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German Pages 471 [472] Year 2008
Jan Cornelius Schmidt Instabilität in Natur und Wissenschaft
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Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 81
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Instabilität in Natur und Wissenschaft Eine Wissenschaftsphilosophie der nachmodernen Physik von
Jan Cornelius Schmidt
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019565-1 ISSN 0344-8142 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Meinen Eltern
Vorwort und Dank Dass Natur nicht nur stabil und statisch, sondern auch instabil und dynamisch ist, hat die Physik in den letzten 40 Jahren zeigen kçnnen. Instabilitten gelten als produktive und kreative Quellen des Werdens und Wachsens. Von Chaos und Komplexitt, von Zeitlichkeit und Zufall, von Selbstorganisation ist vielfach die Rede. Diese Stichworte kennzeichnen nicht nur die neuere, die nachmoderne Physik. Vielmehr charakterisieren sie auch reflexiv und reflektierend die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches. Das Buch handelt nicht nur von Instabilitt, es ist selbst ein Produkt von Instabilitt, von instabilen Prozessen. Denn Kreativitt ist ohne Instabilitt unmçglich. Das wusste offenbar auch Friedrich Nietzsche, als er sagte: Man muss noch Chaos und Instabilitt in sich haben, um einen tanzenden Stern gebren zu kçnnen. Doch die Produktivitt der Instabilitt ist mit einer Problematik verknpft: Instabilitt ist ein Tanz auf des Messers Schneide, eine Gratwanderung zwischen erstarrender Ordnung und ekstatischer Unordnung. Das rechte Maß an Instabilitt gilt es, haushlterisch zu pflegen. Geeignete Rahmen- und Randbedingungen sind notwendig. So geht mein besonders herzlicher Dank an Gernot Bçhme (Darmstadt), der nicht nur die Rahmen- und Randbedingungen positiv gestaltet hat, sondern auch meinen Weg als Physiker in die Philosophie ebnete. Ohne das von ihm initiierte DFG-Projekt „Chaosfhige Natur in der nachmodernen Physik“ (Laufzeit: 2000 – 2002) htte das vorliegende Buch sowie die diesem zugrundeliegende Habilitationsschrift (Frhjahr 2006, TU Darmstadt) nicht entstehen kçnnen. Einige grundlegende Thesen dieses Buches sind in intensiven Gesprchen mit Gernot Bçhme entstanden. In vergleichbarem Maße gilt mein Dank Alfred Nordmann (Darmstadt), der durch ein freundschaftliches Klima sowie kritische Rckmeldungen die Entstehung und Entwicklung der Habilitationsschrift gefçrdert hat. Fr die Untersttzung im Habilitationsverfahren sowie fr die Begutachtung der Schrift mçchte ich Barbara Drossel (Physik, Darmstadt)
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Vorwort und Dank
und Klaus Mainzer (Informatik/Philosophie, Augsburg) ganz herzlich danken. Fr wertvolle Anregungen und weiterfhrende Gesprche danke ich Peter Beckmann, Peter Euler, Richard Finckh, Franz Fujara, Gerhard Gamm, Petra Gehring, Armin Grunwald, Michael Hoffmann, BerndOlaf Kppers, Wolfgang Liebert, Klaus Michael Meyer-Abich, Bryan Norton, Gregor Schiemann, Gerhard Strk, Berthold Suchan und Gerhard Vollmer. Zu Dank verpflichtet bin ich ferner den Institutionen, an denen ich whrend der letzten Jahre ttig war, sowie den dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: (1) an der TU Darmstadt dem Institut fr Philosophie, dem Zentrum fr Interdisziplinre Technikforschung (ZIT) sowie der Interdisziplinren Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) und (2) am Georgia Institute of Technology der School of Public Policy. Fr finanzielle Untersttzung sei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Projekt: BO 367/15 – 1) sowie dem Zentrum fr Interdisziplinre Technikforschung, TU Darmstadt, gedankt. Bei den Reihenherausgebern mçchte ich mich bedanken, dass sie die vorliegende Arbeit positiv begutachtet und in ihre Reihe aufgenommen haben. Herzlicher Dank geht auch an den DeGruyter Verlag, allen voran an Frau Dr. Grnkorn, an Frau Hill und an Herrn Schirmer. Last but not least mçchte ich meiner Lebensgefhrtin Ellen Anthes und meinen Eltern, Elke Schmidt-Rininsland und Dr. Wolf-Rdiger Schmidt danken. Sie haben den Prozess der Erarbeitung dieses Buches geduldig untersttzt und waren nachsichtig, wenn ich mich zurckgezogen habe. Georgia Institute of Technology Atlanta/Metz, im Mrz 2008
Jan C. Schmidt
Inhalt 1. Einfhrung – Wege durch den Wandel der Wissenschaften . . . . . . 1.1. Nachmoderne Physik – Zur These des Buches . . . . . . . . . 1.2. Epochenbruch der Physik? – Methodische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Programmatisches – eine eingreifende Wissenschaftsphilosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Aufbau des Buches – Zur Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 4 9 12
Teil I: Klassisch-moderne Physik 2. Klassisch-moderne Physik – Skizze des Referenzsystems . . . . . . . . 2.1. Zur Terminologie: Klassische und moderne Physik . . . . . 2.2. Zur Merkmalstypologie der klassisch-modernen Physik . . 2.3. Prognostizierbarkeit – ein erstes Merkmal . . . . . . . . . . . . . 2.4. Reproduzierbarkeit – ein zweites Merkmal . . . . . . . . . . . . 2.5. Prfbarkeit – ein drittes Merkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Reduzierbarkeit, Vereinheitlichung, Erklrbarkeit – ein viertes Merkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 19 21 26 36 48 60 73
Teil II: Instabilitten 3. Systematische Aspekte der Instabilitten – Zur Problematisierung der klassisch-modernen Physik (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.1. Verkannte Instabilitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.2. Instabilitten – Zum Kern der Phnomene . . . . . . . . . . . . 82 3.3. Instabilitts-Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.4. Problematisierung der klassisch-modernen Physik – Systematisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten – Zur Problematisierung der klassisch-modernen Physik (II) . . . . . . . . . . 136 4.1. Geschichtliche Phasen der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
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Inhalt
4.2. 4.3. 4.4. 4.5.
Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit Fragwrdig: Instabilitts-Ahnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faktisch: Wissenschaftshistorische Beispiele . . . . . . . . . . . Festhalten oder festlegen? Stabilitt zwischen Dogma und Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Folgen: Stabilitt und Instabilitt in einem neuen Verhltnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138 155 177 204 216
Teil III: Nachmoderne Physik 5. ber Genese und Geltung – Wissenschaftstheoretische Erweiterung zur nachmodernen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Einleitung: Jenseits der Strukturwissenschaften … . . . . . . 5.2. Reflexivitt und Anforderungen an „gute“ Gesetze und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Qualitative Prfungen und Kontexttests . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Modelle und Erklrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Approximationsnumerik und Schattenberechnungen . . . . 5.6. Computerexperimente, Simulationen und Laborversuche . 5.7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225 225 227 233 244 261 269 280
6. ber Natur, Welt und Wirklichkeit – Wissenschaftsinhaltliche Erweiterung zur nachmodernen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 6.1. Selbstorganisation, Materie und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 6.2. Kausalitt und Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 7. ber Zugnge und Ziele – Wissenschaftsprogrammatische Erweiterung zur nachmodernen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1. Zugnge: Nachmoderne Physik … . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. … als phnomenologisch-morphologische Physik . . . . . . . 7.3. … als ChaosTechnoscience und Econophysics . . . . . . . . . 7.4. … und die interdisziplinre ffnung der Physik . . . . . . .
341 341 348 365 384
8. Resmee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 8.1. Nachmoderne Physik – und mçgliche Einwnde dagegen. 389 8.2. Der Weg zu einem erweiterten Physik- und Naturverstndnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Inhalt
XI
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 A.1. Stabilitt und Instabilitt – einige mathematische Details . 401 A.2. Der Begriff „Chaos“ – hermeneutische Elemente in der nachmodernen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
1. Einfhrung Wege durch den Wandel der Wissenschaften 1.1. Nachmoderne Physik – Zur These des Buches Dass nicht nur in Stabilitt, sondern auch in Instabilitt ein Charakterkern von Natur liegt, hat die Physik in den letzten 40 Jahren zeigen kçnnen. Instabilitt gilt inzwischen als Bedingung der Mçglichkeit von Selbstorganisation, von Zeitlichkeit und Dynamik – und auch als Vermittler von Mikroeigenschaften und Makrophnomenen: Natur wird als Natur bestimmbar, insofern sie instabilittsfhig ist. Instabilitten werden von der Physik expliziert, problematisiert und positiviert. Ein instabilittsbasierter Wandel erreicht die Physik, so die zentrale These des vorliegenden Buches. Der Wandel betrifft nicht nur das physikalische Natur-, sondern insbesondere das Wissenschaftsverstndnis, also das, was Physik ist und sein kann. Damit kçnnte er tiefgreifender sein als der Wandel durch Relativitts- und Quantentheorien mit ihrem Bezug auf die Natur des abstrakten Makro- und Mikrokosmos. Im Folgenden wird versucht, diesen Wandel des Natur- und Wissenschaftsverstndnisses in der neueren Geschichte der Physik zu charakterisieren.1 Dass die Physik im 16. Jahrhundert methodologisch auf ein Gleis gesetzt wurde, mag zwar zutreffen. Dass damit ein spezifisches Physik- und Wissenschaftsverstndnis ein fr allemal zementiert worden wre, erscheint fragwrdig. Mit der Entdeckung und Anerkennung von Instabilitten in Natur, Technik und Gesellschaft2 – verbunden mit der sukzessiven Computer-Technologisierung von physikalischem Erkenntnishandeln und der neuen Rolle digitaler Visualisierungstechniken – treten Modifikationen im Physikverstndnis hervor. Von Chaos, Komplexitt und Selbstorganisation ist vielfach die Rede. Eine „nachmoderne 1
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Instabilitt ist allerdings bislang kein Terminus, der einer eigenen wissenschaftsphilosophischen Erçrterung wert gewesen wre. Seit Duhem (1978, 186) vor ber 80 Jahren „das Problem der Stabilitt [… als] eine Frage ohne jeden Sinn“ metaphysikkritisch etikettierte, hat sich in der Philosophie wenig getan. Diskussionspunkte in den 1980er und 1990er Jahren, siehe u. a. Mainzer (1996a), Leiber (1996a/b), Kppers (1987), Kppers (1996), Kanitscheider (1993) und Hedrich (1994).
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1. Einfhrung
Physik“, wie sie genannt werden kçnnte, zeigt sich: Eine neue Physik emergiert, ohne alles Alte hinter sich zu lassen.3 Das herkçmmliche, das „klassisch-moderne“ Physikverstndnis wird nicht verabschiedet, wohl aber problematisiert und pluralisiert, ergnzt und erweitert. Physik umfasst heute, wie gezeigt wird, klassisch-moderne und nachmoderne Physik gleichermaßen. Mit nachmoderner Physik ist nicht nur die Physik bezeichnet, die zeitlich nach der modernen Physik entstand, nach jener Physik also, die im Gefolge von Relativittstheorien, Quantenmechanik und Quantenfeldtheorien steht. Vielmehr wird in den folgenden Ausfhrungen eine qualitativ epochale Erweiterung im Wissenschaftsverstndnis beschrieben, wobei klassische und moderne Physik untereinander weit mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als beide mit der nachmodernen Physik. Die nachmoderne Physik verdrngt die moderne Physik nicht. Diese besteht weiterhin; sie ist nach wie vor erfolgreich und keineswegs abgeschlossen. Dass wir durch einen derartigen Wandel, so Karl R. Popper in anderem Zusammenhang, „nicht nur [auf ] neue und ungelçste Probleme [stoßen], sondern [auch …] entdecken, daß dort, wo wir auf festem und sicherem Boden zu stehen glaubten, in Wahrheit alles unsicher und im Schwanken begriffen ist“, gilt heute mehr denn je (Popper 1989, 103). Der stabile Boden der klassisch-modernen Physik stellt sich rckblickend als eine wissenschaftshistorisch glckliche Ausnahme spezieller Objektsysteme der Natur dar. Die nachmoderne Physik endogenisiert Instabilitten und trgt damit zur Explikation des vormals Impliziten und ußerlichen bei, mithin zu einer erweiterten wissenschaftsphilosophischen Reflexivitt der Physik. Die epochale Erweiterung der Physik wird im Folgenden anhand der Etablierung der Theorien dynamischer Systeme, der Physik komplexer Systeme, der Nichtlinearen Dynamik und Chaostheorie zu belegen sein.4 Zur nachmodernen Physik sind ferner Selbstorganisations- und Komplexittstheorien zu zhlen, etwa die dissipative Strukturbildung, Synergetik, fraktale Geometrie und Katastrophentheorie. Die Vielfalt dieser
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Hier liegt im Wissenschaftsverstndnis selbst ein Instabilittspunkt vor, ein Bruch und Kipppunkt. Damit wird B.–O. Kppers (1992, 10) nicht gefolgt, insofern er herausstellt: Die „konzeptionelle Neuorientierung der Naturwissenschaften [nahm] ihren Ausgang von der physikalisch orientierten Biologie.“ Statt dessen wird in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht der Ausgangspunkt in der Physik lokalisiert.
1.1. Nachmoderne Physik – Zur These des Buches
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Theorien lsst die nachmoderne Physik zunchst heterogen erscheinen.5 Doch unbersehbar ist ein gemeinsames Band: das der Instabilitten in Natur und Technik sowie in mathematischen Modellen. Nichtlinearitt stellt eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dar; Nichtlinearitt ist zu wenig, wenn es um die trennscharfe Diagnose eines epistemischen Wandels im Wissenschaftsverstndnis geht. Aus Instabilitten hingegen folgt all das, was fr die nachmoderne Physik inhaltlich kennzeichnend ist: Sensitivitt, Chaos, Kipppunkte, Kritikalitten, Bifurkationen, Symmetriebrche, Phasenbergnge, Schmetterlingseffekte; ferner: Fraktalitt, Zeitlichkeit, Informationserzeugung, Emergenz, Selbstorganisation, Komplexitt, schwache Kausalitt. Wo Instabilitten dominieren, steht es – um es in der Alltagssprache auszudrcken – „auf des Messers Schneide“. Das ist jedoch nicht nur negativ zu konnotieren. Denn ohne Instabilitten gbe es kein Wachstum und kein Werden; durch Instabilitten kann Neues entstehen. Die nachmoderne Physik ist eine Physik der Instabilitten. Sie stellt eine erweiterte, aber auch geltungsrelativierte Physik dar. – Die Erweiterung zeigt sich (a) zunchst in der Gegenstandsextension. Einige Gegenstnde, welche bisher nicht materiell-objektseitig zur Physik gezhlt wurden, werden im erweiterten Horizont der nachmodernen Physik zugnglich. Es werden Gegenstnde als „physikalisch“ zu bezeichnen sein, obwohl sie nicht im engeren Sinne primr „physisch“, materiell-energetisch sind. Von einem klassischen „Physikalismus“ kann allerdings keine Rede sein (vgl. Mainzer 1996a, 1).6 – Denn es vollzieht sich (b) eine Pluralisierung in Zugang, Genese und Geltung physikalischen Wissens. Die Pluralisierung umfasst eine innerphysikalische Anerkennung vielfltiger wissenschaftlicher Standards, welche bislang nicht fr die Physik kennzeichnend waren: Dies fhrt zu einer einzigartigen Geltungsrelativierung. Das durch die klassisch-moderne Physik geprgte Wissenschaftsverstndnis wird von der nachmodernen Physik nicht nur pluralisiert, sondern auch problematisiert. Das betrifft implizite Annahmen, wie etwa: Prognostizierbarkeit, experimentelle Reproduzierbarkeit, em-
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Offen ist durchaus, ob und in welchem Sinne berhaupt von „Theorie(n)“ gesprochen werden kann. Schließlich sind instabile komplexe Phnomene „not reduced to the microscopic level of atoms [or …] molecules“ (Mainzer 1996a, 1). Eine neue Runde eines Expansionismus oder „Imperialismus der Physik“ (Cartwright 1999, 1) steht nicht bevor.
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1. Einfhrung
pirische Prfbarkeit, deduktive Reduzier- und Erklrbarkeit. So treten erkenntnistheoretische Grenzen hervor. Eine so verstandene nachmoderne Physik ist strukturwissenschaftlichinterdisziplinr ausgerichtet. Sie ist fr alle mathematischen Wissenschaften von Bedeutung, von den Wirtschaftswissenschaften bis zur Biologie (Kapitel 5 und 7). Die nachmoderne Physik ist sowohl natur- als auch technik- und gesellschaftsbezogener als die klassisch-moderne Physik. Insbesondere avanciert die mesokosmische Natur, die Natur der mittleren Grçßenordnung mit ihren spezifischen Mustern und Strukturen, in Teilbereichen der nachmodernen Physik zu einem erkenntnisrelevanten Gegenstandsfeld. Es zeigt sich, dass strukturelle Isomorphien verschiedener Grçßenskalen erkenntnisgenerierend sind und modifizierte Erklrungstypen aufweisen. Folglich liegen in der nachmodernen Physik Problematisierungen und Perspektiven nahe beieinander; Physikkritik und Physikpotenziale durchdringen einander.
1.2. Epochenbruch der Physik? – Methodische Vorbemerkungen An Etiketten fr Epochenbrche mangelt es nicht. Von „New Physics“, „New Science“ und „postmoderner Physik“ war vielfach die Rede.7 Wegweisende wissenschaftsphilosophische Arbeiten sind in diesem Zusammenhang publiziert worden, an welche partiell angeschlossen werden kann.8 Doch selten wurde das Wissenschaftsverstndnis der Physik ex-
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Siehe allgemeiner Davies (1989) und Gleick (1987) sowie spezieller Kanitscheider (1993) und Kellert (1994). Insbesondere findet sich bei Kanitscheider der Begriff der „postmodernen Physik“ (ebd., 164). Prigogine und Stengers (1990, 221) sprechen von einer „Erneuerung der zeitgençssischen Wissenschaft“. Angeschlossen werden kann insbesondere an Mainzer (1996a), Kanitscheider (1993), Kppers (1987), Leiber (1996) sowie allg. zum Epochenbruch: Schiemann (1997b). Die sich in den spten 1960er und frhen 1970er Jahren entwickelnden Selbstorganisationstheorien sind Wegbereiter der Instabilittsthematik, siehe neben anderen Prigogine (1992), Prigogine/Stengers (1990), Prigogine (1995), Haken (1980), Haken (1987), Haken/Wunderlin (1994), Haken (1995). Allgemeine Interpretationen und Entwrfe finden sich in den 1970er Jahren bei Jantsch (1988) und wenig spter neben anderen bei: Kppers (1986), Dress et al. (1986), Kppers (1987), Ebeling et al. (1990), Krohn/Kppers (1992), Krohn/ Krug/Kppers (1992), Kanitscheider (1993), Mainzer (1996a), Hedrich (1994), Ebeling/Feistel (1994), Vollmer (1995), Mainzer (1997a), Leiber (1996a), Leiber
1.2. Epochenbruch der Physik? – Methodische Vorbemerkungen
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plizit in den Blick genommen.9 „Um die Bedeutung […] der neuesten Ergebnisse der Naturwissenschaften verstehen zu kçnnen“, meint Hartmut v. Hentig treffend, „muß man vor allem die Naturwissenschaft selbst verstehen, verstehen, was sie will und tut, kann und nicht kann.“ (Hentig 1999, 14) Jean-FranÅois Lyotard hat weitergefragt und ein Kapitel seines Buches Das postmoderne Wissen wegweisend betitelt: „Die postmoderne Wissenschaft als Erforschung der Instabilitten“ (Lyotard 1986, 157 ff ). Doch Lyotards ahnende Ausfhrungen haben die Scientific Community der Wissenschaftsphilosophen – und auch die der Physiker – wegen begrifflicher Verwirrungen und unsystematischer Verirrungen nicht erreicht.10 Eine belastbare epistemologische Bruch- und Erweiterungsthese findet man bei Lyotard nicht, insbesondere keine Rekonstruktion des bisherigen, des klassisch-modernen Wissenschaftsverstndnisses. Das gilt es nachzuholen. Zu Beginn wre nach dem Typ der hier vertretenen These zu fragen. Die im Folgenden zu belegende Existenzthese: es gibt eine nachmoderne Physik, ist notwendigerweise verbunden mit einer minimalen Epochenbruchthese. Es handelt sich um eine nichtkumulative epochale Erweiterungsthese. Die Existenzthese bezieht sich auf die nachmoderne Physik, die minimale Epochenbruchthese auf die Physik insgesamt.11 So kçnnte man sagen: Aus der klassisch-modernen Physik heraus emergiert die nachmoderne Physik, ohne dass jedoch die klassisch-moderne Physik verschwindet. Die nachmoderne Physik wird als ein Emergenz- und Selbstorganisationsphnomen zweiter Stufe – auf der Metaebene – be(1996b), Kppers (1996), Cramer (1989), Cramer/Kmpfer (1992), Cramer (1994), Cramer (1995). 9 Ausnahme u. a. Mainzer (1996a) und Mainzer (1999, 3 f ). Und auch B.–O. Kppers (1992, 11) spricht von einem „konzeptionellen Wandel, der sich gegenwrtig in den Naturwissenschaften abzeichnet“. Meist bezieht sich diese Diagnose allerdings ausschließlich auf das physikalische Naturverstndnis, und das in eingeschrnkter Hinsicht. Physik wird charakterisiert als die Menge der inhaltlichen Propositionen ber Natur. Die inhaltlich-propositionalen Bestimmungen, insofern sie sich primr auf das Naturverstndnis beziehen, greifen ebenso zu kurz wie die formal-inhaltsleeren Reflexionen der analytisch geprgten „klassischen Wissenschaftstheoretiker“ mit ihrer reinen Theorieform-Orientierung, vgl. Poser (2001, 279). 10 Zur Kritik an Lyotard siehe Sokal/Bricmont (1999, 155 f ). Der Begriff „Postmoderne“ scheint kaum tragfhig fr eine derartige Diagnose zu sein. 11 Physik erweitert sich also epochal und umfasst heute, so die These, klassischmoderne und nachmoderne Physik, wobei sich die Existenzthese auf letztere bezieht.
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1. Einfhrung
Abb. 1 – 1: Skizze zum Zusammenhang der Begriffe „Physik“, „klassisch-moderne Physik“ und „nachmoderne Physik“. bergnge und Schnittmengen zwischen „klassisch-moderner“ und „nachmoderner“ Physik existieren.
schreibbar.12 In dieser Beschreibung findet sich eine Perspektivenabhngigkeit, mithin ein wissenschaftshistoriographischer Perspektivismus. So soll auf eine Revolutionsmetaphorik verzichtet werden.13 Eine darauf aufbauende starke Epochenbruchthese wrde ein allzu starkes Differenzdenken voraussetzen. Dann aber wrde etwas als etwas Altes zu charakterisieren sein. Schnell wre es abqualifiziert oder gar verabschiedet: Altes ist Vergangenes. Ein „Fortschritt“ msste konstatiert werden. Das scheint in dieser Form unangemessen zu sein. Von einem Ende der klassischmodernen Physik kann keine Rede sein. Nach wie vor ist sie in ihren Gegenstandsfeldern und im Rahmen ihrer Geltungsbedingungen ußerst erfolgreich.14
12 Mainzer (1996a) pldiert fr die (Selbst-) Anwendung der Theorien der Selbstorganisation auf die Wissenschaftsgeschichte bzw. die Wissenschaftsdynamik, siehe dazu auch Krohn/Kppers (1992). Diese Selbstanwendung sollte auch zur Vorsicht mahnen, was den Geltungsanspruch einer allzu starken Epochenbruchthese angeht. 13 Die hier vertretene Epochenbruchthese mçchte nicht die „inzwischen in Traditionen erstarrt[e] […] Auffassung von der wissenschaftlichen Revolution“ (Shapin 1998, 10) unkritisch reproduzieren, wohl aber den Wandel der Physik in den Blick nehmen. Der Revolutionsbegriff hat seine Geschichte. Kant hatte schon in der Kritik der reinen Vernunft von einer „Revolution der Denkungsart“ gesprochen. Koyr verwendete den Begriff „wissenschaftliche Revolution“ erstmals 1939. Als Buchtitel trat er 1954 hervor in Halls „The Scientific Revolution“ und in Bernals „Science in History. The Scientific and Industrial Revolutions“. Die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ Kuhns wurde ab den 1960er Jahren zum Klassiker fr den Revolutionsbegriff. 14 Gewissermaßen ist zuzugestehen, dass – nach wie vor – die klassisch-moderne Physik den Mainstream der Physik darstellt. Jedoch gewinnt die nachmoderne Physik, wie es scheint, zunehmend an Boden.
1.2. Epochenbruch der Physik? – Methodische Vorbemerkungen
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Demgegenber ist die hier vertretene minimale Epochenbruchthese, die Erweiterungsthese, zunchst bescheidener: Neues entsteht, ohne Gegebenes zu verdrngen und als „Altes“ zu etikettieren. Jedoch auch fr die Erweiterungsthese der Physik ist ein Referenzsystem als Gegebenes zu spezifizieren (Kapitel 2), von dem sich die nachmoderne Physik abhebt; nur auf ein Referenzsystem bezogen – hier die „klassisch-moderne Physik“ – kann von einer „Erweiterung der Physik“ gesprochen werden. Erweiterung meint zunchst allgemein Horizonterweiterung im Sinne verstrkter Reflexion und Revision der eigenen methodologischen Voraussetzungen. Spezieller soll darunter dreierlei verstanden werden, wie in Kapitel 5 – 7 ausgefhrt wird:15 eine Extensions-Erweiterung als Ausweitung der Gegenstandsfelder und ferner der Erkenntnisinteressen (Kapitel 7), eine methodologische Erweiterung als Pluralisierung, Verbreiterung und Relativierung der ausweisbaren Kriterien in Genese und Geltung von physikalischer Erkenntnis (Kapitel 5) sowie eine Verstndnis-Erweiterung als Vertiefung des Wissens ber physikalische Phnomene: Instabilitt als grundlegende, zugngliche und mitunter auch „produktive“ Eigenschaft von Wirklichkeit; „anthropomorph“ gesprochen und auf eine Kurzformel gebracht: Natur wird als Natur beschreibbar, insofern sie (auch und insbesondere) instabilittsfhig ist (Kapitel 6). – Die Erweiterung der Physik (durch die nachmoderne Physik) ist also nicht im rein kumulativen Sinne eines Weiter-so zu verstehen, sondern als epochale Erweiterung. Allerdings beansprucht sie keine Deutungshoheit und stellt keinen bergriff dar, sondern zielt auf reflexive Geltungsrelativierung mit dem Ausweis epistemischer Grenzen. Wissenschaftshistoriographische Thesen wie die Erweiterungsthese sind voraussetzungsbehaftet.16 Zwei Aspekte, nmlich das bisher Erfolg15 Hier wird die spter zu begrndende These unterstellt, dass Physik als Disziplin wesentlich bestimmt ist durch: Gegenstandsfelder/Objektsysteme, Methoden/ Verfahren, Inhalte/Aussagen. 16 Als Einstieg sind gewiss Fragen klrungsbedrftig wie: Bezieht sich die Wissenschaftshistoriographie auf die kognitive „Theorieform“ oder auf die handelndverfahrende „Forschungsform“ von Wissenschaft (Mittelstraß 1998)? Sollte sie nur Geltungs- oder auch Geneseprozesse betrachten? Weiterhin: Sollte sie wissenschaftsphilosophisch, sozialwissenschaftlich oder gar sozialanthropologisch ausgerichtet sein? Fleck und Kuhn, Popper, Lakatos und Feyerabend, Bçhme, Latour, Galison, u. a. haben keinen Konsens finden kçnnen. Kriterien zur Diagnose von Epochenbrchen wurden angegeben und verworfen; Kontinuitten und Diskontinuitten wurden behauptet und kritisiert; Rationalitt wurde gefordert oder als unmçglich erachtet; externe und interne Aspekte wurden ge-
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1. Einfhrung
reiche und Herkçmmliche (als Referenzsystem) sowie das Neue (als Erweiterung) sind zu bedenken. Herkçmmliches und Neues liegen als solches nicht einfach vor; sie werden nicht nur rekonstruiert, sondern auch konstruiert. Schon Thomas S. Kuhn sah sich mit dieser Schwierigkeit konfrontiert, nmlich zwischen Herauslesen und Hineinlegen zu unterscheiden, spezieller: zwischen Kontinuitt und Diskontinuitt, zwischen hnlichkeit und Unvergleichbarkeit, Identitt und Differenz. Es ist eine offene Frage, wie man „die Vergangenheit […] zu ihrem eigenen Recht kommen lassen [kann] und […] unser Bild der Vergangenheit [nicht] verzerrt.“ (Shapin 1998, 15) Dass wir zur Vergangenheit nur einen modelldurchtrnkten, interessengeleiteten und kontextgebundenen Zugang haben und mitunter „Erzhlungen“ aufsitzen, ist fr Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftshistoriographie sptestens seit Kuhn und Lakatos deutlich geworden. So wird auch hier die Erweiterungsthese der Physik durch die nachmoderne Physik abhngig vom Diagnoseinteresse. Dieses liegt nun darin, mit der Diagnose der Erweiterung zu einer breiteren Anerkennung und Akzeptanz fr die Erweiterung beizutragen: Die nachmoderne Physik kann sich so als wegweisender und reflexiver Zugang zu Natur und Technik sowie zu interdisziplinren Problemstellungen weiterentwickeln. Neben der allgemeinen Konstruktivittsproblematik wissenschaftshistoriographischer Epochenbruchthesen liegt eine weitere Problematik darin, dass die klassisch-moderne Physik – als Referenzsystem – kaum homogen wissenschaftstheoretisch zu fassen ist, wie Paul Feyerabend (1980, 320 f ) herausstellte.17 Diese Kritik an jeder engeren Wissenschaftstheorie hat auch die Wissenschaftsgeschichtsschreibung verunsichert. Ihr Gegenstand („die Wissenschaft“) scheint ihr zu entgleiten. Doch, wie gezeigt trennt oder zusammengefhrt; Deskriptivitt, Normativitt und Prskriptivitt konnten unterschieden werden oder wurden als ununterscheidbar angesehen. 17 Denn die Physik habe, so Feyerabend (1980, 320), „keine ,Struktur‘ in dem Sinn, daß es Elemente gibt, die in allen wissenschaftlichen Vorgngen [notwendig] auftreten […] und [die] verschieden [sind] von anderen Bereichen, wie etwa der Kunst, der Metaphysik, der Religion. […] Eine Wissenschaftstheorie […] ist also nicht mçglich.“ Die science studies haben hier angeknpft und zu zeigen versucht, dass man die jeweiligen Einzelwissenschaften nicht ber wissenschaftstheoretische und systematisch-wissenschaftshistorische Zugnge zu fassen bekommt. Vielmehr gelte es, das Laboratory Life (Latour/Woolgar 1986) des Einzelfalls sozioethnographisch in den Blick zu nehmen und sozialkonstruktivistisch zu rekonstruieren. Nach dem Ende der „großen Erzhlungen“ dominieren heute die mit geringer Erklrungsleistung ausgestatteten Fallstudien, die Laborberichte und „kleinen Erzhlungen“.
1.3. Programmatisches – eine eingreifende Wissenschaftsphilosophie?
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werden soll, bleibt die Mçglichkeit einer pluralen wissenschaftsphilosophischen Typologie der klassisch-modernen Physik erhalten – und damit die Mçglichkeit eines Referenzsystems. Hiervon ausgehend kann die Frage nach Wandel und Erweiterung der Physik in den Blick genommen werden. Bercksichtigung finden dabei wissenschaftshistoriographische Modelle zur Diagnose eines Wandels, etwa Kuhns Modell des Paradigmenwechsels (Kuhn 1996), Lakatos’ Konzeption der Forschungsprogramme (Lakatos 1972; Lakatos 1974), das Finalisierungs-Modell (Bçhme et al. 1974) sowie neuere Modelle: das Mode-II-Modell (Gibbons et al. 1994; Nowotny et al. 2001) und die Diagnose der „technoscience“ mit der Hybridisierung von Wissenschaft, Technik, Gesellschaft und Politik (Latour 1987; Haraway 1995; Nordmann 2005).18 Die Erweiterungsthese kann sich somit einerseits auf keines dieser etablierten Modelle sttzen,19 insofern diese Modelle Erweiterungen nicht explizit diskutieren. Damit betritt sie Neuland. Andererseits werden die Modelle jeweils punktuell herangezogen, um einzelne Aspekte der nachmodernen Physik herauszustellen. Somit kçnnte fr die Wissenschaftshistoriographie die Entstehung und Entwicklung einer nachmodernen Physik als Kritik, aber auch als Herausforderung verstanden werden.
1.3. Programmatisches – eine eingreifende Wissenschaftsphilosophie? Ob mit der Erweiterungsthese eine Modifikation der Wissenschaftsphilosophie(n) einhergeht (oder gehen msste), gilt es zu untersuchen. Aus der nachmodernen Physik scheint sich eine Problematisierung gngiger wissenschaftsphilosophischer Positionen zu ergeben – etablierter Positionen in der Fachphilosophie und in der Physik. Fr jede wissenschaftsphilosophische Konzeption, so die hier vertretene These, gilt offenbar hnliches wie fr die nachmoderne Physik selbst: Pluralitt, Perspektivitt, Phnomenalitt.
18 Weitere Modelle kçnnten angefhrt werden, etwa das Sneed-Stegmller’sche strukturalistische Modell (Stegmller 1985) und seine Anwendung auf die Wissenschaftsentwicklung (Ghde 1997), oder das Modell der „post-normal science“ (Funtowicz/Ravetz 1993). 19 Das unterscheidet unseren Zugang etwa von Hedrich (1994), der das Kuhn’sche Schema appliziert.
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1. Einfhrung
Eine an der nachmodernen Physik orientierte Wissenschaftsphilosophie kçnnte als nachmoderne Wissenschaftsphilosophie bezeichnet werden.20 Neben Paul Feyerabend, Ian Hacking und Hans Poser21 stehen hierfr Nancy Cartwright und Michel Serres Pate. Cartwright argumentiert gegen die Position einer vermeintlichen Einheit von Naturgesetzen, Serres gegen die vermeintliche Einheit der Epistemologie. Cartwright meint, dass der wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkt das sei, „[w]as uns die Erscheinungen der Welt nahelegen. Wir leben in einer gescheckten Welt; einer reichen Welt unterschiedlicher Dinge und unterschiedlicher Naturen, die sich auf unterschiedliche Arten und Weisen verhalten. Die Gesetze, die diese Welt beschreiben, sind ein Patchwork und keine Pyramide.“ (Cartwright 1999, 1)22 „Gescheckt“ sind die Phnomene selbst ebenso wie ihre Beschreibungen. Cartwright spricht sich fr einen nomologischen Pluralismus aus, welcher die „imperialistische Tendenz“ der Physik und der herkçmmlichen Wissenschaftstheorie aufbrechen helfen kçnne. Ein bereichsspezifischer Kontextualismus mit einer lokalen Geltung phnomenologischer Gesetze ist die Folge.23 Weiter geht Michel Serres. Er fordert programmatisch eine „pluralistische Epistemologie“ (Serres 1992), die der „materialen Unbestimmtheit“ (Ende des Gegenstandsbezugs) und der „Entgrenzung“ (Extensions-Erweiterung) Rechnung trgt. Epistemologie und (allgemein) Wissenschaftsphilosophie werden sich nicht als solche auflçsen und verschwinden, sondern „ihre Einheit [… in] einer Vielzahl von Perspektiven“ finden (Serres 1992, 11).24 Eine nachmoderne Wissenschaftsphilosophie msste demnach eine solche Wissenschaftsphilosophie sein, die im Angesicht radikaler Plura20 Bislang hat die Wissenschaftsphilosophie der Physik ihre Reflexionsfiguren und Themenfelder nicht an der nachmodernen, sondern an der klassisch-modernen Physik geschrft. Insofern sind die Ausfhrungen in dieser Arbeit auch als kritische Anmerkungen zu den Hauptstrçmungen der Wissenschaftsphilosophie zu lesen. 21 Z.B. Feyerabend (1980), Hacking (1996) und Poser (2001). 22 Eigene bertragung aus dem Englischen. 23 Vielleicht kçnnte man sogar im Sinne Husserls oder N. Hartmanns bei Cartwright von „regionalen Ontologien“ sprechen. Was Cartwright (1999) fr die gesamte Physik zeigen mçchte, gilt gewiss fr die nachmoderne Physik. Die Erweiterungsthese zur nachmodernen Physik kann so auch als bereichsspezifische Begrndung der Cartwright’schen These zur „gescheckten Welt“ verstanden werden. Allerdings ist Cartwright eher Kontinuitts- als Diskontinuittstheoretikerin, weshalb zur Diagnose eines Epochenbruchs Cartwright weitgehend unbrauchbar bleibt. 24 Zu Serres allg. siehe Rçttgers (1999, 87 f ) und spezieller Gehring (2004, 308 f ).
1.3. Programmatisches – eine eingreifende Wissenschaftsphilosophie?
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lisierung ihrer Reflexions- und Gegenstandsfelder steht; sie ist dann selbst plural. Die vorliegende Arbeit zielt auf eine kulturphilosophisch geçffnete „aktive“ Wissenschaftsphilosophie und hlt gleichzeitig an der Mçglichkeit einer Wissenschaftsphilosophie der Physik (betrieben von Physikern und von Fachphilosophen) fest: als Wissenschaftskulturphilosophie (Nordmann 2005). Die kulturphilosophische ffnung liegt auf der Hand: Wissenschaft stellt nicht nur als Forschungs-, Handlungs- und Denkform eine eigene (Sub-) Kultur dar; vielmehr durchdringt die Wissenschaftskultur heute faktisch und ideell die gesamte Kultur.25 Ein reiner, sauberer wissenschaftsphilosophischer Deskriptivismus und eine reine analytische Wissenschaftstheorie sind unmçglich. Wissenschaft ist heute kein abtrennbarer ußerer Gegenstand: Sie ist immer schon da, wo immer sich Wissenschaftsphilosophie befindet. Eine heutige Wissenschaftsphilosophie kann ihren Standort und Startpunkt nicht beliebig whlen; sie befindet sich stets mittendrin. Wissenschaftsphilosophische Beobachterund Teilnehmerperspektive mischen sich. In der nachmodernen Wissenschaftsphilosophie tritt eine „Hybridisierung“, eine „Vermischung“ und „Verschmelzung“ (Latour 1998) externer und interner, deskriptiver und normativer Aspekte hervor. Diese Wissenschaftsphilosophie stellt mehr dar und sie stellt mehr an als eine deskriptive und analytische Reflexion von gegebener ußerer Wissenschaft. In der nachmodernen Wissenschaftsphilosophie geht es – wie in der nachmodernen Physik – hochsensitiv, rckgekoppelt und zirkulr zu, zwischen Deskriptivem und Normativem, zwischen Rekonstruktion und Konstruktion, zwischen Darstellen und Eingreifen. Jede Reflexion ist demnach auch eine Revision und Intervention. Serres charakterisiert diesen Typ von neuerer Wissenschaftsphilosophie wie folgt: „Diese Philosophie spricht von den Wissenschaften, aber sie verhlt sich nicht stumm zu der Welt, die […] ihre Begrndung in diesen Wissenschaften findet. Die Philosophie greift selbst in die Netze und Knoten der Zirkulation ein.“ (Serres 1992, 8) Jede wissenschaftsphilosophische Analyse von Physik impliziert eine Aktivitt, jedes Begreifen ein Greifen, jede Fassung eine Gestaltung von Physik: eine Begriffsklrung und Epochenanalyse stellt ein normativ geleitetes und an Zwecken ausgerichtetes Instrumentarium dar. Genau hier kçnnte eine wis25 Gngig ist es, von Verwissenschaftlichung (und Technisierung) der Gesellschaft zu sprechen, und auch komplementr von Vergesellschaftung von Wissenschaft (und Technik).
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1. Einfhrung
senschaftsphilosophische Aufgabe in der Welt liegen. Die nachmoderne Wissenschaftsphilosophie ist selbst interdisziplinr – wie auch dieses Buch – und sie ist politisch, insofern sie Begriffs-, Gegenstandskonstitutionsund bersetzungspolitik betreibt und Forschungsprogramme expliziert, kritisiert und revidiert. Theorie und Praxis – wenn es diese Dichotomie je gegeben haben sollte – fallen zusammen und heben sich auf. Nicht nur die Physik ist eingreifend, wie Ian Hacking herausstellt, die Wissenschaftsphilosophie – von Fachphilosophen und von Physikern – ist es auch: Was Physik ist, ist immer, explizit oder implizit, verbunden mit der Frage, was Physik sein kann und sein soll.26 Die Diagnose und Reflexion ber die Anerkennung der Instabilitten ist mithin auch als Pldoyer fr die vertiefte Etablierung von Instabilitten (und von ihren Konsequenzen) im Verstndnis von Natur und Wissenschaft zu verstehen.
1.4. Aufbau des Buches – Zur Gliederung Um die Erweiterungsthese zur nachmodernen Physik zu entwickeln und zu begrnden, sind drei Schritte notwendig, – wobei die einzelnen Kapitel auch jeweils fr sich stehen und als solche gelesen werden kçnnen. Teil I: Zur Grundlegung der Erweiterungsthese der Physik bedarf es eines Referenzsystems, das der klassisch-modernen Physik (Kapitel 2). Dieses bildet keine Einheit, sondern spannt vier in sich verbundene, unterschiedliche Verstndnisweisen von Physik auf. Wissenschaftsphilosophische und erkenntnistheoretische Traditionslinien spielen in diese Typisierung hinein. Sie kennzeichnen das, was blicherweise – auch von Physikern – als Physik angesehen wird: Physik als Wissenschaft der Prognose (Instrumentalismus) (Kapitel 2.3), Reproduktion (methodologischer Konstruktivismus) (Kapitel 2.4), Prfung (Empirismus, Realismus) (Kapitel 2.5), Reduktion, Vereinheitlichung und Erklrung (Rationalismus) (Kapitel 2.6). Den vier Physikverstndnissen werden Leistungsmerkmale zugesprochen,27 welche allgemein als Objektivierbarkeit 26 Dies nicht mitzureflektieren wrde nicht allein der traditionellen, der klassischmodernen deskriptiv-analytischen Wissenschaftsphilosophie das Wort reden. Vielmehr bliebe diese Wissenschaftsphilosophie gegenber der nachmodernen Physik blind – und damit auch bedeutungs- und wirkungslos. 27 Vier Leistungsmerkmale kçnnen herausgestellt werden. Prognose-Leistung: Erschließung von Zukunft, etwa mit dem Ziel des Tests von Theorien sowie der voraussehenden Handlungsplanung (Physik als Prognosekraft). Technik- und Herstellungs-Leistung: Ermçglichung von technischem Eingreifen und experi-
1.4. Aufbau des Buches – Zur Gliederung
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bezeichnet und allesamt jeweils unterschiedlich mit „starker Kausalitt“ – hnliche Ursachen haben hnliche Wirkungen zur Folge – verbunden werden. Dass vier Verstndnisse von Physik vorliegen – obwohl „Physik“ in der starken Kausalitt einen einheitlichen Kern aufweist – , stellt Anforderungen an die Diagnose der Existenz der nachmodernen Physik und an die Begrndung der Erweiterungsthese der Physik:28 Die Pluralitt im Physikverstndnis erfordert hier eine plurale ArgumentationsStrategie. Es ist zu zeigen, dass alle vier Physikverstndnisse berhrt sind und modifiziert werden. Teil II: Die klassisch-moderne Physik wird durch die Entdeckung der Instabilitten problematisiert (Kapitel 3 und 4). – In systematischer Absicht wird zwischen unterschiedlichen Typen von Instabilitten (statisch, dynamisch, strukturell) unterschieden (Kapitel 3). Es wird dargelegt, dass Instabilitten als Herausforderung fr die impliziten Stabilittsannahmen der klassisch-modernen Physik anzusehen sind. Das betrifft methodologische Voraussetzungen ebenso wie metaphysische Hintergrundberzeugungen, also sowohl das Wissenschafts- als auch das Naturverstndnis. Die Problematisierung beabsichtigt keine ußere Relativierung von klassisch-moderner Physik; vielmehr verweist sie zunchst auf den Erfolg der metaphysisch-methodologischen Verschmelzung. Das Kriterium der Stabilitt diente zur Selektion und Konstitution der Objektbereiche als Gegenstnde der Physik. Alles Instabile wurde beiseite gelassen, ohne es berhaupt zu bemerken und zu thematisieren. – Dieser systematischen Betrachtung von Instabilitten folgt in Kapitel 4 eine historisch-rekonstruktive Untersuchung. Die nachmoderne Physik wird selbst als ein Emergenzphnomen angesehen, welches zeitlich lokalisiert werden kann: ab den 1960er Jahren trat sie an die Oberflche. Rckblickend zeigen sich mentellem Handeln (Physik als Technik/Techniken). Prfungs-Leistung: Gewhrung von empirischen Tests und systematischen Prfungen von Theorien an der Natur (Physik als objektive Theorieprfung an der Empirie). Reduktions-, Vereinheitlichungs- und Erklrungs-Leistung: Gewinnung von Erklrungen sowie von kompakten Darstellungen der Phnomene (Physik als geordnete und kompakte Menge von Theorien). 28 Wer gegenber der Erweiterungsthese skeptisch ist, kçnnte leicht auf ein jeweils anderes Physikverstndnis ausweichen. Er htte ein schnelles Gegenargument zur Hand und die Erweiterungsthese liefe ins Leere. Wrde man etwa dafr argumentieren, dass die nachmoderne Physik die klassisch-moderne Prognoseorientierung problematisiert und sich die prognosewissenschaftliche Verstndnisweise von Physik wandelt, kçnnte der Skeptiker leicht behaupten, dass der Kern der klassisch-modernen Physik gar nicht in der Prognostizierbarkeit liege, sondern vielmehr in der Testbarkeit oder der Reduzierbarkeit.
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1. Einfhrung
jedoch bereits frher Hinweise auf eine erweiterte Physik. Als wegweisend erscheinen Vorstellungen der Instabilittsthematik im 19. Jahrhundert und sogar noch davor. Historisch betrachtet ist die Physik der Geburtsort der Instabilittsthematik. Sie ist nicht adquat unter dem transdisziplinren Begriff der „Strukturwissenschaft“ zu fassen. Denn es waren Physiker, die an konkreten klassischen Gegenstandsfeldern der Physik die Frage nach Instabilitt in Natur und in Modellen reflektiert haben. Unter dem Stichwort „Entdeckungen“ wird hier eine Skizze zur Entdeckungsgeschichte von Instabilitten vorgelegt. Anhand einschlgiger Werke von Physikern und Philosophen (von Newton ber Maxwell, Poincar und Einstein bis hin zu Andronov) soll gezeigt werden, wie die Instabilitt zu einem Thema wurde, wie auf die zunehmende Erkenntnis der Existenz von Instabilitt methodologisch geantwortet wurde („Stabilittsdogma“) und wie die heutige breitere Anerkennung von Instabilitt zustande kam. Das wird unter Bezug auf einige Theorien, die Instabilitten aufweisen (Himmelsmechanik, Hydrodynamik/Fluidmechanik, Statistische Thermodynamik, Allgemeine Relativittstheorie), exemplifiziert. Methodologische Reflexionen aus entdeckungsgeschichtlicher Perspektive sttzen und strken die systematischen Argumente der Problematisierung der klassisch-modernen Physik, wie sie in Kapitel 3 vorgenommen worden sind. Teil III: Mit der Problematisierung und der damit einhergehenden Relativierung der klassisch-modernen Physik lsst es die Physik nicht bewenden: Perspektiven einer neuen, modifizierten Physik bilden sich heraus. Die nachmoderne Physik zeigt wissenschaftliche Perspektiven in methodologischer („Genese und Geltung“) (Kapitel 5), inhaltlicher („Natur“) (Kapitel 6) und objektseitiger („Zugang und Ziel“) Hinsicht (Kapitel 7), wobei alle drei Elemente fr jedes Physikverstndnis konstitutiv sind. Methodologisch (Kapitel 5) kann die nachmoderne Physik durch Stichworte charakterisiert werden wie: Reflexivitt, qualitative Prfung, Modellerklrung, (Schatten-) Berechnung sowie Computerexperimente. In den vier letzten (Prfbarkeit, Erklr- und Reduzierbarkeit, Prognostizierbarkeit, Reproduzierbarkeit) zeigt sich die Typologie des Referenzsystems der klassisch-modernen Physik in methodologischer Hinsicht modifiziert. Inhaltlich (Kapitel 6) ist es insbesondere das Verstndnis von Selbstorganisation und von Kausalitt, das sich in der nachmodernen Physik auf Seiten von Natur und Technik verndert hat. Damit verbunden ist ein Wandel des Natur- sowie des Technikverstndnisses. Schließlich werden objektseitig (Kapitel 7) von der nachmodernen Physik Gegenstnde als physikalisch relevant und erkenntnis-
1.4. Aufbau des Buches – Zur Gliederung
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wrdig angesehen, die sich dem Zugang der klassisch-modernen Physik entzogen haben. Beispielhaft wird die Erweiterung der Gegenstandsextension bis in Bereiche der Biologie („phnomenologisch-morphologische Physik“) und der Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften („ChaosTechnoScience“, „Econophysics“) hinein diskutiert. Bei Letzteren wird eine Tendenz eines ußeren Zweckbezugs, einer „Finalisierung“, sichtbar. Eine interdisziplinre ffnung der Physik zu einer modellierungsorientierten Strukturwissenschaft wird skizziert. Zusammenfassend (Kapitel 8) werden mçgliche Einwnde gegen die Erweiterungsthese aufgenommen und entkrftet. Das Natur- und Wissenschaftsverstndnis wandelt sich in der neueren Geschichte der Physik epochal. In der Physik lsst sich ein Doppeltes beobachten, nmlich sowohl eine Problematisierung durch Instabilitten als auch eine Positivierung von Instabilitten. Nur vordergrndig mçgen Instabilitten die Physik verunsichern und als methodologischer Nachteil erscheinen. Hintergrndig gilt: Mit und durch Instabilitten leben wir. Natur ist gerade auch dadurch Natur, insofern sie zur Instabilitt fhig ist. Nur durch Instabilitten ist Wachstum, Strukturbildung und Selbstorganisation mçglich. Somit mssen und kçnnen wir mit Instabilitten in Natur und Technik, in Modellen und Theorien rechnen.
Teil I: Klassisch-moderne Physik
2. Klassisch-moderne Physik Skizze des Referenzsystems 2.1. Zur Terminologie: Klassische und moderne Physik Klrungsbedrftig fr die Erweiterungsthese – „die nachmoderne Physik tritt aus der klassisch-modernen Physik heraus und erweitert diese“ – ist zunchst, was unter „klassisch-moderner Physik“ verstanden werden kann. War die Frage, was mit „Physik“ bezeichnet ist, fr die moderne Wissenschaftstheorie und die Analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts einst eine Selbstverstndlichkeit, so mag sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts provozierend sein. Denn sie scheint auf das trgerische Bedrfnis nach festen Fundamenten zu verweisen. Wenn es derartige Fundamente je gegeben haben sollte, sind sie zerbrochen angesichts der Historizitt und Heterogenitt von Physik. Wissenschaftstheoretische Fundamentsetzungs- und Abgrenzungsbemhungen haben einen einzigartigen Geltungsverlust erfahren: ein positiv bestimmbarer, einheitlicher, historisch invarianter Physikbegriff lsst sich nicht herausarbeiten. Dennoch kçnnen kontextspezifische plurale Charakteristika ermittelt werden, um von hier ausgehend Unterscheidungen vornehmen zu kçnnen. Die terminologische Verwendung des Begriffs „klassisch-moderne Physik“ bedarf also einer Vorbemerkung. Als „klassische“ Physik gilt blicherweise die Epoche der Physik bis Ende des 19. Jahrhunderts. Die „moderne“ Physik ist hingegen die Physik des frhen 20. Jahrhunderts. Letztere „ist durch zwei Theorien gekennzeichnet, durch die sie sich in ihrer ganzen Struktur wesentlich von allen vorangegangenen Epochen der Physik unterscheidet: die Relativittstheorie und die Quantentheorie.“ (Mittelstaedt 1989, 5)1 Mit diesem auch in der vorliegenden Arbeit verwendeten Begriff der „modernen Physik“ wird zunchst die Auffassung zurckgewiesen, welche „moderne Physik“ mit „moderner Naturwissenschaft“ gleichsetzt – eine Auffassung, die etwa von Friedrich Hund vertreten wird: „Im 17. Jahrhundert begann das, was wir heute moderne Physik nennen.“ (Hund 1987, 9) Diese exemplarisch von Hund formulierte geschichtskontinuierliche Auffassung orientiert sich nicht so sehr 1
Vgl. u. a. Dellian (1988, viii) und Hoffmann (1999, 484 f ).
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2. Klassisch-moderne Physik
an physikalischen Theorien und den mit ihnen verbundenen Naturverstndnissen, sondern an Methodologien. – Beide Sichtweisen von „moderner Physik“ kçnnen terminologisch zusammengefhrt werden, allerdings unter einem anderen Begriff, nmlich dem der „klassisch-modernen Physik“. Dieser wird methodologisch zu fassen versucht. Die damit verbundene Kontinuittsauffassung mag zunchst ungewohnt sein. Denn mit den Begriffen „klassisch“ und „modern“ wird blicherweise ein Schnitt gezogen zwischen der klassischen Physik einerseits und der modernen Physik andererseits. Zur klassischen Physik werden „klassische Theorien“ gezhlt: Klassische Mechanik, Hydrodynamik und Kontinuumsmechanik, Statistische Thermodynamik und Elektrodynamik. Die moderne Physik umfasst insbesondere die Relativittstheorie(n) und die Quantenphysik (und das Standardmodell der Elementarteilchen und der Kosmologie). Unterscheidungsmerkmale sind dann primr Aspekte des Naturverstndnisses: Raum und Zeit, Geometrie, Substanz und Materie, Kausalitt, Logik (und Quantenlogik) (vgl. z. B. Mittelstaedt 1989, 7 ff ). Dass sich das physikalische Naturverstndnis im bergang von der klassischen zur modernen Physik epochal verndert hat, ist evident. Raum und Zeit sind nicht mehr unabhngig zu fassen, die Riemann’sche hat die Euklidische Geometrie abgelçst, Materie ist als Energie und nicht mehr primr als Substanz zu begreifen, deterministische Verstndnisweisen von Kausalitt sind quantenphysikalisch partiell gebrochen. Aus natur- und theorieform-orientierter Perspektive kann an der These der epochalen Vernderung von der klassischen zur modernen Physik kaum Zweifel aufkommen. Doch durch die alleinige Reflexion des Naturverstndnisses und der Theoriestruktur hat das Wissenschaftsverstndnis wenig Beachtung gefunden. Eine in der vorliegenden Arbeit zu belegende These ist, dass die Wissenschaftsverstndnisse von klassischer und moderner Physik nher beieinander liegen als beide zusammen zu dem, was als „nachmoderne“ Physik bezeichnet werden soll.2 Eine historische Kontinuitt von klassischer und moderner Physik ist zu beobachten. „Klassisch-moderne Physik“ stellt somit eine Sammelbezeichnung dar, nicht nur fr verschiedene Theorien (Klassische Mechanik, Statistische Thermodynamik, Elektrodynamik und Optik, Quantentheorien und Relativittstheorien, u. a.) und die mit ihnen verbundenen Naturverstndnisse, sondern ins2
Ganz hnlich hatte Prigogine (1992) zwischen einer „Physik des Seins“ (klassische Physik, inkl. Quantenmechanik und Relativittstheorie) und einer „Physik des Werdens“ unterschieden.
2.2. Zur Merkmalstypologie der klassisch-modernen Physik
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besondere fr ein Wissenschaftsverstndnis, von dem sich die nachmoderne Physik unterscheidet. Merkmale hierfr sind durch die folgenden vier Stichworte angedeutet, welche in diesem Kapitel zur Sprache kommen sollen: Prognostizierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Prfbarkeit und Reduzierbarkeit.3 Zu fragen ist zunchst nach einer Begrndung fr die Typologie dieser Merkmale.
2.2. Zur Merkmalstypologie der klassisch-modernen Physik Der Begriff „Physik“ ist nicht einheitlich. Vielmehr handelt es sich um einen Kollektivsingular, in den vielfltige Denktraditionen und Handlungspraxen eingehen. Hintergrundberzeugungen prgen unterschiedliche Physikverstndnisse. Ein einheitlicher semantischer Kern eines klassisch-modernen Physikverstndnisses kann nicht ausgewiesen werden, wohl aber eine gemeinsame Klammer unterschiedlicher Facetten,4 welche allesamt eine „starke“ Kausalitt unterstellen und Instabilitten ausschließen. Es bleibt eine Pluralitt, welche ihrerseits typisiert werden kann. Einen hilfreichen Hinweis fr eine „plurale Typologie“, wie wir sie nennen mçchten, liefert Peter Janich. Er spricht von einem „eindrucksvollen technischen, prognostischen und Erklrungs-Erfolg“ der Physik (Janich 1997, 62). Diese Typologie lsst sich weiter differenzieren. Unter 3
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Ausgegangen wird hier von einer ungebrochenen methodologischen Relevanz der klassischen Physik fr das Wissenschaftsverstndnis (und partiell fr das Naturverstndnis). Es ist in der Tat „bemerkenswert“, so Bçhme (1993a, 280), „daß die Newton’sche Mechanik durch die sie berholenden Theorien […] nicht ad acta gelegt wurde, d. h. zu einer widerlegten und bloß noch wissenschaftshistorisch interessanten Theorie degradiert wurde.“ hnlich meint Gutzwiller (1990, 1): „Elementary mechanics is the model for the physical sciences. Its principles and methods are the ideals for most other disciplines that deal with nature.“ Ferner gelte: „Physics is the basic branch of sciences, and mechanics is the basic branch of physics.“ (Gutzwiller 1989, 4) Und Barrow (1994, 164) hebt hervor: „Der Newtonianismus [und die klassische Physik] ist mehr als eine wissenschaftliche Methode; er ist vielmehr eine Einstellung, die alle Zweige des menschlichen Denkens betrifft.“ In wissenschaftlich-methodischer Hinsicht weisen klassische und moderne Physik eine hohe Kontinuitt auf, auch wenn das in inhaltlicher Hinsicht nicht gelten mag. Auf Wissenschaftsziele bezogen betont Toulmin (1968, 19) eine Pluralitt, nmlich dass Wissenschaft „nicht ein Ziel [hat], sondern viele.“ Das hatte Popper (1984, 198 ff ) anders gesehen. Er spricht von „der Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft.“ Wissenschaft hat genau ein Ziel, nmlich Erklrungen zu liefern.
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2. Klassisch-moderne Physik
Erklrungserfolg soll sowohl der Prferfolg von Theorien an Experimenten verstanden werden als auch der Reduziererfolg (als eigentliche Erklrbarkeit) durch ein Gewinnen von kompakten Gesetzmßigkeiten bzw. durch begrndungstheoretischen Schluss zur Bildung universeller Gesetzmßigkeiten (deduktives bzw. induktives Erklrungsmodell). Der technische Erfolg der Physik liegt in der handelnden Herstellung reproduzierbarer Ereignisse. Prototyp hierfr ist das physikalische Experiment sowie die technische Naturaneignung. Der prognostische Erfolg weist auf die kognitive Mçglichkeit der Vorwegnahme von Zukunft hin. Ihm ist damit eine Zeitstruktur eingraviert. Die Mçglichkeit von Prognostizierbarkeit setzt ferner eine nomologische Struktur von Natur voraus und kennzeichnet einen weiteren Aspekt des physikalischen Selbstverstndnisses. – Diese plurale Typologie zur Charakterisierung von Physik ist plausibel und gngig,5 wobei oftmals der technische Erfolg, d. h. das Messen, das technische Eingreifen und die handelnde Herstellung von Reproduzierbarkeit vernachlssigt wird.6 Je nach Hintergrundberzeugung ist also neben mindestens einer der klassischen und modernen Theorien der Physik7 mindestens eines der 5
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Kttner (1994, 275) stellt heraus, dass „Prognosen zu erstellen […] neben Erklrungen zu liefern als eine der wichtigsten Aufgabenbereiche erfahrungswissenschaftlicher Ttigkeit angesehen [werden kann].“ Toulmin (1968) hat die (nur im Plural fassbaren) „Ziele der Wissenschaft“ darin gesehen, „Voraussicht und Verstehen“ zu ermçglichen. Spezieller, wissenschaftliche „Theoriebildung“ diene, so v. Wright (1991, 16), „zwei Hauptzwecken. Der eine besteht darin, das Vorkommen von Ereignissen oder Ergebnissen von Experimenten vorauszusagen und so neue Tatsachen zu antizipieren. Der andere besteht darin, bereits bekannte Tatsachen zu erklren oder verstndlich zu machen.“ Carnap (1966, 12 ff ) spricht von „The Value of Laws: Explanation and Prediction“. Fast identisch findet sich bei Lay (1971, 246), dass physikalische Theorien „eine zweifache Funktion [aufweisen]: 1. erklren sie […] und 2. gestatten sie die Entwicklung von Prognosen.“ Achinstein (1994, 481) sieht in seinem Aufsatz „Explanation vs. Prediction“ diese beiden als die zwei Standardpositionen an, mit denen die Ziele von Wissenschaft beschrieben sind. Auch Curd und Cover (1998, 410) sehen es als eine wissenschaftsphilosophische Standardauffassung an, dass allein entscheidend sei, „how the theory stands with respect to the things it explains and predicts.“ Allgemein siehe auch die umfassende Arbeit von Httemann (1997) zu „Idealisierungen und [dem …] Ziel der Physik“. Beispiele sind die o.g. Kttner, Toulmin und v. Wright. Demgegenber nennt Tetens (1987, 1) die „Quantifizierung, experimentelle Reproduktion und quantitative Prognose [… als die] hervorstechende[n] methodologische[n] Merkmale der Physik.“ Klassische Mechanik, Statistische Thermodynamik, Elektrodynamik, Quantentheorien, Relativittstheorien.
2.2. Zur Merkmalstypologie der klassisch-modernen Physik
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bereits erwhnten Merkmale notwendig, um „klassisch-moderne Physik“ zu kennzeichnen: Prognostizierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Prfbarkeit sowie Reduzierbarkeit (Erklrbarkeit, Vereinheitlichung).8 Wer alle vier Merkmale der pluralen Typologie verneint, wird nicht von „klassischmoderner Physik“ sprechen kçnnen. Diese Merkmale sind freilich nicht fr alle wissenschaftsphilosophischen Traditionslinien unabhngig voneinander; sie kçnnen einander bedingen oder auseinander folgen.9 Nun ist die plurale Typologie der klassisch-modernen Physik keine beliebige Einteilung. Sie basiert auf etablierten wissenschaftsphilosophischen Traditionslinien, welche nicht strikt zu trennen sind, jeweils aber verschiedene Aspekte der klassisch-modernen Physik betonen. Sowohl die Reproduzierbarkeits- als auch Prognostizierbarkeitsthese heben verstrkt methodologische Aspekte in handlungspraktischer bzw. handlungstheoretisch-kognitiver Hinsicht hervor. Wenn man so will, kann man sagen, in den beiden Thesen wird der faktischen (durch materiell-objektseitige Experimente) wie der kognitiven (durch mathematisch-numerische Berechnungen) Handlungsseite der Physik Rechnung getragen. Die Reproduzierbarkeitsthese bezieht sich auf intentionales Handeln, Eingreifen und Manipulieren, wie es fr experimentelle Situationen kennzeichnend ist. Die Kontrolle von Anfangs- und Randbedingungen liegt im Kern des physikalischen Erkenntnishandelns. Durch technische Reproduktion wird Intersubjektivitt, Situations-, Orts- und Zeitinvarianz hergestellt. Ein derartiges Physikverstndnis vertritt der methodologische Konstruktivismus der Erlanger und Konstanzer Schule (Janich 1997). Reproduktion ist demnach eine methodisch geleitete Konstruktion von Wirklichkeit, welche methodologisch rekonstruierbar ist. Verwandte Positionen finden sich in Spielarten des Experimentalismus sowie in den Desideraten handlungspraktischer Akzentuierungen des Empirismus, Operationalismus und Instrumentalismus (vgl. Hacking 1996). Auch in der Prognostizierbarkeitsthese treffen unterschiedliche Traditionslinien aufeinander. So kann die Prognostizierbarkeit als Berechenbarkeit im ontologischen Kern der Natur angesiedelt werden. Sie spiegelt 8
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Die vier Merkmale alleine sind nicht spezifisch fr einen gehaltvollen Begriff von „Physik“. Sie kçnnten auch der Chemie und anderen mathematischen Naturwissenschaften zugeordnet werden. Hier haben wir den Physikbezug durch einen inhaltlichen Rekurs auf physikalische Theorien hergestellt. Welche Reduktions- bzw. Subsumtionsbeziehung zwischen den Thesen besteht, kann hier offen bleiben.
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2. Klassisch-moderne Physik
dann den nomologischen Naturcharakter wider bzw. ist mit diesem identisch. Beispielhaft ist der Laplace’sche Dmon. Zwar kann das defizitre Wissen des Menschen die epistemische Mçglichkeit der Durchfhrung einer Prognose begrenzen; an der prinzipiellen Mçglichkeit indes herrscht kein Zweifel. Bescheidener sind empiristische, positivistische und funktionalistische Positionen. Es ist demnach sinnlos zu fragen, ob Berechenbarkeit (ontologisch) in der Natur liegt oder nicht. Diese Fragestellung ist metaphysisch durchtrnkt und bleibt faktisch unentscheidbar. Dennoch stellt auch fr diese Positionen die Prognostizierbarkeit das zentrale Kennzeichen des physikalischen Erfolges dar. Prognostizierbarkeit qualifiziert Physik als Erfahrungswissenschaft des positiv Gegebenen. Prognose und positiv Gegebenes werden so identifiziert. Ferner kçnnen auch induktive Schlussprinzipien zur Gewinnung allgemeiner Gesetzmßigkeiten als Prognose im Sinne einer verallgemeinernden Vorwegnahme von Zuknften verstanden werden: Induktion als Prognose. Neben die faktische und die kognitive Handlungsseite von Wissenschaft tritt eine wissens- und geltungsorientierte Seite. Diese hat traditionell die Wissenschaftstheorie beschftigt und zeigt sich als Prfbarkeits- und als Reduzierbarkeitsthese. Sie weist damit eine empirische und eine strukturell-nomologische Seite auf. Weniger das „Eingreifen“ als vielmehr die Besttigung und das „Darstellen“ (Hacking 1996) bilden den Mittelpunkt dieser Verstndnisweisen von Physik. Starke Spielarten der Prfbarkeitsthese stehen in der Tradition des wissenschaftlichen Realismus und auch der des Empirismus. Theorien mssen an der Wirklichkeit, so wird postuliert und gefordert, prinzipiell prfbar sein. Sie bilden Aspekte einer Wirklichkeit ab bzw. fassen diese geschickt zusammen, so wie die Wirklichkeit unabhngig vom Menschen existiert. Ausweisbar wird damit eine („Wahrheits“-) Nhe von physikalischen Theorien zur Wirklichkeit. Der hypothetische Realismus etwa, vereint mit dem kritischen Rationalismus, hebt bekanntlich die Falsifizierbarkeit von Theorien an der Wirklichkeit heraus, verwirft jedoch jeden Verifikationismus. Schwchere Spielarten der Prfbarkeitsthese setzen nicht notwendigerweise auf einen ontologischen Realismus, mitunter beziehen sie sich sogar weniger auf Wirklichkeit. Sie akzentuieren lediglich, dass Theorien an ußeren Instanzen – seien sie sprachlicher oder nichtsprachlicher Art, seien sie konstruiert oder gegeben – zu prfen sind (Empirismus u. a.). Mithin richtet sich die Prfbarkeitsthese im Wesentlichen gegen Positionen selbstreferenzieller Erkenntnistheorien, etwa gegen den radikalen Konstruktivismus.
