V. zunehmend zur Ausstattung von Kurialen benutzt wurde. Schon der damit einsetzende viel raschere Wechsel an der Spitze sorgte auch hier für Unruhe und erhebliche finanzielle Belastungen, von den psychologischen Auswirkungen auf die Mönche ganz zu schweigen, wenn etwa 1321 ein Mann wie der uns schon bekannte Pierre de Chastelus dem Konvent gegen seinen expliziten Wunsch oktroyiert wurde 64 . Montolieu war für ihn nicht mehr als eine Pfründe, ja eine Durchgangsstation, die er in den 14 Monaten seines Abbatiats kaum gesehen haben dürfte; er .regierte' aus der Ferne durch einen Kanoniker aus Tours (!) als Generalvikar und einen einheimischen rector für den weltlichen Bereich 65 . Sein Nachfolger Osilius, ebenfalls vom Papst ernannt, gehört zu den frühen Begünstigten und Mitarbeitern seines mutmaßlichen Landsmannes Johannes X X I I . Als Abt von Sauve-Majeure (Diöc. Bordeaux) beauftragte er, von Florenz aus, am 29. Januar 1323 einen Juristen als Prokurator von seinem neuen Kloster Besitz zu ergreifen. Noch im September bestellte dieser, nicht etwa der Abt, zusammen mit den Mönchen syndici et actores, wohl für die bald darauf erfolgende Huldigung der Vasallen 66 . Der Abwesenheit von Montolieu korrespondiert die rege Tätigkeit der Äbte im Dienst der Kurie, die seinen uns interessierenden Nachfolger Wilhelm von Aura besonders auszeichnet. Wilhelm, der offenbar aus der Gegend von Foix-Mirepoix stammte, ist erstmals greifbar als Mönch und Infirmar der bedeutenden alten, 1073 Cluny unterstellten Abtei Lezat (Ariege, Diöc. Rieux) 67 , die in

64 Die Mönche hatten den Prior des bedeutendsten Priorats gewählt (RJ 13833). Clemens V. hatte noch 1306 die Wahl des Konvents bestätigt, die wie in den Jahrzehnten zuvor auf einen eigenen Mönch mit Verwurzelung im Adel der Region gefallen war ebenfalls nicht immer zum Vorteil des Klosters (Reg.Clem. [wie Anm. 38], 782; vgl. nur ebd. 1286 f., 1396 f). 65 RJ 16654; GChr 6, Sp. 991. 66 Vgl. RJ (wie Anm. 20), 3335, 10539 (Abt von La Sauve Majeure, Diö. Bordeaux), 16766 und GChr 6, Sp. 991. Zweimal ist seine Anwesenheit in Montolieu belegt, wo er 1333 starb und begraben wurde. 67 Cartulaire de l'abbaye de Lezat, ed. P. O u r 1 i a c/A. M. N o r t i e r (CDHistFr 17, 19,1984-1987); zu den Wirren in der Abtei im 13. Jahrhundert F. E. M a r t i n , L'affaire de Pierre de Dalbs, in: M - A 13 (1900), S. 38-56; zum spannungsreichen Verhältnis zu Moissac und Cluny u. a. P. O u r 1 i a c , Lezat et Moissac, in: AM 77 (1965), S. 75-83;

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noch viel stärkerem Ausmaß als Montolieu Papst Johannes XXII. dazu diente, Leute zu plazieren oder daraus zu entnehmen68. 1324 transferierte er Wilhelm, schon als doctor decretorum bezeichnet, nach Cluny mit der Aussicht, das Amt eines Priors, Propstes, Dekans etc. zu erlangen. Offenbar ließ sich in Cluny diese Expektanz nicht in gewünschter Weise realisieren, denn am 11. März 1326 erhob er ihn zum Abt des (nichtcluniazensischen) Klosters St-Martin d' Ainay in Lyon. Wie in Montolieu 1321 hatten die Mönche zuvor einen ihrer Prioren zum Abt gewählt. Wilhelm empfing die Weihe in Avignon und erreichte vom Papst, daß dieser die Vergabe von Klostergütern, die von seinen Vorgängern zu rund einem Drittel an Laien, sowie an Regularund Säkularkleriker vergeben worden seien, rückgängig machte69 - mit welchem Erfolg, muß offen bleiben. Obwohl er sich auch das übliche Privileg redeundi geben ließ, ist er weiter sehr aktiv im Dienst der Kurie, auch nach seinem Transfer nach Montolieu am 15. März 133370. Von Aktivitäten in seinem Kloster ist kaum etwas bekannt; es scheint, daß (zumindest zeitweise) sein Bruder Raimund Roger, dem er auch 1339 - wiederum gegen den erklärten Willen der Mönche - die Nachfolge verschaffte, als Generalvikar fungierte71. Mit Beginn von Benedikts Pontifikat steigerte Wilhelm dagegen seine Aktivität an der Kurie, wo er mehrfach für Leute aus der engsten Umgebung des Papstes und zusammen mit Gilbert von Cantobre tätig wurde. Seine Stellung an der Kurie unter Benedikt geht vielleicht am deutlichsten daraus hervor, daß er am 17. Juni 1336, unmittelbar vor Erlaß der Bulle also, die Liste der Zeugen beim Erwerb des späteren Papstpalastes anführt und als einziger Abt und Benediktiner (neben dem .Sonderfall' Petrus Rogerii, und in Kürze F. C y g 1 e r , L'ordre de Cluny et les „rebelliones" au XIII e siecle, in: Francia 19 (1992). 68 Vgl. z. B. RJ (wie Anm. 20), 1627 f., 2011, 6879,6943, 11949, 13334 (operarius), 14695, 1 6 6 1 4 , 1 9 4 5 0 , 2 2 8 8 9 , 2 4 5 5 8 , 2 4 6 9 3 , 2 6 0 6 0 , 2 7 3 9 3 , 2 7 5 4 6 (infirmarius als Nachfolger Wilhelms), 27778 etc. 69 RJ 19975,24629,26649,26755; vgl. auch 29672,48790. 70 RJ 59805, 60369, 60561. Die Analyse der zahlreichen Belege für seine Tätigkeit, die sich bis nach Nordfrankreich und Spanien erstreckt, kann hier nicht Platz finden. Nur soviel: Vor allem aus dem Vergleich mit Äbten anderer, vergleichbarer Klöster bzw. besonders mit den Vorgängern und Nachfolgern in derselben Abtei wird die Ausnahmestellung von Männern wie Wilhelm deutlich. 71 Die Mönche hatten wiederum einen Mann aus den eigenen Reihen, den camerarius gewählt, der schließlich auch Abt wurde - aber erst 1361 ( G C h r 6 , Sp. 995). Raymond konnte sein Servitium von 1000 fl. schnell und offenbar ohne Darlehensaufnahme zahlen ( V i d a 1 [wie Anm. 5], 6527, 7293 und S. 430). In deutlichem Gegensatz zu seinem Bruder war er kaum für die Kurie tätig, kümmerte sich aber aktiv um die Erweiterung der Herrschaftsrechte seines Klosters; vgl. Arch. dep. de l'Aude H 193 und GChr 6, Sp. 992 bis 994).

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dem späteren Clemens VI.) zu den wenigen von Benedikt erhobenen Kardinälen zählt 72 . Schaut man auf den Werdegang der an der Reformbulle beteiligten Abte, so ergeben sich deutliche Unterschiede, aber auch starke Gemeinsamkeiten: Sie alle waren 1336 nicht mehr jung, hatten alle längst das Leben eines einfachen Mönchs hinter sich gelassen, wenn sie es überhaupt je geführt hatten. Sie alle waren Juristen, hatten reiche Erfahrung in .Politik' und .Verwaltung', standen seit vielen Jahren Klöstern und Klosterverbänden vor, deren Struktur sich weit von dem in der Regel gezeichneten, bei den Zisterziensern im wesentlichen noch festgehaltenen Ideal der klösterlichen Gemeinschaft mit dem Abt an der Spitze weg entwickelt hatte. Sie waren zwar Äbte, aber im wörtlichen wie im übertragenen Sinne in ihren Konventen kaum mehr präsent. Sie standen zu ihnen im wesentlichen in Rechtsbeziehungen, teilten aber nicht die alltägliche vita communis, in der sie als Beispiel hätte wirken können - wenn sie dazu persönlich überhaupt in der Lage gewesen wären, wovon wir freilich nichts wissen. Männer wie Johannes von La Chaise-Dieu und Gregor von Issoire verkörpern gleichsam das Bild des feudalen Herrn, letzterer auch im verbissenen Kampf mit seinem Konvent und anderen Gegnern um echte oder vermeintliche Rechte. Noch stärker .abgehoben' vom monastischen Leben erscheint Petrus von Cluny, der mit Hilfe Johannes X X I I . schnelle Karriere macht und in den Dreißiger Jahren als consiliarius regis und Mitglied des Parlaments den Typ des .politischen Abtes' repräsentiert, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie ein Gilles Rigaud von St-Denis, der zeitweilig in der Großen Kammer den Vorsitz führte und die Finanzpolitik Frankreichs maßgeblich bestimmte 73 . Gilbert und Wilhelm erscheinen vor allem als

72 Vgl. nur V i d a l (wie Anm. 5), 53 A, 60 A, 63, 66, 76, 133, 151, 155, 215 etc.; D a u m e t (wie Anm.4) 805, S. 510. Als Kardinal trat er auffällig zurück, blieb aber seinen Klöstern Montolieu, in dessen Haus er weiterhin wohnte, und Lezat (vgl. GChr 6, Sp. 993; 13, instr. Sp. 179 f) wie überhaupt den Benediktinern, vielleicht als .Kardinalprotektor', verbunden. Die Untersuchungskommission, darunter die Abte von St-Victor, von Ile-Barbe in Lyon und St-Benoit-sur-Loire, die Clemens VI. am 1. Juni 1342 einsetzte, um die Klagen der Benediktiner über Benedikts ,an vielen Stellen kapriziöse, obskure und wenig sinnvolle Konstitutionen' zu prüfen, sollte ihm Bericht erstatten; eine Supplik seines ehemaligen Klosters Ainay zu dieser Thematik sollte er 1346 erledigen (Suppliken ed. B e r l i e r e , chapitres [wie Anm. 21, App. I und VI). Vgl. auch Stat. Cluny (wie Anm. 17), 3, S. 307 und 355 und den Beschluß des Provinzialkapitels Narbonne-Toulouse-Auch von 1349; ut pro beneficiis eidem impensis & impendendis per dominum Montis olivi cardinalem millies pro eo res divina perageretur (ed. J. M. B e s s e , Provincial chapters of the Black Monks in France, in: Spicilegium Benedictinum 4 [1899], S. 1-29, hier S. 10 mit falscher Identifikation). 73 Etliche Belege in den Registern Philipps VI. (meist zusammen mit den Äbten von

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.kuriale Karrierebeamten', die mit passenden Pfründen ausgestattet wurden. Der bei ihnen, bei Petrus und Raymund zu beobachtende rasche Wechsel zwischen Klöstern unterschiedlicher Observanz zeigt, daß eine bestimmte monastische Prägung, die einst als Inbegriff der .Reform* so wichtig war (und es wiederum bald werden sollte!) bei diesen ,Reformern' offenkundig keine Rolle spielte. So verwundert es nicht, daß Gilbert und Wilhelm auch in der Reformbulle für die Franzikaner genannt werden, Wilhelm auch an der Reform der Poenitentiarie beteiligt war 74 . Sie .passen' gleichsam in den Kreis der altgedienten Kurialen in der engsten Umgebung Benedikts XII., die, wie er selbst, schon unter Clemens V. die ersten Kontakte in Avignon geknüpft und unter Johannes XXII. Karriere gemacht hatten, zu einem Gozzo von Rimini, einem Bernhard d' Albi oder Bertrand de Deaux, deren Karriere Benedikt mit dem Kardinalat krönte 75 . Können wir von ihrem Werdegang und ihren Aktivitäten, soweit wir sie kennen, eine nicht zu vernachlässigende Einschränkung, auf ihre .Mentalität' zurückschließen, so erklärt sich vielleicht auch, wieso diese Männer scheinbar mühelos uns kaum miteinander zu vereinbarende Dinge unter einen Hut brachten; wie sie .theoretisch' monastische und wirtschaftliche Reform forderten, .praktisch* ein damit kaum zu vereinbarendes Leben führten, Abteien und Priorate als Einkommensquelle nutzten und immense Summen auch von hoch verschuldeten AbCorbie und Marmoutier). Vgl. auch R. C a z e 11 e s , La société politique et la crise de la royauté sous Philippe de Valois (1958), S. 179 f. 74 B i h 1 (wie Anm. 1J), S. 331 und B a 1 u z e/ M o 11 a t (wie Anm. 1), 2, S. 219. Hier wirkte Wilhelm zusammen mit Gaucelm de Jean, dem Großpoenitentiar, den sein Onkel 1316 zum Kardinal erhoben hatte und einige Jahre als Vizekanzler, Legat in Frankreich und England und bei der Bekämpfung der radikalen Franziskaner eingesetzt hatte (vgl. B a 1 u z e/M o 11 a t 2, S. 215-220), mit Gozzo von Rimini, der schon für Clemens V. das Andenken Bonifaz' VIII. verteidigt hatte (RClem. [wie Anm. 38], 7505), unter Johannes zum Kaplan und auditor (RJ [wie Anm. 20], 1853, 14991, 26652 u. ö.), unter Benedikt zum Patriarchen von Konstantinopel und Kardinal aufstieg (Vi d a 133,17; vgl. V i d a 1/ M o 11 a t [wie Anm. 11], 2767, 3274) und mit Jakob, dem scolasticus von Toul, einem der meistbeschäftigten Vertrauten Johannes' XXII, dçn Benedikt 1335 zum Bischof von Brescia erhoben hatte ( V i d a l 16) - allesamt prof essores juris canonici et civilis. 75 Bernhard begann seine .Karriere' 1318 und .sammelte' seine meisten Pfründen, als er, seit 1321 zunehmend in Nordfrankreich eingesetzt, .Kleriker' des französischen Königs war (RJ 43265, 44265, 45014, 57583 mit einer unvollständigen Liste seiner Pfründen in Nord- und Mittelfrankreich); vgl. oben Anm. 52 - Bertrand ist seit 1313 zu verfolgen, als ihm sein Onkel, der berühmte Jurist und Kardinal Guillaume de Mandagout, sein erstes Privileg verschaffte (RClem. [wie Anm. 38], 8587). Unter Johannes wurde der Professor iuris Kaplan (RJ 563 u. ö.) und Erzbischof von Embrun, wirkte in der audientia litterarum contradictarum, für die er auch 1327/1333 Statuten entwarf, und diente vier Päpsten als Legat, vor allem in Italien; B a l u z e / M o l l a t (wie Anm. 1), 2, S. 315-320.

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teien, Prioraten (und Orden) verlangten, selbst der wegen seiner Austerität bekannte Benedikt XII. Waren sie sich wenigstens bewußt, daß sie mit ihrer Bulle z. T. Forderungen aufstellten, die in den Klöstern, so wie sie beschaffen waren, nicht zu realisieren waren, wie sie aus eigener Erfahrung mit statutarischen Regelungen hätten wissen müssen, oder glaubten sie an eine besondere Wirkung der päpstlichen Autorität? Wollten sie wenigstens persönlich Ernst machen damit, als die Bulle vorlag - man wird es bezweifeln dürfen, wenn man sieht, daß vier der sechs beteiligten Benediktineräbte sehr bald Bischof oder Kardinal wurden, einer der beiden anderen nachdrücklich auf die Beachtung der Bulle verwiesen werden mußte76.

Leichter als dieser persönliche Hintergrund der Beteiligten ist der institutionelle Rahmen zu bestimmen, in dem sie agierten und der die Struktur und den Inhalt der Bullen entscheidend prägte. Fulgens konnte, wie erwähnt, gleich medias in res der Einzelprobleme gehen. Detailliert regelt sie zunächst, teils in Fortschreibung der geltenden Generalkapitelsbeschlüsse, teils über sie hinausgehend, in systematischer Folge die Verwaltung des Klosters, den Aufwand bei Visitationen und anderen Reisen, (daran anknüpfend) die Präsenz bei den Generalkapiteln und bestätigten das in den Jahren zuvor entwickelte System der Umlagen zur Finanzierung der Ordensausgaben. Der mittlere Teil der Bulle über das monastische Leben ist viel heterogener und kürzer. Nach einem einleitenden Abschnitt über die Aufnahmekriterien, folgen in assoziativer Reihung Gebote zur Lebensführung. Sie betreffen Kleidung, Silbergeschirr und -schmuck, Reiseaufwand (als Nachtrag) und Fleischgenuß, Schlafen und Essen, Privatbesitz und Pensionen, Mensenteilung und Reiten. Wie schon diese Stichworte zeigen und insbesondere im abschließenden Kapitel über eine mögliche Beschränkung der Zahl der Mönche deutlich wird, soll damit die regelgetreue vita communis gesichert bzw. ihr wieder Geltung verschafft werden. Der Fleischgenuß nimmt einen unverhältnismäßig großen Raum in der Bulle (und auch später in der Rezeption) ein - Indiz für die vielschichtige Bedeutung, die diesem deutlich sichtbaren und daher kontrollierbaren Aspekt der Regeltreue intern und extern beigemessen wird. Hier, wie im Verbot des Privateigentums, auch in der Form des peculium, wo wir eine ganze 76 Gregor von Issoire; vgl. oben. Anm. 45.

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Reihe von .Tricks' erfahren, setzt die Bulle entschieden die verschärfte N o r m der Wirklichkeit, ja ausdrücklich auch .Herkommen, Brauch, Statuten' entgegen, lädt aber zugleich durch Ausnahmen und Umwege förmlich zur Umgehung der strikten Verbote ein. Schließlich werden im Schlußteil (fast ein Drittel des Textes) die seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entwickelten Prinzipien und organisatorischen Regeln zum Studium im Orden systematisch zusammengestellt, präzisiert und zum geringen Teil auch modifiziert 77 .

77 Leider kann hier die genauere inhaltliche Analyse der Bulle und der Vergleich mit den Statuten nicht wiedergegeben werden; daher kann auch nicht nachgewiesen werden, wie diese ausführliche Regelung von 1335 aus den Beschlüssen der Generalkapitel, seit 1289 vor allem, abzuleiten ist. Diese zeigen, wie schnell die Zisterzienser bei den Studien gegenüber den moderneren Bettelorden .aufzuholen' versucht haben - lange vor Benedikt XII. Noch im Lib. diff. von 1257 ist die Zurückhaltung deutlich. In dem Kapitel de absolutione hospitum, und nicht etwa in einem eigenen Kapitel, heißt es ganz zum Schluß, in einem Zusatz gegenüber 1237: {pro reverentia domrti pape et cardinalium qui pro négocia predicti scripserunt studii ... concedit et ordinat capitulum generale ut dictum Studium per sollicitudinem abbatis Clarevallis parisiis iam inceptum inviolabiliter perseveret. Aber: illuc etiam nullus mittere compellatur, nisi spontanea voluntate (Dist. IV. 5, ed. L u c e t [wie Anm. 15], S. 256; vgl. Stat. 1251. 3). Dieser Satz fehlt in der nächsten .Ausgabe' von 1289/1316, die den Studien sehr viel positiver gegenübersteht und in einem eigenen Kapitel unter dem Motto: Qui docti sunt fulgebunt sicut splendor sidereus firmamenti) der Organisation der vervielfachten studia breiten Raum einräumt. Hier bereits finden wir dieselben studia wie 1335 und auch inhaltlich das meiste, was in Fulgens noch einmal mit höchster Autorität eingeschärft wird (Dist. VIII. 4, ed. Nomasticon Cisterciense seu antiquiore ordinis cisterciensis constitutiones a I. P a r i s . ... coll., ed. nova ...H. S e j a 1 o n [1892], S. 439—441). Schon die Tatsache, daß diese Forderungen der zentralen Norm immer wieder eingeschärft werden mußten, zeigt, wie schwer sie in die Wirklichkeit umzusetzen waren. Die von (nichtmonastischen) modernen Historikern nahezu einhellig begrüßte Forderung stieß ja nicht nur auf andere Gewohnheiten, Desinteresse, Eigennutz, sondern auch auf grundsätzliche Bedenken (auch in der sog. .Protestation' wie Anm. 28] - vom Abbé de Rancé und ähnlichen Stimmen bis in die Gegenwart ganz zu schweigen). Hinzu kamen unzweifelhaft vielfach tatsächliche Schwierigkeiten, vor allem finanzieller Natur - wobei nicht immer erkennbar wird, wieweit sie echt oder nur vorgeschoben waren. - Von besonderer Bedeutung für Fulgens sind die nach der Übernahme des verschuldeten Pariser Studiums durch den Orden 1320/1322 einsetzenden Bemühungen, zunächst Paris, dann aber auch andere studia gründlich zu reorganisieren (Stat. 1321.9, 1322. 1-6 [Text offenbar gestört; vgl. auch cc. 4 und 8 und 1324.4], 1328.9, 1329. 9 [vgl. 1327. 4 und 1328.5], 1331.3, 1332.3 und 7, 1333). 1334 werden die von den Äbten von Clairvaux, Boulbonne und Fontfroide für Paris erarbeiteten statuta salubria et honesta ratifiziert (c. 5). - Schon die auffällige Häufung in den Jahren vor 1335, erst recht ihr Inhalt lassen erkennen, daß die Studienbestimmungen der Bulle die nahtlose Fortsetzung der Reformbemühungen des Generalkapitels bzw. der von ihm beauftragten Äbte ist, die ja z. T. auch an der Bulle direkt beteiligt waren. Aus der (nicht immer zuverlässigen) Literatur zur Entwicklung der Studien im Orden sei hier nur auf den jüngsten Uberblick von R. S c h n e i d e r verwiesen: Studium und Zisterzienserorden, in: Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hrsg. von J. F r i e d (= VuF X X X , 1986), S. 321-350.

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Bedarf es angesichts der seit Jahrhunderten eingespielten Organisation bei den Zisterziensern kaum vieler Worte zum Generalkapitel (Teilnahmepflicht und Entschuldigung) und zur Visitation (es geht vor allem um die Reduktion der daraus resultierenden Belastungen), so müssen die Benediktiner zunächst einmal diese Strukturen schaffen, mit deren Hilfe sie die Norm verbreiten und durchsetzen wollen. Summi magistri trägt dabei der - bis in die Gegenwart nachwirkenden - antizentralistischen Tradition der Benediktiner Rechnung: Sie fordert kein Generalkapitel, wie bei den Zisterziensern und den Bettelorden, sondern wieder nur Provinzialkapitel. Im expliziten Rückgriff auf das vierte Laterankonzil und auf die ins Kirchenrecht eingegangenen Briefe Honorius' III. (nicht Gregors IX. Verschärfung!), aber viel präziser werden Häufigkeit der Treffen, Umfang der Provinzen, Organisation und Befugnisse der Kapitel und ihrer Organe, insbesondere Amtsdauer und Strafkompetenz der Präsidenten, Rechte und Pflichten der Visitatoren geregelt. Sicherlich bewußt bleibt man hinter dem zurück, was bei den Zisterziensern seit jeher in der Ordensverfassung festgelegt ist78, greift man auf,eigene' Vorbilder zurück, was sich auch daran zeigt, daß die neue flächendeckende Organisation ältere, damit im Prinzip konkurrierende Verfassungsformen nicht ausschließt. Die Bulle bestätigt vielmehr die - bei den Zisterziensern ausdrücklich untersagten - jährlichen Generalkapitel der Klosterverbände, wie sie in den Klöstern der an der Bulle beteiligten Abte ja weiterhin Tradition waren. Die beiden Versammlungen sollen sich ergänzen, ohne daß die Beziehungen näher präzisiert werden. Sollen z. B. die Leiter der Cluniazenserabteien und Konventualpriorate auch an den Provinzialkapiteln teilnehmen - oder sind sie, wie im 13. Jahrhundert, davon dispensiert? Kein Wort dazu in der Bulle, die sich auffällig darum bemüht, unterschiedliche Organisationsformen und Bezeichnungen zu erwähnen, wenn nur im Grundsatz dasselbe Ziel angestrebt wird 79 . Auch in dem folgenden80, umfangreichen Block von drei Kapiteln über das Studium wird die Eigenständigkeit gegenüber Fulgens sichtbar: 78 Insbesondere bleibt es bei dem umständlichen Sanktionsverfahren von Ea quae pro religionis bonestate (X, 3, 35, 8), wird die im Vergleich zu den Zisterziensern deutlich schwächere Position des Kapitels und der Visitatoren nicht gestärkt, obwohl Details denen in Fulgens entsprechen. Vgl. unten Anm. 90. 79 Vgl. etwa die Bezeichnung der Teilnehmer, der Versammlungen, der Umlagen. Wenn über das Verhältnis der großen Verbände zu den Provinzialkapiteln keine Aussage gemacht wird, ist das wohl nicht als Versehen, sondern als Ausdruck des Vorbehaltes zu interpretieren. 80 Zu berücksichtigen ist, daß die Themen eher locker, assoziativ aufeinander folgen, wie hier zunächst noch c. 5, was systematisch in den Schlußteil gehört.

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Summi magistri behandelt nach einer einleitenden Begründung für das Studium (der Bibel!) zunächst, in Anknüpfung an Ne in agro das Studium in den Klöstern. Von Anfang an wird deutlich, daß die Regelungen, bei aller Genauigkeit im Detail, durchweg flexibler sind als bei den Zisterziensern, Rücksicht nehmen auf unterschiedliche Verhältnisse, vor allem bei der Einführung der bislang offenbar unüblichen organisierten Studien in den Klöstern, „wo die Mittel es gestatten ..." 8 1 . Die Bestimmungen über das Studium an den Universitäten können wiederum, wie die organisatorischen Partien, an benediktinische Statuten, insbesondere die Clunys anknüpfen, das reiche - und leidvolle - Erfahrungen mit seinem Studienhaus in Paris gesammelt hatte 82 . - Damit ist aber weniger eine Dekadenz der schwarzen Benediktiner als ein Trend der Zeit erfaßt, der auch die studieneifrigen Bettelorden nicht verschonte 83 . Man gibt durchaus präzise Anweisungen zur Organisation der Studien, regelt ihre Stellung gegenüber den Klöstern und ihre Visitation, verfügt über Rechte und Pflichten des Priors und der Studenten, insbesondere auch über die Verwendung der Pension; weitere Details überläßt man den Präsidenten der Provinzialkapitel. Wie sich schon bei den Rahmenbedingungen zeigt, sind die Benediktiner gegenüber ihren Studenten entschieden großzügiger als die Zisterzienser 84 ; nicht wenige der beteiligten Abte hatten ja schon als Student lukrative Ämter und Priorate in absentia genießen dürfen. Die bewilligte Pension von 40 1. bewegt sich denn auch in der Größenordnung eines begehrten Priorats, während ein zisterziensischer Student mit der Hälfte auskommen mußte. Dafür lohnte sich für ihn der Erwerb 81 Vgl. dagegen etwa das zisterziensische Stat. 1331. 2. Eine instruktive Aufstellung der Studienbestimmungen der Bullen Fulgens, Summi magistri und Ad decorem bei B o e h m (wie Anm. 1), S. 286-291. Wiederum ist der Blick in die cluniazensischen Statuten und Visitationen lehrreich; von dem großen Anlauf 1314, wo mit deutlichem Hinweis auf die Konkurrenz anderer Religiösen die Schaffung von Studien in den Klöstern gefordert wird (C h a r v i n [wie Anm. 17], 2, S. 373 f.) hört man nichts mehr; die Visitationen fragen nicht nach den Studien; nur selten werden Studenten (außer den Schulen in Cluny selbst und dem Studienhaus in Paris, wo auch weiterhin das .Grundstudium' angeboten wird) erwähnt. Wohl zu positiv de V a 1 o u s (wie Anm. 38), S. 317-326. 82 Vgl. etwa die Klagen und Lösungsversuche von 1294,1301, 1303, 1314, 1328, vor allem aber die detaillierten Regelungen in den Statuten von „ca. 1314" (nicht früher?) ([wie Anm. 17], S. 130-137). 83 Bei den Dominikanern z. B. reißen die Klagen (belegt seit 1274 und 1284 in den Statuten des Generalkapitels ed. R e i c h e r t [wie Anm. 39], 1 und 2) und Reformversuche seit der Jahrhundertwende nicht ab; vgl. bes. 1305, 1308, seit 1312 fast jährlich. Sie sind aus diversen Provinzialkapitelsakten zu ergänzen. Für die Augustinereremiten vgl. nur C U P Nr. 796, 831, 849 u. ö. 84 Neben der Pension gilt dies auch für die gesamte Lebensführung ( Diener) und den Aufwand für Feste (2000 statt 1000 Turnosen in Fulgens).

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akademischer Grade finanziell stärker 85 . Auch die Finanzierung weist typische Unterschiede auf: Die Zisterzienser bezahlten ihre Lehrer in Paris aus Mitteln des Ordens und des Heimatklosters, nur die Studenten fielen dem eigenen Konvent ganz zur Last. Bei den Benediktinern sollten die Pensionen für die Lehrer und Studenten von den Heimatkonventen aufgebracht werden 86 . Großzügiger sind die Benediktiner auch sonst: Sie kennen keine zentrale Verteilung der Studenten auf die verschiedenen Studien; sie erlauben das Jurastudium, alle beteiligten Abte waren ja graduierte Juristen und damit in gewisser Weise repräsentativ für ihr Milieu. Statt der rigiden Verpflichtung, nur Theologie zu studieren, die Fulgens rigoros wieder eingeschärft hatte, steht hier nur eine .Sollbestimmung': Die Hälfte der Studenten soll Theologie studieren - und dafür besser bezahlt werden. Man darf bezweifeln, ob dieser bescheidene, kurzfristige Vorteil (5-10 1.) die besseren Karrierechancen der Juristen wettgemacht hat 87 . Typisch für den Unterschied der Institutionen und der Denkweise in den beiden ,Orden' scheint auch das Verfahren zur Festlegung der Zahl und der Auswahl der Studenten, das Summi magistri sehr ausführlich behandelt 88 . Bei den Benediktinern entscheidet eine Kommission, in der auch der Abt nur eine Stimme hat, bei den Zisterziensern braucht der Abt lediglich den Rat des Vaterabts bzw. des Visitators und des Konvents einzuholen. Hatten die Zisterzienser Probleme der Klosterverwaltung an die Spitze ihrer Bulle gestellt, so finden sie sich in Summi magistri im dritten, sehr viel kürzeren Teil. Wiederum wird deutlich, wie auf ähnliche Probleme bei gleicher Zielsetzung im Rahmen der unterschiedlich entwickelten Institutionen ordensspezifisch reagiert wird. Fulgens betont neben der gestärkten Position des Konvents entschieden die Verant85 Ein lector bibliae erhält schon 30, ein Bakkalaureus 50, ein Magister der Theologie sogar 105 L. - aber nur in Paris, in der Provinz sind die Sätze erheblich niedriger, ein Benediktiner kann max. 60 L. erhalten; vgl. die detaillierten Tabellen bei B o e h m (wie Anm. 1), S. 289, und C. O b e r t - P i k e t t y , Benoit XII et les Colleges cisterciens du Languedoc, in: Les Cisterciens de Languedoc (XIII e -XIV e s.) (= Cahiers de Fanjeaux 21,1986), S. 139-150, hier S. 146. 86 Neben der direkten Zahlung (finanziert gegebenenfalls durch eine Umlage) steht hier weiterhin die Zuweisung von Benefizien oder Prioraten; vgl. V i d a 1 (wie Anm. 5), 7417, 7447 und die Änderung in Dudumpro bono von 1339 (Bull. Rom. [wie Anm. 4], S. 289 f.). 87 Vgl. nur Stat. Cluny 1339 und 1344 ([wie Anm. 17], S. 289 f und 392 f.). 88 Auffällig ist insbesondere das (angesichts der gemachten Erfahrungen verständliche) Bemühen, unter allen Umständen die Entsendung der vorgesehenen (oder auch höheren) Zahl von Studenten zu sichern, bis hin zur .Berechungsgrundlage' und einem .Ersatzverfahren'.

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wortung des Abtes und vor allem die Kontrolle durch Instanzen des Ordens. Verkäufe oder andere Schmälerungen des Klostervermögens größerer Bedeutung z. B. werden in acht Schritten abgewickelt, wobei nicht nur der Konvent, sondern auch das Generalkapitel, benachbarte Äbte, ja unter Umständen sogar der Papst ihr Plazet geben müssen. Wie bei den Studien hatten die Generalkapitel durch Einzelentscheidungen der Bulle weit .vorgearbeitet', die sie zu einem komplizierten und kaum praktikablen Verfahren zusammenfaßte und ausgestaltete 89 . Summi magistri ist bei gleicher Grundtendenz ausführlicher, besonders, was angesichts der Verschuldung vieler Klöster nicht verwundert, bei der Aufnahme von Darlehen, sowie der Veräußerung von Besitz und Rechten. Sie schränkt die Rechte des Abtes noch weiter ein, betont stärker die des Konvents, kennt aber keine Kontrolle durch übergeordnete Instanzen, auch nicht durch die Provinzkapitel. Selbst bei abhängigen Prioraten müssen nur die Konvente des Priorats und des Mutterklosters zustimmen, nicht die Generalkapitel. Deutlich werden die - sicherlich bewußt nicht beseitigten - institutionellen Defizite der Benediktiner bei den Strafbestimmungen: Sie sind viel ausführlicher - aber weniger hart als in Fulgens. Wird dort sofort mit Absetzung gedroht, wofür primär der Vaterabt, notfalls das Generalkapitel bereitstehen, so ist hier ein langwieriges Verfahren vorgesehen, das letztlich nicht über die Regelung Honorius' III. hinausführt 90 . Die weiteren Kapitel des dritten Teils behandeln, wiederum recht 89 Zwei Verhandlungen mit dem Konvent, wobei mindestens ein Abstand von zwei Tagen gewahrt sein muß, Konsens, Schriftlichkeit des Geschäftsaktes wie des Konsenses, Erlaubnis des Generalkapitels, Uberprüfung des geplanten Geschäfts durch zwei benachbarte Äbte, Eid aller daran Beteiligten, Bericht an das Generalkapitel, formelle Prüfung des Verfahrens; bei größeren Verkäufen (bis hinunter zur Grangie, vel res alia multum notabilis) muß der Papst zustimmen. Der Erlös darf nur verwendet werden, um andere Güter zu erwerben oder Schulden zu tilgen, und muß zwischenzeitlich in einem Kasten mit vier verschiedenen Schlüsseln verwahrt werden, die auf den Abt, den Klaustralprior, den Bursar und einen vom Konvent bestimmten Mönch verteilt sein müssen. Bei Landleihen ist das Verfahren etwas einfacher, nicht aber, wenn sie durch ihre Häufung oder ihren Umfang zu einem .bedeutenden' Geschäft werden. Dieselben Vorsichtsmaßnahmen gelten für Darlehen; jedoch darf ein Abt, der weit von seinem Kloster entfernt ist, z. B. auf der Reise zum Generalkapitel oder an der Kurie, im Notfall bis zu 100 L. leihen, muß dies aber seinem Konvent binnen acht Tagen nach seiner Rückkehr erklären und darf kein neues Darlehen aufnehmen, bevor nicht das alte getilgt ist. - Zu der dahin führenden (nicht einlinigen) Entwicklung von Norm und Wirklichkeit vgl. nur die Fassungen des Lib. diff. von 1237-1316 (Teil von Dist. X I bzw. eigene Dist. XII) und Stat. 1312. 9,1313.1, 1314. 5, 1318. 6,1319.2,1320.11, 1322.14,1324. 5, 1325. 3, 1328. 2. 90 Fulgens braucht nur wenige Zeilen am Schluß der einschlägigen Kapitel, Summi magistri eine ganze Spalte; Zunächst wird dem Abt verboten, die Kirche zu betreten; nach sechs Monaten folgt die Suspension, während der seine Rechte zur Kollatur von Benefizien etc. auf den Klaustralprior übergehen; nach weiteren sechs Monaten, während

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ausführlich, betrügerische Geschäfte, Inhalt und Form des bei den Zisterziensern ganz nach vorn gerückten Eides, die Güter zu bewahren und zurück zu gewinnen - aber nicht zum Nachteil der Kurie! Sie legen für die Landleihe dasselbe Verfahren wie für Verkäufe fest, verbieten den Vorgesetzten, sich bewegliche Güter von Prioraten oder Klosterämter beim Tod ihrer Inhaber anzueignen, den Inhabern (aber auch den Äbten), während oder bei Beendigung ihrer Amtszeit Privilegien und Besitz beiseite zu schaffen; sie fordern daher, bei Antritt eines Amtes den Güterbestand sorgfätig unter Anwesenheit eines Notars zu verzeichnen und die Inventare getrennt zu verwahren, um die Amtsführung später kontrollieren zu können - alles Dinge, die uns von Klöstern mit selbständig wirtschaftenden Prioraten und Klosterämtern, wie den Klöstern der an Summi magistri beteiligten Äbte, insbesondere aus den Statuten von La Chaise-Dieu, Cluny und St-Victor, her vertraut sind, während die Zisterzienser ja jegliche Aufteilung des Klosterbesitzes strikt verbieten91. Konsequent schließt der Wirtschaftsteil mit einer ausführlichen Verurteilung der proprietarii und negociatores - mit dem bemerkenswerten Satz, daß die Äbte von einer Bestrafung absehen können, wenn sie es für opportun halten. Damit kommt die Bulle zwanglos zur Versorgung mit Nahrung und Kleidung, d. h. zu Problemen des gemeinsamen Lebens, die den Schlußteil eröffnen. Er erweckt nach Inhalt und Form den Eindruck, man habe das schwierige und langwierige Reformwerk irgendwie zu einem Abschluß bringen wollen, ohne die Zeit und die Kraft zu einer guten Disposition und Ausarbeitung zu finden. In bunter Reihe behandeln die durchweg kurzen Kapitel, die eine deutliche Nähe zu den cluniazensischen Statuten aufweisen, nahezu zeitlose Fragen der Disziplin und des Gottesdienstes (bei den Zisterziensern nicht erwähnt, da anderweitig festgelegt, wohl aber in den Statuten von Cluny), sowie ganz spezielle Probleme, die sich aus dem nahezu institutionalisierten Rückzug der Äbte aus der tatsächlichen Leitung des Konvents, der Bedeutung der Priorate und dem steigenden Zugriff des Papstes auf Klosterämter und Priorate

denen die Präsidenten der Provinzialkapitel und die Visitatoren sich mit dem Fall befassen und dem Bischof, bzw. bei exemten Abteien dem Papst, Bericht erstatten müssen, sollen diese dann, wie schon von Honorius III. vorgesehen, den schuldigen Abt absetzen. Einfacher ist das Verfahren bei Prioren und Administratoren. Vgl. oben Anm 78. 91 Ausnahme: Ausstattung ehemaliger Abte. Vgl. nur die scharfe Verurteilung des novus morbus der Mensenteilung in Stat. 1325. 4; gleichzeitig zeigen zahlreiche Verbote, wie sich auch Zisterziensermöche .private Mittel' verschafften, von urkundlichen Zeugnissen (Testamenten z. B.) ganz abgesehen. - Gegen Ende des Jahrhunderts schützen auch Zisterzienserstatuten den Besitz einzelner Mönche (1389. 45, 1390. 69 z. B.).

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ergeben - von all dem waren die Zisterzienser kaum betroffen. Gewiß, auch hier gab es Äbte, die ihr Kloster kaum einmal sahen. Benedikt selbst und sein ihm die Wege ebnender Onkel Arnaud Nouvel sind dafür gute Beispiele 92 . Die Grangien warfen ähnliche Probleme auf wie viele Priorate der Benediktiner, aber sie wurden, wie auch die zisterziensischen Klosterämter, nicht als Pfründen vergeben 9 3 . Selbst die Fälle, in denen der Papst einen Zisterzienserabt ernannte, sind so verschwindend gering, daß die Provision des Prokurators der Zisterzienser auf den Abtsstuhl von Benedikts Profeßkloster Boulbonne, als N a c h folger Wilhelm Curtis (fast) eine Ausnahme ist, die sich nicht zuletzt aus den besonderen Beziehungen der Beteiligten erklären dürfte 9 4 . In gewisser Weise, so könnte man den notwendig Vergleich der beiden Bullen zusammenfassen, spiegeln der Summi Magistri ihre schwierige Entstehung wider begründet in den komplizierten Verhältnissen bei den chen.

fragmentarischen Inhalt und F o r m - und beide sind schwarzen M ö n -

Die Unterschiede in der institutionellen Ausformung bestimmen schließlich auch den W e g zur Umsetzung der zentral erlassenen N o r m in die Wirklichkeit des einzelnen Klosters. Sie ist bei den Zisterziensern prinzipiell ganz einfach: Hier kann sich der Papst damit begnügen, die Bulle mit freundlichen bzw. nachdrücklichen Empfehlungen an die Ge-

92 Trotz der stereotypen Wendung, zu der er im Prolog von Fulgens auch Anlaß gibt, daß Benedikt aus eigener Erfahrung die Probleme besonders gut beurteilen konnte, ist daran zu erinnern, daß er sich schon als Mönch bei seinem Onkel Arnaud Nouvel an der Kurie aufhielt und während seines (ohnehin nicht sehr langen) Abbatiats im südfranzösischen Fontfroide in Paris studierte und lehrte, just zu der Zeit, als das Generalkapitel feststellte: vix commode potest quisquam simul vacare commode studio et sollicitudini pastorali (1314. 8; Dispensmöglichkeit aber schon in 1315. 8). Vgl. O b e r t P i k e t t y (wie Anm. 85), S. 144. Zu Arnaud, der als Professor Mönch in Boulbonne, dann sehr schnell Abt in Fontfroide und Vizekanzler Clemens' V., schließlich auch Kardinal geworden war, (so daß er seinem Neffen die Nachfolge in Fontfroide zukommen lassen konnte), vgl. meinen Beitrag in: Les Cisterciens (wie Anm. 85), S. 205-234. 93 Vgl. aber die Klage des Stat. 1335. 10 über die Habgier von Mönchen und Konversen, die sich mit Hilfe von ,Weltklerikern und Mächtigen' officia in propriis domibus verschaffen wollten; sie sollten sofort abgesetzt bzw. für die Zukunft als unfähig zur Erlangung solcher Ämter erklärt werden. 94 V i d a l (wie Anm. 5), 4071 vom 14. Mai 1337, 14 Tage nach Wilhelms Erhebung zum Bischof. Vgl. die Obligationenregister in V i d a l , Bd. 2, S. 425-435. Zu dieser .Zurückhaltung', die keine Eigenart des Zisterzienserpapstes ist, vgl. die Tabellen bei L. C a i 11 e t , La Papauté d'Avignon et l'Eglise de France. La politique bénéficiale du Pape Jean XXII en France (1316-1334) (1975), S. 487-532.

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neralkapitel zu senden, wo sie von den Definitoren dem Plenum zur Beschlußfassung vorgelegt wird. In seinem Schreiben vom 12. August 1335 an das einen Monat später in Citeaux stattfindende Generalkapitel variiert der Papst lediglich den Prolog zur Bulle selbst, mahnt die Versammelten, die Statuten wie eine heilsame und nötige Medizin bescheiden und eifrig anzunehmen und bittet anschließend um ihr Gebet 95 . Die Abte erweisen sich denn auch als treue Söhne ,ihres' Papstes; die Bulle wird im Generalkapitel publiziert und ihre Beachtung nachdrücklich eingeschärft. Jeder Abt muß binnen drei Monaten eine Abschrift besitzen. Gleichzeitig beginnt die Rezeption im Detail; vor allem andern - weil es einem von der Mehrheit als dringend empfundenen Bedürfnis entsprach oder als demonstrativer Akt gegenüber möglichen Opponenten? - wird die Beschaffung eines ordenseinheitlich gestalteten Konventssiegels befohlen 96 . Nicht zufällig - auch wenn der Bezug (noch) nicht hergestellt wird, ergeht 1335 (wieder einmal) der Auftrag an den magister de Bolbona mit einem Abt seiner Wahl den Libellus definitionum zu .korrigieren, erneuern und reformieren'. Anders als bei der Erneuerung des Auftrages 1338 wird die Berücksichtigung der Bulle nicht eigens verlangt, dürfte sich aber von selbst verstanden haben. 1338 wurden die Äbte von Chassagne und von Hautecombe (der vermutlich wie Wilhelm an der Ausarbeitung der Bulle beteiligt war) mit der Überarbeitung des Libellus betraut 97 . Warum Wilhelm, der ja über eine reiche Erfahrung in Satzungsfragen verfügte, den Auftrag nicht erledigte, wissen wir nicht - vermutlich hatte er schlicht keine Zeit, scheint er sich doch vorrangig an der Kurie aufgehalten zu haben, wurde überdies am 30. April 1337 von Benedikt zum Bischof von Nimes ernannt, wenige Monate später nach Albi transferiert und schließlich am 18. Dezember 1338 zum Kardinal erhoben 98 . Die neuen Beauftragten arbeiteten schnell, aber vielleicht nicht so gut. 1339 wurde ihr Werk vom Generalkapitel sanktioniert, ein Jahr später aber schon

95 D a u m e t (wie Anm. 4), 93. In ähnlicher Weise jedes Jahr, zuweilen mit besonderer Akzentsetzung, so betont er 1336 z. B. die Studien ( D a u m e t 211). 96 Stat. 1335. 4 und 2; vgl. auch c. 5. 97 Stat. 1335. 7, 1338. 11. Zum Abt von Chassagne (Ain, damals Diö. Lyon) vgl. die Affäre in Stat. 1344. 12. 98 Seit Januar 1336 ist er mehrfach als Exekutor für Benedikt belegt ( V i d a 1 [wie Anm. 5], 2557,2675,2900, 3110,4388). Seine Promotionen ebd. 4063, 4096; zur weiteren Tätigkeit an der Kurie (nicht als Inquisitor) vgl. B a l u z e / M o l l a t (wie Anm. 1), 2, S. 321-324, S. 367 f. und 412 mit gelegentlichen Hinweisen auf seine Beziehungen zu den Zisterziensern, und G u i 11 e m a i n (wie Anm. 46), S. 185 und passim.

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wieder verworfen; Kardinal Wilhelm hatte eingewandt: nonnulla

sunt

obscura, et quae declaratione indigent Da man in Wilhelm den engsten Vertrauten Benedikts sieht, liegt es nahe, ihn als Sprachrohr des Papstes anzusehen, die Kritik an der Bearbeitung also auf Benedikt XII. selbst zurückzuführen 100 . Freilich ist zu bedenken, daß Wilhelm seit 1339 (hoch dotierter) Kardinalprotektor seines Ordens war 101 und damit die Aufgabe übernommen hatte, die Rechte und Freiheiten des Ordens an der Kurie zu verteidigen, nicht aber Druck weiterzugeben. Zum andern erinnert die Formulierung des Beschlusses von 1340 an eine aus dem Jahre 1337, als die Äbte zwar mehrfach Fehlverhalten unter Hinweis auf die statuta papalia tadelten, zugleich aber beschlossen, einige Punkte der päpstlichen Reform, die bei ihnen ,Zweifel erregt' hatten, zu sammeln und sie dem Papst bis Ostern zu unterbreiten 102 . Die Begründung, es sei die Aufgabe desjenigen, zu interpretieren, der die Satzung gebe, klingt nach demütiger Unterwerfung - wenn man nicht berücksichtigt, daß der Papst in ganz singulärer Weise eigens einen Vertrauten zu seinem autorisierten Sprecher für eben dieses Generalkapitel ernannt hatte 103 . Und zwar nicht Wilhelm (der als Bischof dafür nicht mehr in Frage kam), sondern der von Benedikt soeben zu seinem Nachfolger in Boulbonne erhobene Durandus, der ehemalige Prokurator der Zisterzienser an der Kurie. Benedikt hatte mit ihm sicherlich schon als Kardinalprotektor eng zusammengearbeitet. Durandus war gewiß auch mit der Problematik der Bulle bestens vertraut - und dennoch blieben dubia, die in Verhandlungen ausgeräumt werden sollten. In der Tat sind dem Abt von Hautecombe, der ja mit der Überarbeitung des Libellus betraut war, 1339 und 1340 Kosten für Reisen an die Kurie ersetzt worden, die vermutlich in diesen Zusammenhang gehören 104 . Kann man dies, neben anderen Beschlüssen als Indiz für den hinhaltenden Widerstand gegen die 99 Stat. 1340. 3; vgl. unten Anm. 102. 100 Zuletzt etwa K i n g (wie Anm. 21), S. 179 mit Verweis auf L. J. L e k a i , The Cistercians. Ideal and Reality (1977 2 ), S. 76 (wo freilich Benedikt ebenso falsch als „eminent canonist", wie Wilhelm als sein Neffe bezeichnet wird). 101 D a u m e t (wie Anm. 4), 561 vom 31. Jan. 1339, kaum sechs Wochen nach der Erhebung zum Kardinal, und 631 vom 21. Aug. 1339. Der formelle Beschluß ist wiederum (vgl. oben Anm. 20) nicht direkt überliefert; vgl. aber Stat. 1339. 9 und die Bestätigung des Papstes vom 15. Oktober, aus der die Höhe (3000 fl. hervorgeht ( D a u m e t 654). Zu den in Wirklichkeit sehr unregelmäßig fließenden Zahlungen, die z. T. mit Hilfe von Krediten aufgebracht wurden, und Sachgeschenken vgl. K i n g (wie Anm. 21), S. 176 f. 102 Stat. 1337. 11; vgl. Stat. Cluny 1338, (wie Anm. 17), 3, S. 287. 103 D a u m e t (wie Anm. 4), 358. 104 Vgl. K i n g (wie Anm. 21), S. 179; Stat. 1339. 9: ad ipsius ordinis negotia necessario promovenda, noch deutlicher 1340. 14 mit Erwähnung des Kardinals.