2.2. Zur Merkmalstypologie der klassisch-modernen Physik
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Ein verwandter, aber zu unterscheidender Aspekt wird mit der Reduzierbarkeitsthese angesprochen. Traditionslinien des Rationalismus bilden hier eine prgende Hintergrundberzeugung: Neue Phnomene sollen unter spezielle Gesetze subsumiert, diese auf allgemeine Gesetze reduziert und insofern erklrt werden. Nur was allgemein, einfach und klar darstellbar sei, kçnne als Erklrung dienen. Logische (Ableitungs-) Beziehungen sind hier leitend. Bei Ren Descartes finden sich ausgearbeitete Vorstufen des reduktiven Erklrungsschemas. Das Einheitsprojekt der Physik in der Suche nach einer Vereinheitlichung aller vier Grundkrfte zeigt, dass die Reduzierbarkeitsthese prgend und erfolgreich ist. Abgeschwcht kann sie auch als Denkçkonomie verstanden werden, insofern das allgemeine Gesetz vielfach eine kompaktere Struktur aufweist. Und aus Perspektive des Realismus spiegelt sich in reduktiven und sukzessive vereinheitlichenden Erklrungen die Einheit der Natur wider („ontologischer Reduktionismus“). Eine Spielart der Reduzierbarkeitsthese liegt somit in der Einheitsthese. Nicht selten ist sie verbunden mit einer Annahme ber Grçßenordnungen der Gegenstandsfelder, die als physikalisch relevant eingeschtzt werden. So bevorzugt die klassischmoderne Physik die Gegenstandsfelder des Mikrokosmos, teilweise die des Makrokosmos, nicht jedoch die des Mesokosmos. Je kleiner die untersuchten Objekte und je grçßer die zur Untersuchung verwendeten Energien der Natur, desto fundamentaler verspricht die Erkenntnis zu sein. Hier zeigt sich die Tendenz zum Primat des Mikrokosmos, eines Exzentrismus der Gegenstandsfelder. Die hier aufgefhrten vier Thesen basieren jeweils auf Annahmen ber Gesetzmßigkeit bzw. Kausalitt. Sie gehen von einer weitgehend stabilen, nomologisch verfassten Natur aus und setzen somit starke Kausalitt im Sinne eines starken Regelfolgens voraus: hnliche Ursachen haben hnliche Wirkungen zur Folge. Klassisch-moderne Physik ist damit jener Typ von Physik, der in der einen oder anderen Weise auf einer starken Kausalittsannahme basiert. Das wird spter zu problematisieren sein. Zunchst drfte die plurale Typologie der klassisch-modernen Physik damit hinreichend begrndet sein. Fr diese Typologie sprechen nicht nur die eben genannten wissenschaftsphilosophischen Reflexionstraditionen, sondern auch ußerungen von Physikern selbst. Letztere sollen als zustzliche Belege dienen.10 10 Die folgenden Ausfhrungen zur Typologie kçnnen so auch als eine Art Einfhrung in gngige wissenschaftsphilosophische Fragestellungen und Themen-
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2.3. Prognostizierbarkeit – ein erstes Merkmal Prognostizierbarkeit besitzt zur Charakterisierung von Physik eine außerordentliche Relevanz. Im „Schluß auf die Zukunft“ sieht Carl Friedrich v. Weizscker (1974, 122) die „eigentliche Pointe der Physik“. Michael Drieschner (2002, 90) meint hnlich: „Wir finden also ,Voraussage‘ als Schlsselbegriff zum Verstndnis von Physik.“ Der Prognose werden unterschiedliche Funktionen zugeschrieben, etwa die des Realittsausweises (und -tests), der Rechtfertigung und Begrndung, der Erklrung sowie der Naturkontrolle und Handlung in der Natur. Als Realittstest im Sinne des wissenschaftlichen Theorien-Realismus11 haben Einstein, Podolsky und Rosen die Prognosefhigkeit herangezogen: „Wenn wir den Wert einer physikalischen Grçße, ohne das System in irgendeiner Weise zu stçren, mit Gewißheit voraussagen kçnnen, dann gibt es einen Bestandteil der physikalischen Realitt, der dieser Grçße entspricht.“ (Einstein et al. 1935, 777 f ) „Die Voraussagekraft“, so Herbert Pietschmann, „bestimmt“ „wesentlich ber Anerkennung oder Ausschluß einer Theorie“ (Pietschmann 1996, 166). Wesley C. Salmon hat in seiner Charakterisierung von wissenschaftlichen Erklrungen darauf hingewiesen, dass eines der blichen Konzepte davon ausgehe, dass Erklrungen „show that the event to be explained was to be expected“ (Salmon 1989, 119). „Die Theorie diente […] als Werkzeug fr die Prognose der Wirkung des eigenen Handelns. […] Wir brauchen die Prognose, [damit …] wir mit unserem Handeln einen Zweck verfolgen [kçnnen]“, so die theoretischen Physiker Werner Ebeling und Rainer Feistel (1994, 19).12 Und Auguste Comte meinte bekanntlich hnliches als er sagte: „Savoir pour prvoir“ (Comte 1973, 130 f ).13 felder – unter Verwendung der ußerungen von Physikern – gelesen werden. Die Ausfhrungen kçnnen aber auch schon als Teil der erweiterten („nachmodernen“) Physik der Instabilitten verstanden werden. Denn die Frage, was „der Begriff ,Physik‘ umfasst“, ist in der nachmodernen Physik prsent – so etwa beim Physiker Peter Beckmann (1996, 7). Der „Begriff ,Physik‘ umfaßt (1) eine Menge von Wissen ber Sachverhalte in der Natur, (2) eine Methode, dieses Wissen zu erweitern, (3) eine Methode, dieses Wissen zu ordnen, (4) etwas, das nicht wertfrei ist, (5) ein Handeln von Menschen in einer Gesellschaft von Menschen.“ Gerade der Handlungsbezug, wie er ja insbesondere im Methodologischen Konstruktivismus anzutreffen ist, ist fr ein erweitertes Physikverstndnis hilfreich. 11 Nach diesem bezieht sich ein theoretischer Term auf eine empirische Entitt. 12 Der Rekurs auf Prognostizierbarkeit ist in Physik und Wissenschaftsphilosophie gngig. Physik, so Shaw (1981, 218), „owes its success to its ability to predict
2.3. Prognostizierbarkeit – ein erstes Merkmal
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Aus den jeweiligen wissenschaftsphilosophischen Hintergrundberzeugungen treten Fragen hervor: Ist die Prognostizierbarkeit das Kriterium fr physikalisches Wissen und das qualifizierende kognitive Endprodukt des physikalischen Erkenntnisprozesses (Spielarten des Instrumentalismus)? Oder ist sie das der Erfahrung und dem ErkennenKçnnen als Bedingung der Mçglichkeit Zugrundeliegende (Spielarten transzendentaler Erkenntnistheorien)? Oder erfllt sie eine Funktion und ist Mittel zur Prfung bzw. zum Evidenzausweis physikalischer Theorien (Spielarten des Realismus)? Oder stellt die Prognose eine periphere Folge dar? – Wenig Einigkeit zeigt sich hier. Nicht selten wurde die Vorausberechenbarkeit mit einem Anti-Realismus und Instrumentalismus in Verbindung gebracht. Erklrung wurde der Vorausberechnung gegenbergestellt und letztere wurde formal-logisch als Sekundres abgewertet, weil sie aus ersterer ableitbar sei.14 Mitunter wurde Prognostizierbarkeit natural phenomena, thus allowing man a degree of control over his surroundings.“ Dass „die Fhigkeit zur Prognose […] vielfach als wesentliches Ziel wissenschaftlicher Ttigkeit [gilt]“, hebt auch Carrier (1995, 351) hervor. Die Physiker Aurell, Boffetta et al. (1997) verstehen unter physikalischem Wissen ein prognostisch erprobtes und gesichertes Wissen: „The ability to predict has been the most important qualifier of what constitutes scientific knowledge.“ Ferner liege in der Voraussage, so Pietschmann (1996, 166), „ein besonders subtiler Aspekt des Wechselspiels von Theorie und Experiment.“ Tetens (1987, 1) nennt u. a. die „quantitative Prognose [… als ein] hervorstechende[s] methodologische[s] Merkmal […] der Physik.“ Und Deutsch (2000, 14) meint: „[D]ie Vorhersage [ist] ein wesentlicher Teil der fr die Naturwissenschaft charakteristischen Methode.“ Bemerkenswerterweise findet sich bei Husserl (1936, 52) hnliches: Die Naturwissenschaft sei nur dazu da, „die innerhalb des lebensweltlich wirklich Erfahrenen und Erfahrbaren ursprnglich allein mçglichen rohen Voraussichten durch ,wissenschaftliche‘ im Progressus in infinitum zu verbessern.“ Strker instrumentalistisch gewendet fgt Lindley (1997, 30) an: „Doch was nutzt eine Theorie, die attraktiv aussieht, aber keine Vorhersagen erlaubt?“ Janich (1997, 62) charakterisiert Physik, neben anderem, ber ihre Leistung, nmlich ihren „prognostischen […] Erfolg.“ Kuhn (1996, 196) spricht ber „Werte“ eines „disziplinren Systems“, das in der „Voraussage“ liegt: „Die Werte, an denen wohl am strksten festgehalten wird, betreffen Voraussagen: sie sollten genau sein.“ Strker noch: Dies sei „gleichbedeutend mit einer guten wissenschaftlichen Theorie.“ (Kuhn 1974, 238) 13 Von „Predictionists“ sprechen Achinstein (1998, 481) und Curd/Cover (1998, 410). 14 So meint Deutsch (2000, 12): „Selbst bei rein praktischen Anwendungen kommt es vor allem darauf an, wie gut eine Theorie etwas erklren kann; ihre Vorhersagekraft ist nur eine Zugabe“. hnlich bei Sokal und Bricmont (1999, 162): „Vor allem aber besteht das Ziel der Wissenschaft nicht nur in der Vorhersage, sondern auch darin, die Dinge zu verstehen.“ Vorausberechenbarkeit kann al-
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auch als der Physik ußerlich bleibendes Handwerk angesehen.15 Als fundamental wird allein die Theorie und das Gesetz in mathematischer Differenzialgleichungsform begriffen und nicht die einzelne Realisierung, die Berechnung der Lçsung, die Vorausberechnung der speziellen Trajektorie. Doch die Prognosethematik weist, wie gezeigt wird, reichhaltige Traditionslinien auf. Der Instrumentalismus hat erstens – gemeinsam mit Spielarten des Empirismus, Positivismus und Konventionalismus – auf Prognostizierbarkeit vielfach Bezug genommen: Durch erfolgreiche Prognosen qualifiziere sich Physik als positive Erfahrungs-, Erscheinungs- und Tatsachenerkenntnis und somit als empirische Wissenschaft. In der „Erstellung von Prognosen“ sieht etwa Kttner „ein Grundanliegen frherer wie spterer empiristischer und positivistischer Erkenntnisprogramme“ (Kttner 1994, 275).16 Prognosen tragen Handlungsrelevanz in sich. Hume sah im Gefolge von Francis Bacon den „einzigen direkten Nutzen der Wissenschaft [darin], uns zu belehren, wie man zuknftige Ereignisse in der Natur kontrollieren und regeln kann durch die Kenntnis ihrer Ursachen.“ (Hume 1990, 76) Die Ursachenkenntnis ist also nicht primr auf Erklrungen gegebener Phnomene zu beziehen, sondern auf Darstellung und Prognose zuknftiger Phnomene durch erfahrungsbasierte Antizilerdings eine fr Wissenschaft konstitutive, trotzdem dienende Funktion darstellen. 15 Beispielhaft sind auch die Ausfhrungen von Toulmin (1968, 45/118): „Das Vorhersagen ist also ein Handwerk oder eine Technologie; es gehçrt zu den Anwendungen der Wissenschaft und macht nicht ihren Kern aus.“ Ferner: „Als Anwendung der Wissenschaft steht das Vorhersagen auf gleichem Fuß mit anderen Techniken. […] Wir kçnnen also wissenschaftliche Techniken und Vorhersagen von vorwissenschaftlichen unterscheiden.“ (Toulmin 1968, 45/46) 16 Bei Morrison (1998, 81) tritt hier die Zuweisung eines „Instrumentalismus“ hinzu. „[Prediction] was one of the principle motivations for instrumentalism in the philosophy of science; since we had no way of knowing whether theories actually represented the world in an accurate way, it was best to deny their representative role completely and see them solely as tools for prediction.“ In skeptischer Absicht meint Deutsch (2000, 14): „[P]ositivistische Gedanken [seien…] deshalb plausibel, weil die Vorhersage ein wesentlicher Teil der fr die Naturwissenschaft charakteristischen Methode ist.“ Der Empirismus konnte durch den „prognostischen Erfolg“, wie C.F.v. Weizscker (1992, 70) kritisch anmerkt, zur „Ideologie der siegreichen positiven Wissenschaft“ werden. Der Instrumentalismus gilt i.A. als „Anti-Realismus“ (vgl. Mittelstraß 1995, Bd. 3, 507).
2.3. Prognostizierbarkeit – ein erstes Merkmal
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pation von Regelfolgen. Nicht Erklrungen, wohl aber Prognosen stellen – wenn man es so formulieren will – die Bedingungen der Mçglichkeit zur Kontrolle von Zukunft und des planenden Eingreifens bereit. Im frhen 19. Jahrhundert hat Comte in seinen „Abhandlungen ber die positive Philosophie“ nicht nur den Namen „Positivismus“ geprgt. Vielmehr rckt er die Prognostizierbarkeitsthese ins Zentrum seines Physikverstndnisses: „Die positive Methode wird von den heutigen Gelehrten so unrichtig aufgefaßt, daß es nicht schaden kann, wenn ich bemerke, daß das berwiegen der Beobachtung ber die Phantasie ihre wichtigste Eigenschaft ist […]. Sehen um vorauszusehen, so lautet der Spruch der wahrhaften Wissenschaft. Alles voraussehen, ohne daß man etwas gesehen hat, fhrt nur zu einer sinnlosen metaphysischen Utopie. Diesem Urteil in logischer Beziehung entspricht in wissenschaftlicher die Aufstellung des Relativen statt des Absoluten.“ (Comte 1973, 130 f ) Der Kern von Wissenschaft liegt in ihrem (nicht-metaphysischen, pragmatischen) „Nutzen“, in der Um-Zu-Struktur als Wissenschaft fr etwas durch erfolgreiche quantitative Prognosen. Voraussagen kçnnen ferner auch als induktive Schlussverfahren verstanden werden. Ein induktiver Schluss fhrt von einer Prmisse zu einer Konklusion. Darin liegt fr induktive Logiker oft eine „Gehaltserweiterung“. Der „Gehalt der Konklusion [fhrt …] ber den Gehalt der jeweiligen Prmissen hinaus“ (Essler 1973, 10),17 insofern Verallgemeinerungen in die Zukunft hinein vorgenommen werden. Sie kçnnen eine einzelne Zukunft (Schluss auf ein individuelles Ereignis) betreffen, einen Zukunftsprozess (Schluss auf eine Ereignisfolge bzw. Regelfolgen) oder gar auf hnliche Zuknfte (Schluss auf hnliche individuelle Ereignisse oder Ereignisfolgen). Die Berechenbarkeitsthematik erscheint als induktive Schlussthematik,18 insofern durch Prognosen ein Schluss auf das zeitlich Nachfolgende, das Zuknftige, mit vollzogen wird. Die Gewinnung einer allgemeinen Regel, die Voraussage und das, was spter „Induktion“ genannt wurde, sind ein und dieselbe Sache. 17 Auf den problematischen Gehaltsbegriff, wie er auch von Carnap vertreten wird, kann hier nicht eingegangen werden; siehe Detail in den Ausfhrungen bei Essler (1973, 10 ff ). 18 Bei Hume findet sich explizit die Nhe von induktivem Schließen einerseits und von Prognose andererseits. „Selbst wenn uns ein Beispiel oder Experiment beobachten ließ, daß ein bestimmtes Ereignis einem anderen folgte, sind wir nicht berechtigt, eine allgemeine Regel aufzustellen oder vorauszusagen, was sich in hnlichen Fllen ereignen wird.“ (Hume 1990, 74) (bersetzung nach: Gawlick 1985, 178).
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2. Klassisch-moderne Physik
Die durch Hume und Comte geprgte Diskussion wurde aus unterschiedlichen Perspektiven fortgesetzt. Heinrich Hertz sieht den Kern von Physik in der Herstellung von Prognostizierbarkeit, um das heutige Handeln daraufhin einzurichten. „Es ist die […] wichtigste Aufgabe unserer bewußten Naturerkenntnis, daß sie uns befhige, zuknftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwrtiges Handeln einrichten zu kçnnen.“ (Hertz 1963, 1) Im Zentrum der Physik liegt ein „Verfahren [… , das] uns zur Ableitung des Zuknftigen aus dem Vergangenen“ befhigt (ebd.). Ernst Mach sieht, dass „die Naturwissenschaft bestrebt [ist, …] das Abwarten neuer Erfahrungen unnçtig zu machen“ (Mach 1988, 6).19 Mach behauptet gar, ein „wissenschaftliches Gesetz“ sei nichts anderes als „eine Regel zur Darstellung einzelner Voraussagen“ (Mach 1900, 439). Philipp Frank stellt in seinen Erçrterungen ber „das Kausalgesetz“ heraus: „Alle Wissenschaften haben das Ziel, aus den unmittelbaren Erlebnissen sptere vorauszusagen und womçglich zu beherrschen. […] Zur Erreichung dieses Ziels bedienen sich alle Wissenschaften im Grunde derselben Methode.“ (Frank 1988, 29) Weitere Verstelungen dieser Diskussion sind zu beobachten, was hier nicht verfolgt werden kann.20 Allgemein steht die Vorausberechenbarkeitsthematik folglich in der Tradition des Instrumentalismus, ist dort fest etabliert und fr diesen konstitutiv. Dass sie dennoch nicht zu einem eigenstndigen Thema werden konnte, ist der starken Begriffs-
19 Darin zeigt sich die Effektivitt und Effizienz, die „konomie der Wissenschaft“ und ihre Optimierungsleistung in der Beschreibung; vgl. Mach (1988, 457), Schneider (1998, 34) und Cassirer (1997, 5). 20 Etwa bei Braithwaite (1953, 339): „Was wir Naturgesetze nennen, das sind begriffliche Werkzeuge, mittels derer wir unsere empirische Erkenntnis ordnen und die Zukunft voraussagen.“ hnlich bei Feyerabend (1983, 255), nach dem „astronomische Theorien [u.a.] Voraussage-Instrumente [sind].“ Quine (1998, 297 f ) hat in seinem fr die so genannte Duhem-Quine-These wegweisenden Aufsatz „Two Dogmas of Empiricism“, 1951, herausgestellt: „As an empiricist I continue to think […] of science as a tool, ultimately, for predicting future experience in the light of past experience.“ – Gegenber den logifiziert-formalen Zugngen, etwa bei Carnap, hat Goodman in seinem Werk „Fact, Fiction and Forecast“ (1955) aus pragmatistischer Perspektive die Berechenbarkeit thematisiert. „Forecast“ wird auch bei Goodman im Sinne der Verallgemeinerung auf zuknftige Ereignisse verstanden, also im Zusammenhang mit der Hume’schen Rechtfertigungsproblematik des induktiven Schließens. Goodman weist darauf hin, dass wir ber Hume hinaus zustzlich pragmatisch zu begrnden haben, warum wir gewohnte Verallgemeinerungen ungewohnten vorziehen.
2.3. Prognostizierbarkeit – ein erstes Merkmal
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und Theorienorientierung – selbst und insbesondere des Instrumentalismus – geschuldet. Eine zweite Traditionslinie der Berechenbarkeitsthematik lsst sich in einer bestimmten Lesart transzendentaler Erkenntnistheorien finden. Nach diesen liegt – wie beim Instrumentalismus – die „eigentliche Pointe der Physik“ in dem „Schluß auf die Zukunft“ (Weizscker 1974, 122).21 Die Berechenbarkeitsthematik wird ausgeweitet, als Gesetzes- und Zeitthematik rekonstruiert und erkenntnistheoretisch reformuliert: Ein Zugang zur Zukunft setzt Gesetzmßigkeit und Zeitlichkeit voraus. V. Weizscker hat versucht, das Begrndungsprogramm Kants aus der Physik heraus zu gewinnen bzw. auf diese zu bertragen. Damit will er zeigen, dass die Physik die Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung selbst in sich vorfindet, bereitstellt und zum internen Gegenstand hat: Physik wird in ihrer „zuknftigen Einheit“ selbst Kants Erkenntnistheorie realisieren, sie wird zum Ausweis von deren umfassender Gltigkeit. Insofern Weizscker eine zuknftige Einheit der Physik im Sinne einer vereinheitlichten Theorie unterstellt, wie sie sich in Anstzen in den Quantenfeldtheorien und ihren Weiterentwicklungen zeigt, setzt er einen begrifflich-semantischen Reduktionismus voraus, welcher bei seinem vollstndigen Erfolg in sich transzendentale Aussagen enthlt, d. h. seine eigenen Bedingungen der Mçglichkeit mitliefert. Dieses anspruchsvolle, an Kant orientierte Programm geht zunchst von der Hume’schen Induktionsproblematik aus und vertieft diese durch Selbstanwendung: „Woher weiß ich das Induktionsprinzip?“, fragt Weizscker (1974, 122) Nach der Hume’schen „strengen Logik“ werde das Induktionsprinzip, wenn es zu seinem eigenen Gegenstand werden wrde, fragwrdig. Aus sich heraus kann es nicht begrndet werden. Nun spricht das nicht notwendigerweise gegen das Induktionsprinzip selbst, sondern nur gegen seine immanente Logik. Denn „es gibt berhaupt keine Mçglichkeit, in logischer Strenge aus vergangener Erfahrung auf die Zukunft zu schließen. Und doch ist der Schluß auf die Zukunft die eigentliche Pointe der Physik.“ (ebd., 122) In diesem Sinne lsst sich konstatieren, dass „die Physik prophezeit.“ (ebd.) Obwohl der Empirismus als Beschreibung zutreffend sein mag, liefert er keine Erklrung fr die Adquatheit seiner Beschreibung. Im Rahmen des Empirismus ist die „Suche nach Gewißheit“ un(be)grndbar und „vergeblich“ (ebd., 125). Eine transzendentale Erkenntnistheorie zielt mit der Frage nach dem 21 Vgl. auch Drieschner (2002, 73/92 f ).
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2. Klassisch-moderne Physik
Erkennenkçnnen auf eine Vertiefung und Grundlegung, um begreiflich zu machen, warum Erkenntnis mçglich ist. Sonst wird „die Berechenbarkeit von Sonnenfinsternissen ber Jahrtausende hinweg […] nicht begreiflich.“ (ebd., 124) Nicht ein Anti-Empirismus, sondern ein „vertiefter Empirismus“ ist v. Weizsckers Ziel. Wie in empiristischen Traditionslinien bildet die „Erfahrungswissenschaft“ den Ausgangspunkt. Doch v. Weizscker mçchte nicht von einem „a priori konstruierten Begriff von Erfahrung ausgeh[en]“ (Weizscker 1992, 80). Erfahrung heißt zunchst, „von der Vergangenheit fr die Zukunft zu lernen“ bzw. auf die Zukunft zu schließen. Im weitesten Sinne ist damit eine Prognose verbunden.22 Prognosen implizieren – im Unterschied zu Erklrungen – eine zeitliche Struktur. Die Zeit tritt bei v. Weizscker mindestens in dreifacher Hinsicht auf: einmal als Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung berhaupt und mithin als Bedingung der physikalischen Gegenstandskonstitution, zum anderen als Gegenstand von Erfahrung und ferner als semantische Struktur von Naturgesetzen.23 Letzteren gilt v. Weizsckers Hauptaugenmerk. Er argumentiert, dass aus der semantischen Struktur von Naturgesetzen ein Schluss mçglich sei auf die Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung.24 „Das hat wohl auch Kant gemeint in seiner Kategorie Kausalitt: Voraussage aufgrund der Gegenwart“, so Drieschner (2002, 94), der Klrungen am Weizscker’schen Konzept vorgenommen hat: „Wir przisieren also die Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung als die Bedingungen der Mçglichkeiten einer Theorie fr Voraussagen ber empirisch entscheidbare Alternativen.“ (Drieschner 2002, 94; vgl. Weizscker 1974) Die Vorausberechenbarkeit weist die mathematische Struktur in der Natur aus. Berechenbarkeit wird mit Naturgesetzmßigkeit identifiziert. Natur ist Natur, insofern mathematische Gesetzmßigkeiten herrschen, welche sich zeitlich zeigen. Berechenbarkeit setzt also einen mathematischen Kern von Natur als Bedingung der Mçglichkeit ihrer Existenz, d. h. auch ihrer Erkennbarkeit voraus.25 Damit ist ein Schlssel zur Einheit der Physik – als Spiegel der 22 Auch bei v. Weizscker liegen Prognose und Erklrung strukturell beieinander. 23 V. Weizscker argumentiert, dass auch die linearen Gesetzmßigkeiten zeitliche Strukturen aufweisen, insofern sie prognostisch sind. Im Zentrum liegen fr v. Weizscker die Quantenfeldtheorien als Prototyp einer Einheit der Gesetze. 24 Mit anderen Worten: Aus dem dritten Punkt mçchte v. Weizscker den ersten Punkt folgern. 25 In den „metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft“ hat Kant bekanntlich ausfhrte: „Ich behaupte […], daß in jeder besonderen Naturlehre nur
2.3. Prognostizierbarkeit – ein erstes Merkmal
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Einheit der Natur und als Weg dorthin – gegeben. Je mehr begriffliche Einheit in der Physik durch die Einheit der Naturgesetze hergestellt sei, desto mehr zeigen sich Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung selbst (Weizscker 1974, 184 f ).26 Eine dritte, eher periphere und durchaus zweischneidige Traditionslinie soll erwhnt werden. Sie findet sich im Umfeld des wissenschaftlichen Realismus. 27 Dieser spricht zwar der Prognostizierbarkeit lediglich einen untergeordneten, wissenschaftsdienenden, rein methodologischen Status zu. Allerdings scheint die Prognostizierbarkeit fr jede empirische Prfung von Theorien – und ferner auch zu ihrer Begrndung (und zu der des wissenschaftlichen Realismus) – unverzichtbar zu sein. Denn jede so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kçnne, als darin Mathematik anzutreffen ist.“ (MA Vorrede, A VIII – A IX) 26 Erfahrung setzt Zukunft und Vergangenheit voraus, beide setzen Zeit voraus. Die Zeit als Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung, wie sie sich in der semantischen Struktur von Naturgesetzen zeigt, scheint sich kaum mit der Suche von Physikern nach Zeit-Invarianzen in den Grundgleichungen zu vertragen. „Ein ordentlicher ,reiner‘ Wissenschaftler wird betonen, daß die ,Anwendung‘ fr Voraussagen zwar ein nicht unwichtiger Nebeneffekt sei, daß aber eigentlich der Sinn der Naturwissenschaft die Aufklrung der Strukturen sei, die in den Naturgesetzen zeitlos vorhanden seien, unabhngig von so etwas Subjektiv-Zeitlichem wie Voraussagen.“ (Drieschner 2002, 73) Erkenntnistheoretisch sei dies unhaltbar. Drieschner charakterisiert, ebenso wie v. Weizscker, „die Physik [als …] eine Theorie fr Gesetze ber Voraussagen.“ (ebd., 101/199/93) Physik kçnne nur ber den Schlsselbegriff der Voraussage verstanden werden, „im Sinne der Bedingung der Mçglichkeit von Physik“ (ebd., 90). Und auch fr die physikalische Objektkonstitution ist die Voraussagefhigkeit zentral, insofern das Objekt als physikalisches erst durch die Vorausberechenbarkeit konstituiert und qualifiziert werde. „Ein Objekt ist eine Zusammenfassung von kontingenten Grçßen, deren gegenwrtige Werte gemeinsam Voraussagen ber eben diese Grçßen fr die Zukunft gestatten.“ (ebd., 90) Die Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung liegt in der Vorausberechenbarkeit von Natur, was sich in einer begrifflichen Einheit und der sukzessiven Vereinheitlichung im Sinne der Quantenphysik zeige. Denn „aus Erfahrung etwas [zu] wissen bedeutet, voraussagen zu kçnnen.“ (ebd., 94) – Die Hinweise auf das Weizscker’sche Programm in der kantischen Traditionslinie sollten zeigen, dass die Berechenbarkeitsthematik nicht nur in Spielarten des Empirismus eine Tradition besitzt. Vielmehr tritt die Berechenbarkeitsthematik als Zeitthematik hervor. Berechenbarkeit (und nicht die Berechnung) ist das Zugrundeliegende, nicht das Mittel oder das der Erkenntnis Nachfolgende. 27 Psillos (1999, xix) unterscheidet zwischen einem metaphysischen („ontologischen“), semantischen („bedeutungstheoretischen“) und epistemischen („wissenschaftlichen“) Realismus.
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2. Klassisch-moderne Physik
„Nachprfung vollzieht sich ber beobachtbare Voraussagen.“ (Stegmller 1987, 266) Der wissenschaftliche Realismus „regards […] predictively successful scientific theories as well-confirmed and approximately true of the world.“ (Psillos 1999, xix) – Dieses methodologische Verstndnis der Prognostizierbarkeit ber die Prfbarkeit ist allerdings fr den Realismus nicht zwingend. Schließlich wre auch eine strkere Spielart des Realismus vertretbar, wonach die Prognostizierbarkeit in einer ontologisch verstandenen deterministischen Natur liegt bzw. diese widerspiegelt. Fr die „berirdische Intelligenz“ – wie etwa aus Perspektive des Laplace’schen Dmons (Laplace 1932, 1 f ) – ist Vorausberechenbarkeit und universeller Determinismus der Natur identisch; fr den Menschen als endliches Wesen freilich nicht.28 – Berechenbarkeit als ontologische Natureigenschaft erscheint so als Kern von Gesetzmßigkeit; je mehr Berechenbarkeit, desto mehr Gesetzmßigkeit und desto universeller der Determinismus.29 Der Begriff „Prognose“ wurde bisher unspezifisch verwendet, als allgemeiner und formaler Zusammenhang von einem „Input“ zu einem „Output“.30 Fragen wir nach unterschiedlichen Typen von Prognosen, so 28 Die dafr notwendigen Voraussetzungen, die als Bedingung der Mçglichkeit einer Vorausberechnung zu lesen sind, fhrt Laplace auf: Wissen ber die Krfte, die gegenseitigen Lagen der Kçrper, die Anfangsbedingungen und das Gesetz sowie die Analysefhigkeit und die Verfahren. So bestimmt Laplace die Aufgabe der fortschreitenden klassisch-modernen Physik dahingehend, die Erkenntnisse der „fiktiven Intelligenz“ ber mçglichst viele Zustnde, Parameter und Gesetze der Natur anzustreben. – Das im „Laplace’schen Geist“ formulierte universelle deterministische Naturverstndnis und berechenbarkeitsorientierte Wissenschaftsverstndnis wertet Cassirer (1994, 134 f ) als wirkungsgeschichtlich relevant, welches bis ins 20. Jahrhundert hinein, wenn auch in modifizierter funktionaler Form, erkenntnisleitend ist. 29 Neben dem wissenschaftlichen Realismus, den transzendentalen Erkenntnistheorien sowie dem Empirismus kçnnten weitere Traditionslinien angefhrt werden, etwa eine handlungstheoretische bzw. i.w.S. methodologische Tradition (Mittelstraß 1998; Janich 1984). Berechnen wird dann auch als Technik und Kunst verstehbar. 30 Hierzu meint Lay (1971, 252): „Von einer allgemeinverbindlichen Definition von ,Prognose‘ ist die Wissenschaftstheorie noch weit entfernt.“ Spter soll (Kapitel 3 und 4) gezeigt werden, dass und wie die nachmoderne Physik und die theoretische Informatik das Defizit aufgenommen haben: Aus Perspektive der Physik kann allgemein zwischen Mathematisierbarkeit/Mathematisierung, Lçsungsexistenz, Lçsbarkeit/Lçsungsbestimmung, Darstellbarkeit der Lçsung, Simulierbarkeit, Eliminierbarkeit von Redundanz in Zahlenfolgen, rekursive
2.3. Prognostizierbarkeit – ein erstes Merkmal
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liegt eine Unterscheidung nahe: Prognose (a) eines zuknftigen (neuen oder bekannten) Ereignisses („Zustand“), (b) eines Ereignisverlaufs aus gegebenen Anfangs- und Randbedingungen („Prozess“) oder (c) von Gesamtheiten von Ereignissen bzw. Ereignisverlufen („mçgliche Weltverlufe“). Dabei handelt es sich nur um graduelle und nicht um grundlegende Unterschiede. Im Zentrum steht in allen Fllen das mathematische Gesetz. Entscheidend ist, dass damit ebenfalls hinreichende Stabilitt und Nicht-Sensitivitt vorausgesetzt wird. Starke Kausalitt im Sinne des Hume’schen Regelfolgens ist notwendig, um berhaupt die Bedingungen der Mçglichkeit von Prognosen zu gewhrleisten. Erst in der aktuellen Physik der Instabilitten werden diese Voraussetzungen thematisiert und problematisiert (Kapitel 3 und 4). Wenn zusammenfassend nach der Funktion von Prognosen gefragt wird, deutet sich ein unerwarteter Konsens an. Unabhngig davon, ob aus Perspektive der Transzendentalen Erkenntnistheorie, des Empirismus, Positivismus und Instrumentalismus oder gar (Spielarten) des Realismus argumentiert wird, stimmen die Positionen darin berein, dass Prognose zumindest eine Bedingung zu einer objektiven Erkenntnis liefert.31 Mit Drieschner kann festgehalten werden: „Jede objektive Beschreibung von Wirklichkeit muss also eine Voraussage dessen sein, was einer [ = jedermann] finden wird, wenn er nachprft. […] Bei nherer Betrachtung scheint also die Voraussagemçglichkeit fundamental fr die Naturwissenschaft.“ (Drieschner 2002, 73)32 In diesem Sinne ist die Prognostizierbarkeit zentrales Kennzeichen der klassisch-modernen Physik. Funktionen, u. a. unterschieden werden, und eine Verbindung zur Informationstheorie hergestellt werden (Schmidt, 2003a). Partiell sind diese Verstndnisweisen anschlussfhig an die Berechenbarkeitstheorien, etwa der symbolverarbeitenden Maschinen (1930er Jahre, Turing, Church, u. a.) und der Metamathematik und Logifizierungstheorien (Gçdel, u. a.). Einen berblick zum Themenkreis maschineller Berechenbarkeit, der Turingmaschine und ihrem Halteproblem findet sich in Mainzer (1994). 31 Beispielhaft sind Drieschners (2002, 12 f ) ußerungen. „Man kann nur etwas nachprfen, was davor behauptet worden ist; nachprfbar sind prinzipiell nur Voraussagen. Ein Naturgesetz – also die allgemeine Formulierung einer objektiven Aussage im Sinne der Naturwissenschaft – kann daher nur eine allgemeine Regel sein, die angibt, wie man aus den jeweiligen gegenwrtigen Bedingungen Voraussagen gewinnt, die sich in der Zukunft empirisch werden nachprfen lassen.“ 32 Ferner meint Drieschner (2002, 179): „Naturwissenschaft ist dadurch definiert, daß sie nach objektiven Naturgesetzen fragt, also nach Regeln fr Voraussagen, die jedermann empirisch nachprfen kann.“
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2. Klassisch-moderne Physik
2.4. Reproduzierbarkeit – ein zweites Merkmal Physik ist seit dem 17. Jahrhundert nicht nur eine passiv-kontemplative Beobachtungswissenschaft desjenigen, was als ußere Natur von selbst da ist, oder eine kognitiv-theoretische Prognosewissenschaft. Vielmehr ist sie eine aktive, eingreifende, naturprparierende und -verndernde Experimentalwissenschaft, die sukzessive zu einer technischen Labor- und Apparatewissenschaft wurde. Ohne Technik, ohne technische Apparate und Instrumente ist Physik als Experimentalwissenschaft unmçglich. Die „Geburt der modernen Wissenschaft in Europa“ (Rossi 1997) und das moderne Natur- (als reduziertes Naturgesetzes-) Verstndnis sind undenkbar ohne die Entwicklung der Experimentierkunst als methodische, manipulierende, messende Naturbefragung und ohne die systematische Verbesserung der Instrumente und Beobachtungstechniken. Durch technisches Handeln werden Phnomene produziert und ihre Reproduktion wird damit her- und sichergestellt. So haben Gernot Bçhme und Wolfgang van den Daele fr die Physik hervorgehoben, dass ihr „methodisches Ideal […] die regelmßige Tatsache [ist], die die Bedingungen enthlt, unter der ihre Beobachtung fr jedermann und jederzeit wiederholbar ist.“ (Bçhme/van den Daele 1977, 189) Jrgen Mittelstraß sieht in der Reproduzierbarkeit „eine allgemeine wissenschaftliche Norm“, insofern sie „die Kontrollierbarkeit wissenschaftlicher Aussagen“ und damit Invarianzen sicherstelle, etwa die Personen-, Zeitund Ortsinvarianz (Mittelstraß 1998, 106). So ist die „Reproduzierbarkeitsforderung […] als Rationalittskriterium im Wissenschaftsprozeß unverzichtbar.“ (ebd., 107)33 Damit spielt die Reproduzierbarkeit nicht nur in der Erkenntnisgenese, sondern auch im Geltungsausweis eine entscheidende Rolle. Bçhme spitzt zu und meint, dass „Experimentalregeln und Regeln der Datenerzeugung […] die Reproduzierbarkeit – und damit die universelle und intersubjektive Gltigkeit – von Experimenten [garantieren].“ (Bçhme 1993a, 333)34 Weitere Spielarten dieser Position kçnnten angefhrt werden.35 33 Die Rationalitt mit ihren normativen Kriterien zeige sich nirgendwo so wie in der Physik (Mittelstraß 1996, 162). 34 „Ihr Ideal [= das Ideal der Physik] ist die reproduzierbare Tatsache, deren Beschreibung die Form eines allgemeinen Satzes hat.“ (Bçhme/van den Daele 1977, 188) 35 In diesem Sinne hat auch Janich (1995, 622) als das „wichtigste Charakteristikum des klassischen Experiments [… seine] prinzipielle Wiederholbarkeit“ genannt. „Der bergang von Einzelerfahrungen zu wissenschaftlichen Erfahrungen
2.4. Reproduzierbarkeit – ein zweites Merkmal
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Der Rekurs auf Reproduzierbarkeit und Wiederholbarkeit ist nicht nur bei Wissenschaftsphilosophen, sondern auch bei Physikern blich. Als „die Lehre vom Wiederholbaren“ bestimmt etwa Friedrich Hund (1972, 274) die Physik in methodologischer Hinsicht. Wolfgang Pauli (1961, 94) glaubt gar, dass sich „das Einmalige“ der Physik entziehe, weil es experimentell nicht zu fassen sei. „Der Naturwissenschaftler hat es mit besonderen Phnomenen und einer besonderen Wirklichkeit zu tun. Er hat sich auf das zu beschrnken, was reproduzierbar ist. Hierzu rechne ich auch das, fr dessen Reproduktion die Natur von selbst gesorgt hat.“ (ebd., 94) Der Physiker Hermann Bondi fhrt in seinem Buch „Mythen und Annahmen in der Physik“ aus, dass Physiker blicherweise davon ausgehen, dass „alles, was wir machen, wiederholbar und von anderen Leuten an anderen Orten nachprfbar sein muss.“ (Bondi 1971, 13)36 Bernd-Olaf Kppers hat zu Recht betont, dass „die konzeptionelle Grundstruktur der traditionellen Physik […] so angelegt [ist], daß sie im wesentlichen nur die reversiblen und reproduzierbaren Naturphnomene erfaßt.“ (Kppers 1992, 10) […] gelingt dadurch, daß die einschlgigen Handlungen von Wissenschaftlern […] prinzipiell von jedermann wiederholt werden kçnnen. […] Es ist mit anderen Worten die technische Reproduzierbarkeit von Verhltnissen.“ (Janich 1997, 50/51) Dingler (1921, 44) liefert auch fr Janichs Experimentverstndnis den Ausgangspunkt: „Ich will ein Experiment auch ,beliebig‘ wiederholen kçnnen.“ Es sei „in dem Worte ,ein Experiment spter oder an anderem Orte wiederholen‘ schon ein Hauptteil unserer experimentellen Physik enthalten.“ (ebd., 45) „[A]lle Physik studiert Vorgnge. Und zwar Vorgnge nicht insoweit sie einzigartig, sondern insofern sie reproduzierbar, wiederholbar sind.“ (ebd., 68) Als eines der „hervorstechende[n] methodologische[n] Merkmale der Physik“ hat Tetens (1987, 1) die „experimentelle Reproduktion“ genannt. Und Essler (1973, 139) diskutiert kritisch die Hintergrundberzeugung „vieler experimentell arbeitender Physiker“: „Im allgemeinen wird […] angenommen, daß ein Experiment beliebig oft realisierbar sein muss.“ – Aus anderer Perspektive, nmlich aus der eher sozialwissenschaftlich orientierten Wissenschaftsforschung haben etwa Latour und Woolgar (1986) auf Experimentierhandlungen der Physik und andere Naturwissenschaften unter dem Stichwort „Laboratory life“ verwiesen; vgl. auch Knorr-Cetina (1981) und Pickering (1984). 36 Frey (1965, 110) hebt hervor, dass „wir [d.h. die Physiker …] in der Flle der Erscheinungen nach Wiederkehrendem [suchen], nach in bezug auf bestimmte Relationen Unterscheidbarem.“ Pietschmann (1996, 84) charakterisiert in seinen „Axiomen des Experiments“ diese wie folgt: „Das erste Axiom wre die Forderung nach Reproduzierbarkeit.“ Batterman (2002, 57) meint, dass „any experiment in which that phenomenon is manifest must be repeatable.“ Und Loistl und Betz (1994, 7) stellen fest: „Oberstes Gebot fr ein gltiges Experiment ist seine Reproduzierbarkeit.“
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2. Klassisch-moderne Physik
Trotz dieser Aussagen blieb die Reproduzierbarkeit und mit ihr zusammen das Experiment merkwrdigerweise im Mainstream der analytisch geprgten Wissenschaftsphilosophie ein Stiefkind (vgl. kritisch: Tetens 1987, 1 f; Heidelberger 1998, 72 f; Chalmers 2001, 25 f/155).37 Logischer Empirismus wie auch Kritischer Rationalismus fokussierten auf Sprache, Aussagen und Theorien; wenn berhaupt besaß das Experiment eine dienende Widerlegungs- bzw. Besttigungsfunktion von Theorien. Weniger das technische Ergreifen und manipulative Eingreifen als das kognitiv-kontemplative Begreifen lag in ihrem Fokus, fast so als sei das Materielle entbehrlich. Die Erkenntnis der Natur wurde hier ganz traditionell als Schauen (griech.: theorein) verstanden, als Theorie. Ian Hacking kritisiert,38 dass herkçmmliche „Wissenschaftsphilosophen […] stndig von Theorien und Darstellungen der Realitt [reden], doch ber Experimente, technische Verfahren oder den Gebrauch des Wissens zur Vernderung der Welt […] so gut wie gar nichts [sagen].“ (Hacking 1996, 249) Die Geschichte der Physik wurde meist als Theoriengeschichte bzw. als Abfolge von Paradigmen geschrieben.39 In den letzten Jahrzehnten konnte das ein wenig korrigiert werden.40 Programmatisch wurde der partielle wissenschaftsphilosophische Perspektivenwechsel als „New Experimentalism“ apostrophiert; doch wie „neu“ er wirklich ist, ist strittig.41 37 Dass das Experiment und das Experimentieren zur „Physik“ gehçrt, ist allerdings unumstritten: Als Erfahrungswissenschaft ist die Physik eine experimentelle Wissenschaft. Im Experiment liegt das Materielle und der faktische Gegenstandsbezug der klassisch-modernen Physik. Hacking (1996, 288) stellte heraus: „Ich […] werde auf der Gltigkeit des Gemeinplatzes beharren, daß Experimentieren weder ein Aussagen noch ein Berichten ist, sondern ein Tun, und daß es bei diesem Tun nicht bloß um Worte geht.“ Aus anderer Perspektive hat Chalmers (1984) fr ein „Non-Empiricist Account of Experiment“ pldiert. 38 Dies expliziert Hacking in seinem fr den „Neuen Experimentalismus“ wegweisenden Buch „Representing and Intervening“ aus dem Jahre 1983, deutsch siehe Hacking (1996). 39 Vgl. Hacking (1996, 250). Selbstkritisch rumt Hund (1989, 5) ein, dass es sich bei seinem Buch „Geschichte der physikalischen Begriffe“ nicht um eine „Geschichte der Physik“ handelt. „Denn die Entwicklung des physikalischen Experimentierens und Messens kommt darin zu kurz.“ (ebd.) 40 Frh: Bçhme et al. (1977); spter: Hacking (1983/1996), Franklin (1986), Galison (1987), Gooding (1990), Gooding et al. (1989), Heidelberger/Steinle (1998), Raddar (1996) und Raddar (2003). 41 Vgl. die guten berblicksdarstellungen von Ackermann (1989), Chalmers (2001, 155 f ) und McLaughlin (1993); kritisch hierzu Carrier (1998, 175 f ) und Janich (1998, 93 f ).
2.4. Reproduzierbarkeit – ein zweites Merkmal
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Auch wenn Experimente und Reproduzierbarkeit als Charakteristikum von klassisch-moderner Physik wissenschaftsphilosophisch selten thematisiert wurden, so weist die Thematik bei nherer Betrachtung doch betrchtliche Traditionslinien auf. Experimenten werden hier unterschiedliche Funktionen zugewiesen.42 Sie dienen der Naturkonstitution, der Phnomenerzeugung und der praktischen Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung, der Objektivierung und dem Geltungsausweis von Theorien, der eingreifenden Handlungsplanung und der Naturbeherrschung. Betrachten wir hierzu im Folgenden einige Beispiele. Im Zentrum stehen dabei konstruktivistisch-handlungsorientierte Zugnge: Welt-Auslegung ist immer auch Welt-Zurechtlegung.43 Wir setzen uns der Natur nicht einfach aus, wir machen Erfahrungen mit ihr; wir richten sie als „reproduzierbare“ her. Wegweisend fr das Merkmal der Reproduzierbarkeit war Francis Bacons Grundlegung der Naturwissenschaft als Experimentalwissenschaft von 1620:44 Zur Erkenntnis gelangt man weder ber passive Beobachtung noch ber reines Denken, sondern ber experimentelles Herstellen und technisches Handeln. Bacon geht von einer Identittsthese aus, die fr ihn aus einem gemeinsamen Kern von nomologischer Naturerkenntnis und phnomenaler Naturvernderung besteht (Natura parendo vinciturPrinzip). In der Bacon’schen Tradition45 stellt das Experiment eine Art „Verhçr der Natur“ dar, um den Kern von Natur – die mathematischen Strukturen – offen zu legen. Bacon zielte „nicht bloß [auf ] eine Geschichte der freien und ungebundenen Natur […] wie bei der Geschichte der Himmelskçrper […], sondern weit mehr noch [auf ] eine Geschichte der gebundenen und bezwungenen Natur, d. h. wenn sie durch […] die Ttigkeit des Menschen aus ihrem Zustand gedrngt, gepreßt und geformt wird. Deshalb beschreibe ich Experimente […].“ (Bacon 1999, 42 Heidelberger (1998, 80) sieht im Wesentlichen vier Zwecke von wissenschaftlichen Instrumenten bzw. Experimenten: Erfahrungserweiterung, Phnomenstrukturierung, Beherrschung der Bedingung und (traditionell die) berprfung von Theorien. 43 Vgl. auch Nietzsche (1993, 19). 44 Bei Bacon (1999, 113) heißt es: „Alle wahre Interpretation der Natur kommt durch Beispiele und geeignete Experimente zustande, wo der Sinn ber das Experiment, das Experiment ber die Natur und die Sache selbst entscheidet.“ 45 Hacking (1996, 408/250) spricht treffend davon, dass „Bacon ein Philosoph des Experiments war“ und pldiert fr ein „Zurck zu Bacon!“.
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2. Klassisch-moderne Physik
55)46 ber Bacons Programmatik hinaus waren Galileis und Torricellis methodisch-experimentelle Laborarbeiten und ihre empirisch-messende Systematik der prparierten Naturbefragung wirkungsgeschichtlich prgend. Sie waren wohl die ersten Experimentatoren im modernen Sinn. Vico, Hume, Kant und Mill hoben dann aus unterschiedlichen Perspektiven hervor, dass man nur dasjenige verstanden habe, was man machen, kontrollieren und erzeugen kçnne. Insbesondere Kant bezieht sich in der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft (B XII) direkt auf Bacon. Bei Kant wie bei Bacon setzt Erkennen-Kçnnen experimentelles Handeln-Kçnnen voraus. Die experimentelle Konstruktion und Kontrolle ist die Bedingung der Mçglichkeit, dass etwas als etwas erkannt werden kann: Die Naturforscher begriffen, so Kant, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt […]. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein bereinkommende Erscheinungen fr Gesetze gelten kçnnen, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualitt eines Schlers […], sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nçtigt, auf Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“ (KrV, B XIII – B XIV) „Experiment“ und „Experimentalmethoden“ erhalten bei Kant ein Natur- und ferner ein Naturwissenschafts-konstitutives Moment. Der Verstand wird zum Gesetzgeber der Natur, er schreibt der Natur a priori ihre Gesetze vor. Dies ist nicht nur in kognitiver Hinsicht zu verstehen. Kant vergleicht die experimentelle Methode mit einem gerichtlichen Verhçr: Die Natur muss aktivhandelnd gençtigt und gerichtet werden, damit sie antwortet; Prfung basiert auf Prgung von Gesetzen (vgl. Bçhme/Bçhme 1996).47 Experi46 „[D]ie Natur der Dinge offenbart sich mehr, wenn sie von der Kunst bedrngt wird, als wenn sie sich selbst frei berlassen bleibt.“ (Bacon 1999, 57). 47 Denn der Mensch vermag als Handelnder nur das zu erkennen, was er tut. Hier tritt in Bacon’scher Tradition das berhmte verum-factum-Prinzip Vicos prominent hervor (vgl. Bçhme/Bçhme 1996). Kants Erkenntnistheorie bezieht sich damit keineswegs nur auf die messenden-nichtexperimentellen Beobachtungen, etwa in der Kosmologie, wie mitunter im Rekurs auf den „bestirnten Himmel ber mir“ herausgestellt. Vielmehr ist Erkenntnis bei Kant auf die experimentellen Zurichtungen und faktisch-materiellen Konstruktionen der Erdennatur angewiesen, vgl. Bçhme/Bçhme (1996, 304 f ) und Bçhme (1986, 199 ff ). Der erkenntnishandelnde Mensch ist homo faber. Meyer-Abich (1997a, 185) kritisiert: „Das von Kant so entschieden befrwortete Verum-factum-Prinzip, etwas erst dann erkannt zu haben, wenn man es so beherrscht oder in der Gewalt hat,
2.4. Reproduzierbarkeit – ein zweites Merkmal
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mentieren ist also kein Herumtappen in der Natur, sondern ein zielgerichtetes Herstellen von Natur(gesetzen). Bei Kant findet sich hier bekanntlich auch – neben der aktiv-handelnden Seite, gewissermaßen neben dem handlungsorientierten Konstruktivisten – der kognitive Konstruktivist: Der Naturforscher legt nomologische Kausalitt in die Natur hinein und konstituiert damit Natur. Darin liege die „Revolution der Denkungsart“.48 Anderes bleibt dem Naturforscher verschlossen und ist folglich nicht als Natur zu bezeichnen.49 Vertieft wurde dieser Zugang im 20. Jahrhundert insbesondere durch den Methodologischen Konstruktivismus. Hugo Dingler hat in seinem Buch Das Experiment (1928) begrifflich-protowissenschaftliche Aspekte der experimentellen Gegenstandskonstitution herausgearbeitet.50 Das Experiment stellt – im Experimentieren – ein kognitives und technisch-prparierendes Handeln (Verallgemeinerung, Normbildung, Geltungsausweis) dar. Der auf Dingler zurckgehende und von der Erlanger-Konstanzer Schule ausgearbeitete Methodologische Konstruktivismus rekonstruiert Wissenschaft als zweckrationales Handeln und als regelgeleitete Eingriffspraxen.51 Wissenschaft ist eine spezifische Handlungsform, die
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daß man es selbst hervorbringen kann, ist das bis heute unverndert gltige Erkenntnisideal der modernen Naturwissenschaft.“ Kant sagt bekanntlich: „Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkungsart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemß, dasjenige in ihr zu suchen, (nicht ihr anzudichten,) was sie von dieser lernen muss, und wovon sie fr sich selbst nichts wissen wrde.“ (ebd.) Kant stellt damit unzweideutig heraus, was er im Sinne hat mit der „Revolution der Denkungsart“: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis msse sich nach den Gegenstnden richten“. Das sei gescheitert. „Man versuche es daher einmal, ob wir nicht […] besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstnde mssen sich nach unserem Erkenntnis richten.“ (KrV, B XVI – B XVII) Der handelnd-aktive Aspekt von Kants Zugang wird von Bçhme/Bçhme (1996, 304 f ) herausgearbeitet, ebenso der Hinweis auf das Gegebene, die Widerstndigkeit von Natur (ebd., 281). Dass „alles, was geschieht […], [etwas] voraussetzt, worauf es nach einer Regel folgt“, darauf hatte Kant in seiner wegweisenden apriorischen Setzung von Kausalitt als Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung berhaupt hingewiesen. Natur war normativ ber Kausalitt definiert. Ferner heißt es: „Alle Vernderungen [in der Natur] geschehen nach dem Gesetz der Verknpfung der Ursache und der Wirkung“ (KrV, A 189 / 223). Einige Grundgedanken hierzu finden sich bereits bei Mach (1991, 201 f ), allerdings nicht in einer stringenten Systematik. Die handlungsbezogene Prmisse des Methodologischen Konstruktivismus lautet: „Es gibt […] keine menschenunabhngigen und keine handlungsunabhngigen wissenschaftlichen Erfahrungen“ (Janich 1997, 53).
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2. Klassisch-moderne Physik
bruchlos „aus lebensweltlichen Praxen durch Hochstilisierung gewonnen“ wird (Janich 1997, 63).52 Der Kern des zweckrationalen Handelns, wie er partiell auch im Alltag vollzogen wird, zeigt sich zugespitzt im experimentellen Handeln, also in dem, was Naturwissenschaft durch zweckrationale Normierung zur Naturwissenschaft macht. Naturwissenschaft erscheint so als eine kulturelle Handlungsform neben anderen, nur mit spezifischeren und strengeren Normen. „Der bergang von Einzelerfahrungen zu wissenschaftlichen Erfahrungen […] gelingt dadurch, daß die einschlgigen Handlungen von Wissenschaftlern so durch Regeln und Rezepte normiert werden, daß sie prinzipiell von jedermann wiederholt werden kçnnen. […] Es ist mit anderen Worten die technische Reproduzierbarkeit von Verhltnissen, die durch die Qualitt der Handlungsanweisungen sichergestellt ist.“ (Janich 1997, 50/51)53 Physik ist damit methodisch regelgeleitetes Handeln in der Welt und somit technisch zu verstehen.54 52 Schon Mach (1988, 1 f ) hat die Physik als theoretische Fortfhrung zur „Erfahrungsersparnis“ vortheoretischer lebensweltlicher Orientierungen verstanden, ohne Bruch zwischen lebensweltlicher und wissenschaftlicher „Erfahrung“. Husserl (1950 ff, Bd. VI, 229) sprach aus Perspektive der transzendentalen Phnomenologie hnlich: „Die schlichte Erfahrung, in welcher die Lebenswelt gegeben ist, ist letzte Grundlage aller objektiven Erkenntnis.“ Einstein (1991, 229) meinte, „wissenschaftliches Denken ist […] eine Fortbildung des vorwissenschaftlichen“. 53 Das sichert nach Janich (1997, 51) die „Allgemeinheit oder Universalitt wissenschaftlicher Erfahrungen.“ 54 hnlich Dingler (1921, 68). Physik studiere nur solche Vorgnge, insofern sie reproduzierbar sind. Das, was einen Gegenstand zu einem wissenschaftlichen Gegenstand macht, wird durch diese Zugangsart bestimmt. Unter dem Titel „Auswahl der Tatsachen“ hat auch Poincar darauf hingewiesen, dass der Physiker diejenigen Gegenstnde auswhlt, die „die meiste Anwartschaft darauf [haben], sich zu wiederholen.“ (Poincar 1914, 8) So beruht „unsere Kenntnis der sogenannten Naturgesetze“ auf einem „enormen Handlungsanteil“ (Tetens 1984, 94), welche in den „kulturellen Praxen“ verwurzelt ist und mit dem homo faber verbunden ist. Das Experiment wurde durch diese „kulturalistische Position“ des Methodologischen Konstruktivismus als Gegenstands-konstitutiv aufgewertet und als kulturelle Handlungspraxis und gar als „Kultur“ stilisiert. Hingegen bleibt das Theorieverstndnis des methodologischen Konstruktivismus als Theorie sekundr; es zeigt sich als Mittel, nicht als Ziel wie im Instrumentalismus. „Theorien sind Instrumente in dem Sinne, als sie angeben, welche Handlungen auszufhren sind, um die in ihnen beschriebenen Sachverhalte herzustellen.“ (Janich 1997, 60/vgl. 58 ff ) Hartmut und Gernot Bçhme (1996, 281) kritisieren, dass Janich der „Naturwissenschaft den Titel einer Wissenschaft von der Natur abspricht und sie als bloße Technikwissenschaft charakterisier[t].“
2.4. Reproduzierbarkeit – ein zweites Merkmal
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Aus handlungstheoretischer Perspektive ist das Experimentieren beispielhaft fr Handlungen allgemein. Georg Henrik v. Wright meint, dass der „Begriff von Ursache […] wesentlich mit der Idee von Handlungen und daher, als wissenschaftlicher Begriff, mit der Idee von Experimenten verknpft [ist].“ Der „,experimentalistische‘ Begriff der Ursache“ nimmt „in den experimentellen Naturwissenschaften einen wichtigen Platz ein“, wird jedoch wenig reflektiert (Wright 1991, 44).55 Weil Experimentieren ein handlungsbasiertes Verfahren darstellt, sind Verfahrensregeln, Handwerkskunst sowie Geschicklichkeit unabdingbar: Es sind Techniken notwendig, die prototypisch sind fr Handlungen. Inhaltlich verwandt, terminologisch jedoch komplementr und im expliziten Rekurs auf einen (eingreifenden Entitten-) Realismus (anstatt auf einen Konstruktivismus) argumentiert Ian Hacking (1996): Im faktisch konstruierenden Handeln zeige sich der Realismustyp des Naturwissenschaftlers. Wenn man eine Entitt ttig beeinflussen kann, um mit ihr an etwas anderem zu experimentieren, ist sie als „real“ anzusehen (vgl. Hacking 1996, 432). Nicht Theorie, sondern Technik, nicht Darstellen, sondern Eingreifen zhlt: Von einem konstruktiven Entitten-Realismus kann gesprochen werden, insofern technisch-artefaktische Konstruktionen notwendig sind. Experimentieren ist dann ein Tun und kein Prfen oder Berichten.56 „Der beste Beweis des wissenschaftlichen EntittenRealismus liegt nicht im Theoretischen, sondern im Technischen.“ (Hacking 1996, 452).57 Dieses Eingriffsverstndnis von Physik ist auch im 20. Jahrhundert alles andere als singulr.58 Ein physikkritischer Zugang kann sich hier anschließen. Kritik meint dann nicht nur eine erkenntniskritische Rekonstruktion von wissenschaftlichen Theorien, Begriffen und Geltungsansprchen. Vielmehr geht es um eine umfassende Wissenschaftskritik: als Kritik am leitenden „re55 Anschließend an v. Wright hebt Janich kritisch hervor, dass die „interventionalistische Theorie der Kausalitt“ in der gegenwrtigen Diskussion der Wissenschaftsphilosophie und insbesondere der Analytischen Philosophie des Geistes weitgehend unbercksichtigt geblieben ist. V. Wright sei, so Janich (1998, 108), „in bester bereinstimmung mit der methodisch-kulturalistischen Handlungstheorie“. 56 Vgl. Hacking (1996, 288) und van Fraassen (1980, 3). 57 Ferner behauptet Hacking (1996, 60) provokativ: „Nicht wie wir denken, sondern was wir tun, gibt in der Philosophie […] den Ausschlag.“ 58 So meint Philipp Frank (1988, 32), dass derjenige, der „Wissenschaft treibt, […] sich der Welt gegenber ttig [verhlt]: denn er erzeugt oder benutzt ein Instrument zu ihrer Bewltigung; der bloß Erlebende verhlt sich rein passiv.“
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duktionistischen“ Naturverstndnis und an der mit diesem verbundenen „Haltung des erkennenden Subjekts gegenber der Natur“, das sich handelnd wie ein „Eroberer gegenber Wilden“ verhlt (Bçhme 1986, 208).59 Schon in der Konstitution der Natur als demjenigen, was regelhaft wiederholbar ist, liege eine machtfçrmige Denkfigur: eine „nivellierende Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht.“ (Horkheimer/Adorno 1990, 19)60 Der wissenschaftskritische Zugang erkennt das Experiment als (derzeit) grundlegend fr den Ausweis der Wissenschaftlichkeit (zunchst) erst einmal an, um sich dann in kritischer Absicht mit ihm auseinanderzusetzen. Das Experiment wird gesehen als Kern einer technischen Naturbemchtigung und menschlichen Herrschaft ber Natur, als Ausdruck eines mechanistischen Naturverstndnisses.61 Denn: „Natur verstehen wir in der Physik gerade so weit, wie wir sie in Apparaten ,nachbauen‘ oder sie nach dem Modell einer Maschine zu erklren vermçgen.“ (Tetens 1984, 96) Physik sei eine „Handlungsordnung von Tat-Sachen.“ (Meyer-Abich 1997b, 24 f )62 So handele sie nicht von dem, was an und fr sich ohne uns da ist; sie handele vielmehr von Tat-Sachen, also von dem, was wir getan und gemacht haben. Daneben finden sich in Traditionslinien des wissenschaftlichen Realismus und des Empirismus Desiderate einer Anerkennung von Experi59 Diese Kritik hat Bçhme nicht allgemein, sondern im Anschluss an die Erkenntnistheorie Kants formuliert. hnlich spricht Meyer-Abich (1997a, 76 f/80) von einem „extraterrestrischen Blick der klassischen Naturwissenschaft“ und vom Menschen als „interplanetarischem Eroberer“, vgl. allg. Meyer-Abich (1984). 60 Ferner sprechen Horkheimer und Adorno (1990, 18) von einer „Erklrung jeden Geschehens als Wiederholung“. 61 Horkheimer und Adorno (1990, 15) heben kritisch hervor: „Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann“; es gilt Vicos Verumfactum-Prinzip. 62 Weiter heißt es: „Das Ergebnis [der Physik] ist immer, daß Phnomene kontrolliert hervorgebracht werden kçnnen, eben darin liegt die Bedeutung des Experiments in der herrschenden Naturwissenschaft.“ (Meyer-Abich 1997b, 24 f ) Die Physik beschreibt, so Meyer-Abich in Anlehnung an die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, „nicht die Ordnung der Natur, so wie sie von außen her zu erkennen wre, sondern ist ein Kanon von Regeln, nach denen Menschen, die selbst dazugehçren, in der Sinnenwelt Ziele erreichen kçnnen. Naturwissenschaft handelt von Tat-Sachen, nicht nur von den Sachen.“ (ebd.) „Physik ist Handlungswissen. Das Experiment ist also keine ,Besttigung‘ eines theoretisch gefundenen Ergebnisses, sondern es ist selbst ein Ergebnis.“ (MeyerAbich 1997a, 185)
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menten, welche allerdings allein dienenden Charakter aufweisen.63 Experimente dienen der Prfung von sprachlich verfassten Aussagen und von Theorien. Demnach ist das „Prinzip der Wissenschaft, fast die Definition [der Wissenschaft …] folgendes: Das Experiment ist Prfstein allen Wissens.“ (Feynman 1987, 19) Fr diese Prffunktion wird die Reproduzierbarkeit als notwendig angesehen. Sie ermçglicht Intersubjektivitt (als Personen-, Raum- und Zeitinvarianz) (Essler 1973, 139). Fr Popper steht fest, dass einmalig hervorgebrachte, „nichtreproduzierbare Einzelereignisse […] fr die Wissenschaft bedeutungslos [sind].“ (Popper 1989, 54)64 Gegenber dieser Position gibt es eine Gegenbewegung aus experimentalistischer bzw. gelutert empiristischer Linie. Diese bezweifelt insbesondere die Universalisierung, nmlich dass die experimentell im Labor gewonnenen bzw. konstruierten Gesetze eine Geltung jenseits des Labors beanspruchen kçnnen (Tetens 1987, Cartwright 1983/ 1999; Gooding et al. 1989).65 63 Schließlich sagte Popper (1989, 214): „[N]ur die Theorie und nicht das Experiment [weist …] der Wissenschaftsentwicklung immer wieder den Weg zu neuen Erkenntnissen.“ 64 Popper (1989, 19 f ) fhrt fort: „Nur dort, wo gewisse Vorgnge (Experimente) auf Grund von Experimenten sich wiederholen, bzw. reproduziert werden kçnnen, nur dort kçnnen Beobachtungen, die wir gemacht haben, grundstzlich von jedermann nachgeprft werden. Sogar unsere eigenen Beobachtungen pflegen wir wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen, bevor wie sie nicht selbst durch wiederholte Beobachtungen oder Versuche nachgeprft und uns davon berzeugt haben, daß es sich nicht nur um ein einmaliges ,zuflliges Zusammentreffen‘ handelt, sondern um Zusammenhnge, die durch ihr gesetzmßiges Eintreffen, durch ihre Reproduzierbarkeit grundstzlich intersubjektiv nachprfbar sind.“ hnlich der Physiker Pietschmann (1996, 83): „Diese Ergebnisse werden aber innerhalb der Naturwissenschaften nur dann anerkannt, wenn sie reproduzierbar sind.“ 65 Tetens weist auf die Labornatur hin: „Letztlich kçnnen die Physiker nur Gesetze aufstellen fr knstlich erzeugte, fr sozusagen ,reine‘ Laborflle.“ (Tetens 1987, 32) Ferner: „Aus methodischen Grnden kann die Physik einer Orientierung auf Apparate gar nicht entraten. Die mathematisierten Gesetzesaussagen in der Physik werden methodisch primr am Studium von Apparaten gewonnen und gelten uneingeschrnkt auch nur an diesen. Das an Apparaten gewonnene Wissen wird erst danach dazu herangezogen, hypothetisch-modellhaft Naturerscheinungen außerhalb der Laboratorien zu erklren und vorherzusagen.“ (ebd., 92 f ) Die Position ist der von Cartwright verwandt, wenn sie sagt: „We have […] no inductive reason for counting these laws as true of fundamental particles outside the laboratory setting.“ (Cartwright 1999, 34). Dass die Mçglichkeit der Ausweitung des Geltungsbereiches ber das Experiment bzw. das Labor hinaus existieren mag, bestreiten Tetens und Cartwright nicht. Jedoch kçnnen wir davon
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2. Klassisch-moderne Physik
Mit dem Hinweis auf die Traditionslinien ist noch nicht gesagt, was unter einem „Experiment“ und seiner zentralen Eigenschaft, der Wiederholoder Reproduzierbarkeit verstanden werden kann.66 Die Bedingung fr die Mçglichkeit eines Experiments liegt in der (0) Isolation von der Umgebung whrend des Starts und des Verlaufs des Experiments,67 ferner in der (1) Zugnglichkeit, Variierbarkeit und Kontrollierbarkeit von Anfangs- und Randbedingungen, in der (2) Wiederholbarkeit von Prozessen bzw. von Verlufen und in der (3) Reproduzierbarkeit von Ereignissen, Zustnden, Phnomenen und Resultaten. Die Stichworte (1) – (3) kennzeichnen drei zeitlich zu unterscheidende Phasen eines Experiments: Start, Verlauf, Resultat. Experiment im Sinne des Experimentierens und des regelbehaftet-handelnden „Tuns“ (Wright 1991, 68; Hacking 1996, 288; Janich 1997, 97) bezieht sich verstrkt auf die Phase (1), wobei die Isolation (0) herzustellen und zu gewhrleisten ist. Technische Instrumente werden gebaut und verwendet, Apparate werden zu einer Experimentieranordnung prpariert, die Startbedingungen werden eingestellt. Es ist fr das Experimentieren und die Wiederholbarkeit konstitutiv, dass Anfangs- und Randbedingungen kontrolliert und auch kontrolliert variiert werden kçnnen.68 Wenn von Herstellung der Wiederholbarkeit oder Konstruktion der Reproduzierbarkeit gesprochen wird, meint man die nichts wissen. Es ist ein epistemischer Bruch zu konstatieren, insofern hier etwas bertragen werde, was in Strenge nur am Experiment hervorgebracht und gezeigt wurde. Die Verallgemeinerung kçnne zwar zweckmßig und pragmatisch hilfreich sein, sei aber nicht gerechtfertigt. – Die unterschiedlichen Einwnde gegen die Verallgemeinerung von Experiment-Ergebnissen (Isolations-Einwand, Herstellungs-Einwand, Vernderungs-Einwand; Theoriegeladenheits-Einwand, u. a.) wurden von Httemann (2000) systematisiert und zurckgewiesen. 66 Hufig ist die Aussage anzutreffen: „Experimente haben fr die Wissenschaft nur dann einen Sinn, wenn sie wiederholbar sind.“ (Heidelberger 1992, 136; vgl. u. a. Raddar 1996; Janich 1997, 100 f ). Doch Wiederholbarkeit ist nicht allein kennzeichnend fr Experimente, sondern ist umfassender. Wiederholbarkeit kann auch, wenn man einem (ontologischen) Realismus folgen mag, in der Natur liegen. So haben wir zunchst zweierlei: die in der Natur vorliegende und die durch das Experiment hergestellte Wiederholbarkeit. Experimentell hergestellte Wiederholbarkeit erscheint als Teil einer allgemeinen Wiederholbarkeit. 67 Hund (1989, 222) meint: „Fr die Begreifbarkeit einer Naturerscheinung ist […] Isolierbarkeit […] nçtig.“ 68 Das heben Bçhme und van den Daele (1977, 189) hervor: „Durch die Kontrolle […] der Ausgangsbedingungen von […] Experimenten wird jede Erfahrung wiederholbar und dadurch im Prinzip Erfahrung von jedermann.“ Im Experimentieren wird mit Anfangs- und Randbedingungen „gespielt“. Das Experiment hat eine spielerische Seite, insofern es in seinem Prozessverlauf als wiederholbar angenommen wird.