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Bulle als ganzes werten, auch wenn sie in Einzelfragen sofort zur Unterstützung der Autorität des Generalkapitels eingesetzt wurde, etwa in der stets leidigen Frage des mangelnden Besuchs des Generalkapitels oder der Studien105? Bei den Verhandlungen an der Kurie hatte Wilhelm, der eigens erwähnt wird, sicherlich Gelegenheit, seine Bedenken vorzubringen, die dann 1340 dazu führten, daß der Beschluß vom Vorjahr schlicht aufgehoben wurde, ohne eine neuerliche Revision in Auftrag zu geben. Liegt da nicht die Vermutung nahe, daß Wilhelm tat, .wofür er vom Orden bezahlt wurde', seine .Rechte und Freiheiten' verteidigte; konkret, daß er mit den führenden Äbten zusammen .auf Zeit spielte', zumal Benedikt zu dieser Zeit bereits krank war? .Bis auf weiteres' sollte nach dem Beschluß von 1340 der Libellus aus der Zeit vor der Bulle unverändert weitergelten - und es dauerte noch bis 1350, bevor ein neues Statutenwerk vorlag - das Fulgens nicht annähernd den Rang einräumte, den die Clementina weiterhin besaß 106 . Es ist ja schon Nicolas Cotheret, dem kritischen Historiker von Citeaux im 18. Jahrhundert aufgefallen, wie schnell auch die Abte seines Ordens nach Benedikts Tod bei seinem Nachfolger die Revision der Bestimmungen erreichten, die sie in ihrem Selbstverständnis am meisten störten, die Beschränkung ihrer Verfügung über Geld ohne .kleinliche' Kontrolle durch Untergebene 107 . Welche Rolle sollte Kardinal Wilhelm dabei gespielt haben, wenn nicht die eines effektiven Vermittlers? Warum, so könnte man weiter fragen, ohne das Problem zu erschöpfen, bezog er sich bei seiner Intervention auf dem Generalkapitel 1352 zugunsten der Studien nicht auf Fulgens, obwohl sie sachlich einschlägig ist, sondern auf seine eigenen, mehr als 20 Jahre zurückliegenden Satzungen108? Das sind nur einige Fragen zur Ausarbeitung und zur Rezeption der Bulle bei den Zisterziensern, über die man noch weiter nachdenken kann.

Hatte Benedikt bei seinen Ordensbrüdern kompetente Ansprechpartner für die Beratung wie für die Umsetzung der Bulle in die Praxis, 105 Vgl. z . B . 1 3 3 5 . 5 , 1 2 , 1 3 ; 1337. 3; 1 3 3 8 , 1 2 ; 1 3 3 9 . 4 ; 1 3 4 1 , 2 u. ö. Vgl. unten S. 411 ff. mit Anm. 131 zur Rezeption. 106 Der sog. Libellus novellarum diffinitionum, der freilich den alten nicht gänzlich ersetzen sollte; S e j a 1 o n (wie Anm. 77), S. 498. 107 In seinen sehr kritischen (und deswegen wohl nur mit Auslassungen edierten) Annales de Cisteaux ed. L . J . L e k a i, in: AnalCist 40 [1984], S. 2 2 0 - 2 2 2 . Für die Benediktiner vgl. oben Anm. 77. 108 Stat. 1352. 1.

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so mußte er bei den Benediktinern erst eine Organisation aufbauen. Zehn Tage nach der Publikation von Summi Magistri ermächtigte er zwei Prioren, die schon lange im Dienst der Kurie standen, Bernard de Genebrada und Johannes de Flisco, Geld für die Verbreitung der Bulle zu erheben109. Weder sie noch der Papst scheinen besondere Eile an den Tag gelegt zu haben. Erst ein halbes Jahr später, Mitte Dezember, waren die Vorbereitungen soweit gediehen, daß der Papst, je zwei Abte als Exekutoren der Bulle in den neuen Provinzen bestellen und ihnen in Interpretation und Ergänzung der Bulle detaillierte Anweisungen zur Organisation der Provinzkapitel geben konnte 110 . In vier Provinzen beauftragte er Mitarbeiter an der Bulle selbst, nämlich die Äbte von Cluny, St-Victor und Psalmody (zusammen mit denen von Tournus, Montmajour und St-Sauveur de Lodeve) in den Provinzen LyonBesan^on-Tarentaise, Arles-Aix-Vienne und Narbonne-ToulouseAuch; Jean von La Chaise-Dieu und Gregor von Issoire waren die gegebenen Präsidenten für Bourges-Bordeaux. Den Abt von St.-Denis konnte man in Reims-Sens kaum übergehen, wenn er auch ein Jahr später durch den von St.-Germain d'Auxerre ersetzt wurde, was angesichts seiner sonstigen Belastungen (politische Aufgaben) nicht verwundert111. Der Abt von Marmoutier mit seinen zahlreichen über ganz Westfrankreich zertsreuten Prioraten bot sich für Rouen-Tours an, wie in England St. Marys in York die ehemalige Nordprovinz und St Albans den Süden repräsentieren'. Insgesamt aber wird nicht klar, nach welchen Kriterien die Exekutoren in entfernteren Provinzen, etwa in den deutschen (Salzburg, Mainz-Bamberg, Trier-Köln, BremenMagdeburg), ausgewählt wurden. Auch wurden gelegentlich, wie etwa 109 V i d a l (wie Anm. 5), 3 8 7 9 v o m 1. Juli 1336; Bernard de Genebrada ist seit 1324 (RJ [wie Anm. 20], 19414), Johannes de Flisco seit 1330 (RJ 4 9 9 4 5 ) nachzuweisen. A u c h als er von Benedikt bald danach zum Abt. des Klosters S. Maria Novella in Florenz befördert wurde (13. Juni 1337, V i d a l 4082), blieb er an der Kurie (vgl. V i d a l 7472). Mit der Zahlungsaufforderung ließen sie sich viel Zeit - bis ins Frühjahr 1337, waren aber nicht eben kleinlich, verlangten sie doch von den englischen Klöstern z. B. 3 0 0 fl., von den etwa gleich vielen Abteien der Provinz Trier-Köln nur 100 fl.; vgl. P a n t i n (wie A n m . 2), 3, S. 4 - 6 , N r . 196; dazu die Behandlung auf dem Provinzialkapitel 1343, ebd. 2, S. 24. - Trier, Sem.bibl. 224, f. 1 8 6 - 1 8 9 aus dem 15. Jahrhundert (!); vgl. P. B e c k e r , Eine neue Quelle über das Echternacher Mönchsleben im 15. Jahrhundert, in: Hémecht. Zeitschrift für Luxemburger Geschichte 37 (1985), S. 7 6 - 8 5 , S. 82. - Ebenso viel verlangten sie von Mainz-Bamberg, 70 fl. von Salzburg; vgl. S c h m i e d e r , Geschichte (wie Anm. 2), S. 279. 110 V i d a l (wie Anm. 5), 3952 f., 3 9 9 6 v o m 13. D e z . 1336 (verschiedentlich ediert, z. B. P a n t i n (wie Anm. 2, 3, S. 7 - 1 1 inseriert in N r . 185). 111 V i d a l 6242; zur politischen Bedeutung vgl. bereits M. F e 1 i b i e n , Histoire de l'abbaye royale de St-Denys-en-France, contenant la vie des abbés . . . , Paris 1706. Vgl. oben Anm. 73.

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in Trier-Köln, noch Änderungen nötig112. Die Exekutoren sollten ein geeignetes Kloster als Versammlungsort bestimmen, alle Äbte persönlich dorthin einberufen, und in der Versammlung die Bulle verlesen lassen. Ihre Unkosten durften sie auf die Abteien ihrer Provinzen umlegen, was gelegentlich auf Schwierigkeiten stoßen sollte113. Einen Monat später ergingen die Aufforderungen an die einzelnen Äbte, sich zu den geplanten Kapiteln einzufinden und vorhandene, für die Provinz oder einen andere Gliederung geltende Statuten mitzubringen114. Diese Texte sollten von einer Kommission geprüft werden; soweit sie mit der Bulle vereinbar waren, konnte das folgende Kapitel ihre Fortgeltung anordnen, eine restriktive Interpretation des Prologs der Bulle. Jeder Teilnehmer des ersten Kapitels mußte eine notariell beglaubigte Kopie der Summi Magistri mitnehmen, sie sogleich nach seiner Rückkehr in sein Kloster im Kapitel vorlesen lassen. Dieses Exemplar war bei der Visitation, zu der die Präsidenten im Anschluß an die Provinzialkapitel persönlich verpflichtet waren, vorgezeigt werden - eine exakte Parallele zu den seit langem üblichen Verfahren, Beschlüsse von Konzilien, Diözesansynoden oder Generalkapiteln zu verbreiten. Die Prosekutoren in Avignon legten nicht nur den Ablauf der Provinzialkapitel detailliert fest, was dazu führte, daß überall, wo die entsprechenden Quellen überliefert sind, dieselben Akte, dieselben Gebete etc. beobachtet werden können115; das war schonender als die Verordnung eines Innozenz' III. oder Gregors IX., Zisterzienser als handlungsberechtigte .Lehrmeister' zu den Kapiteln und als Visitatoren beizuziehen. Gravierender aber waren die weitgehenden Eingriffe in die Autonomie der Klöster zugunsten der Visitatoren und der Kurie: Avignon verlangte eine genaue

112 Dicta enim provinäa Treveren. magna plurimum et diffusa existente, ut negotium exsecutionis praedictae commodius et celerius exsequatur, jam dicti abbates s. Martini et s. Maximini ad exsequendum praemissa adjunguntur (V i d a 16240). Unter demselben Datum wurden auch der Abt von St-Denis ersetzt durch den von St-Germain, der von StFlorent de Saumur durch den von St-Serge d'Angers (6241). Den Äbten von Cluny (für ihn gilt ähnliches wie für den von St-Denis) und Tournus wurde der von Ainay zusätzlich beigeordnet (6243). 113 So etwa in Salzburg (vgl. S c h m i e d e r , Geschichte [wie Anm. 2], S. 108 Anm. 2, S. 103 f Anm. 2) und England ( P a n t i n [wie Anm. 2], S. 24). Vgl. Anm. 118. 114 V i d a 1 (wie Anm. 5), 4982 f.; mehrfach als Original, Abschrift oder Insert erhalten; ed. z. B. bei P a n t i n , 3, S. 3 f. Der Beginn der beiden Schreiben ist weitgehend identisch. Vgl. auch die .flankierenden' Bitten, die Provinzialkapitel zu unterstützen, an König Johann von Böhmen und Karl von Ungarn, sowie an die Erzbischöfe von Mailand, Genua und Pisa ( V i d a 1 5004 und 5094). 115 Vgl. P a n t i n, 2, S. 6 - 2 5 ; d e r s . , Chapters (wie Anm. 2), bes. S. 224-227; S c h m i e d e r , Geschichte (wie Anm. 2), S. 283-289 und S. 105-110; N o v e 11 i (wie Anm. 2), S. 313-315.

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Bestandsaufnahme der Zahl der Mönche, der Einnahmen und der Ausgaben der Klöster, was bislang allenfalls bei abhängigen Prioraten üblich war. Die Bilanzen sollten an den Papst geschickt werden, damit er von sich aus die Zahl der Mönche festlegen konnte 1 1 6 . Wie gravierend diese Kontrolle der prinzipiell autonomen Klöster selbst im Zisterzienserorden mit seinem eingespielten Visitationssystem eingeschätzt wurde, zeigt sich darin, daß die Primaräbte kurz nach der Publikation ,ihrer' Bulle, sich eigens eine entsprechende Vollmacht für die ihnen ohnehin schon unterstehenden Klöster geben ließen 117 . Noch einschneidender griff die .Durchführungsverordnung' der Bulle in die Autonomie der Klöster ein, indem sie verfügte, daß die Visitatoren nicht nur Finanzen und Lebensweise kontrollieren, sondern auch die Verteilung der Einnahmen auf die verschiedenen Amter und A u f gabenbereiche, vor allem auch für die Magister und Studenten, regeln sollten - wohl der deutlichste Hinweis auf eine Planung am grünen Tisch ohne Rücksicht auf die Realität. Schließlich waren die von der Kurie geforderten Summen umzulegen und mit Kirchenstrafen einzutreiben - die Reform versprach teuer zu werden, in jeder Hinsicht, bevor sie noch recht begonnen hatte 118 . Diese Kombination von .Ausforschung', von der man nichts Gutes erwartete, Geldforderungen und Einschränkungen der Autonomie des Klosters, zugunsten der Visitatoren wie der fernen - wenn nicht gar als feindlich empfundenen - Kurie, mußte, schon vor der Auseinander116 Mancherorts wurde mit der Erhebung der Daten tatsächlich begonnen; rund ein halbes Dutzend solcher Berichte sind überliefert, ganz ausschließlich aus den Klosterarchiven selbst, vor allem aus der Provinz Rouen-Tours. Im Vat.Archiv ist kein Exemplar erhalten (vgl. J. L a p o r t e , L'Etat des biens de l'abbaye de Jumièges en 1338, in: Annales de Normandie 9 [1959], S. 67-89, S. 67 f). Zur Zeit sind mir die von Mont St-Michel (mit zahlreichen Prioraten), St-Ouen in Rouen, Jumièges, St-Taurin d'Evreaux, St-Victor de Marseille und Fragmente aus Marmoutier, St-Sauveur le Vicomte und St-Denis en Broqueroie bekannt; in diesem Zusammenhang gehören wahrscheinlich auch ein Fragment der Einnahmen von St-Germain in Compiègne und eines Inventars von Psalmody. Die wichtigsten Stücke sind ediert von L. D e 1 i s 1 e , L'Enquête sur la fortune des établissements de l'Ordre de St-Benoît en 1338, in: Notices et extraits des M a nuscrits de la Bibl. nat. 39,2 (1901), S. 359-408; L a p o r t e (wie eben); Cartulaire de St-Victor (wie Anm. 53), 2, S. 605-627. Die Hoffnung, daß noch Stücke gefunden werden, habe ich nach sehr intensiver Suche in den französischen Archiven und Bibliotheken weitgehend aufgegeben - umso willkommener sind mir Hinweise auf übersehene Exemplare; vgl. unten Anm. 132. 117 V i d a l (wie A n m . 5), 2351. 118 Dieser Aspekt wird zu Unrecht immer übersehen. Die Bulle selbst war außerordentlich hoch mit 752 s.tur.gr. taxiert, die Schreiben Benedikts vom 13. Dez. 1336 jeweils mit 35 s., die vom 13. Januar mit 10 s.; zur Taxierung unter Benedikt V i d a l (wie Anm. 5), p. LXXIV. Hinzu kamen die .Organisationskosten'; zur Finanzierung der .Zentrale' s. oben Anm. 109. Für die Provinzialkapitel selbst konnten die Beauftragten

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setzung mit dem Inhalt der Reformforderungen im einzelnen, zu Mißtrauen bei den Betroffenen, aber auch bei den weltlichen Herrschern führen119. Grundsätzlich galt überdies sicher nicht nur für die Salzburger Benediktinerprälaten, was ihre Präsidenten in ihrem Bericht an die Prosekutoren der Bulle formulierten: Valde rarum et inconsuetum est in provincia

nostra,

ut

unus

abbas

per

alium

corrigatur,

quid

unus-

Die inhaltsbezogene Kritik war immer schon ein zweiter Schritt, den auch die taten, die keine grundsätzlichen Bedenken geltend machten, wie etwa Cluniacenser oder Zisterzienser.

quisque

vult

sibi

esse

lex

et

regula

sue

vite120.

Damit sind wir mitten in der schwierigen und umstrittenen Frage nach der Wirksamkeit der Bullen Benedikts, die ich nicht mehr angemessen behandeln kann, müßte ich doch nicht nur auf zu viele Details eingehen, sondern mich auch intensiver mit den Konzepten von .Dekadenz' und .Reform' des Mönchtums im späten Mittelalter auseinandersetzen, als es hier geschehen kann121. Daher möchte ich nur einige methodische Überlegungen zur Diskussion stellen. Man sollte prinzipiell zwischen der Wirkung auf die Norm und auf die Realität unterscheiden - erstere ist leichter zu ermitteln, insbesondere wenn man sich auf der höchsten Ebene bewegt. Dazu gehören päpstliche Bullen, wie etwa die (partielle) Übertragung der

S u m m e n v o n 60 (Arles) - 80 (England) s.tur. einziehen. H i n z u kamen N e b e n a u s g a b e n wie die f ü r den Boten, der die Bulle ü b e r b r a c h t hatte (er blieb in Salzburg z. B. 20 Tage, erhielt ein Pferd im W e r t v o n 12 fl. u n d 32 d. Zehrgeld), f ü r die A b s c h r i f t e n der Bulle u n d die an den Papst gerichtete Supplik (in Salzburg allein d a f ü r 131 fl. außer d e n 4 f ü r d e n N o t a r ) . D e r Altaicher A b t stellte f ü r Abschriften u n d Botenlohn 60 fl. in Rechnung. Insgesamt legten die Präsidenten in Salzburg 170 fl. auf die einzelnen Klöster (mit Beträgen v o n 2 - 1 6 fl.) um. Weiter sind zu n e n n e n die Reisekosten der A b t e o d e r ihrer Vertreter, nicht zuletzt der A u f w a n d f ü r die Visitatoren u n d gegebenenfalls, wie in England u n d Salzburg gut bezeugt, f ü r Gesandtschaften an die Kurie, die über Einzelheiten der Bulle verhandeln sollten ( P a n t i n [wie A n m . 2], 2, S. 14, 17, 22 f; S c h m i e d e r [wie A n m . 2], S. 104-106). 119 Vgl. P a n t i n (wie A n m . 2), bes. 2, 7 u n d 3, N r n . 186 u n d 192; dazu d e r s . , C h a p t e r s (wie A n m . 2), bes. S. 213 f. Z u r Parallele, 1339/40, bei d e n Augustinerc h o r h e r r e n S a 11 e r (wie A n m . 5), N r . 30. - S c h m i e d e r , Geschichte (wie A n m . 2), bes. S. 101 f., 103 f. mit A n m . 1 - 2 , S. 108 A n m . 2. 120 S c h m i e d e r (wie A n m . 2), S. 109 A n m . 1, vgl. ebd. den V o r b e h a l t gegen die (,den Benediktinern f r e m d e n ' ) Visitationen im Schreiben an den Papst selbst! 121 D a h e r hier n u r einige wichtige neuere Titel: Differenziert und z u r Vorsicht m a h nend K. S c h r e i n e r , Sozial- u n d standesgeschichtliche U n t e r s u c h u n g e n zu den Benediktinerkonventen im östlichen Schwarzwald (= Veröffentlichungen der K o m m i s s i o n

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Summi magistri auf den Orden von Grandmont durch Papst Clemens VI. oder auf die Hospitaliter durch Innozenz VI. 122 , aber auch die zu Recht viel zitierte Wiederaufnahme dieser Bulle Benedikts auf dem Konzil von Konstanz (bzw. auf der Versammlung der Abte in Petershausen123) und in Basel 124 . Umgekehrt gehört auf diese Ebene auch jede für Geschichtl. Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Forschungen 31,1964), bes. S. 55 ff. und 87; zu einem seit jeher als wichtig erachteten Faktor der Dekadenz, relativierend: F. R a p p , Les abbayes, hospices de la noblesse: l'influence de l'aristocracie sur les couvents bénédictins dans l'Empire à la fin du Moyen Age, in: La noblesse au Moyen Age, XI e -XV e s. Essais à la mémoire de R. Boutruche réunis par Ph. C o n t a m i n e (1976), S. 315-338; mit weitem Blick auf die widersprüchliche Vielfalt der Epoche, die im Bereich des religiösen Lebens .Dekadenz' und ,Blüte' sah, mit wichtigen methodischen Hinweisen, auch zur historiographischen Tradition der .Mißstands-' und ,Krisenforschung' sowie konkreten Empfehlungen (bes. zur Unterscheidung von Symptomen, Ursachen und Beschleunigungsfaktoren) jetzt E l m , Verfall (wie Anm. 4); der Ertrag der von ihm angeregten Berliner Forschungskolloquien zu der Thematik jetzt in dem von ihm herausgegebenen Band: Reform- und Observanzbestrebungen (wie Anm. 4). Zum geschichtlichen Denken in Kategorien von (quasi gesetzmäßig empfundenen) Werden und Vergehen, Aufblühen und Niedergang, das insbesondere auch bei Mönchen aller Zeiten, vom Mönchsvater Antonius und den Pachomianern über den hl. Benedikt und die Zisterzienser bis hin zu Bonaventura oder den Bursfelder Reformern am Vorabend der Reformation, um uns auf das Mittelalter zu beschränken, meist mit kritischem Blick auf die eigene Zeit lebendig war, vgl. etwa: R. S t a r n , Meaning Levels in the'Theme of Historical Décliné, History and Theory 14 (1975), S. 1-31; P. C h a u n u , Histoire et décadence (1981); vor allem aber: Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, hg. v. R. K o s e 11 e c k/P. W i d m e r (1980), bes. F. G. M a i e r , Niedergang als Erfahrung und Begriff. Die Zeitgenossen und die Krise Westroms 370-470 (S. 59-78), zu dem auch für die monastische Erneuerung aller Zeiten grundlegende Konzept der „nicht zukunfts-, sondern urstandsbezogenen" renovatio als „Zustandsänderung", „Wiederherstellen der überlieferten Ordnung durch Ausschalten sittlicher oder biologischer Verfallsfaktoren" (S. 75) und die Arbeiten von G. B. L a d n e r , insbesondere: The Idea of Reform. Its Impact on Christian Thought and Action in the Age of the Fathers (1959); vgl. Anm. 4 und 141; s. auch den Beitrag von K. S c h r e i n e r in diesem Band. 122 Vgl. nur CUP 1148 a und 1230. 123 Hier erst wurde, wie sich schon an der Handschriftenüberlieferung ablesen läßt, die eigentliche Rezeption der Bulle in Deutschland eingeleitet - auf den nunmehr einsetzenden Provinzialkapiteln, vor allem aber in den (teils älteren, teils entstehenden) Reformkongregationen, die Benedikts Bulle sehr selektiv rezipierten: Abgesehen von der formalen Berufung auf die päpstlichen Statuten, die durchaus nicht immer erfolgte, setzten sie einige ihrer inhaltlichen Forderungen in .eigene Reformforderungen' oder auch in die Praxis um, andere übergingen sie stillschweigend oder auch ausdrücklich (Studium und Dormitorium z. B.) und setzten vor allem organisatorisch ganz anders an: Gerade die erfolgreichen Reformverbände verzichteten auf die flächendeckende Erfassung aller Benediktinerkonvente einer Provinz zugunsten der Zusammenfassung der zur Reform bereiten Abteien in einer .Kongregation', setzten nicht auf die .Verordnung von oben', sondern auf die konkrete Reform des Einzelklosters, auf das lebendige Beispiel. Der Unterschied wird besonders deutlich, wenn wie bei den Bursfeldern, z. T. dieselben Äbte in beiden Kapiteln führend tätig sind. Grundlegend zu Petershausen: Z e 11 e r (wie Anm. 8). Allgemein und zu den anschließenden Reformen bei den Benediktinern neben S c h m i t z (wie Anm. 2), S. 167 ff., neuerdings bes. K. S c h r e i n e r (wie Anm. 121),

Die Ordensreformen Benedikts XII.

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allgemeine päpstliche Dispens oder Revision der Reformforderungen - und hier gerät insbesondere Clemens VI. in den Blick, den man, wie einst Innozenz IV. mit Bezug auf die Reformstatuten Gregors IX., vor allem dafür verantwortlich macht, daß Benedikts Ziele nicht erreicht worden seien 125 . Diese Apologie Benedikts, oft unterstrichen durch das Bedauern, daß er nicht genügend Zeit gehabt habe, seine Reform ins Werk zu setzen, wird durch sein tatsächliches Verhalten relativiert. Selbst wenn wir seine .Personalpolitik' einmal außer Betracht lassen und uns auf die .Reform' beschränken, ist nicht nur zu konstatieren, daß er sie nicht immer mit Nachdruck verfolgte 1 2 6 und in der Einbeziehung der Nonnenklöster schwankte 1 2 7 , sondern vor allem, daß er

S. 73 ff; D e r s . , Benediktinisches Mönchtum in der Geschichte Südwestdeutschlands, in: Germania Benedictina 5 (1975), S. 23-114, hier 48-66, P. B e c k e r , Das monastische Reformprogramm des Johannes Rode Abtes von St. Matthias in Trier. Ein darstellender Kommentar zu seinen Consuetudines (= Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens 30,1970); d e r s . , Benediktinische Reformbewegungen im Spätmittelalter. Ansätze, Entwicklungen, Auswirkungen, in: Untersuchungen (wie Anm. 4), S. 167-187 und jetzt sein Beitrag zu Reform- und Observanzbestrebungen (wie Anm. 4), S. 23-34. Schon die Reformer von Subiaco, die für die Reformen des 15. Jahrhunderts, Melk vor allen anderen, von so großer Bedeutung wurden, waren bereits im 14. Jahrhundert teilweise anderen Prinzipien gefolgt; vgl. jetzt B. F r a n k , Subiaco, ein Reformkonvent des späten Mittelalters, in: Q F I A B 52 (1972), S. 526-656; d i e s . , Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert Studien zur Geschichte der Klosterreform und der Bursfelder Union (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 34, Studien zur Germania Sacra 11,1973), bes. S. 16-72; J. F. A n g e r e r , Die liturgisch-musikalische Erneuerung der Melker Reform. Studien zur Erforschung der Musikpraxis in den Benediktinerklöstern des 15. Jahrhunderts (= Osterr. Ak. der Wiss., phil.-hist. Kl. SB 287,174) bes. S. 49-75; d e r s . , Einleitung zu Ceremoniae regularis observantiae sanctissimi partis nostri Benedicti ex ipsius regula sumptae, secundum quod in sacris locis, scilicet Specu et monasterio Sublacensi practicantur ed. J. F. A n g e r e r (= C C M XI, 1985), bes. S. C X X V I - C X C . 124 V.a. Inter curas multiplices vom 20. Febr. 1439, das sich in zahlreichen Artikeln explizit auf Petershausen/S«mmi magistri beruft, in anderen inhaltlich anlehnt (Joh. Trithemius, Opera Pia et Spiritualia, ed. D. B u s a e u s [1605], S. 1016-1025). Außer der eben genannten Lit. vgl. insbes. F. X. T h o m a , Petrus von Rosenheim und die Melker Benediktinerreformbewegung, in: S M G B 44 (1927), S. 94-222, bes. S. 151 ff.; V. R e d l i c h , Johann Rode von St. Matthias bei Trier (= Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens 11,1923); P. B e c k e r , Fragen um den Verfasser einer benediktinischen Reformdenkschrift ans Basler Konzil, in: S M G B 74 (1964), S. 293-301. 125 S. etwa J a c o b (wie Anm. 1), bes. in der abschließenden Wertung S. 92; vgl. dagegen S. 84 f; M o 11 a t (wie Anm. 1), S. 82 f., aber auch Z e 11 e r (wie Anm. 8), S. 9. Sehr viel vorsichtiger etwa S c h m i t z (wie Anm. 2, S. 77-79. 126 Vgl. z. B. V i d a 1 6233 f. 127 Redemptor noster (wie Anm. 11), c. 2) bezieht sie im Unterschied zu Summi magistri ausdrücklich ein; vgl. V i d a 1 9496 vom 27. Okt. 1338 nach Beschwerde der Äbtissin von St. Georg in Prag; vgl. B. D u d i k , Gesch. des Benediktinerstiftes Raygern I (1849), S. 23 f., 310. Ahnlich Gregor IX., der seine Statuten 1235 ursprünglich auch für

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selbst sich E n d e 1 3 4 0 in d e r B u l l e Dudum R e v i s i o n der Summi

magistri

pro bono

z u einer f ö r m l i c h e n

verstand128.

A l s nächsttiefere n o r m a t i v e E b e n e , die, w i e die D i s p e n s p r a x i s , bereits an die Realität des einzelnen K l o s t e r s u n d P r i o r a t s h e r a n r e i c h t , k ö n n t e m a n die B e s c h l ü s s e der G e n e r a l - u n d P r o v i n z i a l k a p i t e l charakterisieren, die für die K l ö s t e r u n d P r i o r a t e eines O r d e n s , eines K l o s t e r v e r b a n d e s o d e r eines regional genau definierten R a u m e s , v e r b i n d l i c h sein w o l l e n , aber n o c h d e r W e i t e r g a b e auf die lokale E b e n e b e d ü r f e n 1 2 9 . H i e r w i r k t e sich, gleichsam s c h o n b e i m ersten Schritt d e r U m s e t z u n g der B u l l e n in die W i r k l i c h k e i t , d e r u n t e r s c h i e d l i c h e G r a d der Institutionalisierung bei d e n A d r e s s a t e n e n t s c h e i d e n d aus. H a t t e B e n e d i k t bei

Zisterziensern

u n d F r a n z i s k a n e r n die O r d e n s s p i t z e z u r M i t a r b e i t an d e r B u l l e selbst g e w o n n e n , so w a r d a m i t prinzipiell die erste Stufe der R e z e p t i o n d e r Bulle, auf d e m G e n e r a l k a p i t e l n ä m l i c h , gesichert. Z u d e m bieten diese Orden

dem

Historiker

den

unschätzbaren

Vorteil,

mit

ihren

Ge-

neralkapitelsbeschlüssen eine zentrale, gut z u g ä n g l i c h e Q u e l l e z u r V e r f ü g u n g z u stellen, in d e r das E c h o d e r B u l l e leicht z u v e r f o l g e n ist. E s ist d a h e r kein Zufall, daß A u t o r e n , die B e n e d i k t s R e f o r m e n eine s t ä r k e r e

Nonnen verpflichtend gemacht, in der Neufassung von 1237 das entsprechende Schlußkapitel weggelassen hatte ( A u v r a y [wie Anm. 10], 3045 A, c. 54). Uneinheitlich später auch das Verhalten der einzelnen Reformbewegungen, S. Justina ist strikt dagegen, Bursfelder Äbte kümmern sich auch um Nonnen, die freilich nicht in den Verband integriert werden; F r a n k , Erfurt (wie Anm. 123), S. 204-212. 128 Insignes difficultates & infrascripta dubia hatten ihn auf inständige Bitten hin (ad eorum supplicationis instantiam) veranlaßt, quaedam ex eis moderanda, & et mitiganda, aliqua vero mutanda & declaranda (Bull. Rom. [wie Anm. 4], S. 287 b). 129 Das gilt auch für andere ,Klosterreformer' unterschiedlichster Art, die sich en bloc oder en detail auf sie beriefen. Z. B. wollte Dom Isaie Jaunay, Mönch aus Marmoutier und seit 1603 General der gallikanischen Kongregation, 1605 die Benedictina zur Mindestforderung seiner Reform machen; vgl. E. M a r t é n e , Histoire de l'abbaye de Marmoutier, publ. pour la premiére fois, annotée et complétée par l'abbé C. C h e v a l l i e r (= Mémoires de la Société Archéologique de Touraine 24/25, 1874/1875), 2, S. 441 ff. Die Reformvorschläge, die Kg. Heinrich V. von England 1421 den von ihm nach Westminster befohlenen Äbten und Prioren vorlegen ließ, beriefen sich teils explizit auf die Bulle, teils wichen sie dezidiert davon ab ( P a n t i n [wie Anm. 2] 2, S. 105 ff.); auch das (formal falsche) Zitat in der Denkschrift von Äbten (Benediktiner und Zisterzienser) auf der großen Versammlung zur Reform der Kirche Frankreichs in Tours 1493 ed. M. G o d e t , in: R H E F 2 [1911], S. 190-196, hier S. 195. - Freilich darf man die Bedeutung einer derartigen Berufung auch nicht überschätzen. Diese Gefahr ist gegeben, wenn man liest, bis ins 20. Jahrhundert habe „kein Kirchengesetz" von den Benediktinern „mehr als die Beobachtung von Kanon 12 in singulis, ergänzt durch die Bestimmungen der Benedictina von 1336" verlangt ( S c h m i t z [wie Anm. 2], S. 59). Das bezieht sich nur auf die Abhaltung der Provinzialkapitel und der Visitationen - und hier ist zu bemerken, daß die einschlägigen Anordnungen Innocenz' III. und Honorius' ins Kirchenrecht eingingen, nicht aber die Gregors IX. und Benedikts XII. Dennoch waren sie als normative Quelle hoher Autorität in dem Sinne niemals überholt, als jeder, der vergleichbare Ziele an-

Die Ordensreformen Benedikts XII.

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Wirkung zuschreiben, gerade auf diese beiden Orden verweisen 130 . Auch hier sind freilich die Tücken der Materie - und der Quellen nicht zu unterschätzen. Nicht nur bei Franziskanern und Cluniazensern, selbst bei den Zisterziensern ist die Rezeption viel komplizierter als es bei einem Blick auf die Erwähnungen Benedikts in späteren Generalkapitelsstatuten den Anschein hat. Sie haben zwar 1335 sofort die Bulle als verpflichtende N o r m zitiert und ihre Umsetzung in die Realität in die Wege geleitet. Aber die Überarbeitung des Libellus scheitert und wird 1340 .vorläufig' zurückgestellt - bis die Bulle ihre Brisanz verloren hat. Im Zuge der Rezeption stehen Berufungen auf die Bulle zur Bekräftigung einzelner Forderungen neben Zeugnissen für Verweigerung und Widerstand, zumindest der .Interpretation' 131 . Erst recht gilt dies für Aussagen über .die' Benediktiner, ist doch bekannt, daß die mittlere Ebene der Normsetzung, hier die der Provinzialkapitel, nur fragmentarisch zu greifen ist. Dies liegt nicht, wie man hoffen konnte, an ungenügender Aufarbeitung der Quellen 132 , strebte, sich auf diese Autorität berufen konnte - auch wenn sich in der Praxis „schon lange ... niemand mehr daran (hielt)" ( S c h m i t z , S. 79). Sehr gut läßt sich dieses Fortwirken ähnlich hochrangiger Quellen bei den Cluniazensern beobachten, für die à la longue die statuta papalia des 13. Jahrhunderts, Gregors IX. und besonders Nikolaus' IV., eine höhere Bedeutung hatten. 130 Z. B. S c h i m m e l p f e n n i g (wie Anm. 1). 131 Hier ist nicht die bloße Mißachtung einer Norm, indem man sie z. B. .einfach nicht zur Kenntnis nimmt' (Stat. 1336. 4) oder schlichter Ungehorsam gemeint, der immer mal vorkommt, sondern die Verfechtung eines ihr entgegengesetzten eigenen .Rechts' (vgl. unten S. 419); auf der Ebene des Ordens wird dies z. B. 1337 bei den Franziskanern besonders deutlich, als sie die Bulle Benedikts .akzeptierten', bei der Neufassung ihrer Statuten aber besonders strittige Punkte ausklammerten - wie es die Bulle ihrerseits bereits getan hatte (Armut, Kleidung!) - bis sie dann noch zu Lebzeiten Benedikts auch diese Fassung wieder zugunsten der älteren Statuten zu revidieren begannen; B i h 1 (wie Anm. 11), S. 69-169, hier S. 96 ff. Instruktiv sind die Bemühungen, problematische Punkte zu sammeln und dem Papst durch eine Verhandlungsdelegation zu präsentieren wie wir es aus Cluny und von den englischen Benediktinern, aber eben auch von Cîteaux erfahren. Grosso modo kann man sagen, daß die Generalkapitel die Bulle vor allem bei den Problemen heranzogen, bei denen sie sich seit Jahrzehnten - mehr oder minder vergeblich - bemühten, ihre Statuten durchzusetzen, beim Besuch der Generalkapitel wie der Studien und bei Verkäufen von Klosterbesitz etc. (vgl. dazu unten S. 422 f. mit Anm. 152 f.). Der Konsens des Konvents scheint ihnen dabei weniger am Herzen gelegen zu haben, als z. B. der des .Ordenskommissars' - oder war er so unproblematisch? Wohl kaum; vgl. 1340. 6 , 1 7 , 1 3 4 1 . 5 und 1344. 7 (mit .abtfreundlicher' Interpretation des Ratspassus der Benediktsregel, was an die Zurückhaltung gegenüber einem Konventssiegel erinnert). 132 Ich teile nicht mehr den Optimismus B e r 1 i è r e s , der auf eine umfassende Durchsicht der Archive setzte (z. B. Les chapitres généraux de l'ordre de St-Benoît dans la province de Cologne-Trêves, Bulletin de la Commission Royale d'Histoire de Belgique 10, 5 m e série [1900], S. 125-185, hier 129; der Ertrag langwieriger Nachforschungen in französischen Archiven und Bibliotheken, z. B. auch die systematische

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a u c h nicht

allein an der U n g u n s t

der Überlieferung,

sondern

ihre

. L ü c k e n ' spiegeln w e i t h i n die W i r k l i c h k e i t selbst w i e d e r ; d. h. w o w i r keine N a c h r i c h t e n ü b e r P r o v i n z i a l k a p i t e l haben, f a n d e n vielfach t a t sächlich keine statt. D i e s e r m e t h o d i s c h an sich b e d e n k l i c h e Schluß e sile n t i o ist z. B . für d e n d e u t s c h e n B e r e i c h z u e r h ä r t e n . D o r t sind, m i t A u s n a h m e des bereits b e s p r o c h e n e n k u r z e n A n l a u f s in Salzburg (bis z u d e n V i s i t a t i o n e n der J a h r e 1 3 4 0 / 4 1 ) u n d

des s c h o n i m A n s a t z

ge-

s c h e i t e r t e n V e r s u c h s in M a i n z - B a m b e r g 1 3 3 , P r o v i n z i a l k a p i t e l m i t z i e m licher Sicherheit a u s z u s c h l i e ß e n 1 3 4 . U m g e k e h r t belegen die A k t e n beispielsweise in E n g l a n d , d a ß die V e r s a m m l u n g e n d e r neuen, 1 3 3 6 gebildeten . n a t i o n a l e n P r o v i n z ' m i t b e e i n d r u c k e n d e r R e g e l m ä ß i g k e i t bis z u r A u f h e b u n g der K l ö s t e r i m 16. J a h r h u n d e r t s t a t t g e f u n d e n

haben;

d o r t k ö n n e n w i r a u c h a u f g r u n d e n t s p r e c h e n d e r H i n w e i s e in d e n Q u e l len m i t g u t e n G r ü n d e n

v e r m u t e n , d a ß a u c h in d e r Zeit, w o die A k t e n

Durchsicht des einige Dutzend Folianten umfassenden Monasticon Benedictinum in der Pariser Bibl.Nat., war zu enttäuschend. Vgl. oben Anm. 116 zu den Umfragen von 1338. 133 In Fulda beugten sich bekanntlich die - ohnehin schon in geringer Zahl - versammelten Abte und Prokuratoren der Provinz Mainz-Bamberg Ende Juni 1338 bereitwillig der von einem Boten überbrachten Auflösungsverfügung des Kaisers; Chron. S. Petri Erfordernis. Contin. I (ed. O. H o l d e r - E g g e r , MGH SRG [in us. schol.], 1899), S. 373. Vgl. dagegen die Reaktion der Engländer (oben Anm. 115). - Sonst scheint nirgends ein Provinzialkapitel stattgefunden zu haben, obwohl Benedikt im Januar 1338 die Äbte von St. Martin in Köln und St. Matthias bei Trier zu zusätzlichen Exekutoren in ihrer Provinz bestellt hatte (s. oben Anm. 112). Statt dessen schärfte Erzbischof Balduin, der gerade in diesem Jahr die Synodaltätigkeit wieder belebte, am 8. April den Benediktinern die Beachtung der päpstlichen Statuten ein; dabei steht die Benedictina in einer Reihe mit den Konstitutionen Innocenz' III. und Clemens' V. (Statuta synodalia, ordinationes et mandata archidiocesis Trevirensis ed. J. J. B 1 a 11 a u , I [1844], S. 28 f.). Balduins Text findet sich denn auch in ,Reformhandschriften' des 15. Jahrhunderts. 134 Schon die Art der Uberlieferung der Salzburger Akten und die Zusammenstellung von .Reformhandschriften' wie Trier, Sem.bibl. 224 (s. oben Anm. 124), Brüssel 3717 oder clm 4406 schließt die Annahme einer verlorenen Zwischenüberlieferung unbekannter Provinzialkapitel aus. Vgl. auch das Schreiben Papst Martins V. an die Präsidenten des Kapitels der Provinz Köln-Trier von 1422, wonach celebratio capitulorum huiusmodi in plerisque mundi partibus extitit negligenter amissa (ed. [C.] L a g e r , Bulle Martin V. betreffend die Abhaltung von Provinzial-Capiteln der Benedictiner in Sachen der Reform - Reformstatuten des Provinzial-Capitels von St. Maximini im J. 1422, in: SMBO 15 [1895], S. 95-111, Zit. 96). Noch in Basel, mehr als ein Dutzend Jahre nach der Versammlung in Petershausen, forderte Johannes Rode, der Trierer Reformer, ut in provintiis Alamanniae, in quibus iam visitatores constituti sunt, detur aliquibus potestas convocandi provintiale capitulum et congregandi et assumendi in presidentibus sibi reformatos, quia in sola provincia Maguntina et non in aliis capitula provintialia tenta sunt (Concilium Basiiiense. Studien und Quellen zur Geschichte des Konzils von Basel VIII., [1936; Nd. 1971], S. 147). In Magdeburg-Bremen mußte, trotz der Aufforderung des Konzils, Nikolaus von Kues „das Äbtekapitel ... 1451 neu konstituieren"; vgl. F r a n k , Erfurt (wie Anm. 123), S. 186 f.

Die Ordensreformen Benedikts X I I .

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die .einzige ernsthafte Lücke aufweisen', Kapitel abgehalten wurden 1 3 5 . Keine vergleichbare Chance, das Verhältnis zwischen erhaltenem, verlorenem und (mangels Versammlung) nie entstandenem Material genauer bestimmen zu können, haben wir dagegen bei Frankreich, wo die Kapitel verständlicherweise am schnellsten in Gang kamen - aber sehr unregelmäßig überliefert sind 136 . Wir müssen uns damit abfinden, daß neben Provinzen, in denen recht regelmäßig Kapitel stattgefunden haben, solche mit gelegentlichen Zeugnissen stehen und auch nicht wenige ohne jeden Hinweis, daß je ein Provinzialkapitel stattgefunden hätte. Insofern endet die unmittelbare Wirkung der Summi magistri vielerorts schon auf dieser Ebene. Ein Blick auf die zeitliche und geographische Verteilung der überlieferten Provinzialkapitel sollte auch davor warnen, die Ursachen für die Lücken allzu schnell in den viel zitierten äußeren Ereignissen zu suchen, die eine Abhaltung der Kapitel verhindert hätten. Im Reich haben wir das Verbot Ludwigs IV., das aber nur teilweise und nur für wenige Jahre geltend gemacht werden kann - und von den englischen Äbten wissen wir, wie man damit auch umgehen konnte. Größere Bedeutung hatte in Frankreich, dessen Befund leicht generalisiert wird, sicherlich der Hundertjährige Krieg; es gibt - ganz vereinzelte - Klagen von Zeitgenossen, daß sie deswegen ihre Kapitel suspendieren mußten, aber 1337 hatte er kaum begonnen, und auch in den folgenden Jahrzehnten müssen seine Auswirkungen zeitlich und räumlich differenziert werden - sie korrelieren nicht mit dem Befund der Provinzialkapitel 137 . Auch die immer wieder an135 Vgl. P a n t i n , Chapters (wie Anm. 123), S. 215. 136 Schon im Mai 1337 tagten die Abte der Provinz Arles, im Juni die von Narbonne, Rouen und Reims; ein Kapitel für Bourges-Bordeaux ist vor 1367 nicht belegt, doch war Gregor von Issoire als Visitator tätig; vgl. die Supplik von 1342 ed. B e r 1 i è r e , Chapitres (wie Anm. 2), app. II; ebd. S. 135-155 die (fast vollständige) Zusammenstellung der belegten Kapitel. 137 In der Auvergne z. B., wo die Abteien der .Reformer' Gregor von Issoire und Johannes von La Chaise Dieu lagen, ist nur ein Kapitel 1367 bezeugt (vgl. Anm. 136); spürbar wurde der Krieg hier erst seit 1353 ( G a u s s i n [wie Anm. 41], S. 433). Vgl. auch Arles, das weit weg vom Krieg lag. Die Provinz Narbonne-Toulouse-Auch dagegen hat eine ähnlich beeindruckende Serie von Kapiteln aufzuweisen wie England, - Klagen, daß die Äbte wegen des Krieges die Kapitel für längere Zeit suspendieren mußten, gibt es nur aus dem Jahr 1449; vgl. die umfassende Sammlung von Kriegsschädenbelegen, die vielfältig, aber nicht für die Kapitel ergänzt werden konnten, von H. D e n i f 1 e , La désolation des églises, monastères et hôpitaux en France pendant la Guerre de Cent Ans, (1897/99 Nd. 1964), hier I, S. 575 f. Selbst für Nordfrankreich und die Normandie müssen die .Verheerungen' differenziert werden; vgl. etwa für die Cluniazenser Ph. R a c i n e t , Les monastères clunisiens dans les diocèses de Soissons, de Senlis et de Beauvais. Evolution et permanence d'un ancien ordre bénédictin à la fin du Moyen Age et au X V I e

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geführte Pest und das Große Abendländische Schisma haben sicherlich die Abhaltung von Kapiteln erschwert. Wir können ihre Auswirkungen auch bei den Verbänden mit funktionierenden Kapiteln beobachten, bei Cluniazensern, Zisterziensern oder den Bettelorden. Ihre Kapitel aber fanden weithin kontinuierlich statt, und auch die englischen Benediktiner ließen sich weder durch Pest noch durch Krieg nachhaltig von ihren Versammlungen fernhalten. Das macht deutlich, daß wir es hier, um die Unterscheidung K. Elms 138 zu variieren, nicht mit ,Ursachen', sondern .verstärkenden Faktoren' einer grundsätzlichen Haltung zu tun haben. Die Ursachen sind vielmehr in der spezifischen Eigenart der Benediktiner zu suchen, die dem .menschlichen Faktor', den Äbten mehr noch als den Mönchen 139 , auch in diesem Punkt entscheidendes Gewicht gab 140 . Wollten die Abte Kapitel, dann fanden sie auch Mittel und Wege, sie abzuhalten. Standen sie ihnen ablehnend gegenüber, so ließen sich genügend .gute Gründe' für das Fernbleiben finden - auch hier ist ein Blick nach England oder in die reichen cluniazensischen Akten lehrreich 141 . Die Einstellung der Äbte gegenüber den angeordneten Kapiteln, ihre Bereitschaft, mehr oder minder freiwillig mitzuwirken, entschied, wie im 13. Jahrhundert und wiederum nach dem neuen Anlauf in Konstanz/Petershausen im 15. Jahrhundert, über Stärke und Schwäche der benediktinischen Institutionen. Sie wurzelt, abgesehen von individuellen Motiven mehr oder minder ehrenwerter Art, letztlich im Selbstverständnis der Äbte, die effektive klosterübergreifende Struk-

s. 1280-1570 (thèse 1983); D e r s. Méthode de recherche sur les prieurés Clunisiens à la fin du Moyen Age, in: RMab 61 (1986), S. 1-31; für die Prämonstratenser D. L o h r m a n n , Die Wirtschaftshöfe der Prämonstratenser im hohen und späten Mittelalter, in: Die Grundherrschaft im späten Mittelalter hg. v. H. P a t z e (= VuF XXVII, 1983) I, S. 205-240, hier S. 230 ff. Allgemein vgl. nur die neueren Monographien von J. F a v i e r , La Guerre de Cent Ans (1980), bes. S. 84 ff.; G. B o i s , Crise du féodalisme (1981), bes. S. 239 ff. 139 Vgl. die pauschale Aussage des zeitgenössischen Juristen Alberich von Rosate (t 1360 in Bergamo) in seinem Dictionariiim iuris tarn civilis quam canonici (Venedig 1573; Nd. 1971) s. v. Monachus: Quod tarnen observatum non fuit ut alias, nec servatur, propter abundantiam, insolentiam et petulantiam malorum monachorum. 140 Das folgt direkt aus der im echten Wortsinn dominierenden Position des Abtes in seinem Kloster, wenn auch Beispiele von (gewaltsamem) Widerstand gegen Äbte, gegen .gute' (auch reformgesinnte), vor allem aber gegen .schlechte' immer wieder vorkommen; auch Reformer haben die entscheidende Rolle des Abtes immer wieder betont; s. unten S. 433 f. mit Anm. 190. 141 Hier sind ganze Bände mit Entschuldigungsschreiben überliefert (z. B. Paris BN n.a.l. 2272), die in ihrer alphabetischen Zusammenstellung deutlicher als die chronologisch geordnete Edition erstaunliche .Häufungen' erkennen lassen - vor allem bei Äbten und Prioren, die Probleme mit Clunys Führungsanspruch hatten; vgl. C y g 1 e r (wie Anm. 67).