2.4. Reproduzierbarkeit – ein zweites Merkmal
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Isolierung der Experimentieranordnung von der Umgebung und die Ausschaltung von Stçrungen, ferner die Zugnglichkeit, Variierbarkeit und Kontrollierbarkeit der Anfangs- und Randbedingungen sowie den faktischen Start des Experiments. Auch wenn eine Trennung zwischen Tun und Beobachten kaum in strengem Sinn mçglich ist, insofern etwa die Isolation nicht selten ein kontinuierliches, prozessbegleitendes Tun erfordert, ist die Phase (1) tendenziell der hergestellte Teil des Experiments, whrend Phase (2) und (3) der sich berlassene Teil ist.69 Durch das Experiment soll damit eine rumliche, zeitliche und personale Situationsinvarianz hergestellt und eine bestimmte Erfahrung ermçglicht werden.70 Ob und in welcher Hinsicht Invarianzen allerdings ontologisch in der Natur vorkommen, kann hier offen bleiben. So weisen „Wiederholbarkeit“ und „Reproduzierbarkeit“ gewiss einen konventionalistischen oder auch pragmatistischen Bezug auf. Es handelt sich um Zuschreibungen. Weder gibt es die identische Wiederholbarkeit und Reproduzierbarkeit in der Natur – noch gibt es sie nicht. In ontologischer Hinsicht kann hier keine abschließende Entscheidung getroffen werden.71 69 Dieses Experimentverstndnis schließt teilweise an Janich (1997, 97 f ), Tetens (1987) und v. Wright (1991, 68 f ) an. Zwei notwendige Bedingungen sind im Experimentbegriff zusammengefasst. Erstens „die Experimentierbedingungen durch Handlungen des Konstruierens, Prparierens und Startens […]“; das wurde mit den Phasen (0) und (1) gekennzeichnet. Zweitens „muß sich immer das Gleiche ereignen, d. h., immer derselbe Verlauf oder Endzustand eines Verlaufs einsetzen.“ (Janich 1997, 100) Hierfr stehen die Phasen (2) („Verlauf“) und (3) („Endzustand“). In Experimenten werden also „Ablufe, die selbst keine Handlungen mehr sind, technisch beherrschbar (reproduzierbar [ = wiederholbar in unserem Sinne]) gemacht.“ (Janich 1997, 97) Die obige Differenzierung der Phasen lehnt sich auch an v. Wright und sein interventionalistisch-handlungstheoretisches Kausalittsverstndnis an. V. Wright unterscheidet „zwischen dem Tun und dem Herbeifhren von etwas. […] Dadurch, daß wir gewisse Dinge tun, fhren wir andere herbei.“ (Wright 1991, 68 f ) Die Bedingung der Mçglichkeit fr ein „Tun“, d. h. fr ein Starten eines Experiments liegt in der Zugnglichkeit, Variierbarkeit und Kontrollierbarkeit von Anfangs- und Randbedingungen sowie allgemein in der Isolierung des Experiments von der Umwelt. Durch das Tun (1) (und der Gewhrleistung von (0)) wird (3) herbeigefhrt, d. h. produziert bzw. reproduziert, wobei der Prozess (2) durchlaufen wird. Der Handlungsbegriff umfasst bei v. Wright das Tun und das Herbeifhren, als Tun, um etwas herbeizufhren (intentionale Struktur des Handelns). Das Herbeifhren „geschieht“ in Phase (2) und (3). 70 Der Physik gilt „nicht jede Erfahrung“ „als Faktum […], sondern nur solche, die reproduzierbar ist.“ (Bçhme 1993a, 405) 71 Ein minimaler Realismus (eine minimale Widerstndigkeit der ußeren Natur) ist allerdings unabdingbar. Allerdings liegt hier eine gewisse pragmatistische oder
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2. Klassisch-moderne Physik
Abschließend ist herauszustellen, dass mindestens zwei Arten von Kausalitt fr jedes Experimentieren notwendig sind: eine interventionalistische Kausalitt (Handlungskausalitt, etwa im Sinne von v. Wright 1991) in den Phasen (0) und (1) und eine regularittstheoretische Kausalitt (in den experimentellen Objektsystemen, etwa im Sinne von Hume 1990) in den Phasen (2) und (3). Beide Kausalitten setzen einen „starken Kausalittstyp“ (siehe Kapitel 3) voraus: hnliche Ursachen haben hnliche Wirkungen zur Folge. hnlichkeit ist notwendig. Schwache Kausalitt (gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen) ist allein nicht hinreichend. Denn Experimente mssen Handlungsunsicherheiten im Tun sowie empirischen Ungenauigkeiten in den Objektsystemen Rechnung tragen. Das wird vielfach nicht erwhnt, selbst von Janich (1995, 622) nicht.72 So stellt ein starkes Kausalittsprinzip offenbar die Bedingung der Mçglichkeit des Experimentierens dar.
2.5. Prfbarkeit – ein drittes Merkmal Die beiden vorangegangenen Merkmale der klassisch-modernen Physik, Prognostizierbarkeit und Reproduzierbarkeit, kçnnen als zwei entgegengesetzte Aspekte gedeutet werden: als Kennzeichen einer theoretisch-mathematischen und einer experimentell-gegenstndlichen Seite der Physik. Das Zusammenspiel von Theoretischem und Empirischem – und ihre (mçgliche) Unterscheidbarkeit – ist ein klassisches Thema der Wissenschaftsphilosophie. Es wird unter den Stichworten „Prfbarkeit“ und „Testbarkeit“ (engl. „testability“) verhandelt (z. B. Popper 1989, 77 f ) und tritt insbesondere in allen Spielarten empiristischer und realistischer
methodologisch-konstruktivistische Perspektive vor: quivalenzklassen sind zu bilden mit jeweiligen Kriterien; Metriken sind auszuzeichnen, die festlegen, was als „hnlich“ gelten kann. Das ist ihrerseits fragestellungs-, kontext- und sogar theorieabhngig. Hier zeigt sich ein Konventionalismus, wie er als erkenntnistheoretische Position etwa von Duhem (1978) oder Poincar (1914) vertreten wurde, sich aber auch bei Mach (1988, 459) und sogar bei Popper (1989, 47) findet. 72 „Vielmehr erzwingt der Experimentator in planvoller Herstellung von Gerten die gewnschten Bedingungen. Neben diesem […] aktiven menschlichen Beitrag bedarf es weiterer […] Prinzipien zur Interpretation des experimentellen Ergebnisses, so z. B. des Kausalprinzips, wonach gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben.“ (Janich 1995, 622)
2.5. Prfbarkeit – ein drittes Merkmal
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Traditionslinien hervor.73 Sptestens seit Poppers wirkungsvoller Etablierung des Kritischen Rationalismus ist die Prfbarkeitsthese zu einer der Standardpositionen geworden.74 Je nachdem welcher Aspekt herausgestellt und von anderen abgegrenzt wird, wird auch von Test, Empirizitt, Besttigung oder Bewhrung gesprochen.75 Die Prfbarkeitsthese ist verbunden mit der Frage nach den Mçglichkeiten einer empirischsemantischen Evidenz-, Geltungs- und Gehaltsausweisung von Begriffen, Propositionen und Theorien. Popper selbst verwendet die Begriffe „Prfbarkeit“ und „Falsifizierbarkeit“ sogar synonym (z. B. Popper 2000, 318 f ).76 Prfbarkeit tritt methodologisch an die Stelle der unerreichbaren metaphysischen Grundlegung empirischer Erkenntnis. Bei Popper bildet sich hieraus der Kern fr das bekannte methodologische Abgrenzungskriterium: Theorien sind allein an der und durch die Empirie auszuzeichnen.77 So bevorzugt Popper die Prfbarkeit gegenber der Prognostizierbarkeit und der Reproduzierbarkeit; letztere werden in den Dienst fr erstere gestellt. Neben der Popper’schen Methodologie spielt Prfbarkeit in empiristischen Traditionslinien als Methodologie eine wesentliche Rolle. Rudolf Carnap verwendet Prfbarkeit zunchst als empiristisches Sinnkriterium im Rahmen seines Verifikationsprinzips und bezieht dieses auf Basis-, Beobachtungs- oder Protokollstze sowie auf Schlussformen. In seinem Aufsatz „Testability and Meaning“ spricht Carnap von „Testfhigkeit“ und „Besttigungsfhigkeit“ als dem Kennzeichen empirisch gehaltvoller Propositionen (Carnap 1936/37). Eine formale, an der Logik und der Mathematik orientierte Quantifizierung der Testfhigkeit gelingt 73 Auch Carrier (1995b, 387 f ) bringt den Begriff der „Prfbarkeit“ primr mit Popper in Verbindung. 74 Diese hat sich halten kçnnen, trotz der Kritik aus wissenschaftshistorischer, aus wissenschaftssoziologischer und mitunter aus wissenschaftstheoretisch-sprachanalytischer Perspektive. 75 Bei Popper ist von Besttigung im Sinne von Bewhrung bzw. „corroboration“ und bei Carnap im Sinne von „confirmation“ die Rede. 76 Fr Popper ist „Prfbarkeit […] Falsifizierbarkeit“, wobei „es Grade der Prfbarkeit [gibt]“, welche zu unterscheiden sind und riskante Hypothesen durch hohe Prfbarkeitsgrade gekennzeichnet werden kçnnen (Popper 1989, 77 f; Popper 2000, 51). Also: „Ein empirisch-wissenschaftliches [Aussagen-] System muss an der Erfahrung scheitern kçnnen.“ (Popper 1989, 15) 77 Genauer wre von „empirischer Prfbarkeit“ zu sprechen. Kritisch fasst Hacking zusammen: Popper „definiert die Wissenschaft als Klasse prfbarer Stze.“ (Hacking 1996, 80)
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2. Klassisch-moderne Physik
Carnap ber die so genannte Besttigungsfunktion.78 Carnap begrndet die Auszeichnung von Propositionen verifikationistisch (induktivistisch, wahrscheinlichkeitslogisch), Popper falsifikationistisch (deduktivistisch). Sowohl im logischen Empirismus als auch im Kritischen Rationalismus stellt die Prfbarkeit das Empirizittskriterium dar. Nach beiden Zugngen sollen „in der Wissenschaft nur Beobachtung und Experiment ber die Annahme und Ablehnung von wissenschaftlichen Stzen, einschließlich Gesetzen und Theorien, entscheiden.“ (Popper 2000, 78) Dieses „Prinzip des Empirismus“ behlt auch Popper mit seiner Forderung nach „prinzipieller Prfbarkeit“ bei, bezieht es aber – im Unterschied zu Carnap – auf im Rahmen von Theorien deduktiv entwickelte Hypothesen. Ob eine erfolgreiche Prfung „positive empirische Evidenz“ bzw. „Bewhrung an der Empirie“ oder vielmehr nur „Wahrheitshnlichkeit“ sicherzustellen vermag, bleibt bei Popper ebenso offen wie die Frage im Logischen Positivismus, ob der Sinn eines Satzes allein in der Methode der Verifikation liegt oder nicht. Popper und Carnap kçnnen sich auf Vorlufer sttzen.79 So hatte Ernst Mach gefordert, dass dort, „wo weder eine Besttigung noch eine Widerlegung ist, […] die Wissenschaft nichts zu schaffen [hat].“ (Mach 1988, 465) Prfbarkeit erscheint bei Mach als positiv bestimmbare Demarkationslinie zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft. Ist Prfbarkeit die Bedingung der Mçglichkeit der Ausweisung von Wissenschaft und von gehaltvollen Stzen, so ist bereinstimmung der Theorie mit dem Experiment Ergebnis einer erfolgreichen Prfung, meint Mach.80 Auch bei Pierre Duhem wird Prfung als „Vergleichung der Theorie mit dem Experiment“ gefasst und als das Wahrheitskriterium bestimmt: „Die 78 Der Grad der Prfbarkeit wird hier in seiner Bedeutung umgekehrt, nmlich als Grad der Besttigungsfhigkeit. Letztere meint: Eine Proposition ist genau dann „besttigungsfhig“, wenn ihre Besttigung zurckfhrbar ist auf die Besttigung einer endlichen Klasse von Beobachtungsaussagen. Das lsst sich nach Carnap quantifizieren. 79 Klassische Empiristen gehçren dazu, etwa Bacon, Locke, Berkeley, Hume und Mill. 80 „Die Stze der Theorie mssen […] in ihrer Gesamtheit mit dem Experiment in bereinstimmung sein.“ (Mach 1907, im Vorwort zu: Duhem 1978, V) Und auch Hertz stellt die „Forderung“ auf, dass eine „gewisse bereinstimmung vorhanden sein [muss] zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt, daß die Forderung erfllbar ist […].“ (Hertz 1963, 1) Im Vergleich zu Popper zeigt sich, dass man nicht einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff fr „Prfbarkeit“ unterstellen muss, sondern dass auch pragmatistische Wahrheitstheorien mçglich sind.
2.5. Prfbarkeit – ein drittes Merkmal
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bereinstimmung mit der Erfahrung ist das einzige Kriterium der Wahrheit fr eine physikalische Theorie.“ (Duhem 1978, 22) Weitere Autoren kçnnten angefhrt werden.81 Anders als die Berechenbarkeits- und Reproduzierbarkeitsthese ist die Prfbarkeitsthese im wissenschaftsphilosophischen wie auch im innerphysikalischen Physikverstndnis also fest etabliert. Die Traditionslinie ist derart offensichtlich, dass sie kaum noch als solche hervorgehoben wird. Klassischer und Logischer Empirismus sowie Kritischer Rationalismus hatten hieran deutlichen Anteil. Kontrovers ist allerdings, was durch erfolgreiche Prfungen geleistet werden kann, nmlich (nur) positive empirische Evidenz oder (weitergehend) Wahrheit(snhe). Kontrovers ist zudem, was geprft wird: einzelne Propositionen und Theorienelemente (Popper), Basis- und Beobachtungsstze sowie Schlussformen (Carnap), Theorien-, Begriffs- und Symbolnetze (Duhem, Quine), Theoriestrukturen, Theoriekerne und ihre Anwendungen (Sneed, Stegmller). Ferner liegt keine Einheitlichkeit vor, wie, d. h. nach welchen Kriterien, eine Prfung abluft oder vernnftigerweise ablaufen sollte. Insbesondere unterscheiden sich deduktiv-hypothetische und induktiv-statistische Kriterien.82 Ungeklrt ist, ob Prfbarkeit von vornherein eine gegebene Eigenschaft von Basisstzen (bzw. der Beobachtungssprache) und auch von Theorien bzw. theoretischen Termen ist, oder ob sie selbst her- und sicherzustellen ist. Strittig bleibt der Status der Theoriesprache, die Existenz der synthetischen Urteile a priori sowie der Sinn von wissen-
81 Bspw. Redhead (1980, 156), Bondi (1971, 13) oder Drieschner (2002, 179). Wie Duhem (1978, 172 f/188 f ) so sagt analog Redhead (1980, 156), dass unter „testing of theories“ die Ableitung von „predictions for comparison with experiment“ zu verstehen ist. Hierin liege eine Funktion und ein Ziel von „models in physics“, insofern sie zwischen Theorie und Experiment zu vermitteln vermçgen und gewissermaßen (durch die Nhe zum Experiment) die methodische Bedingung der Mçglichkeit der Prfung von Theorien darstellen. Empirizitt und strker: Prfbarkeit ist notwendige Bedingung fr (Natur-) Wissenschaft, insofern sonst Theorien ihren „Boden“ und ihren „Gegenstandsbezug“ verlieren. Fr Bondi (1971, 13) ist unzweideutig, dass „berprfen, Testen und all das, wie ich ja schon gesagt habe [Wiederholbarkeit, u. a.], per definitionem zur Wissenschaft“ gehçren bzw. diese erst als solche konstituiert wird. Physik werde dadurch „definiert“, so Drieschner (2002, 179) „daß sie nach objektiven Naturgesetzen fragt, [welche …] jedermann empirisch nachprfen kann.“ 82 Falsifikation durch binre Ja-Nein-Struktur; Verifikation durch Wahrscheinlichkeitslogik.
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2. Klassisch-moderne Physik
schaftlichen Stzen.83 Im Folgenden werden die beiden Hauptlinien des Diskussion von „Prfbarkeit“ im 20. Jahrhundert skizziert. Dass mit der Prfbarkeit zunchst allgemein eine deduktive Beziehung verbunden ist, ist unverkennbar: Prfen kann man nur etwas, das schon da ist. Nicht die Genese der Theorien und Aussagen steht beim Prfen im Mittelpunkt. Vielmehr werden sie als gegeben unterstellt. Die Genese gilt als unsicher, mitunter als spekulativ. So sind die Ergebnisse der Genese immer „Hypothesen“, gewagte „Vermutungen“, die schließlich eine Prfung (Widerlegung oder Bewhrung) ermçglichen (sollten), wie bei Popper. Fr die Prfung ist die Unabhngigkeit des ußeren empirischen Gegenstands notwendig. Die Prfbarkeitsthese setzt in der hier diskutierten Spielart also partiell einen Realismus 84 voraus, um hieran ein Empirizittskriterium anzuschließen: Es gibt eine bewusstseins- und beobachterunabhngige Außenwelt, an der das Prfen empirisch mçglich ist. Theorien vermçgen Aspekte dieser Außenwelt zu reprsentieren.85 Dass „aller Naturwissenschaft“ „der Glaube an eine vom wahrnehmenden Subjekt unabhngigen Außenwelt [zugrunde] liegt“, hat Albert Einstein im Sinne des wissenschaftlichen Realismus wiederholt herausgestellt (Einstein 1991, 263). Klassisch wurde das Unabhngigkeits-Kriterium im so genannten EPR-Gedankenexperiment aus dem Jahre 1935, welches gegen die mitunter als „subjektivistisch“ und „idealistisch“ bezeichnete
83 Nach dem Verifikationsprinzip Carnaps lag der Sinn eines Satzes in der Methode seiner Verifikation. 84 Hier ist nur die Unabhngigkeitsthese in epistemologischer Hinsicht gemeint, die auch der Empirismus vertritt. Eine hilfreiche Differenzierung des wissenschaftlichen Realismus stammt von Hacking (1996, 52 ff ). Demnach gibt es zwei Typen, nmlich einen, der sich auf Theorien, und einen anderen, der sich auf Entitten bezieht. Der Theorien-Realismus besagt, dass Theorien unabhngig von der derzeitigen menschlichen Erkenntnis entweder wahr oder falsch sind. Damit ist primr eine epistemologische Position verbunden, keine ontologische, vorausgesetzt, man mçchte diese Trennung aufrecht erhalten. Der EntittenRealismus zielt auf die Struktur der Wirklichkeit und behauptet, dass die theoretischen Entitten faktisch existieren. Hacking (1996, 452) pldiert fr diesen, geht allerdings ber erkenntnistheoretische Argumente hinaus: „Der beste Beweis des wissenschaftlichen Entitten-Realismus liegt nicht im Theoretischen, sondern im Technischen.“ 85 Auch in seiner Kritik des metaphysisch verstandenen Realismus als Scheinproblem der Philosophie hat Carnap eine „Widerstndigkeit der Welt“ als unabhngige Entitt nicht leugnen kçnnen.
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Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik gerichtet war:86 „Wenn wir den Wert einer physikalischen Grçße, ohne das System in irgendeiner Weise zu stçren, mit Gewißheit voraussagen kçnnen, dann gibt es einen Bestandteil der physikalischen Realitt, der dieser Grçße entspricht.“ (ebd., 777 f )87 Realitt kann nur diejenige Entitt fr sich beanspruchen, die im Prinzip, d. h. ohne Stçrung, regelhaft ist. Popper hat seine „Theorie der objektiven Wahrheit“ als „bereinstimmung [einer Theorie] mit den Tatsachen“ verstanden (Popper 2000, 323). Der wissenschaftliche Realismus verwendet eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, nach der Theorien und ihre Elemente88 auf reale Entitten referieren, diese gar reprsentieren oder zumindest approximieren (Psillos 1999, xix).89 Auch wenn Popper einen zumindest minimalen Realismus voraussetzt,90 um einen „subjektivistischen Zirkel“ zu verhindern, ist er sich bewusst, dass er dies nur nicht-metaphysisch, in hypothetischer Art und Weise begrnden kann, nmlich als hypothetischen Realismus. Popper „schlgt vor, den Realismus als die einzige vernnftige [metawissenschaftliche] Hypothese zu akzeptieren.“ (Popper 1984, 42)91 Fr diesen gibt es Argumente, aber keine Belege. Das entscheidende Argument, so Gerhard Vollmer (1988, 179 f ) analog zu Popper, sei sein Erklrungswert.92 86 Fr Popper stand die Existenz einer beobachterunabhngigen „objektiven“ Außenwelt auf dem Spiel. 87 Weitere Kriterien waren neben dem Realismus: Lokalitt, Kausalitt, Vollstndigkeit, Verstndlichkeit. 88 Traditionell: Theoriesymbol, -zeichen und auch theoretische Terme. 89 „So, the entities posited by them [ = the scientific theories], or, at any rate, entities very similar to those posited, do inhabit the world.“ (Psillos 1999, xix) Bspw. werden demnach theoretische Entitten wie Elektronen als real anerkannt (Psillos 1999, 3). Die Mçglichkeit der Unterscheidung von theoretischen und Beobachtungstermen (Zweistufenkonzeption der Wissenschaftssprache bei Carnap) ist vielfach diskutiert, kritisiert und weitgehend fallengelassen worden. 90 Eine kontrre Lesart Poppers findet sich bei Schfer (1974, 60 f ). Schfer zeigt, „in welchem Maße Popper auf dem Boden des Konventionalismus steht.“ Ob dabei von einem Widerspruch oder einem Ergnzungsverhltnis zur blichen Vereinnahmung Poppers fr den (hypothetischen) Realismus zu sprechen ist, soll offen bleiben. Denn auch der Konventionalismus kommt ohne einen minimalen Realismus nicht aus. 91 Hier schließt Vollmer (1981, 35) an: „Wir nehmen an, daß es eine reale Welt gibt, daß sie gewisse Strukturen hat und daß diese Strukturen teilweise erkennbar sind, und prfen, wie weit wir mit dieser Hypothese kommen.“ 92 Die Argumente fr den Realismus sind „weder logischer noch empirischer noch rein historischer, sondern metatheoretischer Natur.“ (Vollmer 1988, 179 f ) Der Realismus sei eine hypothetische ontologische Setzung mit hohem Erklrungs-
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Prfbarkeit ist bei Popper sowohl in deskriptiver als auch in normativer Hinsicht zu verstehen. Popper beansprucht einerseits, die Theorieentwicklung der Physik und ihren Erklrungserfolg zu beschreiben; andererseits besitzt Prfbarkeit den Status eines methodologischen Abgrenzungskriteriums. Sie dient – als normative Forderung – der Demarkation der Wissenschaft gegenber Scheinwissenschaft und Metaphysik.93 Bei Popper sind im Zusammenhang mit seiner auf Prfbarkeit basierenden Wahrheits(hnlichkeits)theorie zwei normative Rationalittsbegriffe zu finden. Einmal bezeichnet Rationalitt die Zweckhaftigkeit der Methode. Der Falsifikationismus, das kritische Prfen von Hypothesen, wird in seinem Kern als „rational“ bezeichnet. „Die Rationalitt der Wissenschaft beruht auf dieser kritischen Prfung und der damit verbundenen wiederholten und flexiblen Wahl der neuen Theorien.“ (Popper 2000, 322) Zum anderen ist mit Rationalitt auch Intersubjektivitt in der regelgeleiteten Gewinnung von „Wahrheitshnlichkeit“ im Sinne einer korrespondenztheoretischen Wahrheitstheorie gemeint. „Rational“ bezeichnet demnach nicht nur die zweckrationale Mittel- und Methodenwahl, sondern auch das Erkenntnisziel selbst, nmlich die Wahrheitsannherung. „Fortgesetztes Wachstum“, so Popper, ist „geradezu Voraussetzung […] fr den rationalen […] Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnis.“ (Popper 2000, 312) Die korrespondenz-
wert – im Vergleich zu „bescheideneren Positionen“ wie Positivismus und Instrumentalismus. Nach dem Realismus sind genau diejenigen Theorien erfolgreicher, die die unabhngige Welt besonders gut reprsentierend approximieren. Sie stellen eine grçßere „Wahrheitsnhe“ her. Die objektive Erkenntnis wird bei Vollmer wie Popper als eine spezielle Form der korrespondenztheoretischen Wahrheitstheorie verstanden. Ansonsten werde jede Unterscheidung „zwischen reiner und angewandter Wissenschaft, […] zwischen der Suche nach Erkenntnis und der Suche nach Macht oder nach wirksamen Instrumenten“ unmçglich (Popper 2000, 329): Denn die Ntzlichkeit der angewandten Wissenschaften (Instrumentalismus) sei ja gerade kein Hinweis auf die Wahrheit der Theorien der reinen Wissenschaften. Popper und Vollmer fgen ein zweites Argument fr den wissenschaftlichen Realismus an, nmlich dasjenige der Nichtexistenz „vernnftiger Alternativen“ (Popper 1984, 42). Alle Alternativen kçnnen dem Realismus nicht stand halten, insofern sie „subjektivistisch“ seien. – Zur Kritik dieser Argumente fr den Realismus, siehe z. B. Drieschner (2002, 167 ff ). 93 Prfbarkeit und Wissenschaftlichkeit werden gleichgesetzt. „Ziel der empirischen Wissenschaft [ist es …], die Gte der Erklrungen zu verbessern, indem man den Grad der Prfbarkeit verbessert, das heißt, indem man zu immer besseren und besser prfbaren Theorien fortschreitet.“ (Popper 1984, 201)
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theoretische Wahrheitstheorie ist rational, insofern ber sie die wissenschaftliche Praxis gerechtfertigt werden kann.94 Prfbarkeit als Begriff ist nicht klassifikatorisch und zeitinvariant, sondern relational und komparativ zu verstehen. So gibt es verschiedene Grade von Prfbarkeit (Popper 1989, 77), welche den empirischen Gehalt einer Theorie kennzeichnen.95 Den Gehalt einer Theorie bestimmt Popper so als eine graduelle Grçße, die er mit der Menge der Falsifikationsmçglichkeiten gleichsetzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das von der Theorie Behauptete zutrifft, sinkt mit wachsendem Gehalt der Theorie. Der Gehalt stellt damit ein fr eine Theorie positiv qualifizierendes Kriterium dar. Je mehr Gehalt, desto mehr wird behauptet, desto riskanter ist die Aussage. Je kleiner der Gehalt, desto grçßer ist die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens der Theorie und desto trivialer ist sie. „Und da eine niedrige Wahrscheinlichkeit von Theorien bedeutet, daß die Wahrscheinlichkeit, falsifiziert zu werden, hoch ist, so folgt daraus, daß ein hoher Grad an Falsifizierbarkeit, Widerlegbarkeit oder Prfbarkeit eines der Ziele der Wissenschaft ist – in der Tat genau dasselbe wie ein hoher Informationsgehalt.“ (Popper 2000, 318 f )96 Popper setzt wie schon Bacon voraus, dass es Entscheidungsexperimente („experimentum crucis“) gibt, welche eine Theorie eindeutig als falsch ausweisen. Ein experimentelles Resultat kann den Physiker durch 94 „Eine Theorie“, so Popper, „kann selbst dann wahr sein, wenn ihr niemand glaubt, und selbst dann, wenn wir keinen Grund haben, sie fr wahr zu halten.“ (ebd., 328) So sind nicht Theorien das Ziel von Wissenschaft, sondern Wahrheit; Theorien werden zu Mitteln auf dem Wege zur Wahrheit; im eingeschrnkten Sinne ist Popper damit als Theorien-Instrumentalist zu bezeichnen. Doch was bringt die Annahme der objektiven Wahrheit, wenn man sie nicht zeigen und auch nicht erreichen kann? Popper: Sie ist als „Idee“ ein „regulatives Prinzip“ (ebd., 329). Ein wesentliches Kriterium liegt fr Popper in der „potentiellen Gte“ bzw. „potentiellen Fortschrittlichkeit“ von Theorien. Dieses Kriterium ist nicht-empirisch und besagt, daß diejenige Theorie eine „grçßere Menge […] an empirischem Gehalt besitzt, die logisch strker ist, die eine grçßere Erklrungs- und Vorhersagekraft hat und die […] strenger geprft werden kann.“ (ebd., 315) 95 quivalent sind hier „empirischer Gehalt“ und „Informationsgehalt“ (Popper 2000, 316/318). 96 Hçhere Prfbarkeit meint Unwahrscheinlichkeit des Zutreffens. „Das Kriterium dafr, ob eine Theorie potentiell befriedigend ist, ist daher Prfbarkeit oder Unwahrscheinlichkeit: nur eine sehr gut prfbare oder sehr unwahrscheinliche Theorie ist es wert, geprft zu werden; und sie ist erst dann wirklich (und nicht nur potentiell) befriedigend, wenn sie strenge Prfungen bersteht.“ (Popper 2000, 319)
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die negative Prfung zwingen, seine Theorie zu verwerfen. Im positiven Fall hat sich die Theorie zunchst bewhrt.97 Dann wchst mit dem Gehalt der Theorien die Erkenntnis, Theorien gewinnen an „Wahrheitshnlichkeit“. Ziel der Wissenschaft ist demnach nicht – wie im Positivismus – sicheres Wissen, sondern hçherer Gehalt, also riskantere Hypothesen und hçhere Grade der Prfbarkeit. Eine Immunisierung von Theorien kann und darf es nicht geben. Ansonsten wre das Wissen im positivistischen Sinne entweder trivial oder dogmatisch, also immunisierend und nichtfalsifizierbar.98 Prfbarkeit ist damit kein immanentes, von vornherein gegebenes Merkmal einer Theorie, sondern eine relationale temporre Zuschreibung, welche jeweils vor dem Hintergrund des jeweiligen Erkenntnisstandes zu sehen ist. Poppers methodologische Forderung lautet folglich: Prfbarkeit her- und sicherzustellen. Allgemeinheit, Bestimmtheit, Einfachheit, Objektivitt kçnnen auf Prfbarkeit zurckgefhrt werden bzw. sind dieser untergeordnet.99 Neben dem Popper’schen Kritischen Rationalismus steht die fr die Prfbarkeitsthese prgende Traditionslinie des Positivismus und Logischen Empirismus. Das empiristische Basistheorem besagt, dass Erkenntnis nur durch Erfahrung gewonnen und nur durch sie ausgezeichnet werden kann: ein Erfahrungsbezug ist allgemein unabdingbar (vgl. Hegselmann 1992, 9). Der Wiener Kreis hat den Begriff „Testability“ im Sinne von Prfbarkeit hufig synonym mit Verifizierbarkeit verwendet. Fr Carnap liegt in der Prfbarkeit die Mçglichkeit einer empirischen Auszeichnung 97 Der deduktiv-nomologische Zugang meint folglich: „[D]as Prfungsverfahren [ist] ein deduktives: Aus dem System werden (unter Verwendung bereits anerkannter Stze) empirisch mçglichst leicht nachprfbare […] singulre Folgerungen […] deduziert.“ (Popper 1989, 8) Diese werden dann empirisch geprft. 98 Doch ungeklrt bleibt bei Popper, vor welchem Hintergrund er ein Wahrscheinlichkeitskalkl zu erstellen vermag. Fragen treten hervor: Was ist der Wahrscheinlichkeitsraum? Was ist die Grundgesamtheit? 99 Je mehr Prfbarkeit, desto besser die Wissenschaft und desto grçßer der Fortschritt. Erkenntniswachstum, Wachstum des empirischen Gehalts und Wachstum der Prfbarkeit sind synonym. Im Rahmen von Poppers „Logik der Forschung“ zeigt sich in der Bestimmung von „Wissenschaft“ und von klassischmoderner Physik ber die Prfbarkeitsthese, dass sich unterschiedliche Aspekte mischen, etwa (1) der wissenschaftliche Realismus, mit (2) der erkenntnistheoretischen Prmisse der partiellen Erkennbarkeit der Wirklichkeit sowie mit (3) der methodologischen Prmisse der Prfbarkeit.
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von Propositionen, was als empiristisches Sinnkriterium konzipiert ist100 und sprachanalytisch bzw. logisch przisiert wurde. Zunchst versteht Carnap „Prfbarkeit“ verifikationistisch: Prfbarkeit als Verifizierbarkeit von (nicht-analytischen) Propositionen an Beobachtungen bzw. Wahrnehmung(sbericht)en (Carnap 1961). Alle sinnvollen Stze sind Beobachtungsstze oder Kompositionen derselben. Nach Poppers Kritik am Verifikationismus vernderte Carnap das Sinnkriterium und hob statt dessen die Besttigungsfhigkeit („confirmability“) als Prfbarkeit hervor (Carnap 1936/37). Besttigungsfhigkeit bzw. Prfbarkeit ersetzt die Verifizierbarkeit. Eine Proposition ist genau dann besttigungsfhig, wenn sie zurckgefhrt werden kann auf (eine Klasse von) Beobachtungsaussagen, auf Basis- oder Protokollstze.101 Die so genannte „Besttigungsfunktion“ („confirmation function“) gibt in der induktiven Logik den Grad der Wahrscheinlichkeit an, welche eine Hypothese H bei gegebenem Wissen E besitzt: c(H, E) = r, r 2 [0,1].102 Damit drckt die Besttigungsfunktion eine logische Beziehung zwischen H und E aus, nmlich die Wahrscheinlichkeit, mit der H aus E (logisch) folgt. Von Carnap103 wurde die Besttigungsfunktion als Gradmesser der empirischen Besttigung einer Theorie vorgeschlagen. Je grçßer der Wert der Besttigungsfunktion, desto strker kann die Hypothese H bei gegebenem empirischen Wissen E als geprft angesehen werden bzw. desto wahrscheinlicher folgt die Hypothese H aus dem gegebenen empirischen Wissen E. Das empiristische Sinnkriterium basiert auf der Forderung nach Prfbarkeit. Dabei handelt es sich ebenfalls, wie bei Popper, um ein Abgrenzungskriterium. Die Prfbarkeit soll eine Demarkation bilden zwischen sinnvollen Aussagen von Wissenschaftssprachen einerseits und sinnlosen Aussagen der Metaphysik andererseits: Der Sinn einer Proposition ist die Methode seiner Prfbarkeit.104 Vor dem Hintergrund der
100 Metaphysik-kritisch als zweites Basistheorem des Logischen Empirismus, vgl. Hegselmann (1992, 10). 101 Carnap unterscheidet ferner zwischen vollstndiger und unvollstndiger Besttigungsfhigkeit. 102 Hier tritt eine Schlussfolgerungsform auf, die in der Mathematik als „Hypothesentest“ bezeichnet wird. 103 U.a. in enger Zusammenarbeit mit Hans Reichenbach. 104 Spter hat sich gezeigt, dass das empiristische Sinnkriterium allzu eng ist. Dispositionsbegriffe etwa sind nicht durch eine reine Beobachtungssprache definierbar. In der Folge wurde die Wissenschaftssprache (durch Carnap u. a.) zwei-
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Kritik Poppers an diesem stark verifikationistischen Prfbarkeitsverstndnis hat Ayer (1946) eine Spezifizierung mit seinem Kriterium der „partiellen Prfbarkeit“ vorgenommen. Eine nicht-analytische Proposition wird demnach als sinnvoll bzw. als prfbar bezeichnet, wenn sie entweder selbst eine Beobachtungsaussage ist oder gemeinsam mit adquaten Zusatzannahmen beobachtbare Konsequenzen nach sich zieht, welche nicht ihrerseits aus den Annahmen folgen. Auf gegebene Hypothesen bezogen tritt im Logischen Empirismus die Prfbarkeitsthese als induktiv-wahrscheinlichkeitslogisches Schließen auf: erst die Hypothesengenese, dann die Hypothesenprfung zur Geltungszuweisung des Schließens (W ! H) und zur Verifikation der Gehaltserweiterung („Hypothesentest“). Hier zeigt sich eine gewisse deduktive Struktur. Dem Logischen Empirismus geht es primr um Rechtfertigung des induktiven Schlusses, um die Verallgemeinerung bzw. Universalisierung, whrend der Kritische Rationalismus nicht auf die Schlussrechtfertigung zielt, sondern auf die Bewhrung von Theorien („kritische Prfung“). Im ersten Falle erfolgt die Prfung des Schlusses („Induktivismus“), im zweiten die Prfung der Theorie („nomologischer Deduktivismus“). In beiden Fllen wird durch die Prfbarkeit ein Kontakt zur Empirie hergestellt („Empirizittskriterium“), Intersubjektivitt gewhrleistet („Rationalitts“- oder „Objektivittskriterium“) und ein Erkenntnisfortschritt ermçglicht („Gehaltswachstums-Kriterium“). Mit der Popper’schen und der Carnap’schen Position sind die beiden prgenden Traditionslinien skizziert; beide beziehen sich auf die klassisch-moderne Physik, insbesondere auf die Klassische Mechanik und die Relativittstheorie(n). Nun kçnnte weiter differenziert werden (mit Charpa 1996, 161 ff ), etwa zwischen direkter Prfung, Prfung durch Einzelereignisse, Bayesianischer Prfung und rckbezglicher Prfung.105 gliedrig aufgebaut: aus Beobachtungssprache und aus theoretischer Sprache (Theoriesprache). 105 Direkte Prfung meint eine direkte Einsicht, empirisch-quantitative Evidenz, berwltigende Plausibilitt anhand von Ereignissen, etwa in der Beobachtung eines postulierten Sternes. Die direkte Prfung schließt an alltgliche Erfahrungen an, welche ihre berzeugung und Rechtfertigung aus direkter Einsicht zu gewinnen vermçgen. Das war der Ausgangspunkt des Logischen Empirismus, um die Konzeption von Basisstzen und Beobachtungsaussagen plausibel zu machen (klassischer logischer Empirismus). Die Prfung durch Einzelereignisse kann als Spezifikation der direkten Prfung angesehen werden, insofern nun die Singularitt herausgestellt wird. Eine (aus einer Theorie abgeleitete) Proposition, etwa die Existenz des Top-Quarks oder eines bestimmten Objektsystem-Zustandes, kann dadurch besttigt werden, dass das Top-Quark tatschlich empirisch ge-
2.5. Prfbarkeit – ein drittes Merkmal
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Naheliegend sind die Fragen: Was wird woran unter Verwendung welcher Methoden bzw. welcher Kriterien geprft? Der letzte Punkt ist insofern von Bedeutung, als die bislang vorherrschende generalisierende Sprechweise von Prfbarkeit und von Prfung einiges unterschlgt. Schließlich treten in der Prfbarkeit Konstruktionen und Konventionen hervor. Maßgrçßen und Metriken sind zu bilden, Methoden zu entwickeln. Die dafr notwendigen Kriterien stecken nicht in der Natur der Sache, sondern weisen Kontingenzen auf. Nach Poppers normativer Anforderung soll die Hypothese nach hnlichkeitskriterien relativ zu einer Datenreihe der empirischen Phnomene geprft werden. Nun ist nicht nur der Begriff der „Wahrheit“ problematisch; der der „hnlichkeit“ ist es in methodologischer Hinsicht ebenfalls. hnlichkeit als Kriterium setzt die Konstruktion eines Maßes voraus, beispielsweise eines Abstandsmaßes. Ansonsten ist kein Vergleich zwischen theoretischen und empirischen Daten mçglich. So erscheint die Standardabweichung als relevantes Abstandsmaß und der Chi-Quadrat-Test als kanonisches Verfahren.106 Diese Konstruktionen bleiben meist, wie auch bei Popper, implizit.107
funden wurde („Entittenexistenz-Prfung“) oder das System sich in dem postulierten Zustand befindet („Zustandsexistenz-Prfung“). Fr die Mçglichkeit mehrerer Ereignisse und fr eine Induktionslogik (wie bei Carnap) ist die Prfung als Bayesianische Prfung ausgearbeitet, insofern von einer Wahrscheinlichkeits-Prfung einer Hypothese auf Basis der Evidenz vor dem Hintergrund des vorliegenden Wissens bzw. der Theorie gesprochen wird. Damit liegt eine wahrscheinlichkeitstheoretische Interpretation der Prfung einer Hypothese bzw. des Schließens auf die Hypothese vor. Zur Herstellung der Prfbarkeit und zur Ermittlung des Besttigungs- bzw. Bewhrungsgrades wird eine Art mathematischer „Hypothesentest“ durchgefhrt (modifizierter logischer Empirismus). Von rckbezglicher Prfung kann gesprochen werden, wenn „theoretische Vermutungen genutzt werden, um Einzelflle zu kalkulieren, und aus der Verwertung der besttigten Kalkulation ergibt sich die Evidenz fr die Theorie selbst.“ (Charpa 1996, 166). Rckbezglich ist diese Prfung trivialerweise, insofern die Prfung ausgeht von einer im Rahmen der Theorie gewonnenen Vermutung („Hypothese“). Hier zeigt sich die Theoriebeladenheit von Prfungen. 106 Das Lebesgue-Maß gilt als das physikalische Maß schlechthin, obwohl andere Maße ebenfalls als physikalisch verstanden werden kçnnten. Im Rahmen der klassisch-modernen Physik wird die sich schon hier zeigende Konventionalitt zu keinem eigenstndigen Thema. 107 Metriken, Topologien und Familienhnlichkeiten liegen nicht in der Natur der Sache, sondern stellen Konventionen und Konstruktionen dar, fr welche jeweils Kriterien zur Spezifizierung anzugeben sind. Eine Nhe zu Spielarten des methodologischen Konstruktivismus tritt hervor: Protophysikalisches zeigt sich.
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Zusammenfassend findet sich in beiden Positionen die leitende Idee der approximativen bereinstimmung von Theorie und Empirie: Je „nher“ die durch theoretische berlegungen aus Gesetzen abgeleitete Kurve (Deduktivismus) oder der induktiv-mathematische Funktionen-Fit (Induktivismus) zu den empirischen Beobachtungsdaten(punkten) ist, je „besser“ die Reprsentation, desto „mehr“ spricht fr ein Gesetz. Bei einer Prfung wird demnach die Theorieseite mit der Daten- und Faktenseite zusammengefhrt – und damit empirische Evidenz (Empirismus) bzw., strker, wissenschaftliche Wahrheit (Realismus) hergestellt. Vorausgesetzt wird nicht nur, dass diese beiden Seiten (zunchst) getrennt sind oder zumindest getrennt werden kçnnen. Vielmehr wird unterstellt, dass adquate Kriterien fr ein konstantes Zusammenfhren zu finden sind. Diese Annahmen werden angesichts der Instabilitten spter zu problematisieren sein.
2.6. Reduzierbarkeit, Vereinheitlichung, Erklrbarkeit – ein viertes Merkmal Sparsamkeit, Einfachheit und Verdichtung gelten als zentrale methodologische Anforderung an physikalische Theorien – und als notwendige Bedingung fr ihre Erklrungsleistung: Physik als redundanzeliminierende, effiziente und effektive Beschreibung von Natur. „Alle Physiker sind einstimmig darin, daß es die Aufgabe der Physik sei, die Erscheinungen der Natur auf die einfachen Gesetze […] zurckzufhren“, so Heinrich Hertz (1963, XXV).108 Einfachheit wird oftmals als Einheitlichkeit (der Naturgesetze) und ferner (ontologisierend) als Einheit (der Natur) gefasst und mit einem deduktiv-nomologischen Erklrungsverstndnis parallelisiert, also als Subsumtion unter allgemeine Gesetze:109 Die Phnomene „der Natur sind vielgestaltig. Die Physik stellt zwischen Gruppen von ihnen Einheit her, indem sie sie unter abstrakte Oberbegriffe und Gesetze bringt.“ (Weizscker 1974, 133). 108 Und Hawking (1988, 25) meint: „Letztlich ist es das Ziel der Wissenschaft, eine einzige Theorie zu finden, die das gesamte Universum beschreibt.“ 109 So sagte Kepler (1971, 113) ontologisierend: „Die Natur liebt Einfachheit und Einheit.“ Rueger und Sharp (1996, 93) stellen heraus: „The laws’ explanatory power seems to be closely related to their simplicity.“ Einfachheit, Einheit und Erklrungskraft werden oft gleichgesetzt; vgl. kritisch Kitcher (1981) und Kitcher (1993).
2.6. Reduzierbarkeit, Vereinheitlichung, Erklrbarkeit – ein viertes Merkmal
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Klassisch-moderne Physik wird durch Vereinheitlichung gekennzeichnet. Diese sei, so David Lindley, „das eigentliche Thema, das Rckgrat der modernen Physik, und fr die meisten Physiker bedeutet Vereinheitlichung die Entdeckung einer geordneteren, verstndlicheren mathematischen Struktur, die bisher getrennte Phnomene miteinander verknpft.“ (Lindley 1997, 11) Je grundlegender die nomologische Einheitlichkeit erscheint, je tiefschichtiger die Reduktion, desto hçher sei ihre Erklrungsleistung und der physikalische Gehalt der Theorien.110 Dass die Physik in diesem Sinne schon hinreichend erfolgreich war – insofern drei der vier fundamentalen Gesetze („Krfte“), nmlich der Elektromagnetismus, die schwache und starke Kernkraft, in einem vereinheitlichten Gesetzeskorpus vorliegen, sich derzeit nur die Gravitation(skraft) der Vereinheitlichung entzieht – gilt als einschlgiger Beleg dieses Physikverstndnisses. Damit ist gleichzeitig eine kontextunabhngige Universalismusthese verbunden, nmlich „daß wir eine physikalische Theorie nur dann fr tiefliegend halten, wenn sie ziemlich universal ist.“ (Bondi 1971, 14) hnliches wird in Variationen von vielen anderen artikuliert.111 110 „Die Zielsetzung der ,modernen‘ Physik“, so der Physiker Mayer-Kuckuk (1985, 9) im Vorwort seines Standard-Lehrbuchs „Atomphysik“, „besteht darin, die experimentell beobachtbaren Erscheinungen zurckzufhren auf wenige elementare Wechselwirkungen und Eigenschaften der Teilchen. Das bedeutet, daß in allen Beschreibungen nur eine Reihe von fundamentalen Naturkonstanten […] auftreten, im Gegensatz zu der lteren phnomenologischen Darstellung.“ 111 Gleichlautend meint Dirac (1966, 1): „Our object is to get a single comprehensive theory that will describe the whole of physics.“ Fr Feynman (1987, 33) „ist […] das Ziel [der Physik], die gesamte Natur als verschiedene Erscheinungen eines Satzes von Phnomenen zu erklren. Das ist das Problem der fundamentalen theoretischen Physik von heute: die Gesetze hinter den Experimenten zu finden; diese verschiedenen Klassen zu verschmelzen.“ Ferner: „Die Physik ist die grundstzlichste und die allumfassendste der Naturwissenschaften, und sie hatte einen nachhaltigen Effekt auf alle wissenschaftlichen Entwicklungen.“ (Feynman 1987, 46) Planck (1949, 106) meint, dass Wissenschaft, insbesondere die Physik, in die Flle der Sinnesreize „Ordnung“ bringen solle. „[D]as Hauptziel einer jeden Wissenschaft ist und bleibt die Verschmelzung smtlicher in ihr groß gewordenen Theorien zu einer einzigen, in welcher alle Probleme der Wissenschaft ihren eindeutigen Platz und ihre eindeutigen Lçsungen finden.“ Vereinheitlichung meint i.A. Reduktion auf wenige Prinzipien, Krfte, mathematische Strukturen, Naturgesetze. Im Lehrbuch „Physik compact“ wird als „ein Ziel der physikalischen Forschung das Zurckfhren aller Naturerscheinungen auf mçglichst wenige Grundgesetze (Grundbausteine, Grundkrfte) [angesehen].“ (Jaros et al. 1990) Drieschner (2002, 13) stellt heraus, dass „[h]eute […] die
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„Reduktion“ in diesem Rahmen meint (formale und interpretationserhaltende) Zurckfhrung einzelner Phnomene unter allgemeine Theorien und – weitergehend mitunter – umfassendere Theorienreduktion (Scheibe 1997/1999). Das kann instrumentalistisch-empiristisch („Beschreibung“) oder auch realistisch („Erklrung“) verstanden werden.112 „Erklrung“ wird in Anlehnung an das („covering law“) Modell von Hempel und Oppenheim – und in vielfltigen Weiterfhrungen – gedeutet (Hempel/Oppenheim 1948; Hempel 1965). Prominente Beispiele fr theoriereduktive Erklrungen und redundanzeliminierende Beschreibungen sind mit den Namen Newton, Maxwell, Einstein oder auch Darwin verbunden. So kann James Woodward das hier vorliegende reduktive Erklrungsverstndnis als „common view“ bezeichnen; „explanation in the special sciences involves subsumption under laws.“ (Woodward 2000, 197)113 Unabhngig, ob man Spielarten eines Instrumeisten Gelehrten [der Physik und der Wissenschaftstheorie der Physik] davon berzeugt [sind], daß alle naturgesetzliche Beschreibung der Wirklichkeit sich letztlich im Prinzip zurckfhren lßt auf wenige sehr allgemeine Stze ber elementare Teilchen und Felder.“ In seinem Buch „Der Traum von der Einheit des Universums“ hat Weinberg (1995, 241) ein „Lob des Reduktionismus“ verfasst. „Wir kçnnen beobachten, daß sich die Pfeile der Erklrungen in diesem Jahrhundert auf einen Punkt konzentrieren, so wie die Meridiane auf den Nordpol zulaufen.“ „[Der Reduktionismus] ist nicht mehr und nicht weniger als die Erkenntnis, daß wissenschaftliche Prinzipien zu erklren sind und daß all diese Prinzipien sich auf einen einzigen, einfachen und in sich zusammenhngenden Korpus von Gesetzen zurckfhren lassen. [… Es hat] den Anschein, daß wir diesen Gesetzen am besten durch die Physik der Elementarteilchen nherkommen.“ (Weinberg 1995, 60) 112 Letztere Position ist gngiger. „Statt ,Reduktion‘ kçnnte man auch sagen: Erklrung physikalischer Theorien (durch andere).“ (Scheibe 1997, 1) „Da Reduktionen mehrerer Theorien auf eine einzige zu einer Vereinheitlichung ersterer in letzterer fhren, ist das [von Scheibe vorgelegte] Buch auch ein Beitrag zur Einheit der Physik.“ (Scheibe 1997, 1) Fr die Synonymverwendung von „Reduktion“, „Vereinheitlichung“ und „Einfachheit“ argumentiert auch (kritisch) B.–O. Kppers. „Das Postulat von der Einheit Natur ist auch der wissenschaftsphilosophische Kern des so genannten reduktionistischen Forschungsprogramms.“ (Kppers 1987, 45) 113 In diesem Verstndnis drckt sich gegenber jeder vermeintlich instrumentalistischen Verkrzung des Empirismus oder Positivismus eine erklrungstheoretische Ausrichtung und ein zentraler Anspruch aus (vgl. Deutsch 2000, 14; Popper 1984, 198). „Zur Vermehrung des Wissens gehçrt mehr als nur die experimentelle Besttigung. Die allermeisten Theorien werden verworfen, weil sie schlechte Erklrungen geben, nicht, weil sie sich nicht experimentell besttigen lassen.“ (Deutsch 2000, 14) Popper hatte als das zentrale Ziel, gegenber einem reinen Empirismus und Instrumentalismus, hervorgehoben, „daß es das Ziel der
2.6. Reduzierbarkeit, Vereinheitlichung, Erklrbarkeit – ein viertes Merkmal
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mentalismus, Empirismus oder Realismus vertritt, zeigt sich jeweils die Signatur einer rationalistischen konomie: die Redundanzeliminierung. Anders als die Prognostizierbarkeits- und die Reproduzierbarkeitsthese stellt die Reduzierbarkeitsthese einen kontrovers- und vieldiskutierten Topos dar.114 Descartes, Leibniz und Kant haben hieran ebenso Anteil wie Comte und der Logische Empirismus mit seinem sprachanalytischen Einheitsprogramm („Unifying Science“); auch Popper mit seiner „Forschungslogik“ oder Carl Friedrich v. Weizscker mit seiner „Einheit der Natur“ kçnnen dazu gezhlt werden. Es gibt kaum eine wissenschaftsphilosophische Diskussion im Umfeld der Physik, die nicht davon berhrt wre; die Reduktionismusproblematik – und mit ihr Fragen nach Kriterien fr erfolgreiche Beschreibungen und Erklrungen – stellt in der Wissenschaftsphilosophie ein Kernthema dar. Sie weist eine lange facettenreiche Traditionslinie auf, in deren Zentrum unterschiedliche Spielarten des Rationalismus stehen.115 Der Rationalismus Descartes’ ist in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht grundlegend fr das Projekt moderner Naturwissenschaften, fr ihren deduktiven Aufbau und ihre reduktive Beschreibbarkeitsthese.116 Descartes hat in seinem Werk Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft nicht nur allgemein herausgestellt, dass „zur wissenschaftlichen Forschung […] Methode notwendig“ sei (Descartes 1979, 13) und sich diese in „zuverlssige[n] und leicht zu befolgende[n] Regeln“ zeige. Vielmehr spezifiziert Descartes in seiner fnften Regel: Die wissenschaftliche Methode besteht darin, Zuverlssigkeit, Klarheit, Deutlichkeit und Evidenz durch Reduktionen zu erzeugen, nmlich indem man „verwinkelte und dunkle Propositionen stufenweise auf einfachere zurckfhre.“ (ebd., 16) Die erklrungstheoretische Reduktion wird mit einer gegenstandsorientierten Reduktion (etwa in der Wahl und Konstitution des empirischen Wissenschaft ist, befriedigende Erklrungen zu finden […].“ (Popper 1984, 198) 114 In ihrer Kritik an diesem reduktionsorientierten Physikverstndnis geht beispielsweise Cartwright (1999, 1) sogar soweit, von einem „fundamentalistischen“ Einheitsprojekt mit „imperialistischer Tendenz“ zu sprechen. All diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen, die nicht dem erklrungstheoretischen Reduktionismus mit seiner Ableitungsbeziehung folgen, kçnnten diesem Abgrenzungskriterium zum Opfer fallen. 115 Das Werk von Stegmller (1969) gibt einen umfassenden Einblick in dieses Thema. 116 Scheibe (1986) hebt das Projekt der „Einheit der Physik“ in die rationalistische Traditionslinie.
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untersuchten Objektsystems) verbunden, etwa der Isolation eines Gegenstands von der Umwelt. In Regel 9 hebt Descartes – was fr die klassisch-moderne Physik kennzeichnend ist – die Orientierung an der ganz kleinen Natur hervor: Es ist „zweckmßig […], die Erkenntniskraft ganz den kleinsten und hçchst einfachen Sachverhalten zuzuwenden und lngere Zeit dabei zu verweilen, solange bis es uns zur Gewohnheit wird, die Wahrheit in deutlicher und scharfblickender Intuition zu erfassen.“ (ebd., 30)117 Reduktive Erklrungen im Sinne Descartes’ sind somit formale Ableitungsbeziehungen von komplizierteren zu einfacheren mathematischen Strukturen; dazu gehçrt auch die Subsumtion von empirischen Phnomenen unter einfache Theorien.118 Hier schließt auch Kant an. Dieser sah die Rckfhrung einzelner Erscheinungen auf allgemeine Gesetze als Kern von Erklrungen an. Fr Kant ist „die Ersparung der Prinzipien nicht bloß ein çkonomischer Grundsatz der Vernunft, sondern inneres Gesetz der Natur“ (KrV B 678 / A 650), womit er auf die regulative Idee der Einheit hinweist, „nach welcher jedermann voraussetzt, diese Vernunfteinheit sei der Natur selbst angemessen“ (KrV B 681 / A 653). Einheit durch Reduktion stellt eine synthetische Konstruktionsleistung dar, die gerade die physikalische Erkenntnis auszeichnet und die Natur als Natur kennzeichnet. Das Einheitsstreben liegt im Erkenntnissubjekt und seiner Vernunft, ist aber gleichzeitig der Natur angemessen, insofern diese daraus durch Prinzipien hervorgebracht wird: „Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d.i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehçrig zu einem mçglichen System, und verstattet daher auch nur solche Prinzipien, die eine vorhabende Erkenntnis wenigstens nicht unfhig machen, in irgendeinem System mit anderen zusammen zu stehen.“ (KrV B 502 / A 473)119 Skeptikern der (regulativen) Idee der Einheit erwiderte Kant: „Dieser Einheit, ob sie gleich eine bloße Idee ist, ist man zu allen Zeiten
117 Ferner gilt die Mathematik als Vorbild zuverlssiger Erkenntnis, insofern sie mit einem „so reinen und einfachen Objekt umgeht, daß sie gar nichts voraussetzen, was die Erfahrung unsicher machen wird, sondern ganz auf vernnftige Deduktionen von Folgerungen beruhen.“ (ebd., 7) 118 Dabei ist die Frage nach der Bedeutungsgenerierung, der semantischen Inkonsistenz und der Inkommensurabilitt noch nicht mitbedacht. Derartige Fragen werden erst in der Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts gestellt. Doch Descartes war wegweisend, insofern er den deduktiven Aufbau der Physik begrndete. 119 Vgl. auch KrV (B 673 / A 645; B 694 / A 666).
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so eifrig nachgegangen, daß man eher Ursache gefunden, die Begierde nach ihr zu mßigen, als sie aufzumuntern.“ (KrV B 680 / A 652)120 Diese nicht-empirischen, transzendentalen Grundlagen der klassischen Rationalisten waren Empiristen und Positivisten fremd: Allzuviel Metaphysik war notwendig, um Rationalismus und Tranzendentalismus zu sttzen und dem eigenen Begrndungsanspruch zu gengen. Poppers Kritischer Rationalismus war demgegenber bekanntlich der Versuch, den Rationalismus (vermeintlich) unmetaphysisch als Methodologie zu setzen und mit empiristischen Spielarten zu versçhnen. Versteht man den Rationalismus nicht nur als Epochensammelname und betrachtet ihn statt dessen als methodologische Norm, etwa fr gute wissenschaftliche Erklrungen und Beschreibungen, zeigt sich eine deutliche Nhe zu positivistischen Spielarten. Die Reduktionsthese des Descartes tritt auch im Positivismus und Neo-Positivismus hervor, obwohl sie dort eine andere Begrndung erfhrt, nmlich als çkonomisch kompakte Beschreibung zur Erfahrungsersparnis: Physik gilt als „ein Meisterstck an Verdichtung“ (Gell-Mann 1998, 143; Mach 1988, 457 ff ). Reduktion kann ber das Ziel der „Denkçkonomie“ verstanden werden, primr als Beschreibungs- und weniger als Erklrungsleistung: Beobachtete Einzelphnomene (als Besonderes) sollen auf allgemeine Phnomengruppen („Gesetze“) reduziert werden, wie Comte (1880, 4 f ) forderte. „Der Zweck aller unserer Bestrebungen ist [… die] Reduktion [aller …] Erscheinungen […] auf [… eine] mçglichst geringe Zahl“ „unabnderlicher Naturgesetze.“ (Comte 1880, 10) Nur die „zahlenmßige“ Reduktion, die Kompaktheit der Beschreibung, nicht die Erklrungsleistung steht im Zentrum. Bei der Reduktion solle man, so Comte in antimetaphysischer Grundhaltung, nicht nach den Ursachen, z. B. der Ursache der Schwerkraft, suchen, sondern man solle sich mit den „Naturgesetzen“ zufrieden geben.121 Damit ist die Aristotelische Forderung verabschiedet, 120 Mill hat hieran anschließend ein systematisches Modell der Erklrung vorgeschlagen, bei dem das zu erklrende Naturereignis unter ein allgemeines Naturgesetz subsumiert werde. Daraus hat sich das Subsumtionsmodell wissenschaftlicher Erklrungen entwickelt, wie es in der reduktiven Erklrbarkeitsthese hervortritt. 121 Bemerkenswert ist, dass Comte nicht auf einen Erklrungsbegriff verzichtet, sondern unter „Erklrung“ dasjenige versteht, was heute „Beschreibung“ meint. „Die Erklrung der Tatsachen […] ist nunmehr nur noch die festgestellte Verbindung zwischen den verschiedenen Einzelerscheinungen und einigen allgemeinen Tatsachen, deren Zahl mehr und mehr zu mindern die Wissenschaft bestrebt ist.“ (Comte 1880, 3).
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dass Erklrungen Antworten auf umfassende „Warum“-Fragen geben durch Angabe von Ursachen. Nicht einmal die Wirk-Ursache tritt als „Ursache“ hervor.122 Diese Traditionslinie wird weitergefhrt, etwa von Mach in seinem Empiriokritizismus123 und von den Logischen Empiristen. Von einer deduktiven Entwicklung der Mechanik spricht Mach (1988, 272) in seiner im Jahre 1883 erschienenen Mechanik und meint damit, dass „[d]ie Newton’schen Prinzipien […] gengend [sind], um ohne Hinzuziehung eines neuen Prinzips jeden praktisch vorkommenden mechanischen Fall […] zu durchschauen.“ (ebd.) Deduktionen, also Ableitungsbeziehungen aus grundlegenden Tatsachen bzw. allgemeinen Prinzipien, kennzeichnen die besonders reife Wissenschaft.124 In der deduktiven Struktur im Aufbau der Physik zeigt sich nach Mach eine „Denkçkonomie“, welche als normatives Prinzip, als konomieprinzip, gefasst werden kann.125 Nach dem konomieprinzip hat „[a]lle Wissenschaft […] Erfahrung zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung von Tatsachen in Gedanken.“ (ebd., 457)126 Es stellt nicht nur ein ußeres (erkenntnistheoretisches) Prinzip dar, das an Wissenschaft herangetragen wird. Vielmehr bildet es den ausweisbaren Kern von Physik (und sogar Natur) selbst. „[D]ie Ermittlung der Abhngigkeit der Phnomene voneinander, die çkonomische Darstellung des Tatschlichen, wird das Ziel, die physikalischen Begriffe [dienen] lediglich als Mittel zum Zwecke.“ (ebd., 258) Einfachheit, Kompaktheit, bersichtlichkeit, Ordnung, 122 Jenseits dieser Engfhrung zeigen sich im Positivismus jedoch Desiderate des rationalistischen Descartes’schen Erklrungsprogramms. Ob die positivistische Selbsteinschtzung gerechtfertigt ist, dass es mçglich sei, ohne die rationalistischmetaphysischen Grundlagen mit zu bernehmen oder gar die ontologischen Setzungen eines Realismus annehmen zu mssen, ist eine offene, vieldiskutierte Frage. 123 Empiriokritizismus (vgl. Mach 1988, 458 f ) bezeichnet die erkenntnistheoretische Richtung des lteren Positivismus, der sensualistische Elemente enthlt und auf einer (vermeintlich) deskriptiven Empfindungsanalyse aufsitzt. 124 „Sind einmal alle wichtigen Tatsachen einer Naturwissenschaft durch Beobachtung festgestellt, so beginnt fr diese Wissenschaft eine neue Periode, die deduktive. […] Es gelingt dann, die Tatsachen in Gedanken nachzubilden, ohne die Beobachtung fortwhrend zur Hilfe zu rufen.“ (ebd., 409) 125 Wissenschaft ist nach Mach ein Anpassungsprozess, welcher durch das konomieprinzip (als Optimierungsprinzip) ausgerichtet ist. Die Anpassung meint (a) „Anpassung an Tatsachen“ (Empirizitt) und (b) „Anpassung der Gedanken aneinander“ (Konsistenz) (vgl. Wolters, im Vorwort zu: Mach 1988, IX). 126 Mach verwendet, wie in der Traditionslinie von Empirismus, Positivismus und Logischer Empirismus blich, „Wissenschaft“ und „Physik“ synonym.
2.6. Reduzierbarkeit, Vereinheitlichung, Erklrbarkeit – ein viertes Merkmal
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„Sparsamkeit“ und „Krze“, schließlich auch „Einheitlichkeit“ und „Widerspruchslosigkeit“ der Beschreibung (ebd., 5/6) werden als zentrale Kennzeichen von Physik angesehen, wie sie in der Klassischen Mechanik realisiert seien (ebd., 429 f ).127 Lassen sich die Tatsachen derart zerlegen und çkonomisch-kompakt unter einen theoretischen Ausdruck subsumieren, so kann man sie umgekehrt auch aus diesen deduzieren (ebd., 461).128 Mach zielt nicht nur auf die Anpassung von „Gedanken“ (Theorien, Beschreibungen) an „Erlebnisse“ (Erfahrungen), sondern insbesondere auf Anpassung der Gedanken aneinander. Fr unterschiedliche konkurrierende Gedanken gelte das konomieprinzip, insofern „eine von diesen Ableitungen […] der konomie besser [entspricht] als die anderen.“ (ebd., 471) Das konomieprinzip stellt nicht nur eine deskriptive Analyse von wissenschaftlichen Theorien dar, sondern wird von Mach auch als ein normatives „teleologisches […] Leitmotiv“ aufgefasst (ebd., 471), eben als prskriptives Prinzip: Sei sparsam, kurz, kompakt, einheitlich, widerspruchsfrei in der Beschreibung.129 Damit kann es als methodologisches Kriterium zur Beurteilung von Theorien herangezogen werden. Bekannt ist das konomieprinzip in der traditionellen Formulierung des Ockham’schen Rasiermessers: Entia non sunt multiplicanda sine necessitate.130 Dass schon terminologisch, erst Recht aber der Sache nach im konomieprinzip ein Abgrenzungskriterium mit antimetaphysischer Grundhaltung (bspw. ebd., XIX) wurzelt, ist offenkundig. Mach geht davon aus, dass der çkonomische Charakter und der Hinweis auf die „Funktion von Wissenschaft“ allgemein der „Mystik“ und „Metaphysik“ (ebd., 457) widerspricht. So „ersetzt“ Mach den „Begriff ,Ursache‘ […] 127 Damit ist die Mechanik in der Hamilton’schen und in der Langrange’schen Form gemeint. „Am weitesten nach der çkonomischen Seite sind die Wissenschaften entwickelt, deren Tatsachen sich in nur wenige gleichartige abzhlbare Elemente zerlegen lassen, wie z. B. die Mechanik.“ (ebd., 461) 128 „Bei hçher entwickelten Wissenschaften gelingt es, die Nachbildungsanweisung fr sehr viele Tatsachen in einen einzigen Ausdruck zu fassen.“ (ebd., 461) 129 Dem konomieprinzip werde dadurch Folge geleistet, dass „man Methoden aufsucht, mçglichst viel auf einmal und in der krzesten Weise zu beschreiben.“ (ebd., 6) Das konomieprinzip kann als Anforderung an die Formulierung einer Theorie („innertheoretisch“) sowie an die Zusammenfassung von Theorien („intertheoretisch“) verstanden werden. 130 Eine derartige Formulierung findet sich bei Ockham selbst allerdings nicht. Doch das konomieprinzip wird Ockham zugeschrieben, insbesondere als Hintergrund fr seine spezifische Metaphysikkritik und fr seine ußerungen gegen Spielarten des Platonismus.