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turen mit Satzungs- und Kontrollgewalt ablehnten - wie die Salzburger Exekutoren der Bulle schon 1338 nach Avignon schrieben - und daher prinzipiell wie im Einzelfall ihre Autonomie verteidigten142. Bei den benediktinischen Abteien, die nicht wie die zisterziensischen oder auch cluniazensischen in einen übergreifenden Verband eingebunden waren, dessen Normsetzungs- und Kontrollanspruch von der zentralen Norm abweichende Statuten oder Gewohnheiten des Einzelklosters nicht tolerierte143, sind diese klosterspezifischen Regelungen des täglichen Lebens eine dritte normative Ebene eigenen Rechts, die in der Tradition wie in der Satzungsgewalt des Abtes nach der Regel des hl. Benedikt ihre Legitimation gegenüber jeglichem .Reformeingriff' von außen findet144. Unter diesem Gesichtspunkt sind, ähnlich wie die Orden und Verbände mit zentralen Satzungen, die Provinzen, in denen Provinzialkapitel tatsächlich stattfanden und die Bulle nachweislich in die einzelnen Klöster gelangte, für die Abschätzung der Wirkung einer .Reform von oben' interessanter als Gebiete, in denen keine Spur davon festzustellen ist. Hier besteht wenigstens die Chance, zumindest ansatzweise zu beobachten, wie die .Reformer' selbst mit ihren - oder ihnen vom Papst oktroyierten? - Forderungen umgegangen sind145. Hier be-

142 S. oben S. 411 mit Anm. 120. Die berühmte normannische Abtei Bec mit zahlreichen Prioraten in England und gut funktionierendem eigenen Generalkapitel ließ sich nicht nur wie andere 1253 von den Statuten Gregors IX. dispensieren, sondern verteidigte 1285 in einer Denkschrift ihre von den .übrigen Benediktinern' abweichenden Bräuche (Paris BN lat. 12884, f. 354' und f. 415^17) - obwohl Abt. Ymerius (1282-1304), im Unterschied zu seinen Vorgängern, 1285 das Provinzialkapitel besuchte (GChr 11, Sp. 233; A.A. P o r e e , Histoire de l'abbaye du Bec [1901], II, S. 20); vgl. auch RClem. (wie Anm. 38) 2576. Die Behauptung der organisatorischen Autonomie schließt, wie bei Cluny zu sehen, wo die Bulle anscheinend nie förmlich in den Statuten übernommen wurde, nicht aus, daß man für bestimmte Probleme ihre Autorität heranzog. 143 Neben der grundlegenden Carta caritatis (wie Anm. 5), S. 133 und S. 135 vgl. direkt aus .unserem' Zusammenhang Stat. 1336. 3 das jede der Bulle entgegen gesetzte ordinatio, conventio, contractus, consuetudines verurteilt; vgl. Stat. 1343. 6, 1341. 3,1342.1. 144 Seit jeher verfechten die Benediktiner die Berechtigung der Vielfalt der Formen monastischen Lebens; vgl. jüngst G. C o n s t a b l e , The Diversity of Religious Life and Acceptance of Social Pluralism in the Twelfth Century, in: History, Society and the Church. Essays in honour of O. Chadwick ed. D. B e a 1 e s/G. B e s t (1985), S. 29-47, hier S. 40 f. Zur rechtlichen Seite (die Änderung der Konstitutionen bedarf des Konsenses, da sie in die iura quaesita der Mönche aufgrund der Profeß zu den damals geltenden Bedingungen eingreift) Ph. H o f m e i s t e r , Die Teilnehmer an den Generalkapiteln im Benediktinerorden, in: Ephemerides iuris canonici 5 (1949), S. 368-459, hier S. 452; schon die mittelalterlichen Reformer haben sich mit dieser Problematik auseinandergesetzt; vgl. etwa Jakob von Jüterbog ( F r a n k , Erfurt [wie Anm. 123], S. 83 Anm. 62); vgl. auch oben Anm. 9 und unten S. 429 f. mit Anm. 177-181. 145 England vor allem und Narbonne-Toulouse. Auch mit Klöstern wie Lagrasse, Montolieu oder Psalmody, wo zeitweilig Pierre Bohier als Präsident wirkte und einen

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stätigt sich gleichsam im .kleinen', für die Umsetzung in die Realität aber wichtigen Bereich, was bei den Orden und Cluny an den allgemein verbindlichen Statuten abzulesen ist: Kenntnis und Anerkennung der Bulle führte nicht unbedingt zu ihrer Übernahme in das eigene .Recht', in Statuten und Gewohnheiten, was sich ja auch bei den großen Reformkongregationen des späten 14., und 15. Jahrhundert wieder zeigt von der Beobachtung der Einzelforderungen in der Praxis einmal abgesehen 1 4 6 .

Wenden wir uns abschließend diesem für die Wirkung einer Reform letztlich entscheidenden Feld zu, so kann das wiederum nur in der F o r m einer methodischen Bemerkung geschehen. W i r haben aufgrund der Quellenlage keine Möglichkeit das Urteil eines Nikolaus von Siegen, „für den gewöhnlich alles, was nicht seiner Observanz entsprach, Verfall und Ruin w a r " 1 4 7 , über die in jeder Hinsicht schwarzen Mönche, die allenfalls äußerlich durch die Clementina und die Benedictina aufgehellt worden seien 1 4 8 , und ähnliche Zeugnisse, die immer wieder angeführt werden, durch eine quantitative Analyse oder auch nur repräsentative Untersuchung zu bestätigen oder zu verwerfen. Sowohl die vielbeschworenen .Mißstände', zu deren Problematik nicht zuletzt J. L o r t z schon das Notwendige gesagt hat 1 4 9 , wie die ,LichtKommentar zur Bulle schrieb, der bei den Kapitelsakten verwahrt ( B e s s e [wie Anm. 73], S. 13 bzw. S. 18 zu 1368 und 1393) und noch 1519 gedruckt wurde! Zu Pierre Bohier, der auch zwei Regelkommentare verfaßte, den Liber Pontificalis glossierte, Bischof von Orvieto wurde und eine gewisse Rolle im Schisma spielte, vgl. DHGE 9 (1935), Sp. 514-516; DBI 11 (1969), Sp. 193-203; Liber pontificalis nella recensione di Pietro Guglielmo OSB e del cardinale Pandolfo, glossato da Pietro Bohier OSB, vescovo di Orvieto. Introduzione - Testo - Indici, a cura diU. P r e r o v s k y ( = Studi Gratiani 21-23, 1978), I, S. 153-200. 146 Man denke nur an Gregor von Issoire (s. oben 85). Vgl. auch die gut dokumentierten Verhältnisse in England (s. Anm. 151). 147 J. L e i n w e b e r , Zur spätmittelalterl. Klosterreform in Fulda - Eine Fuldaer Reformgruppe? in: Consuetudines monasticae. Eine Festgabe für K. Hallinger aus Anlaß seines 70. Geburtstages (StAns 85, 1982), S. 303-331, hier S. 330 f. mit Hinweis auf H i 1 p i s c h (wie Anm. 10), S. 253. Vgl. schon R e d l i c h (wie Anm. 123), S. 16; jetzt F r a n k , Erfurt (wie Anm. 123), bes. S. 141-143 und S. 266-268. Vgl. auch den Beitrag von K. S c h r e i n e r in diesem Band. 148 Et ita denigratus edam super carbones, quod pene totum desipuit, nam licet aliqualiter per Benedictinam nec non Clementinam exterius restrictus ordo fuit; attamen in interioribus nigri permanserunt (Chronicon ecclesiasticum ed. F. X. W e g e 1 e , Thüring. Geschichtsquellen 2[1855], S. 414 f). ' 149 Zur Problematik der Mißstände im Spätmittelalter, in: TThZ 1949, S. 1-26, 212227, 257-271, 347-357; auch sep. 1950. Er führte die Diskussion über die alte Front-

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blicke', „lassen sich zwar durch entsprechende Quellenzeugnisse erhärten", nicht aber flächendeckend in ihrem jeweiligen Verhältnis genauer bestimmen; selbst in kleinen Räumen „muß mit disparaten Entwicklungsrhythmen gerechnet werden, genauer: mit der Gleichzeitigkeit von armen und wohlhabenden, geistig regen und geistig desinteressierten, sozial exklusiven und sozial offenen, reformunwilligen und reformfreundlichen Konventen" 1 5 0 . Ein pauschales Urteil über die Wirksamkeit der Bulle verbietet sich angesichts der disparaten Wirklichkeit (davor und danach) von selbst, wenn es sich nicht auf die Beschreibung eines Trends oder einer grundsätzlichen Haltung beschränken will, von der mehr oder minder große Abweichungen möglich sind. Man denke wiederum nur an die englischen Benediktiner mit der nirgends sonst erreichten Regelmäßigkeit ihrer Kapitel, aus der freilich nicht eine entsprechende Realisierung der inhaltlichen Reformforderungen abgeleitet werden kann 151 . Wie beim klösterlichen Leben überhaupt, sind wir bei der Verbreitung der Bulle wie bei ihrer Beobachtung im Alltag auf die Sammlung von Eindrücken aufgrund von Einzelfällen angewiesen, von denen wir nicht immer sagen können, überspitzt formuliert, wie weit sie eher die Ausnahme oder die Regel repräsentieren. Diese Einschränkung gilt selbst, wenn wir einmal eine so exzeptionelle Quelle wie die Statuten der zisterziensischen Generalkapitel von 1344,1389 oder 1390 vor uns haben, wo wir .Normalität' und eben nicht nur tadelnswerte Abweichung davon fassen können. Dann sehen

Stellung zwischen reformatorisch und aufklärerisch-liberal geprägter grundsätzlicher Kritik (die gleichsam .Stellen sammelte') und apologetischer Bemühungen (die etwa, wie L. F e b v r e einmal kritisch anmerkte, Mißstände gerne zu individuellen Fehlern erklärte, wodurch das Wichtige, die Prinzipien, aus der Schußlinie geriet) hinaus. Zur ersten Kategorie zählt eine ganze Reihe von Arbeiten über .Zustände am Vorabend der Reformation'; vgl. auch E. J o r d a n s Kritik an G. G. C o u 11 o n , Five Centuries of Religion, II: The Friars and the Deadweight of Tradition, 1200-1400 [1927], R H 162 [1929], S. 106 f.). Vgl. schon - mit Bezug auf die Kurie - J. H a l l e r , Papsttum und Kirchenreform. Vier Kapitel zur Geschichte des ausgehenden Mittelalters, bes. S. 3 ff. Weitere Titel zur .vorreformationsgeschichtlichen Diskussion' auch bei E 1 m (wie Anm. 4), Anm. 2. 150 S c h r e i n e r , Germ.Ben. (wie Anm. 121), S. 49; vgl. auch seine detaillierte Untersuchung der unterschiedlichen Aufnahme der Reformforderungen von Petershausen in einem eng begrenzten Raum (Untersuchungen [wie Anm. 121], bes. S. 73 ff.). Selbst in einem Kloster, das sich dem Anschluß an die Reform verweigerte, dessen Geschichte „gekennzeichnet (war) durch einen allgemeinen Niedergang", fehlten nicht gegenläufige Trends; vgl. L e i n w e b e r (wie Anm. 147), Zit. S. 303; vgl. dagegen bes. 330 f. 151 Was nicht .Verfall' bedeutet! Im Gegenteil neigt man zu einer Aufhellung des aufgrund der zeitgenössischen Kritiker und Arbeiten wie der von S n a p e (wie Anm. 15) zu dunkel geratenen Bildes des englischen Mönchtums; vgl. schon P a n t i n , Chapters

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wir z. B., wie reihenweise eine wesentliche Bestimmung der Bulle über die Verkäufe von Klostergut - praktiziert wurde. In den anderen Jahren, und die sind leider die weitaus zahlreicheren, fehlen uns derartige Aufzeichnungen, weil sie ja nur Verwaltungsakte waren, die nach Erledigung des Geschäfts .uninteressant' waren - außer für den Historiker. Freilich kann dieser auch bei ihnen nicht abschätzen, in welchem Grade sie die Wirklichkeit widerspiegeln, d. h. wie vollständig diese Listen sind. Erfuhren die Generalkapitel, wie von der Bulle Fulgens gefordert, von allen wichtigeren Transaktionen? Enthalten die Listen wenigstens alle Verkäufe, für die vorschriftsmäßig die Genehmigung des Generalkapitels eingeholt wurde? Wie oft wurde die Genehmigung verweigert und was geschah dann? Das sind Fragen, für die es keine Antwort gibt. Selbst der mühsame Weg über die U r kundenbücher und Archive der Klöster führt hier nicht weiter, da das verkaufte Gut mit dem Ausscheiden aus dem Klostervermögen für die Verwaltung in der Regel uninteressant wird. Selbst bei den in den Statuten verzeichneten Verkäufen gibt es Probleme, können wir doch z. B. kaum feststellen, ob das Generalkapitel getäuscht wurde, indem eine den Normen entsprechende Begründung oder, noch besser, ein Tausch vorgespiegelt wurde 152 . Es bot sich zwar aus praktischen Gründen an, aber prinzipiell dürfte es überdies nicht unproblematisch gewesen sein, benachbarte Abte als Kommissare zu bestellen, die unter Umständen in ähnlich schlechten finanziellen Verhältnissen ihrerseits von demselben Abt kontrolliert wurden. Beispiele dafür gibt es, ebenso dafür, daß manche faulen Geschäfte erkannt wurden 153 . (wie Anm. 2) und D. K n o w 1 e s , The Religious Orders in England (1956 e ], bes. S. 318 f., neuerdings etwa J. C. D i c k i n s o n , Ecclesiastical History of England. Later Middle Ages (1979), bes. S. 190 ff., 280 ff. Bei Cluny, dessen Geschichte seit Petrus Venerabilis G. D e V a l o u s noch 1970 als „mouvement irrésistible de décadence" zusammengefaßt hatte (wie Anm. 38, S. XVII), setzt sich Ph. R a c i n e t aufgrund seiner Untersuchungen der nordfranzösischen Provinzen massiv für eine Korrektur dieses überkommenen Bildes ein (wie Anm. 137). Es fehlt in der Tat nicht an positiven Nachrichten in den per definitionem kritischen Visitationsakten. Viel hängt dabei von der Bewertung dieser schwierigen Quellengattung ab, die wir vielleicht bald besser einschätzen können. Dann wird sich zeigen, ob Racinets Revision nicht doch über das Ziel hinausschießt. S. dazu auch G. M e 1 v i 11 e , Die „Exhortatiunculae" des Girardus de Arvernia an die Cluniazenser. Bilanz im Alltag einer Reformierungsphase, in: Ecclesia und regnum. Festschrift für F.-J. Schmale (1989), S. 203-234. 152 In ähnlicher Weise wäre die in Klostermonographien immer wieder konstatierte Verschiebung von (freien) Schenkungen zu bedingten oder gar Kauf im 13. Jahrhundert zu überprüfen. Entspricht das Bild, wie es aus den Quellen des Klosters gewonnen wird, der Realität, was gemeinhin angenommen wird, oder aber wird es von der Beachtung, der verschleierten oder schließlich offen zugegebenen Abweichung vom ursprünglichen Verbot käuflichen Erwerbs beeinflußt? 153 Betroffene Abte als Kommissare z. B. 1344. 48, 57, 72 f.; eine ausdrücklich ver-

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Trotz aller systemimmanenten Mängel aber bieten derartige Statuten- und Entscheidungssammlungen, wie sie bei den Zisterziensern, Franziskanern und Cluniazensern vorliegen, eine unvergleichlich bessere Chance, die Rezeption der Bulle zumindest in der Norm zu verfolgen, wie es bei den Benediktinern in vergleichbarer Weise nur in England und dann wieder nach dem Neuansatz von 1417 möglich ist. Man kann freilich aus dieser Not der Quellenlage, die ohnehin keine auch nur annähernd quantitative Auswertung erlaubt, auch eine methodische Tugend machen, indem man die Bedeutung der .Fakten' zugunsten der ,Ideen', der „atmosphère spirituelle" zurückstuft, wie es seinerzeit L. Febvre mit Verve für die Erforschung der Ursachen der Reformation gefordert hat 154 . Daran kann auch eine mit Aplomb als .Nouvelle Histoire' auftretende, prinzipiell soziologisch ausgerichtete .Histoire religieuse' anknüpfen, nachdem man die Schwierigkeit erkannt hat, den Bezug zwischen .Infrastruktur und Superstrukturen auf den Begriff zu bringen' 155 . Es scheint in der Tat nicht ausgemacht, daß sagte Genehmigung in 1389. 58. Da eine negative Entscheidung nur ausnahmsweise überliefert ist, bedauert man umso mehr, daß diese interessanten Akten nicht in längeren Reihen überliefert sind kann man doch das Ergebnis des Auftrages in den Akten späterer Jahre nur selten finden (vgl. z. B. 1326. 8 Prüfungsauftrag über Verkauf von Salinenanteilen, Genehmigung 1329. 10)..- Man fragt sich z. B., wie man die Vergabe von Häusern damit begründen kann, daß sie so wenig abwerfen, daß ein Mönch nicht davon leben kann, ein Ehepaar aber für das eine 24 1.. ein armiger für das andere 3 moddi Weizen und 8 1. Rente zu zahlen bereit sind (Stat. 1344. 33), warum Land, das unmittelbar an eine Grangie stößt minus utile sein soll (ebd. 34), wer .steriles und unnützes Land' auf Dauer pachten will (ebd. 72, 74) etc. 154 Wie Anm. 149. Es hieße ihn aber grob mißverstehen, ihm die Position eines H. B r e m o n d zu unterstellen, dem es für seine Geschichte des „sentiment religieux" im neuzeitlichen Frankreich (11 Bände, 1914-33) als .Beleg' für die Beobachtung der religiösen Wahrheiten reichte, daß man sich bemühte, danach zu leben - „ce qui revient d'ailleurs exactement au même" (11, S. 299). Eine andere, unverkennbar defensive Tendenz hat eine Kritik, die man als bewußt .innermonastisch' charakterisieren könnte, die sich gegen eine .rationalisierende Beurteilung von außen' wendet. 155 D. J u 1 i a , La religion - Histoire religieuse, in: Faire de l'histoire, 3 Bde. hrsg. v. J. L e G o f f /P. N o r a (1974), Bd. 2 (Nouvelles approches), S. 137-167, hier S. 145. Ausgangspunkt war die Forderung M. M a u s s ' von 1903 nach einer .statistischen Methode' ausgehend von der Uberzeugung: „Les changements religieux ne s'expliquent que si l'on admet que les changements sociaux produisent chez les fidèles des modifications d'idées et de désirs tels qu'ils soient nécessités à modifier les diverses parties de leur système religieux" (zit. ebd. S. 137). Richtig, möchte man sagen, nur gerade für .Reformer' jeglicher Couleur, die gegen den Trend der Zeit stehen, und insbesondere für Mönchtum, das sich als .Gegenwelt' versteht und doch in einer unlöslichen, spannungsreichen Verbindung zu seiner Umwelt steht, schwer zu .operationalisieren'; vgl. auch das kühle Fazit: „Discontent and ideological .mobility' resulting from socioeconomic grievances and resentments were important preconditions of medieval reform movements, especially when it came to the mobilization of popular support, but the leadership of such movements belies a purely materialistic interpretation of the motives and goals of participants"

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die hier und allenthalben geforderte genauere soziologische und (wirtschaftshistorische Analyse der Rahmenbedingungen Entscheidendes zur »Erklärung' von .Dekadenz' und .Reform' beitragen können, wenn man sieht, welche Diskrepanzen zwischen Klöstern (auch desselben Ordens) in derselben Gegend in derselben Zeit - d. h. aber unter weitgehend denselben äußeren Bedingungen - möglich sind 1 5 6 oder wie umgekehrt ein neuer Abt ein Kloster in kürzester Zeit in unverändertem oder sich gar verschlechterndem Umfeld .sanieren' 157 - und natürlich auch ruinieren - kann 1 5 8 . Nonchalant und etwas zugespitzt formuliert: Man kann die Zahl der Beispiele erhöhen, die .Symptome' häufen, vielleicht auch .Ursachen' und .Beschleunigungsfaktoren' in ihrem gegenseitigen Verhältnis genauer bestimmen. Das Ergebnis scheint sich schon jetzt abzuzeichnen: Auf und Ab eines Klosters folgen nicht den Konjunkturzyklen - wenn wir denn einmal über sie Einigkeit erzielen könnten, sondern eigenen Gesetzen, die sich einem solchen Zugriff entziehen. Die Ursachen sind, wie schon ihre in erstaunlichem Maße vergleichbare Wirkung in unterschiedlichsten Epochen vermuten läßt, eher grundsätzlicher als akzidenteller, eher immanenter als externer Natur. Wohl und Wehe eines Klosters hängt von der Qualität seines Abtes, als Hirt wie als Manager, in zweiter Linie von der seiner Mönche, ab, wie

(S. O z m e n t , The Age of Reform, 1250-1550. An Intellectual and Religious History of Late Médiéval and Reformation Europe [1980], S. 95). 156 Man denke nur an das .blühende' St. Blasien neben dem .dekadenten' Hirsau; vgl. oben Anm. 121 und die gut dokumentierten Beiträge von H. 0 1 1 und K. S c h r e i n e r , in: Germania Benedictina 5 (wie Anm. 121), S. 146-160, 281-303. 157 Eines der, dank der Arbeiten A. d ' H a e n e n s , am besten bekannten Beispiele eines durch die Leistung eines neuen Abtes erreichten „renouveau grandiose et complet" in schwieriger Zeit (1331-1334) ist St-Martin de Tournai; vgl. insbesondere: L'abbaye de St-Martin de Tournai de 1290 à 1350. Origines, évolution et dénouement d'une crise (1961); s. auch Anm. 169. Die Krisenfaktoren Krieg, Ansprüche der Fürsten und nicht zuletzt des Papsttums, dauerten fort - gewandelt hatte sich das Management. ,Die Leichtigkeit, mit der ein kompetenter Klosterleiter ein Haus aus scheinbar hoffnungsloser Verschuldung herausführen konnte', war für R. H. S n a p e seinerzeit ein weiterer Beweis für die seiner Meinung vorherrschende .Laxheit und Verschwendung' ([wie Anm. 15], S. 134). Die Visitationsakten Clunys bieten für beide Phänomene ebenfalls zahlreiche Beispiele. 158 Auch in prinzipiell .guten Zeiten'; vgl. dazu bereits das unverdächtige Zeugnis von G. S c h r e i b e r , Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert, Studien zur Privilegierung, Verfassung und besonders zum Eigenwesen der vorfranziskanischen Orden vornehmlich auf Grund der Papsturkunden von Paschalis II. bis auf Lucius III. (1099-1181) (= Kirchenrechtl. Abh. 65-68, 1910); Nd. 1965), Bd. 2, S. 166 ff., S. 240 ff. Vgl auch die Regionaluntersuchung von E. W i s p l i n g h o f f , Die Benediktinerklöster des Niederrheins im 13. und 14. Jahrhundert, Festschrift für H. Heimpel, hrsg. v. Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts (= Veröffentlichungen ... 36, 1972), II, S. 277-292.

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sich gerade auch angesichts von Krisen und Katastrophen zeigt159. Insofern hatten die zeitgenössischen Kritiker, auch und gerade aus den eigenen Reihen, bei aller .Reformrethorik' etwas Richtiges gesehen, wenn sie wie Alberich von Rosate 160 oder die Zisterzienseräbte 1494 die mali abbatum seu monachorum regiminis enormitasm für mangelnde Beobachtung der monastischen Norm verantwortlich machten - auch wenn es nicht die ganze Wahrheit war. Warum das persönliche Niveau nicht (immer) gehalten werden konnte, ist eine zweite Frage, die nicht pauschal mit »menschlicher Schwäche' oder .individuellem' Versagen beantwortet werden kann - und weit über den Bereich des Mönchtums hinausführt. Es war eben mehr als ein bloßer Topos, sondern eine fast in den Rang eines .Entwicklungsgesetzes' erhobene historische Erfahrung, wenn Benediktiner noch im 18. Jahrhundert neue Statuten mit dem Hinweis einleiteten, auch die besten Einrichtungen ließen im Laufe der Zeit nach und bedürften der Erneuerung162. 159 Die persönliche Komponente wird hier besonders betont, um die inzwischen gängige Relativierung von Verdienst und Schuld durch Hinweis auf die Verhältnisse ihrerseits zu relativieren. Nicht selten ist nicht nur der apologetische, sondern aktuelle ordenspolitische Zweck derartiger .historischer' Aussagen offensichtlich; wenn etwa T. L e c c i s o t t i formuliert: „La decadenza di monasteri ha le sue radici più vere et più estese in influenze esercitate da fattori esterni." (L'abbate nell'epoca moderna e contemporanea, in: Benedictina 24 [1977], S. 95-114, hier S. 97), so ordnet sich das ein in sein Plaidoyer gegen den Abbatiat auf Zeit. Die Untersuchung von P. S a l m ó n macht ihr Anliegen bereits im Untertitel deutlich: L'abbé dans la tradition monastique. Contribution à l'histoire du caractère perpétuel des supérieurs religieux en Occident (= Histoire et sociologie de l'Eglise, Bd. 2, 1962); dazu kritisch bereits H. B a c h t , in: ZKG 74 (1963), S. 136-138. Es waren eben nicht nur „die seit den Zeiten Benedikts veränderten Umweltbedingungen, (die) eine Einschränkung der Amtsgewalt des Abtes erforderten" ( F r a n k , Erfurt [wie Anm. 123, S. 43), sondern ein in der Regel Benedikts angelegtes strukturellees Problem, da sie Versagen des Abtes und Mißbrauch seiner Machtfülle nicht .vorsah* und in c. 3 über den ,Rat* der Mönche ein nur unzureichendes .Gegengewicht' bereitstellte. Wie sehr hier selbst die Zisterzienseräbte, die prinzipiell auf ihrer möglichst uneingeschränkten Herrschaft im Kloster bestanden, das zentrale Kernproblem sahen, zeigen die in der Bulle Benedikts XII. gipfelnden Kautelen und Kontrollen des Umgangs mit dem Klostervermögen, die sie insbesondere im 14. Jahrhundert in rascher Folge beschlossen (vgl. oben S. 401 f. und S. 422 f. mit Anm. 152 f.). 160 S. oben Anm. 139. 161 Stat. 1494. 39; vgl. auch 1484. 53. 162 Paris Arch. Nat L 868 Nr. 28. Besonders klar formuliert ist die „Theorie vom fast gesetzmäßigen Abschwung religiöser Frömmigkeit" ( E l m , Verfall [wie Anm. 1], S. 201) in einem dem hl. Bonaventura zugeschriebenen Traktat aus dem späten 13. Jahrhundert (Opera omnia 8 [1898], S. 347; Übersetzung bei A. B o r s t , Lebensformen im Mittelalter (1973), S. 531-533; vgl. auch K. E 1 m /P. F e i g e , Der Verfall des zisterziensischen Ordenslebens in späten Mittelalter, in: Die Zisterzienser (wie Anm. 5), S. 237-242, bes. S. 240 f.; insbesondere, auch im Hinblick auf die historiographischen Implikationen: K. E l m , Die Entwicklung des Franziskanerordens zwischen dem ersten und letzten Zeugnis des Jakob von Vitry, in: Atti del IV Convegno internazionale sul tema: Francesco e Francescanesimo dal 1216 al 1226, Assisi, 15-17 ottobre 1976 (1977), S. 193-233, bes.

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Beide Überlegungen führen dann freilich zu der Frage, die man gerade auch angesichts der Bullen Benedikts stellen muß: W o ist hier das .sentiment religieux', die .atmosphère spirituelle'? .Verdienen' sie überhaupt den Namen .Reform' 163 oder erschöpfen sie sich in „kleinlichen Mönchsgebräuchen und (Bemühungen um) eine bessere Verwaltung des Klostergutes", wie ein Konstanzer Generalvikar 1840 postaufklärerisch über die Beschlüsse von Petershausen urteilte 164 ? Erweisen sie Benedikt XII. als .mächtigen Reformer', der die .Mißstände wunderbar kennt' 165 oder sind sie mit ihrer .exzessiven Kleinlichkeit', die ihrer Wirkung im Wege stand, symptomatisch für die .Beschränktheit seines Denkens', selbst auf einem Gebiet, wo er sich bestens auskannte 166 ? Rechtfertigt die Beschäftigung mit „zweitrangigen Gegenständen ... als hochwichtiger Angelegenheit, den Verdacht, daß hier einer virtuellen Gesetzlichkeit das Wort geredet wurde, die fundamentale Reform eher verhinderte als förderte", - wie einer der besten Kenner unserer Tage,

S. 203-209, S. 225-227; allgemeiner: R. H o s t i e , Vie et mort des ordres religieux. Approches psycho-religieuses (1974); s. auch K. S c h r e i n e r in diesem Band. 163 Im landläufigen, positiv besetzten Sinn einer bewußt gestalteten (darauf legt L a d n e r , Reform [wie Anm. 1211, S. 26] besonderen Wert) Erneuerung des Bestehenden, wie er auch in der Forschung weithin unreflektiert gebraucht wird, obgleich doch, wie jüngst der Rechtshistoriker E. W a d 1 e formulierte, „die Prämisse, daß bekannt ist, warum ein Geschehen positiv im Sinne einer Reform zu verstehen ist", ein tiefes Dilemma offenbart (Königtum und Reform um 1450. Eine Zusammenfassung, in: Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, hrsg. v. R. S c h n e i d e r [= VuF 32, 1987], 499-516, hier 499 f.). Auch für Reform nämlich trifft zu, was K. E1 m für das Pendant so deutlich gemacht hat: Es gibt „keine gesicherten Kategorien in den Quellen und noch weniger verbindliche Maßstäbe in der Forschung" (Verfall [wie Anm. 4], S. 191). Es reicht nicht zu sagen, daß Reform bei den spätmittelalterlichen Benediktinern „nun einmal nichts anderes heißen (konnte) als zeitgemäße, durch das Dekretalenrecht gesicherte Rückkehr zu dem, was Benedikt gewollt hatte" ( H e i m p e 1 [wie Anm. 16], S. 957). Damit sind nur Orientierungspunkte monastischer Reform überhaupt benannt (vgl. die Definition des Konzilsdekrets über die „zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens" von 1965 [s. Anm. 171], c. 2, S. 268), die erst inhaltlich gefüllt werden müssen und deshalb immer wieder heiß umstritten sind (vgl. unten mit Anm. 170 ff.). Auch die .Mindestanforderungen' (Belebung des Choroffiziums und Hebung des gesunkenen Bildungsniveaus) wurden von den Reformern durchaus unterschiedlich gewichtet. Gerade bei strengen Reformern war des Studium (nicht nur an der Universität) eher verpönt, um die Länge und Gestaltung des Offiziums wurde jahrhundertelang immer wieder gestritten (vgl. nur F r a n k , Erfurt [wie Anm. 123], S. 90 bis 95; D. M e r t e n s , Der Streit um den Bursfelder Liber Ordinarius, in: SMGB 86 [1975], S. 728-760). 164 Zit. etwa bei S c h r e i n e r , Germania Benedictina 5 (wie Anm. 121), S. 56. Vgl. die Charakterisierung der Wandlung des kirchlichen Reformbegriffs von „sittlichreligiösem Ideal" zur „praktischen Politik" bei J. H a 11 e r (wie Anm. 149), S. 11 ff. Zum Problem der Begriffsbildung vgl. L a d n e r, Reform (wie Anm. 121), S. 427 ff. 165 M o 11 a t (wie Anm. 1), S. 82 (und verschiedene andere Autoren). 166 Y. R e n o u a r d , La Papauté à Avignon (= Que sais-je? 962, 19622), S. 31.

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wieder mit Blick auf die Petershauser Beschlüsse, die ja weitgehend aus Summi magistri schöpften, vermutete167? Demgegenüber haben die Mönche selbst, und insbesondere die Reformer, seit jeher die Bedeutung dieser .zweitrangigen' exteriora betont, als Ausdruck des nicht sichtbaren Geistes und als Hilfe zum Erwerb der .eigentlich bedeutsamen' Tugenden 168 . So hat noch jüngst ein mit den Reformproblem des Spätmittelalters wie der Gegenwart vertrauter Benediktiner den Melker Prior Martin von Senging ausdrücklich gelobt, weil er mit Wärme auf dem Konzil von Basel die .Wichtigkeit der Nebensachen in der Reform' verteidigt habe169. Es ist evident, daß hier ein Grundproblem monastischen Selbstverständnisses - nicht nur der Reform - tangiert ist: Die Frage, was ,bloße äußere Form' und .Buchstabe', was dagegen .Sinn', .Geist' der Regel, was .nur Mittel zum Zweck' und .Ziel', .bloße Norm' und .authentischer Wert' ist, stellt sich, seit es Mönchtum als organisierte Lebensform gibt170. Sie ist aber, das bezeugen die Auseinandersetzungen um die rechte Lebensform im Mittelalter und in der Neuzeit, bei der Restauration im 19. Jahrhundert und nicht zuletzt in den Diskussionen um die accomodata renovatio vitae religiosae auf dem Zweiten Va167 S c h r e i n e r (wie Anm. 164). Schreiner hat freilich zuviel Verständnis für die im folgenden skizzierte monastische Position, als daß er dabei stehen bliebe (ebd. S. 59 f.). 168 Vgl. F r a n k , Erfurt (wie Anm. 123), S. 73 ff., bes. S. 114 f. mit dem treffenden Zitat aus dem Prolog der Cerimoniae Bursfeldenses: Unitatem spiritus interius, id est in cordibus conservandam, foveat et representet uniformitas exterius servata in moribus. Dabei unterscheiden die Bursfelder durchaus .Schale' und ,Kern' (ebd. S. 116 mit einem Zitat aus einer Kapitelsansprache des mit ihnen befreundeten Kartäusers Jakob von Jüterbog). 169 B e c k e r , Fragen (wie Anm. 124), S. 297 mit Verweis auf R e d l i c h ; vgl. aber auch A. d ' H a e n e n s , Une abbaye bénédictine sous tutelle royale au XIV e s.: Les gardiens de St-Martin de Tournai, in: R H E 54 (1959), S. 783-806, hier S. 797. 170 Entsprechend ausufernd ist die Literatur, die nicht selten die Arbeit des Historikers erschwert, weil sie sich im aktuellen Richtungskampf um die .richtige' Lebensweise .historischer' Argumente bedient (was Benedikt oder ein anderer Gründungsvater .eigentlich' wollte ...). Aus der heutigen Diskussion, mit der ich mich partiell an anderer Stelle beschäftigen mußte, hier nur ein Zitat eines konservativen Protagonisten: „La voie d'un veritable renouveau ne peut être, pensons-nous, que celle d'un littéralisme intelligent, prudent, éclairé par le descernement spirituel" (A. De V o g ü é , La Règle de s. Benoît. Commentaire doctrinal et spirituel [1977], S. 23). Als (gemäßigter) Vertreter der Gegenposition J. G r i b o m o n t , Les commentaires d'Adalbert de Vogûé et la grande tradition monastique, in: Commentaria in S. Regulam, (= StAns 84, 1982), S. 109-143 mit einem abschließenden Plaidoyer f ü r „la pluralité légitime des courants et des intérêts ... au sein de cette tradition" (s. 143); der zum Benedikts-Jubiläum zusammengestellte Band vereinigt fünf weitere Arbeiten zu großen Interpretationen der Regel vom Abbé de Rancé (1626-1700) bis C. Butler (1858-1934). Sehr viel härter und grundsätzlicher die Kritik des Patristikers C. K a n n e n g i e s s e r , in: Recherches de Science Religieuse 66 (1978), S. 304-308.

F r a n z J. Feiten

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t i k a n i s c h e n K o n z i l 1 7 1 u n d in seinem U m f e l d , in b e s o n d e r e r W e i s e ein P r o b l e m jeglicher m o n a s t i s c h e r R e f o r m : Als intendierte Ä n d e r u n g des d u r c h sein b l o ß e s D a s e i n z u n ä c h s t einmal legitimierten

Gewohnten,

s t e h t sie u n t e r b e s o n d e r e m R e c h t f e r t i g u n g s z w a n g - d a h e r einerseits die oft schrille V e r u r t e i l u n g d e r v o r g e f u n d e n e n , Z u s t ä n d e ' , d e r e n A u s s a g e w e r t m i t B e g r i f f e n w i e J e r e m i a d e n ' o d e r , R e f o r m r h e t o r i k ' relativiert z u w e r d e n p f l e g t 1 7 2 , d a h e r andererseits die L e g i t i m a t i o n d e r Ä n d e r u n g als .Rückkehr'

zur

.eigentlichen

Norm',

zur

.Regel',

zum

.reinen

Ur-

s p r u n g ' 1 7 3 ; d a h e r schließlich die B e t o n u n g des . G e i s t e s ' , des .Zieles' u n d d e r sie i m traditionellen V e r s t ä n d n i s r e p r ä s e n t i e r e n d e n ä u ß e r e n M e r k m a l e d e r . R e f o r m ' 1 7 4 . D i e s u m s o m e h r , als sie ja n i c h t i m m e r u n d ü b e r all eine evidente u n d d a h e r p e r se einsichtige . B e s s e r u n g d e k a d e n t e r Z u s t ä n d e ' ist, s o n d e r n n a c h d e m vielzitierten W o r t

P. Volks

„vielfach

n i c h t s anderes . . . als die E i n f ü h r u n g n e u e r k l ö s t e r l i c h e r G e w o h n h e i t e n o d e r das A u f z w i n g e n einer f r e m d e n T r a d i t i o n " 1 7 5 . 171 Titel und Schlüsselbegriff des konziliaren Reformdekretes von 1965, hrsg. mit instruktiver Einleitung und Kommentar v. F. W u l f SJ, in: Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen, Lat. und Dt. II, (= LThK 2 , 13. 1967; Nd. 1986), S. 249-307. 172 K. H a l l i n g e r hat die .Reformrhetorik' in der Wissenschaft heimisch gemacht; vor selbsternannten, „unofficial Jeremiahs" warnte der mit den englischen .Zuständen' des späten Mittelalters gut vertraute Herausgeber bischöflicher Visitationsakten A. H. T h o m p s o n , The English Clergy and their Organisation in the Later Middle Ages (= The Ford Lectures for 1933,1948; Nd. 1966), S. 176. 173 Vgl. Vaticanum II (wie Anm. 171), bes. c. 4. Den dialektischen Charakter dieses Vorgehens betonen Mönche wie Sozialhistoriker: G r i b o m o n t fragt rhetorisch: „Chaque retour à ce texte vénéré n'est-il pas un moment dialectique qui, revenant aux sources, fait progresser la tradition?" (wie Anm. 170, S. 8). J. S e g u y , Une sociologie des sociétés imaginées: monachisme et utopie, in: Annales 26 (1971), S. 328-354 betont den Protestcharakter der Rückkehr zum Ursprung, die von den Gegnern immer als .Neuerung' angesehen wird und es auch, soziologisch gesehen, aufgrund der von Zeit und Umständen geprägten Reinterpretation tatsächlich ist (S. 338; vgl. die Formulierung „utopies rétrogressives" S. 333). Kritisch zu dieser .Verklärung der Ursprünge', die im Mönchtum (aller Epochen) verbreitet ist, mehrfach z. B. der Franziskaner K. S. F r a n k , Utopie-Pragmatismus. Bonaventura und das Erbe des hl. Franziskus, in: WuW 37 (1974), S. 139 bis 159, bes. S. 144. Positiv dagegen spricht H. B a c h t SJ seit Jahrzehnten „Vom Heimweh nach der Urkirche" (Zur Wesensdeutung des frühchristlichen Mönchtums, in: Liturgie und Mönchtum 7 [1950], S. 64-78), vom „Vermächtnis des Ursprungs" (Studien zum frühen Mönchtum, I und II. Pachomius - der Mann und sein Werk, [= Studien zur Theologie des geistlichen Lebens, V und VIII, 1972 und 1983), gar von „La loi du .retour aux sources'" (De quelques aspects de l'idéal monastique pâchomien, in: RMab 51 [1961], S. 6-25) - durchaus im Séguy'schen Sinne.- Diese .rückwärtsgewandte Verklärung mit progressiver Absicht' ist nicht auf das Mönchtum oder die Kirche (Urgemeinde, vita apostolica als ständige Herausforderung seit der Konstantinischen Wende) beschränkt; vgl. G. F. L y 11 e , in: Reform and Authority in the Medieval and Renaissance Church, ed. G . F . L y t l e (1981), S. X f. 174 Vgl. oben Anm. 168 f. und unten S. 431 f. mit Anm. 184-186. 175 Vgl. auch die Formulierung bei F r a n k , Subiaco (wie Anm. 123), S. 563 (ganz

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Mit diesem Problem eines mehr .juristischen' oder .spirituellen' Gehalts und der daran geknüpften Chance, wirksam zu werden 176 , eng zusammen hängt das Grundproblem einer ,von außen' bzw. ,von oben verordneten' Reform, wie sie ja die Bullen Benedikts XII. geradezu prototypisch repräsentieren. Salopp formuliert: Wie kann ein Reformer erreichen, daß die zu Reformierenden so wollen, wie sie sollen. Folgt man Stimmen aus monastischen Kreisen, die zur Solidarität mit ihren Ordensbrüdern längst verflossener Epochen neigen, ist jegliche Reform ,von außen', unabhängig von der Qualität ihres Inhalts und ihrer Absicht zum Scheitern verurteilt. Sie könne doch nur die Eigenliebe der Mönche, der guten wie der schlechten, verhärten, die in einem Eingriff von außen eine Demütigung ihres Ordens sehen müßten 177 . Das gilt ausdrücklich auch für die von Päpsten verordneten Strukturveränderungen, ja ein zeitgenössischer Benediktiner meinte sogar, die unnötigerweise aufgezwungene künstliche Einheit sei der wichtigste innere Grund für die Auflösung der Disziplin seines Ordens im späten Mittelalter gewesen178. Diese Mentalität mit bemerkenswerter überzeitlicher Konstanz sieht selbst in einem vergleichsweise harmlosen Eingriff in die Organisation der Ordensleitung, wie dem des Papstes Clemens IV. mit seiner Bulle Parvus fons, eine „humiliation sans précédent" ,der Zisterzienser'179. Dabei hatte der Orden diese Bulle problemlos akzeptiert und ihr einen bleibenden Ehrenplatz im Libellas deähnlich A n g e r e r , Caeremoniae [wie Anm. 123], S. CLXXXV), die auch in ihrem Buch über Erfurt (wie Anm. 123) Verständnis für die Gegner von Reformeingriffen erkennen läßt (vgl. bes. S. 25 ff., 83 Anm. 62,191). 176 Erstere bleibe fruchtlos; so z . B . einer der Hauptvertreter der monastischen Reform nach dem II. Vaticanum, der kanadische Trappistenabt A. V e i 11 e u x , in einem programmatischen Aufsatz in einem für Zeit und Geist .repräsentativen* Sammelband : The Interpretation of a Monastic Rule, in: The Cistercian Spirit. A Symposium in Memory of Thomas Merton (= Cistercian Studies 3, 1970), S. 48-65, mit dem erklärten Ziel, in einer dynamischen Interpretation die historisch-kritische zu transzendieren und die Regel im Rückgriff auf die Schrift, die ganze Tradition und die Lebenswirklichkeit zu ,reevaluieren'. 177 So der Zisterzienser (!) A. D i m i e r , L'influence cistercienne dans les statut pontificaux pour les Bénédictins de la Province de Normandie, in: Jumièges. Congrès scientifique du 13 centenaire (1955), 2, S. 797-805. Vgl. oben Anm. 9. 178 J. L a p o r t e , Un règlement pour les monastères bénédictins de Normandie (XIII e -XV e s.), in: RevBén 58 (1948), S. 125-144, hier S. 131. 179 Wie Anm. 177, S. 805; positiv dagegen z. B. S. G r i l l , Der erste Reformversuch im Cistercienserorden, in: Cist.-Chron. 36 (1924), S. 25-32, 45-55, 68-72, Fazit S. 71 f.; J.-B. V a n D a m m e , Les pouvoirs de l'abbé de Cîteaux, in: AnalCist24 (1968), S. 47-85, hier S. 83; jüngst P. Z a k a r , La legislazione Cistercense e le sue fonti dalle origini fino al 1265, in: I Cistercensi e il Lazio (= Atti delle giornati di studio dell'Istituto di Storia dell'Arte dell'Università di Roma 17-21 Maggio 1977, 1978), S. 127-134, hier S. 132.