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daselbst durch den Funktionsbegriff.“ (ebd., 258) Weniger explizit wird der Erklrungs- durch den Beschreibungsbegriff abgelçst bzw. „Erklrung“ als „Beschreibung“ verstanden: Nicht nach dem Warum, sondern nach dem Wie solle Physik fragen. Was çkonomisch durch mathematische Funktionen beschrieben sei, sei nicht „mehr verwirrend“ und gelte als „erklrt“ (ebd., 6): Ziel der Naturwissenschaft sei eine „bersichtliche und vollstndige Beschreibung“ (ebd.), keine ursachenorientierte Erklrung, an welcher metaphysische Desiderate kleben mçgen.131 So liegt also im konomieprinzip eine Einfachheits- und Sparsamkeits-Norm:132 Physiker sollten mçglichst wenige theoretische Entitten, Ausdrcke, Symbole, Zeichenketten („Universalien“) sowie mçglichst einfache Darlegungen, Formulierungen, Ausdrcke zur Beschreibung, Erklrung, Explikation, Definition verwenden. Schon bei Galilei und bei Kepler finden sich derartige konomie-Argumente, aber auch spter bei Newton und Maupertuis.133 Hertz hat das konomie- als Einfach(st)heitsprinzip zur Entscheidung zwischen konkurrierenden Theoriesystemen herangezogen. „Bei gleicher Deutlichkeit wird von zwei Bildern [= Theorien] dasjenige zweckmßiger sein, welches neben den wesentlichen Zgen die geringere Zahl berflssiger oder leerer Beziehungen enthlt, 131 hnlich hatte Nietzsche (1930, 131) herausgestellt: „,Erklrung‘ nennen wir’s: aber ,Beschreibung‘ ist es, was uns vor lteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet.“ „Es dmmert jetzt vielleicht […], dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und nicht eine Welt-Erklrung ist.“ (Nietzsche 1993, 19) Dabei setzt Mach – anders als Nietzsche – naturalisierend Wissenschaft als Teil einer umfassenden Menschennatur voraus, als Lebens- und Handlungsußerung des Menschen, welche gerade diesen als solchen kennzeichnet. Ob bei Mach nicht gar eine implizite Anthropologie zugrunde liegt und diese gar metaphysische Prmissen aufweist, ist eine offene Frage; zu Mach siehe auch Mises (1992, 258). 132 Vgl. auch Vollmer (1988, 168): Differenzierungen zwischen ontologischer Sparsamkeit und methodologischer Einfachheit seien notwendig. 133 Rckblickend zeigt sich, dass das konomieprinzip schon von Galilei als (ontologisch-methodologisches Hybrid-) Argument fr das Kopernikanische und gegen das Ptolemische System verwendet wurde (Dialoge II, VII, 142 f ). Galilei zeichnete die gleichfçrmig beschleunigte Bewegung als die „allereinfachste“ aus: die Sprache im Buch der Natur ist eine einfache und sparsame. Bei Kepler in seinem „Mysterium cosmographicum“ wurde das konomieprinzip als Sparsamkeitsmaxime in erster Linie als Spiegel der Natur, d. h. im weiteren ontologisch-naturphilosophischen Sinne verwendet. Fr Newton gelten diejenigen Erklrungen als einfach, die mit mçglichst wenigen Ursachen auskommen. Doch im 19. Jahrhundert, insbesondere bei Mach, wird das konomieprinzip radikal als Denkregel aufgefasst und als Einfachheits-Norm dargelegt.
2.6. Reduzierbarkeit, Vereinheitlichung, Erklrbarkeit – ein viertes Merkmal
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welche das einfachere ist.“ (Hertz 1963, 1 f )134 Das ist bei Hertz ebenfalls nicht ontologisch als Aussage ber Natur, sondern methodologisch zu verstehen.135 Auch im Konventionalismus von Duhem hat das Einfachheitskriterium – als ein Typ des Vereinheitlichungsziels von klassischmoderner Physik – eine zentrale Bedeutung.136 Weiterfhrungen finden sich bekanntlich im Logischen Empirismus. Wittgenstein radikalisiert schließlich das konomieprinzip sprachanalytisch: „Wird ein Zeichen nicht gebraucht, so ist es bedeutungslos.“ (Tract. 3.328; vgl. 5.47321 und 6.363) Nicht allein Einfachheit, sondern Einheit und die Entwicklung einer „Einheitswissenschaft“ (Neurath) sowie einer Wissenschaft vom „Logischen Aufbau der Welt“ (Carnap) war Hauptanliegen des Wiener Kreises. Die Idee der Einheitswissenschaft hatte einst durch Leibniz Anregungen erhalten und war schon Teil des Programms des frhen Rationalismus.137 134 Aus Perspektive der Theoriewahl zwischen konkurrierenden Systemen hat Weyl vorgeschlagen, einen „mathematischen Einfachheitsgrad“ als methodologisches Auswahlkriterium zu formalisieren. Kuhn (1997, 423) spricht gleichermaßen von „Einfachheit“ als „Kriterium der Theorieauswahl“. 135 „Unsere Forderung nach Einfachheit geht also nicht an die Natur, sondern an die Bilder [ = Theorien], welche wir uns von ihr machen, und unser Widerspruch gegen eine verwinkelte Aussage als Grundgesetz drckt nur die berzeugung aus, daß, wenn der Inhalt der Aussage richtig und umfassend sei, er sich durch zweckmßige Wahl der Grundvorstellungen auch in einfacherer Form aussprechen lasse.“ (Hertz 1963, 28) 136 Duhem, obwohl er eine Erklrungsbegriffs-Kritik vornimmt und ein nomologisches, an Differenzialgleichungen orientiertes Theorie-Verstndnis schrft, sagt, dass „[e]ine physikalische Theorie […] den Zweck ha[t], eine zusammengehçrige Gruppe experimenteller Gesetze ebenso einfach, wie vollstndig und genau darzustellen.“ (Duhem 1978, 21) Analog zu Mach stellt Duhem einen çkonomischen Zug physikalischer Theorien heraus: „Eine derartige Kondensation einer Menge von [empirischen Beobachtungs-] Gesetzen in eine kleine Zahl von Prinzipien ist eine ungeheure Erleichterung fr den menschlichen Verstand, der ohne einen derartigen Kunstgriff die neuen Reichtmer, die er tglich erwirbt, nicht unterbringen kçnnte.“ (ebd., 23) Duhem kritisiert im Rahmen seines Konventionalismus und seines Theorieverstndnisses (als symbolische Entwrfe): „Eine physikalische Theorie ist keine Erklrung. Sie ist ein System mathematischer Lehrstze, die aus einer kleinen Zahl von Prinzipien abgeleitet werden […].“ (ebd., 20/21) 137 So kennzeichne das Logische, Analytische, Rationale den Logischen Empirismus und unterscheide ihn vom klassischen Empirismus. Insofern scheint es hier angezeigt zu sein, reduktives Erklren und Schließen mit den Traditionslinien des Rationalismus in Zusammenhang zu bringen – und weniger mit dem Empirismus. In der methodus geometrica sollte eine Methode fr die positive Entwicklung
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2. Klassisch-moderne Physik
Wegweisend fr ein allgemeines und anspruchsvolles Verstndnis von Reduktion (und von reduktiver Erklrung) ist das von Hempel und Oppenheim im Jahre 1948 formalisierte Schema (Hempel-OppenheimSchema deduktiv-nomologischer Erklrungen, kurz: HO-Schema von DN-Erklrungen). Ein Phnomen gilt als erklrt durch „subsuming it under general laws, i. e. by showing that it occurred in accordance with these laws, in virtue of the realisation of certain specified conditions.“ (Hempel 1965, 246)138 Das HO-Erklrungsschema fragt danach, wie ein Ereignis E zustande kommt, d. h. wie E zu erklren ist (Explanandum): Welche Antecedensaussagen A1 bis Am – auch als Anfangs- und Randbedingungen verstehbar – und welche Gesetzesaussagen G1 bis Gn fhren zu dem Ereignis E? Formuliert man dies als Antwort: E wird erklrt durch einen Schluss aus den Prmissen, d. h. aus A1 bis Am und aus G1 bis Gn. Die Prmissen nennt man das Explanans, das, womit bzw. woraus erklrt wird. Anders gesagt, lsst sich E unter G1 bis Gn subsumieren bzw. auf diese als Spezialfall reduzieren. Das Besondere, das Phnomen, gilt als erklrt, wenn es auf das Allgemeine, das Gesetz, zurckgefhrt werden kann. Das Erklrungs-Schema basiert auf Voraussetzungen. In diesem Rahmen wird Besonderes auf Allgemeines zurckgefhrt. Von Aussagen wird auf Aussagen geschlossen. (i) Somit mssen sowohl die Antecedensund Gesetzesbedingungen als auch die Ereignisse in Aussageform vorliegen. (ii) Ferner wird vorausgesetzt, dass eine Differenzierung von Antecedens- und Gesetzesaussagen mçglich ist. Allgemein sind mit dem HO-Schema, neben der Differenzierungs- und der Aussageformbedingung, mindestens vier weitere Adquatheitsbedingungen zu erfllen – jeweils mit klrungsbedrftigen Fragestellungen (vgl. Poser 2001, 47): (a) Schluss- und Folgerungsbedingung: Der Schluss vom Explanans auf das Explanandum muss legitim bzw. korrekt sein. Zu spezifizieren ist, ob etwa ein klassisch logisch-deduktiver, ein wahrscheinlichkeitstheoretischer, ein intuitionistischer oder ein induktiver Schlusstyp vorliegt (oder jeder Wissenschaft konstituiert werden. Letztlich schien in einer mathesis universalis die Vielheit in eine Einheit berfhrbar zu sein. 138 Klassische allgemeine Formulierung ist: „Will man Phnomene einer bestimmten Art X erklren, so muß man nach Gesetzen suchen, unter welche diese Phnomene subsumierbar sind bzw. nach einer diese Phnomene erklrenden Theorie.“ (Stegmller 1969, 135) Schon Popper (1989) hatte im Jahre 1934 in seiner „Logik der Forschung“ eine hnliche Struktur herausgestellt, um die deduktiv-nomologische Schlussform zu przisieren und sein Fortschrittsmodell zu begrnden. Sptere Przisierungen stammen von Nagel und Putnam sowie von Stegmller.
2.6. Reduzierbarkeit, Vereinheitlichung, Erklrbarkeit – ein viertes Merkmal
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vorliegen soll). Im Allgemeinen wird jedoch nach der klassischen Logik geschlossen. Deshalb wird das HO-Schema meist spezieller als deduktivnomologisch bezeichnet, d. h. kurz als DN-Erklrung im Rahmen des HO-Schemas. (b) Gesetzesbedingung: Das Explanans muss als ein allgemeines Gesetz mit seinen (umfassenden) Aussagen- und Geltungsbereichen vorliegen. Zu klren ist, welche Typen von Spezialgesetzen berhaupt zugelassen werden sollen. Eine zentrale Frage ist die nach dem, was ein Naturgesetz ist, sein kann und sein soll. (c) Gehaltsbedingung: Das Explanans muss einen empirischen Gehalt, eine Signifikanz und Relevanz aufweisen. Es mssen empirische Erfahrungen zugrunde liegen bzw. das Explanans muss auf empirische Erfahrungen zurckgefhrt werden.139 (d) Wahrheitsbedingung: Das Explanans muss aus Aussagen bestehen, die wahr sind, d. h. es muss bereits bestimmte empirische Besttigungsbedingungen erfllt haben (wie in der Gehaltsbedingung dargelegt), einen Wahrheitsnachweis berstanden haben – und, je nach Verstndnis, eine innere Kohrenz, Konsistenz und gar Korrespondenz aufweisen.140 Das deduktiv-nomologische Schema als Explikation des Erklrungsbegriffs wurde „zum normativen Ideal, dem zumindest die Erfahrungswissenschaften folgen sollen“ (Poser 2001, 57/47). Dies gilt auch dann, wenn die wissenschaftliche Erklrungspraxis vielfach eine andere ist. 139 Hier treten die logisch-empiristischen Sinn- und Basistheoreme hervor. 140 Ob und in welcher Hinsicht diese Bedingungen erfllbar sind, welche Kriterien notwendig und hinreichend sind, ist eine kontrovers diskutierte Frage (vgl. Stegmller 1969). An der Mçglichkeit der Erfllung der Wahrheitsbedingung hat etwa Cartwright (1999) Kritik gebt. An der Reichweite des deduktivnomologischen HO-Schemas kam ferner Zweifel auf, insofern teleologische Erklrungen von anderem Typ sind als die DN-Erklrungen des HO-Schemas. Insbesondere ist der praktische Syllogismus als Erklrungsschema fr menschliche Handlungen nicht vom Hempel-Oppenheim-Typ. Und es scheinen bestimmte Erklrungstypen, wie sie in den Ingenieur- und partiell in den Biowissenschaften auftreten, mit dem HO-Schema inkompatibel zu sein. Gleiches gilt fr viele Erklrungen in den historischen und den Sozialwissenschaften. Ferner stellt das HO-Schema nur die formale Struktur, nicht den sprachpragmatischen, semiotischen und lebensweltlichen Kontext von Erklrungen dar: Wer erklrt wem was mit welchem Ziel? Das Erklrungsverstndnis erweist sich selbst als reduktiv; die Pragmatik erscheint als kontingentes Additivum, was vom HOKern subtrahierbar ist. – Auf einer anderen, nmlich deskriptiven Ebene liegen die Bemerkungen Lays (1971, 247), wenn dieser darauf hinweist, dass „die Erklrung von empirischen Aussagen durch Theorien […] nicht deduktiv-nomologisch, sondern induktiv-statistisch (im Sinne der ,Statistik‘ der Theorienwahrscheinlichkeit) [ist].“ Kuhn habe deskriptiv gezeigt, so auch Hacking (1996, 242), dass „die Wissenschaft […] nicht hypothetisch-deduktiv [verfhrt].“
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2. Klassisch-moderne Physik
Mitunter wurde das Schema auch als Argument fr den wissenschaftlichen Realismus und als erklrendes Motiv physikalischen Erkenntnishandelns angesehen: „Vereinheitlichung der Physik in der theoretischen Elementarteilchenphysik [stellt] ein zentrales Motiv [dar] und [ … ist] seit siebzig Jahren der Motor der Theorieentwicklung.“ (Stçckler 2000, 165) Das allerdings ist durchaus umstritten.141 Als allgemeines normatives Leitbild, so wird man zusammenfassend sagen kçnnen, gilt die auf Kompaktheit ausgerichtete Beschreibung (und die anspruchsvollere Erklrung) mit dem Ziel der Vereinheitlichung. In den unterschiedlichen Traditionslinien des Rationalismus sowie des klassischen und des logischen Empirismus zeigt sich somit ein gemeinsames Minimalmotiv der klassisch-modernen Physik, nmlich der Eliminierung von Redundanzen in der Beschreibung: Damit ist der methodologische Reduktionismus als Kern der Reduktionismusthematik angesprochen. Ob mit dieser Beschreibungs- und Ordnungsleistung darber hinaus eine Erklrungsleistung verbunden ist (und wie diese bezogen auf die physikalischen Objektsysteme zu verstehen ist), kann durchaus offen bleiben. Das normativ formulierbare Minimalmotiv lautet: Finde die krzeste Beschreibung bzw. die kompakteste Gesetzmßigkeit.142 Zwar wird sich vielfach nicht sagen lassen, was darunter verstanden werden kann, aber als Heuristik und Ideal scheint hier Konsens vorzuliegen.143 141 Die Frage, was unter Reduktion und ferner unter (kompakter) Beschreibung und Erklrung zu verstehen ist, ist ein klassisches Thema der Wissenschaftsphilosophie. Einheitlichkeit ist bei den Diskussionen nicht erzielt worden. Zumindest herrscht Konsens dahingehend, dass zur Konstitution sowie zum Geltungsausweis klassisch-moderner Physik Spielarten des Reduktionismus unabdingbar sind. Bis heute ist allerdings ungeklrt, wie Reduktion, Erklrung und auch Prognose zusammenzudenken sind (vgl. Scheibe 1997): Deduktiv-nomologische Erklrungen, Prognosen und Reduktionen durch Ableitungen liegen dicht beieinander, partiell werden sie sogar miteinander gleichgesetzt (strukturelle Identittsthese). Doch auch Stçckler (1991, 26) warnt (im Hinblick auf ein spezielles Erklrungsverstndnis) davor, eine „Verwechselung von Deduktion und Erklrung“ vorzunehmen, insofern man „Seins- und Wissensgrnde“ vermische. 142 Was darunter jeweils zu verstehen ist und nach welchen Kriterien eine metatheoretische Beurteilung mçglich sein sollte, ist zweitrangig, vgl. Lyre (2002) und Schmidt (2003a). 143 Anspruchsvoller sind freilich die DN-Reduktionen nach dem HO-Schema. Hier geht es nicht nur um eine allgemeine Abkrzung der Beschreibung, sondern um einen speziellen Typ, nmlich die Abkrzung durch ein Gesetz mit speziellen Anfangs- und Randbedingungen, aus welchem dann das Phnomen abgeleitet werden kann.
2.7. Fazit
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2.7. Fazit Die vier Merkmale – Prognostizierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Prfbarkeit und Reduzierbarkeit – sind nicht ausschließlich fr die klassischmoderne Physik charakteristisch. Auch in anderen quantitativen Wissenschaften mçgen sie eine Rolle spielen. Doch konnte diese Merkmale hier in der Reflexion ber Physik entwickelt werden; sie orientieren sich idealtypisierend an ihr. Zur Kennzeichnung der klassisch-modernen Physik sind, neben mindestens einem dieser vier Merkmale, die klassischen und modernen Theorien der Physik heranzuziehen (Kapitel 2.2).144 Zu diesen Theorien zhlen die Klassische Mechanik, die Elektrodynamik, die Statistische Thermodynamik sowie die Relativitts- und Quantentheorien. – Darber hinaus eint die klassisch-moderne Physik die Annahme, dass vorrangig im Mikro- und im Makrokosmos fundamentale Erkenntnisse zu gewinnen seien; sie weitet sukzessive diese ußeren Rnder ins ganz Kleine und ganz Große aus.145 So gilt der Raum der mittleren Grçßenordnung, der Mesokosmos, als kein physikalisch erkenntnisrelevanter Objektbereich. Es kann von einem Exzentrismus der klassisch-modernen Physik gesprochen werden, welcher zweifelsohne erfolgreich ist. – Ferner sollte auf eine gemeinsame Klammer im Naturverstndnis verwiesen werden, welches hier nicht ausgefhrt werden kann (vgl. Kapitel 6). Auch wenn die klassisch-modernen Theorien im Detail unterschiedliche Naturverstndnisse nahegelegt haben, so eint sie, dass sie die Entstehung und Entwicklung von komplexen dynamischen Systemen in Natur und Technik kaum thematisieren und nicht erklren kçnnen.146 Selbstorganisation, Prozessualitt und Zeitlichkeit bleiben thematisch randstndig.147 Struk-
144 In diesen zeigen sich die Merkmale – wenn auch jeweils unterschiedlich. 145 Gerade die Quantenphysik, die philosophisch zu vielfltigen Reflexionen herausgefordert hat und oftmals als berwinderin klassischer (Determinations-) Kausalittsverstndnisse gilt, bezieht sich primr auf den Mikrokosmos, auch wenn sie universelle Deutungsmacht erhebt. 146 Gewisse Einschrnkungen sind freilich hinsichtlich der Allgemeinen Relativittstheorie zu machen, wie sich ab den 1920er Jahren herausstellte; siehe Kapitel 4.4. 147 Gewiss wird in der Statistischen Thermodynamik des Gleichgewichts Zeitlichkeit thematisiert, aber sie wurde (a) als phnomenologische Eigenschaft abgewertet und (b) primr mit Strukturabbau in Verbindung gebracht (Entropiewachstum) (Kapitel 6.1).
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2. Klassisch-moderne Physik
tur- und Musterbildungen liegen nicht in ihrem Fokus. Instabilitten werden – wenn berhaupt – zum Randbereich von Natur gezhlt. Natur- und Physikverstndnis sind nicht voneinander zu trennen, gerade im Hinblick auf Kausalitt. Alle vier Merkmale der klassisch-modernen Physik – und damit verbunden auch ihr Naturverstndnis – setzen, so soll nochmals zusammenfassend hervorgehoben werden, jeweils Kausalitt in einer starken Spielart voraus: hnliche „Ursachen“ (Startwerte, Randbedingungen) haben hnliche „Wirkungen“ (Endzustnde) zur Folge.148 Prognostizierbarkeit basiert auf der Annahme der numerischen Approximierbarkeit und der hinreichenden Konvergenz von Reihenentwicklungen. Instabilitten hingegen begrenzen, wie zu zeigen sein wird, Prognosemçglichkeiten. Reproduzierbarkeit setzt voraus, dass es auf kleinste empirische Details im Start und Verlauf eines Experiments nicht ankommt. Instabilitten jedoch, so soll im Folgenden dargelegt werden, limitieren die experimentelle Reproduzierbarkeit. Prfbarkeit basiert wiederum auf einem stabilen Zusammenhang von Theoretischem (u. a. der Prognose durch theoretische Gesetzmßigkeiten) und Empirischem (u. a. der Reproduktion). Und Reduzierbarkeit geht davon aus, dass eine kompakte gesetzmßige Darstellung gefunden werden kann. Die Mçglichkeit der Eliminierung der Redundanzen in der Beschreibung basiert auf der Annahme einer offensichtlichen Regelhaftigkeit und damit auf starker Kausalitt. – Diese Annahmen werden nun unter Bezug auf Instabilitten kritisch zu beleuchten und zu problematisieren sein
148 An dieser Stelle soll kein spezifisches Kausalittsverstndnis (Regelfolgen, Interventionalismus, …) herangezogen werden. Spter wird dies zu diskutieren und begrifflich zu schrfen sein (Kapitel 6.2).
Teil II: Instabilitten
3. Systematische Aspekte der Instabilitten Zur Problematisierung der klassisch-modernen Physik (I) 3.1. Verkannte Instabilitten Promotor fr Erforschung und Anerkennung der Instabilitten war ab den frhen 1970er Jahren die Chaostheorie, zunchst aus physikalischer, dann aus mathematischer Perspektive.1 (1) David Ruelle und Floris Takens sprachen 1971 im Zusammenhang mit physikalischen Strçmungsund Turbulenzphnomenen (Navier-Stokes-Gleichung) von „Chaos“ zur Charakterisierung von irregulr erscheinendem Verhalten (Ruelle/Takens 1971). Sie definierten „Chaos“ jedoch nicht mathematisch exakt, sondern fhrten den Begriff eher beilufig ein.2 Dabei bezogen sie sich auf zeitkontinuierliche Differenzialgleichungssysteme.3 (2) T.–Y. Li und James Yorke verwendeten den Begriff „Chaos“ wenige Jahre spter bereits im
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Der Name „Chaostheorie“ ist nicht neu. Schon Wiener (1938) sprach in den 1930er Jahren von einer „chaos theory“. Doch Wiener bezog sich auf Eigenschaften von stochastischen Prozessen, nicht von deterministischen Gleichungen. Seine „chaos theory“ liegt damit zunchst abseits von dem, was seit den 1970er Jahren als „deterministisches“ oder „regelbehaftetes Chaos“ bezeichnet wird. Sogar schon frher, etwa bei Boltzmann (1905), findet sich der Begriff des „molekularen Chaos“. Und Arago (1854, 382) sprach Mitte des 19. Jahrhunderts bereits davon, dass Planetenbewegungen ein „scheinbares Chaos“ zeigen kçnnen. Ruelle und Takens (1971) sprachen davon, dass „the fluid motion becomes chaotic when [parameter] l is increased [for the Navier-Stokes equation].“ Trotz dieser und hnlicher ußerungen wird nicht ihnen die Begriffsprgung von „Chaos“ zugesprochen. Unter einem Differenzialgleichungssystem dx/dt = F(x,l) versteht man ein mathematisches Zustandsraummodell mit deterministischer zeitlicher Entwicklung. Das zuknftige Systemverhalten ist eindeutig durch den momentanen Zustand bestimmt. Im Allgemeinen beschrnkt man sich auf solche Systeme mit einer endlichen Anzahl von Freiheitsgraden. Der Zustandsraum wird durch eine d-dimensionale Mannigfaltigkeit M beschrieben, d < 1. Die Systemzustnde x 2 M bezeichnet man auch als Zustandsvektoren („Zustnde“). F(x,l) nennt man ein autonomes Ck-Vektorfeld, k 1, auf M. F bildet punktweise Werte x(t) in den Tangentialraum Tx(t)M ab, F: M ! Tx(t)M. l 2 Rp heißt zeitunabhngiger Kontrollparameter. Eine Lçsung von F ist, wenn sie existiert, eine glatte Funktion Vl(·,t): I ! M von I R, dem maximalen Intervall der Existenz, nach M Rn.
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
Titel ihres Aufsatzes: „Period Three implies Chaos“ (Li/Yorke 1975).4 Im Unterschied zu Ruelle und Taken untersuchten sie aus mathematischer Perspektive keine zeitkontinuierlichen, sondern zeitgetaktete Systeme.5 Doch sowohl die Klasse der Phnomene als auch die zentralen Theorien, wie etwa die Theorie dynamischer Systeme, waren in den 1970er Jahren alles andere als neu. James Clerk Maxwell bemerkte in seinem Werk „Matter and Motion“ bereits 1877 den fr Instabilitt und Chaos charakteristischen Effekt der sensitiven Abhngigkeit von Systemparametern und von Startpunkten (Maxwell 1991). Henri Poincar erkannte und untersuchte Instabilittseffekte in hamiltonschen Systemen der Himmelsmechanik und entwickelte die „qualitative Theorie der Differenzialgleichungen“ (Poincar 1890). Wissenschaftshistorisch sind weitere Entwicklungsstationen mit den Namen Duffing, van der Pol, Birkhoff, Koch, Kolmogorov, Moser, Lorenz u. a. verbunden. Dass die damit angesprochenen Phnomene im vergangenen Jahrhundert ber 60 Jahre keine nachhaltige Rezeption erfuhren, mag an Folgendem gelegen haben: Es standen erstens keine Computer zur Verfgung, mit welchen eine hinreichend einfache, approximative Behandlung instabiler Dynamiken mçglich war; Visualisierungstechniken mit ihren intuitiv zugnglichen graphischen Darstellungen waren noch nicht entwickelt. Auch mathematische Theoreme zur approximativen Behandlung instabiler Dynamiken waren noch nicht formuliert. Zweitens haben sowohl die Grundlagendiskussion in der Mathematik als auch die paradigmatische Vernderung in der Physik (Relativittstheorien, Quantenmechanik) die Resultate Poincars aus dem Fokus des Forschungsinteresses gerckt. Grundlegende Erkenntnisse, so schien es, seien vor allem in diesen Feldern zu gewinnen. Drittens mag der entscheidende Hintergrund fr die Nichtbeachtung von Chaos und Instabilitten eine metaphysische Stabilittsannahme gewesen sein: Natur ist Natur, insofern sie stabil ist. 4
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Lis und Yorkes begriffsprgender Aufsatz ist zwar im Jahre 1975 publiziert, aber in den Jahren 1973 und 1974 entstanden. So konnte May schon auf eine Vorfassung Bezug nehmen, als er von „Biological populations with nonoverlapping generations: Stable points, stable cycles, and chaos“ sprach (May 1974). Der hier auftretende Chaos-Begriff ist der von Li und Yorke. May weist gar explizit darauf hin, dass ihm die Li-Yorke-Ausfhrungen vorliegen. Weiterfhrungen der Ideen von Li und Yorke und Erweiterungen ihrer Theoreme finden sich etwa bei Nathanson (1977), Oono (1978), vgl. allg. Devaney (1989). Li und Yorke bezogen sich auf eindimensionale stetige Iterationsabbildungen, so genannte Differenzengleichungen.
3.1. Verkannte Instabilitten
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Physiker waren so ausgebildet worden, dass sie gesetzeshafte Instabilitten nicht als solche wahrnahmen.6 Viertens mag es auch einen technischen Hintergrund fr die Nichtbeachtung gegeben haben. Aus der Perspektive der Ingenieurwissenschaften sowie der angewandten Naturwissenschaften sind Instabilitten stçrend, um quantitative Voraussagen vornehmen und kontrollierbare Zustnde herstellen zu kçnnen.7 Instabilitten sind fr intentionales Handeln wenig hilfreich. Fnftens mçgen gesellschaftliche Aspekte eine Rolle gespielt haben. Bis in die spten 1960er Jahre hinein herrschte ein stabilittsorientierter Planungs-, Steuerungs- und Kontrolloptimismus. Die Hintergrnde fr die Nichtwahrnehmung von Instabilitten sind also sowohl wissenschaftsintern als auch wissenschaftsextern; sie bilden ein kaum differenzierbares Amalgam von methodischen, forschungsgebietsspezifischen, metaphysischen, technischen und gesellschaftlichen Aspekten. Die mit Instabilitten verbundenen Phnomene haben keine Aufmerksamkeit und keine Anerkennung erhalten. Es gab keinen besonderen Erkenntnis- und Forschungsbedarf; kein vielversprechendes und zukunftsweisendes Forschungsfeld schien vorzuliegen. Erst in den 1960er Jahren zeigten sich Vernderungen. Edward Lorenz (1963) markiert der Sache nach mit seinen computernumerischen Untersuchungen instabiler atmosphrenphysikalischer Phnomene einen wirkungsgeschichtlich prgenden Ausgangspunkt fr die hier als „nachmodern“ bezeichnete Physik. Schon einige Jahre zuvor wurde das himmelsme6
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Kellert (1994, 124) meint: „Scientists ,ignored‘ chaos [and instability] in the sense that these observations were passed over and not considered worthy of further investigation.“ Ferner stellt Ueda (1992) heraus: „People call chaos a new phenomenon, but it has always been around. There’s nothing new about it – only people did not notice it.“ Ebenfalls bemerkt Moon (1987, 91): „Chaotic motions have always existed. Experimentalists, however, were not trained to recognize them.“ Treffend ist auch der Hinweis von May (1976, 467): „The elegant body of mathematical theory pertaining to linear [and stable] systems (Fourier analysis, orthogonal functions, and so on), and its successful application to many fundamentally linear problems in the physical sciences, tends to dominate even moderately advanced University courses in mathematics and theoretical physics. The mathematical intuition so developed ill equips the student to confront the bizarre behaviour exibited by the simplest of discrete nonlinear systems.“ Vor diesem Hintergrund wird von Abarbanel im Angesicht von Instabilitten heutzutage diagnostiziert: „a change in worldview from what we are directed to consider in our mainline education.“ (Abarbanel 1996, 251) So stellt Kellert (1994, 153) heraus: „The desire for predictable, controllable phenomena left chaos neglected.“
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
chanische Mehrkçrperproblem durch das berhmte KAM-Theorem mathematisch gefasst.8 Wenig spter findet sich eine frhe mathematische Anschauung von Chaos bei Steven Smale (1967), die so genannte Hufeisenabbildung mit der darauf aufbauenden Symboldynamik und Knettheorie. Der Mechanismus, der dynamische Instabilitten generiert, kann als ein iterativer Streck-Stauch-Falt-Mechanismus verstanden werden. Zwei im Teig nahe beieinander liegende Rosinen entfernen sich durch das Teigkneten – durch Strecken, Stauchen und Falten – voneinander, nhern sich aber auch wieder einander an, um sich dann erneut zu entfernen (s.u.).9 Fragwrdig bleibt zunchst, ob berechtigterweise von der Chaostheorie gesprochen werden kann: Liegt eine einheitliche Chaostheorie vor? Kommt ihr ein Theoriestatus zu?10 Schließlich kçnnte die „Chaostheorie“ ein inhaltsleerer Klammerbegriff sein, mit dem heterogene Modelle und Methoden zusammengefasst werden, ohne einen semantischen Kern aufzuweisen. Objektsysteme scheinen derart unterschiedlich zu sein, dass jede Einheitlichkeit unbegrndet wre. Das wrde, wenn berhaupt, lediglich die Rede von einer gegenstandsenthobenen mathematischen
8 Dieses geht auf Arbeiten von Kolmogorov (1954), Arnold (1963) und Moser (1962) ber hamiltonsche Systeme zurck. Nach dem KAM-Theorem sind die Trajektorien weder vollstndig regulr noch vollstndig irregulr. 9 Der Verwissenschaftlichung des „Chaos“ in den 1970er Jahren folgte in den 1980er Jahren eine ffnung der Chaostheorie gegenber der interessierten ffentlichkeit, u. a. durch Gleick (1987), Davies (1988), und Briggs und Peat (1993). 10 Das mag daran liegen, wie Atmanspacher (1997, 325) betont, dass sich „die Theorien komplexer dynamischer Systeme und die Chaostheorie […] derzeit in einem voraxiomatischen Stadium [befinden].“ hnlich bei Guckenheimer und Holmes (1983, 256): „We enter a realm in which the [chaos] theory remains in an unsatisfactory state.“ Und Kellert (1994, x) sieht „no standard definition of chaos theory.“ Auch wenn der Theoriebegriff unscharf bleibt, herrscht heute ber die Einordnung von „Chaos“ hinreichende Einigkeit. So bedeutet Chaos fr viele Naturwissenschaftler „irregulres Verhalten in einem regelbehafteten System“. Insgesamt scheint sich seit den Zeiten Wieners nicht viel getan zu haben. Immer noch gilt, was Wiener (1938, 935) Ende der 1930er Jahre konstatierte: „The demands of chaos theory go beyond the best knowledge of the present day. The difficulty is often both mathematical and physical.“ Doch die Schwierigkeiten sind nicht nur axiomatischer und mathematischer, sondern allgemein begrifflicher Natur: Bis heute hat sich keine einheitliche Definition von Chaos etabliert, vgl. Anhang 2.
3.1. Verkannte Instabilitten
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Strukturwissenschaft rechtfertigen.11 Neben der einseitigen Etikettierung als „Strukturwissenschaft“ kçnnte die traditionelle Wissenschaftsphilosophie mçglicherweise dazu neigen, hier von einer „vorparadigmatischen Phase“ zu sprechen. Nicht nur der Theorie-, auch der Paradigmenbegriff wre dann unangemessen. Dass die Chaostheorie allerdings, der Pluralitt zum Trotz, einen semantischen Kern aufweist, nmlich den der Instabilitten, wird zu zeigen sein. Am Theoriebegriff soll, wenn auch in modifizierter Form, festgehalten werden. Denn die Chaostheorie basiert auf wohlfundierten mathematischen Theorien,12 sie entwickelte sich im Rahmen der theoretischen Physik (Kapitel 4). Eine jeweils zu spezifizierende Bezugnahme auf physikalische Gegenstnde ist gegeben, ein empirischer Gehalt gewhrleistet; kanonische Beispielsysteme und Phnomengruppen werden in Lehrbchern prsentiert. Wenig hilfreich sind hier allerdings klassische Verstndnisweisen von „Theorie“, wie etwa der propositionale statementview. Diesem von Carnap, Hempel, Nagel und anderen entwickelten Verstndnis stehen verschiedene, meist mengentheoretisch orientierte non-statement-views gegenber, wie sie etwa vom wissenschaftstheoretischen Strukturalismus ausgearbeitet wurden. – Ein einheitliches Theorieverstndnis hat sich in der Wissenschaftsphilosophie nicht etablieren kçnnen: Theorien werden jeweils sehr unterschiedlich verstanden, etwa im Rahmen von deduktiv-nomologischen Ableitungsstrukturen, von allgemeinen Paradigmen, von Mengen von Modellen, von mengentheoretischen Individuen- und Prdikatenvariablen, von Theoriekern und intendierten Anwendungen, von Forschungsprogrammen mit ihrem progressive problemshift. Fr eine erste Typisierung der Chaostheorie scheint angesichts der aufgezeigten Pluralitt das schwache Theorieverstndnis von Richard 11 Verfehlt wre es, ausschließlich von einer ußeren, einer „strukturwissenschaftlichen Revolution“ (Hedrich 1994; Kppers 2000) zu sprechen, d. h. einer Revolution aller Wissenschaften, welche „Strukturen in abstracto [studieren, … also] unabhngig davon, welche Dinge diese Strukturen haben, ja ob es berhaupt solche Dinge gibt.“ (Weizscker 1974, 22 f ) Mit der Zuweisung einer „strukturwissenschaftlichen Revolution“ wrde nicht nur der stark disziplinr ausgerichtete physikalische Entdeckungs- und Entwicklungszusammenhang der Instabilittsthematik verschwinden. Verschwimmen wrden auch die Vernderungen innerhalb der und die Rckwirkungen auf die Physik. 12 Beispiele sind: Theorie dynamischer Systeme, Differenzialtopologie, Theorie der Iterationsgleichungen, Kontrolltheorie, numerische Approximationstheorien, u. a.
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
Giere hilfreich zu sein, welches er in Anlehnung an den semantic view of theories (vgl. Suppe 1977; van Fraassen 1980) sowie den wissenschaftstheoretischen Strukturalismus – und in Abgrenzung von statement- und axiomatic views – entwickelt hat. Darin kommt der Modellorientierung eine besondere Bedeutung zu, insbesondere ihr intendierter, nicht-universalistischer Geltungsbereich.13 Programmatisch meint Giere: „When approaching a theory, look first for the models and for the hypotheses employing the models. Don’t look for general principles, axioms, or the like.“ (Giere 1988, 89) Ob allgemeine Prinzipien vorliegen und ob sie zugnglich sind – oder nicht – , darf offenbleiben. Fr Giere besteht eine Theorie aus einer Familie von Modellen und aus Hypothesen, welche die Modelle untereinander und diese „mit der Welt“ verbindet (ebd., 85). Der explizite Modellbezug sowie die lose Ordnungsstruktur scheint fr die Chaostheorie treffender zu sein als der statement- oder axiomatic view von Theorien. Dieses Theorieverstndnis mag im Vergleich zu anderen Theorietypen der Physik, etwa der Relativittstheorie, als ein schwaches, aber ein multidimensionales zu charakterisieren sein. Es bezieht sich verstrkt (a) auf allgemeine mathematische Strukturen, (b) auf Modelle, Anfangs- und Randbedingungen, Interpretationszusammenhnge und ihre Relationen, (c) auf Phnomene und Phnomengruppen, (d) auf Methoden, numerische Simulationen und Visualisierungen sowie (e) auf Hypothesen, – und weniger auf Prinzipien, Axiome, kanonisierte Gegenstandsfelder, universalistische Geltungsbereiche.
3.2. Instabilitten – Zum Kern der Phnomene Gemeinsamer Kern und umfassende Klammer Instabilitten bilden den Kern und damit die Klammer nicht nur von der Chaostheorie,14 sondern allgemein von Selbstorganisations- und Komplexittstheorien. Sie stellen eine in nomologischer Hinsicht notwendige, 13 Mitunter wird die semantische Theorieauffassung auch als „model-theoretic view“ bezeichnet. 14 Die Chaostheorie wird in ihrem Kern als Instabilittstheorie gefasst. „Chaos theory is the qualitative study of unstable aperiodic behavior.“ (Kellert 1994, 2) Obwohl irrefhrenderweise mitunter nur die Berechenbarkeitsthematik im Blickfeld liegt, ist es gngig zu sagen: „Bei der Chaostheorie geht es um Beschrnkungen der Vorhersagbarkeit in der klassischen Physik, die von der Tatsache herrhren, daß klassische Systeme inhrent instabil sind.“ (Deutsch 2000,
3.2. Instabilitten – Zum Kern der Phnomene
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wenn auch nicht hinreichende Bedingung fr das Phnomen der Selbstorganisation und der Strukturvernderung dar. In Anlehnung an die Biologie kann man von Instabilitten im nomologischen Genotyp und – davon erzeugt – von Dynamik, Strukturbildung, Zeitlichkeit und Zuflligkeit im Phnotyp sprechen. Der Instabilitts-Kern wurde ab Mitte der 1970er Jahre sukzessive erkannt und als grundlegend in der Natur anerkannt: „Selbstorganisation wird in der Regel durch eine Instabilitt der ,alten‘ Struktur gegenber kleinen Schwankungen eingeleitet“, so Werner Ebeling und Rainer Feistel (1994, 46). „Aus diesem Grunde ist das Studium der […] Instabilitten von hohem Interesse.“ Auch fr Wolfgang Krohn und Gnter Kppers sind „Instabilitten […] der Motor der Systementwicklung.“ (Krohn/ Kppers 1992, 3) Von „Gestaltbildung durch Instabilitt“ spricht Haerendel (1981).15 Verwandt damit ist die Frage nach Dynamik und Zeitlichkeit: „Die eigentliche Wurzel fr die makroskopische Gerichtetheit ist die Instabilitt, die Divergenz der mikroskopischen Bewegungen, d. h. das mikroskopische Chaos.“ (Ebeling/Feistel 1994, 198) In den Chaos-, Selbstorganisations- und Komplexittstheorien finden sich somit nicht nur in ihrem Kern Instabilitten; sie stellen auch eine Vermittlung von Mikroelementen und Makrophnomenen dar. Es wird eine Positivierung vorgenommen: Ohne Instabilitten gibt es keine Prozesse in der Natur, insbesondere keine Selbstorganisation, keine Zeitlichkeit, keine Evolution. Das Verbindende im Forschungsfeld der unterschiedlichen Theorien kann also durch Instabilitten charakterisiert werden. Die Chaostheorie untersucht Sensitivitten und Instabilitten im Langzeitverhalten von Systemdynamiken (Ruelle/Takens 1971; Li/Yorke 1975). Berhmt ist der 189) hnlich Kanitscheider (1993, 34): „Diese Instabilitt in der Entwicklung erzeugt ein nichtberechenbares Moment.“ 15 Vgl. allg. Kanitscheider (1993, 169 f ), spez. Langer (1980) und Haerendel (1981). Als „eine notwendige Bedingung der Selbstorganisation“ verstehen Nicolis und Prigogine (1977, 3 f ) „Instabilitten“. Das gilt, wie Thom (1975, 29) herausstellt, gerade auch fr die kosmologische Evolution. „Thus on a large scale the evolution of a given planetary system is not structurally stable.“ Hinsichtlich der Zeitthematik: „[D]ie ,normale‘ Newton’sche oder Hamilton’sche Mechanik [ist] nicht in der Lage, den Widerspruch zwischen Reversibilitt und Irreversibilitt aufzuklren. Es bedurfte der Einfhrung des neuen Konzeptes, der Instabilitt.“ (Ebeling/Feistel 1994, 197) Peirce und Fechner sehen in gleicher Weise „die spontante, instabile Bewegung“ als das charakteristische Merkmal des Lebens, wie Heidelberger (1992b, 92) herausstellt, siehe auch Heidelberger (1993).
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
so genannte Schmetterlingseffekt: Kleinste Ursachen kçnnen durch Instabilitten Makrophnomene herbeifhren. Neben der dynamischen ist auch die strukturelle Instabilitt Thema der Chaostheorie (s.u.). Die Fraktale Geometrie, wie sie von Benoit Mandelbrot entwickelt wurde, zielt nicht primr auf die Dynamik, sondern auf die Geometrie, etwa einen chaotischen Attraktor, d. h. auf die nachtrgliche Analyse der dynamischen Struktur, die ihrerseits dann schon geronnen vorliegen muss, aber durch instabile Dynamiken generiert wurde (Mandelbrot 1991). Die Fraktale Geometrie ist stark beschreibend und qualitativ ausgerichtet, obwohl auch sie auf numerischer Berechnung basiert. Die Synergetik Hermann Hakens betrachtet makroskopische Musterbildungen durch mikroskopische Fluktuationen instabiler deterministischer bzw. nichtdeterministisch-stochastischer Systeme (Haken 1980; Haken 1987; Haken/ Wunderlin 1994; Haken 1995). Klassisches Beispiel ist der Laser. In der Terminologie Hakens ist dies das „Versklavungsprinzip“, worunter eine Art Top-Down-Kausalitt oder ein Supervenienz-Typ zu verstehen ist. Die Synergetik wird heute auch in den Sozialwissenschaften angewendet, etwa in Warteschlangentheorien, wo ebenfalls instabile Mikroeigenschaften zu Makrophnomenen fhren. Die Dissipative Strukturbildung wurde von Ilya Prigogine im physikochemischen Bereich der NichtgleichgewichtsThermodynamik entwickelt, also dort, wo Instabilitten vorherrschen (Prigogine 1992; Prigogine/Stengers 1990; Prigogine 1995). Fern vom thermischen Gleichgewicht stellt sich ab bestimmten Kontrollparametern ein Ordnungszustand ein, allerdings mssen dazu Instabilittsschwellen berschritten sein. Die Hyperzyklustheorie hat chemische Reaktionsmuster zum Gegenstand. Werden Instabilittspunkte passiert, setzt eine Dynamik ein oder sie verndert sich strukturell (Eigen/Schuster 1977). Die Katastrophentheorie untersucht instabile Strukturbrche abstrakter mathematischer Modellsysteme (Differenzialtopologie) (Thom 1975). Die Autopoiese-Theorie bildet schließlich eine Strukturbildungstheorie zwischen Systemerhalt und Systemvernderung durch jeweilige Neukonstitution von Systemgrenzen (Maturana/Varela 1987).16 – Weitere Theorietypen ließen sich anfgen, so die allgemein gehaltene Bifurkationstheorie und die Theorie der selbstorganisierenden Kritikalitt, welche in alle obigen Theorietypen hineinspielen und explizite Strukturinstabilittstheorien (Kapitel 3.3) darstellen. 16 Verwandt sind ferner die Kybernetik (Wiener, Vester), die Informationstheorie (Shannon, Weaver, Wiener, Chaitin), die Allgemeine Systemtheorie (Bertalanffy u. a.).
3.2. Instabilitten – Zum Kern der Phnomene
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Fr alle Theorietypen sind Instabilitten konstitutiv. Allerdings werden unterschiedliche Akzentsetzungen vorgenommen; Instabilitten werden verschiedene Funktionen zugeschrieben. – Die Synergetik und die Dissipative Strukturbildung fragen nach Bedingungen der Mçglichkeit der Ordnungsentstehung, nach Prozessen der Struktur- und Musterbildung, nach Zeitlichkeit sowie nach Zusammenhngen von Mikroeigenschaften und Makrophnomenen. So weist Prigogine Instabilitten eine positive Funktion zu und meint, dass dissipative Strukturen „ganz allgemein [verlangen], daß die Grçße des Systems einen kritischen Wert berschreitet. […] Wir kçnnen daher sagen, daß an chemischen Instabilitten eine Fernordnung beteiligt ist, durch die das System als ein Ganzes wirkt.“ (Prigogine 1992, 117) – Komplementr dazu liegen die Chaostheorie, die Katastrophentheorie sowie die Fraktale Geometrie. Obwohl auch fr sie Ordnungsentstehung ein Thema darstellt, ist es doch eines unter vielen. Instabilitten werden nicht als Durchgangsprozess zu etwas anderem, zur Ordnungsentstehung, funktionalisiert. Vielmehr sind Instabilitten selbst Gegenstand und zentrales Thema, was sich auch durch die Stichworte „Katastrophe“, „Fraktal“, „Chaos“ andeutet. Die „Katastrophen“ der Katastrophentheorie treten an den Punkten, Linien und (hçherdimensionalen) Flchen auf, an denen strukturelle Instabilitten vorliegen. Die „Fraktale“ der Fraktalen Geometrie sind durch instabile Dynamiken generiert; sie sind, im Sinne klassischer Geometrien, ungeordnete oder nicht ganzzahlig geordnete Strukturen. Und schließlich meint das „Chaos“ der Chaostheorie: wirrer Phnotyp trotz gesetzeshaften Genotyps; die Zeitentwicklungen erscheinen zufllig. Die Fokussierung auf Instabilitt mag Fragen provozieren: Wre nicht – statt „Instabilitt“ – vielmehr „Nichtlinearitt“ der treffendere, allgemeinere, grundlegendere Begriff ? Vielfach wurde und wird von „Nichtlinearer Dynamik“ gesprochen. „Nichtlinearitt“ bezieht sich auf die nomologische Struktur des mathematischen Gleichungssystems – und weniger auf die Verbindung zwischen Gleichungssystem und Phnomen (zwischen Geno- und Phnotyp). „Nichtlinear“ nennt man ein Gleichungssystem, das nicht linear ist, was auch fr beliebige Transformationen gilt: D.h. ein nichtlineares Gleichungssystem kann nicht global in ein lineares Gleichungssystem transformiert werden.17 Das Superposi-
17 Wenn diese Transformationsbedingung nicht erfllt ist, wird i.A. nicht mehr von „nichtlinear“ gesprochen. Wird eine Transformation auf ein glattes lineares System gefunden, liegt nur eine scheinbare „Nichtlinearitt“ vor. Allerdings gibt
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
tionsprinzip der Lçsungen ist nicht erfllt. Oftmals ist Nichtlinearitt dadurch erkennbar, dass Exponenten auftreten, etwa der quadratische Exponent. Mit der Nichtlinearitt mçgen zwar Probleme verbunden sein, die Lçsung explizit – analytisch mit Papier und Bleistift – zu bestimmen. Doch das widerspricht keineswegs einer computernumerischen Lçsungsbestimmung – der Approximation oder gar einer nachtrglichen Gewinnung einer Lçsungsformel. Erst wenn zustzlich Instabilitten vorliegen, zeigt sich der entscheidende Unterschied zu linearen Gleichungssystemen, wie im Folgenden dargelegt wird. So liegt die sensitive Abhngigkeit von Anfangs- und Randbedingungen nicht allgemein in nichtlinearen, wohl aber in den spezielleren, den instabilen Systemen vor.18 Nicht Nichtlinearitt, wohl aber Instabilitt fhrt zu methodologischen und epistemologischen Problemen. Als grundlegend kçnnten ferner verwandte Begriffe angesehen werden, wie etwa „Komplexitt“, „gesetzmßiger Zufall“, „schwache Kausalitt“. Doch auch diese kçnnen gegenber „Instabilitt“ keine Prioritt beanspruchen. Der Komplexittsbegriff etwa ist ebenfalls plural in dem Sinne, dass unterschiedliche Definitionen koexistieren, hnlich wie bei „Chaos“ (Atmanspacher et al. 1992). Allerdings bezieht sich „Komplexitt“ verstrkt auf die Phnomene, weniger auf deren nomologische Quellen. Fllt der Begriff der Nichtlinearitt auf Seiten des Genotyps, so ist „Komplexitt“ primr auf Seiten des Phnotyps angesiedelt. Instabilitt stellt die Verbindung von beiden dar. Hinter dem, was als komplex erscheint und als Komplexitt hervortritt, stehen dynamische und strukturelle Instabilitten. Folglich ist Komplexitt nicht prioritr, sondern als abgeleitet anzusehen. Gleiches gilt auch fr Stichworte wie gesetzmßiger Zufall und schwache Kausalitt (Kapitel 6). – Die Instabilittsthematik ist also umfassender, insofern in Instabilitten die Quelle fr schwache Kausalitt und gesetzmßigen Zufall liegt. So kann weder schwache Kausalitt noch gesetzmßiger Zufall ohne Rekurs auf Instabilitt diskutiert werden. Hingegen ist es mçglich, Instabilitten ohne Hinweis auf Kausalitt oder Zufall zu erçrtern. es auch Gleichungen, die zunchst linear erscheinen, aber nichtlinear sind, etwa stckweise differenzierbare Differenzialgleichungssysteme, vgl. Schmidt (2000a). 18 Da allerdings auch in linearen Gleichungssystemen eine Klasse von Instabilitten auftreten kann, nmlich die statische Instabilitt (s.u.), wre es przisier von nichtlinear-instabil zu sprechen. Doch wir bleiben bei Instabilitt, um nicht allzu unbersichtlich zu werden. Es gilt, was Auyang (1998, 234) treffend herausstellt: „Nonlinear systems […] are prone to instability. […] They also undermine the stable worldview prompted by linear systems.“
3.2. Instabilitten – Zum Kern der Phnomene
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Ausgehend von Instabilitten zeigt sich eine thematische Breite, welche zu entfalten sein wird: Komplexitt, Zufall, Kausalitt, Gesetzmßigkeit, Chaos, Katastrophen, Fraktale, Selbstorganisation (Emergenz, Ordnungsentstehung, Strukturbildung), Zeit (Gerichtetheit von Zeit, Irreversibilitt, Prozesshaftigkeit), Mikro-Makro-Vermittlung, Turbulenz und Wirbel, Phasenbergnge und Strukturbrche, Symmetriebildung und Symmetriebrechung, Anfangs-, Rand- und Nebenbedingungen, Information (Semantik/Pragmatik), usw. Viele Teildisziplinen der Physik sind involviert, von der Klassischen Mechanik, Kontinuumsmechanik und Hydrodynamik ber die Statistische Physik und die Thermodynamik, die Elektrodynamik mit der Optik und Magnetooptik, die Festkçrperphysik und die Plasmaphysik bis hin zu den Quantenfeldtheorien und der Allgemeinen Relativittstheorie (Kosmologie, Astrophysik). Wider das Stabilittsdogma – das einst Fraglose wird fragwrdig Eine Stabilittsannahme durchzieht die Wissenschaftsgeschichte: Natur ist Natur, so nahm man traditionell an, insofern sie stabil ist. Instabilitt spiegele lediglich den defizitren Wissensstand des Menschen wider, sie liege im Subjektiven oder stelle eine reine Konvention dar. Ist sie erkannt, ist sie eliminiert und zeigt sich als Stabilitt. Instabilitt und Unregelmßigkeit werden synonym verwendet, ganz so wie Stabilitt und Regelhaftigkeit. Fr Paul Feyerabend liegt hier eine metaphysische Annahme, die er nicht als Stabilittsannahme, sondern zuspitzend als Realittsannahme bezeichnet: real ist das Regelhafte. Feyerabend verweist auf das kopernikanisch-galileische Planetenmodell. „Die Forderung [nach Beschreibung der Planetenbewegungen auf Kreisbahnen durch Kopernikus] ist verbunden mit der Annahme, daß Unregelmßigkeit scheinbar, die sie erklrende regelmßige Bewegung aber wirklich ist. Ich nenne das die erste Realittsannahme.“ (Feyerabend 1983, 228) Bei Feyerabend wird in kritischer Absicht der konstruktive Anteil der Erkenntnis herausgestellt, also das, was wir in die Natur hineinlegen, um sie als solche, d. h. als „Realitt“ wahrnehmen zu kçnnen (Realittsannahme).19 19 Schon Nietzsche hatte in seiner Frçhlichen Wissenschaft in voller antimetaphysischer Klarheit gegen die Stabilitts-, Periodizitts- und Regelhaftigkeitsannahme Position bezogen. „Hten wir uns, etwas so Formvolles, wie die zyklischen Bewegungen unserer Nachbarsterne berhaupt und berall vorauszusetzen; schon
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
Eine traditionelle Realittsannahme war die Stabilittsannahme. Durch die heutige Anerkennung von Instabilitt wird die einstige, meist implizite Priorisierung von Stabilitt, Ordnung, Periodizitt, Linearitt, Regelmßigkeit in der Physik sichtbar. Weder im Natur- noch im Wissenschaftsverstndnis hatte Instabilitt einen Platz; noch nicht einmal in Randbereichen wurde sie erçrtert. Seit der griechischen Antike war die Stabilittsannahme dominant: Natur wird als stabile konstituiert oder als solche wahrgenommen. Als „gute“ mathematische Modelle scheinen allein solche zu gelten, welche Stabilitt zeigen. Rckblickend sprechen die mathematischen Physiker John Guckenheimer und Philip Holmes von einem metaphysisch geprgten und normativ ausgerichteten Stabilittsdogma (Guckenheimer/Holmes 1983, 259), das die Jahrhunderte der Wissenschaftsentwicklung durchzog und sich in der wissenschaftlichen Methodologie kondensierte, oder noch schrfer gesagt: diese als solche konstituierte.20 Zwar mag der Dogmabegriff irrefhrend sein, falls er sich auf eine 2.500-jhrige Tradition der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte beziehen sollte. Denn meist wird erst dann etwas dogmatisiert, wenn es fragwrdig geworden ist. Hingegen ist das Fraglose keiner Erçrterung und keiner Dogmatisierung wert. So gab es auch in der klassisch-modernen Physik – das msste gegenber Guckenheimers und Holmes’ Begriff des Stabilittsdogmas gesagt werden – keinen Anlass zur Dogmatisierung: Das Selbstverstndliche verstand sich von selbst; das Fraglose war ohne Nachfrage. Dies nderte sich jedoch – und hier ist Guckenheimer und Holmes zuzustimmen – als zunehmend offensichtlich wurde, dass die Physik auf einer impliziten Stabilittsannahme hinsichtlich Natur und Wissenschaftsmethode aufsitzt. Gewissermaßen zur Abwehr einer Krise wurde das Stabilittsdogma formuliert, am prgnantesten von Andronov und Pontryagin (1937).21 Das Fragwrdige ein Blick in die Milchstraße lßt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen gibt.“ (Nietzsche 1930, 127) Ob diese Bewegungen als rohere – und nicht vielmehr als feinere und flexiblere – zu bezeichnen sind, bleibt vor dem Hintergrund des heutigen Instabilittswissens durchaus fragwrdig. 20 Alternativ kçnnte man auch von einem Stabilitts-Programm, etwa im Sinne eines Lakatos’schen Forschungsprogramms, sprechen, oder auch von einer Forschungstradition, etwa im Sinne Laudans. 21 Auch hier bezieht sich, wie bei Guckenheimer und Holmes, die Stabilittsannahme primr auf einen bestimmten Instabilitts-Typ, den der strukturellen Instabilitt (s.u.). Doch was weiter ausgefhrt wird, gilt auch fr die dynamische Instabilitt des deterministischen Chaos.
3.2. Instabilitten – Zum Kern der Phnomene
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wurde durch eine Dogmatisierung zurckgewiesen: Somit wird das Dogma selbst zum offenen Kennzeichen einer Krise, zur Abwehr der entstandenen Fundamentlosigkeit. Das Stabilittsdogma lag folglich nicht der gesamten Wissenschaftsentwicklung zugrunde, vielmehr die subtilere (weil ungreifbarere und damit unangreifbarere) implizite Stabilittsannahme. In den 1930er Jahren waren es erste Infragestellungen klassisch-moderner Annahmen, die zur Dogmatisierung fhrten. Doch wie grundstzlich die Stabilittsannahme fr die methodologische Fundierung der Physik war, zeigte sich erst rckblickend ab den 1960er Jahren. Nicht zuletzt wird deutlich, dass Methodologisches nicht vollstndig von Metaphysischem, zumindest von tragenden und meist nicht mehr befragten Hintergrundberzeugungen, ablçsbar zu sein scheint.22 Diese Ablçsung wollten einst Logische Empiristen und Analytische Philosophen in ihrem vermeintlich befreienden antidogmatischen Reinigungsversuch glauben machen. Dagegen treffen sich in der impliziten Stabilittsannahme durchaus Metaphysisches und Methodologisches: die (Stabilitts-) Metaphysik begrndet die Methodologie, die Methodologie wiederum sttzt das Metaphysische im Sinne einer nicht mehr befragten Setzung. Stabilitt war in der klassisch-modernen Physik jedoch nicht nur eine metaphysische und eine heuristisch-fruchtbare methodologische Annahme. Vielmehr wurde sie zunchst selbststabilisierend durch die Naturerkenntnis gestrkt, welcher sie gleichermaßen zugrunde lag.23 Man kann darin eine Art impliziten Zirkel sehen – oder gar eine self-fulfilling prophecy. So wird durch die Methodologie hindurch Natur konstituiert und zugleich werden metaphysische Annahmen perpetuiert. Und umgekehrt strken diese, hier wiederum als unbefragtes und implizites System einer sich selbststabilisierenden Hintergrundberzeugung, jeweils eine bestimmte Methodologie. In dieser Durchdringung von Methodologischem und Metaphysischem lassen sich Wissenschafts- und Natur22 Der Begriff „Metaphysik“ wird hier nicht im Sinne umfassender Naturphilosophien verwendet, sondern primr im Sinne von tragenden, leitenden, mitunter unhinterfragten Hintergrundberzeugungen ber Natur. So kann man heute – in Aufnahme und Kritik am Logischen Positivismus – mit Poser (2001, 286) sagen, dass sich durch die neuere Wissenschaftsphilosophie gezeigt habe: „Wissenschaft ohne Metaphysik ist unmçglich.“ Dabei werde „Metaphysik“ selbst einer Vernderung unterzogen (ebd., 294). 23 Kanitscheider (1991, 122) weist darauf hin: „Eine einschlgige Weltbild-Rolle haben […] die Stabilittsbeweise in der Himmelsmechanik gespielt.“
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
verstndnis also nur schwer trennen, wie sich in diesem und dem kommenden Kapitel zeigen wird.24
3.3. Instabilitts-Typen Jenseits bloßer Bezeichnungen und reiner Konventionen „Instabilitt“ mag zwar zunchst eine bloße Bezeichnung und eine reine Konvention darstellen. Schließlich koexistieren unterschiedliche Stabilitts- und Instabilittsbegriffe. Jenseits eines (bloßen) Konventionalismus wird hier jedoch mehr behauptet: Es gibt instabile Phnomene in Natur und Technik, und auch in mathematischen Modellen, physikalischen Gesetzen, allgemeinen Theorien, – jenseits von kontingenten Konventionen. Ob die Wirklichkeit ihrerseits kognitiv oder gar faktisch konstruiert ist, ist zweitrangig: denn auch dann wren Welt und Wirklichkeit der („reale“) Referenzpunkt, in dessen Rahmen instabile Phnomene existierten. Unterstellt wird in unserem Zugang zumindest ein (schwacher) Instabilitts-Realismus, wie diese Position vielleicht benannt werden kçnnte.25 24 Geradezu beispielhaft hat Mach – trotz seiner Metaphysik-Ablehnung – in seiner Spielart des Sensualismus eine Stabilittsannahme vertreten, und das nicht nur in heuristisch-methodologischer Hinsicht, sondern grundstzlicher: „Was also in den Naturvorgngen gleichbleibt, die Elemente derselben und die Art ihrer Verbindung, ihrer Abhngigkeit voneinander, hat die Naturwissenschaft aufzusuchen.“ (Mach 1988, 6) Das „Gleichbleiben“ werde durch „Stabilitt“ auf der Objektebene gesichert. „Die Natur setzt sich aus den durch die Sinne gegebenen Elementen zusammen. Der Naturmensch faßt aber zunchst gewisse Komplexe dieser Elemente heraus, die mit einer relativen Stabilitt auftreten und die fr ihn wichtiger sind. […] [D]as ,Ding‘ [ist] ein Gedankensymbol fr einen Empfindungskomplex relativer Stabilitt.“ (ebd., 458 f ) So „beginnen [wir] bei der Nachbildung der Tatsachen [durch Theorien] mit den stabileren.“ (ebd., 459) Dass mçglicherweise Instabilitt grundlegender ist als Stabilitt, kommt bei Mach – obwohl er gerade die Klassische Mechanik in allen Details kannte – nicht vor. Die Stabilittsannahme geht ber eine kontingente Setzung, eine reine Heuristik oder ein regulatives Prinzip hinaus. Nach ihrer Maßgabe wird Natur als Natur konstituiert (Spielarten des Konstruktivismus) bzw. Ausschnitte der Natur als relevant, zugnglich, erkenntnisbringend selektiert (Spielarten des Realismus). Die Stabilittsannahme erhielt „the form of a kind of tyranny of selective example.“ (Kellert 1994, 138) 25 Mçglicherweise wre die Position als Strukturrealismus zu bezeichnen, insofern mathematische (topologische) Strukturen – und nicht die direkte Zuweisung
3.3. Instabilitts-Typen
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Wer zunchst an der Existenz von Instabilitten zweifeln mag, wird dennoch die durch und mit Instabilitten induzierten Phnomene kaum bestreiten kçnnen: die Prozesse der Selbstorganisation, des Wachstums, der Struktur- und Musterbildung, der Turbulenz. Instabilitten liegen jeglichen Prozessphnomenen zugrunde. Dieser prozessphnomenale Ausweis – als Wirkung von Instabilitten – ist die einigende Klammer der Phnomene der Chaos-, Komplexitts- und Selbstorganisationstheorien, und mithin des Physiktyps, der hier als „nachmodern“ bezeichnet wird. Die Prozessphnomene stellen nicht nur eine oberflchliche Erscheinung oder gar ein Als-Ob dar; sie sind nicht nur ein regulatives, sondern vielmehr ein konstruktives Prinzip der Natur. Sie sind genauso wirklich wie der traditionelle stark-kausale Mechanismus, der Natur als Natur kennzeichnet. Mit dem, was wir als instabil bezeichnen, bezeichnen wir also nicht primr uns selbst. Instabilitten spiegeln nicht nur unser derzeitiges Unwissen: Sie sind vielmehr einerseits in der Natur und Technik und weisen andererseits auf die Grenzen des Wissbaren und Konstruierbaren hin, wie zu zeigen sein wird. In der Wirklichkeit selbst liegen die Hinweise fr die Grenzen epistemischer Erkenntnis. Das mag eine Dialektik darstellen, die es wissenschaftstheoretisch einzuholen gilt. Ein minimaler Realismus hinsichtlich von Instabilitten scheint also die tragfhigere, belastbarere und festere Position zu sein, wenn – wie hier – Grenzen des Erkennen-Kçnnens zu bestimmen sind. Es geht um wirkliche Grenzen, um die Widerstndigkeit von Natur und Wirklichkeit, nicht um nur konstruierte Grenzen. Konstruktivistische Positionen erweisen sich als zu schwach, insofern sie die Grenzen des Wissbaren nicht als solche ernst nehmen: Wenn die Wirklichkeit lediglich eine methodologische Konstruktion darstellt, wrde das fr Grenzen allemal gelten. Erkenntnisgrenzen konstruktivistischer Spielarten bleiben relativ, kontingent und partiell eliminierbar. Der minimale Realismus, fr den wir hier argumentieren, entgeht der Eliminierungsproblematik des Konstruktivismus; andererseits wird ein starker (ontologischer oder Theorien-) Realismus nicht bençtigt. Fr eine Przisierung des Begriffs „Instabilitt“ kann das Mathematische hilfreich sein.26 In der aktuellen Physik der Instabilitten spielen Diffebeobachteter Entitten und theoretischer Terme – eine zentrale Rolle spielen, vgl. Worrall (1989) und Psillos (1999). 26 Dabei wird auf Ausfhrungen zurckgegriffen, etwa auf Krabs (1998, 32 f ), Beckmann (1996, 60 f ), Devaney (1989, 48 f/53 f ), Ott (1993, 15 f/129 f/ 266 f ), u. a.
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
renzialgleichungen als allgemeine Gesetzesstrukturen sowie die sich hier anschließende Theorie dynamischer Systeme eine herausragende Rolle.27 Damit steht die nachmoderne Physik zunchst der klassischen Physik nahe; sie rekurriert zunchst auf einen Determinismus, um ihre Grundbegriffe und ihr Analyseinstrumentarium zu schrfen. Allerdings sind ihre Argumente und ihre Folgerungen umfassender, wie zu zeigen ist. Grundlegend fr die Einschtzung ihrer Erkenntnisse ist ein Hypothetizittsargument: Selbst wenn die Welt niedrigdimensional28 und deterministisch wre, treten methodologische und erkenntnistheoretische Probleme auf. Mit anderen Worten: Selbst dann, wenn die Natur mathematisch einfach wre, sind die wissenschaftlichen Probleme als schwerwiegend einzuschtzen. Um wieviel mehr gilt das, wenn man die Hypothese der Niedrigdimensionalitt und des Determinismus fallen lsst! Das Hypothetizittsargument wird die Erçrterung begleiten. Differenzialgleichungen beschreiben eine eineindeutige Zeitentwicklung, etwa die eines harmonischen Oszillators. Sind neben der Differenzialgleichung (Gesetz, Modell) alle Anfangsbedingungen (Anfangspunkte, Startbedingungen) und alle Randbedingungen (Parameter, Konstanten, Naturkonstanten) gegeben, ist die Zeitentwicklung29 im Prinzip bestimmt und ein spezielles dynamisches System gegeben. Allerdings muss eine Differenzialgleichung gelçst werden, um zur konkreten Zeitentwicklung zu gelangen. Technisch spricht man von einer Integration. Somit ist zu unterscheiden zwischen einer Differenzialgleichung und ihrer Lçsung. Aber auch der Begriff der Lçsung ist unscharf. Vielfach ist 27 Russell behauptete sogar, ganz aus Perspektive der klassisch-modernen Physik, dass „sich alle wissenschaftlichen Gesetze nur in Differentialgleichungen ausdrcken lassen.“ (Russel 1927; zitiert nach Bunge 1987, 83) Aurell et al. (1997) fhren aus: „In physical sciences, […] one believes that nature is ultimately described by differential equations, and if one knows them and how to solve them, one knows all there is to know about the world.“ Und Birkhoff und Lewis (1935, 305) meinen: „The history of science shows that in general an attempt has always been made to embody the laws in the form of differential equations.“ Neben den Differenzialgleichungen gibt es weitere mathematische Strukturen in der nachmodernen Physik, etwa die Differenzengleichungen oder auch die Zellulren Automaten (s.u.). 28 Niedrigdimensional meint, dass nur wenige unabhngige Zustandsgrçßen zur Beschreibung relevant sind. Ein harmonischer Oszillator etwa ist zweidimensional. Zwei Zustandsgrçßen sind hinreichend: Ort und Impuls. 29 Von „Zeitentwicklung“ wird blicherweise in der Physik und Mathematik gesprochen. Mit „Zeit“ ist hier zunchst der Parameter t gemeint, der eine Lçsungskurve der Differenzialgleichung indiziert.
3.3. Instabilitts-Typen
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damit die Gesamtheit aller mçglichen Lçsungen gemeint (Fluss), mitunter aber auch nur eine Lçsung, wie sie sich von einem Startpunkt aus ergibt (Trajektorie); manchmal wird – anstatt von Trajektorie – von Orbit gesprochen. Auch in dieser Arbeit werden die Begriffe weitgehend synonym verwendet. Flsse und Trajektorien werden im so genannten Zustandsraum dargestellt. Einzelne Punkte heißen Zustnde; die unabhngigen Achsen des Zustandsraumes werden Dimensionen genannt. Formal kçnnen mindestens drei Instabilittstypen unterschieden werden, welche im Folgenden erlutert werden sollen: Von statischer Instabilitt kann gesprochen werden, wenn hnliche Anfangsbedingungen whrend der Zeitentwicklung auseinanderlaufen und sich niemals mehr annhern, so wie dies bei der dynamischen Instabilitt der Fall ist. Der populre Begriff des deterministischen Chaos bezeichnet die dynamische Instabilitt der kontinuierlichen sensitiven Abhngigkeit von den Anfangsbedingungen. Bei der dynamischen Instabilitt steht die Dynamik kontinuierlich auf „des Messers Schneide“; bei der statischen Instabilitt ist dies lediglich der Fall auf die Anfangspunkte bezogen. Anfangsbedingungen gelten jedoch vielfach als kontingent, als nicht zum Kern von Modellen, Gesetzen oder Theorien gehçrend. Statische und dynamische Instabilitten beziehen sich auf Anfangsbedingungen sowie auf die Lçsungen der Differenzialgleichungen, auf Trajektorien. Doch neben diesen gibt es einen weiteren, viel fundamentaleren Typ der Instabilitt, welcher in seiner physikalischen Relevanz bislang kaum eine grundlegende wissenschaftstheoretische Reflexion erfahren hat und der auf das Modellund Theorieverstndnis der Physik zielt: die strukturelle Instabilitt. Hier geht es um die Instabilitt des Gesetzes selbst bzw. um dessen Gesamtdynamik, d. h. um die Instabilitt der Gleichungen unter ihrer kleinsten Vernderung, etwa unter Parametervernderung.30
30 Die Instabilittstypen wren weiter zu spezifizieren, siehe dazu Birkhoff (Kapitel 4.5.) und Anhang A.1. – Weitere Instabilittsbegriffe kçnnten herausgestellt werden, etwa Instabilitten in der Plasmaphysik. Bei einem Plasma, das unter dem Einfluss seines magnetischen Eigenfeldes zusammengehalten wird („gepincht“ ist), treten zahlreiche Instabilitten auf, die durch Drcke und Spannungen entstehen. Man spricht von Knickinstabilitt („kink instability“) und von Einschnrinstabilitt („sausage“ oder „neck instability“). – „Instabilitt“ ist im Sinne der aktuellen Physik nicht einseitig als Zerfall von Ordnung, Struktur und Regelhaftigkeit zu verstehen. Zwar kann dies der Fall sein, doch stellt Instabilitt in der hier vertretenen begrifflichen Fassung sowohl eine Quelle fr Strukturabbau und Zerfall als auch fr Strukturaufbau dar.
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
Selbst dann – das sollte einleitend herausgestellt werden – , wenn Instabilitten vorliegen, heißt das nicht, dass nicht fr andere Anfangsoder Randbedingungen Stabilitt mçglich ist. Es gibt im Zustandsraum auch bei Instabilitt Regionen, in denen man Stabilitt findet. Wasserscheiden und Sensitivitten – die statische Instabilitt Dass kleinste Vernderungen große Wirkungen nach sich ziehen kçnnen, ist kein alleiniges Kennzeichen des deterministischen Chaos. Vielmehr tritt dieser Effekt der Wasserscheiden-Instabilitt (Maxwell 1873, 441; Andronov et al. 1965, 434)31 oder der statischen Instabilitt allgemeiner auf. Er charakterisiert den schwchsten Typ der Instabilitt, bei welchem die zeitliche Entwicklung eine eher untergeordnete Rolle spielt. Die Situation hnelt einem auf der Spitze stehenden Bleistift, welcher schließlich losgelassen wird und auf die eine oder andere Seite kippt. Eine Kugel auf einem Berggrat, auf einem Hgel oder einem Dachfirst wird bei dem kleinsten Windstoß auf der einen oder anderen Seite des Hanges oder des Daches herunterlaufen, ebenso wie ein physikalisches Pendel im instabilen Punkt der maximalen potenziellen Energie. In Glcksspielen, etwa dem Flipper, trifft die Kugel auf scharfe Kanten und spitze Keile, an denen sich entscheidet, ob sie nach rechts oder links springt. Das Galton’sche Brett, bei welchem eine Kugel durch einige gegeneinander versetzte Nagelreihen fllt, stellt eine Hintereinanderreihung statischer Instabilitten dar.32 An Punkten statischer Instabilitt liegt lokal eine sensitive Abhngigkeit vor (statische Wasserscheiden-Instabilitt). Hier entscheidet sich der weitere Verlauf. Zwei benachbarte Startpunkte entfernen sich unter Zeitentwicklung voneinander, ohne sich jemals wieder anzunhern. Die Startpunkte liegen – obwohl dicht beieinander – so doch diesseits und jenseits der Wasserscheide. In der Nichtlinearen Dynamik und Chaos31 Schon Maxwell (1873, 441) sprach im 19. Jahrhundert von „Wasserscheide“: Wir finden „ourselves on a physical […] watershed, where an imperceptible deviation is sufficient to determine into which of two valley we shall descend.“ Der anschauliche Begriff der „Wasserscheide“ ist auch von Andronov et al. (1965, 434) bernommen und geprgt worden. „Bei ihnen [d.h. diesen statisch-instabilen Situationen] spricht man auch von sogenannten ,Wasserscheiden‘, weil sie die Trajektorien unterschiedlichen Verhaltens voneinander trennen.“ 32 Beim hufigen Durchfhren entsteht schließlich eine raumdiskrete Form der Gauß’schen Normalverteilung.
3.3. Instabilitts-Typen
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theorie spricht man nicht nur von Wasserscheide, sondern auch von Einzugsgebiets-Grenze. Diese kann sehr verwinkelt und gezackt verlaufen. An einer Wasserscheide trennen, also scheiden, sich etwa zwei nahe benachbarte Regentropfen. So gelangt einer der Regentropfen ins Mittelmeer, der andere wird in die Nordsee transportiert. Statisch ist dieser Instabilittstyp, insofern die Regentropfen in zwei unterschiedlichen Gebieten – getrennt durch die Wasserscheide – liegen. Die Regentropfen verndern sich zwar zeitlich, verbleiben aber im jeweiligen Gebiet. Die Instabilitt tritt als eine singulre Entscheidungssituation auf; sie kommt nicht mehrfach zum Zug. Beim Wrfeln gibt es hingegen nicht nur zwei, sondern vielfache, endlich viele Wasserscheiden. Fllt ein Wrfel auf eine seiner Kanten, kippt er in die eine oder andere Richtung. Wrfeln ist eine Aneinanderreihung statischer Instabilitten, welche letztlich einen gesetzeshaften, aber im Detail nicht prognostizierbaren Zufallsprozess darstellt. So war fr Jakob Bernoulli das Werfen idealisierter Mnzen und die daraus entstehende Binr-Folge von 0 („Kopf“) und 1 („Zahl“) paradigmatisch fr die Entwicklung seiner klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie. Statische Instabilitten gelten als nomologische Grundlage zur Erzeugung von Zufall (Schmidt 2005b; Kapitel 6). Bei der Wasserscheiden-Instabilitt vergrçßern sich experimentelle Unsicherheiten nur dann, wenn zwei Startpunkte in der Nhe der Wasserscheide, jedoch jeweils im anderen Einzugsgebiet liegen. So erscheint es als zufllig, ob der einzelne Startpunkt mit der Zeit in das eine oder das andere Gebiet gelangt. Prognosen sind aufgrund der messtechnisch-empirischen Unexaktheit nicht mçglich. In physikalischen, technischen, chemischen und biologischen Systemen sind statische Instabilitten gngig. Sie sind fr den planenden Menschen oft rgerlich. Man spricht im Alltag von einem Vorfhreffekt: Will man einen Defekt seines PKWs der Werkstatt demonstrieren, um ihn diagnostizieren und schließlich beheben zu lassen, zeigt er sich nicht; ein vorbereiteter Unterrichtsversuch klappt whrend der Unterrichtsstunde gerade nicht, obwohl er in der Physiksammlung vom Lehrer mehrfach reproduziert wurde; eine Werkzeugmaschine kann in einem Fall rund und periodisch arbeiten, in einem anderen Fall sehr hnlicher Startbedingungen wirr und unregelmßig. Das sind Hinweise auf Instabilitten, wie sie im Alltag und in der technischen Praxis stçrend sein kçnnen. Mitunter sind sie schwer zu eliminieren. Ein etwas anderer Typ der statischen Instabilitt ist die sensitive Abhngigkeit von allen Punktepaaren. Die Situation hnelt den Punkten auf einem Luftballon. Wird dieser aufgeblasen, entfernen sich alle Punkte
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
voneinander. Hier gibt es nicht eine, sondern unendlich viele Wasserscheiden. Bekannt ist das klassische Beispiel des Zinseszins. Kleinste Unterschiede jedwelchen Startkapitals wachsen an und machen sich einige Jahre spter deutlich bemerkbar. Die lineare Differenzialgleichung dx/dt = ax, mit x, a 2 R, generiert eine instabile Lçsung x(t) = x(0)·eat, mit festem (Lyapunov-) Koeffizient a > 0. Sind die beiden Startkapitale x(t0) und x(t0) + d zu Beginn geringfgig um d verschieden, wachsen die Unterschiede mit der Zeit t exponentiell an. Der hier vorliegende Typ von Sensitivitt zeigt eine statische kontinuierliche Divergenz benachbarter Trajektorien. Diese nhern sich in einem unbeschrnkten Zustandsraum niemals wieder an (statisch-kontinuierliche Instabilitt). Freilich kann fr die lineare Differenzialgleichung eine geschlossene Lçsung einfach angegeben werden.33 Ist der Startpunkt exakt gegeben, dann ist die Vorausberechenbarkeit fr alle zuknftigen Zeiten gewhrleistet. Ist er nherungsweise gegeben, kçnnen jedoch ebenfalls zuknftige Zustnde approximativ berechnet werden; weitreichende Probleme treten nicht auf. Die Welt des Chaos – die dynamische Instabilitt Es war Friedrich Nietzsche, der wohl einige Erkenntnisse der heutigen Physik der dynamischen Instabilitten vorweggenommen hat – wenn auch nicht im mathematischen Sinne. Nach Nietzsche ist „der Gesamtcharakter der Welt […] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne fehlender Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung […].“ (Nietzsche 1930, 127) Dieses „Chaos“ ist nicht die reine Gesetzeslosigkeit, das wirre Tohuwabohu und das schiere „Irrsal und Wirrsal“, wie es in der jdischchristlichen Tradition benannt wird. Das religiçse Denken hat den auf Hesiod34 zurckgehenden Chaosbegriff – gegenber dem Schçpfungsbegriff – zu negativieren versucht. Bei Nietzsche hingegen findet sich keine einseitige Abwertung von Chaos – und keine Zuweisung von Regellosigkeit. Chaos und nomologische Notwendigkeit schließen einander nicht aus. Vielmehr wird diesem Chaos sogar eine Potenz und Produktivitt zugeschrieben, so dass Neues entstehen kann. „Ich sage euch: man 33 Die analytisch bestimmbare (Lçsungs-) Funktion lautet bekanntlich x(t) = x(0)·eat. 34 Im 7. Jahrhundert v. C. prgte Hesiod den Chaosbegriff: „Das erste aller Dinge war das Chaos.“ (vgl. Hlsewiche 1992)
3.3. Instabilitts-Typen
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muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebren zu kçnnen. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“ (Nietzsche 1990, 10) Martin Heidegger hat daran angeschlossen und unter Chaos „nicht die oberflchliche Vorstellung des bloß wirren und willkrlichen, beliebigen und zuflligen Durcheinanders“ gesehen, sondern ein „stndiges Werden und Fortfließen der Dinge.“ Nietzsche habe, so Heidegger zustimmend, Chaos „als ursprngliches, notwendiges Werden einer ursprnglichen Mannigfaltigkeit“ angesetzt (Heidegger 1986, 96). Chaos bezeichne „jenes Drngende, Strçmende, Bewegte, dessen Ordnung verborgen ist, dessen Gesetz wir nicht unmittelbar kennen, […] jene Verborgenheit des unbewltigten Reichtums des Werdens und Strçmens der Welt im Ganzen.“ (Heidegger 1989, 153 f ) Chaos wird hier mit Dynamik, Zeitlichkeit und Instabilitt sowie im weitesten Sinne mit Selbstorganisation in Verbindung gebracht – und gerade nicht mit Gesetzeslosigkeit. In epistemologischer Hinsicht treten allerdings Erkenntnisgrenzen zutage, nmlich eine „Verborgenheit“ und Entzogenheit des „Gesetzes“. Zwar mçgen das nur metaphorische Anspielungen und Ahnungen sein, doch Nietzsche und Heidegger kommen dem heutigen mathematisch-physikalischen Verstndnis der dynamischen Instabilitt des gesetzmßigen Chaos erstaunlicherweise recht nahe – und ebenso den damit verbundenen epistemischen Problemen. Eine Verwissenschaftlichung hat der Chaos-Begriff allerdings erst in den 1970er Jahren erfahren (Ruelle/Takens 1971; Li/Yorke 1975). Kern des Chaos ist die dynamische Instabilitt, die vielleicht treffender als Chaos-Instabilitt bezeichnet werden kçnnte. Auch von Lyapunov-Instabilitt ist die Rede.35 Fr die dynamische Instabilitt ist die sensitive Abhngigkeit von (fast allen) Startpunkten (bzw. von fast allen Punkten auf dem chaotischen Attraktor) kennzeichnend (Lorenz 1963, 133). In chaotischen Systemen steht die zuknftige Zeitentwicklung kontinuierlich auf des Messers Schneide. Chaos hnelt einer instabilen aperiodischen Bewegung eines Tennisballs auf einem Dachfirst, einem balancierenden Drahtseilakt. Doch benachbarte Trajektorien chaotischer Dynamiken entfernen sich im kompakten Zustandsraum nicht fortwhrend voneinander, wie im Falle der statischen Instabilitt. Von Zeit zu Zeit nhern sie 35 Eine Bewegung heißt Lyapunov-instabil, wenn mindestens einer der LyapunovExponenten grçßer als Null ist. Beckmann (1996, 84) hat herausgestellt: „Die berlegung, die hinter diesem Ansatz [der Lyapunov-Exponenten] steht, geht davon aus, daß die Trajektorien eines chaotischen Systems nicht Lyapunov-stabil sind.“
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
sich wieder einander an. Ganz hnliche, niemals aber identische Zustnde werden wieder erreicht. Der Zustandsraum als dynamische Gesamtheit wird durchmischt. Man nennt dies topologische Transitivitt oder auch, abgeschwcht, Ergodizitt. Schon Poincar hatte diese Wiederkehr anhand einer aperiodischen, unendlich verschlungenen Trajektorie untersucht. So spricht man heute von Poincar-Wiederkehr eines Orbits, meint damit aber eine approximative Wiederkehr. Entfernung und Wiederkehr, Konvergenz und Divergenz wechseln einander ab. Die entscheidenden Trajektorien schließen sich nicht; sie sind aperiodisch.36 Chaos entsteht also durch einen iterativen Streck-Stauch-Falt-Mechanismus, der eine Durchmischung erzeugt.37 Verfolgt man einen aperiodischen Orbit, so zeigt sich eine Wollknuel-hnliche Struktur.38 Allerdings findet man hier nicht nur Aperiodizitt, sondern gelegentlich auch Periodizitt, also exakte Wiederkehr. Ein klassisches Beispiel ist das chaotische Doppelpendel. Es besteht aus einem Pendelarm, an dem ein weiteres Pendel befestigt ist. Whrend bei einem einzelnen Pendel nur ein einziger instabiler Punkt (im Maximum der potenziellen Energie) existiert, liegen beim Doppelpendel unendlich viele instabile Punkte vor; sie liegen dicht (beieinander). Das ist die Quelle der dynamischen Instabilitt. Das chaotische Doppelpendel erreicht fast alle seine Startpunkte wieder, obwohl und gerade weil es dynamisch instabil ist, also „kontinuierlich auf des Messers Schneide“ steht. Ganz hnliches gilt fr ein weiteres klassisches Beispiel, den periodisch getriebenen Duffing-Oszillator (Abb. 3 – 1): eine sinusfçrmig angeregte Masse schwingt an einer senkrecht aufgestellten Blattfeder.39 Durch die sinusfçrmige Treibung wird die Instabilitt von dem einen singulren Punkt dicht auf ein Intervall verschmiert. 36 Es gibt dennoch im chaotischen Attraktor unendlich viele, dicht liegende periodische instabile Orbits bzw. Trajektorien. 37 Die Situation ist vergleichbar mit den Bewegungsbahnen zweier nahe benachbarter Rosinen in einem Kuchenteig, die sich voneinander entfernen durch Strecken in eine Richtung, Stauchen in die andere Richtung und anschließendem Zurckfalten auf die ursprngliche Grçße (Smales Hufeisen-Abbildung; Smale 1967; s. o.). Sensitivitten werden durch diesen Mechanismus erzeugt: Fast jede Rosine kommt jeweils dicht an ihren Anfangszustand zurck, erreicht diesen allerdings nicht (Aperiodizitt). 38 Wrde hier Attraktivitt vorliegen, wre von einem chaotischen Attraktor zu sprechen. 39 Damit sind ein instabiles Maximum und zwei stabile Minima potenzieller Energie gegeben. Man spricht von einem Doppelmuldenpotenzial. Der DuffingOszillator wird spter besprochen (Kapitel 3.4.).
3.3. Instabilitts-Typen
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Abb. 3 – 1: Links der Duffing Oszillator, der aus einer Masse an einer Blattfeder besteht, welche sinusfçrmig angetrieben wird. Rechts eine dynamisch-instabile (chaotische) Zeitreihe. Man erkennt den wirren, zufllig erscheinenden Verlauf.
Unter der dynamischen Instabilitt des regelbehafteten Chaos wird zufllig erscheinendes Verhalten in einem deterministischen Modellsystem auf dem Zahlenkontinuum verstanden. Oder anders gesagt: Wirrer Phnotyp – die „fehlende Ordnung“ bei Nietzsche – trotz gesetzeshaftem Genotyp einer Differenzial- oder Differenzengleichung – „nicht im Sinne fehlender Notwendigkeit“, wie Nietzsche sagt. Also: Rhythmus mit Variabilitt, Fluktuationen mit Regelmßigkeiten, gesetzmßige Schwankungen. Chaos und Gesetzmßigkeit widersprechen einander nicht, wie schon Kant ahnte, insofern „die Natur selbst im Chaos nicht anders als regelmßig […] verfahren kann.“ (Kant 2005, 11) Auf der Ebene der Phnomene unterscheidet sich die dynamische Instabilitt des Chaos unwesentlich von zuflligem Verhalten. Mit traditionellen statistischen Methoden ist kein Unterschied festzustellen. Das hatten Maxwell, Poincar, Georg D. Birkhoff u. a. schon frhzeitig erkannt. Edward Lorenz prgte den Begriff „Schmetterlingseffekt“ zur Illustration der dynamischen Instabilitt: Ein Schmetterling im Amazonas kçnne einen Wirbelsturm in den USA auslçsen.40 Die auf dynamischer Instabilitt basierenden schwach-kausalen Prozesse erzeugen Phnomene, die als gesetzmßiger Zufall bezeichnet werden. Das Stichwort „schwache Kausalitt“ wird blicherweise in Abgrenzung zur „starken Kausalitt“ verwendet (Kapitel 6). Nach letzterer gilt: hnliche Ursachen haben hnliche Wirkungen zur Folge, wobei gleiche Ursachen gleiche Wirkungen 40 Lorenz sprach 1979 vor der American Association for the Advancement of Science unter dem Titel: „Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil Set of a Tornado in Texas?“, vgl. Lorenz (1996). Das Phnomen hatte Lorenz schon in den 1960er Jahren beschrieben (Lorenz 1963).
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
haben. Bei schwacher Kausalitt gilt hingegen nur letzteres, also Gleichheit. Ein bekanntes Standardbeispiel zur Generierung von Chaos ist die logistische Abbildung (Abb. 3 – 2) (Devaney 1989; May 1976). Sie kann als Paradigma der dynamischen Instabilitt angesehen werden. In fast allen Lehr- und Textbchern findet sie Beachtung. In wissenschaftshistorischer Hinsicht ist sie zentral, weil an ihr bzw. an quivalenten eindimensionalen Abbildungen der Chaos-Begriff entwickelt wurde (Li/ Yorke 1975). Die logistische Abbildung war in den 1970er und 1980er Jahren der Untersuchungsgegenstand der Chaostheoretiker.41 Sie kann recht einfach unter Bezugnahme auf die lebensweltliche Erfahrung illustriert und begrndet werden (z. B. Warteschlangendynamik, biologische Populationsdynamik). In diesem Sinne bildet sie ein anschauliches, nicht allzu voraussetzungsvolles mathematisches Modell, welches synthetisch leicht verstndlich erstellt werden kann und somit methodische Aspekte der Modellbildung zu reflektieren ermçglicht. Die Generierung der Dynamik der logistischen Abbildung kann zunchst mit Papier und Bleistift erfolgen. Eine komplizierte Mathematik ist fr den ersten Zugang nicht erforderlich. Man bençtigt keine Numerik und programmierungstechnische Rechnerimplementierung.42 Die logistische Abbildung ist eine Differenzengleichung43 und keine sonst in der Physik bliche Differenzialgleichung.44 Differenzengleichungen sind gewissermaßen zeitgetaktete Systeme; sie sind zeitdiskret, Differenzialgleichungen dagegen zeitkontinuierlich. Differenzengleichungen kçnnen beispielweise durch eine stetige Abbildung f auf dem Einheitsintervall [0,1] beschrieben werden, welche Systemzustnde xn zur diskreten Zeit n auf solche zur Zeit n + 1 gemß xn+1 = fl(xn) abbildet, 41 Spter wurde auch die zweidimensionale Hnon-Abbildung intensiv untersucht (Hnon 1976). 42 Differenzengleichungssysteme mssen nicht gelçst („integriert“) werden, wie dies fr Differenzialgleichungssysteme der Fall ist. Die logistische Abbildung diente ursprnglich zur Beschreibung von biologischen Prozessen, etwa von Wachstumsprozessen und populationsdynamischen Modellbildungen. Die logistische (sigmuide) Wachstumsfunktion wurde schon von Verhulst (1845) in die Biologie eingefhrt. 43 Die Begriffe „Abbildung“, „zeitdiskrete Abbildung“, „Map“, „zeitdiskretes dynamisches System“ und „Differenzengleichung“ werden blicherweise synonym verwendet. 44 Es kann als ein Kennzeichen der nachmodernen Physik angesehen werden, dass Differenzengleichungssysteme als zustzliche allgemeine Modellklasse auftreten (Kapitel 5).
3.3. Instabilitts-Typen
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Abb. 3 – 2: Die logistische Abbildung fl(xn) = l·xn·(1 – xn), xn, l 2 R, ist das Standardbeispiel fr die Nichtlineare Dynamik und nachmoderne Physik. Vergrçßert man l, so liegen unterschiedliche Orbits vor. Oben: Orbit der Periode 1 (links), 2 (mitte), 4 (rechts). Unten: Chaotischer Orbit (links), Bifurkationsdiagramm (rechts): die Iterationen xn sind – nachdem der Einschwingvorgang abgewartet wurde – ber dem Kontrollparameter l aufgetragen.
d. h. fl : [0,1] ! [0,1]. l heißt zeitunabhngiger Kontrollparameter, durch welchen die Familie oder Klasse der Gesetze, also die Differenzengleichungen, indiziert ist. Das zeitliche Verhalten der Zustnde xn gleicht Sprngen. Eine spezielle Differenzengleichung, die logistische Abbildung, ist gegeben durch: fl(xn) = l·xn·(1 – xn), xn, l 2 R, mit der induzierten Dynamik xn+1 = fl(xn). Setzt man nun fr den Parameter l bestimmte Werte ein, beispielsweise l 3,839, kçnnen unregelmßige Zeitverlufe, d. h. (Li-Yorke-) Chaos, erzeugt werden (vgl. Li/Yorke 1975; Devaney 1989).45 Trgt man die Zustandswerte {x0, x1, x2, x3, x4, … xn, …} ber n auf, so sieht man einen unregelmßigen Zeitverlauf. Die Dynamik erscheint wirr und zufllig, eben chaotisch, so wie in Abb. 3 – 1, rechts. Auf den ersten Blick liegt keine gesetzmßige Generierung zu
45 Fr l = 4 ist sie Devaney-chaotisch (topologisch transitiv, dichte periodische Orbits, sensitiv).
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
Grunde. Doch die Dynamik wird durch die logistische Abbildung erzeugt.46 In der Chaostheorie sind die Begriffe zwar scharf definiert, aber plural. Es gibt unterschiedliche Definitionen des Terminus „Chaos“, unter ihnen die bekanntesten wie Li-Yorke-, Devaney- und LyapunovChaos. Physiker whlen andere Zugnge als Mathematiker. Whrend fr Physiker eher die Nachweis- und Messbarkeit sowie die empirische Operationsfhigkeit eines Begriffs im Vordergrund stehen, heben Mathematiker strker Konsistenz- und Ableitungsbeziehungen hervor. Physiker orientieren sich an Differenzialgleichungen, Mathematiker bercksichtigen verstrkt zeitdiskrete Systeme, die Differenzengleichungen.47 Allgemein anerkannt ist das Chaosverstndnis von Robert Devaney. Demnach sind fr Devaneys Chaos in zeitdiskreten Systemen (a) die sensitive Abhngigkeit von den Startpunkten, (b) die Durchmischung (aperiodische Wiederkehr) und Unzerlegbarkeit48 und (c) Elemente der Regelmßigkeit (Dichtheit der periodischen Orbits) konstitutiv (Devaney 46 Vielfach wurde die logistische Abbildung auch als Generierungsmechanismus verwendet, um so genannte Symbolfolgen zu erzeugen. Symbolfolgen bestehen beispielsweise aus Bits, etwa aus unendlichen 0-1-Zeichen. Man braucht eine Zuordnungsvorschrift von den Zustandswerten {xn} zu den 0-1-Symbolen. Wenn xn 0.5, dann wird eine „0“ zugewiesen, ansonsten eine „1“. Damit wird das Einheitsintervall [0,1] in zwei disjunkte Teile zerlegt, nmlich in [0, 0.5] und ]0.5, 1]. Es entstehen Folgen der Art {0,1,0,1,0,1, …} fr einen periodischen Orbit der Periode 2 mit wiederkehrenden 0-1-Elementen oder {1,0,0,1,0,1,0,1,1,1,0,0,1,1,1,0,1,0,1, …} fr Chaos ohne jede Wiederkehr (vgl. Devaney 1989). Die Symbolfolgen und die zugehçrige Symboldynamik stellen ein relevantes Analyseinstrumentarium bereit, um die Dynamik niedrigdimensionaler Differenzengleichungen zu klassifizieren und zu untersuchen. Insbesondere sind die logistische Abbildung (mit l = 4 auf dem Einheitsintervall), die Zeltabbildung und die Bckerabbildung (auch Bernoulli- oder Sgezahnabbildung genannt) topologisch semi-konjugiert und besitzen damit qualitativ die gleiche Dynamik. Sie sind alle drei als Symboldynamik auf Folgenrumen konjugiert zu beschreiben. Alle qualitativen Eigenschaften, etwa die dynamische Instabilitt, werden unter Semi-Konjugation bertragen. 47 Ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich des Chaos-Verstndnisses tritt hervor: Fr die zeitdiskreten Differenzengleichungen ist schon eine Zustandsdimension fr eine mçgliche Existenz von Chaos hinreichend, whrend fr die zeitkontinuierlichen Differenzialgleichungssysteme mindestens drei Zustandsgrçßen notwendig sind. Liegen lediglich ein oder zwei Zustandsdimensionen von Differenzialgleichungssystemen vor, dann kann es nicht „drunter und drber gehen“, wie es fr Chaos charakteristisch ist. Lediglich periodische (nichtchaotische) Grenzzyklen treten dann auf (Poincar-Bendixson-Theorem). 48 Man spricht von topologischer Transitivitt bzw. auch von Ergodizitt.
3.3. Instabilitts-Typen
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1989).49 Banks et al. zeigen aus mathematischer Perspektive, dass Sensitivitt aus den anderen beiden Bedingungen (b + c) folgt (Banks et al. 1992). Fr dynamische Instabilitt wre demnach Sensitivitt nicht als fundamental, sondern als abgeleitet anzusehen. So mçgen es Mathematiker sehen. Physiker hingegen fokussieren primr auf Sensitivittskoeffizienten, um Chaos nachzuweisen. Ein klassischer Sensitivittskoeffizient ist der Lyapunov-Koeffizient, der eine Maßgrçße fr die mittlere Divergenz von Trajektorien darstellt. Er gilt als ein zentrales Maß fr die dynamische Instabilitt. – Die begriffliche Vielschichtigkeit erschwert es also, ohne Hinweis auf die jeweilige Verstndnisweise von Chaos und von dynamischer Instabilitt zu sprechen. Allen Chaos-Begriffen gemein ist, dass sie auf die Zeitentwicklung Bezug nehmen und die Dynamiken zeitkontinuierlich instabil sind. Zum Nachweis der Existenz von Chaos haben sich unterschiedliche Analyseverfahren etabliert.50 Im strengen Sinne allerdings kann Chaos nur an sehr einfachen synthetischen Modellen, wie der logistischen oder der Hnon-Abbildung, bewiesen werden. Im weniger strengen Sinn tritt die dynamische Instabilitt des Chaos in vielen physikalischen und technischen Systemen auf. Kosmologen und Astronomen kennen dynamische Instabilitten (Allgemeine Relativittstheorie, KAM-Theorem, Mehrkçrperprobleme) ebenso wie Meteorologen (Lorenz-Modell) und Hydrologen (Navier-Stokes-Gleichung). Auch in der Klassischen Mechanik, in der Festkçrperphysik und den Ingenieur- und Technikwissenschaften sind dynamische Instabilitten gngig. So scheint die dynamische Instabilitt keine Besonderheit zu sein. Sie stellt vielmehr einen allgemeinen Fall von Dynamiken in Natur und Technik dar.51
49 Fr Details sei auf Anhang 2. verwiesen. 50 Beispiele hierfr sind die Methoden der Zustandsraumrekonstruktion, das Falschen-Nchste-Nachbarn-Verfahren, die Surrogatdatenanalyse, vgl. Abarbanel (1996) und Kapitel 5.3. 51 Vor diesem Hintergrund ist etwa Leibniz’ Stabilittsmetaphysik zu widersprechen, insofern dieser behauptete, „daß die organischen Kçrper der Natur niemals aus einem Chaos oder einer Fulnis hervorgehen [kçnnen].“ (Monadologie §74)
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
Wenn die Dinge kippen und bifurkieren … – die strukturelle Instabilitt Whrend sich die statischen und die dynamischen Instabilitten auf einzelne Startpunkte und einzelne Trajektorien (und ihre Umgebungen) beziehen, erhlt die Diskussion durch die strukturelle Instabilitt eine Vertiefung. Strukturelle Instabilitt oder Gesetzes-Instabilitt ist anderer Art als die bisherigen Instabilittstypen.52 Gefragt wird, ob die Gesetze und Modelle selbst instabil sind – und nicht nur deren einzelne Trajektorien. Seit Platons Fundierung der theoretischen Wissenschaft und verstrkt durch den Logischen Empirismus werden Gesetze zum Kern von Natur gerechnet. Als kontingent hingegen gelten die jeweiligen Startpunkte. Nun hat die Physik immer wieder versucht, die Kontingenz zu eliminieren und die Startbedingungen in den Kern der Gesetzmßigkeit zu berfhren. ußerst erfolgreich etwa geschieht dies in der Kosmologie und dem dortigen Szenario des inflationren Universums. Folgt man hier zunchst dem traditionellen, aber problematischen Dualismus von Gesetz einerseits und Startbedingungen andererseits, dann stellt die strukturelle Instabilitt eine Vertiefung der Diskussion um Instabilittstypen dar, nmlich als Gesetzes-Instabilitt.53 Ein Gesetz wird als strukturell instabil bezeichnet, wenn bei seiner kleinsten Vernderung eine vollkommen andere Klasse von Dynamiken entsteht. Kleinste Vernderungen kçnnen als Stçrungen, Variationen oder Modifikationen des Modell- bzw. Gesetzeskorpus verstanden werden, beispielsweise durch die Variation von Randbedingungen, Parametern und Exponenten, durch das Hinzufgen von Funktionen oder gar das Abndern des Zustandsraumes. Bei struktureller Instabilitt tritt eine so genannte Verzweigung oder Gabelung auf. In einer solchen Bifurkation
52 Von „Systeminstabilitt“ und „Strukturinstabilitt“ ist oftmals die Rede, z. B. bei Auyang (1998, 238) und Prigogine/Stengers (1990, 182 f ). 53 Eine bemerkenswerte Parallele tritt hervor im Nichtwahrnehmen-Wollen von dynamischer und von struktureller Instabilitt. Lange Zeit hat man die dynamische Instabilitt zu einer unwesentlichen Randerscheinung abgewertet, bis sich die Chaostheorie durchgesetzt hat. Fr die strukturelle Instabilitt scheint das Nichtwahrnehmen-Wollen teilweise bis heute immer noch verbreitet zu sein. Doch im Prinzip ist die Unterscheidung zwischen Anfangsbedingungen (dynamische Instabilitt) einerseits und Gesetzmßigkeit und Parameter (strukturelle Instabilitt) andererseits hinreichend kontingent: Durch Zustandsraumerweiterung kann jeder Parameter „dynamisiert“ werden. Keine grundstzliche Andersartigkeit von Anfangsbedingung und Parameter liegt vor.
3.3. Instabilitts-Typen
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Abb. 3 – 3: Illustration der strukturellen Instabilitt in einem Bifurkationsdiagramm, hier des Orbits x ber dem Parameter l. Eine Differenzengleichung Fl stellt eine Modellklasse dar. Die Parameter l kçnnen variiert werden ber dem Parameterraum D. Wenn ein Parameter spezifiziert ist, beispielsweise l = l0, dann heißt Fl0 ein Modell (eine Differenzengleichung). Wenn die Parameter nicht spezifizert sind, so heißt Fl eine Modellklasse.
ndert sich die gesamte Dynamik qualitativ (Abb. 3 – 3).54 So kann aus einem stabilen periodischen Orbit55 ein aperiodischer Orbit hervorgehen oder auch Chaos. Auch der bergang von einem Orbit der Periode 2 zu einem der Periode 4 stellt eine (Periodenverdopplungs-) Bifurkation dar. In den Punkten struktureller Instabilitt ist dann auch die Dynamik instabil, aber nicht notwendigerweise chaotisch, sondern mitunter periodisch. Vielfach erhlt man ganze Kaskaden von PeriodenverdopplungsBifurkationen (2, 4, 8, 16, 32, …). Eine baumhnliche Struktur dynamisch stabiler Orbits entsteht im bergang durch strukturell instabile Punkte; neue stabile Orbits entstehen, alte periodische Orbits werden instabil. Die ste des Baumes spalten sich in immer krzere Abstnde auf. Die einzelnen Bereiche des Baumes hneln dem Ganzen, allerdings auf jeweils unterschiedlichen Skalen. Diese Selbsthnlichkeit ist eine globale 54 Nicht-Hyperbolizitt ist einer der wesentlichen Bedingungen fr strukturelle Instabilitt. 55 „Orbit“ und „Trajektorie“ werden hier, wie in der gesamten Arbeit, weitgehend synonym verwendet.
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
Eigenschaft vieler dynamischer Systeme, deren Bifurkationskaskade durch Punkte struktureller Instabilitten entsteht (Feigenbaum 1978). Strukturelle Instabilitten liegen nicht nur auf Seiten der Modelle, wie eben diskutiert. Vielmehr gibt es sie auch auf Seiten der physikalischen Objektsysteme. Sie zeigen sich an dem, was sie zur Folge haben, nmlich Phasenbergnge, Symmetriebrechungen, Strukturbrche, Kipppunkte, Kritizitten, Krisen. Die Beispiele sind zahlreich: eine chemische Oszillation setzt ein, eine Rollenbewegung in einer Flssigkeit, eine enzymkinetische Reaktion, eine mechanische Ratterschwingung, eine Strudelbildung im Flusswasser. Eine Flssigkeit wird viskos, ein Festkçrper wird supraleitend, Eiskristalle entstehen, ein Phasenbergang zum Gasfçrmigen findet statt, Laserlicht bildet sich, ein Wasserhahn beginnt zu tropfen, eine Glhbirne erlischt, eine Brcke bricht, ein Gefß reißt, ein Erd- oder Seebeben tritt ein. Eine thermische Konduktion kommt zum Erliegen und es setzt eine Konvektion ein. Muster bilden sich, Strukturen entstehen, Prozesse setzen ein. In all diesen Fllen wird eine Schwelle berschritten, eine Grenze passiert. In diesen kritischen Punkten ereignet sich etwas Neues, – oder zurckhaltender: etwas Anderes. Dies ist zu konstatieren, unabhngig davon, ob das Neue oder Andere als ein hçherer oder als ein niedrigerer Ordnungszustand klassifiziert wird, als besser oder schlechter bewertet wird. Was immer unter dem schillernden Begriff der Selbstorganisation verstanden werden kann (Kapitel 6), hier erhlt er eine mçgliche Deutung. Strukturelle Instabilitt ist die notwendige Bedingung fr die Entstehung von Neuem, von neuen Eigenschaften, Phnomenen, Mustern, Strukturen. Und auch Entwicklung und Evolution, von der physikalischen bis zur biologischen Evolution, bedarf der Durch- und bergnge durch strukturell instabile Situationen. In ihnen wurzelt, wie man es vielleicht ein wenig anthropomorph sagen kçnnte, Variabilitt und Flexibilitt. Wenn dies zudem noch positiv bewertet wird, insofern und weil ein neuer Ordnungszustand zu entstehen vermag, ist mitunter von „Kreativitt“ (vgl. Kanitscheider 1993) die Rede. Strukturelle Instabilitten stellen mithin Punkte oder gar Punktmengen von Transitionen dar, die nicht nur eine Funktion fr etwas Anderes haben, sondern in deren Kern die neuen Phnomene, Zustnde, Entitten entstehen. Die Punkte der strukturellen Instabilitt kçnnen durch menschliche Handlungen, etwa durch Parametervernderungen, erreicht und berschritten werden. Andererseits kann auch die systemimmanente Dynamik „selbst“ dies vollziehen. Das ist jeweils vom Phnomen, vom Kontext sowie vom
3.3. Instabilitts-Typen
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Erkenntnis- und Gestaltungsinteresse abhngig; es lsst sich nicht vorab bestimmen (Kapitel 6). Neben jenen Systemen, die isolierte Punkte struktureller Instabilitt aufweisen, gibt es andere, die in jeder kleinsten Variation von Randbedingungen jeweils eine Art „Phasenbergang“ vollziehen. Bei Variationen kçnnen unendlich viele Phasenbergnge generiert werden. Schon bei Objekten der Klassischen Mechanik, z. B. dem Duffing-Oszillator, dem Stoßoszillator oder dem Prellball, finden sich Parameterintervalle, auf welchen strukturell instabile Punkte dicht (beieinander) liegen: In jeder Umgebung eines jeden Punktes struktureller Instabilitt liegt abermals ein derartiger Punkt.56 Im Falle der strukturellen Instabilitt gilt: Kleinste Variationen der Parameter, des Modells oder der Gleichungsstruktur kçnnen strukturell andere Gesamtdynamiken zur Folge haben. Es kommt abermals auf allerkleinste Details an, die sich weder von Hand noch technisch-experimentell ausreichend fein justieren lassen.57 Fazit Von Instabilitt ist folglich mindestens in dreifacher Hinsicht zu sprechen: als statische, dynamische und strukturelle Instabilitt. Die Zusammenhnge zwischen diesen drei Instabilittstypen sind in der mathematischen Physik und Mathematik allerdings bis heute nicht abschließend geklrt. Mit der Anerkennung von Instabilitten rcken Stabilitt und Instabilitt in ein neues Verhltnis. Nicht allein Stabilitt, sondern auch Instabilitt gilt heute als Grundcharakter von Natur, freilich auch von technischer Natur, von Instrumenten und Apparaten. Stabilitt erscheint in einer Natur, die von Instabilittstypen durchdrungen ist, die Wachs56 Dies ist analog zur dynamischen Instabilitt des regelbehafteten Chaos. Kleinste Variationen der Startpunkte kçnnen zu gnzlich unterschiedlichen Langzeitdynamiken fhren. 57 Das gilt freilich nicht nur auf Seiten der physikalischen Objektsysteme, sondern auch auf Seiten der mathematischen Modelle und Gesetze. Auch hier tritt die strukturelle Instabilitt hervor. Insbesondere durch analytische, geometrische und numerische Untersuchungen mathematischer Modelle im Rahmen der Bifurkationstheorie weiß man (Ruelle 1989; Wiggins 1988), dass strukturelle Instabilitt ein vielfltiges und hufig anzutreffendes Phnomen darstellt. Die Bifurkationstheorie ist die Theorie der strukturellen Instabilitten, ihrer notwendigen und hinreichenden Bedingungen, ihrer Klassen und Typen.
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
tum, Selbstorganisation und Evolution ermçglicht (Kapitel 6). Nimmt man nun Instabilitten im physikalischen Objekt- und mithin im Naturverstndnis ernst, so zeigen sich methodologische Probleme und folglich Herausforderungen fr die Physik. Weshalb sie auftreten und worin sie liegen, ist Fragestellung des folgenden Abschnitts.
3.4. Problematisierung der klassisch-modernen Physik – Systematisches Eine unterentwickelte Wissenschaft? Es gab gewiss gute Grnde, um an Stabilitt festzuhalten. Eine starre, stabile, zeitlose Natur ist eine wissenschaftlich gut handhabbare und leicht zugngliche Natur. Fr sie sind Mathematik und Methodik wohlentwickelt. Das gilt fr eine instabile Natur nicht mehr. So wird man heute rckblickend sagen mssen: „Dass nichtlineare [und Instabilitts-] Theorien so selten sind, ist weniger eine Besonderheit der Natur als ein Zeichen unterentwickelter Wissenschaft, fhrt doch Nichtlinearitt zu immensen Schwierigkeiten.“ (Bunge 1987, 188) Die bis vor wenigen Jahrzehnten anhaltende „Unterentwicklung“ ist fraglos das Produkt einer einstigen wissenschaftsgeschichtlichen Notwendigkeit und Teil ihres einzigartigen Erklrungserfolgs. Dass die Vter der klassisch-modernen Physik durch die Brille der Stabilittsannahme schauten und schauen mussten, um Naturobjekte zu selektieren, Objektsysteme zu konstituieren, Modelle auszuwhlen, Gesetze zu bilden und Regelmßigkeiten zu erkennen, ist in methodologischer Hinsicht zunchst verstndlich: Jedes mathematische Modell ber physikalische Phnomene ist eine Vereinfachung. Phnomene in Raum und Zeit sind empirisch niemals exakt zugnglich, sondern immer nur in Approximationen, behaftet von empirischen Ungenauigkeiten.58 Bertrand Russell gelangte gar zu der Behauptung: „Although this may seem a paradox, all exact science is dominated by the idea of approximation. When a man tells you that he knows the exact truth about anything, you are safe in inferring that he is an inexact man.“59 Nun fhren Unexaktheiten bei 58 Ablese- und Diskretisierungsfehler treten auf, Umwelt- und Laboreinflsse sind nicht auszuschließen; nur endliche Datenpunkte und endliche Zeitskalen sind zugnglich. 59 Zitiert nach Auden/Kronenberger (1966).
3.4. Problematisierung der klassisch-modernen Physik – Systematisches
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Stabilitt zu keinerlei Schwierigkeiten. Sie kçnnen kompensiert werden; sie schaukeln sich nicht auf, sondern klingen ab. Der stabile Zustand wird im Laufe der Zeit wieder erreicht – ganz so, wie eine Murmel unabhngig von ihrem exakten Startpunkt ins tieferliegende Loch rollt, unabhngig von der genauen Lage des Lochs. Bei Instabilitt hingegen kann es auf kleinste Details ankommen.60 Vielleicht kçnnte man – zugegebenermaßen stark metaphorisch – sagen: Dass der Teufel im Detail steckt, fhrt die klassisch-moderne Physik methodologisch in Teufels Kche. Die Schwierigkeiten mit den Details mçgen zum Festhalten an Stabilitt beigetragen haben. Die Anerkennung von Instabilitten hat erhebliche Konsequenzen fr klassisch-moderne Annahmen ber adquate Modelle physikalischer Phnomene: „We shall question the conventional wisdom that robustness or structural stability is an essential property for models of physical systems“, bemerken Guckenheimer und Holmes (1983, 38).61 Das wird in diesem und im folgenden Kapitel zu zeigen sein. Vor dem Hintergrund der drei Instabilittstypen werden Argumente gegen die vier tragenden Merkmale der klassisch-modernen Physik (Kapitel 2.3. – 2.6.) vorgebracht. Damit soll zur Problematisierung dieses Physiktyps beigetragen werden. „Problematisierung“ meint freilich nicht Verabschiedung sondern Infragestellung, womit gleichzeitig das Besondere der klassischmodernen Physik herausgestellt wird: Unter dem Stichwort „unendliche Ferne der quantitativen Zukunft“ wird die Prognostizierbarkeitsthese hinterfragt, unter „Unbeherrschbares in der Welt“ die Reproduzierbarkeitsthese, unter „Theorie und Experiment in zwei disjunkten Welten“ die 60 Fr Wiggins (1990, 94) ist die Stabilittsannahme plausibel. Denn „mathematical models we devise to make sense of the world around and within us can only be approximations. Therefore, it seems reasonable that if they are to accurately reflect reality, the models themselves must be somewhat insensitive to perturbations. The attempts to give mathematical substance to these rather vague ideas have led to the concept of structural stability.“ hnlich stellen Arrowsmith und Place (1990, 119) heraus: „In applications we require our mathematical models to be robust. By this we mean that their qualitative properties should not change significantly when the model is subjected to small, allowable perturbation.“ Und Williams (1985, 70 f ) meint: „A system which completely lacks stability would be a poor model for reality, as reality is always a perturbation of what we think it is. Thus some kind of stability is crucial.“ 61 Deutlich auch bei Kellert (1994, 115 f ): „A new science [such as chaos theory and late modern physics] can reveal the limits of standard methodological approaches to understanding the world and impel a reconsideration of the metaphysical views that undergirded them.“
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
Prfbarkeitsthese und unter „ohne Redundanz“ die Reduzier-, Vereinheitlichungs- und Erklrbarkeitsthese. Die unendliche Ferne der quantitativen Zukunft: Limits der Prognostizierbarkeit Mit nichtlinearen Gesetzen und den dort auftretenden Instabilitten sind „mathematische Schwierigkeiten“ (Bunge 1987, 188) verbunden. Selbst dann, wenn konsistente und empirisch-evidente Gesetze vorliegen, ist noch nichts ber die Prognostizierbarkeit ausgesagt. Laplace hatte dies aus der Perspektive einer berirdischen Intelligenz noch behaupten kçnnen. Und auch Hempel und Oppenheim hatten keinen Zweifel an der prinzipiellen Prognostizierbarkeit bei gegebenem Gesetz und gegebenen Anfangs- und Randbedingungen; sie vertraten die bekannte These von der strukturellen Identitt von Erklrung und Prognose. Doch Gesetze helfen nicht immer, wie nun dargelegt wird: Selbst wenn alle nomologischen Erkenntnisprobleme kausaler Naturgesetze gelçst wren, ist die Prognostizierbarkeit nicht notwendigerweise gewhrleistet. Um das zu erlutern, bedarf es eines Blicks in die mathematische Struktur physikalischer Gesetze. Mit einer Differenzialgleichung mag zwar ein potenzieller Gesetzeskorpus gegeben sein, jedoch noch keine spezielle Lçsung, keine einzelne Trajektorie, kein bestimmter Orbit. Die Lçsung muss erst aus der Differenzialgleichung bestimmt werden, um zu konkreten Realisierungen zu gelangen und um somit Aussagen treffen und empirische Tests durchfhren zu kçnnen. Das ist allerdings nicht nur eine Frage des Einsetzens von adquaten Anfangs- und Randbedingungen in gegebene Gesetze, wie es Hempel und Oppenheim mit ihrem Erklrungs- und Prognosemodell nahegelegt haben. Vielmehr weist die Prognose selbst Probleme auf. Nun ist die Lçsungsbestimmung durch Integration bei linearen, stetig differenzierbaren Gesetzen zumeist unproblematisch. Die Mathematik ist hierfr wohlentwickelt. Nichtlineare Gesetze hingegen sind meist nichtintegrabel.62 Ihre Lçsung ist in einer geschlossenen Form, also in Form elementarer (algebraischer und trigonometrischer) Funktionen sowie 62 Nichtintegrabel heißt, dass durch keine geeignete Koordinatenwahl die Wechselwirkungen der Systemkomponenten wegtransformiert werden kçnnen. Dies gilt immer dann, wenn ein nichtlineares Differenzialgleichungssystem nicht in ein lineares transformiert werden kann.
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elementarer Integrale, analytisch nicht bestimmbar. Mit Papier und Bleistift kann die Lçsung nicht berechnet werden, auch wenn sie durch mathematische Existenz- und Eindeutigkeitsstze gesichert sein mag. Technisch gesprochen konvergieren allgemeine Reihenentwicklungen, etwa Taylorreihen, nicht. Das etablierte Verfahren der Stçrungsrechnung versagt. Nichtberechenbarkeit in diesem analytischen Sinne meint also: Nichtexistenz einer geschlossenen Lçsungsform. Die Lçsung ist offen; sie muss iterativ, also schrittweise und sukzessive gewonnen werden. Diese analytische Nichtberechenbarkeit kann computernumerisch teilweise umgangen werden. Hierfr ist Stabilitt eine wesentliche Bedingung. Denn beim numerischen Berechnen kommen Ungenauigkeiten ins Spiel, die mit der computernumerischen Endlichkeit und der physikalisch-rechnertechnischen Digitalisierung von Zahlen sowie mit dem thermodynamischen Aufwand der Berechnung selbst verbunden sind. Sie betreffen dabei noch nicht einmal messtechnische Nichtexaktheiten. Liegt Stabilitt vor, kçnnen sich Ungenauigkeiten nicht aufschaukeln. Numerisch gewonnene und analytisch unzugngliche Lçsungen konvergieren mit der Zeit. So kann beispielsweise ein analytisch unzugnglicher, dynamisch stabiler periodischer Orbit numerisch approximiert – und in diesem Sinne „gefittet“ – werden.63 Eine langfristige Prognostizierbarkeit ist gewhrleistet. Bei Instabilitten treten hingegen unterschiedliche Probleme der Prognose auf – auch wenn lokale Prognosen durchaus mçglich sein kçnnen.64 63 Eine offene Lçsung meint nicht, dass kein periodischer Orbit vorliegen kann. Offenheit bezieht sich auf die Lçsungsform (d. h. auf die Lçsungsfunktion) und nicht auf die Form der Trajektorie („Orbit“) im Zustandsraum. 64 Whrend der numerische Aufwand („complexity of computation“) zur Berechnung einer geschlossenen Lçsung (eines linearen Systems) unabhngig vom Prognosezeitraum und zur Berechnung eines periodischen Orbits einer offenen Lçsung linear zum Prognosezeitraum ist, steigt der numerische Aufwand zur Bestimmung einer offenen (instabil-chaotischen) Lçsung mit wachsendem Prognosezeitraum stark (i.A. exponentiell) an. Schurz (1996, 127) geht sogar weiter und verwendet, in Anlehnung an Stone (1989), Vorausberechenbarkeit weitergehend als Kriterium fr die Definition der „geschlossenen Form“ einer Lçsung. „I suggest to define a solution as having a closed form if there exists an algorithm for its computation for which the time of computation is almost independent from the prediction time; otherwise it has an open form.“ (ebd.) Je grçßer der Prognosezeitraum, desto mehr Iterationen der numerischen Lçsungsbestimmungen werden notwendig. – Zu unterscheiden sind hierbei insbesondere die jeweiligen „Input“-Grçßen der Prognosen, also ob es sich um Start- oder um Randbedingungen handelt. Formal dienen Prognosen der Gewinnung von „Output“- aus „Input“-Grçßen unter Verwendung von Gesetzen.
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Erstens: Bei der Wasserscheiden-Instabilitt sind unterschiedliche Attraktoren durch eine Wasserscheide voneinander getrennt.65 Fr einen Startpunkt („Input“), der in der Umgebung der Wasserscheide liegt, ist eine Prognostizierbarkeit der Dynamik („Output“) nicht mçglich. Das liegt an den Grenzen des messtechnischen Auflçsungsvermçgens des exakten Ortes des Startpunktes (Lokalisierungs- und Messproblematik) und auch an computernumerischen Ungenauigkeiten (Digitalisierungsproblematik). Es bleibt unbestimmbar, auf welcher Seite der Wasserscheide und damit in welchem Einzugsgebiet66 der Startpunkt exakt liegt. Folglich ist unbestimmt, zu welchem Attraktor er mit der Zeit wandert und wo sein Endzustand sein wird. Benachbarte Startpunkte kçnnen sich voneinander entfernen, ohne sich wieder anzunhern. Das gilt allerdings nur fr Startpunkte in der Umgebung der Wasserscheide. Wartet man jedoch einige Zeit, so werden die Startpunkte unter der Dynamik weitertransportiert und liegen (fast berall) nicht mehr in der Umgebung der Wasserscheide. Dann spielt die Frage der exakten Auflçsbarkeit des ursprnglichen Ortes eines Startpunktes keine Rolle mehr und das Langzeitverhalten kann angegeben werden: Prognosen sind hier mçglich. Die Situation kann illustriert werden durch die Bewegung eines Tennisballs. Befindet sich dieser nicht mehr an seinem Startpunkt, also beispielsweise nicht mehr in unmittelbarer Umgebung des instabilen Gleichgewichts eines Dachfirsts, so beginnt der Ball zu der einen oder anderen Seite des Hausdachs herunterzurollen. Von jetzt an kann die globale Bewegung als prognostizierbar angesehen werden. Folglich ist der Begriff der Nichtprognostizierbarkeit fr den Fall der statischen Instabilitt nur fr sehr kleine Zeitskalen und bezogen auf Startpunkte in der Umgebung der Wasserscheide angemessen. 65 Als Beispiel kann das zweidimensionale nichtlineare Differenzialgleichungssystem: dx/dt = x – x3 , dy/dt = – y , herangezogen werden (Wiggins 1990, 44). Es existieren zwei stabile Fixpunkte (= Attraktoren, bei x = 1, y = 0) und ein instabiler Fixpunkt (bei x = 0, y = 0). Entscheidend ist, dass die beiden stabilen Fixpunkte den Zustandsraum in disjunkte Einzugsgebiete unterteilen, wobei die Punkte der Einzugsgebiete („Bassins“) unter Zeitentwicklung entweder auf den einen oder den anderen stabilen Fixpunkt abgebildet werden. Der Abschluss der Einzugsgebiete bildet die Einzugsgebiets-Grenze (Bassingrenze, Einzugsgebietsgrenze, 1-dimensionale Hyperebene mit x = 0). Eine derartige Grenze markiert die Wasserscheide im Zustandsraum. 66 Man spricht auch von „Bassin“; Wasserscheiden bilden die „Bassingrenze“. Sie kçnnen selbst irregulr, gezackt („fraktal“) oder gar durchlçchert („riddled bassins“) sein, vgl. Alligood/Yorke (1989) und Alexander et al. (1992).
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Zweitens: Wenn dynamische Instabilitt vorliegt, verschrfen sich die Probleme. Eine Prognose ist dann nicht nur fr Startpunkte in der Umgebung der Wasserscheide unmçglich, sondern fr alle Zustandsentwicklungen auf dem chaotischen Attraktor.67 Dieser kennzeichnet ein Gebiet des mathematischen Zustandsraumes, in dem eine ußerlich anziehende, innerlich Wollknuel-hnliche invariante Struktur vorherrscht. Ein Attraktor zieht (fast) alle Startpunkte seiner ußeren Umgebung an; im Laufe der Zeit erreichen ihn (fast) alle Trajektorien. Innerhalb eines chaotischen Attraktors findet sich mindestens ein dynamisch-instabiler aperiodischer Orbit, welcher sich niemals schließt, sondern eine wirre Wollknuel-hnliche Struktur eines unendlichen Fadens zeigt. Das ist vergleichbar mit der Bahn einer Rosine im Prozess des Teigknetens, also mit einem kontinuierlichen Streck-, Stauch- und Faltmechanismus. Aufgrund der dynamischen Instabilitt tritt hier eine exponentielle Divergenz von fast allen benachbarten Startpunkten auf. Man spricht bekanntlich von sensitiver Abhngigkeit und vom Schmetterlingseffekt (Lorenz 1996). Damit ist gemeint, „that two states differing by imperceptible amounts may eventually evolve into two considerably different states. If, then, there is any error whatever in observing the present state – and in any real system such errors seem inevitable – an acceptable prediction of an instantaneous state in the distant future may well be impossible.“ (Lorenz 1963, 133) Dynamisch instabile Zustandsentwicklungen sind numerisch effektiv nicht behandelbar. Der Aufwand der Computerberechnung steigt mehr als exponentiell an. Ein Computer ist kein formales logifiziertes System (Turing-Maschine), sondern eine physikalische Maschine. Die Computerberechnung ist thermodynamischen, relativittstheoretischen und quantenmechanischen Grenzen unterworfen. Von praktischer Bedeutung ist vor allem die Thermodynamik. Berechnungen sind Prozesse der Informationsverarbeitung und -vernichtung. Sie erfordern thermodynamischen Aufwand und erzeugen Entropie, wie schon in der Diskussion um Maxwells Dmon deutlich wurde.68 Je nachdem, welche thermodynamischen Kosten man bereit ist zu zahlen, ergeben sich unterschiedliche numerische Grenzen hinsichtlich der Approximationsgte. Prinzipielle 67 Jenseits des Attraktors, etwa in einem Einzugsgebiet, liegt nach wie vor Prognostizierbarkeit vor. 68 Verwiesen sei u. a. auf Maxwell (1878), Szilard (1929), Landauer (1961/67) und Bennett (1982/87).
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
Grenzen sind durch die maximale Energie im Kosmos zur Realisierung einer numerischen Berechnung gegeben.69 Zwar verweist die dynamische Instabilitt auf prinzipielle Grenzen der Prognostizierbarkeit. Sie verhindert allerdings nicht jede Prognose. Nichtexakte Kurzzeitprognosen sind in vielen Fllen mçglich. Gleiches gilt auch fr sehr unexakte Langzeitprognosen, deren Exaktheit lediglich dem Attraktordurchmesser entspricht. Das, was als prognostizierbar bezeichnet wird, hngt somit auch ab von Fragestellung, Zweck, Ziel, Ressourcen und Instabilittsgrad. Fr manche Zwecke kçnnen Unexaktheiten, wie sie durch den Attraktordurchmesser gegeben sind, als unproblematisch angesehen werden, fr andere Zwecke hingegen erscheinen sie ußerst problematisch. Prognostizierbarkeit ist damit kein absoluter, sondern ein relativer und relationaler Begriff. Ein gewisser Konventionalismus tritt hervor.70 Drittens: Eine der statischen Instabilitt hnliche Problematik zeigt sich im Fall der strukturellen Instabilitt. Kleinste Variationen des mathematischen Gesetzes kçnnen zu vollstndig anderen Zeitentwicklungen fhren. Sind beispielsweise Randbedingungen und Naturkonstanten eines Gesetzes („Input“) nicht exakt empirisch zugnglich (Messbarkeitsproblematik) und numerisch nicht exakt darstellbar (Digitalisierungsproblematik), kann eine Prognose der Langzeitdynamik („Output“) unmçglich werden. Es kommt dann auf kleinste Details an. Einmal kann ein periodischer Orbit entstehen, ein anderes Mal ein chaotischer Orbit. So lsst sich mit Hermann Bondi sagen, dass man „gar nicht erst die Quantentheorie bemhen [muss], um zu sehen, daß die in Newtons Sonnensystem so uneingeschrnkt gegebene Vorhersagbarkeit kein uni69 Verwandt ist die Behandlung der Thematik mit dem Konzept der algorithmischen Informationstheorie (Chaitin 1987; s.u.). Die Vorausberechenbarkeit und Bestimmung eines Systemzustandes n+1 ist genau dann gegeben, wenn die bisherigen n Systemzustnde numerisch kompressibel sind, d. h. durch ein kurzes Programm generiert werden kçnnen. 70 Insgesamt koexistieren unterschiedliche Verstndnisweisen von Berechenbarkeit bzw. Nichtberechenbarkeit. Berechenbarkeit kann komplementr zur Nichtberechenbarkeit verstanden werden. Berechenbarkeit heißt u. a.: (1) Berechenbarkeit im Sinne der Existenz einer geschlossenen Lçsung bzw. weitergehend (2) Vorausberechenbarkeit (2.i) entweder als Existenz einer geschlossenen Lçsungsform oder (2.ii) als offene Lçsungsform mit maximal einem stabilen Orbit oder (2.iii) als offene Lçsungsform mit Startpunkt nicht in der Umgebung von Einzugsgebiets-Grenzen oder (2.iv) als exakte Kenntnis des Startpunktes, vgl. Schmidt (2003a).
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verselles, ja nicht einmal ein normales Kennzeichen von Wissenschaft ist. […] Erst wenn man diese Begrenzung erkennt, kann man die Fortschritte in der Wettervorhersage richtig wrdigen.“ (Bondi 1993, 309) Als Wissenschaft der Instabilitten hat die heutige Physik Anteil an der Explikation unterschiedlicher Typen von Prognostizierbarkeit und an der Reflexion der Prognoseprobleme (Schmidt 2003a). Zusammenfassend zeigen sich mit der Prognostizierbarkeitsproblematik auch Problempunkte fr instrumentalistische, transzendentalistische und realistische Positionen. Der Instrumentalismus kennzeichnet Gesetze als Prognoseinstrumente. Die Transzendentalphilosophie sieht Prognostizierbarkeit und – quivalent – den Schluss auf die Zukunft als Bedingung der Mçglichkeit von empirischer Naturerfahrung. Der Realismus verfolgt eine Approximationsthese, welche Gesetze ber den Prognoseerfolg zu qualifizieren versucht: Je genauer die Prognose empirischer Phnomene, desto wahrheitshnlicher das Gesetz.71 Nun fhren Instabilitten dazu, dass Prognosen vielfach auch dann nicht verbessert werden kçnnen, wenn die Gesetze detaillierter und prziser werden. Instabilitten schieben einen Keil zwischen Gesetzeshaftigkeit und Prognostizierbarkeit. Der traditionelle Rekurs auf Prognostizierbarkeit charakterisiert dann weder eine Gesetzeshaftigkeit noch die Bedingung von Naturwissenschaft noch die Kriterien der Realitts- bzw. Wahrheitsapproximation. Mit den vielfltigen Grenzen der Prognostizierbarkeit entfllt auch ein oft sttzend verwendetes und vielfach als notwendig angesehenes Argument fr die Annahme der Gesetzeshaftigkeit von Natur: Wenn Prognosen nicht mçglich sind und Prognosen als Hinweis auf Gesetzeshaftigkeit oder gar auf einen (ontologischen) Determinismus angesehen werden, dann entfllt dieser (einzige) epistemische Hinweis, zumindest bezogen auf instabile Naturbereiche (Maxwell 1873, 440).72 Dass mitunter in ontologischer Hinsicht prinzipielle Prognostizierbarkeit und universelle Gesetzeshaftigkeit angenommen werden, wie schon bei 71 In den Worten von Psillos (1999, xix), der einen moderaten wissenschaftlichen Realismus vertritt: „The epistemic stance [of realism] regards mature and predictively successful scientific theories as well-confirmed and approximately true of the world.“ 72 Maxwell (1873, 440) hatte das bereits herausgestellt, nmlich dass „physical stability is the characteristic of those systems from the contemplation of which determinists draw their arguments.“ Vor diesem Hintergrund kçnnte gelten, dass „the promotion of natural knowledge may tend to remove that prejudice in favour of determinism.“ (ebd., 444)
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Laplace, stellt nicht mehr dar als eine voraussetzungsvolle Denkmçglichkeit. Argumente hierfr finden sich in der Physik der Instabilitten nicht. Unbeherrschbares in der Welt: Grenzen der Reproduzierbarkeit In der experimentellen Reproduzierbarkeit wurde vielfach ein „hervorstechendes methodologisches Merkmal der Physik“ gesehen (Tetens 1987, 1). Instabilitten problematisieren die Zugnglichkeit zu und die Kontrollierbarkeit von Anfangs- und Randbedingungen eines Experiments, ferner die Wiederholbarkeit von experimentellen Prozessen sowie die Reproduzierbarkeit von Ereignissen.73 Fr die Zugnglichkeit zu Anfangs- und Randbedingungen gelten bei instabilen Objektsystemen zunchst hnliche Begrenzungen wie bei stabilen. Schon Poincar meinte, dass „selbst [dann,] wenn die Naturgesetze fr uns kein Geheimnis mehr enthielten, […] wir den Anfangszustand immer nur nherungsweise kennen [kçnnten].“ (Poincar 1914, 56) Werden – erstens – theoriegeleitet Anfangs- und Randbedingungen gewonnen, welche experimentell realisiert werden sollen, zeigt sich eine Grenze der technischen Prparierbarkeit (Prparierbarkeitsgrenze der Start-Handlung). Die gerade erst begonnene wissenschaftstheoretische Diskussion um die Nanotechnologie hat auf diese Grenzen der technischen Prparierung und der molekularen Fabrikation von Objektsyste73 Mit der hier vorgenommenen Klrung wird dem entsprochen, was Radder (2003, 2) fr eine „more developed philosophy of scientific experimentation“ gefordert hat, nmlich eine Explikation des Stabilitts- (und Instabilitts-) Begriffs: „Consider, for instance, the notion of stability. Within the science studies approach, a major feature of experimental practice is claimed to be the emergence of an interactive stability between a variety of heterogeneous elements of experimental practice; for example, material procedures, models of instruments, and models of the phenomena under study. […] [I]n fact, the notion of stability is richer than mere lack of change, and a more developed philosophy of scientific experimentation should exploit thus surplus meaning. If being stable implies being robust against actual and possible disturbances, then further philosophical questions immediately suggest themselves: […] What characteristics of stabilization procedures can explain this robustness? Are those characteristics only of a factual or also of a normative nature? Generally speaking, dealing with such questions requires the more theoretical approach that is typical of philosophy.“ Allerdings wird hier, anders als von Radder intendiert, nicht seiner impliziten Stabilittsannahme gefolgt, sondern nach Instabilitten und ihren Konsequenzen fr das Experimentverstndnis gefragt.
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men hingewiesen. Von „dicken Fingern“ und „Klebstoff“ spricht Smalley (2001): Dass wir die Welt Atom fr Atom nach unseren Detailvorgaben technisch konstruieren und kontrollieren kçnnten, sei eine Illusion. Unsere technisch-apparativen Mikro- und Nano-Finger sind zu grob. An den „dicken Fingern“ bleiben Atome unkontrollierbar haften. Technischapparativ kann eine durch theoretisch-mathematische Ableitungen gewnschte experimentelle Prparierung im Detail nicht umgesetzt und realisiert werden. Denkbar wre zunchst – zweitens – ein mçgliches Umgehen der Prparierbarkeitsgrenze. Man kçnnte ein Experiment so weit wie mçglich erst prparieren und dann die relevanten Grçßen durch Messung bestimmen. Die eingreifende Zugnglichkeit wre somit zwar durch die Prparierbarkeitsgrenze ebenfalls reduziert, nicht aber die darstellende Zugnglichkeit, also die messende Zuordnung numerischer Grçßen. Doch hier tritt eine Messbarkeitsgrenze auf. Einmal ist eine messtechnische Grenze gegeben durch das Messrauschen, durch die Messapparatur mit ihren thermodynamischen Effekten, durch die systematischen und unsystematischen Messfehler, usf. Diese Grenze definiert zwar keine scharfe Grenzlinie. Es zeigt sich jedoch, dass das Objektsystem messtechnisch nicht exakt bestimmt und symbolisch eindeutig reprsentiert werden kann. Darber hinaus liefert die Quantenmechanik mit ihrer Unschrferelation zwischen kanonisch konjugierten Observablen, etwa Impuls und Ort, eine prinzipielle messtheoretische Grenze. Prinzipielle Grenzen sind durch die maximale Energie im Kosmos zur exakten Bestimmung von Anfangs- und Randbedingungen gegeben. – So stellen Prparierbarkeits- und Messbarkeitsgrenzen die Kontrollierbarkeit schon hinsichtlich der experimentellen Anfangs- und Randbedingungen in Frage, erst recht aber fr die Wiederholbarkeit von Prozessen sowie die Reproduzierbarkeit der Resultate. Denn Kontrollierbarkeit setzt immer einen IstSoll-Vergleich voraus. Ist das Ist unbestimmbar, ist ein intentionaler Eingriff in das Objektsystem als kontrollierende Regelung zum Soll hin erschwert.74 Damit ist die Problematik der Wiederholbarkeit von experimentellen Prozessen angesprochen. Hier spielt nicht nur die begrenzte Kontrolle der Anfangs- und Randbedingungen zu Beginn des Experiments eine Rolle, sondern auch diejenige whrend seines Verlaufs. So ist eine kontrollier74 Bei Stabilitt ist das unproblematisch. Exaktheit ist nicht notwendig, um eine Kontrollierbarkeit zu gewhrleisten. Ganz anders ist das bei instabilen Objektsystemen.