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finitionum eingeräumt, wie er Benedikts Fulgens nie zugestanden wurde 180 . Obgleich es hier - im Unterschied zu dem, was gemeinhin unter Klosterreform verstanden wird - nicht um eine Änderung der .Observanz', des alltäglichen Lebens ging, sondern nur um Fragen der Organisation, die den einzelnen Mönch in seinem Kloster nicht tangierten, kommentierte ein anderer Zisterzienser schon vor einigen Jahrzehnten diese Bulle mit den Worten: „Reformen lassen sich nicht gewaltsam durchführen. Wenn die strenge Observanz nicht freiwillig aus den Herzen ihrer Religiösen hervorquillt, freudig als Opfer dargeboten, durch das Beispiel selbstloser Suche immer wieder genährt, so ist es um sie geschehen: nie kann sie durch ein äußerliches Gesetz erfolgreich dekretiert werden" 181 . Das klingt monastisch, poetisch überdies und wahr, wenn man die Abfolge von Aufbruch und Erstarrung, Erneuerung und Niedergang, Reform und Restauration im Ordenswesen überblickt. Es scheint in der Tat so, wenn man die vielfältige Wirklichkeit auf zwei Pole hin strukturiert, als ob die immer wieder versuchten Reformen ,per Dekret' nur sehr begrenzte Erfolge hatten, unterlaufen wurden oder gar unerwünschte Folgen zeitigten, während erfolgreiche Reformer eher ,von unten' kamen, von einem Kloster oder einem Einzelnen ausgingen, auf das mitreißende Beispiel vorbildlich lebender ,Reformer' bauten, die freilich darüber häufig zu .Gründern neuer Lebensformen' wurden - und ihrerseits bald .Statuten', .Gewohnheiten', .Institutionen' brauchten. Die .alten Orden' konnten freilich, das erwies sich im 14. und 15. Jahrhundert mit aller Deutlichkeit, auf die spontane Erneuerung allein nicht mehr bauen 182 . Es gab sie freilich durchaus noch, und gerade die (zumindest zeitweise) erfolgreichen Reformansätze wie Subiaco und S. Justina, Kastl und Melk haben hier ihre Wurzeln. Ihre weitere Entwicklung zeigt aber auch, wenn man nur den locker strukturierten Melker Reformkreis mit der straff organisierten Bursfelder Union vergleicht 183 , daß es nicht genügte, Mönche im reformierten Leben zu un180 Vgl. noch die Formulierung von 1350 (propter reverentiam) (wie Anm. 106). 181 G r i l l (wie Anm. 179), S. 72 - ungeachtet seiner positiven Wertung der Bulle! 182 „Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war klar, daß die vorhandenen trefflichen Ansätze zu einer Wiedergeburt des Ordenslebens von innen heraus nicht genügten." (H. J e d i n , Zur Vorgeschichte der Regularenreform Trid. Sess. XXV, in: RQ 44 [1936], S. 231-281, hier S. 233); dagegen H. H e i m p e 1: „Zukunft hatte nur die Selbstreinigung des Benediktinertums" ([wie Anm. 16], S. 950). Daß sie nicht genügte, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß auch die Reformer die Hilfe ,von außen' brauchten; vgl. nur das Beispiel bei F r a n k , Erfurt (wie Anm. 123), S. 191 f. 183 Zu dieser „Größe und Unterlegenheit" Melks zuletzt (der mit ihr sympathisierende) A n g e r e r, Caeremoniae, (wie Anm. 123), bes. S. CLXXV—CLXXX, Zitat S. CLXXVIII.

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terweisen, Reformstatuten und Visitationsrezesse zu erlassen: Zur Erhaltung des (wiedergewonnenen) Status bedurfte es wirksamer, d. h. mit Kontroll- und Sanktionskompetenz gegenüber dem einzelnen Abt ausgestatteter Institutionen. Gewiß: fervor spiritualis, innere Einstellung, die zu einer .echten Erneuerung' unabdingbar sind, lassen sich weder befehlen, noch von außen beobachten, im Unterschied zur äußeren Form, zum Verhalten, das man reglementieren, kontrollieren, beurteilen und gegebenenfalls bestrafen kann. Beschränken sich Reformer eben deshalb so häufig auf die exteriora? Oder besteht nicht doch ein Zusammenhang zwischen äußerem Verhalten und innerer Einstellung? Anders gefragt: Was ist für das Kloster, wo Mönche in Gemeinschaft und nicht in individueller Vereinzelung um Selbstheiligung ringen, wichtiger: die vor allem ex post höher geschätzte tiefe Spiritualität, von der wir nicht wissen, wievielen Mönchen sie über eine vermutlich kleine geistig-geistliche Elite hinaus nahegebracht werden konnte 184 , oder der unter dem Verdacht des Vordergründigen, der Routine stehende alltägliche, durch Regeln und Gewohnheiten festgelegte Lebensvollzug - „die Askese (als) Gegenstand methodischen .Betriebs'" 185 ? Tangiert der zitierte Einwand aus der Feder eines Angehörigen des Ordens, der gegenüber den angeblich dekadenten Benediktinern offensiv mit dem Anspruch rigider Beobachtung der für alle gleichen Regel angetreten war und für die Erhaltung der .uniformen Norm' beispielhafte Institutionen und Sanktionsmechanismen geschaffen hatte, nicht die Existenz institutionalisierten Mönchtums überhaupt? Billigt man diesem eine Existenzberechtigung auch über die heroische Zeit der spontanen Begeisterung hinaus zu, erweisen sich Funktion und Wert von Regeln, Institutionen

184 Vgl. z. B. den gewiß den Durchschnitt seiner Brüder überragenden Erfurter Chronisten Nikolaus von Siegen, „den seine N a t u r bei aller Frömmigkeit vermutlich mehr den handgreiflichen Seiten des Ordenslebens zuneigen ließ als der reinen Kontemplation, die für manch einen ein leerer Begriff geblieben sein dürfte" ( F r a n k , Erfurt [wie A n m . 123], S. 115; vgl. ebd. S. 130 f.). Der von ihr angeführte Johannes Trithemius, war nicht allein mit der Meinung, nicht jeder Mönch eigne sich zu einem rein kontemplativen Leben; acedia ist ja nicht zufällig eine der Grundgefährdungen monastischen Daseins. 185 N a c h M. W e b e r , Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. rev. Aufl. besorgt v. J. W i n c k e l m a n n (1980), S. 696. Geraten wir hier in eine Aporie der Reformforschung? Was wir sehen, ist keine echte Reform, da ,bloß äußerlich', das Entscheidende, die geistig-geistliche Erneuerung können wir .nicht sehen', da wir nicht abschätzen können, wie weit die uns (manchmal) überlieferten Texte .repräsentativ' sind? Wer vermag, vor allem im Nachhinein, zu entscheiden, was .innere Frömmigkeit' und was „rein persolvierende Verrichtung" ( B e c k e r , R o d e [wie Anm. 123], S. 135) ist? Vgl. unten A n m . 187.

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u n d i h r e r R e f o r m 1 8 6 . Sie k ö n n e n n i c h t das . G u t e ' - hier ein w a h r h a f t m o n a s t i s c h e s u n d n i c h t n u r in ä u ß e r l i c h e m Sinn regeltreues L e b e n - e r z w i n g e n . Sie k ö n n e n a b e r m a n c h e m . w e n i g e r G u t e n ' - eklatanter M i ß achtung

elementarer

monastischer

K e u s c h h e i t , vita communis äußeren

Rahmen,

Prinzipien,

Gehorsam,

Armut,

der Z ö n o b i t e n - Schranken setzen und den

als B e d i n g u n g

der

Möglichkeit

vollkommeneren

L e b e n s , sichern helfen 1 8 7 . M i t d e n W o r t e n des E r f u r t e r C h r o n i s t e n N i k o l a u s v o n Siegen, d e r sich gut mit s e i n e m A b t v e r s t a n d , k a u m ein kritisches W o r t ü b e r ihn fallen läßt u n d d e r selbst als R e f o r m p r i o r in R e i n s d o r f gescheitert w a r : Semper practicare

statuta

et ceremonialia,

quia homo fragilis nunquam

in eodem

et ex vomite

expedit

et necessarium

quia homines primorum

statu permanet.

mutantur

parentum

Necesse

est ergo,

est habere et témpora

de fädle

labilis,

ut Semper

ad

et .... qui sua

186 Die Diskussion über den Wert der exteriora, zu der letztlich auch Regeln und Brauchtexte, Gewohnheiten und Traditionen gehören, führt ja weit über innermonastische Querelen hinaus zu der Frage nach der Berechtigung derartiger regelgebundener Lebensweise. Auf diese theologische Problematik kann ich nicht eingehen. Vgl. nur das gängige Urteil über die durch die Reformation überholten „vielfältigen Reformbestrebungen mittelalterlicher Ketzer und Heiliger ... Immer wieder hatte man die Reform des geistlichen Lebens mit unzulänglichen Mitteln versucht: durch Nachnahmung der äußeren Formen urchristlicher Lebensgemeinschaft ... (Luthers) Mission war es, nicht die Formen urchristlichen Lebens und urchristlicher Lehre zu erneuern, wohl aber die religiösen Kräfte der christlichen Tradition in einer Ursprünglichkeit zu entfalten, die dem Geist jener Anfangszeiten innerlich verwandt war" (G. R i t t e r , Luther. Gestalt und Symbol, [19682]). - In den evangelischen Kirchenordnungen treffen wir dann die alten Bekannten mittelalterlicher Klerus- und Mönchsreform wieder: Den Pfarrern werden Trunkenheit und Spielen, Wirtshaus und Geldgeschäfte verboten, aber auch Vorschriften über Bart- und Haartracht, gegen bunte Kleidung und ausgeschnittene Schuhe etc. gemacht. - Offenbar war „die Disziplinierung der Geistlichen ein schwieriger, ein langwieriger Prozeß" (H. L e h m a n n , „Das ewige Haus". Das lutherische Pfarrhaus im Wandel der Zeiten, in: „Gott kumm mir zu hilf". Martin Luther in der Zeitenwende. Berliner Forschungen und Beiträge zur Reformationsgeschichte hrsg. v. H. D. L o o c k [= Jb. für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte, Sonderbd., 1984], S. 177-200, Zit. S. 182). 187 Die Interdependenz von spiritueller Haltung und wirtschaftlichem Erfolg - im Positiven wie im Negativen - war schon den alten Mönchen bewußt, lange bevor M. W e b e r sie thematisiert hat. Daher gehört die wirtschaftliche Sanierung notwendig zu jeder Reform, ja tritt in den Quellen häufig in den Vordergrund - scheint vielleicht auch leichter gewesen zu sein. Fervor spiritualis, die innere Einstellung, die zu einem wahrhaft guten Leben führt, läßt sich auch im Kloster weder befehlen, noch kontrollieren - im Unterschied zum äußeren Verhalten. Reglementierung, Kontrolle und Strafen sind überflüssig, wenn der .gute Eifer' vorhanden ist - was aber, wenn er erkaltet? Der Vergleich mit dem Abbatiat drängt sich auf: Bei einem guten Abt, der dem Ideal entspricht, wie es die Regel Benedikts zeichnet, bedarf es keiner institutionalisierten Beschränkungen seiner theologisch legitimierten potestas dominandi - fehlen die Schranken aber, so steht die nackte Macht auch dem .schlechten' Abt zur Verfügung.

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premissa atque vorta reformetur, revocetur, quia facilis est descensus arvernim. Benedikt XII. hatte das - wie seine Vorgänger Innozenz III., Honorius III. und Gregor IX. - erkannt und eine Reihe sehr sinnvoller, praxisbezogener und den Problemen der Zeit angepaßter Verhaltensregeln erlassen. Wie sie freilich muß er sich mit den Worten des zweiten Konzils von Lyon sagen lassen: Quia parum est iura condere, nisi sit qui eadem tueatur189. Das erste ist Benedikt und seinen Helfern gelungen wie seinen Vorgängern im 13. Jahrhundert - das zweite dagegen, ebenfalls wie ihnen, nur in sehr begrenztem Ausmaß - wenn sie es überhaupt wollten. In der Tat kann man zweifeln, ob ein Interesse an effektiven Institutionen der Benediktiner und an Äbten bestand, die sich auf die monastische Leitung (und gegebenenfalls Reform) ihre Klöster konzentrierten 190 . Die institutionelle Schwäche der Benediktiner, die von ihnen durchaus nicht nur negativ gesehen wurde und wird, war ja 1336 längst erkannt. Sehen wir einmal von anderen Versuchen, die Observanz der Regel zu sichern ab, so gab es seit dem frühen ^ . J a h r hundert das Bemühen um Organisationen nach dem Vorbild des zisterziensischen Generalkapitels, das ja aus dem den ,alten' Benediktinern durchaus vertrauten Kapitel eines Klosters erwachsen war. Der entsprechende Beschluß des Laterankonzils und ein einschlägiges Schreiben Papst Honorius' III. waren in das Kirchenrecht eingegangen. Gregor IX. hatte sogar jährliche Kapitel vorgeschrieben - nachhaltiger

188 Chronicon (wie Anm. 148), S. 165. 189 C O D 316; vgl. P. J o h a n e k , Methodisches zur Verbreitung und Bekanntmachung von Gesetzen im Spätmittelalter, in: Histoire comparée de l'administration ( I V e - X V I I e s.) Actes du X I V e colloque franco-allemand Tours, 27 mars - 1 avril ... ed. W . P a r a v i c i n i / K . F. W e r n e r (= Beih. der Francia 9, 1980), S. 8 8 - 1 0 1 , hier S. 89. 190 Man denke nur an die Karrieren der an Summi magistri beteiligten Abte, die fast alle kurz darauf Bischof oder gar Kardinal wurden. Die Bedeutung des Abtes nicht nur für das wirtschaftliche Wohlergehen des Klosters, sondern auch für die Observanz war natürlich auch den Reformern klar. Im Positive^: „Et quoniam dominus abbas caput existit sacre reformacionis a quo tamquam a capite aaron per barbam eiusdem descendere debet vnctio spiritualis profectus et gracie procedens vsque in oram vestimenti eius hoc est per membra sibi incorporata vniversa et singula vsque ad infimum distillans (Visitationsrezeß für St. Marien in Trier, zit. bei B e c k e r , Rode [wie Anm. 123], S. 144 f. A n m . 431); juristisch gefaßt im Eid, den Johannes R o d e ins Abtwahlkapitel seiner Vorlage einfügte: ... quod reformationem huius monasterii manutenebo consuetudinesque ... observabo (zit. ebd. S. 112 Anm. 225; vgl. ebd. S. 9 9 und S. X L I I I f.); im Negativen vgl. nur das verbreitete, auch von Petrus Boherius und Nikolaus von Siegen zit. Sprichwort: Ordo cucullatus posset satis esse beatus ... Sed quia nunc fabas spernit pro piscibus abbas/ consimiles mores cupiunt servare minores (zit. bei F r a n k , Erfurt, S. 87) - trotz Reg. Ben e d i c t 4. 61.

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Erfolg war diesen Bemühungen, wie wir sahen, nicht beschieden 191 . Die Folgen waren evident, wie Benedikt selbst am besten wußte, die Gründe wohl auch. Hatte nicht zuletzt auf dem Konzil von Vienne ein Gutachter die Schwachstelle exakt benannt? In den Orden gibt es unmittelbare Vorgesetzte mit Kontroll-, Suspensions- und Absetzungsgewalt, bei den .freien' Klöstern und Stiften ist das Verfahren, einen Abt zur Rechenschaft zu ziehen, ungleich komplizierter, insbesondere wenn er und sein Kloster der Disziplinargewalt des Ordinarius entzogen sind 192 . Die Päpste des frühen 13. Jahrhunderts hatten vielleicht noch hoffen dürfen, die Provinzkapitel könnten ihre Aufgaben auch ohne effektive Kompetenzen erfüllen. Konnte Benedikt X I I . diese Illusion aber noch haben und glauben, eine neuerliche Einschärfung inhaltlicher Normen und organisierter Maßnahmen mit apostolischer Autorität werde nunmehr größere Wirkung haben? Oder wie erklärt sich, daß der ehemalige Zisterzienser, der aus seinem Orden eine ungleich straffere Organisation kannte, es in Summi magistri bei den unzureichenden Strukturen seiner Vorgänger beließ, obwohl sich deren Schwächen längst gezeigt hatten? Wir können die Gründe nur vermuten, da wir ja keinerlei .Akten' der Beratungen haben 193 . Es liegt nahe, zunächst an Vorbehalte der mitwirkenden Äbte zu denken. Doch auch die Kurie hatte ein Interesse daran, es beim umständlichen' alten Verfahren zu belassen, bot es ihr doch ungleich größere Chancen der Intervention als eine ordensinterne Regelung. Man wird nicht sagen können, daß Benedikt dieser Gedanke fremd war. Uberblickt man seine gesamte Ordensreformpolitik, so wird man den Verdacht der Zeitgenossen nicht ohne weiteres als vordergründige Polemik reformunwilliger Betroffener beiseite schieben: Es ging Benedikt und seinen Kurialen auch darum, die Orden stärker auf die Kurie auszurichten, noch mehr Einblick und Zugriffsrechte zu gewinnen - die bei den Benediktinern vorgesehene Umfrage zur Vorbereitung entsprechender päpstlicher Entscheidungen ist ein eklatantes Beispiel. Welches Interesse die beteiligten Abte an der Reform hatten, soweit sie nicht ohnehin mehr als Kuriale und Politiker 191 Vgl. nur B e r 1 i e r e , Chapitres (wie Anm. 2). Die große Ausnahme ist bereits hier England, besonders im Süden; vgl. P a n t i n , Chapters (wie Anm. 2), S. 2 0 3 - 2 1 2 (Liste S. 245); ed. Documents I (wie A n m . 2). Man ist versucht nach Gründen in der p o litischen Kultur des Landes zu suchen (Intensivierung der Kapitel und der Parlamentssitzungen seit dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts). 192 Vgl. E. M ü l l e r , Das Konzil von Vienne 1 3 1 1 - 1 3 1 2 . Seine Quellen und seine Geschichte ( = Vorrreform. Forsch. 12, 1934), S. 522 ff., S. 533 Anm. 16 und S. 564 ff. Als Beispiel: Abt Roger Norreys, der um 1200 sein Kloster ruiniert - und die Exemtion erreicht; D . K n o w 1 e s , The Monastic Order in England (1963 2 ), S. 3 3 1 - 3 4 5 . 193 Vgl. oben S. 3 7 6 mit Anm. 16.

Die Ordensreformen Benedikts XII.

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anzusehen sind, ist schwer erkennbar. Monastisches Engagement scheint sie, soweit wir das beurteilen können, nicht geprägt zu haben. So trugen Entstehungsumstände, Defizite und Nebenwirkungen der Summi magistri ihren Teil dazu bei, daß auch sie die institutionelle Schwäche bei den Benediktinern nicht behob 194 . Man kann sich fragen, ob der bürokratisch-zentralistische Versuch, einer flächendeckend verordneten Reform unter Vernachlässigung des personalen Aspekts der richtige Weg war. Spätere, erfolgreichere Reformen haben anders angesetzt - damit aber nur .partielle' Erfolge erzielt195. So erklärt sich auch, neben der mangelnden Bereitschaft der Betroffenen, an der geforderten Reform mitzuwirken, warum sie, im Unterschied zu Fulgensm, die sich auf funktionierende Institutionen stützen konnte, ihre eigentliche Wirkung erst im 15. Jahrhundert entfaltete, ihre inhaltliche Forderungen am ehesten in einem anderen als dem von ihr vorgesehenen institutionellen Rahmen realisiert wurden.

194 Trotz der Ausnahmen Narbonne und England („a wonderfully bracing effect upon the Chapter system", P a n t i n , Chapters [wie Anm. 2], S. 214 f.). 195 Sie betonten theoretisch und praktisch den personalen Aspekt der Reform: Übernahme durch einen reformgesinnten Abt, zumindest Entmachtung des reformunwilligen alten Abtes, Entsendung reformierter Mönche, gegebenenfalls Exmittierung von Reformgegnern, Zusammenschluß (nur) der reformgesinnten Klöster zu eigenen Kapiteln, wobei parallele Organisation und doppelte Belastung bei gleichzeitiger Aktivität auf beiden Kapiteln in Kauf genommen wurden. .Theoretische' Rechtfertigung z. B. von Jakob dem Kartäuser; demgegenüber kritisierte Trithemius, auf diese Art sei immer nur an einer Ecke, aber nie der ganze Orden reformiert worden (Opera pia [wie Anm. 124], S. 24). Eine .Kombination' versuchte Nikolaus von Kues, indem er reformierte Äbte als Kommissare in den von ihm bereisten Provinzen einsetzte und ihnen freie Hand gab, .ihre' Observanz verbindlich zu machen. 196 Erinnert sei daran, wie ein zentraler Punkt (Kontrolle der Vermögensveräußerungen durch das Generalkapitel) offenbar von zahlreichen Äbten beobachtet wurde (s. oben Anm. 153); noch aus dem späten 15. und 16. Jahrhundert sind z. B. süddeutsche Beispiele dafür bekannt. - Fulgens wird darüber hinaus noch sehr viel häufiger zur Legitimation von Beschlüssen herangezogen, als es nach dem Index C a n i v e z ' (s. v. Benedictus XII bulla) scheint. Korrekturnachtrag: Die im Laufe der recht langen Zeit seit der Fertigstellung des Manuskriptes erschienene Literatur konnte nur teilweise nachgetragen werden.

SACHREGISTER (Es wurden nur solche Stellen aufgenommen, bei denen der jeweilige Begriff eine besondere Erklärungsfunktion besitzt.)

Abbatiat; Abt 76, 80, 82, 90,153, 259 f., 264, 268 f., 271,284, 307, 309, 313, 316 f., 322, 324, 343-347, 347, 349-353, 355, 365, 371 f , 377, 385, 387, 393,404 f., 418, 431 f. Abbreviator 224 f. Abdankung 349 Abhängigkeit, juridische 291 Ablaß 238 Absetzung 225, 349 Absolution 225 Abspaltung 349 Abt (s. Abbatiat) Abtei 214,217, 264, 279, 344, 373, 396 Akkommodation; Anpassung 20, 48 Akteur 83 Akzeptanz 11-13,17-19,110,112 f., 233, 253, 374 amici (s. Freunde) Amt; Amtsinhaber; Amtsträger 76, 82,122,169-171,211,215,217, 223-225,227 f., 239-247,250, 253-255,257,296, 353, 368, 376, 390 f., 403 Ämterkauf 241 Ämterkäuflichkeit 245 Amtsgut 265 Amtsinhaber (s. Amt) Amtsheiligkeit 211 Amtsorganisation 248 Amtsträger (s. Amt) Amtszeichen 125,130 Änderung 74, 91-93 animal sociale et politicum 164 Anpassung (s. Akkommodation)

Anordnung 80 Anstalt 124 Anthropologie 1,5 f., 10,12,15, 52 f., 66,103 f., 107 f., 116,118, 126

Anwartschaft 226,244 Anweisung 82 Apostat 321 Apostolischer Stuhl (s. Papsttum) Appellationsgerichtsbarkeit 212 Archidiakon 217 Archipresbyter 217 Armut 303 Askese 303 audientia litterarum contradictarum 224,243 f., 247,249 Auditor 224,228 Auflösung 110,113,345,349 Autonomie 251,284,289,291,310, 315, 409 f. Autorität 36,176,232,285, 356,434 basic needs 10,50,107 Bedürfnis 11 f., 16, 31, 50-52, 57,107 Behörde; Behördenapparat 234, 243 Benediktion 214 Benefizium 150, 152-154 Berufsgruppe 124 Besitzung 301 Bestandssicherung; -wahrung 6, 301 Betrieb 391,431 Bewegungen, religiöse 3, 35 Beziehungsgeflecht (s. auch Verflechtung) 20 Bibliothekar 226 Bildung 28

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Sachregister

Bischof 149-151,153,165,212, 214 f., 220, 293, 305, 372 Bistum 214,217,221,226 Brauch 9,31, 50,194,204, 287, 296, 327 bullaria 245 Bullator 243 Bürokratie 37,245 Bürokratisierung 35, 59 camerarius, päpstlicher 223 camerarius [provincialis] 350 caput 255,305-307,311,368 cella (s. auch Zellensystem) 263 f., 285 Chaos 103 Charisma 8 charter 51 Christologie 210 Clique 249 f. coenobium (s. Kloster) compatriotus (s. Landsleute) communitas 178 congregatio; congregationis corpus-, Kongregation 274, 285, 307, 310 f. conservatio 306 constitutiones (s. auch statuta) 314, 320 consuetudo (s. auch Gewohnheit; Gewohnheitsrecht) 143 f., 146, 204, 275 f., 280-282, 284 f., 287-289, 291-293, 312-314, 327 f. corpus (s. auch congregatio) 305, 311 Corpus-Christi-Vorstellung 165 f. correctio 306, 357, 367 Datar 226 Dauer; Dauerhaftigkeit 4-8,20 f., 23, 37, 50,157, 296 f , 299-305, 307, 311,318, 325, 341 Definitor, Definitorium 310, 345, 350, 359, 361, 365, 385

deformado, Deformation 297, 306, 317, 349, 351, 353, 355, 367 Dekadenz 411,424 Dekompositionsphase 35 Dekret; Dekretale; Dekretalenrecht 133,139-142,144,149,184,218, 316 Dekretist 216, 384 Denken, politisches (s. Politik) Denkformen 325, 335 Destabilisierung 20, 57,109 Devolutionsrecht 148 devotio 303 Dialog 14 Differenzierung 326 disciplina (s. Disziplin) Diskurs 54, 59 f. Dispens; dispensatio 145,225,241, 245, 319 f , 352,414 dissipacio et destructio 320 dissolucio 295,308 Disziplin; disciplina 260,268 f., 304, 306, 334, 336, 339, 364 Disziplinargewalt 245,434 Disziplinierung 317,338 diversitas (s. auch Pluralität) 325, 330 Dynastie 192 Effizienz 12, 58, 109 f., 112, 253, 315 Ehe 29, 32 Eigenkirchenwesen 137 Eigenkloster 272 Einheit 311 Ekklesiologie 182,210 Entlastung 53 f. Entstehung, institutionelle 73, 85-89 Episkopat 281, 287 Erbe, dynastisches 200 f., 205 Erbfolge, weibliche 187-207 Eremit 266 f. Erfahrung, religiös-asketische 285 Erneuerung 262, 295, 428 Erneuerungsbewegung 291 Ethik 41 f., 49,161,164 f.