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bare Isolierung des Objektsystems von der Umgebung nicht mçglich. Kleinste Vernderungen, die auch außerhalb des experimentellen Settings und des handelnden Zugriffs durch den Physiker liegen, kçnnen sich durch Instabilitten im experimentellen Prozess bemerkbar machen. Durch den „Schmetterlingseffekt“ treten Verstrkungswirkungen auf. Mikrovernderungen werden in den Mesokosmos berfhrt und experimentell detektierbar. Die Problematik der Wiederholbarkeit basiert auf den drei Instabilittstypen. So kann – erstens – im Falle der statischen Instabilitt die Wasserscheide derart verschlungen, fraktal und durchlçchert sein, dass unentscheidbar ist, auf welcher Seite der Wasserscheide die Startpunkte exakt liegen. Bleibt dies prparierungstechnisch, messtechnisch bzw. messtheoretisch unbestimmt, sind sehr unterschiedliche Prozesse mçglich.75 Eine starke Sensitivitt zu Beginn des Experiments, in der Start-Handlung, liegt vor, so dass die Wiederholbarkeit eingeschrnkt ist. Das verschrft sich – zweitens – fr dynamische Instabilitten. Der Prozessverlauf des Experiments steht kontinuierlich auf des Messers Schneide, also nicht nur bezglich der Startpunkte. Kleinste Einwirkungen whrend des Prozessverlaufs kçnnen deutliche Wirkungen nach sich ziehen. Sind zwei Prozessverlufe P1 und P2 zunchst identisch und wird P1 geringfgig im Prozessverlauf gestçrt, so divergieren P1 und P2 ab einer bestimmten Zeit und erscheinen dann als unkorreliert. Bisher wurden – drittens – nur Startpunkte und die Dynamik betrachtet, nicht aber die Randbedingungen des experimentellen Settings. Eine kleine Vernderung von Randbedingungen zu Beginn oder im Prozess selbst, etwa im Labor oder in der Laborumwelt, kann zu einer strukturell anderen Dynamik fhren. Bei der hier vorliegenden strukturellen Instabilitt kann – metaphorisch gesprochen – eine Fliege am Sirius durchaus einen relevanten Einfluss auf den Prozessverlauf haben, insofern sie die (Gravitations-) Randbedingungen des Experiments verndert. – Zusammenfassend gilt, dass Objektsysteme weder zu Beginn noch im Verlauf des Experiments isolierbar sind. Anders als stabile Objektsysteme stehen sie immer in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung, welche sich bemerkbar machen kann. So lsst sich zugespitzt sagen, „daß an Instabilitten eine Fernordnung beteiligt ist, durch die das System als ein Ganzes wirkt.“ (Prigogine 1992, 117) Fr die experimentelle Reproduzierbarkeit von Ereignissen ist durch die beiden obigen Aspekte – einmal die Zugnglichkeit und die Prpa75 Hat der Startpunkt allerdings die Umgebung der Wasserscheide verlassen, ist die Wiederholbarkeit nicht limitiert.
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rierbarkeit, zum anderen die Wiederholbarkeit von Prozessen – bereits vieles gesagt. Reproduktion geschieht dadurch, dass der Experimentator handelnd etwas tut, um etwas anderes intentional herbeizufhren (vgl. Wright 1991, 74 ff ). Eine anspruchsvolle Verstndnisweise von Reproduzierbarkeit setzt beides voraus, nmlich dass Zugnglichkeit und Prparierbarkeit (Handlung) sowie Wiederholbarkeit (Geschehnis der Natur, Widerfahrnis) gegeben sein mssen. Allgemein gilt: Wenn die Wiederholbarkeit limitiert ist, ist auch die Reproduzierbarkeit limitiert, insofern die Reproduzierbarkeit als Ergebnis der Wiederholbarkeit angesehen wird. Die drei genannten Argumente zur Wiederholbarkeit bleiben gltig. Allerdings gibt es eine schwchere Verstndnisweise von Reproduzierbarkeit, nach der zwar die Prozessverlufe nicht wiederholbar sein mssen, die Ereignisse aber „auf anderem Wege“ reproduziert werden kçnnen: Das wre eine Reproduktion ohne Wiederholbarkeit.76 Auch die schwchere Verstndnisweise ist im Falle von statischen, dynamischen und strukturellen Instabilitten nicht gewhrleistet. Die Prparierungsund Messbarkeitsgrenzen limitieren die Reproduzierbarkeit auch dann, wenn man annimmt, dass andere Prozessverlufe mçglich wren; denn auch diese sind instabil. Eine hinreichende experimentelle Isolierung und detaillierte Manipulation ist abermals nicht mçglich.77 Angesichts der Begrenzung von Wiederholbarkeit und Reproduzierbarkeit wird fragwrdig, ob bei allzu viel Instabilitt berhaupt noch von „Experiment“ gesprochen werden kann. Schließlich sollen in technischen Apparaten Prozessverlufe und Ereignisse kontrolliert generiert werden. „Experimentieren heißt“, so Ian Hacking, „Phnomene schaffen, hervorbringen, verfeinern und stabilisieren.“ (Hacking 1996, 380)78 Was aber, wenn die Stabilisierung nicht gelingt und prinzipiell bei bestimmten physikalischen Objektsystemen nicht gelingen kann? Prozessverlufe und Ereignisse kçnnen wegen ihrer immanenten Instabilitten einmalig und unbestimmt bleiben. Einmaligkeit – als das vermeintlich Kontingente – hat die Physik seit jeher beunruhigt und herausgefordert.79 Ob „dadurch 76 Ob dies eine adquate Verstndnisweise eines Experiments sein kann, sei dahingestellt. 77 Mach (1988, 459) hat schon darauf hingewiesen: „Die Natur ist nur einmal da.“ 78 Aber Hacking (1996, 380) rumt ein: „In Wirklichkeit ist es […] schwierig, Phnomene in stabiler Weise hervorzubringen.“ 79 Bernd-Olaf Kppers (1992, 10) hat zu Recht betont, dass „die konzeptionelle Grundstruktur der traditionellen Physik […] so angelegt [ist], daß sie im wesentlichen nur die reversiblen und reproduzierbaren Naturphnomene erfaßt.“
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die Fhigkeit der Wissenschaft in Frage gestellt wird“, wie Hermann Bondi unter Bezugnahme auf Instabilitten meint, ist eine offene Frage (Bondi 1971, 14).80 So kann mit Michel Serres – wenn auch ein wenig berzogen – angedeutet werden, dass „die Physik des Falls, der Wiederholung, der rigorosen Verkettung ersetzt [wird] durch die schçpferische Wissenschaft des Zufalls und der Umstnde.“81 Fr Prigogine und Stengers wird Physik damit nicht unmçglich. Allerdings verndere diese ihr Methoden- und Naturverstndnis, denn „das Bemhen, die Welt auf nicht-wechselwirkende freie Einheiten zu reduzieren, […] war gescheitert.“ (Prigogine/Stengers 1990, 79)82 Das hat Konsequenzen fr die Erkenn- und Begreifbarkeit. Friedrich Hund meint zu Recht, dass „in der Physik […] die Begreifbarkeit dadurch erleichtert [wurde], daß die Idealflle der Theorie im Experiment sich als genhert herstellen lassen“, was dadurch „gewhrleistet [ist], daß einzelne Erscheinungsgebiete sich isolieren lassen“ (Hund 1987, 221). Doch eine Isolierung des Experiments von der Restnatur kann misslingen, – zwar nicht immer, aber doch fr instabile Objektsysteme der Natur. So lsst sich mit Gernot Bçhme sagen, dass sich die Physik der Instabilitten und des Chaos „in Bereiche hineinbewegt“, in denen „keine Erkenntnisse mehr [gewonnen werden], die die Natur manipulierbar machen. Diese Forschungen, die sehr wohl unser Bild der Natur erweitern und sogar fundamental verndern, zeigen gleichzeitig, daß [technische] Manipulationsmçglichkeiten gegenber der Natur beschrnkt sind.“ (Bçhme 1993a, 29 f ) Damit ist nicht nur das Experimentverstndnis angesprochen, sondern im umfassenderen Sinne das Technikverstndnis. Eine „Unbe-
80 Vollmer (1988, 57) weist darauf hin, dass es „auch von einmaligen Objekten oder Ereignissen […] eine Wissenschaft geben [kann].“ Die physikalische Kosmologie ist dafr ein gutes Beispiel (Kapitel 6). Allerdings weist sie andere Wahrheits- und Geltungsansprche auf als andere Teildisziplinen der Physik. 81 Serres (1977), zitiert nach Prigogine/Stengers (1990, 292). 82 Thom (1975, 16) meint gleichlautend: „However, no matter what precautions are taken to isolate S, the experimenter cannot remove entirely the interaction between S [ = the observed system] and the outside world, and the conditions of a preparation procedure cannot be described and realized with perfect accuracy – and these initial differences cannot but perturb the evolution of the system. Therefore approximately equal results […] can be expected only after implicity assuming that the evolution of S from state a is qualitatively stable.“
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stimmtheitssignatur“ im Kern von Technik zeigt sich.83 Sie wird nicht nur im gesellschaftlichen Rahmen erzeugt, bezieht sich nicht nur auf Ambivalenzen, auf Zweck-Mittel-Verkehrungen und auf die Folgen-Nebenfolgen-Problematik, sondern liegt weitaus tiefer, nmlich im Materiell-Artefaktischen und Gesetzmßigen selbst.84 Wiederholbarkeit (Herstellbarkeit, Handhabbarkeit, Produzierbarkeit, …) und Berechenbarkeit (Planbarkeit, Operationalisierung von heutigen Handlungsgrundlagen, …) sind begrenzt. Damit sind zwei Kernelemente problematisch geworden, welche Technik als „Technik“ kennzeichnen. Ob und wie man berhaupt bei allzu viel Instabilitt und mithin von allzu viel intrinsischer Unbestimmtheit noch von „Technik“ sprechen kann und was „technisches“ Handeln dann noch sein kann, bleibt eine offene Frage. Theorie und Experiment in zwei disjunkten Welten: Probleme der Prfbarkeit Die Bedingung der Mçglichkeit der Prfung eines Modells (Gesetz, Theorie) anhand empirischer Beobachtung ist, dass ein konstanter Zusammenhang zwischen beiden hergestellt werden kann, welcher eine (Personen- und Situations-) Invarianz aufweist. Gerade dieser Zusammenhang wird bei Instabilitten problematisch. Im Folgenden soll dargelegt werden, inwieweit die Prfbarkeit berhrt ist. Ein erster Schritt hierzu ist die Gewinnung von Daten(reihen) quantitativer Grçßen sowohl aus dem Modell DM als auch aus dem Experiment DE. Datenreihen werden in der Physik auch als Zeitreihen bezeichnet, weil sie die Zeitentwicklung und den Prozessverlauf von Modell(lçsung) bzw. Experiment(verlauf ) widerspiegeln. Zu spezifizieren sind jeweils die Startpunkte xM und xE von Modell und Experiment, sowie die Randbedingungen lM und lE, und die Startzeiten tM und tE. Die Datenreihen DM(xM, lM, tM) und DE(xE, lE, tE) bestehen, so sei hier angenommen, aus diskreten, endlich vielen Punkten 83 Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive hat Gamm (2000, 275 ff ) die Unstimmtheit von Technik in den Mittelpunkt seiner Technik- und Kulturphilosophie gestellt. 84 Dass in den letzten Jahrzehnten technische Systeme komplexer geworden sind, heißt, dass durch vielfltige Rckkopplungen Quellen fr Instabilitten entstanden sind. Moderne Technik ist mithin eine Technik, die zur Instabilitt neigt. Instabilitten sind ihr immanent.
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{xM1(xM,lM,tM), xM2(xM,lM,tM), … , xMZ(xM,lM,tM)} bzw. {xE1(xE,lE,tE), xE2(xE,lE,tE), … , xEZ(xE,lE,tE)}. Damit stellen sie die Zeitentwicklung von Modell und Experiment in diskretisierter Form dar. Die beiden Datenreihen DM und DE werden jeweils auf unterschiedliche Weise gewonnen; diejenige von DM erfolgt durch numerische Integration der Differenzialgleichung des Modells zu gegebenen xM, lM und tM. Man lsst das Modell gewissermaßen sich durch numerische Integration in der Zeit entwickeln und misst an diesem jeweils entlang einer beliebigen unabhngigen Koordinatenachse. Somit bedarf nicht nur die Messung am Experiment, sondern auch die am Modell konstruktiver Messverfahren. Entscheidungen sind zu treffen, nmlich welche Daten nach welchen Kriterien zu messen sind.85 Die Datenreihe DM ist also nicht mit dem Modell bzw. mit dem Gesetz schon gegeben, sondern weist einen hohen konstruktiven Anteil auf. – hnliches gilt fr die Gewinnung der Datenreihe DE des Experiments. Auch hier sind die Daten nicht gegeben, sondern mssen in der Zeit gewonnen werden. Das Experiment ist raumzeitlich auszufhren, um an ihm Messungen durchzufhren. Entscheidungen sind zu treffen, die die Messapparatur, das Messverfahren und den Messfilter bis hin zur Datenaufnahme, Datenaufbereitung und Speicherung betreffen. Nun kann gefragt werden, ob das Modell die empirischen Phnomene adquat reprsentiert und damit hinreichend gut approximiert. Die beiden Datenreihen DM(xM, lM, tM) und DE(xE, lE, tE) sind zu vergleichen. Eine allgemeine Voraussetzung ist eine hnliche bzw. gleiche zeitliche Taktung. So ist die hnlichkeit der gemessenen Zeitpunkte bzw. deren jeweilige Differenzen (oder diffeomorphe Transformationen) empirisch sicherzustellen. Gleiches gilt fr die Startpunkte xM und xE sowie die Randbedingungen lM und lE. Nun kann ein Zusammenhang hergestellt werden: Genau dann, wenn sich DM(xM, lM, tM) und DE(xE, lE, tE) in einer gewhlten Metrik (Abstandsmaß) nicht maßgeblich unterscheiden,86 gilt dies als erfolgreiche Prfung des (der Datenreihe DM zugrundeliegenden) Modells an der (der Datenreihe DE zugrundeliegenden) experimentellen Beobachtung. Dieser empirische Evidenzausweis kann im Hinblick auf allgemeine statistische Verfahren und Hypothe85 So sind i.A. nicht alle mçglichen Datenreihen eines Modells von Interesse. 86 Etwa wenn jDM(xM, tM) – DE(xE, tE)j < e, wobei mit j·j eine Metrik bezeichnet sei, e infinitesimal.
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sentests verallgemeinert werden, wobei sich an der Struktur – dem Vergleich der beiden Datenreihen DM(xM, lM, tM) und DE(xE, lE, tE) – nichts ndert.87 Dass vielfltige Entscheidungen und kontingente bersetzungsprozeduren sowie empirische Ungenauigkeiten in jede symbolische Reprsentation eingehen, hatte die von Pierre Duhem ausgelçste Diskussion um die „Underdetermination“ von Theorien durch das Experiment zum Gegenstand (Duhem 1978). Durch Instabilitten radikalisiert sich diese Nichteindeutigkeit. Zu fragen ist, wie es um die Prfbarkeit von Modellen an statisch, dynamisch oder strukturell instabilen Objektsystemen steht. Wenn ein Modell beansprucht, ein beobachtetes instabiles Objektsystem in relevanten Aspekten adquat zu reprsentieren, so muss es ebenfalls Instabilitten aufweisen. Hierbei treten allerdings Probleme auf. Instabile Modelle und instabile Objektsysteme kommen nicht wirklich zusammen (Abb. 3 – 4, Abb. 3 – 5). Gerade bei dynamisch instabilen Objektsystemen gilt: Kein einzelner Prozessverlauf und keine hiervon gewonnene Datenreihe des mathematischen Modells DM „can be compared with experiment or with a computed orbit, since any orbit is effectively uncorrelated with any other orbit, and numerical roundoff or experimental precision will make every orbit distinct,“ so Henry Abarbanel et al. (1993, 1334).88 Ein quantitativer prziser (Daten-) Fit und ein konstanter quantitativer Zusammenhang von DM und DE ist unmçglich. Dies soll nher erlutert werden. Der Hintergrund liegt sowohl auf Seiten der empirischen Objektsysteme als auch auf Seiten der mathematischen Modelle – und ferner im Zusammenspiel von Modell und Objektsystem selbst. Betrachten wir zunchst die erst- bzw. einmalige Prfbarkeit.89 (1) Angenommen, wir htten das wahre Modell vorliegen, ohne es zu wissen, und wir htten keine Prognoseproblematik. Wie wre es zu prfen? Das Problem lge dann auf Seiten des empirischen Objektsystems, seiner Zugnglichkeit, Isolierbarkeit und Kontrollierbarkeit. 87 Mitunter werden freilich – wo mçglich – mehrfache Realisationen herangezogen. 88 hnlich Rueger und Sharp (1996, 103): „If we test a theory in this [classical modern] way we will not find a precise quantitative fit, and this is to be expected if the theory is true of the system.“ 89 Unterschieden werden kçnnte zunchst zwischen einmaliger und wiederholter Prfbarkeit. Doch fragwrdig ist, ob von einmaliger Prfbarkeit berhaupt sinnvoll gesprochen werden kann. Denn Wiederholbarkeit ist notwendige Bedingung der Invarianzherstellung: Prfenkçnnen solle jedermann das Modell durch ein geeignetes Experiment, zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort. Kennzeichen ist demnach die Beobachter-, Zeit- und Ortsinvarianz.
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Abb. 3 – 4: Vergleich der Modell- und Objektsystemdynamiken bei dynamischer Instabilitt. Es liegen gleiche Gesetzmßigkeiten, aber geringfgig unterschiedliche Startpunkte von Modell (Startpunkt a) und Objektsystem (Startpunkt b) vor. Ab einer bestimmten Zeit entsteht unkorreliertes Verhalten.
Es ist nicht nur unmçglich, exakte Anfangs- und Randbedingungen im Experiment technisch-handelnd einzustellen oder messend zu bestimmen.90 Auch wrde es schwerlich mçglich sein, eine hinreichende Isolierung des experimentellen Settings von der Umgebung whrend des Zeitverlaufs vorzunehmen. Kleine Stçrungen in der Umgebung kçnnen so den experimentellen Zeitverlauf verndern und gnzlich andere Daten erzeugen. Die jeweiligen Datenreihen von Experiment und Modell wren – zumindest nach einer gewissen Zeit – aufgrund der dynamischen oder strukturellen Instabilitt vollkommen unkorrelliert und damit quantitativ verschieden. Whrend im obigen Argument vereinfachend die Prognoseproblematik außen vor gelassen wurde, sei nun umgekehrt angenommen (2), dass keine Reproduzierbarkeitsproblematik vorliege: Das instabile Objektsystem sei im Detail zugnglich, prparier-, kontrollier- und messbar. Die Start- und Randbedingungen xE, lE und tE kçnnten direkt gemessen und in das zu testende Modell eingesetzt werden mit dem Ziel, die Datenreihe DM(xM, lM, tM) zu gewinnen. Jetzt dominiert allerdings die Prognoseproblematik die Prfbarkeit. Auch dann, wenn wir unterstellen, dass das Modell wahr sei, vermag es die Datenreihe DE des Experiments nicht zu reprsentieren: Obwohl Anfangs- und Randbedingungen exakt gegeben sind, kommen whrend der Gewinnung und Berechnung der Modelldatenreihe DM Ungenauigkeiten ins Spiel, welche schließlich DM und DE im Laufe der Zeit vollstndig unkorreliert erscheinen lassen. 90 Diese Aspekte haben wir bereits in der Hinfhrung zur Problematik der Reproduzierbarkeitsthese erçrtert.
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Abb. 3 – 5: Vergleich der Modell- und Objektsystemdynamiken bei struktureller Instabilitt. Es liegen jetzt gleiche Startpunkte, aber geringfgig andere Gesetzmßigkeiten (durch geringfgig andere Parameterwerte) von Modell (Parameterwert l1) und Objektsystem (Parameterwert l2) vor. Ab einer bestimmten Zeit entsteht unkorreliertes Verhalten
Damit tritt die hier besprochene Prfbarkeitsproblematik schon dann auf, wenn lediglich eines der beiden Probleme vorausgesetzt wird, nmlich Probleme auf Seiten des empirischen Objektsystems oder auf Seiten des Modells. Die Prfbarkeitsproblematik verschrft sich (3), wenn beide zusammen vorliegen. Dann sind nicht nur die experimentelle oder die berechenbarkeitstheoretische Seite jeweils instabil, sondern beide zusammen – und insbesondere ihr Zusammenspiel. Die Zeitverlufe, wie sie sich in den Datenreihen DM und DE zeigen, divergieren und weisen keinen stabilen quantitativen Zusammenhang auf (Abb. 3 – 4, Abb. 3 – 5).91 Sowohl technisch-experimentell als auch theoretisch-mathematisch hat der erkenntnishandelnde Physiker keine Chance, einen quantitativen Test des Modells anhand der Datenpunkte der Datenreihen durchzufhren. Mit dieser Limitierung der Prfbarkeit ist eine erkenntnistheoretische Grenze erreicht, wie sie selbst in einfachen deterministischen Objektsystemen bei Instabilitt auftritt. Nur qualitative Verfahren kçnnen hier weiterhelfen, wie spter gezeigt wird (Kapitel 5). – Bei statischer Instabilitt gilt die obige Argumentation – die sich primr auf dynamische Instabilitten in mathematischem Modell und in physikalischem Objektsystem bezieht – nur fr Dynamiken in der Nhe der Wasserscheiden. Fr die strukturelle Instabilitt kçnnen sich diese Pro91 Und die Problematik findet eine weitere Verschrfung, wenn es sich nicht nur um eine einmalige Prfung handelt, sondern, wie es blicherweise als adquat gilt, um wiederholte Prfungen. Dann tritt die Reproduzierbarkeitsproblematik hervor, die sich ihrerseits mit der Berechenbarkeitsproblematik verbindet.
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blempunkte verschrfen. Nicht die Startpunkte, sondern die Randbedingungen, die Modelle und die Objektsysteme selbst sind instabil. Zusammenfassend kann mit dem Physiker Peter Beckmann gesagt werden: „[B]ei noch so großer Auflçsung [der Experimentieranordnung kçnnen] immer wieder wesentliche nderungen des von der Theorie behaupteten Verhaltens auftreten […]. Dies ist aber gerade der Fall bei chaotischen [d.h. dynamisch instabilen … sowie auch bei strukturell instabilen] Modellen. Damit bestehen bei derartigen Modellen grundstzliche Grenzen der Falsifizierbarkeit.“ (Beckmann 1997, 6) So wird zweifelhaft, ob das Popper’sche Diktum der „universellen Prfbarkeit, [nmlich] daß [Theorien] berall und zu allen Zeiten unabhngig geprft werden kçnnen“ (Popper 1984, 201/2), noch aufrechterhalten werden kann und zu rechtfertigen ist. Denn der Realist – wie in abgeschwchter Form auch der Empirist – verwendet im Kern seiner Argumentation den Hinweis auf Approximationen, nach welchen (wahre oder evidente) Theorien die empirischen Beobachtungen hinreichend gut angenhert darstellen. Doch „theories of nonlinear dynamics appear to generate a peculiar […] problem for the realist […]: in dealing with chaotic systems improved input for the theory will in general not lead to better predictions about the features relevant for confirmation.“ (Rueger/Sharp 1996, 94)92 Freilich ist nicht nur der Realist, sondern auch der Empirist betroffen von den Problemen der Prfbarkeit und der Ausweisbarkeit von empirischer Evidenz. Schließlich geht der Empirist von der empirischen Rechtfertigung aller in physikalischen Theorien auftretenden (theoretischen) Entitten aus. Gerade das aber scheint problematisch zu werden. Ohne Redundanz: Begrenzung der Reduzier-, Beschreib- und Erklrbarkeit Dass Vereinheitlichung „das Rckgrat der modernen Physik“ sei (Lindley 1997, 11), wurde von Physikern und von Wissenschaftsphilosophen vielfach herausgestellt. Eine fr Vereinheitlichung notwendige Bedingung liegt im Auffinden einer verdichteten, kompakten, çkonomischen Beschreibung. Normativ gesprochen: Finde eine minimale, nicht-redun92 In der Kritik an Approximationsargumenten der Realisten gehen Rueger und Sharp sogar soweit zu behaupten, dass Nichtlinearitten und Instabilitten „provide counterexamples to the metaphysical claim [of the realists].“ (ebd.)
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dante Beschreibung der Welt; entdecke Regelmßigkeiten; erkenne mçglichst viel Eigenheiten der Welt als notwendig; formuliere allgemeine Gesetze (Vollmer 1988, 167 ff ). Die Redundanzeliminierung gilt auch als Voraussetzung fr die ber den Beschreibungserfolg hinausgehende anspruchsvollere Erklrungsleistung. Hier tritt die wissenschaftsphilosophisch kontrovers diskutierte Reduktionismusthematik in ihren unterschiedlichen Spielarten auf den Plan (Schmidt 2003c). Nun zeigen Instabilitten Grenzen der Reduzierbarkeit und damit der Beschreib- und Erklrbarkeit. So hat Barrow herausgestellt, dass wir „im Grunde […] nur deshalb die Welt verstehen [kçnnen]“, weil es „in der Natur so viele lineare [, stabile] und einfache Erscheinungen gibt. […] Einfache lineare Systeme lassen sich in Teilen untersuchen, und deshalb kçnnen wir an einem System etwas verstehen.“ (Barrow 1994, 165) Was ist damit gemeint? In der bisherigen Argumentation wurde angenommen, dass Gesetze (Modelle, Theorien) im Prinzip herstellbar oder auffindbar sind. Gesetze schienen dann nur noch geprft oder als Grundlage von Prognosen herangezogen werden zu mssen. Unterstellt wurde, dass der „Text“ des „Buches der Natur“ kurz, knapp und kompakt ist. Das ist eine Annahme, die bekanntlich tief in der europisch-abendlndischen Denktradition verwurzelt ist. Beispielhaft hatte Descartes im Einfachen, Klaren und Deutlichen des Allgemeinen das Ziel von Physik gesehen (Kapitel 2). In dieser Denktradition nahm man an, dass eine kompakte Regel oder gar ein einfaches kausales Gesetz hinter den beobachteten Phnomenen steht. Damit schien Natur als Natur bestimmt zu sein. Doch das scheint, wie sich angesichts vielfltiger Instabilitten heute herausstellt, nur im Falle stabiler Objektsysteme zuzutreffen. Problematisch fr das Auffinden kompakter Regeln und die Eliminierung von (mçglichen Beschreibungs-) Redundanzen sind dynamische Instabilitten, partiell auch strukturelle Instabilitten. Redundanzeliminierung meint, dass zu einer gegebenen Datenreihe DG(xG,tG) ein abkrzendes Gesetz gefunden werden kann, das sie approximativ zu erzeugen vermag. Fr die folgende Argumentation ist die mit der Chaostheorie verwandte algorithmische Informationstheorie hilfreich.93 Sie 93 Zum Begriff der Information, siehe Kolmogorov (1965), Chaitin (1987), Zurek (1990) und allg. Chaitin (1975) und Lyre (2002). Die algorithmischen Informationstheorien sind mit den Namen Chaitin (1966/1987/2001), Kolmogorov (1933/1965), Solomonoff (1964), White (1993) u. a. verbunden. Sie ist zu unterscheiden von der nachrichtentechnischen Informationstheorie, die auf Shan-
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untersucht Datenreihen, die in symbolisch-binrer Schreibweise94 – bestehend etwa aus Nullen und Einsen – dargestellt sind und fragt, ob Redundanzen vorliegen bzw. Bildungsregeln zugrunde liegen (Schmidt 2005b). Die Idee der Redundanz kann an einem einfachen Fallbeispiel erlutert werden. Es sei eine Datenreihe gegeben, die beispielsweise alternierend aus Nullen und Einsen besteht und damit eine binre Symbolfolge darstellt der Form: DGr(xG,tG) = {1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, …}. Sie weist eine offensichtliche Regelhaftigkeit und damit eine „NichtZuflligkeit“ auf mit der Bildungsregel: Auf jede „0“ folgt eine „1“, auf jede „1“ eine „0“, usf.95 Im Sinne der algorithmischen Informationstheorie sind hier Informationen redundant: Eine abkrzende Darstellung durch eine Bildungsregel ist mçglich.96 Betrachten wir nun den komplementren Fall. Sei eine Datenreihe in der binren Form DGz(xG,tG) = {1, 0, 0, 1, 0, 1, 0, 1, 1, 1, 0, 0, 1, 1, 1, 0, 1, 0, 1, …} gegeben; diese Datenreihe kann erzeugt worden sein durch ein Experiment eines dynamisch-instabilen Objektsystems oder durch eine numenon (1948), gemeinsam mit Weaver, zurckgeht und zu der ferner Wiener (1968) entscheidende Beitrge geleistet hat. Hier steht ausschließlich der statistisch-syntaktische Aspekt von Information im Mittelpunkt; sie stellt primr eine Kodierungstheorie (Shannon’sches Kodierungstheorem) dar. 94 Der bergang („Transformation“) zur Symboldynamik gilt als bislang nicht allgemein gelçst. Dennoch gibt es relevante Theoreme (beispielsweise fr die logistische Abbildung und das Smale’sche Hufeisen). Unter dem Stichwort „Symboldynamik auf Folgenrumen“ werden Zusammenhnge diskutiert, etwa bei: Devaney (1989, 39 f/92 f ), Badii (1991), Beckmann (1996, 91), Guckenheimer/Holmes (1983, 248), Ott (1993, 74/108 f ), Wiggins (1990, 430). 95 Eine Periodizitt liegt vor, wie sie auch von stabilen dynamischen Systemen generiert werden kann. Unter algorithmischem Informationsgehalt (oder Programmtiefe) ist die Lnge des krzesten Computerprogramms oder Algorithmus zu verstehen, um eine gegebene Datenfolge zu erzeugen. 96 Allerdings tritt bei der Diagnose der Redundanzhaftigkeit allgemein ein unumgehbares Problem auf, was mit dem Chaitin’schen Zufallstheorem (Chaitin 1975/ 1987/2001) verbunden ist. Bei einer gegebenen Datenreihe kann man sich niemals sicher sein, ob man den krzesten Algorithmus bzw. das sparsamste Programm gefunden hat oder nicht. Insofern ist die Aussage, eine gegebene Zahlenfolge sei nicht weiter abkrzbar, nicht beweisbar. Gleichbedeutend ist der Wert fr den algorithmischen Informationsgehalt in praktischen Fllen nicht bestimmbar. Ein analoges Problem tritt im so genannten Halte-Problem der Turing-Maschinen auf; eine Nichtentscheidbarkeit zeigt sich.
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rische Simulation eines instabilen Modells.97 Nicht nur mit dem Auge, auch mit klassisch-statistischen Methoden kann keine Regelmßigkeit festgestellt werden. Die Datenreihe ist „zufllig“ im Sinne der algorithmischen Informationstheorie. Eine abkrzende Beschreibung kann nicht gefunden werden; es liegt keine Redundanz vor. Ein die Daten erzeugendes Gesetz oder ein numerischer Algorithmus ist nicht auffindbar; die Datenreihe ist irreduzibel. Selbst dann, wenn wir annehmen, eine derartige binre Datenreihe sei durch ein (zugrundeliegendes) dynamisch-instabiles Gesetz erzeugt worden, ist es ex post nicht mçglich, eine abkrzende Darstellung der gegebenen Datenreihe (wieder-) zu finden und zu sagen, dass ein einfaches (Bildungs-) Gesetz dahintersteht. Eine solche Datenreihe ist effektiv irreduzibel.98 Damit zeigen sich zwei unterschiedliche Zugangsweisen und Perspektiven, wie sie von der Chaostheorie einerseits und der algorithmischen Informationstheorie andererseits beschritten werden: Einmal wird vom gegebenen Gesetz (Programm) ausgegangen und hiervon zum Phnomen (Datenreihe) bergegangen (Chaostheorie), das andere Mal vom gegebenen Phnomen zum (mçglichen) Gesetz bzw. zur (mçglicherweise zugrundeliegenden) Computerprogrammlnge99 (Informationstheorie). Whrend die Chaostheorie primr die Erzeugungsmecha97 Einen Hintergrund hierfr stellen die Arbeiten von Pesin (1977), Brudno (1983) und White (1993) dar: Fr fast alle Trajektorien ist die algorithmische Komplexitt identisch zu ihrer metrischen Entropie, welche ihrerseits die Summe der positiven Lyapunov-Exponenten (Sensitivitts- bzw. Instabilittskoeffizienten) darstellt. 98 Zu zeigen, wie man umgekehrt von einer nichtabkrzbaren Zahlenfolge (aus Perspektive der algorithmischen Informationstheorie) zur dynamischen Instabilitt im Sinne des Chaos gelangt, ist nicht unmittelbar offensichtlich. Dazu eine Randbemerkung: Um dynamische Instabilitt diagnostizieren zu kçnnen, bençtigt man benachbarte Trajektorien als Referenzbahnen. Dies ist aber bei Zahlenfolgen der algorithmischen Informationstheorie zunchst nicht gegeben. Die Problematik lsst sich durch hnliche (endliche) Sequenzen innerhalb der Zahlenfolge beheben. Der hnlichkeitsbegriff ist freilich zu spezifizieren im Hinblick auf eine Metrisierung, welche eine Definition einer „Nachbarschaft“ ermçglicht. hnliche Sequenzen innerhalb einer Zahlenfolge stellen dann gewissermaßen eine Art Wiederkehr der Trajektorie im Zustandsraum dar. Wenn nun noch zudem die (hier nicht nher diskutierten) Voraussetzungen des PesinTheorems (1977) erfllt sind, dann werden bestimmte Zahlenfolgen als „nichtphysikalisch“ ausgeschlossen und der Zusammenhang zwischen algorithmischer Komplexitt (nichtabkrzbarer Zahlenfolge) und dynamischer Instabilitt ist hergestellt. 99 Mit anderen Worten: der algorithmische Informationsgehalt.
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nismen instabiler Dynamiken betrachtet und vollzieht,100 geht die Informationstheorie von gegebenen Datenreihen und den Phnomenen aus, welche sie empirisch analysiert, typisiert und nachbildet. Sie untersucht und entwickelt datenkomprimierende Kodierungs- und Dekodierungsmechanismen in der Informationsbertragung. Die algorithmische Informationstheorie whlt mit der algorithmischen Programmtiefe – verstanden als krzeste Computerprogrammlnge bzw. als traditionelle Kenngrçße des Informationsgehalts – einen ußeren Zugang zum Gegebenen, als Nachbildung bzw. Nachberechnung. Dies kçnnte aus Perspektive der Chaostheorie als zu statisch und als unzureichend angesehen werden. Gegenber der statischen Programmtiefe erscheint das Konzept der phnomenorientierten dynamischen Tiefe und der dort verwendeten Komplexittsbegriffe, wie es etwa im Zusammenhang mit Conways Game of Life, v. Neumanns Zellulren Automaten und der Chaostheorie diskutiert wurde, als weitaus angemessener (Schmidt 2003a). Dass Redundanzen in der Beschreibung nicht zu eliminieren sind, hat auch Konsequenzen fr das bekannte deduktiv-nomologische (HempelOppenheim-) Erklrungsschema. Aus dem Explanans, welches aus Antecedensbedingungen und aus allgemeinem Gesetz besteht, wird ein Schluss auf das spezielle Phnomen (Explanandum) vorgenommen. Die notwendige Bedingung hierfr ist, dass das allgemeine Gesetz zusammen mit den Start- und Randbedingungen eine allgemeine und komprimierte Darstellung des Phnomens bzw. der Ereignisaussage, etwa der Datenreihe, darstellen. Wenn allerdings noch nicht einmal die Bedingung der Mçglichkeit gegeben ist, eine komprimierte Darstellung zu finden, insofern Redundanzen des Phnomens nicht eliminierbar sind, dann ist das deduktiv-nomologische Erklrungsschema nicht verwendbar.101 Der Ableitungs-Schluss vom Allgemeinen (Gesetz) zum Besonderen (Phnomen), welches deduktiv erklrt werden soll, entfllt, weil das Allgemeine nicht bestimmbar ist, und zwar im Prinzip nicht. Hieran anschließend stellt sich die Frage nach der Mçglichkeit der Verallgemeinerung, wie sie insbesondere in der induktivistischen Tradi100 Dies alles kçnnte auch als nomologische oder gar als „ontologische“ Perspektive bezeichnet werden. Ein Standardsatz zur Charakterisierung von dynamischer Instabilitt und von Chaos ist: Nicht alles, was kompliziert erscheint, muss im Sinne eines zugrundeliegenden Gesetzes auch kompliziert sein! 101 So gilt: „Nonlinear dynamical systems theory […] studies properties of physical behavior that are inaccessible to microreductive analytical techniques.“ (Kellert 1994, 115)
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tionslinie eine Rolle spielt. Angenommen, es wrde ein spezielles, abkrzendes Gesetz vorliegen, das die eine zu reprsentierende Datenreihe zu erzeugen vermag: Wie kçnnen aus diesem speziellen Gesetz, das nur bei bestimmten Anfangs- und Randbedingungen gilt, Verallgemeinerungen vorgenommen werden? Verallgemeinerungen, so James Woodward, mssen bestimmte Invarianzeigenschaften erfllen, die sich auf Anfangs- und Randbedingungen, deren Stabilitt und Transformationen der Gesetze beziehen: „A generalization is invariant if it is stable or robust in the sense that it would continue to hold under a relevant class of changes.“ (Woodward 2000, 197) „Invariance under interventions“ sei „key feature“ einer „generalization“ „if it is to play an explanatory role or to describe a causal or nomological relationship.“ (ebd., 205) Dann und nur dann kçnne von einer Erklrung im induktiven Sinn gesprochen werden (ebd., 198). Damit hat Woodward im Sinne der klassisch-modernen Physik herausgestellt, dass strukturelle Stabilitt die Bedingung fr die Mçglichkeit der Verallgemeinerung darstellt. Das gilt, entgegen Woodward, nicht nur fr seinen modifizierten Erklrungsbegriff („Erklrung als Invarianzeigenschaft“), sondern auch fr den klassischen Subsumtions-Erklrungsbegriff („Erklrung als Subsumtion unter allgemeine Gesetze“). Ist die Stabilittsbedingung nicht erfllt, scheint es, wie bei Woodward deutlich wird, fr Erklrungen problematisch zu werden.102 Fr unser Argument hat James Crutchfield zusammenfassend die Reduktions- und Erklrungsproblematik noch einmal herausgestellt: „The hope that physics could be complete with an increasingly detailed understanding of fundamental physical forces and constituents is unfound. The interaction of components on one scale can lead to complex global behavior on a larger scale that in general cannot be deduced from knowledge of the individual components.“ (Crutchfield et al. 1986, 56) Der mikroreduktive Zugang, der instabilittsbasierte Phnomene auf einfache Gesetze reduziert, ist begrenzt – und damit auch rationalistische Traditionslinien von Wissenschaftsphilosophie und Erkenntnistheorie, seien sie nun deskriptiv-çkonomistisch, evidenzorientiert-empiristisch oder explanativ-realistisch ausgerichtet. Zwar mag Nietzsche zu weit gehen, wenn er sagt: „Hten wir uns, zu sagen, daß es Gesetze in der Natur gebe.“ (Nietzsche 1930, 127) Doch weist er treffend darauf hin, dass in die Annahme von (vermeintlich zugrundeliegender) Gesetzes102 Dass damit der Erklrungsbegriff unnçtig eingeschrnkt wird, ist an anderer Stelle zu erlutern (Kapitel 5).
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haftigkeit vielfltige, auch metaphysische Unterstellungen eingehen, die alles andere als selbstverstndlich sind. Aus Sicht der Physik lassen sich hierfr keine Argumente finden. Die aktuelle Physik instabiler Objektsysteme behauptet gewiss nicht, dass es keine Gesetze in der Natur – oder zumindest fr physikalische Objektsysteme – gbe. Aber sie verdeutlicht doch die Probleme, die methodologisch mit der Anerkenntnis von Instabilitten verbunden sind. Wenn unterschiedliche Spielarten des Reduktionismus auf dem Prfstand stehen (Schmidt 2003c), rckt die Erkennbarkeit von „fundamentalen“ Naturgesetzen – wenn sie existieren sollten – in die Ferne. Und wenn diese existieren sollten, wre nicht viel gewonnen. Durch Instabilitten hat sich ein trennender Keil zwischen Gesetze einerseits und Phnomene andererseits geschoben. Dass in einer Orientierung an instabilen Phnomenen, an ihren Strukturen und ihrer Prozesshaftigkeit – dass also jenseits des klassisch-modernen „Gesetzesfundamentalismus“ (Cartwright 1999) – (struktur-) wissenschaftliche Perspektiven liegen sollten, wird sich in der Physik der Instabiltten zeigen, die hier als „nachmodern“ bezeichnet wird (Kapitel 5 – 7). Konsequenzen So folgen aus der aktuellen Physik der Instabilitten heraus Problematisierungen einst hochgesteckter Ansprche der Prognostizierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Prfbarkeit und Reduzierbarkeit. Diese traditionellen Ansprche wurden blicherweise auch in andere wissenschaftliche Disziplinen bertragen. Dort wirken sie weiter. Denn Wissenschaftlichkeit wurde vielfach mit einem Idealbild klassisch-moderner Physik und ihrer impliziten Stabilittsannahme verbunden. So konnte es geschehen, dass die Newton’sche Mechanik, speziell: der lineare und stabile Bereich ihrer Himmelsmechanik, zum beispielhaften Idealtypus von Wissenschaft avancierte und als normative Anforderung an alle Wissenschaftsdisziplinen gestellt wurde. Der Physiker Hermann Bondi (1993, 308) weist dies kritisch zurck, insofern hier nur eine ußerliche zerrbildhafte Kenntnis der Physik vorliege. Nachdrcklich warnt er etwa die Biologie und die mathematisch orientierten Sozialwissenschaften, die Newton’schen Geltungsansprche der Klassischen Mechanik unreflektiert zu bernehmen.103 Angesichts der Instabilitten setze sich heute in der Physik das 103 Bondi (1993, 308) stellt ferner heraus: „Wenn wir diese Theorie [ = Newtons
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durch, was Bondi weitsichtig vorwegnahm, nmlich dass „der grçßte Teil der Wissenschaft nicht dem Newton’schen Sonnensystem [hnelt], sondern eher der Wettervorhersage. […] Auf einem so schwierigen Feld wie der Wettervorhersage wird aller Wahrscheinlichkeit nach niemals mehr als ein begrenzter Erfolg mçglich sein. […] Dieses Beispiel verdeutlicht den Zustand eines großen Teils der Wissenschaft: Die Wissenschaft schreitet nicht insgesamt fort zu der Perfektion und Unangreifbarkeit des Newton’schen Uhrwerks, sondern zu etwas viel Begrenzterem.“ (Bondi 1993, 308) Ab den 1960er Jahren werde von vielen Physikern anerkannt, so Bondi, dass „Newtons Art der Lçsung [… eine] Raritt“ darstellt, die in „vielen Fllen der Natur“ nicht gegeben ist (ebd., 308).104 Auf Seiten der physikalischen Objektsysteme ist die durch Instabilitt erzeugte Isolierbarkeitsproblematik entscheidend. Fr David Ruelle ist offensichtlich: „Wenn wir die Gesetze der klassischen Mechanik anwenden […], dann stellen wir uns vor, daß das System nicht mit dem Rest des Universums wechselwirkt. Aber das ist ziemlich unrealistisch. Selbst die Gravitationswirkung eines Elektrons am Rande des bekannten Universums ist wichtig und kann nicht vernachlssigt werden.“ (Ruelle 1994, 148)105 Dass ein einzelnes Elektron sehr relevant und wirkungsvoll sein kann, insofern es durch dynamische und strukturelle Instabilitten einen betrchtlichen Effekt hervorzubringen vermag, hat auch die aktuelle Diskussion der „Neurophilosophie“ erreicht. Jaegwon Kim hlt es fr denkbar, dass es „eine Welt gibt, die sich physisch von unserer Welt nur Himmelsmechanik] als Modell dafr nehmen, wie Wissenschaft sein sollte, so geraten wir auf eine vçllig falsche Spur. Ich glaube, daß die meisten Physiker dies jetzt [d.h. seit den 1960er Jahren] erkannt haben, auch wenn diese Einsicht nur sehr langsam gewachsen ist. Wenn wir allerdings andere Wissenschaften – die Biologie vielleicht zuerst, dann die Soziologie, die Geschichtswissenschaften, die Wirtschaftswissenschaften – betrachten, dann treffen wir nur allzu hufig Wissenschaftler mit dem Wunschtraum einer ,Newton’schen‘ Lçsung fr die Probleme ihres Bereiches. Sie sind der Vorstellung erlegen, daß man in jedem Bereich der Wissenschaften die Perfektion anstreben sollte, die Newton in der Himmelsmechanik erreicht hat. Ich halte das fr zutiefst irrefhrend.“ Das, was Bondi, bezogen auf andere disziplinre Fachwissenschaften beschreibt, lsst sich auch hinsichtlich der traditionellen Wissenschaftstheorie sagen: „Nicht zuletzt aufgrund mangelnder Vertrautheit mit den Naturwissenschaften [und der Physik] neigen viele Philosophen zur berschtzung der Erklrungsleistungen naturwissenschaftlicher Theorien“, so Keil und Schndelbach (2000, 8). 104 Kauffman (2000, 22) sucht nach modifizierten Wegen der Wissensschaft unter Anerkennung der Grenze: „We will have to rethink what science is itself.“ 105 Hund (1987, 222) meint: „Die [klassisch-moderne] Physik […] scheint heute an der Grenze angelangt zu sein, die durch das Nichtisolierbare […] bezeichnet ist.“
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3. Systematische Aspekte der Instabilitten
in einem absolut unbedeutenden Detail unterscheidet (z. B. dadurch, dass die Ringe des Saturn in dieser Welt ein Ammoniakmolekl mehr enthalten), in der es aber berhaupt kein Bewusstsein gibt oder in der mentale Eigenschaften vçllig anders – und vielleicht vçllig unregelmßig – auf ihre Einwohner verteilt sind (da z. B. Wesen mit einem Gehirn keine mentalen Eigenschaften besitzen, whrend Steine ber Bewusstsein verfgen).“ (Kim 1987, 321)106 Kim fhrt hier seine Argumentation weiter und fragt provokativ, „ob viele [klassisch-moderne] Materialisten der Auffassung wren, dass diese [obigen] Konsequenzen mit ihren materialistischen Grundannahmen vereinbar sind.“ (Kim 1987, 321) In welcher Hinsicht damit jegliche materialistisch-physikalistische Hintergrundberzeugung mitbetroffen sein mag, muss offen bleiben. Dass allerdings Anfragen an das Materialismus- und Physikalismusverstndnis vorliegen, wird nicht zu bestreiten sein.107 Als Zwischenergebnis kann gelten: Instabilitten in Objektsystemen und in Modellen erçffnen neue Einblicke in Annahmen und Grenzen der klassisch-modernen Physik. Fragwrdigkeiten entstehen heute aus klassisch-moderner Fraglosigkeit; Explikationsbedarf folgt aus dem ImplizitBleiben tradierter Selbstverstndlichkeiten. Nicht nur ein spezielles Wissenschaftsverstndnis, nicht nur Empirismus, Instrumentalismus, Konstruktivismus, Rationalismus, Transzendentalismus oder Realismus werden jeweils fr sich allein von den Problematisierungen berhrt. Vielmehr wird man nicht zuviel sagen, wenn man feststellt, dass sie gemeinsam auf dem Prfstand stehen. Die wissenschaftsphilosophischen Problematisierungen ergeben sich aus der Physik heraus und bleiben gerade dadurch Teil der Physik. Sie sind kein binnenphilosophisches Produkt des Denkmçglichen, sondern verweisen auf eine physikalische Dringlichkeit: Deren Klrung betrifft die Konstitutionsbedingungen der Physik und ist gerade deshalb als physikalische Herausforderung anzusehen. Die Physik 106 Dieses Beispiel ist kompatibel mit der Supervenienzthese in ihrer globalen Spielart (vgl. Beckermann 2001, 208/212). Somit kçnnte sich die Supervenienzthese auf die dynamische Instabilitt neuronaler Prozesse sttzen. 107 Nun kann und darf das Elektron einerseits zwar nicht vernachlssigt werden, insofern es durch Instabilitten einen betrchtlichen Effekt hervorbringen kann. Andererseits ist eine Behandlung methodisch schwer mçglich. Dieses Dilemma durchzieht die Entstehung und Entwicklung der nachmodernen Physik. In diesem Sinne kçnnen Instabilitten als „Kritik“ an der klassisch-modernen Physik verstanden werden: Doch „Kritik als immanente Kritik ist wissenschaftskonstitutiv“ (Poser 2001, 288).
3.4. Problematisierung der klassisch-modernen Physik – Systematisches
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wird hier reflexiv und reflektorisch; sie reflektiert die Bedingungen der Mçglichkeit des Auffindens und Konstruierens von Modellen, Gesetzen, Theorien. Sie çffnet sich ihrem eigenen wissenschaftstheoretischen Hinter- und Untergrund, ohne damit weniger Physik zu sein. Zu dieser Erweiterung gibt es historisch wegweisende Vorarbeiten. Ein Rckblick scheint hilfreich. Er kçnnte die hier vorgebrachten systematischen Argumente aus historischer Perspektive vertiefen.
4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten Zur Problematisierung der klassisch-modernen Physik (II) 4.1. Geschichtliche Phasen der Reflexion Das, was heute an die Oberflche tritt, nmlich die Wahrnehmung und die Anerkennung von Instabilitten, ist nicht so neu wie es erscheinen mag. Je genauer wir mit dem heutigen Wissen in die Wissenschaftsgeschichte zurckschauen, desto detaillierter kristallisieren sich Vorlufer und Wegbereiter heraus, desto weniger gravierend treten Brche hervor. Rckblickend zeigen sich verschlungene Pfade der Wissenschaftsgeschichte zur Instabilittsthematik. Dass aus heutiger Perspektive diese Pfade ins Auge springen, stellt kein Argument gegen die hier vorgebrachte Erweiterungsthese dar – im Gegenteil: Dass wir jene Pfade jetzt erblicken und nachzeichnen kçnnen, deutet darauf hin: Es hat sich etwas verndert.1 Fr eine Beschreibung der Entstehung und Entwicklung der Instabilittsthematik scheinen allerdings die etablierten Analyse- und Diagnoseinstrumente – die Modelle der Wissenschaftsgeschichtsschreibung (Bçhme 1993a, 211 f ) – nicht sonderlich geeignet. Denn es handelt sich hier nicht um einen bekannten Typ einer (struktur-) wissenschaftlichen Revolution und auch nicht um den bergang von einer vorparadigmatischen zu einer paradigmatischen Phase. Es ist hier auch nicht alleine das wissenschaftliche Naturverstndnis involviert, sondern, umfassender, das Natur- und das Wissenschaftsverstndnis. Die Erweiterung der Physik scheint den bisher etablierten Modell-Rahmen der Wissenschafts1
Das wissenschaftsgeschichtliche Gegenstandsfeld konstituiert sich erst durch unser heutiges Wissen. Unser Zugang ist durch die faktisch-vollzogene Physikentwicklung geprgt. Jeder Zugang zur Wissenschaftsgeschichte stellt damit eine uneinholbare hybride Mischung aus Rekonstruktion und Konstruktion, aus Heraus-Lesen und Hinein-Legen dar. So greift die Position, „die [Wissenschafts-] Geschichte sei eine rein beschreibende Disziplin“ zu kurz, insofern sie vielfach eben auch „interpretierender und manchmal [gar] normativer Art“ ist (Kuhn 1996, 23). Auch wegen dieser Verwobenheit von Gegenwrtigem und Geschichtlichem wurde der systematische Teil in dieser Arbeit dem historischen vorangestellt, nicht um seine Prioritt zu behaupten, sondern um das Zugangswissen zu explizieren.
4.1. Geschichtliche Phasen der Reflexion
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geschichtsschreibung zu sprengen.2 Dass bei einem erstmaligen instabilen bergang (der Physik) kein Modell vorliegt, die Instabilitt der Wissenschaft zu beschreiben, ist eine bekannte Erkenntnis der nachmodernen Physik selbst. So kann und soll im Folgenden nicht die ganze Wissenschaftsgeschichte der Instabilittsthematik mit ihren feinen Verzweigungen rekonstruiert werden, noch kann etwas angeboten werden, was im umfassenden Sinne als „wissenschaftsgeschichtliche Theorie der Instabilitten“ oder als originre Begriffsgeschichte bezeichnet werden kçnnte.3 Vielmehr soll anhand von Schwellengestalten4 eine Skizze vorgenommen werden, die auf eine Problematisierung der klassisch-modernen Physik aus historischer Perspektive zielt. Im Vordergrund steht die Geschichte des Reflexionszusammenhangs ber Physik, ber ihre Methoden und Hintergrundberzeugungen, und nicht der Entdeckungszusammenhang der physikalischen Phnomene und die Begriffsentwicklung selbst. Herausgestellt wird insbesondere eine Verwobenheit von methodologischen und metaphysischen Aspekten, also von Annahmen ber physikalische Methoden und ber Natur im physikalischen Selbstverstndnis. Diese Verwobenheit verhinderte es ber lange Zeit hinweg, dass Instabilitten wahrgenommen wurden. Es zeigt sich eine Geschichte der verhinderten Erweiterungen der Physik. Unterschieden werden in diesem Kapitel einige historische Phasen5 methodologisch-metaphysischer Reflexionen: (1) Die Phase der Fraglosigkeit: Stabilitt ist kein Thema der Physik, weil Natur, insofern sie Natur ist, als stabil, regelhaft, ordentlich, zeitlos angesehen wird. (2) Die Phase der Fragwrdigkeit: Frhe Theoretiker der Klassischen Mechanik erkennen partiell Instabilitten, weisen ihnen jedoch keinen objektiven Naturcharakter zu, sondern deuten sie als subjektives Wissensdefizit. (3) Die Phase des Faktisch-Werdens: Instabilitten spiegeln unzweideutig nicht 2 3 4
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Damit sind die etablierten Modelle von Kuhn, Popper, Lakatos, Galison u. a. gemeint. Dies haben Worg (1993, 12 f ) und Hedrich (1994) jeweils im Rekurs auf Kuhn geleistet. Dabei beziehe ich mich u. a. auf Shapin (1998, 12): „Whrend frhere Darstellungen der wissenschaftlichen Revolutionen mit Begriffen […] arbeiteten, die autonom oder von realen Personen losgelçst schienen, stellt man die Ideen heute verstrkt in ihren weiteren kulturellen und sozialen Kontext.“ Das Schema ist begrifflich von Kuhn angeregt („Phase“), allerdings ohne die disziplinre Zuspitzung und die starke Theorie- und Sprachorientierung zu bernehmen.
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
nur ein Wissensdefizit und eine Wissensgrenze, sondern sie liegen in Natur, Welt und Wirklichkeit. Als Randerscheinungen und Sonderflle werden Instabilitten akzeptiert. (4) Die Phase des Festlegens bzw. des Festhaltens an Stabilitt als methodologische Norm: Obwohl die implizite Stabilitts-Annahme ber Natur offenkundig brchig geworden ist, versucht man, durch Dogmatisierung oder Konventionalisierung an Stabilitt festzuhalten oder die Fragestellung zu relativieren, um die methodologische Reinheit von Physik zu bewahren. Das ist der letzte Versuch, Instabilitten abzuwehren. (5) Die Phase des Anerkennens und der Folgen: Schließlich findet sich eine grundlegende Anerkennung von Instabilitten in Natur und Naturbeschreibungen (Theorien, Gesetze, Modelle). Stabilitt und Instabilitt treten in ein neues Verhltnis zueinander.6
4.2. Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit Stabilitt bei einigen Klassikern und im bergang zur Moderne Die Stabilittsannahme hat eine tiefe Verwurzelung in der europischabendlndischen Kulturtradition und ihrem metaphysischen Denken. ber 2.500 Jahre hinweg schien außer Frage zu stehen, dass Instabilitten nicht der Natur selbst zukommen, sondern auf unsere defizitre Wahrnehmung und Erkenntnis von Natur verweisen. Stabilitt, Ordnung und Zeitlosigkeit werden in der griechischen Antike parallelisiert.7 Demokrits Atome und der leere Raum sind zeitlos, ungeschaffen und ewig. Pythagoras und seine Anhnger vertraten die Meinung, nicht Urstoffe, sondern die ihnen zugrundeliegenden und fundierenden mathematischen Gesetze sind zeitlos und ewig. Auch Heraklit vermochte an diesen Setzungen wenig zu verndern. Der Kosmos galt fr Platon im eigentlichen Wortsinn als Garant und Reprsentant von Ordnung, Regelmßigkeit und Stabilitt (Bçhme 2000; Bçhme 1974). In der Stabilitt des Kosmos spiegelte sich die Unvergnglichkeit des Weltschçpfers, des Demiurgen. Die vollkommenen, geometrischen, ideellen Formen 6 7
So zeigt sich, dass Stabilitt und Instabilitt Komplementrbegriffe sind. Wer die Stabilittsthematik entdeckt, der entdeckt auch komplementr die Instabilittsthematik, und umgekehrt. Schfer (1999, 170) stellt heraus: „So ist insbesondere die Stabilitt des Kosmos selbst – angeschaut an den ewig gleichen periodischen Bewegungen der Gestirne – ein Grundzug des antiken Naturdenkens.“
4.2. Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit
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sind Beispiele zeitloser Urbilder und Ideen der Dinge.8 Die Erscheinungen stellen dagegen nur unvollkommene Abbilder dar. Die platonische Trennung zwischen einem zeitlich erscheinenden Kosmos und einer ewigwhrenden konstanten Ideenwelt war wirkungsgeschichtlich prgend.9 Seither gilt das Eigentliche nicht der sich zeigenden Natur selbst, sondern den ihr als zugrundeliegend angesehenen mathematisch-zeitlosen Ideen. Die reine Schau (theoria) ist im platonischen Geist der Zugang zur Erkenntnis.10 Wer Natur verstehen will, darf nicht primr auf die Phnomene, auf die Zeitlichkeit und den Kosmos allein Bezug nehmen, sondern auf das mathematisch-zeitlose Fundament, auf das, was als grundlegend und hintergrndig angesehen wurde.11 – Aristoteles hingegen zielte auf die konkreteren Phnomene, die dem Menschen zugnglich sind, und weniger auf das, was hinter allem liegen mag.12 Bei Aristoteles deutet sich an, dass auch dasjenige, was wir als Werden und Wachsen bezeichnen, in der Natur (physis) liegt und der Natur nichts Fremdes ist. Natur hat den „Anfang von Vernderung und Bestand“ in sich. Dadurch unterscheidet sie sich vom Artefaktischen und von Kunstwerken. Doch alles hat seinen natrlichen ruhenden Ort im Kosmos. Aristoteles zeigt das anhand der Reibung, die er ins Zentrum seiner Physik stellt. Auch die aristotelische Naturkonzeption sieht Natur fraglos als etwas so Gegebenes, als Stabiles und Fortwhrendes an. 8 Zur Zeitlehre bei Platon siehe Bçhme (2000, 66 f ). 9 Vgl. hierzu Bçhme (1993b, 82 f ) und Bçhme (2000, 66 f ). 10 Bçhme (1993b, 82) stellt heraus: „Selbst wenn sich die Wissenschaft mit den Gegenstnden der wahrnehmbaren Welt abgibt, handelt sie doch nicht von diesen, sondern von den Ideen.“ 11 Platon hat insbesondere im Timaios eine Metaphysik vom Bau des Kosmos grundgelegt. Der platonische Kosmos ist nach mathematischen Gesetzen geschaffen und geordnet. Die Weltseele des Weltschçpfers hat dem Kosmos Gestalt und Leben verliehen. Eine adquate Mischung einer sich selbst gleichen und einer sich fremden Substanz – welche man aus heutiger Perspektive vielleicht „das Ideelle“ und „das Materielle“ nennen kçnnte – ist grundlegend. Daraus wird der Weltstoff hervorgebracht. Die Mischung wird in Teile geteilt, die sich wie die sieben Zahlen 1, 2, 22, 23, 3, 32, 33 zueinander verhalten, und welche spter den sieben Planeten entsprechen. Die Zahlen deuten auf die drei Dimensionen des Raumes hin sowie zugleich auf die musikalischen Harmonien. Die Planeten sind kugelfçrmig und drehen sich regelmßig um ihre Achse. Der Kreis oder die Kugel galt als Idealform, als Modell der Welt. Alle Drehungen entspringen aus der Weltseele, die den Kosmos erfllt. Dieser Kosmos gilt als „zeitlich bewegtes Abbild der Ewigkeit“. 12 Zu Aristoteles vgl. Schiemann (2005) und Bçhme (1993b).
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Metaphysische Hintergrundberzeugungen sind fr die Physik – aktuell und in ihrer Entwicklungsgeschichte – keineswegs belanglos und beliebig. Vielmehr prgten und prgen sie die physikalische Methode und das physikalische Erkenntnishandeln. Als Hintergrundberzeugung war die Stabilittsannahme fr die Physikentwicklung in methodologischer Hinsicht wirkmchtig und erfolgreich. Sie diente zur Selektion und gar zur Konstitution der Objekte, die als physikalisch zugnglich und erkennbar angesehen wurden. So stand zu Beginn der modernen Naturwissenschaft im 16. Jahrhundert zunchst die hinreichend stabile Planetendynamik auf der Agenda der physikalisch vielversprechenden Objekte. Andere Objekte einer auf die Erde bezogenen Physik (Mechanik) fielen zunchst heraus. Die Physik kann somit als ein „Geschenk des Himmels“ und seiner Planetenbewegungen angesehen werden (Rossi 1997). Anhand der stabilen Dynamiken konnte die Physik ihre Methodologie entwickeln und physikalische Naturerkenntnis als besonders gesichert, berprfbar, objektivierbar ausweisen. Stabilitt bildete – vom Himmel auf die Erde bertragen – die methodologische Basis fr das, was ein physikalisches Experiment gerade auszeichnet, nmlich die Wiederholbarkeit. Die frhe Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert zielte auf das Auffinden von Regelmßigkeiten einer stabilen, durch und durch mathematisch strukturierten Natur. Erklrungsbedrftig war nicht Stabilitt, sondern es waren die zeitlichen Phnomene der scheinbaren Vernderungen, die Instabilitten. Hinter diesen wurden zeitlose Invarianten als Kern des fortwhrenden Naturcharakters vermutet. Das blieb jedoch meist implizit; die Frage nach Instabilitt – sowohl auf Seiten der Natur als auch auf Seiten der mathematischen Modelle – kam in der frhen Naturwissenschaft nicht vor. Eine erste Ausnahme scheint ausgerechnet Francis Bacon zu sein. Im Novum Organum (1620) deutet sich eine vage Ahnung von Instabilitt und Irregularitt – und auch von der metaphysisch-methodologischen Verwobenheit – an. „Der menschliche Geist unterstellt vermçge seiner Eigenart leicht in den Dingen eine grçßere Ordnung und Gleichfçrmigkeit, als er darin vorfindet; und obgleich vieles in der Natur vereinzelt und ungleichfçrmig ist, erfindet er dennoch Parallelen, Entsprechungen und Beziehungen, die gar nicht existieren.“ (Aph. 45)13 Beispiel ist fr Bacon „die Erdichtung, daß alle Himmelskçrper auf vollkommenen Kreisen bewegt werden, whrend man Spiralen und Schlangenbewegungen scharf zurckweist.“ Die mittelalterliche Himmelsmetaphysik trete hier hervor, nach der die geometrischen Fi13 Nach der deutschen bersetzung durch Krohn (Bacon 1999).
4.2. Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit
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guren des Ptolemus zu „Kristallbahnen“ kondensieren, zu berandeten Bahnen, auf denen die Planeten in kreisfçrmiger Ordnung entlang rollen. Unter dem durchaus kritisch gemeinten Stichwort Idole des Marktes spricht Bacon davon, dass Derartiges „in eitlen und falschen [metaphysischen] Theorien entstanden“ ist (Aph. 60). Der „menschliche Verstand“ „erdichtet und unterstellt“ somit einiges, was sich in der Natur nicht findet. Nicht selten „hlt er“ (der Verstand) irrtmlicherweise „das Fließende […] fr Beharrung.“ (Aph. 51) Dass die irregulr erscheinenden „Spiralen und Schlangenbewegungen“ ebenfalls der Natur eigen sein kçnnten, entgehe so dem „menschlichen Verstand“. Bacons Hinweise blieben ungehçrt. Wirkungsgeschichtlich prgend fr die Begrndung und Entwicklung moderner empirisch-mathematischer Naturwissenschaft war – im Gefolge von Kopernikus – nicht Bacons Anmerkung, sondern Johannes Keplers berhmtes heliozentrisches Polyeder-Modell des Kosmos. Dabei geht Kepler von der ewigen Stabilitt des Kosmos aus. Harmonie und Stabilitt sind bei Kepler gewissermaßen Synonyme (harmonices mundi).14 „Da sich die ruhenden Dinge so [harmonisch und stabil] verhielten, zweifelte ich nicht an einer entsprechenden Harmonie der bewegten Dinge.“ (Kepler 1936, 19) Kepler sieht sich dennoch spter, in seiner Neuen Astronomie (1609), gezwungen, die Kreisbahnen durch die bekannten (Kepler’schen) Ellipsenbahnen zu ersetzen.15 Er vollzieht damit den bergang von der konkreten, objektseitig-materiellen Harmonie zur Harmonie der Gesetzmßigkeit und der mathematischen Form, insoweit nmlich „die Harmonien die Rolle der Form spielten, […] die Figuren dagegen die Rolle der Materie, die in der Welt die Zahl der Planetenkçrper und die rohe Ausdehnung der rumlichen Bereiche ist.“ (Kepler 1936, 349) Kepler – wie schon Platon – vergleicht den Kosmos mit einem „belebten Kçrper“ (ebd.), der nicht „genau nach der Norm irgendeiner geometrischen Figur gebildet“ ist. 14 Kepler (1936, 19) hatte sich „vorgenommen […] zu beweisen, daß Gott […] bei der Erschaffung unserer beweglichen Welt und bei der Anordnung der Himmelsbahnen jene fnf regelmßigen Kçrper, die seit Pythagoras und Plato bis in unsere Tage so hohen Ruhm gefunden haben, zu Grunde gelegt [hat].“ An diese habe er der „Zahl und Propositionen“ nach die „Himmelsbahnen sowie das Verhltnis der Bewegungen angepaßt.“ Kepler spricht von einer „schçne[n] Harmonie der ruhenden Dinge.“ (ebd.) 15 Denn, so Kepler, „die Abstnde [zwischen den bekannten Planetenbahnen] stimmten immer noch nicht mit den rumlichen [platonischen] Figuren [berein]. […] So kam ich […] auf die [elliptischen] Harmonien, indem ich ganz kleine Abweichungen der rumlichen Figuren duldete.“ (Kepler 1936, 349)
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Hier erkennt Kepler aber auch, dass „Bewegungen divergieren“ kçnnen (ebd., 349), ganz im Sinne der Instabilitten der aktuellen Physik. Doch diese Divergenzen unterschiedlicher Planetenbewegungen stehen nicht im Widerspruch zur allgemeinen Harmonie und Stabilitt. Vielmehr stellen sie kompensierend die „Gesamtharmonien aller Planeten sicher.“ (ebd., 350) Gerade hierin, in der abstrakteren Harmonie der Form des Gesetzmßigen – und nicht in der Form der konkreten materiellen Bewegungen – zeigt sich fortan die Vollkommenheit, Unvernderlichkeit und Stabilitt des Ganzen. Newtons Instabilitts-Ahnungen und Ambivalenzen War noch bei Kepler – bis auf den Hinweis zur Divergenz der Bewegungen – Instabilitt kein Thema, so deutet sich durch Descartes’ Wirbeltheorie der Himmelsmaterie („Materie 2. Art“) und insbesondere durch Newtons Mechanik ein erster Wandel an. Die Wahrnehmung von Instabilitten ist mathematischer Przision zu verdanken. Bezugspunkt war die Differenzialgleichung und die sich an sie anschließende Diskussion ber Kausalitt und Determinismus. Schließlich wurde seit Newton „die Differentialgleichung [… zum] Symbol der Natur“ (Hund 1987, 217) und zu „derjenige[n] Form, die allein das Kausalittsbedrfnis des modernen Physikers voll befriedigt“ (Einstein 1991, 252).16 Kant konnte dann in Bezug auf Newton in der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft (1786) sagen, „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kçnne, als darin Mathematik anzutreffen ist.“ (Vorrede, VIII) Dass die Instabilittsthematik durch Newtons Ausfhrungen primr im Umfeld der Mathematik hervortrat, heißt nicht, dass sie dadurch metaphysikfreier wurde. Das Beharrungsvermçgen und die Sperrigkeit der griechisch-antiken Stabilittsmetaphysik sind bemerkenswert. Newton ist, was Instabilitten anbelangt, allerdings ambivalent. Einerseits war er einer der Ersten, der bereits Ende des 17. Jahrhunderts der Sache nach aus mathematischen Ableitungen eine Ahnung von einer mçglichen Instabilitt des Planetensystems hatte: Die interplanetarisch 16 Der Begrnder der Theorie dynamischer Systeme, G.D. Birkhoff, sieht einen einzigartigen Trend zu Differenzialgleichungen. „The history of science shows that in general an attempt has always been made to embody the laws in the form of differential equations.“ (Birkhoff/Lewis 1935, 305)
4.2. Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit
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wirkenden Gravitationskrfte sichern nicht notwendigerweise einen stabilen Kosmos. Andererseits zweifelte Newton keineswegs an der Permanenz und mithin an der Stabilitt des Kosmos. Auch wenn die Mathematik auf Instabilitt hinweisen mag, ist sie sekundr angesichts der Stabilitt des Kosmos selbst. In diesem Sinne nimmt Newton, der sich ansonsten auf mathematische Ableitungen sttzt, eine einzigartige Geltungsrelativierung mathematischer Aussagen vor. In seiner Principia hat Newton Himmelsphysik und irdische Mechanik durch das Gravitationsgesetz zusammengefhrt und damit die erste mathematisch fundierte Gravitationstheorie geschaffen. Er konnte die Universalitt des Gravitationsgesetzes zeigen, indem er eine bertragung des fr irdische Phnomene bewhrten Gesetzes auf die Himmelsmechanik vornahm. Steine, Mond und Planeten sind im Hinblick auf ihre Bewegungen nur Einzelflle, verschiedene Realisationen einer universellen Massenanziehung. Aus dem Gravitationsgesetz konnten die Bewegungsbahnen des Zweikçrpersystems Sonne und Erde (Kepler-Gesetze) deduziert werden. Darin zeigte sich beispielhaft die universelle Erklrungskraft der Newton’schen Mechanik.17 Fr das neuzeitliche Naturverstndnis bleibt die Klassische Mechanik der gravitativen Wechselwirkung („Krfte“) und ihr vereinheitlichender Charakter prgend, jenseits der Frage nach dem ontologischen Status und der Ursache der (vermeintlich okkulten Qualitt der) Krfte.18 Die ersten mathematischen Untersuchungen, die der Sache nach den Namen „Stabilittsanalyse“ verdienen, schließen an Newtons Gravitationsgesetz an. Obwohl dieses als universell angesehen wurde, lag der vorrangige Gegenstandsbereich der Stabilittsuntersuchung in der Himmelsmechanik und nicht in der irdischen Physik. In der Himmelsmechanik trat erstmals eine bis heute die physikalische Kosmologie prgende Stabilittsfrage auf. Die Newton’schen Gravitationskrfte sind anziehende Krfte. Fragwrdig musste dann sein, warum es nicht zu einem Gravitationskollaps kommt, bei dem alle Massen ineinander strzen.19 Zwar wurden von Newton repulsive Krfte in Erwgung gezogen, allerdings nicht bezglich großer Massen wie etwa 17 Voraussetzung hierfr war allerdings, dass man ein Zweikçrpersystem betrachtet. Die bei Newton angelegte Problematik der Behandlung von N-Kçrpersystemen (N > 2) wurde allerdings kaum zur Kenntnis genommen. 18 Das meinten zumindest Leibniz und Huygens. 19 Bezugsrahmen ist hier ein endliches Universum bzw. ein Universum mit Mittelpunkt.
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
derjenigen von Planeten (Newton 1717, 397). Ob indes bei Newton konkrete Hinweise zu finden sind, wie der Gravitationskollaps zu verhindern ist und wie die repulsiven Krfte zu einem stabilisierenden Krftegleichgewicht beitragen kçnnen, ist umstritten.20 Dass Newton die Problempunkte erkannte, ist indes unumstritten, denn er sagte: „Und damit die Systeme der Fixsterne nicht durch ihre Schwere wechselseitig ineinander strzen, drfte Er [= Gott] dieselben in eine ungeheuere Entfernung voneinander gestellt haben.“ (Newton 1988, 226).21 Der Gravitationskollaps mag bereits im Horizont der Instabilittsthematik stehen. Entscheidender fr die Entdeckungsgeschichte der dynamischen Instabilitt ist allerdings, dass Newton wegweisend das Dreiund Mehrkçrperproblem identifizierte, das analytisch unlçsbar ist und zu dynamisch-instabilen Bahnen fhren kann.22 Dieser mathematischen Mçglichkeit zum Trotz zweifelte Newton keinen Moment an der Stabilitt des Kosmos. Die hier zum Ausdruck kommende metaphysische Stabilittsannahme wirkte weiter.23 Newton ließ sogar eine lokale und temporre Intervention eines wirkmchtigen Gottes zu, um einem drohenden Zerfall oder wirren Bewegungsformen entgegenzuwirken. Die geringfgigen „Unregelmßigkeiten“ kosmischer Bewegungen, so New20 Vgl. die Diskussion in Suchan (1999, 23 f ). 21 Bei Newton liegt keine ausgearbeitete Theorie vor, die eine konsistente und befriedigende Betrachtung ermçglicht htte; vgl. die Analyse zu Newton von Arago (1854, 382) sowie die Kritik an Newtons Gottesbild von Dijksterhuis (1956, 549). 22 U.a. identifizierte Newton dies in „Propositions LXVI“ und den folgenden sechs Corollarien (siehe u. a. Newton 1702; vgl. allg. Richter 2001; Chandraskher 1995; Gutzwiller 1989, 5/9 f ). Das bekannteste Dreikçrpersystem ist das von Sonne, Erde und Mond. Es fhrt zu neun gewçhnlichen Differentialgleichungen zweiter Ordnung. Gutzwiller (1989, 5) weist darauf hin, dass „[t]he symptoms of chaos [and dynamical instability] can already be recognized in Newton’s work, and rightly so, since he was the first to tackle some difficult problems, especially when trying to explain the motion of the moon.“ Und ferner: „Newton was the first to run into the problem of a chaotic looking trajectory.“ (ebd., 9) Allgemein gilt: „Chaos [and dynamical instability] is lurking already in the three-body system Moon-Earth-Sun.“ (ebd., 11) Birkhoff (1927, 260) konnte spter unter Bezug auf Newton heraustellen: „The problem of three or more bodies is one of the most celebrated in mathematics.“ 23 Newton fhrte eine Art erste stçrungstheoretische Behandlung des Dreikçrperproblems durch – mit Stçrungstermen bis zur ersten Ordnung, d. h. Newton versuchte eine Linearisierung und schloss damit Instabilitt im Prinzip aus. Erst Clairaut und d’Alembert fhrten, 20 Jahre nach dem Tod Newtons, die Stçrungstheorie bis zum zweiten Term weiter.
4.2. Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit
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ton in der Diskussion des Mehrkçrperproblems und in Vorwegnahme dynamischer Instabilitten, rhren „von der gegenseitigen Wirkung der Kometen und Planeten auf einander her [. … Diese wachsen] wohl so lange an […], bis das ganze System einer Umbildung [durch Gott] bedarf.“ (Newton 1983, 267 f )24 Die Umbildung des Kosmos stellte fr Newton in seiner Optik kein Problem dar – trotz der physikalisch wohlfundierten Erhaltungsstze der Klassischen Mechanik und ihrer mathematischen Darlegung. Fr Stabilitt sorgt die absolute Souvernitt Gottes.25 Der eingreifende Gott konnte jederzeit das Universum in allen Teilen beeinflussen und korrigierend stets Stabilitt gewhrleisten, d. h. „to form and reform the Parts of the Universe.“ (Newton 1717, 403)26 Im Gegensatz zur Optik hatte Newton noch in der Principia behauptet, dass „[d]ie Mondbewegung […] ein wenig von der Kraft der Sonne gestçrt [wird], aber die unmerklich kleinen Abweichungen vernachlssige ich bei den vorliegenden Darlegungen der Naturerscheinungen.“ (Newton 1988, 177) Nur durch diese Vernachlssigung vermochte Newton die formharmonische Stabilitt der Kepler-Ellipsen zu deduzieren. Die Einwirkung der Stabilittsmetaphysik ist wohl bei keinem anderen Naturwissenschaftler so offensichtlich wie bei Newton – vielleicht mit Ausnahme von Einstein. Newton erkannte in mathematischer Hinsicht die Schwierigkeiten, die sich aus Instabilitten ergeben. Doch
24 Arago (1854, 382) stellte heraus: „Newton kam selbst zu der Annahme, daß das Planetensystem in sich nicht die zu einer unbegrenzten Dauer erforderlichen Elemente enthielte; er glaubte, daß eine allmchtige Hand von Zeit zu Zeit eingreifen mßte, um die Ordnung wiederherzustellen.“ 25 Newton (1717, 403 f ) meinte: „[I]t may be also allow’d that God is able to create Particles of Matter of several Sizes and Figures, and in several Proportions to Space, and perhaps of different Densities and Forces, and thereby to vary the Laws of Nature, and make Worlds of several sorts in several Parts of the Universe.“ Zum Gott Newtons siehe Brooke (1993). Nach Kant war es wohl „fr einen Philosophen [wie Newton] eine betrbte Entschließung […], bei einer zusammengesetzten und noch weit von den einfachen Grundgesetzen entfernten Beschaffenheit die Bemhung der Untersuchung aufzugeben und sich mit der Anfhrung des unmittelbaren Willens Gottes zu begngen“ (A.N.T.d.H., II. Teil, 8. Hauptstck). Kant scheute sich davor, einen Eingriff Gottes zuzulassen. 26 Ferner stellt Newton (1717, 402) heraus: „[B]lind Fate could never make all the Planets move one and the same way in Orbs concentrick.“
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Newton hielt an der Stabilittsannahme fest. Diese durchzog sein Natur-, Gottes- und Physikverstndnis.27 Eulers Instabilittsprobleme bei Nherungen und Leibniz’ Stabilittsannahme Leonhard Eulers Ziel war es im 18. Jahrhundert, die Newton’sche Theorie – bezogen auf das Dreikçrperproblem – mit den Beobachtungsdaten der Mondbewegung in bereinstimmung zu bringen. Euler erkannte die mathematischen Schwierigkeiten im Detail, nmlich die analytische Nichtlçsbarkeit und Nichtintegrierbarkeit, ohne allerdings zur Frage der Stabilitt und Instabilitt von Natur vorzudringen.28 Im Vorwort seiner Arbeit zur Theorie des Mondes (1753)29 hob er resigniert hervor: „So oft ich in diesen vierzig Jahren versucht habe, die Theorie der Bewegung des Mondes aus den Grundlagen der Schwerpunkte herzuleiten, haben sich immer so viele Schwierigkeiten ergeben, daß ich gezwungen bin, meine letzten Forschungen abzubrechen. Das Problem reduziert sich auf drei Differentialgleichungen zweiten Grades, die sich nicht nur nicht integrieren lassen, sondern die auch die grçßten Schwierigkeiten bereiten, wenn es um Nherungen geht, mit denen wir uns hier zufrieden geben mssen; ich sehe deshalb nicht, wie diese Forschung allein mit Hilfe der Theorie vervollstndigt oder auch nur einem ntzlichen Zweck angepaßt werden kann.“30 Nachdem Euler und andere „mathematische[n] Genie[s]“ keinen Stabilittsbeweis herbeifhren konnten, so FranÅois Arago, „schien nichts als Resignation am Platze.“ (Arago 1854, 384) Die Resignation bezog sich auf die mathematische
27 Vgl. Barrow-Green (1993, 19). Freilich hatte Newton noch nicht die mathematischen Begriffe und das Instrumentarium, um adquat von Stabilitt und Instabilitt sprechen zu kçnnen. Rckblickend stellt Newtons Art der Lçsung physikalischer Probleme eine Ausnahme dar, die in vielen Fllen der Natur nicht gegeben ist (Bondi 1993, 308). 28 Er verwendete wegweisend die Methode der Parametervariation, etwa ab 1753, vgl. Barrow-Green (1993, 20). 29 Euler publizierte 1744 seine Theoria „motuum planetarum et cometarum“ (Himmelsmechanik). Eine „Zweite Mondtheorie“ folgte 1772. 30 Zitiert nach Peterson (1997, 153 f ). Euler war, so Arago (1854, 382) im 19. Jahrhundert rckblickend, „in der Kenntnis der planetaren Stçrungen weiter als Newton fortgeschritten“.
4.2. Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit
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Behandlung des Planetensystems. An der Stabilitt selbst wurde nicht gezweifelt. Whrend Newton und Euler zumindest in mathematischer Hinsicht auf mçgliche Instabilitten stießen und Newton zur Stabilittssicherung sogar Gottes lokales Eingreifen zuließ, ging Gottfried Wilhelm Leibniz von einem in einem einmaligen Schçpfungsakt perfekt geschaffenen, stabilen Kosmos aus.31 Kein weiteres Eingreifen war notwendig. Zwischen dem Geistigen und dem Materiellen, zwischen allen Monaden herrschte die „prstabilierte Harmonie“. Gott hat bei der Erschaffung der Welt unter zahllosen mçglichen Monaden nur diejenigen Wirklichkeit werden lassen, deren Entwicklungsgesetze und Aktivitten zueinander passen. Diese sind fortwhrend, ewig prformiert und stabil. Da Gott nichts außer Ordnung hervorbringt, kann es Irregulres und Chaos nur in endlichen Sub-Ordnungen geben. In der Welt, so Leibniz, „gibt es nichts dauernd Ordnungswidriges, Unfruchtbares, Totes; Chaos und Konfusion existieren nur scheinbar.“32 Leibniz war – noch strker als Newton – Stabilitts- und Kontinuittstheoretiker, der sich dessen nicht einmal zu vergewissern brauchte. Gegenber der Stabilittsannahme blieb Leibniz implizit; er prgte das metaphysische Kontinuittsprinzip: natura non facit saltus, was sich in der linearen Differenzialgleichung widerspiegele.33 Alles, was ist, liegt schon prformiert vor: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Leibniz hat gar Aspekte einer universellen Berechenbarkeit vorweggenommen, wie sie sich spter bei Laplace findet und unter dem Stichwort „Laplace’scher Dmon“ in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist.34 „[W]enn […] 31 Vgl. auch Leiber (1996b, 189 f ). Der wahre Physiker ist nach Leibniz Metaphysiker. Leibniz gilt als Begrnder des Kausalittsprinzips. Er hat den Satz vom zureichenden Grunde (principium rationis sufficientis) neben den Stzen vom Widerspruch und der Identitt zum ebenbrtigen Grundprinzip der Erkenntnis erhoben. 32 Zitiert nach Leiber (1996b, 210). Zu Leibniz ebenfalls Mainzer (1992, 269). 33 Die heute in der nachmodernen Physik verwendeten nichtlinearen Differenzialgleichungen, bei welcher „Sprnge“ im Sinne von Bifurkationen aufzutreten vermçgen, wren wohl von Leibniz ebenso verworfen worden wie die zeitdiskreten Differenzengleichungen, Zellulre Automaten, Genetische Algorithmen u. a. 34 Du Bois-Reymond (1974, 57) hat wiederholt herausgestellt: „[B]ei Leibniz findet sich schon der Laplace’sche Gedanke, ja in gewisser Beziehung weiter entwickelt als bei Laplace, sofern Leibniz jenen Geist auch mit Sinnen und mit technischem Vermçgen von entsprechender Vollkommenheit ausgestattet sich denkt.“ Du Bois-Reymond (1974, 59) spricht schon vom „Laplace’schen Geist“.
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
diese Welt nur aus einer endlichen Anzahl nach den Gesetzen der Mechanik sich bewegender Atome bestnde, [so wre] es gewiß […], daß ein endlicher Geist erhaben genug sein kçnnte, um alles, was zu bestimmter Zeit darin geschehen muß, zu begreifen und mit mathematischer Gewißheit vorherzusagen“, so Leibniz.35 Damit wird auch fragwrdig, ob von einer Entwicklung und einer Zeitlichkeit gesprochen werden kann. Fr Prigogine und Stengers steht fest, dass „[d]ie Monadenlehre […] zur konsequentesten Formulierung eines Universums [wird], aus dem jegliches Werden eliminiert ist.“ (Prigogine/Stengers 1990, 291) Der Stabilitts-Universaldeterminismus bei Laplace Unzufrieden mit Newtons Einfhrung von Gott als physisch handelndem Stabilisierer des Kosmos und der sich anschließenden naturreligiçsen Begrndung war nicht nur Leibniz, sondern auch Pierre Simon de Laplace. Letzterer ging ebenfalls von einer Stabilittsannahme aus und verfolgte mathematische Wege, um die „Stabilitt der Welt“ zu garantieren (vgl. Arago 1854, 383). Stabilitt werde allerdings nicht durch Gott bewirkt, sondern liege in der Natur selbst bzw. werde durch diese selbst garantiert. Die ersten exakteren stçrungstheoretischen Stabilittsuntersuchungen gehen auf Laplace und Lagrange in den 1770er Jahren zurck.36 Laplace beruft sich in diesem Zusammenhang explizit auf den Leibniz’schen Satz vom zureichenden Grund in seiner kausalen Fassung, wonach jeder mechanische Zustand durch zureichende Grnde eindeutig bestimmt ist. So zog Du BoisReymond (1974, 56 f/59) auch, anstatt „Laplace’scher Dmon“, die Bezeichnung „Leibniz’scher Geist“ vor. 35 Zitiert nach Du Bois-Reymond (1974, 57). 36 Lagrange konnte zwei exakt lçsbare Spezialflle des Dreikçrperproblems angeben, nmlich (1) wenn die drei Massenpunkte die Ecken eines gleichseitigen Dreiecks besetzen und sich dann mit gleicher Umlaufzeit auf einander hnlichen Ellipsen bewegen, wobei die Gleichseitigkeit des Dreiecks erhalten bleibt sowie (2) wenn die drei Massenpunkte auf derselben Geraden liegen. Ein wenig spter versuchten sich Poisson und Dirichlet an allgemeinen Stabilittsuntersuchungen und prgten den Begriff der Stabilitt im Hinblick auf Lçsungen von dynamischen Diffenzialgleichungssystemen am Beispiel der Himmelsmechanik. Dabei bemerkten sie, dass die Reihenentwicklungen, die sie zur Lçsung der nichtlinearen Differenzialgleichungen verwendeten, vielfach nicht konvergierten. Jedoch zweifelten sie nicht daran, dass diese Konvergenz im Prinzip gewhrleistet ist; vgl. u. a. die wissenschaftsgeschichtlichen Erçrterungen von Hedrich (1994, 8 f ).
4.2. Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit
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Laplace rumte in seiner Himmelsmechanik – die die Newton’sche Theorie der Planetenbewegungen vereinfachte und verallgemeinerte – zumindest die Mçglichkeit von Instabilitten im Planetensystem ein (Laplace 1800). Doch blieb der Verweis auf Instabilitten hypothetischer und mathematischer Natur. Denn Laplace whlte und entwickelte einen stçrungstheoretischen Zugang zur Lçsungsbestimmung des Dreikçrperproblems. Wer Stçrungstheorie betreibt, schließt dynamische und strukturelle Instabilitten aus. So whnte sich Laplace sicher, gezeigt zu haben, was man mit Hnden greifen kçnne, nmlich die ontologisch zu verstehende Stabilitt des Kosmos. Nicht der ußere Gott wirke stabilisierend, sondern das Sonnensystem stabilisiere sich selbst: Laplace hatte „die Hypothese Gott“ nicht mehr nçtig. Newton habe sich in seinen Bemerkungen in der Optik geirrt, so schien es. Die von Laplace in ersten Anstzen verwendete und entwickelte mathematische Methode der Stçrungstheorie zur Stabilittsuntersuchung war wirkungsgeschichtlich prgend, auch fr James Clerk Maxwell und Henri Poincar in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts (s.u.).37 Dass der Kosmos in seinem Kern deterministisch und stabil sei, auch wenn der Mensch als Unwissender dies derzeit noch nicht erkennen kçnne, stand fr Laplace ebenso außer Frage wie die prinzipielle universelle Berechenbarkeit. Letztere war gewhrleistet durch das mechanistische (Wirk-) Kausalprinzip („Laplace’scher Dmon“, „Laplace’scher Geist“).38 „Die gegenwrtigen Ereignisse“, so reformulierte Laplace zunchst das traditionelle Prinzip des zureichenden Grundes, „sind mit den vorangehenden durch das evidente Prinzip verknpft, daß kein Ding ohne erzeugende Ursache entstehen kann. […] Wir mssen also den gegenwrtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines frheren und als die Ursache des folgenden Zustandes betrachten. Eine Intelligenz, welche fr einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Krfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente erkenne, und berdies umfassend genug wre, wrde in derselben Formel die Bewegungen der grçßten Weltkçrper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts wrde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergan-
37 Das gilt auch dann, wenn man einrumt, dass Laplace bei seiner Stçrungsrechnung Fehler unterlaufen waren. Er hatte u. a. eine Singularitt nicht beachtet, d. h. durch Null dividiert. 38 Vgl. Cassirer (1994, 134 f ).
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
genheit wrden ihr offen vor Augen liegen.“ (Laplace 1932, 1 f )39 Dieses Naturverstndnis zeichnete Laplace zur Einleitung seiner mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung: Selbst wenn die Natur objektiv deterministisch sein sollte, wre doch fr den beschrnkten „menschlichen Geist“ die Wahrscheinlichkeitstheorie das geeignete mathematische Hilfsmittel. Leitend fr Laplace sind jene Annahmen, welche die nicht unproblematische kantische Trennung in Ontologie, Epistemologie und Methodologie widerspiegeln und analytisch wie folgt verstanden werden kçnnen (vgl. Vollmer 1995, 12):40 · Wenn die Welt (ontologisch-metaphysische Postulate) deterministisch wre, ausschließlich aus wechselwirkenden Teilchen bestehen wrde (Billarduniversum) und die Naturgesetze in einem einzigen Naturgesetz in Form der Newton’schen Bewegungsgleichung gefasst werden kçnnten, und · wenn wir (erkenntnistheoretische Postulate) alle Naturgesetze in ihrer dynamischen Struktur (Parameter, Kopplungen) und alle Rand- und Anfangsbedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt (singulr) mit absoluter Genauigkeit kennen wrden, und · wenn wir zustzlich (methodologische Postulate) alle Daten simultan verarbeiten und speichern kçnnten, die Bewegungsgleichungen exakt integrieren kçnnten, uns selbst „endophysikalisch“ mitberechnen kçnnten, dann wre der Ablauf der Welt in allen Einzelheiten eindeutig bestimmt und wir kçnnten alle Ereignisse in Zukunft und Vergangenheit errechnen. Dass Instabilitten zumindest in erkenntnistheoretischer und methodologischer Hinsicht problematisch sein kçnnten, scheint Laplace hier nicht sehen zu wollen (vgl. Arago 1854, 383). So kann man mit Arago kritisch sagen, dass die „Stabilitt der Welt“ im Sinne der „Erhaltung des Sonnensystems“ (Arago 1854, 382) von Laplace her(aus)gestellt wird: „[D]ie Welt stand [durch Laplace] endlich, vermçge der Allmacht einer 39 Schon Boskovic hatte 1759 in seinem Werk Philosophiae naturalis theoria herausgestellt: „Wenn das Kraftgesetz und Lage, Geschwindigkeit und Richtung aller Punkte zu jedem Augenblick bekannt wre, wrde es einem solchen Geist mçglich sein, alle notwendigen nachfolgenden Bewegungen und Zustnde vorherzusehen und alle Erscheinungen vorauszusagen, die notwendig daraus folgen.“ (Boskovic 1759, nach Barrow 1994, 61) 40 Eine derartige Differenzierung findet sich bei Laplace allerdings nicht; sie kçnnte aber helfen, die Vielschichtigkeit der Annahmen von Laplace zu verstehen.
4.2. Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit
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mathematischen Formel, wieder fest gegrndet auf ihren Fundamenten.“ (ebd., 385) Dennoch ist auch Laplace eine Schwellengestalt. Er ahnte – selbst im Rahmen seines universal-deterministischen Kausalmechanismus – , dass Instabilitten auftreten kçnnen und auch, dass der Kosmos eine Geschichte hat.41 Laplace erkannte, ohne den Begriff der Instabilitt zu verwenden, dass kleinste Ereignisse in der Natur anwachsen und große Effekte hervorbringen kçnnen. „Alle Ereignisse, selbst jene, welche wegen ihrer Geringfgigkeit scheinbar nichts mit den großen Naturgesetzen zu tun haben, folgen aus diesen mit derselben Notwendigkeit wie die Umlufe der Sonne. In Unkenntnis ihres Zusammenhangs mit dem Weltganzen ließ man sie […] entweder von Endzwecken oder vom Zufall abhngen; aber diese vermeintlichen [Zweck-] Ursachen wurden in dem Maße zurckgedrngt, wie die Schranken unserer Kenntnis sich erweiterten.“ (Laplace 1932, 1) Lediglich subjektive Unkenntnis und derzeitiges Unwissen legen den Schluss zum A-Naturgesetzlichen und NichtRegelhaften flschlicherweise nahe. Je exzeptioneller die Ereignisse sind, desto naheliegender scheint dieser Schluss zu sein. „Ein Wolkenbruch oder bermßige Drre, ein Komet mit einem sehr langen Schweif, die Sonnenfinsternis, die Nordlichter und berhaupt alle außergewçhnlichen Erscheinungen“ – all dies schien „der Ordnung der Natur zu widersprechen“ (ebd., 2). Doch sie sind Teil der Natur, so Laplace, auch wenn sie zunchst schwer als gesetzmßig zu erkennen sein mçgen. Die auf Unkenntnis beruhende Zuschreibung von „Zufall“42 spiegelte sich eben auch in den die Mehrkçrpersysteme beschreibenden Differenzialgleichungen wider, insbesondere in den hçheren Termen der stçrungstheoretischen Reihenentwicklung. „Daraus schloß ich [ = Laplace], daß diese Glieder durch die aufeinanderfolgenden Integrationen der Differenzialgleichungen merklich wrden.“ (ebd., 64)43 Wenn zuviel Stçrungen auftreten, werde das Berechnen und Erkennen erschwert. „Die 41 Kant und Laplace entwickelten erste Anstze zu einer wissenschaftlichen Kosmologie, d. h. zu einer Geschichte des Kosmos und damit zu einer kosmologischen Evolution. Sie hielten die Stabilitt des Kosmos fr erklrungsbedrftig und vertraten die so genannte Nebularhypothese: Aus einem rotierenden chaotischen, weitgehend homogenen Urnebel aus Gas- und Staubteilchen sind durch Stoß und Gravitation lokale Materiehaufen entstanden, die zu Sternen und Planeten wurden. 42 Laplace (1932, 4) sprach gar von einer „Theorie des Zufalls“. 43 Laplace (1932, 3) untersuchte, u. a. im Rekurs auf Clairaut, jene „Stçrungen“, die durch „Kometen“ verursacht waren.
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Naturerscheinungen sind meistens von so vielen fremdartigen Umstnden verdeckt, und von einer so großen Zahl von stçrenden Umstnden verdeckt, daß sie oft nur sehr schwer zu erkennen sind.“ (ebd., 55) Stçrungen stellen einerseits das Erkennen-Kçnnen in Frage, sie verdecken dasjenige physikalische Objektsystem, welches man erkennen mçchte. Andererseits bezeichnen sie nicht nur ein subjektives Wissensdefizit, sondern liegen (objektiv) in der Natur. So kann Laplace von „Stçrungen sprechen, die der Komet durch die Wirkung der beiden grçßten Planeten, des Jupiter und Saturn, erfahren hatte“ (ebd., 3). Der Komet wird also auf seiner Bahn „gestçrt“. Doch weist auch Laplace darauf hin, dass Stçrungen nicht zum eigentlichen Kern von Natur gehçren, sondern eher kontingente randstndige (objektive) Ereignisse darstellen, welche ihrerseits exzeptionelle Phnomene zu generieren vermçgen. Merkwrdig ambivalent bleibt Laplace auch hinsichtlich einer Zeitlichkeit des Kosmos, wenn er sagt: „Der Himmel selbst ist trotz der Ordnung seiner Bewegungen nicht unvernderlich. Der Widerstand des Lichtes und anderer therischer Fluida und die Anziehung der Sterne mssen nach einer sehr großen Zahl von Jahrhunderten die Planetenbewegungen betrchtlich ndern.“ (Laplace 1932, 134) Laplace ahnte, entgegen seiner sonstigen ußerungen zur universellen Stabilitt, dass eine grundlegende Zeitlichkeit in der Natur liegen kçnnte. Die erste kosmologische Theorie ist mit seinem Namen verbunden (Kant-Laplace’sche-Theorie). Das steht fr Laplace nicht im Widerspruch zu seiner Determinationsvorstellung, sondern stellt vielmehr die (angestrebte) Erklrungsleistung eines universellen Determinismus heraus, welcher auch Zeitliches umfasst. Laplace hatte seine Wirkung. Das im „Laplace’schen Geist“ formulierte deterministische Naturverstndnis und berechenbarkeitsorientierte Wissenschaftsverstndnis wertet Ernst Cassirer als fr die klassisch-moderne Physik wirkungsgeschichtlich relevant (Cassirer 1994, 134 f ).44 Bis ins 20. Jahrhundert hinein und darber hinaus sollte es – wenn auch in modifizierter Form – erkenntnisleitend sein, so Cassirer. Popper etwa hat in seiner Idealtypisierung von Physik implizit das von Laplace geprgte Weltbild in seiner Ablehnung der Quantenmechanik sowie die Lapla-
44 Cassirer (1994, 134 f ) konnte feststellen: „In all den Erçrterungen ber das allgemeine Kausalproblem hat das von Laplace geprgte Bild eine wichtige, ja entscheidende Rolle gespielt.“
4.2. Fraglos: Stabilitt, Regelhaftigkeit, Ordnung, Zeitlosigkeit
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ce’schen Akzentuierungen des Wissenschaftsverstndnisses weitgehend bernommen.45 Exkurs: Fechners Prinzip der Tendenz zur Stabilitt Die implizite Stabilittsannahme zeigt sich in verwandten Wissenschaftsfeldern unter zeitverzçgerter Rezeption der klassischen Physik. Der Begrnder der Psychophysik Gustav T. Fechner versuchte in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, den Zusammenhang zwischen den „organischen und anorganischen Bewegungszustnden“ ber ein „Princip der Tendenz zur Stabilitt“ herzustellen (Fechner 1985, iv).46 Dieser Zugang fhrte zu einem homçostatischen Verstndnis des Lebens als Stabilittszustand im Sinne eines stabilen Gleichgewichts. Fechner differenziert drei Typen von Stabilitt: Ein System ist „absolut stabil“, wenn der Systemzustand sich nicht mehr verndert. Von „voller Stabilitt“ wird gesprochen, wenn Systemzustnde periodisch wiederkehren. „Approximative Stabilitt“ besitzt das System, wenn die Wiederkehr – wie heute beim deterministischen Chaos auf einem chaotischen Attraktor – nur annherungsweise vollzogen wird.47 Fechner ahnte, dass dynamische Instabilitt durchaus stabile Makro- und Metazustnde zu generieren vermag und als Brckenprinzip der Vermittlung zwischen Mikroebene und Makrophnomen dienen kann. Das Prinzip der Tendenz zur Stabilitt wird gefasst als Verhalten eines Systems, das sich „durch die Wirkung seiner inneren Krfte ohne Rckschritt mehr und mehr einem sogenannten stabilen Zustand nhert, […] wo die Teile periodisch, d. h. in gleichen Zeitabschnitten, in dieselben Lagen- und Bewegungsverhltnisse zu einander zurckkehren.“ (Fechner 1879, 209) Fechner sah zwar, dass in biologischen Systemen 45 Popper, so Auyang (1998, 265) zuspitzend, „replaced the Demon by human scientists.“ Und auch Einstein (1991, 28) nahm implizit den „Laplace’schen Geist“ auf: „Der Forscher aber ist von der Kausalitt allen Geschehens durchdrungen. Die Zukunft ist ihm nicht minder notwendig und bestimmt wie die Vergangenheit.“ 46 Fechners Werk „Einige Ideen zur Schçpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen“ erschien im Jahre 1873 (Fechner 1985). Eine umfassende und systematische Darstellung von Fechners Natur- und Wissenschaftsphilosophie sowie seiner Wissenschaftspraxis findet sich bei Heidelberger (1992b) und Heidelberger (1993, 290 f ). 47 Vgl. auch Heidelberger (1992b, 69).
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Instabilitten auftreten kçnnen, allerdings verstand er darunter Tod und Zerfall. Das Organische werde als Lebendes durch Stabilitt gekennzeichnet (ebd., 37). Bezeichnenderweise fhrt Fechner als Beispiel fr fortwhrende Stabilitt – neben lebenden Systemen – das Planetensystem an. „Mindestens glaubt jeder Astronom“, so meint Fechner, „an eine Stabilitt der Verhltnisse des Planetensystems in diesem Sinne, insofern Rechnungen, so weit sie sich bisher treiben liessen, keinen Grund enthalten, daran zu zweifeln.“ (ebd., 31)48 Das kosmische Stabilittsprinzip spiegele sich in den Organismen wider. Organismen sind „ganz auf Periodicitt ihrer Functionen, hiermit auf stab[i]le Verhltnisse angelegt.“ (ebd., 32 ff ) Das ist zwar kein „mechanisches“ Stabilittsprinzip, sondern ein biologisches. Von „stabilen Fließgleichgewichten“ wird in der heutigen (system-) theoretischen Biologie gesprochen. Die Stabilittsannahme reicht bis in die aktuelle Diskussion innerhalb der Evolutionsbiologie, der kologie und der Umweltwissenschaften hinein (vgl. Yodzis 1981; Grimm 2004; Scheu/Drossel 2004).49
48 Bemerkenswert ist, dass Fechner (1982, 25) den mit der Instabilittsthematik verwandten Begriff der Stçrung als objektive Stçrung in der Natur versteht und gegenber mathematischer Einfachheit abzugrenzen sucht: „Die Bewegung eines Planeten um die Sonne gestattet auch eine einfachere Betrachtung und ihre Berechnung gewhrt ein [in mathematischer, nicht in physischer Hinsicht] genaueres Resultat, wenn man sich um Stçrungen dabei nicht kmmert. Ohne sie ist die Bahn rein zu finden, mit ihnen erhalten wir nur Approximationen und die ganze Berechnung wird mhselig. Warum zieht man doch die ungenaue und mhselige Rechnung mit Bezug auf die Stçrungen der genauen und einfachen ohne Stçrungen vor? Weil die Stçrung nun einmal in der Natur vorhanden ist, und also auch durch die Rechnung gedeckt werden muss, gleichviel, ob unsere Bequemlichkeit dadurch gestçrt wird, […], kurz, weil die einfache Rechnung der Complication der Verhltnisse nicht gewachsen ist, die genauern Resultate derselben auf dem Papier die Verhltnisse der Wirklichkeit doch nur ungenau wiedergeben.“ Fechner hat hier wegweisend auf Stçrungen in der Natur hingewiesen. 49 Und auch im Rahmen der Medizin finden sich hnliche Diskussionslinien. Eine Negativierung von Instabilitt zeigt sich teilweise in der Medizin(geschichte), etwa bei Galen: „In den Gesunden […] ndert sich der Kçrper selbst dann nicht, wenn die Ursachen extrem sind; aber bei alten Menschen kann schon die kleinste Ursache die grçßte Vernderung bewirken.“ (zitiert nach: Barrow 1994, 164)
4.3. Fragwrdig: Instabilitts-Ahnungen
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4.3. Fragwrdig: Instabilitts-Ahnungen Regularitt und Instabilitt bei Hume Zeitlich parallel, inhaltlich aber komplementr zu den Spielarten der Stabilittsmetaphysik lassen sich in der empiristischen Traditionslinie frhe Ahnungen methodologischer Probleme der Erkenntnis instabiler Systeme finden. Eine Schwellengestalt auf dem Weg zur InstabilittsReflexion ist David Hume. Dieser nahm der Sache nach vorweg,50 dass Instabilitten Regelfolgen- und Kausalittszuschreibungen unmçglich machen: Wenn allzuviel Instabilitt vorliegt, so erkannte Hume, kçnnen wir noch nicht einmal Verbindungen von Ereignissen51 finden. Die dafr notwendige hnlichkeit von Wiederholungen, die der Verstand zur Gewohnheitsbildung und zur Regelkonstruktion bençtigt,52 sei nicht gegeben, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Es ist bemerkenswert, dass Hume bislang nicht aus der Perspektive von Stabilitt und Instabilitt betrachtet worden ist. Auf Hume geht die wirkungsgeschichtlich prgende Regularittstheorie der Kausalitt zurck.53 Diese orientiert sich an deterministischen Differenzialgleichungssystemen vom Typ der Newton’schen Mechanik: A ist Ursache von B, wenn A B im Gefolge hat.54 Die Regularittstheorie versteht sich als antimetaphysisch und als explizit auf Empirisches ausgerichtet.55 Hume weist jedes ontologische Verstndnis von Kausalitt zurck, rekurriert verstrkt auf Kausalgesetze und weniger auf ein Kausalprinzip, wie es etwa Leibniz tat. Allein durch Erfahrung („experience“) 50 Bei Hume findet sich hierfr noch kein Begriff. Dass wir dennoch von der Sache sprechen kçnnen, zeigt sich daran, dass Hume Formulierungen zur Beschreibung der Phnomene heranzieht, die bis in den Wortlaut hinein identisch sind mit Formulierungen, die heute zur Instabilittsthematik verwendet werden. 51 bersetzung von „frequent conjunctions“ bei Hume. Allgemein vertritt Hume einen Sinnes-Atomismus, der sich nicht auf die Verbindungen, sondern auf die Elemente, Atome, Ereignisse bezieht. 52 Bei Hume (1990, 23 ff ): „Prinzipien der Assoziation“. 53 Vgl. allg. Bunge (1987) und Heidelberger (1992a). Von Hume liegen gleichzeitig auch Spielarten der kontrafaktischen Kausalittstheorie vor. 54 Hume (1990, 73) spricht schlicht davon: „One event is followed by another.“ 55 Letztbegrndungen in jeglicher Hinsicht sind auszuschließen, so Hume. „There are no ideas, which occur in metaphysics, more obscure and uncertain, than those of […] necessary connexion.“ (Hume 1990, 61). So sagt Hume, dass „Ursachen und Wirkungen nicht durch Vernunft, sondern durch Erfahrungen zu entdecken sind“.
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
lerne man etwas ber regelhafte Verbindungen von Gegenstnden bzw. Ereignissen, nichts jedoch ber ontologische Verknpfungen in der Natur (Hume 1990, 70).56 Kausalitt wird als sedimentierte Gewohnheit und als ntzliche Zuschreibung durch „Prinzipien der Assoziation“ zur Orientierung in der Welt verstanden, nicht als eine ontologische Eigenschaft der Natur. Die Kausalittsthematik und die bekannte Induktionsproblematik gehçren bei Hume zusammen. Es sei offensichtlich, dass „[e]ven after one instance or experiment, where we have observed a particular event to follow upon another, we are not entitled to form a general rule.“ (ebd., 74)57 Jeweilige Einzelereignisse (und Einzelereignisketten) sind zur Begrndung einer physikalischen Methodologie nicht hinreichend. So stellen Wiederholungen eine notwendige Bedingung dar, um Gewohnheit herauszubilden. „But when one particular species of event has always, in all instances, been conjoined with another, we make no longer any scruple of foretelling one upon the appearance of the other, and of employing that reasoning, which can alone assure us of any matter of fact or existence.“ (ebd., 75 f ) Es erfolgt die bekannte (begriffliche) Zuschreibung, nmlich „[w]e then call the one object, Cause; the other, Effect.“ (ebd.)58 Der Hume’sche Empirismus versteht unter Ursache nur noch ein erstes Ereignis in einer zeitlichen Relation von Ereignissen. Ursache und Wirkung sind in diesem Sinne kontingent. Sie kçnnen – je nach Lesart – als (inter-) subjektive Zuschreibungen, mentale Konstrukte oder pragmatische Festsetzungen ber Relationen zwischen empirisch beobachtbaren Ereignissen verstanden werden.59 Nur dann, wenn es sich um wiederholte und fortwhrende Abfolgen handelt, kann die Zuschreibung von Ursache und Wirkung gewohnheitsmßig vom Verstande vorgenommen werden. Mit anderen Worten: „It appears, that this idea of a necessary connexion among events arises from a number of similar instances, which occur of the constant conjunction of these events.“ (ebd., 75/78) Doch fr Hume sind der Einzelfall und der Wiederholungsfall zunchst nicht grundstzlich ver56 bersetzung „conjunction“ als „Verbindung“, „connexion“ als „Verknpfung“, siehe Gawlick (1985, 173). 57 Andererseits: Trotz vermeintlich antimetaphysischer Grundhaltung geht Hume davon aus, dass die Kontiguitt, d. h. die rumliche Nachbarschaft ein wesentlicher Bestandteil von Kausalitt ist, vgl. dazu Bunge (1987, 64 f ). 58 Ferner heißt es: „[W]e only learn by experience the frequent Conjunction of objects […].“ (Hume 1990, 70) 59 Zusammenfassende Kritik an Hume, vgl. Heidelberger (1992a, 132 f ).
4.3. Fragwrdig: Instabilitts-Ahnungen
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schieden, insofern es nichts gibt, was als exakt gleich angesehen werden kann.60 hnlichkeit ist notwendig, um empirischen Ungenauigkeiten Rechnung zu tragen und die Bedingung der Wiederholbarkeit sicherzustellen. „After a repetition of similar instances, the mind is carried by habit, upon the appearance of the one event, to expect its usual attendant, and to believe that it will exist.“ (ebd., 75) hnlichkeit wird einerseits vom Verstand selbst hineingelegt, andererseits handelt es sich um etwas, das auch in der Natur liegt, das erkannt wird, das mithin nicht vollstndig kontingent vom Verstand konstruiert ist.61 Von Ursache und Wirkungen, weiterhin von Kausalitt, spricht Hume nur dann, wenn hnlichkeit als hnlichkeit wahrgenommen wird und damit Erkenntnis (als Regelfolgenzuschreibung) mçglich wird.62 In epistemologischer Hinsicht stellt das hnlichkeitswahrnehmen die Bedingung der Mçglichkeit der Regelfolgenerkenntnis dar.63 Stabilitt, Erkennen-Kçnnen und Regelfolgen werden der Sache nach identifiziert. Hume fordert daraufhin explizit hnlichkeit als Bedingung ein; in diesem Sinne kann er als normativer Methodologe gelesen werden. Hume hat also die epistemischen Schwierigkeiten klar gesehen (ebd., 69). Doch aus den Schwierigkeiten, instabile Systeme zu erkennen, lsst sich kein Argument fr „miracles“ und einen Antinaturalismus ableiten. „It is only on the discovery of extraordinary phaenomena, such as earthquakes […], that they [= men] find themselves at a loss to assign a proper cause, and to explain the manner in which the effect is produced by it. It is usual for men, in such difficulties, to have recourse to some invisible intelligent principle as the immediate cause of that event which surprises them.“ (ebd.) Mit dem Hinweis auf Erdbeben hat Hume eine Klasse von Phnomenen angesprochen, die heute von der nachmodernen Physik untersucht werden und die, ber lange Zeiten betrachtet, dyna60 Hume (1990, 75) stellt fest: „But there is nothing in a number of instances, different from every single instance, which is supposed to be exactly similar.“ Dies wurde bersetzt als: „gleichartig“ (nach: Gawlick 1985, 178). An anderer Stelle unterscheidet Hume zwischen singulren und generischen Ursachen. 61 Beste Beispiele sind einmalige Ereignisse in der Natur wie z. B. Erdbeben. 62 Das heißt: „We may define a cause to be an object, followed by another, and where all the objects similar to the first are followed by objects similar to the second.“ (ebd., 76) 63 Die Argumentation Humes scheint deshalb stringent, weil er aus seiner Perspektive nicht in der Lage ist, eine Regelhaftigkeit epistemisch selbst dann zu erkennen und von zuflligen Relationen zu unterscheiden, wenn diese (ontologisch) zugrundeliegen wrde. Zur Kritik daran siehe: Vollmer (1988, 39 f ).
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
misch instabil sind. Dass Schwierigkeiten in der Zuschreibung von Regelfolgen auftreten, hat Hume treffend herausgestellt.64 Fr ihn fallen derartige Phnomenklassen wie das Erdbeben nicht aus der Natur heraus, etwa derart, dass ein ußeres transnaturales „Supreme Being“ (ebd., 70) notwendig werden wrde. Vielmehr setzt Hume zugrundeliegende „laws of nature“65 voraus sowie einen „natural way of thinking“ (ebd., 114/ 118).66 Seine fundamentale Setzung, „there be no such thing as Chance in the world“ (ebd., 56),67 kann durchaus – entgegen seiner Intention – als metaphysische Annahme gelesen werden, nach der ein Erdbeben weder zufllig noch außernatrlich ist, sondern Teil universeller Naturgesetze. Allerdings reicht der Empirismus nicht so weit, hier ein Regelfolgen zu erkennen. Hume bleibt indes merkwrdig unbestimmt, ob und wie diese Phnomenklasse epistemisch zu fassen sein kann. Einerseits kann Hume als Vertreter der Stabilittsannahme verstanden werden, insofern Stabilitt ber den Begriff der hnlichkeit mit dem Erkennen-Kçnnen von Regelfolgen identifiziert wird. Es zeigt sich bei ihm eine normative hnlichkeits-Methodologie. Hieran ist die Zuschreibung von Kausalitt gebunden. Andererseits geht Hume durchaus von seltenen und Einzelereignissen und mithin von Instabilitten aus, welche den „laws of nature“ nicht widersprechen. Einschneidende epistemologische Folgerungen hat Hume allerdings nicht gezogen. Bei Hume finden sich weder Hinweise auf konkrete Erkenntnisse der Physik, noch verwendet er die Begriffe „Stabilitt“ oder „Instabilitt“. Das wurde im 19. Jahrhundert anders, insbesondere durch Bezugnahme auf konkrete physikalische Objektsysteme, etwa das Dreikçrperproblem.68 64 Hume hat jedoch keine epistemologischen Konsequenzen gezogen. In seiner Argumentation bezieht er sich hier vor allem auf den Alltagsverstand und die dortigen Habitualisierungen. Er unterscheidet zwischen Alltagsverstand und dem der Wissenschaften (ebd., 69 f ). 65 Vgl. u. a. (ebd., 114). „Laws of nature“ seien, so wollte es Hume glauben machen, nicht im metaphysischen Sinne zu verstehen, vielmehr liegen sie im erkennenden Subjekt. 66 Dies expliziert Hume in seiner Argumentation gegen „miracles“ im gleichnamigen Kapitel metaphysikkritisch (ebd., 109 ff ). Er spricht von „surprise and wonder“ (ebd., 117). 67 Hume (1990, 56) vertieft das neuzeitliche Zufallsverstndnis: „Zufall“ nur als „ignorance of the real cause“. 68 Barrow-Green (1993, 23) stellt heraus: „By the middle of the 19th century, it was clear that the possibility of finding a closed solution of the [three body] problem was becoming increasingly unlikely.“
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Dennoch, frhe Kritiker der Stabilittsannahme hatten – trotz der grundlegenden Ahnung von Hume und der rudimentren Wahrnehmung von Laplace – einen schweren Stand. Metaphysik und Methodologie bildeten eine wirkmchtige Allianz zur Immunisierung vor jeglicher Kritik. Kein einziger Naturwissenschaftler konnte sich dem entziehen. So waren sich die prominenten Kritiker ihrer Argumente selbst nicht sicher. Es blieb bei einer eher zurckhaltenden, wenn auch grundlegenden Problematisierung der Stabilittsannahme im 19. Jahrhundert etwa durch Maxwells Mechanik oder Poincars Planetendynamik. Maxwells Stabilitts-Maxime und die Methode der Physik Knapp 70 Jahre nach Laplace war es zunchst James Clerk Maxwell, der der Stabilittsaussage von Laplace misstraute.69 Maxwell bezog sich ebenfalls auf einen Gegenstandsbereich, welcher zunchst auffllig von Stabilitt durchzogen zu sein schien, den der Klassischen Mechanik und der Planetendynamik. Er griff in seinem Werk Matter and Motion (1877) indes Laplace nicht direkt auf,70 sondern fragte grundlegender nach dem, was konstitutiv fr die Physik sei – und was auch Laplace vorausgesetzt habe. Anders als Hume geht Maxwell vom physikalischen Experimentierhandeln und mathematisch-nomologischen Schließen aus. Er fragt nach den Bedingungen und Begrndungen der etablierten physikalischen Methodologie und problematisiert diese unter Verweis auf Instabilitten. Maxwell kann als der Entdecker der Instabilittsthematik (in erkenntnistheoretischer und methodologischer Hinsicht) angesehen werden, und das, obwohl sich seine Bemerkungen eher beilufig im einleitenden Kapitel seines Buches Matter and Motion, 1877, und in einem Vortrag zu Science, Determinism and Free Will, 1873, finden. Zunchst schließt Maxwell terminologisch an den Hume’schen Empirismus und an ein regularittstheoretisches Physikverstndnis an. Demnach ist Physik „the department of knowledge which relates to the order of nature, or, in other words, to the regular succession of events.“ (Maxwell 1991, 1)71 69 Zu Maxwell, zu seinem Leben, seinen Vortrgen und Korrespondenzen sei auf Campbell und Garnett (1969) und Everitt (1975) verwiesen. 70 Ein Verweis auf Laplace findet sich in einer Fußnote: Maxwell (1991, 13). 71 So knpft Maxwell einerseits an die metaphysische Hintergrundberzeugung ber Natur als Ordnung, Regularitt und Gesetzmßigkeit an, andererseits an den Hume’schen Empirismus. Maxwells Haltung war gewissermaßen typisch fr die
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Maxwell fragt, welches die impliziten Hintergrundberzeugungen der methodologischen Bedingungen fr physikalische Erkenntnis sind – und wie sie zu rechtfertigen sind. Diese Bedingungen bezeichnet Maxwell als „General Maxim of Physical Science“ (ebd., 13). In zwei Schritten erçrtert Maxwell diese Maxime in kritischer Absicht, wobei er sogar – an anderer Stelle – von der Maxime als „metaphysical doctrine“ oder „metaphysical axiom“ spricht (Maxwell 1873, 442). Kennzeichnend ist in einem ersten Schritt zunchst eine allgemeine Kausalittsannahme von Natur im Sinne deterministischer Regelhaftigkeit, die nur ontologisch verstanden werden kann: „The same causes will always produce the same effects.“ (Maxwell 1991, 13) Diese allgemeine Kausalittsannahme ber Natur akzeptiert Maxwell zunchst einmal.72 Sie gelte es allerdings zu spezifizieren, weil sich in der Natur, so Maxwell (ontologisierend), kein Ereignis wiederhole.73 Keine zwei identischen Ursachen kçnnen je vorliegen, weder zeitlich noch rumlich. So ist in einem zweiten Schritt eine Konkretisierung vorzunehmen, die zur „General Maxim“ fhrt. Um Physik betreiben zu kçnnen, msse von der in der Natur nicht vorhandenen Gleichheit („same“) auf hnlichkeit bergegangen werden, also von der mathematischen Idealisierung in die physikalische Empirie. Hier wurzelt die etablierte physikalische Methodologie als normative Forderung an Objektsysteme und Experimentieranordnungen: „There is another maxim which must not be confounded with that quoted at the beginning of this article, which asserts ‘That like causes produce like effects’. This is only true when small variations in the initial circumstances produce only small variations in the final state of the system.“ (ebd., 13) Maxwell hat damit eine Formulierung der heutigen „starken Kausalitt“ bzw. des „starken Determinismus“ ber den Begriff der hnlichkeit („like causes“) vorweggenommen74 – und hat von Ursache und Wirkung auch bei schwacher Kausalitt gesprochen, also dort, wo Hume „Akausalitt“ zugeordnet htte. Darber hinaus ist Maxwell in seiner Offenlegung der „General Maxim of Physical Science“ weiter gegangen. Er verweist auf Problempunkte in der Genese von Regelhaftig„englische Physikerschule“ (Locqueneux 1989, 109): Er suchte nach mechanischen Analogien zur Beschreibung von physikalischen Erscheinungen. 72 Allerdings wird Maxwell (1873, 444) den „prejudice in favour of determinism“ kritisieren. 73 Maxwell (1991, 13) meint: „No event ever happens more than once, so that the causes and effects cannot be the same in all respects.“ 74 hnliche Formulierungen finden sich heute beispielsweise bei Loistl/Betz (1994), Ruelle (1994) und Worg (1993); siehe Kapitel 6.2.
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keit bei dynamischer Instabilitt. Zwar versteckt Maxwell dies in einer Fußnote (ebd.), dafr aber um so deutlicher und im expliziten begrifflichen Rekurs auf „Stabilitt“ und „Instabilitt“: Die Annahme, dass hnliche Ursachen hnliche Wirkungen erzeugen, „implies that it is only in so far as stability subsists that principles of natural law can be formulated: it thus puts a limitation on any postulate of universal physical determincy such as Laplace was credited with.“ (ebd.) Der Begriff der Stabilitt rckt damit erstmals ins Zentrum der Bedingungen der Mçglichkeit zur Bildung von Regel- und somit Gesetzeshaftigkeit; die fr Stabilitt und Regelbildungsmçglichkeit konstitutive Norm der hnlichkeit wird von Maxwell expliziert und problematisiert.75 Obwohl Maxwell als erster die methodologische Problematik der Instabilitten formulierte, steht auch er im Horizont seiner „General Maxim“, die als Stabilittsannahme bezeichnet werden kann: „In a great many physical phenomena this condition is satisfied.“ (ebd.) Stabilitt ist demnach der Normalfall im Verhalten physikalischer Objektsysteme, Instabilitt hingegen ist untergeordnet.76 Dass allerdings Instabilitten und Sensitivitten in der Natur existieren, ist fr Maxwell offenkundig. „[T]here are other cases in which a small initial variation may produce a very great change in the final state of the system, as when the displacement of the ‘points’ causes a railway train to run into another instead of keeping its proper course.“ (ebd., 13/14) Maxwell illustriert Instabilitt anhand des Wettergeschehens und weist so auf die Reduktions- und Vereinheitlichungsproblematik hin: „In so far as the weather may be due to an unlimited assemblage of local instabilities, it may not be amenable to a finite scheme of law at all.“ (ebd., 14) Eine zugrundeliegende einfache Gesetzmßigkeit lsst sich aus empirischer Perspektive nicht finden. Weiterfhrende und zuspitzende Thesen hatte Maxwell eigentlich schon im Jahre 1873 in einem Vortrag unter der Fragestellung: „Begnstigt der Fortschritt der Physik eher einen Glauben an den Determinismus als an den freien Willen?“ vorgebracht.77 Er fragte in kritischer 75 So zeigt sich, dass der Laplace’sche Determinismus – insofern er glaubt, sich auf Empirisches zu sttzen – nicht objektiv in der Natur liegen kann, sondern zunchst ein „Postulat“ („Maxim“) darstellt. 76 Maxwell geht allerdings nicht so weit zu behaupten, dass physikalische Phnomene als solche erst durch Stabilitt konstituiert werden. 77 Der Vortrag wurde am 11. 2. 1873 vor einer Gruppe von Professoren am Trinity College in Cambridge gehalten. Diese Gruppe von zwçlf Mnnern nannte sich selbst „die Apostel“, vgl. auch Campbell/Garnett (1969, 434) und Jaki (1966, 330 f ).
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Absicht, inwiefern es zu einem ontologischen „Vorurteil zugunsten des Determinismus“ kommen konnte. Quelle des Vorurteils seien stabile Phnomentypen: „Much light may be thrown on some of these questions [of Free Will] by the consideration of stability and instability. […] [W]hen an infinitely small variation in the present state may bring about a finite difference in the state of the system in a finite time, the condition of the system is said to be unstable. It is manifest that the existence of unstable conditions renders impossible the prediction of future events, if our knowledge of the present state is only approximate, and not accurate.“ (Maxwell 1873, 440) Maxwell spricht allerdings nicht nur die Problematik der Prognostizierbarkeit an, sondern zielt ferner auf eine Offenlegung dessen, was mit der Prognostizierbarkeit vielfach unberechtigterweise verbunden werde, nmlich (ontologisch-metaphysische) Determinationsvorstellungen: „It is a metaphysical doctrine that from the same antecedents follow the same consequents. […] But it is not of much use in a world like this, in which the same antecedents never again concur, and nothing happens twice. […] The physical axiom which has a somewhat similar aspect is ,That from like antecedents follow like consequents.‘ But here we have passed from sameness to likeness, from absolute accuracy to a more or less approximation. […] There are other classes of phenomena which are more complicated, and in which cases of instability may occur.“ (Maxwell 1873, 440 f ) Maxwell kçnnte mit diesen grundlegenden Hinweisen auch fr die heutige „neurophilosophische“ Diskussion und die Reflexion mitunter berzogener Geltungsansprche neurowissenschaftlicher Aussagen hilfreich sein. Die Erkenn- und Erklrbarkeit instabiler Prozesse ist effektiv reduziert (Schmidt 2003c).78 Der bei Maxwell prominente Begriff der hnlichkeit findet sich wenig spter auch bei Friedrich Nietzsche. Dieser problematisiert, ganz im Sinne Maxwells, den „berwiegende[n] Hang“, „das hnliche als gleich zu behandeln.“ (Nietzsche 1930, 131) Es scheint, als haben „die nicht genau sehenden Wesen […] einen Vorsprung.“ (ebd.) Der Philosoph des Zarathustra hat auf eine bemerkenswerte Weise in seiner Zeit und 78 Zwar stellen Instabilitten fr die physikalische Methode Probleme dar. Doch Maxwell (1873, 443) bewertet diese nicht grundstzlich negativ, denn: „all great results produced by human endeavour depend on taking advantage of these singular states [of instability] when they occur.“ Die Gleichsetzung von „Singularities“ und „Instabilities“ stellt zwar eine Verkrzung da, deutet aber „kritische Situationen“ an, welche heute unter den Begriff der „Instabilitt“ gefasst werden.
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Sprache dasjenige gekennzeichnet, was im wesentlichen die klassischmoderne Physik – und ihren Erfolg – ausmacht, jedoch, um mit Maxwell zu sprechen, eine „metaphysische Doktrin“ (Maxwell 1873, 442) sei. Wenn Instabilitten vorherrschen, so Maxwell aus empiristischer Perspektive, fallen jene Argumente weg, auf die sich Deterministen beziehen kçnnen (ebd., 440). Damit verlieren sie den Bezug zu den empirischen Naturwissenschaften und befinden sich nach Maxwell im Metaphysischen.79 Poincar und die Verunsicherung: Ist die Welt stabil? Die Einsicht, dass die Natur nicht nur eine stabile, sondern auch eine instabile Seite besitzt, erhrtete sich wenige Jahrzehnte spter und wurde mathematisch als Mçglichkeit nachweisbar. Der schwedische Kçnig Oskar II. stellte Ende der 1880er Jahre die Preisfrage, ob das Planentensystem stabil sei. Henri Poincar untersuchte daraufhin das himmelsmechanische Dreikçrperproblem, stellte zunchst (irrtmlicherweise) Stabilitt fest, gelangte aber schließlich zu einem Laplace widersprechenden Ergebnis.80 Fr bestimmte Parameterkonstellationen sind dynamische Instabilitten mçglich und wahrscheinlich. Dass die Stabilitt des Sonnensystems nicht beweisbar ist, zeigte Poincar, indem er auf die mçgliche Divergenz der Reihenentwicklung bei der Bestimmung der Lçsung verwies und dazu (Differenzial-) topologische Methoden weg-
79 Wenn allerdings „those cultivators of physical science […] are led in pursuit of the arcana of science to the study of the […] instabilities, rather than the […] stabilities of things, the promotion of natural knowledge may tend to remove that prejudice in favour of determinism.“ (ebd. 444) So hat Maxwell auf eine mechanistische (d. h. ontologisch-deterministische) Interpretation seiner Gleichungen (Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik) verzichtet. Diese Auffassung entspricht der spteren, insbesondere von Hertz und Duhem vertretenen Auffassung, nach der mechanische Modelle nur eine heuristische und çkonomische Funktion besitzen, nicht aber im Sinne einer mechanistisch-ontologischen Reduktion zu verstehen sind. – Bemerkenswert ist allerdings, dass Ende des 19. Jahrhunderts die großen Physiker und Wissenschaftsphilosophen, Mach und Hertz, zwar einerseits die Klassische Mechanik als wesentliches Gegenstandsfeld wissenschaftsphilosophischer Erçrterungen ansahen. Andererseits sind fr sie Instabilitten sowie die damit verbundenen Phnomene kein Thema. 80 Zur umfangreichen und turbulenten Geschichte der Poincar’schen Arbeiten siehe Peterson (1997, 167 f ).
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weisend entwickelte.81 Poincar beschrieb – hnlich wie zeitgleich Alexander Lyapunov82 – qualitativ topologisch, welche Bewegungsformen potenziell eintreten kçnnen. „So komplex sind die Bahnkurven [der beteiligten Planeten], daß ich sie nicht einmal zu skizzieren mich traue.“ (Poincar 1899)83 Diese Erkenntnis – bislang eher eine Vermutung – war beunruhigend. Schließlich galt die Planetenbewegung als herausragendes Beispiel fr fortwhrende Stabilitt und zyklische Periodizitt. Fr Poincar lag hier ein Perspektivenwechsel vor, der ihn anregte, erkenntnistheoretisch ber Instabilitt, Zufall und Gesetzmßigkeit zu reflektieren. Der Antagonismus von Zufall und Gesetzmßigkeit sei nur ein scheinbarer, welcher durch Einbeziehung von Instabilitt zu berwinden sei. In Vorwegnahme der heutigen „schwachen Kausalitt“ gelte: „Eine sehr kleine Ursache, die fr uns unbemerkbar bleibt, bewirkt einen betrchtlichen Effekt, den wir unbedingt bemerken mssen, und dann sagen wir [zu Recht], dass dieser Effekt vom Zufall abhnge. […] Aber selbst wenn die Naturgesetze fr uns kein Geheimnis mehr enthielten, kçnnen wir doch 81 Die Topologen Boltjanskij und Efremovic (1986, 6) stellen treffend heraus: „Jedoch kann man ohne bertreibung sagen, daß die Topologie als eigenstndiges Wissenschaftsgebiet Ende des 19. Jahrhunderts durch Henri Poincar geschaffen wurde“. Zu Poincar allg. siehe die Ausfhrungen von Barrow-Green (1993). – Poincar untersuchte wegweisend automorphe Funktionen einer komplexen Variablen. Hier gelang ihm eine Lçsung des Integrationsproblems fr gewçhnliche Differenzialgleichungen algebraischer Koeffizienten sowie – unter Verwendung topologischer Aspekte – eine Lçsung des Uniformisierungsproblems algebraischer Kurven. Spter fhrte Poincar die sog. Methode der PoincarSchnitte und Poincar-Abbildungen ein. So wird etwa die Existenz periodischer Lçsungen des Dreikçrperproblems auf die Existenz eines Fixpunktes fr stetige Transformationen reduziert. 82 Bspw. Lyapunov (1907). Zu Lyapunov siehe die historische Studie von Parks (1992) „A.M. Lyapunov’s stability theory. 100 years on“ sowie die wissenschaftshistorische Diskussion von Shcherbakov (1992), welcher nach 100 Jahren die wegweisende (Doktor-) Arbeit Lyapunovs wrdigt. 83 Zitiert nach: Bremer (1997, 47). Dabei bezog sich Poincar auf die Hill’sche Mondtheorie von 1878. Hill hatte gezeigt, welche Probleme sich bei der Beantwortung der Frage nach der Stabilitt der Mondbewegung ergeben. Painlev verallgemeinerte wenig spter Poincars Hinweis der Nicht-Integrabilitt auf das Mehrkçrperproblem. Vgl. dazu die Wrdigung Poincars von G.D. Birkhoff (1927, 260 f ). Im Jahre 1954 reformulierte Kolmogorov das Poincar’sche Dreikçrperproblem. Er untersuchte primr mçgliche Periodizitten. Arnold, einer von Kolmogorovs Schlern, zeigte 1963, dass die Reihen zur Beschreibung der Bewegungen im Dreikçrperproblem unter bestimmten Bedingungen konvergieren und unter anderen nicht.
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einen Anfangszustand immer nur nherungsweise kennen. Wenn wir dadurch in den Stand gesetzt werden, den spteren Zustand mit demselben Nherungsgrade vorauszusagen, so ist das alles, was man verlangen kann; wir sagen dann: die Erscheinung wurde vorhergesagt, sie wird durch Gesetze bestimmt. Aber so ist es nicht immer; es kann der Fall eintreten, daß kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen große Unterschiede in den spteren Erscheinungen bedingen; ein kleiner Irrtum in den ersteren kann einen außerordentlich großen Irrtum fr die letzteren nach sich ziehen. Die Vorhersage wird unmçglich und wir haben eine ,zufllige Erscheinung‘.“ (Poincar 1914, 56 f )84 Quelle dieser Zuflligkeiten sind fr Poincar die „unstabile[n] Gleichgewicht[e]“ physikalischer Objektsysteme (ebd., 57). Als Beispiele fr Quellen des instabilittsbasierten Zufalls in seinem „objektiven Charakter“85 nennt Poincar einen auf die Spitze gestellten Kegel, das Wettergeschehen, das Planetensystem und das Roulettespiel (ebd., 56 f ). Auch Galtons Brett, bei welchem eine Kugel durch gegeneinander versetzte Nagelreihen fllt und eine zufllige, gaußfçrmige Verteilung generiert, gehçrt zu diesem gesetzeshaften Zufallstyp. Poincar prgte damit ein spezifisches Zufallsverstndnis, welches anders zu fassen sei „als ein Name fr unsere Unwissenheit“ (ebd., 55). Der auf Instabilitten zurckgehende Zufall ist kompatibel mit einem nomologischen Kausalnexus. Nur vor diesem Hintergrund kçnne wissenschaftlich von Zufall gesprochen werden. Damit sei eine „bessere Definition des Zufalls“ gegeben als diejenige, die an Wissensdefizite anschließt (ebd., 56).86 So lehnt sich Poincar implizit an Laplace an, allerdings nicht im Sinne einer starken Ontologie, sondern im Hinblick auf mathematische Formeln und Funktionen. Er stellt distanzierend, dennoch aber zustimmend heraus, dass „wir […] absolute Deterministen geworden [sind].“ (ebd., 84 Schon bei Poincar (1914, 58) findet sich eine Przisierung hinsichtlich der Redeweise von Ursache und Wirkung. blich ist die Redeweise: „Auch hier haben wir wieder eine kleine Ursache und eine große Wirkung.“ Prziser ist es jedoch, wie Poincar bemerkt, wie folgt zu sprechen: „Kleine Differenzen in der Ursache und große Differenzen in der Wirkung.“ 85 Poincar (1914, 73 f ) scheint sich seiner Sache noch nicht vollstndig sicher zu sein, insofern er von „zufllige[r] Erscheinung“ nur in Anfhrungszeichen spricht. Allerdings erçrtert er in Unterkapitel VIII. den „objektiven Charakter“ des Zufalls. 86 Der objektive Charakter des Zufalls setzt voraus, dass „alle Menschen ungefhr gleiche Sinne haben [und …] die Macht ihrer Instrumente beschrnkt ist.“ (ebd., 75) Objektivitt ist eine ber die Sinneswahrnehmung hergestellte und dann durch Konventionen kondensierte Intersubjektivitt, wie sie im Menschen liege.
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53) Laplaces Dmon taucht modifiziert auf, insofern „[j]ede Erscheinung, und sei sie noch so unbedeutend, […] ihre Ursachen [hat], und ein unendlich umfassender Geist, der ber die Gesetze der Natur unendlich genau unterrichtet ist, htte sie seit Anfang der Welt voraussehen kçnnen.“ (ebd., 53) Nicht den Kausaldeterminismus, sondern die subjektivistische Verstndnisweise des Zufalls – Zufall als Wissensdefizit – lehnt Poincar ab.87 Methodologische Reflexionen zu Fehler- und Stçrungsabschtzungen von experimentell generierten Datenreihen schließen sich an. Fr Poincar gilt es, theoriengeleitet eine Erkenntnis darber zu gewinnen, welche Effekte dem beobachteten Objektsystem als solchem eigen sind und welche anderen als Stçrung anzusehen sind. Darber hinaus ist zu bercksichtigen, „wie vielen Fehlerquellen […] ein Beobachter selbst bei der Benutzung der besten Instrumente ausgesetzt [ist]! Er muß sich bemhen, die grçbsten Fehler zu bemerken und zu vermeiden. […] Wenn man nun diese [d.h. die systematischen Fehler] eliminiert hat, so bleiben noch viele kleine Fehler, deren Wirkungen sich addieren kçnnen und die dadurch gefhrlich werden. […] Auch hier haben wir kleine Ursachen […] und […] durch ihre Vereinigung und ihre große Anzahl werden diese Wirkungen dem Beobachter gefhrlich.“ (ebd., 63) Das Verhalten des physikalischen Objektsystems ist niemals vollstndig von der Umwelt zu separieren. Alle kleinen Ursachen sind in ihrer Gesamtheit nicht erfassbar.88 Aufgrund der Instabilitten komme es vor, „daß zwei dieser [experimentell vermeintlich isolierten] Abschnitte einander beeinflussen.“ (ebd., 64) Dann werde von „dem Zufall“ gesprochen (vgl. ebd.). Um „Zufall“ zu vermeiden, der eine Erkenntnis erschwere, achte der Physiker – so Poincar – bei der „Auswahl der Tatsachen“, welche er als physikalisch fr erkenntnisgewinnend ansieht, darauf, dass diese gute Kandi87 blicherweise werde – mit Laplace – wie folgt argumentiert: „Wrden wir die Gesetze der Natur und den Zustand des Universums fr einen gewissen Zeitpunkt genau kennen, so kçnnten wir den Zustand dieses Universums fr irgendeinen spteren Zeitpunkt voraussagen.“ (ebd., 56) Fr Poincar htte ein solches Verstndnis des Wortes „,Zufall‘ keine Bedeutung, oder vielmehr, es gbe in einem solchen Universum keinen Zufall. Nur wegen unserer Unvollkommenheit und unserer Unwissenheit wrde es also einen Zufall geben.“ (ebd., 54) Dieses Zufallsverstndnis ist fr Poincar selbst defizitr. So ist die starke ontologisierende Hintergrundberzeugung gegen Zufall abzulehnen. 88 Wegen „unseres Unvermçgens“ sind wir nicht in der Lage, „das ganze Universum [… zu] umfassen“, was eigentlich notwendig wre, um alle „verwinkelten Ursachen“ (Poincar 1914, 63) mit zu bercksichtigen.