Sachregister Evolution 50, 64 f. Exemtion 238 Existenz, monastische (s. Lebensführung, monastische) Explizitheit 9,13, 31 Fälschung 315,387 familia, päpstliche 226 f., 235 Familiar 224,227,241,251,269 Familie 32 fervor spiritualis 431 Festigung, institutionelle 4,231 Filiation 308 Finanzkrise 237 Flächenstaat, institutioneller 135 forma regularis 272 Formalisierung 14, 365, 368 Formalität 9,13, 36 Formation 35, 47 Formung, monastische 277 Fortbestand 110 Fortschritt 39 fratemitas 357, 367 Freiheit 10 f., 42,49,183, 328 Freunde; Freundschaft 31,227,239, 247-250,269,281 Friede 165,308,359 Funktion 74 Funktionalismus 47, 51, 66, 74 Funktionssynthesen 11,52 Funktionswandel 52 Fürst 165,189,255 Fürstenspiegel 159 f., 162 f., 165 f. Gebetsbund 269,285,289,293 Gebetsgedächtnis; -gedenken 283 f., 289,291,300, 327 Gebetsverbrüderung 268,289,291 Gebräuche (s. auch Brauch; consuetudo) 298, 315, 317 Gebühr 242,257 Gedinge 134 f. Geheimhaltung 314 Gehorsam 138,304,356

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Geist, objektiver 43 Gemeinsamkeit 311 Gemeinschaft 15,273,280 f., 283 f., 291-293,295 Gemeinschaft, klösterliche 268,271, 273,279,286 f., 289, 320, 395 Gemeinschaft, monastische 298 Genealogie 195, 205 Generalkapitel 3, 304-314, 318, 321 f., 331, 339, 350, 353,355, 359, 364,371-373,378-380,382-385, 389, 391, 397, 399,402,405, 407, 414 f., 422,433 Genidentität 78 Genossenschaft 123,126 Gerechtigkeit 42 Geschichtsphilosophie 101 f. Geschichtsprozeß 99 Gesellschaft 6, 67, 73, 99,109,112, 163-165 Gesellschaftssysteme 101,103 Gesellschaftsvertrag 47 Gesetz 60,133 f., 197,275 f., 281, 328, 332 Gesetz, salisches 187,194-196 Gesetzesänderung 320 Gesetzgeber; Gesetzgebung; iurisdictio 133-136,144,154,212, 218,266, 278, 346, 354, 358, 365 f., 373 Gesinnung 10 Geste 125 f. Gewalt 60,178,373,434 Gewalt, exekutive 214 Gewohnheit (s. auch consuetudo) 9, 31,50,143,146,282,311,315, 318,328 f., 347,420,430 Gewohnheitsrecht (s. auch consuetudo) 134,143 f., 194,197 Gleichförmigkeit 9,286, 307, 325, 339 Glied (s. Mitglied) Grundherrschaft 264, 285,288,291 Grundorientierung 108 f.

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Sachregister

Gründungsgeschichte 325 Grundwert (s. auch Wert) 299, 356, 365 f. Gruppe 81-89 Guardian 314 Handeln, gesellschaftliches 44 f. Handeln, kommunikatives 58 Handeln, soziales 50 Handlungsform 86 f. Handlungsmuster 5, 8, 76 f., 312 Handlungsnormen 312, 338 Handlungstheorie 32,102 Handlungstyp 77-84, 86 f., 89 f. Handlungswissen 312 Handlungsziel 2, 8 Häresie 216 Haupt (s. caput) Heilsplan Gottes 178 Heilsvermittlung 211 Herrenrecht 298 Herrschaft; Herrscher 54, 59 f., 126,130,160,164,185,192,194, 264,271,273,276,287, 306 f., 362, 364, 379 Herrschaftsritüal 130 Herrschaftsträger 185 Herrschaftszeichen 125 f., 128 Herrscher (s. Herrschaft) Herrscherparanäse 160 Hierarchie 210, 253, 270, 296, 306, 308 Hof 169,212,223,225,228,234,253 Holismus 66 Homöostasieverlust 103 Hypertrophierung 53 Ideal, monastisches 268, 280 Idee 51,53,55, 113 identitas; Identität 12 f., 49, 74, 92 f., 104,110, 297, 308, 325, 360 Identitätsverlust 93, 325 Ideologie 45, 55, 59 Immunität 264, 292 f.

Individualismus 66 Individuum 6 f., 10,17 f., 46, 48 f., 52-54, 77, 81, 85, 87,109 Initiation 79 Inkorporation 153,238,244 Innovationsbereitschaft 325 Inquisitionsverfahren 155 Instabilität 305 Instanz 2,12, 350, 365, 368 Instanzengefüge 350 Instinkt 45, 50 Institution; Institutionalisierung; institutionell 1-69, 73-76, 81, 83-85, 87-94,106-113,115,117, 119,122 f., 125,129,134-136,145, 149,154 f., 158,186, 209 f., 215, 220,225,227 f., 231-233,257-259, 296-299, 301, 308, 325, 338, 345 f., 404,414,418,431,433,435 Integration 48,112 f. Interesse 50 Intersubjektivität 59 Inthronisation 214 f. Irrtum 50 iudices delegati (s. Legat) iurisdictio; Jurisdiktion (s. Gesetzgeber) Jurisdiktionsgewalt 212 Jurisprudenz; Jurist 98, 159, 166 f., 170,181,395,401 ius (s. Recht) ius commune 145,147 iusnovum 139,141,144 ius scriptum 143 Kaiser; Kaisertum 122,125, 165, 168 f., 179,181,202,206, 215,274, 276,281,284,291-293 Krönung 130,168,201 Kammer, päpstliche 225,235 f., 238, 243,246 f., 249 f , 382 Kämmerer, päpstlicher 219, 222-224, 228, 243, 247, 251

Sachregister Kammergericht, päpstliches 245,247 Kanonist (s. auch Dekretist); Kanonistik 137-145, 147 f., 152,154, 212,214,216,219, 372 Kanzlei 223 f., 226,228,292 Kanzler, päpstlicher 224 f., 228 Kapellan, päpstlicher 226 f. Kapelle, päpstliche 223,226 f. Kardinal; Kardinalat; Kardinalskolleg 170-172,176,211 f., 214 f., 218-222,224 f., 227 f., 235,246, 251,255, 375, 395 f. Kirche 35,137, 164 f., 176,178, 185, 217,219,232, 250,274,293 Kirche, römische 216 Kirchenordnung 432 Kirchenverfassung 182 Kleriker; Klerus 149 f., 169,221, 224 f., 228,247,256 Klient; Klientel 249-252, 378 Kloster 76-79, 89,248,260,262-273, 276, 278 f , 281,283, 285-289,290, 292 f., 296,298, 313, 316, 344, 397 Klosterherr 286 Kodifizierung 14 Kollaps 103 Kollektivbewußtsein 7,47,107 Kommunikationsform 13 Kommunikationstheorie 54 Kommunität 260,264,267,271,284, 286,291 Kompetenz 13, 36, 61,177,291 Konfession 26 Konflikt 13,18,112 Konföderation 269,272,285 König, Königtum 3,125,164,169 f., 176-179,189-207, 271,274,286 Königreich 170,177 Königsbote (s. Legat) Königskloster 285,293 Königsschutz 293 Kongregation (s. congregatio) Konklave 218 f. Konkordat 251,256 f.

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Konkurrenz 17,19,29,112,250 Konsekration 214 Konsens 19, 59-61,139,144, 331, 344,402 Konsistorium 221,378 Konstitution 197,311,314,318 Kontingenz 31 Kontrollorgane 350 Kontrollsystem 309 Konvent 269 f., 278 f. 286,291, 313, 322-324, 372 Konzil 142,153,176,214,216, 219,316 Korporation; Körperschaft 4, 64, 238, 240,245,296 Krise 6, 56 f., 97-106,110-114,130, 157 f., 183 f., 233, 250,253,295, 297, 304, 343,347,412 Kritik 233 Krone 128 f., 187,189 Krönung 168,214 f., 217 Kultur 34, 53 Kuriale 223,227 f., 235 f., 238, 240-242,246-250 Kurie, päpstliche 140,167,169 f., 172,177,219,223,227 f., 231-234, 236-238,242,246-251,253 f., 256, 258, 375, 386, 394 Kurienpersonal, päpstliches 245 f., 251,256 Kurienkritik 254 Kurienreform 246,254, 258 Kursor 243 Labilität 103 Landsleute, Landsmannschaft 247 f., 250 laura 266 Lebendengedächtnis (s. Gebetsgedächtnis) Lebensform 31,262 f., 266 f., 286, 288 f., 299, 305, 325, 335,371, 427 Lebensführung, monastische 16, 259,262,266,270,277, 302, 317 f.

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Sachregister

Lebensgesetz 317 Lebensnorm 263, 286 Lebensordnung 301 Lebensregel 318 Lebenssinn 10,12 Lebensweise, klösterliche 325 Lebenswelt 22, 59 Legalität 42 f., 60 Legat 140,217,221,269,276-278, 281,284,287-289, 328 legem condere 144 Legislator (s. Gesetzgeber) Legitimierung; Legitimation 14, 38, 44,101,109 f., 112 f , 184,192, 250, 253, 364,419 Legitimationsbedarf 358 Lehen 201 Lehrautorität 211 Leitidee 11,17, 37, 52 f., 61, 107-109,112, 296 Lernprozeß 84 f. lex humana 333 lex naturalis 332 Lobbyist 224, 378 loi salique (s. Gesetz, salisches) Loyalität 112 Macht 20, 36, 43, 64, 67, 77, 81-83, 86-90, 92,128,250,286,291, 350, 354, 359 Machtbefugnis 344 membrum (s. Mitglied) memoria (s. auch Gebetsgedächtnis) 284 missus (s. Legat) Mitglied; Mitgliedschaft; membrum 2, 12 f., 18 f., 34, 36 f., 111 f., 306, 351, 362 Monarchie 176,178 monasterium (s. Kloster) Mönchsleben (s. Lebensführung, monastische) Moral 31 Moralität 42 f.

mos 309 Muster 37 mutatio 318,320,330,333,351 Mythos 9,19 Nachahmung 79 f. necessitas 318 f., 328 f., 332, 352, 363, 375 Nepot 225,239, 247 Nepotismus 226 f., 248 Neuorganisation 346, 355 Niedergang 301, 345, 430 N o r m 4-6,11,28, 31, 38,43, 51, 58, 61,64, 84,134 f., 138,144,281, 296-299, 303, 313 f., 317-319, 329, 338, 341, 356, 365, 372, 398 f , 415, 419,428, 431 Normierung 29, 344 Normensystem; -gefüge 1,15, 107-109, 353 Normenvorrat 317 Normveränderung 331 Normwandel 318, 331 Notar 217, 224 f , 243 novitas 326 Oberabt 286 Objektivation, ideelle 6 f., 14,18,22, 26, 33 f., 37-39,41,108 f. Objektivität 103 Obödienz 236 f., 239, 246 f , 250, 356 oboedentiarius 76 oboedientia (s. Obödienz) observantia regulae; regularis observantia 295, 301 Observanz 232, 236, 265 f., 269, 279, 285,297, 301-303, 305-307, 310, 320 f., 336, 339 f., 430,433 officium (s. Amt) officiumperpetuum 228,241 Ökonomie 62 f., 100 Orden, religiöse 3, 78 f., 89, 248, 299 f., 303, 308 f., 313, 316, 320, 325, 335 f , 344 f., 353, 355 f., 358 f., 362 f., 369-434

Sachregister Ordensgelübde 321 Ordensgemeinschaft 306, 320 Ordensideal 336 Ordensprovinz 309 Ordination 150 f., 211,214 Ordnung, hierarchische 165 Ordnung, soziale 29 Ordnung Gottes 177 Ordnungsgebilde 27,29-31, 33 Ordnungsgedanke 7,107 ordofinium 164 ordo s. Benedirti 279 ordo monasticus 308,300 Organ 3,12 f., 345 f., 350, 366 Organisation 5-7,12-16,18-22, 31, 34-36, 51, 54, 58, 64, 68,107-109, 111-113,144f., 153,169,172, 178 f., 181 f., 185,263,268,285, 287,291,296, 301, 306, 308 f., 311, 338, 344-346, 357, 364,366, 368, 371, 379 f., 399 f., 408,429 f., 433 Organisationskosten 410 Organisationsrecht 144,152 Organismus 99,102,104 Orientierungsmuster 167 Papst; Papstamt 122,125,143,146 f., 151 f., 165,169,171 f., 176,209229,231-259, 321, 349, 354, 357, 362 f., 367, 376 f., 379 f., 403 Papstamt (s. Papst) Papstclan 247 Papstspiegel 173 Papsttum 144,168-170,178,209, 219,232, 349,355, 359, 361 f. Paranäse (s. Herrscherparanäse) parlement 3,193 Patron 227 f., 240, 249-252, 257 Patronage 248 Patronat 145 perfectio 165,177 Perfektionierung 18 perseverantia 311 Personenverbandsstaat 3,134

443

Personifikation 119 Personifizierung 117 Pfründe 214,217,236 f., 241,245, 247,249-251,254 f., 257 Philosophie, politische 206 plenitudo potestatis 152,211 Pluralität (s. auch diversitas) 69, 326 Politik 28-30,158-160,163,166 f., 172 f., 175,179,181,185 Pönitentiar; Pönitentiarie 222,225 f., 228, 243,256 possesso 214 f. Postulation 148 f. Praxis, soziale 80 f. primicerius 217 principatus dominativus 181 principatus ministrativus 181 Prior; Priorat 313, 322, 344, 353, 356 f., 358, 373, 390, 393, 396 Profeß 344 Prokurator 224 Propaganda; Propagandist 192,201 Protektion 250 Provinzialkapitel 310, 312 f., 316, 322, 324 f., 339, 358, 373, 374, 398, 400, 402 f., 408 f., 414,417 Prozessualität 99 Prozeß 99 Psychoanalyse 100,118 publicatio 313 Publizist 192 Rationalisierung 52,185 Rationalität 14,19,26, 61,110,143 Recht; ius 31,48, 64,106 f , 109,112, 134 f., 137-155,166,205, 318, 332, 354,420 Recht, göttliches 200, 348 Recht, kanonisches 137-139, 143, 154 Recht, päpstliches 142 Rechtsänderung 138, 146 f., 149, 348 Rechtsanwendung 144 Rechtsentstehung 138

444

Sachregister

Rechtsfortbildung 142 Rechtsgeltung 138 f., 144 Rechtshandlung 126 Rechtsinstitut 145 f., 148 Rechtsinterpretation 140 Rechtsneubildungen 144 Rechtsprinzip 148 Rechtsschöpfung; -Setzung 145 f., 148, 151 Rechtssicherheit 137 Rechtssprechung 140 Rechtsstatus 344 Rechtssubjekt 13 Rechtstradition 143 Rechtsunterricht 140 f. Rechtswirklichkeit 143 f., 152 Rechtswirksamkeit; - wirkung 138,153 Rechtszeichen 130 Referendariat, päpstliches 247 Reflexion 49, 56 Reflexion, politische (s. Politik) Reflexionssubjektivität 52, 54 Reform 6,231,233,239,254-258, 270, 276,280, 282,286-288,291 f., 297, 301, 304-308, 310 f , 315, 324 f , 336-338, 340 f., 343, 351, 353 f., 367, 369, 371, 374, 377-379, 396, 403, 406, 4 1 1 , 4 1 2 ^ 1 4 , 416, 419-421,424, 4 2 6 ^ 2 8 , 4 3 0 , 4 3 2 , 434 f. reformatio 256, 295, 304 f., 309, 349, 351, 355, 357, 360, 367, 377, 383 Reformator; Reformer 291,296,318, 337, 429—431 Reformbulle 310, 346 f., 356, 359, 367 Reformdekrete 345 Reformdiskussion 233 Reformeifer 232 Reformer (s. Reformator) Reformforderungen 233, 246, 256 Reformgedanke 366 Reformidee 356

Reformierung 346, 356 Reformmaßnahmen 347, 350 Reformpläne 352 Reformprinzip 346 Reformrhetorik 425,428 Regel 13,29, 78, 84,138, 259,262, 266-272, 275,278,280,284-287, 292, 295 f., 298-300, 302 f., 317-319, 327, 329, 336, 432 Regelsystem 107-109 Regeltreue 302,311,397 Registrator 224 regnum (s. Königtum) Reichtum 301-303, 333 f. Religion 16,26-28,30,39,45 regimen (s. Herrschaft) Reorganisation 366, 379 Repräsentant 366 Restabilisierung 20 restauratio 351 Richter 140 Ritual 9 Rolle, soziale 9 f., 17,20,22 Rota 225,243 f., 247,256 sacerdocium 178 f. Säkularisierung 185 Salbung 201 f. saniorpars 212 Satzung (s. auch Statuten) 296,315 scandalum 354 Schisma 231-233,236,240 f., 246, 248, 250,253 f., 256,258 Schreiber 224, 226, 228, 243 Schriftlichkeit (s. auch Verschriftlichung); scripta 14,312-315,318, 321,341,402 Schutz 264 scripta (s. Schriftlichkeit) Sedisvakanz 215,217-220,228 Seilschaften 226, 250 Sekretariat, päpstliches 247 Selbstreferenz 61 semideus in terris 164

Sachregister Semiotik 117,119 Sendbote (s. Legat) servientes armorum 243 Siegel 13,315,376 Sinnorientierung, -muster, -Vorstellung 6 , 1 1 , 1 5 f., 19 f., 33 Sitte 31,50,112 sariptor (s. Schreiber) societas christiana 293 Souverän 200 Sozialgebilde, -gefüge 2-4, 7,107, 166,297 Sozialisation 32 Sozialordnung 185 Sozialphilosophie 163, 176, 184 Sozialsystem 61 Sozialtheorie 180 Spezialisierung, institutionelle 16 Spiritualität 260, 268,271,280,285, 423, 426,431 Sportein 242,257 Sprache 121 Staat 3,99,138,165,182,293 Stabilisierung 18,20,391 stabilitas; Stabilität 5,18, 21, 48, 109, 320, 338 Stand, sozialer 164 Standesgruppe 124 Status 124 Statusrelation 76, 81, 84, 92 statuta-, Statuten 296,298, 306, 308, 311, 314, 316-318, 329, 339, 341, 343, 345-350, 352 f., 356-358, 363-366, 368, 376, 379, 383 f., 386, 400, 403,420,423,430 Statutenänderung 318 Strafe 350 Strukturbewahrung 48 Strukturfunktionalismus 47—49 Strukturveränderung 295 Studium 398,400-402, 407 Subjektivierung 42 Subjektivismus 41 Subjektivität 54, 56, 61,103

445

Substrat, materielles 37 Subsystem 47-49, 51, 63, 68, 101,103 Subsystem, gesellschaftliches 29 Sukzession 187-207 Symbol 13,115-131 Symbolisierung 117 System 49,52,103,210 Systemcharakter 51 Systeme, soziale 45, 47 f. Systemtheorie 32,49,101,103 Testament 146 f. Theologe; Theologie 98,159,166 f., 185,280 Theorie, politische (s. Politik) Thesaurar 225,228,243 Tod 104 Totenbund 284,289,293 Totengedächnis (s. Gebetsgedächtnis) Tradition 85,118,262,325 Traditionalismus 330 Transpersonalität 9,13, 85,115, 210, 215, 220 trial and error (s. Versuch) Trieb 45, 50, 52 Überleben 308 Übertretung 317 Überzeitlichkeit 115 Uniformität (s. Gleichförmigkeit) uniformitas (s. Gleichförmigkeit) unitas 306, 311, 359 f., 367 unitas ecclesiae 286 Universität 111 f., 166,175 f., 190, 248 Unveränderbarkeit 319, 330 Unwandelbarkeit 332 Utilitarismus 67 utilitas 318, 361 f., 328, 368, 376 utilitas communis 332 Utopie 17,38

446

Sachregister

Vakabilistenkolleg 245 variatio 320 varietas 326, 332 f., 338, 363 Veränderbarkeit 319, 330, 348 Veränderlichkeit 6, 351 Veränderung 73, 90, 363 Verband 3,16 f., 179, 259-262,264, 274, 293, 296, 307,311,335, 344-346, 350 f., 353, 355 f., 358, 362, 365-367, 380, 384, 395, 399, 414 Verbandsbildung 306 f., 315 Verbrüderung 284 Vereinigung, organisierte 7 f., 12-16, 26,31,33,36,45,64,108 Vereinheitlichung 138 Verfahren 13, 18, 138, 154 f. Verfahrensrecht 144, 149, 154 Verfallsgeschichte 180,184 Verfassung 287,298, 308, 372 Verfassungsgefüge 274, 356, 362 Verfassungsgeschichte 2 Verfestigung, institutionelle 4,14 Verflechtung 228,248-252 Vergänglichkeit 4 Vergehen 360 Vergemeinschaftung 6, 31 Vergesellschaftung 164 f. Verhaltensmuster 6,11, 33, 296 f. Verhaltensnormen 330 Verhaltensregeln 7,18,297,433 Verhaltensstrukturen, normative 7 f., 11 f., 14-16,25-31, 33-35, 45, 64, 68, 109, 301 Verhaltensweisen 7, 302 Verleihung 203 Vermögen, körperschaftliches 2 Vernunft 43,104 Veröffentlichung 313 Verrechtlichung 59, 360, 368 Versachlichung 362, 368 Versammlung 189-191,193 Verschiedenheit 333, 338

Verschriftlichung (s. auch Schriftlichkeit) 313,322 Versuch und Irrtum 50 Vertrag 67 Vertragstheorie 65 Verwandter; Verwandtschaft 247 f., 250 Verwaltung 253 Visitator; Visitation 268 f., 272, 274, 276 f , 285-287, 304-308, 311, 313, 321-324, 339, 345,353, 355, 359, 385, 397, 399 f., 403,409 f. vita communis 300, 393, 395, 397, 432 vita monastica (s. Lebensführung, monastische) Wahl 203-206,292 Wahlrecht 148,154,169,269 Wandel 12, 20,135, 325, 331, 333, 338, 365 Wandelbarkeit 57 Wandlung; Wandlungsprozeß 110, 167, 307 Wert (s. auch Grundwerte) 20, 38, 52,112 Wertrationalität 53 Willkür 60 Wirtschaft 26, 28-30 Zeichen 13,115-131 Zeit 22, 35, 90 f., 101 f , 329-331 Zellensystem (s. auch cella) 267 Zentralisierung 308 f. Zeremoniell 234 Zerfall 343 Zielverwirklichung 48 Zusammengehörigkeitsbewußtsein 291 Zwang 54 Zwangssystem 309 Zweck 19,53,108,164 f. Zweckrationalität 53