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daten dafr darstellen, „sich zu wiederholen“ (ebd., 8).89 Wiederholbarkeit impliziere empirische Erkennbarkeit. So nimmt auch Poincar – wie vor ihm Maxwell – in methodologischer Hinsicht eine negative, die Physik allerdings herausfordernde Bewertung von Instabilitten vor. Dass in Instabilitten eine Produktivitt der Natur zu Wachstum und Selbstorganisation liegen kçnnte, sahen die ersten großen Theoretiker der Instabilitten nicht. In der einseitigen Betonung der Problempunkte fr physikalische Erkenntnis standen sie noch ganz in der Traditionslinie des Stabilittsdenkens – wenn auch nicht ausschließlich in metaphysischer, so doch in methodologischer Hinsicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch gerieten ihre vorsichtigen, aber wegweisenden Arbeiten zur Instabilitt angesichts der revolutionren Umbrche innerhalb der Physik aus dem Blick. Zudem schritt die trennende Spezialisierung der Disziplinen weiter voran. Mathematische Entwicklungen – wie etwa die allgemeine Theorie dynamischer Systeme von G.D. Birkhoff mit ihren Instabilittsanalysen (Birkhoff 1927) – wurden in der Physik kaum rezipiert. Die weiterfhrenden Arbeiten von A.M. Lyapunov und seine umfangreichen Stabilitts- und Instabilittsdefinitionen lagen zunchst nur in russischer Sprache vor (Lyapunov 1907).90 Trotz dieser Weiterentwicklung wird man zusammenfassend David Ruelle zustimmen mssen, dass „fr einen Spezialisten unserer Tage […] das berraschendste an Poincars Analysis [ist], wie modern sie ist.“ (Ruelle 1994, 67) Duhems Hinweis auf die „physikalische Nutzlosigkeit“ von Instabilitten Der Konventionalismus ist jene wissenschaftsphilosophische Schule, die vielen Spielarten des modernen (methodologischen wie partiell auch des sozialen) Konstruktivismus zugrunde liegt und sich insbesondere auf die 89 Poincar fhrt diese Reflexion experimenteller Reproduzierbarkeit weiter und gelangt zum verwandten Problem der Prognostizierbarkeit. „Wenn man eine Tatsache voraussagen will und deshalb die vorhergehenden Tatsachen prft, so sucht man sich ber die frhere Gesamtlage zu unterrichten, dies lßt sich jedoch nie fr alle Teile des Universums durchfhren. […] Es kann auch vorkommen, daß wir Umstnde unbeachtet lassen, die anfangs der vorauszusagenden Tatsache vollstndig fremd zu sein scheinen […], die aber dennoch, gegen jede Erwartung, schließlich eine wichtige Rolle spielen.“ (ebd., 64) 90 Eine wissenschaftshistorische Analyse zu Lyapunov und Birkhoff findet sich bei Barrow-Green (1993, 224 f/261 f ).
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Festlegung von Begriffen und Symbolen sowie auf die Wahl der Geometrien, Metriken und Messverfahren bezieht. Der Konventionalismus scheint, zumindest was seinen Ursprung angeht, von jenen Physikern auszugehen, die sich mit Instabilitten explizit beschftigt haben: neben Poincar steht der Physiker, Wissenschaftstheoretiker und -historiker Pierre Duhem. Regeln, Gesetzmßigkeiten und Methoden, Geometrien und Metriken, Maß- und Rechenverfahren, Hypothesenbildung und Experimentieranordnungen stellen fr Duhem wie fr Poincar Konventionen dar. Sie sind als Festlegungen fr Naturwissenschaft konstitutiv und bilden damit die Bedingung der Mçglichkeit symbolischer Reprsentationen empirisch beobachtbarer Phnomene. Ohne sie kann es keine Naturwissenschaft und keine epistemische Handlung, insbesondere keine Physik, geben. Duhem sieht hierin keine vollstndige Kontingenz, schließlich liegen jedwelchen Konventionen wohletablierte historische Entwicklungen eines geordneten theoretisch-symbolhaften Wissens zugrunde.91 Whrend Poincar sich primr auf den instabilittsbasierten Zufall bezog und konkrete himmelsmechanische Stabilittsprobleme untersuchte, fokussiert Duhem allgemeiner auf die „Struktur physikalischer Theorien“92 und steht damit Maxwell nahe.93 Sein Zugang erscheint zunchst als ein rein methodologischer, ohne explizit auf Objektsysteme (der Natur) zu rekurrieren, ganz wie es in der sich herausbildenden Traditionslinie des Neopositivismus und der Analytischen Philosophie blich werden sollte. hnlich wie Poincar ist auch Duhem eine Schwellengestalt zur Instabilittsthematik. Er erkannte, wie gezeigt wird, die methodologischen Probleme fr deduktiv-nomologische Erklrungen („Beschreibungen“) und mathematische Schlussformen. Deshalb forderte er eine Festschreibung der Methodologie auf stabile (lineare) Ableitungsbeziehungen – und fragte nur am Rande unter dem Stichwort 91 In der Poincar’schen Spielart lehnt der Konventionalismus die Frage nach der Wahrheit geometrischer Axiome als sinnlos ab, denn hier handele es sich um eine auf bereinkommen vorgenommene Festsetzung. Duhem ist zurckhaltender mit einer derartigen Feststellung. 92 Siehe Duhem (1978) und allg. Schfer (1974, 107 ff ). Es ist Schfer zu verdanken, dass Duhem der deutschsprachigen Leserschaft wieder direkt zugnglich wurde. Eine hervorragende Einleitung zu Duhem (1978) und eine umfangreiche Bibliographie findet sich bei Schfer (1978). Duhems Buch erschien erstmals im Jahre 1906 in Paris. Mach hatte eine deutsche bersetzung, 1908, besorgt. 93 Duhem war vertraut mit Maxwells Arbeiten. Er hat u. a. ber Maxwell im Hinblick zur Elektrizittslehre und Elektrodynamik gearbeitet (Duhem 1902).
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„naturgemße Klassifikation“ (Duhem 1978, 27 f ), ob dies den physikalischen Objektsystemen der Natur angemessen sei. Insofern zeigt sich Duhem als normativer Methodologe, dessen Zugang auch von metaphysischen Annahmen nicht frei ist. Darauf, dass Duhem nmlich durchaus „als Metaphysiker“ analytische Trennungen und methodologische Setzungen vornimmt, hat Lothar Schfer (1974, 116) treffend hingewiesen.94 Duhem verwendet nicht nur den Begriff „Stabilitt“ (Duhem 1978, 186) und diskutiert diesen anhand von Beispielen. Vielmehr fragt er, ob und in welcher Hinsicht Stabilitt und Instabilitt fr theoriebasierte Ableitungsbeziehungen („Deduktionen“) relevant sind. Die mit Instabilitten verbundenen Probleme erçrtert er im Kapitel Mathematische Deduktion und physikalische Theorie,95 dort im Abschnitt mit dem Titel Beispiel einer mathematischen Deduktion, die niemals verwendet werden kann (ebd., 180 ff ). Duhem steht in seinem Zugang Ernst Mach und dessen positivistischer Metaphysikkritik und ordnungszentrierter Denkçkonomie nahe. Hieran orientiert sich sein Theorieverstndnis, das sich auf symbolische Relationen bezieht und (ber Spezifikationen in Gesetzen) als symbolische Reprsentationen empirischer Beobachtungen zu verstehen ist. So ist nach Duhem eine „physikalische Theorie […] keine Erklrung [… , sondern] ein System mathematischer Lehrstze, die aus einer kleinen Zahl von Prinzipien abgeleitet werden und den Zweck haben, eine zusammengehçrige Gruppe experimenteller Gesetze ebenso einfach, wie vollstndig und genau darzustellen.“ (ebd., 20 f ) Ferner richtet sich Duhem gegen jeglichen auf Gehaltserweiterung zielenden Induktivismus. Eine begrndete Verallgemeinerbarkeit von (vermeintlich direkt zugnglichen isolierten) Beobachtungsaussagen sei unmçglich: Weder die Beobachtungsaussagen noch die induktiven Schlsse liegen in den Phnomenen selbst bzw. sind als solche zugnglich. Sie werden vielmehr erst durch Konventionen festgelegt bzw. durch Wahl zwischen Alternativen gebildet. So argumentiert Duhem fr einen Deduktivismus. Theorien sind zwar zunchst freie Schçpfungen symbolischer Relationen (im Rahmen von anderen Theorien), doch mssen sie ber deduktive Ableitungen empirischen Prfungen unterzogen werden. Allerdings ist die Prfbarkeit begrenzt. Ein experimentum crucis ist 94 Duhem ist heute prominent. Vielfach nimmt Cartwright (1983, 87 f ) auf ihn Bezug und bezeichnet ihn als „Anti-Realisten“, obwohl dies freilich strittig ist; vgl. dazu Psillos (1999). 95 In seinem Buch „Ziel und Struktur der physikalischen Theorien“ (ebd., 172 f ).
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unmçglich: Isolierte Hypothesen und einzelne theoretische Terme sind experimentell nicht zu prfen, sondern immer nur ganze „theoretische Gruppen“ (ebd. 244).96 Duhems holistischer Deduktivismus steht damit Positionen gegenber, die fr einen isolationistischen Deduktivismus argumentieren, wie etwa Karl Popper. Fr den modernen Deduktivismus war Duhem insgesamt – trotz und wegen dieser Differenzierung – wegweisend (Duhem-Quine-These).97 Duhem geht von einem bleibenden Unterschied von Mathematik und Physik aus, der gerade bei Instabilitten hervortritt. Mathematische Exaktheit einerseits steht gegen physikalische Vagheit, Unschrfe, Unsicherheit andererseits. In mathematischer Hinsicht zeigt sich hier der Unterschied von Przisions- zur Approximationsmathematik.98 Zwischen beiden werden bersetzungen notwendig, welche als symbolische Beziehungen zu verstehen sind. Hierzu verwendet Duhem den Begriff des „Bndels“. bersetzungen werden spezifiziert als Relationen zwischen einem „Bndel theoretischer Tatsachen“99 und „praktischen Tatsachen“ 96 Die Entscheidung fr oder gegen eine Theorie ist bei Duhem immer eine Entscheidung fr oder gegen ein ganzes System von Aussagen, Gesetzen, Theorieelementen. Duhem (1978, 243 f ) sagt explizit: „Ein physikalisches Experiment kann niemals zur Verwerfung einer isolierten Hypothese, sondern immer nur zu der einer ganzen theoretischen Gruppe fhren.“ 97 Duhem argumentiert dafr, dass sich das – von ihm noch linear-kummulativ gedachte – physikalische Erkenntniswachstum nicht aus der Anwendung ontologischer Prinzipien speist, sondern allein auf einem hypothetisch-deduktiven Prfverfahren basiert; vgl. allg. Schfer (1978, xviii). Im Unterschied zu Mach und in Vorwegnahme von Popper hlt Duhem Metaphysik nicht fr sinnlos, sondern mitunter fr heuristisch fruchtbar. 98 Vgl. auch Vuillemin (1991, xxiii). 99 Duhem mçchte nmlich beispielsweise von einem „Bndel“ sprechen, wenn bestimmte Metrisierungen vorgenommen werden, also „daß diese Linie eine Lnge von 1 cm oder von 0,999 cm oder von 0,993 cm […] besitze.“ (ebd., 175) Theoretische Tatsachen sind jene Gruppe mathematischer Angaben, „durch die eine konkrete Tatsache in den berlegungen und Rechnungen des Theoretikers ersetzt wird.“ (ebd., 174) „Theoretische Tatsachen“ stehen „praktischen Tatsachen“ gegenber (ebd., 174 f ). Es ergibt sich ein Problem, weil „eine Unzahl verschiedener theoretischer Tatsachen […] als bersetzung derselben praktischen Tatsache dienen [kçnnen].“ (ebd., 175) So lasse sich eine praktische Tatsache „nicht nur durch eine einzige theoretische Tatsache, sondern durch eine Art Bndel, das eine Unzahl verschiedener theoretischer Tatsachen umfaßt, bersetzen. Jedes dieser mathematischen Elemente, die gemeinsam eine dieser Tatsachen bilden, kann bei jeder Tatsache anders sein.“ (ebd., 175) Spter wird der Logische Empirismus von „theoretischen Termen“ und „empirischen Termen“ sprechen.
4.3. Fragwrdig: Instabilitts-Ahnungen
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(ebd., 174)100, wobei letztere „praktisch bestimmte experimentelle Bedingungen“ umfassen (ebd., 181). Theoretische Tatsachen sind durch die „verschwommenen, verdreckten und verwischten“ praktischen Tatsachen der experimentellen Beobachtungen unterbestimmt (ebd., 175). Eine einzelne praktische Tatsache kann nicht eineindeutig durch eine einzelne theoretische Tatsache, sondern nur durch ein „ganzes Bndel“ symbolisch dargestellt werden; das ist Teil der Duhem’schen These der Unterdetermination, nach welcher keine positive empirische Evidenz je eine bestimmte Theorie als System symbolischer Reprsentation eindeutig festlegen oder determinieren kçnne.101 Der Duhem’sche Bndelbegriff zielt also darauf ab, mit der empirischen Nichtexaktheit mathematisch umgehen zu kçnnen. Das Bndel bezieht sich auf die Bandbreite der experimentellen Unsicherheiten, auf Messfehler, Stçrungen und Standardabweichungen. In einem Bndel theoretischer Tatsachen, das eine einzige praktische Tatsache als bersetzung reprsentiert, sind beispielsweise (symbolische) Zahlenwerte dargelegt, die der Druck P in einer bestimmten Situation annehmen kann, etwa alle theoretischen Werte zwischen 9,95 und 10,05 Atmosphren (ebd., 175). Eine symbolische Reprsentation der einen beobachteten praktischen Tatsache in mathematischen Symbolen und Formeln findet sich also in einem Bndel theoretischer Tatsachen wieder. Nun betrachtet Duhem nicht nur bersetzungen zwischen praktischen und theoretischen Tatsachen, sondern – damit konzeptionell ver-
100 Duhem (ebd., 174/175) erlutert dies wie folgt: „Dieser theoretischen Tatsache stellen wir die praktische Tatsache, deren bersetzung sie ist, gegenber. Hier ist nichts mehr von der Przision zu merken, die wir eben konstatiert haben. […] Seine Punkte sind mehr oder minder breitgedrckt und abgestumpft. [….] Whrend also die Konturen des Bildes [theoretische Tatsache, Mathematik] mit einer gewissen Schrfe gezogen sind, sind die Konturen des Objektes verschwommen, verdreckt und verwischt. Es ist unmçglich, die praktische Tatsache zu beschreiben, ohne durch den Ausdruck nherungsweise die allzugroße Bestimmtheit jedes Satzes abzuschwchen. Dagegen sind alle Elemente, die die theoretische Tatsache bilden, mit strenger Genauigkeit definiert.“ 101 Unterschiedliche Theorien mit ihren theoretischen Tatsachen passen zu ein und derselben praktischen Tatsache. Duhem (1991, 169) spricht von „symbolic indetermination“. „We can make an infinity of different formulas or distinct physical laws correspond to the same group of facts.“ (ebd., 169) Mit anderen Worten: „A physical law is a symbolic relation whose application to concrete reality requires that a whole group of laws to be known and accepted.“ (ebd., 168)
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bunden – allgemeine Ableitungsbeziehungen, „Deduktionen“102, von einem Bndel theoretischer Tatsachen auf ein anderes. Deduktionen bilden den Ausgangspunkt, um einen Zusammenhang zur Empirie und zu praktischen Tatsachen herzustellen und sodann Prfungen vornehmen zu kçnnen.103 Instabilitten kçnnen hier eine problematische Rolle spielen. Duhem hat herausgearbeitet, dass Deduktionen zwischen einem ersten und einem zweiten Bndel nicht immer derart sind, dass – wie wir heute sagen – Linearitt und Stabilitt vorliegen: Verkleinerung des einen Bndels impliziert nicht notwendigerweise eine Schrumpfung des anderen. „Wenn auch das erste Bndel unbegrenzt klein ist, so kçnnen doch die Fden, die das zweite Bndel bilden, divergieren und sich voneinander trennen, ohne daß man ihren gegenseitigen Abstand unter eine gewisse Grenze herabdrcken kçnnte. Eine derartige mathematische Deduktion ist fr den Physiker unbrauchbar und wird es immer bleiben. Wie przis und genau die Instrumente auch immer sein mçgen, durch die die Versuchsbedingungen in Zahlen bersetzt werden, stets wird diese Deduktion […] bestimmten experimentellen Bedingungen eine Unzahl […] verschiedener Resultate entsprechen lassen.“ (ebd., 181 f ) Die Divergenz in den deduktiven Ableitungsbeziehungen ist eine Folge von Instabilitten; fr physikalisch verwendbare, d. h. fr die die experi102 Deduktion habe, so Duhem (1978, 172), „das Ziel, uns zu lehren, wie auf Grund der fundamentalen Hypothesen der Theorie unter bestimmten Umstnden bestimmte Konsequenzen entstehen, [d.h.] daß beim Auftreten bestimmter Tatsachen auch bestimmte andere Tatsachen auftreten werden.“ 103 So stellt das erste Bndel theoretischer Tatsachen symbolisch etwa die Messdaten eines Experiments dar; sie sind theoretische Tatsachen, insofern – wie Duhem im Rekurs auf vielfltige Spielarten der Erkenntnistheorien sagt – hier schon mehrfache bersetzungsprozeduren stattgefunden haben, welche ihrerseits auf bestimmten Theorien und theoretischen Hintergrundberzeugungen basieren. Heute spricht man von Theoriengeleitetheit oder Theoriegeladenheit physikalischer Beobachtungen und von der Unmçglichkeit einer theorieunabhngigen Beobachtungssprache. Bei Duhem (ebd. 201 f ) heißt es: „Nur die theoretische Interpretation der Erscheinungen ermçglicht den Gebrauch der Instrumente.“ Experiment und Theorie sind nicht gleich mchtig bzw. zueinander eindeutig bestimmbar: „Eine einzige theoretische Tatsache kann […] durch eine Unzahl zusammenhangsloser praktischer Tatsachen ausgedrckt werden, eine einzige praktische Tatsache entspricht einer Unzahl unvereinbarer theoretischer Tatsachen.“ (ebd., 200) Physik hat immer einen theoretischen berschuss; keine direkte experimentelle Erfahrung, etwa im Sinne von Basisstzen, ist mçglich: „Ein physikalisches Experiment ist nicht einfach die Beobachtung einer Erscheinung, es ist außerdem die theoretische Interpretation derselben.“ (ebd., 188)
4.3. Fragwrdig: Instabilitts-Ahnungen
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mentellen Phnomene reprsentierenden Deduktionen sind Instabilitten methodologisch problematisch. Es muss erlutert werden warum. Duhem rekonstruiert zunchst, wie es dazu kommen konnte, dass Physiker und Philosophen bersehen haben, welche Bedingungen in die bliche bndelorientierte Verstndnisweise gelingender Deduktionen zwischen zwei Bndeln eingehen. Nicht nur, dass singulre Ableitungsbeziehungen zwischen einzelnen theoretischen Tatsachen entsprechend der Aussage gelten: „Wenn man eine einzige theoretische Tatsache als gegeben annimmt, lßt die mathematische Deduktion ihr wieder eine einzige theoretische Tatsache entsprechen.“ (ebd. 180) Sondern man werde auch irrtmlicherweise, wie Duhem meint, fast „naturgemß zu folgendem Schluß gefhrt: Das Bndel der theoretischen Tatsachen, das man als Resultat [durch die mathematische Deduktion] erhlt, lßt sich […] so dnn wie man wnscht gestalten, wenn man [nur] das [ursprnglich gegebene] Bndel […] gengend verkleinert.“ (ebd., 180) So wre es also nur eine Frage der Zeit – gemeint ist die bis zur Entwicklung neuer und prziserer Experimentiertechnik –, bis eine derartige Deduktion erfolgreich sein kçnnte. „Eine Deduktion, die heute unbrauchbar ist, wrde an dem Tage, an dem man die Empfindlichkeit der Instrumente […] erheblich steigert, ntzlich werden“, so Duhem in kritischer Absicht (ebd., 181). Doch diese Aussage basiere, so wendet er ein, auf einer impliziten Stabilittsannahme ber Deduktionen. Die Stabilittsannahme ist fr Duhem allerdings alles andere als selbstverstndlich. Duhem bezieht sich dabei auf den Mathematiker Jacques Hadamard (1898),104 dessen Arbeiten zu den Bahnen eines Billardsystems „ein sehr treffendes Beispiel einer solchen fr immer unbrauchbaren Deduktion“ bereitstellen (Duhem 1978, 182): Auf einer beliebigen Flche des Billardsystems bewegt sich ein materieller Punkt, fr den die Anfangs- und die Randbedingungen przise gegeben seien. Duhem whlt hier zur Illustration eine Flche, die der Stirn oder dem Kopf eines Stieres mit Erhçhungen („Hçrner“) hnelt.105 Nach der klassischen Mechanik und der Theorie der Differenzialgleichungen ist jede Trajektorie106 jedes Punktes „vollstndig bestimmt“ und das „ohne Zweideutigkeit“ (ebd., 183). In der Menge der (mçglichen) Trajektorien 104 Vgl. Ruelle (1994, 62 f ) und Barrow-Green (1993, 250 f ). 105 Duhem nennt die Stierstirn auch „Hçrner“ bzw. „Ohren“. Przisier wre hier von einer Mannigfaltigkeit zu sprechen, d. h. einem allgemeinen mathematischen Zustandsraum mçglicher Trajektorien. 106 „Geodtische Linie“ bei Duhem (1978, 182).
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(„Fluss“) gibt es nun solche, „die niemals genau zu ihrem Ausgangspunkt zurckkehren, sich aber auch niemals unendlich weit von ihm entfernen.“ (ebd., 182)107 Hier haben wir ein Beispiel fr dynamische Instabilitt. Die Anerkennung dieser Art von Instabilitt hat Relevanz fr das Physikverstndnis und Folgen fr Deduktionen.108 So kann man zwar „die Genauigkeit, mit der die praktischen Aufgaben bestimmt sind, beliebig erhçhen, man kann den Flecken, der die Anfangslage des materiellen Punktes bildet, verkleinern, man kann das Bndel, das die Richtung der Anfangsgeschwindigkeit enthlt, zusammenschnren, man wird doch niemals die geodtische Linie, die sich ohne Unterlaß um das rechte Horn [der Flche des Stierkopfes] dreht, von ihren ungetreuen Kameraden befreien […], die sich [irgendwann] ins Unendliche entfernen.“ (Duhem 1978, 184) Duhem nimmt allerdings vereinfachend an, dass die Problematik ausschließlich in der physikalisch-empirischen Ungenauigkeit der Anfangs- und Randbedingungen liegt, whrend es in mathematischer Hinsicht bei gegebenen przisen Bedingungen keine Probleme gibt.109 Wenn man sich auf Physik beziehe, so Duhem, dann sei „die gestellte Frage [ob die Trajektorie ins Unendliche laufe oder auf dem rechten Horn bleibe] unbeantwortbar […] und [wird] auch stets unbeantwortbar bleiben.“ (ebd., 184) Deduktion im Sinne Duhems heißt dann, „die Bahn dieses Punktes [zu] bestimmen“ (ebd., 184). Deduktion, Schließen und Vorausberechnen werden gleichgesetzt, wie spter im Erklrungsschema von Hempel und Oppenheim.110 Bei Instabilitten 107 In Hadamards Formulierung: „In astronomical problems the initial conditions are only known physically, that is to say with an error which can only be reduced by the means of observation but which cannot be eliminated. However small it is, this error might cause a total and absolute perturbation in the result.“ (Hadamard 1901, 14, Zitiert nach: Barrow-Green 1993, 261). 108 Duhem (1978, 183) sagt dies wie folgt: „Ganz anders [als im Falle des mathematisch exakten Wissens] wrde es stehen, wenn die Anfangsbedingungen nicht mathematisch, sondern praktisch gegeben wren. Die Anfangslage unseres materiellen Punktes wre nicht auf der Flche bestimmt, sondern es wre irgend ein Punkt innerhalb eines kleinen Fleckens. […] Unseren praktisch gegebenen Anfangsbedingungen wird fr den [mathematischen] Geometer eine unbegrenzte Menge verschiedener Anfangsbedingungen entsprechen.“ 109 So sagt Duhem (1978, 186) an anderer Stelle: „Die wirkliche Bestimmung dieser Bahnen [des Dreikçrperproblems] kann den Bemhungen der Mathematiker Hindernisse in den Weg legen, die noch lange nicht behoben sind.“ 110 Ziel ist fr Duhem eine konomie der Darstellung, wie er sie im Hinblick auf Deduktion ausarbeitet. Damit stellt Duhem eine Spielart einer çkonomistischen und instrumentalistischen Deutung physikalischer Theorien heraus. Schfer
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scheitern Deduktionen und damit auch ein instrumentalistisches Theorieverstndnis (Kapitel 3.4). Schließlich stellt Duhem – in explizitem, auch begrifflichem Bezug auf die „Stabilitt“, das „Dreikçrperproblem“ sowie die „Annherungsmathematik“111 – „in Furcht“ fest, „daß viele dieser Deduktionen zu ewiger Unfruchtbarkeit verdammt [sind].“ (ebd., 187) Damit hat Duhem wie kein anderer vor ihm auf das methodologische Problem fr die Bedingungen der Mçglichkeit von Theorieprfungen und fr deduktiv-nomologische Ableitungsbeziehungen hingewiesen. Die Grenzen der Physik – als Physik der Stabilitt – liegen bei ihm offen zu Tage.112 Aus Perspektive der aktuellen Physik erhlt Duhem somit zwar einerseits eine ungeahnte Aktualitt. Doch hat er andererseits, so wird man heute sagen mssen, das Neue und Problematische zwar gesehen, aber noch abgewiesen und nicht als Herausforderung anerkannt: Denn Physik ist fr Duhem als physikalische Methode nur bei jenen Objektsystemen mçglich, bei welchen Stabilitt herrscht. Das gilt gleichermaßen fr Theorien, die die Objektsysteme symbolisch zu reprsentieren beanspruchen.113 Um Stabilitt sicherzustellen, sind „strenge Bedingungen“ als Anforderungen zu setzen; diese msse „man der mathematischen Deduktion auferlegen“ (ebd., 187). Nur so sei sie in der Physik verwendbar; nur so sei eine adquate „Annherungsmathematik“ mçglich.114
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(1978, xxi) spricht in seiner Einleitung von einem „instrumentalistischen Theorieverstndnis“ bei Duhem. Duhem sieht hier eine „Verwandtschaft“ mit den von Hadamard behandelten Fragestellungen; vgl. Duhem (1978, 185/186). Auffllig ist, dass diese Argumentation wissenschaftstheoretisch kaum rezipiert ist. Anstze zeigen sich bei Vuillemin (1991, xxviii). Duhem (1978, 187) fhrt aus: „In der Tat ntzt eine mathematische Deduktion dem Physiker nichts, solange er sich auf die Behauptung beschrnkt, daß wenn dieser Satz streng richtig ist, die strenge Richtigkeit jenes anderen Satzes folge. Damit sie dem Physiker ntzlich sei, muß er auch beweisen, daß der zweite Satz annhernd richtig bleibe, wenn der erste nur annhernd wahr ist. Und das gengt auch noch nicht. Er muß den Umfang dieser beiden Annherungen abgrenzen.“ Duhem (1978, 184) stellt heraus: „Unter diesen Bedingungen und nur unter diesen wird man eine mathematische Darstellung der Annherung haben.“ Die dafr notwendige Annherungsmathematik ist „nicht eine einfachere und grçbere Mathematik, sondern im Gegenteil eine vollstndigere, verfeinerte Form derselben.“ (ebd., 187) Bemerkenswert ist, dass Duhem diese strengen Bedingungen formuliert, obwohl er unzweideutig sieht, dass diese etwa in der Himmelsmechanik nicht erfllt sind – und dass dennoch hier die Physik gute, mçglicherweise allerdings kaum wissenschaftstheoretisch in seinem Sinne zu begrndende Erfolge aufweist. Naheliegend wre hier die Frage, ob die faktische
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Physikalisch verwendbare Ableitungsbeziehungen sind nach Duhem solche, die zwischen Bndeln von theoretischen Tatsachen vorliegen und somit eine Annherungsmathematik ermçglichen. Aus heutiger Perspektive ist es nicht verfehlt zu sagen, dass es auch die Deduktionsproblematik bei Instabilitten war, die Duhem dazu fhrte, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen fr einen Theorienholismus zu legen und den Bndelbegriff einzufhren. Denn der Theorienholismus bezieht sich nicht mehr auf isolierte Theorien oder einzelne theoretische Tatsachen, sondern auf Klassen theoretischer Tatsachen bzw. auf Bndel. Bndel sollen Instabilitten ausschließen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Theorienholismus nicht nur als grundlegende wissenschaftstheoretisch-logifizierte Analyse der faktischen Theorienstruktur, sondern – im Rahmen der Stabilittsannahme – gar als eine methodologische Norm. Der Theorienholismus in der Duhem’schen Ausrichtung stellt eine methodologische Bedingung an deduktiv-hypothetische Aussagensysteme dar, welche in vielen Fllen der (klassisch-modernen) physikalischen Theorien erfllt ist. Stabilitt muss nach Duhem zur Tatsachenkonstitution methodologisch vorausgesetzt werden, wozu der Begriff des Bndels verwendet wird; sie kann nicht physikalisch am Objektsystem gezeigt werden, sondern liegt diesem, insofern es als physikalisches konstituiert wird, zugrunde. So lassen sich mit Prigogine und Stengers rckblickend die Arbeiten Duhems als Pionierleistungen in der Reflexion ber Instabilitten bezeichnen, obwohl Duhem einer traditionellen Einstellung zu Instabilitten folgt (Prigogine/Stengers 1990, 316).115 Auch Vuillemin weist kritisch darauf hin, dass „Duhem limits his reflections to extrapolations concerning the stability of systems.“ (Vuillemin 1991, xxviii) Das hat Quine offenbar nicht als solches wahrgenommen bzw. reflektiert. Von Quine wurde die Duhem’sche Analyse zur holistischen Struktur physikalischer Theorien in logifiziert-formaler und sprachanalytischer Hinsicht aufgegriffen und gegenber dem logischen Positivismus und dem singulrpropositionalen Falsifikationismus crucialer Experimente geschrft. In der Wissenschaftstheorie sind die Argumente von Duhem und spter von
Physik oder die wissenschaftstheoretische Reflexion im Argen liegt. Soweit allerdings geht Duhem nicht. 115 An „dieser Stelle“, so Prigogine und Stengers (1990, 316), „sind wir anderer Ansicht“.
4.4. Faktisch: Wissenschaftshistorische Beispiele
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Quine als Duhem-Quine-These prominent geworden.116 Wolfgang Stegmller schließt hier und an Sneed an, wenn er sein strukturalistisches Theorienkonzept entwickelt. In diesem wird – neben Gesetzeskern, Theorieelementen und Hintergrundhypothesen – auch den Anfangs- und Randbedingungen eine gleichberechtigte Bedeutung zugeschrieben (Stegmller 1987, Bd. II, 266 f ).117 Mit der Bedeutung der Anfangs- und Randbedingungen avanciert die Instabilittsthematik zum Bestandteil des holistischen Theorieverstndnisses. So kçnnte man mit dem Physiker David Ruelle festhalten, dass „Duhem […] mit seinen Ideen in vielen Bereichen seiner Zeit voraus [war].“ (Ruelle 1994, 64)
4.4. Faktisch: Wissenschaftshistorische Beispiele Die Schwellengestalten auf dem Wege zur Explikation und Anerkennung von Instabilitt – insbesondere Hume, Maxwell, Poincar und Duhem – sind nicht losgelçst von der Wissenschaftsentwicklung selbst zu betrachten. Diente die Klassische Mechanik und die Himmelsmechanik zunchst als Reflexionsfeld, so entstanden innerhalb der Physik weitere Felder, in denen Instabilitten auftraten und sukzessive anerkannt wurden. Einige Beispiele epistemologischer, methodologischer oder gar naturphilosophischer Reflexionen liegen (a) in der Statistischen Mechanik und phnomenologischen Thermodynamik, (b) in der Strçmungsmechanik und Hydrodynamik, (c) in der Angewandten Physik, der technischen Mechanik und den (Maschinenbau-) Ingenieurwissenschaften, (d) in der Kosmologie und Allgemeinen Relativittstheorie sowie (e) in der an der Physik orientierten Stçrungstheorie und Stçrungsrechnung. 116 Quine (1998) hat ferner die These gegen die Unterscheidbarkeit von analytischen und synthetischen Urteilen gerichtet und ebenfalls das experimentum crucis bestritten. 117 Mit Duhem und Quine weist Stegmller (1987, 266) darauf hin, dass sich eine „Nachprfung“ ber den methodischen Weg der „beobachtbaren Voraussagen“ vollziehe: „Um solche [Voraussagen] ableiten zu kçnnen, muß man [die Hypothese] H1 mit einer Flle von Anfangsbedingungen A […] sowie von Randbedingungen R […] versehen.“ Anfangs- und Randbedingungen enthalten selbst Hintergrundhypothesen, so dass eine analytische Trennung ersterer von letzteren kaum mçglich und sinnvoll erscheint. Die „Nachprfung“ „kann sich auch auf die Anfangs- und Randbedingungen A und R konzentrieren. Dazu werden Wissenschaftler vor allem in den reiferen Wissenschaften hufig bergehen, weil in diesen die Beschreibung jener Bedingungen auf einer besonders großen Flle von Hintergrundannahmen beruht.“ (ebd., 267)
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Vieles ist in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts entstanden oder vorbereitet worden.118 Statistische Mechanik und phnomenologische Thermodynamik Die Dynamiken von Verbrennungsprozessen, Wrmekraftmaschinen und Zndhçlzern – also von dissipativen Systemen – erscheinen als unumkehrbar („irreversibel“); die mikroskopischen Dynamiken von Atomen und Moleklen hingegen gelten als umkehrbar („reversibel“). Insofern die statistisch-mechanische Thermodynamik die phnomenologische Thermodynamik (mit ihren irreversiblen Prozessen) auf die Statistische Mechanik (mit ihren reversiblen Molekl- und Atombewegungen) zurckzufhren versuchte, zeigte sich im 19. Jahrhundert ein Gegensatz zwischen Makroirreversibilitt und Mikroreversibilitt, welcher bis heute partiell anhlt. So bleibt strittig, ob die statistisch-mechanische Thermodynamik ein Beispiel fr eine gelungene Reduktion von Makroeigenschaften (Wrmephnomene, Irreversibilitt) auf Mikroentitten (mechanische Moleklbewegungen, Reversibilitt) darstellt. In der auf Ludwig Boltzmann und Josiah Willard Gibbs zurckgehenden Formulierung der statistisch-mechanischen Thermodynamik wird aus der Instabilitt der stoßenden Teilchen im statistischen Mittel der Zweite Hauptsatz (Entropiesatz) und die Irreversibilitt des Gesamtprozesses gewonnen.119 Nach dem Zweiten Hauptsatz nimmt die Entropie – als quantitatives Maß fr die „Unordnung“ im Sinne der Gleichverteilung – im Mittel zu. Dabei lsst sich phnomenologisch ein Richtungspfeil definieren, welcher mit der Irreversibilitt in Verbindung gebracht wird. Der (im Zentrum der theoretischen Herleitung liegende) Boltzmann’sche Stoßzahlansatz basiert auf Instabilitten der stoßenden 118 Um Vollstndigkeit geht es in dieser Skizze nicht, wohl aber um die Art und Weise der Anerkennung von Instabilitten, verbunden mit methodologischen und erkenntnistheoretischen Reflexionen. So finden sich in der Festkçrperphysik, insbesondere auch im Bereich der Magnetisierungen, ebenfalls prominente Beispiele. Ferner sind die ab den 1940er Jahren aus der angewandten Physik und der Elektrotechnik sich entwickelnden Wissenschaften der Rechenmaschinen und Automaten, die sptere Informatik, nicht in dieser Skizze enthalten. Wiener und Turing ahnten die Existenz von Instabilitten; Turing hat sie sogar explizit reflektiert (Turing 1950, 440 f; Wiener 1938; Wiener 1943; Wiener 1968). 119 Die Zeitthematik wird in Kapitel 6.1. erçrtert.
4.4. Faktisch: Wissenschaftshistorische Beispiele
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Teilchen, wie bei einem Billardspiel. Jenseits der Frage nach dem ontologischen Status sowie den Reduktionsbedingungen wird man in methodologischer Hinsicht sagen mssen, dass die durch die Teilchenstçße erzeugten Instabilitten zwischen mikroskopischer Reversibilitt und makroskopischer Irreversibilitt vermitteln, zwischen Mechanik und phnomenologischer Thermodynamik: Instabilitten erfllen eine Brckenfunktion. Durch hufige Stçße und große Geschwindigkeiten der Molekle entstehen sensitive Abhngigkeiten. Es „geng[e]“, so Poincar, „das Molekl vor dem Zusammenstoße um eine unendlich kleine Grçße abzulenken, damit sich eine Ablenkung von endlicher Grçße nach dem Zusammenstoße ergebe.“ (Poincar 1914, 61) Ein zweiter, verwandter Seitenarm der Anerkennung von Instabilitten liegt im Umfeld der Wrmelehre. Instabilitten vermitteln hier zwischen Mikroregularitt und Makroirregularitt. Dass mikroskopisch regulre, aber instabile Bewegungen makroskopisch irregulre Phnomene nach sich ziehen kçnnen, wurde vom schottischen Botaniker Robert Brown in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts unter dem Mikroskop entdeckt (Brown 1828). Die so genannte Brown’sche Bewegung ist eine irregulr erscheinende Bewegung von Pollen in Flssigkeiten, die erratische Pfade beschreiben (Zitterbewegung). Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts lieferte Einstein eine molekulare Erklrung der Zitterbewegung auf Grundlage der neuen „kinetischen Theorie der Materie“ (Einstein 1905).120 „Die Unregelmßigkeit und Unberechenbarkeit der Bahnen, welche die Brown’schen Partikel beschreiben“, so Einstein und Leopold Infeld (1956, 49), „lßt darauf schließen, daß die Bahnen der kleineren Partikeln, aus denen sich die Materie zusammensetzt, genauso unregelmßig sind.“ Quelle der Zitterbewegung sind die Kollisionen der Molekle, welche jeweils im Stoß – analog zum Stoß von Billardkugeln – auf des Messers Schneide stehen: Stçße erzeugen Instabilitten. Nach der kinetischen Gastheorie ist ein Gas oder eine Flssigkeit „eine Ansammlung von ungeheuer vielen Partikeln oder Moleklen […], die sich nach allen Richtungen hin bewegen, fortwhrend zusammenstoßen und ihre Bewegungsrichtung bei jeder Kollision ndern.“ (ebd., 45) Weder Einstein 120 Einstein selbst war die Arbeit Browns unbekannt. Er stieß auf die Problemstellung ber die Frage, wie sich ein atomistischer Aufbau von Flssigkeiten und Gasen auf makroskopischem Maßstab bemerkbar machen kçnnte. Einstein folgerte, dass die ungeordnete Bewegung der Flssigkeitsatome auf die Schwebeteilchen bertragen werden sollte. Dabei sollten die unregelmßigen Kollisionen der atomaren Teilchen zu einer Zufallsbewegung der Pollenkçrner fhren. Perrin gelang es in den Jahren 1905 – 1911, die Einstein’sche Theorie zu belegen.
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und Infeld noch Boltzmann zweifelten in ontologischer Hinsicht am Vorliegen von Instabilitten der Teilchenbewegungen. Die Instabilitten der Natur kçnnen darber hinaus in der Theoriebildung verwendet werden, um phnomenologisch zugngliche Prozesse mikrophysikalisch zu beschreiben. Eine Positivierung von Instabilitten als methodologisches Mittel deutet sich an.121 Im Gegensatz dazu kann von einer Positivierung in einer dritten Hinsicht keine Rede sein – eher zeigt sich ein Trauma der Instabilitten. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, nach dem die Entropie im Mittel anwchst, kann als ein „instabiler Zerfall von Ordnung“122 verstanden werden: Je unwahrscheinlicher die Anfangsbedingungen eines Systemzustands, desto grçßer die ursprngliche Ordnung. Der Pfeil der Entropiezunahme spiegelt die Unwahrscheinlichkeit der Anfangszustnde wider. Von unwahrscheinlichen Anfangszustnden findet ein wrmeerzeugender bergang in wahrscheinlichere Zustnde statt. Zerfall von Struktur und Entstehung von Unordnung stellen aus dieser Perspektive Synonyme dar. Instabilitt ist hier die Quelle. Der instabilittsbasierte Ordnungszerfall hat zur Frage gefhrt, wie berhaupt organische Selbstorganisation und menschliches Leben mçglich ist angesichts der allgemeinen Tendenz zum Wrmeausgleich und Entropiewachstum. So konnte Boltzmann im Jahre 1886 zur Erluterung der mechanistischdynamischen Deutung des Zweiten Hauptsatzes sagen: „Der allgemeine Daseinskampf der Lebewesen ist daher nicht ein Kampf um die Grundstoffe [… und] auch nicht um Energie […], sondern ein Kampf um die Entropie, welche durch den bergang von der heißen Sonne zur kalten Erde disponibel wird.“ (Boltzmann 1905, 40) Boltzmann weist jedoch darauf hin, dass der Zweite Hauptsatz nur im Mittel gilt. Leben ist gegen die mittlere Tendenz des Hauptsatzes durchaus mçglich, wenn auch unwahrscheinlich. Der Zweite Hauptsatz ist demnach zumindest kompatibel mit der Existenz des Menschen. Seit Boltzmanns Zeiten findet sich eine wissenschafts- und naturphilosophische Diskussion um den Zweiten Hauptsatz.123 Erwin Schrçdinger fhrte 1944 vermittelnd 121 Das setzt allerdings reale Instabilitten der Teilchenstçße voraus. 122 „Ordnung“ wird hier als „Struktur“ verstanden und damit als Gegensatz zur vollstndigen Homogenitt, wie diese etwa durch den Wrmeausgleich zweier unterschiedlich warmer Kçrper erzeugt wird. 123 Auf eine Konsequenz der mechanischen Deutung der Wrmetheorie hat in kritischer Absicht Du Bois-Reymond (1974, 56 f ) hingewiesen. „Ließe er [ = der Laplace’sche Weltgeist die Zeit] t im positiven Sinn unbegrenzt wachsen, so erfhre er, nach wie langer Zeit Carnots Satz [ = der zweite Hauptsatz] das
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den Begriff der „Negativen Entropie“ bzw. „Negentropie“ ein (Schrçdinger 2003, 125), welche die statistisch mçgliche lokale Entropieverminderung begrifflich zu fassen sucht. In dieser Nische fern vom thermodynamischen Gleichgewicht ist Leben physikalisch mçglich. Kontrr dazu hat Henri Bnard viertens um 1900 anhand von Untersuchungen der Konvektionszellen Instabilitten nicht als Kern von Ordnungszerfall, sondern als Quelle von Ordnungsentstehung verstanden (Bnard 1900). In einer Konvektionszelle befindet sich eine horizontale Flssigkeitsschicht, welche von unten erhitzt wird. Wrme wird durch die Flssigkeit nach oben geleitet. Wenn der Temperaturgradient zwischen der oberen und der unteren Flche durch Wrmezufuhr weiter vergrçßert wird, wird das thermodynamische System instabil. Die untere Flssigkeitsschicht ist leichter, weil sie heißer ist als die kltere obere Schicht. Zustzlich wirkt die Gravitationskraft. Bei einem kritischen Wert, einem Instabilittspunkt im Parameterraum (Rayleigh-Taylor-Instabilitt), entsteht ein neues Systemverhalten (vgl. Haerendel 1981). Das System schlgt um von Konduktion auf Konvektion. Eine neue makroskopische Ordnung zeigt sich: ein Wabenmuster oder die so genannten BnardZellen. Instabilitten kçnnen somit als Bedingung der Ordnungsentstehung angesehen werden. Ohne Instabilitten gbe es allgemein keine Phasenbergnge und keine kritischen Phnomene (Stanley 1971; Domb/Green 1972 f ). Instabilitten spielen beispielsweise bei Umwandlungen zwischen verschiedenen Aggregatzustnden der Materie eine große Rolle.124 Doch das gilt noch allgemeiner. Fr die Vielfalt der Natur sind meist offene Systeme verantwortlich, welche durch Energiezufuhr und Entropieerzeugung einen thermodynamischen Nichtgleichgewichtszustand aufrechterhalten kçnnen. Allgemeine Phasenbergnge erfolgen stets ber diskrete Punkte struktureller Instabilitten hinweg (Kritizitten). In diesen findet eine diskontinuierliche oder kontinuierliche Umwandlung von Strukturen (allgemeinen Phasen) statt.125 Weltall mit eisigem Stillstande bedroht. Solchem Geiste wren die Haare auf unserem Haupte gezhlt, und ohne sein Wissen fiele kein Sperling zur Erde.“ 124 Gngig sind Phasenbergnge zwischen dem festen, flssigen und gasfçrmigen Aggregatzustand von Wasser, wie sie im Phasendiagramm mit den kritischen Kurven (Koexistenzlinien) und dem Tripelpunkt (Schnittpunkt der drei Koexistenzlinien) dargestellt werden. 125 Unterschieden werden Phasenbergnge erster und zweiter Art. Nach Ehrenfest lassen sich Phasenbergnge hinsichtlich der Stetigkeit der Ableitungen der molaren freien Enthalpie am Umwandlungspunkt unterscheiden, als erste und zweite Art. Phasenbergnge kçnnen unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass beispielsweise unterhalb einer kritischen Temperatur sich spontan eine
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Strçmungsmechanik und Hydrodynamik Instabilitten haben Leonard Euler Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur im Rahmen des himmelsmechanischen Dreikçrperproblems beschftigt. Euler gilt auch als einer der Begrnder der Strçmungsmechanik (Fluidmechanik), der Hydrodynamik und Meteorologie.126 Die Strçmungsmechanik stellt die erste umfassende Theorie der Physik dar, die mit den methodologischen Problemen von Instabilitten in nichtlinearen Differenzialgrundgleichungen konfrontiert war. In der Strçmungsmechanik wurde, im Unterschied zur Klassischen Punktmechanik, deutlich, dass Instabilitten keine randstndigen Eigenschaften sind. Instabilitten zeigen sich in der Natur – etwa als turbulente Wasserwirbel – und in der Theorie. Alle Typen von Instabilitten sind involviert: statische, dynamische und strukturelle Instabilitten. Sie stellen kein Wissensdefizit dar und sind nicht zu eliminieren. Die Strçmungsmechanik gehçrt in ihrem Ursprung zur klassischen Physik des 18. und 19. Jahrhunderts – zur Klassischen Mechanik.127 Sie wird auch als Kontinuumsmechanik, als Mechanik deformierbarer Medien oder Fluidmechanik bezeichnet. Sie befasst sich mit Flssigkeiten, insoweit diese nicht als isolierte, diskrete Massen, sondern als raumzeitliche Kontinua betrachtet werden. Heute ist die Kontinuumsmechanik nicht nur in der Physik, sondern insbesondere in den Ingenieurwissenschaften etabliert. Die klassische Hydrodynamik besteht aus drei bis fnf Grundgleichungen.128 (a) Den Kern bilden die Navier-Stokes-Gleichungen, welche nichtlinear und potenziell instabil sind. Diese drei Gleichungen beschreiben allgemein die Dynamik einer viskosen Flssigkeit makroskopische Ordnung ausbildet. Beim Ferromagneten findet sich als Ordnungsparameter etwa die Magnetisierung. Die Ordnungsparameter werden auch als kritische Exponenten bezeichnet. Die theoretische Bestimmung dieser Exponenten wurde erst durch die Renormierungsgruppentheorie (Wilson, u. a.) und mit ihr durch den Zugang zur Skalen- bzw. Selbsthnlichkeit mçglich. 126 Daniel Bernoulli hatte 1738 mit seinem Werk „Hydrodynamica“ gewissermaßen die Hydrodynamik begrndet. Die allgemeinen Bewegungsgleichungen fr ideale, d. h. reibungsfreie Strçmungen stellte Euler dann 1755 vor. Die Euler’schen Gleichungen bilden zusammen mit der Kontinuittsgleichung ein System von vier Differenzialgleichungen – und damit die Grundlage der Hydrodynamik. – Euler verwendete selbst noch nicht den Begriff der Instabilitt. 127 Heidelberger (2005) hat krzlich hierzu eine wissenschaftsgeschichtliche Analyse vorgestellt. 128 Vgl. allg. Auyang (1998, 292 f ).
4.4. Faktisch: Wissenschaftshistorische Beispiele
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durch Makrovariablen.129 (b) Oftmals wird noch die Kontinuittsgleichung zu den Navier-Stokes-Gleichungen hinzugezhlt; sie sichert die Massenerhaltung. (c) Wenn die Viskositt als von der Temperatur abhngig betrachtet wird, bençtigt man eine weitere, fnfte Gleichung: Man muss den Wrmeaustausch durch den Energiesatz bercksichtigen und die Thermodynamik heranziehen. So erhlt man ein System von fnf Gleichungen mit fnf Variablen, die allgemeinen Navier-Stokes-Gleichungen.130 Die Navier-Stokes-Gleichungen sind gekoppelte partielle nichtlineare Differenzialgleichungen. Die Strçmung von Flssigkeiten ist kein lineares Phnomen. Viskosittseffekte hngen von zweiten Ableitungen der Geschwindigkeitskomponenten ab und sind nichtlinear. Das ist eine Folge davon, dass beim bergang vom viskosen Fall zur idealen Flssigkeit (ohne Viskositt) bei sehr kleiner Viskositt immer noch ein endlicher Strçmungswiderstand auftritt. Dieser macht sich als Unstetigkeit bemerkbar. Unstetigkeiten sind besonders drastische Formen der Nichtlinearitt und damit eine besondere Quelle fr Instabilitten (vgl. Schmidt 2000a).131 Das hat Folgen. Eine Prfung der Navier-Stokes-Gleichungen anhand empirischer Daten ist nur fr einige wenige stark vereinfachte Spezialflle mçglich. Die unter vereinfachten Annahmen berechneten analytischen Lçsungen stellen jedoch kaum relevante Flle dar, welche selten zu beobachten sind.132 Schon in der Hydrodynamik treten somit 129 Wie z. B. die drei Komponenten der Impulse oder die mittlere Dichte, mittlere Energie, u. a.. Viskose Flssigkeiten sind zhe Flssigkeiten, die jeder Formnderung einen Reibungswiderstand entgegensetzen. Den zhen Flssigkeiten sind die idealen Flssigkeiten gegenbergestellt. Letztere haben keinen Reibungswiderstand. Zu den Fluiden zhlen auch Luft, l, Wasser. – Die Navier-StokesGleichungen kçnnen aus den von Euler entdeckten Gleichungen („Euler’sche Gleichungen“) durch Hinzufgen eines Termes gewonnen werden, der die Reibungskrfte („Viskositt“) beschreibt. Im Prinzip lassen sich die Strçmungsgeschwindigkeiten durch die Navier-Stokes-Gleichungen in Zusammenhang mit der Kontinuittsgleichung bestimmen. 130 Die Gleichungen wurden zuerst von dem franzçsischen Ingenieur Navier (1827) und spter von Poisson (1831) ber die Betrachtung der Wirkung intermolekularer Krfte gewonnen. Spter konnten sie von Stokes (1849) vereinfacht abgeleitet und kompakt gefasst werden, vgl. Schlichting/Gersten (1997, 73). 131 Weitere Beispiele, insbesondere solche, die die Grenzschichten betreffen, d. h. jene Schichten, an welchen die Strçmung berandet wird, ließen sich anfgen. 132 Eine analytische Lçsung ist in den Spezialfllen wie der Taylor-Couette-Strçmung (inkompressible Flssigkeit im Ringspalt zwischen zwei koaxialen Kreiszylindern mit innerer Zylinderdrehung; um 1890) sowie zur Gewinnung des Hagen-Poiseuille’schen Gesetzes mçglich. Der bergang von der laminaren
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
die Prfbarkeitsprobleme auf. Unklar ist, ob und nach welchen Kriterien ein Zusammenhang zwischen der Theorie einerseits und der experimentellen Wirklichkeit andererseits hergestellt werden kann. Es zeigt sich eine Theorie-Phnomen-Lcke, worauf der Strçmungsmechaniker Hermann Schlichting in seinem Lehrbuch Grenzschicht-Theorie (Schlichting/ Gersten 1997) hinweist. Schlichting stellt heraus, dass „[a]m Ende des 19. Jahrhunderts […] die Strçmungsmechanik in zwei Richtungen auseinandergefallen [war], die kaum noch miteinander in Berhrung standen“, nmlich die (theoretische) Hydrodynamik und die (technisch ausgerichtete) Hydraulik (Schlichting/Gersten 1997, xvii).133 Dennoch waren die Physiker ab etwa 1860 berzeugt, dass die Navier-Stokes-Gleichungen die physikalischen Phnomene adquat beschreiben. Ab dieser Zeit war die Hydrodynamik eine hinreichend abgeschlossene und ausgearbeitete Theorie.134 Die Arbeit war allerdings keineswegs getan; die Theorie war nicht hinreichend empirisch geprft. Es galt, Brckengesetze zur berwindung der Theorie-Phnomen-Lcke zu finden. Durch Nherungen und stçrungstheoretische Anstze wurde versucht, eine Nhe zu beobachteten Phnomenen herzustellen. Instabilitten treten in der Strçmungsmechanik in Form der Turbulenz und in der des Phasenbergangs zur Turbulenz auf. Als turbulent ist ein Strçmungszustand zu bezeichnen, bei dem die Strçmung charakterisiert ist durch eine wirbelnde Vermischung, die bis auf kleinste Skalen hinabreicht. Auch bei stationren Randbedingungen ist das Strçmungsfeld bei Turbulenz instabil und ferner instationr. Den Gegensatz zur turbulenten Strçmung bildet die laminare. Bei letzterer gleiten FlssigCouette-Strçmung zur stationren Taylor-Strçmung wird mit Hilfe der Ginzburg-Landau-Gleichung beschrieben. Zur Taylor-Couette-Strçmung siehe die Darlegung von Buzug (1994, 12 ff ). 133 Bei Schlichting/Gersten (1997, xvii) heißt es weiter: „Auf der einen Seite war die theoretische Hydrodynamik, die von den Euler’schen Bewegungsgleichungen der reibungslosen Flssigkeit ausgeht, zu großer Vollkommenheit entwickelt worden. Da jedoch die Ergebnisse der sogenannten Hydrodynamik in vielen Punkten im krassen Widerspruch zur Erfahrung stand […], hatte sie fr die Praxis wenig Bedeutung. Aus diesem Grunde hatten auf der anderen Seite die Ingenieure, veranlaßt durch die wichtigen Probleme der sich rasch entwickelnden Technik, ihre eigene stark empirisch ausgerichtete Wissenschaft, die Hydraulik, entwickelt, die sich auf große Mengen von Versuchsdaten sttzte und sich in den Methoden und den Zielen von der theoretischen Hydrodynamik stark unterschied.“ 134 Zu Recht weist Bçhme (1978, 96) darauf hin, dass die Strçmungsforschung „nach internen wissenschaftlichen Kriterien, nmlich Aufsuchen der Grundgesetze, Erklrung, Konsistenz, bereits vor mehr als hundert Jahren [d.h. etwa ab den 1850er Jahren] ihr Ziel erreicht [hatte]“.
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keits- und Strçmungsschichten geordnet bereinander. Dagegen verteilt sich ein in turbulente Strçmung zugegebener Farbtropfen gleichmßig ber den Strçmungsquerschnitt. Zwischen laminarer und turbulenter Strçmung gibt es Bifurkationspunkte struktureller Instabilitt. Osborne Reynolds hatte 1894 das (noch als Vermutung) formuliert: Die laminare Strçmung wird oberhalb einer gewissen Grenze (der Indifferenz-/kritische Reynolds-Zahl) instabil und geht in turbulente Strçmung ber. So liegen zwei Instabilittstypen vor. Einmal werden die bergangspunkte von laminarer zu turbulenter Strçmung als strukturelle Instabilittspunkte im Parameterraum bezeichnet.135 Ferner ist die turbulente Strçmung dynamisch instabil. Die Werte der strukturellen Instabilittspunkte sind abhngig von Materialeigenschaften, etwa von der Ober- und Grenzflchenrauigkeit der die Strçmung begrenzenden Wnde oder der Viskositt. Turbulenz entsteht, wenn große Differenzen der Strçmungsgeschwindigkeit quer zur Strçmungsrichtung vorliegen. Das beschreibt die Grenzschichttheorie, welche von Ludwig Prandtl in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts formuliert wurde (Prantl 1961).136 Innerhalb der Grenzschicht wird die Strçmungsdynamik maßgeblich durch Reibungskrfte bestimmt – anders als jenseits der Grenzschicht. Die Grenzschichttheorie modelliert die Strçmungsdynamik also stckweise, einmal die Grenzschichtstrçmung und dann die Reststrçmung. Sie stellt ein Brckenprinzip dar, welches zwischen den Navier-Stokes- und Euler-Gleichungen (theoretische Hydrodynamik) einerseits und den konkreten Phnomenen (phnomennahe Beschreibungen wie die Widerstandstheorie oder die Turbulenztheorie) andererseits vermittelt. – Doch die Frage nach den Phasenbergngen und nach hydro- wie aerodynamischen Instabilitten ist in der Mechanik der Fluida bis heute nicht allgemein und abschließend geklrt.137 135 So sprechen auch Schlichting und Gersten (1997, 449) von Stabilitt und Instabilitt in dieser strukturellen Hinsicht: „Bei dem bergang laminar-turbulent handelt es sich um ein Stabilittsproblem.“ 136 Im Jahre 1904 legt Prantl seine grundlegende Arbeit vor, vgl. Prantl (1961). 137 Allgemeine Beitrge wurden in der klassischen Turbulenztheorie von Landau und Hopf und auch von Andronov geleistet. Allerdings gibt es bis heute, wie Rehberg (1981, 137) herausstellt, „keinen definierten Umschlagpunkt von laminarer zu turbulenter Strçmung. […] Das lßt darauf schließen, daß der Mechanismus der Turbulenzentstehung von den Einzelheiten der Geometrie der verwendeten Apparatur abhngt. […] Man kann spekulieren, daß sich die Frage nach dem Wesen der Turbulenzentstehung gar nicht allgemein beantworten lßt.“ Und Buzug (1994, 12) stellt ebenfalls heraus: „Turbulenz [und die Entstehung von
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Die Ausformulierung der Theorie der Strçmungsmechanik kann als Bemhung angesehen werden, mit den methodologischen Problemen von Nichtlinearitt und Instabilitt fertig zu werden.138 Die Strçmungsmechanik stellt beispielhaft eine Stabilitts- und Instabilittstheorie dar. Unter dem Begriff „Stabilittstheorie“ diskutiert auch das Lehrbuch zur Grenzschichttheorie von Hermann Schlichting den bergang von laminarer zu turbulenter Strçmung (Schlichting/Gersten 1997, 445 f ). Die Stabilittstheorie formuliert Bedingungen fr die „Transition zur Turbulenz“ bei Vernderung und Stçrung der Randbedingungen, etwa der Reynolds-Zahl. Sie untersucht, was als „Stçrung“ verstanden werden kann und was hingegen zur eigentlichen Strçmungsdynamik zu zhlen ist.139 Strçmungsmechaniker und Kontinuumsphysiker haben dazu differenzierte Begriffe entwickelt. Sie unterscheiden etwa „reibungslose“, „viskose“, „konvektive“, „absolute“ Instabilitten.140 Aus konstruktiv-technischer Hinsicht schließt sich die Frage an, wie Instabilitten zu bewerten sind. Eine negative Einschtzung mag zunchst nahe liegen. Denn Instabilitt und Turbulenz ist beispielsweise „maßgeblich fr den großen Widerstand […] in Rohrleitungen, fr den Reibungswiderstand der Schiffe und Flugzeuge und fr den Verlust in Turbinen und Geblsen“ verantwortlich (ebd., 533 f ). Doch „[a]ndererseits gibt […] die Turbulenz auch erst die Mçglichkeit eines grçßeren Druckanstieges in Diffusoren oder entlang Flugzeugtragflgeln und Geblseschaufeln.“ (ebd., 533 f )141 Aus ingenieurwissenschaftlicher Per-
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Turbulenz] ist eines der wahrscheinlich wichtigsten und zugleich unverstandensten Probleme der klassischen Physik.“ Hier zeigen sich Grenzen der Deduzier- und der Prfbarkeit. „Da eine rein theoretische Berechnung der turbulenten Strçmung wegen der Kompliziertheit der Schwankungsbewegung bis heute nur in Ausnahmefllen mçglich ist, begngt man sich in der Praxis damit, die zeitlichen Mittelwerte der turbulenten Bewegung zu erfassen.“ (Schlichting/Gersten 1997, 534 f ) Wenn Stçrungen mit der Zeit abklingen, wird in der Strçmungsmechanik die Strçmung als „stabil“ angesehen. Wachsen die Stçrungen „zeitlich an, so ist die Grundstrçmung instabil; es ist die Mçglichkeit des berganges in die turbulente Strçmungsform gegeben.“ (ebd.) Schlichting selbst hat den Begriff der „absoluten Instabilitt“ geprgt, d. h. einer Form der strukturellen Instabilitt, welche ohne Ankndigung eintritt. „Strçmungsmechanische Instabilitten, die schlagartig einsetzen, wie z. B. in der Nachlaufstrçmung umstrçmter Kçrper, sind absolut instabil.“ (Schlichting/Gersten 1997, 456) So positivieren Schlichting und Gersten (1997, 533) wiederholt Instabilitten und Turbulenz, beispielsweise: „Sehr viele technische wichtige Strçmungen sind turbulent.“
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spektive scheinen Instabilitten keineswegs in jedem Fall eliminierenswert. Vielmehr kçnnen sie sogar hilfreich und technisch erstrebenswert sein. Jenseits des ingenieurtechnischen Zugangs ist die Strçmungsmechanik fr die Meteorologie grundlegend. Wetterstrçmungen kçnnen durch die Navier-Stokes-Gleichungen beschrieben werden. Sie gehçren zur Thermofluidmechanik. Es lassen sich fr das Wettergeschehen jene vereinfachten Konvektionsgleichungen gewinnen, die von Edward Lorenz Anfang der 1960er Jahre untersucht wurden (Lorenz 1963). Die hier auftretenden Turbulenzphnomene bildeten einen Ausgangspunkt der Chaostheorie und fhrten zur Begriffsschçpfung von „Chaos“ (Ruelle/ Takens 1971). Seit den 1970er Jahren wird dann Instabilitt zu einem zentralen Thema der Hydrodynamiker und Fluidmechaniker.142 So wird man sagen kçnnen, dass die wissenschaftshistorische Entwicklung zu jenem Physiktyp, der hier als „nachmodern“ bezeichnet wird, auch in der Strçmungsmechanik, Meteorologie und Hydrodynamik liegt. Instabilitten weisen, so der Physiker Hermann Bondi in Bezug auf die Meteorologie, auf „das Ende“ der „Newton’schen Einfachheit“ hin. „Die Frage, wann die Physiker Newtons Art der Lçsung zuerst als Raritt erkannten, ist nicht leicht zu beantworten. Es kçnnte vor etwa 80 Jahren [also um 1910] gewesen sein, als bei den ersten Untersuchungen der Turbulenz erkannt wurde, daß das Strçmen von Flssigkeiten im allgemeinen keine perfekte Antwort [im Sinne Newtons] zulßt.“ (Bondi 1993, 308)143 Angewandte Physik und Ingenieurwissenschaften Traditionell wurden Instabilitten im ingenieurwissenschaftlichen Maschinenbau als reale Stçrquellen angesehen: Instabilitten stçren das angestrebte Optimum. „Engineers have always known about chaos [and instability] – it was called noise or turbulence and fudge factors or factors 142 Wegweisend hierfr war u. a. der von Swinney und Gollup (1981) herausgegebene Sammelband „Hydrodynamic Instabilities and the Transition to Turbulence“. 143 Angesichts dessen ist bemerkenswert, dass die Stçrmungsforschung nicht zum Kanon jener Felder der Physik gehçrt, welche wissenschaftsphilosophisches Interesse geweckt haben. Ausnahme sind: Bçhme et al. (1978) und neuerdings Heidelberger (2005).
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of safety were used to design around these apparent random unknowns that seem to crop up in every technical device.“ (Moon 1987, 6) Technik wird blicherweise als konstruktiv hergestellte und zu Artefakten geronnene Stabilitt verstanden. Kurz: Technik gilt als materiell realisiertes Stabilittsdogma. Beispielhaft ist der Zugang des Ingenieurs und Physikers Georg Duffing (1918).144 Er whlte einen mathematischen Zugang und konstruierte einen nach ihm benannten Modelloszillator. Duffings Oszillator gilt heute als Standardbeispiel der Chaostheorie. Zunchst betrachtete Duffing mechanische Schwingungen, spezielle Resonanzeffekte und pseudoharmonische Schwingungen,145 etwa an Drehstrommaschinen, in welchen Instabilitten auftreten (Duffing 1918, III). „Wurde dieser Beharrungszustand [einer Drehstrommaschine] jedoch nur durch einige wenige heftige Zndungen [der Antriebsmaschine] gestçrt“, so Duffing, dann „wurden, auch nachdem die Verbrennung wieder regelmßig geworden war, die Pendelungen immer noch grçßer und grçßer, so daß die Maschinen schließlich außer Tritt kamen. Nach den Ergebnissen der Theorie htten, nach Eintreten der regelmßigen Verbrennung, infolge der Dmpfung die Schwingungen im Laufe der Zeit wieder ihre normale Grçße erhalten mssen.“ (ebd., 1 f ) Instabilitten kçnnen also zu technisch unerwnschten Systemzustnden fhren, etwa zum Stillstand und Ausfall einer Maschine. Diese Systemzustnde standen im Widerspruch zur damaligen linearen und stabilen Schwingungstheorie der Ingenieurwissenschaften.146 Duffing untersuchte zunchst mathematische Lçsungseigenschaften an Modellen, die sich auf Werkzeug- oder Stromgeneratormaschinen bezogen.147 Die Annahme der „Einfachheit der Lçsung“ sei, so Duffing, 144 Zur gleichen Zeit entstand der Jeffcott-Oszillator (1919), der die Dynamik einer rotierenden Lagerwelle mit Unwucht und Lagerspiel beschreibt. 145 Fr Resonanzerscheinungen in Wechselstromkreisen zeigte Martienssen (1910) hnliche Effekte. 146 Duffing (1918, 105) hatte herausgestellt: „Daß trotzdem [ = d. h. trotz der Lçsung der linearen Differentialgleichung als Schwingungsmodell] solche Anlagen versagen kçnnen, folgt aus unseren Betrachtungen ber die pseudoharmonischen Schwingungen, bei der, wie wir gesehen haben, die Bewegung nicht eindeutig durch die Erregung bestimmt ist.“ 147 Die „Flle mit nicht-linearen Restitutionskrften bei Systemen von mehreren Freiheitsgraden drften der rechnerischen Untersuchung sehr große Schwierigkeiten entgegensetzen.“ (Duffing 1918, 115) Die Mathematik zeigt hier Grenzen, die sich in den Ingenieurwissenschaften wiederfinden. Herkçmmliche mathematische Theorien zur Lçsung der Differenzialgleichungen fhren nicht weiter, wie etwa die Theorie der freien, harmonischen Pendelschwingungen. „Die
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„eine Tuschung“. Denn „das Problem bot im allgemeinen große Schwierigkeiten, so daß mir die Bewltigung auf rein mathematischem Wege unmçglich war. Ich war gezwungen, mich mit Annherungen zu behelfen und meine Schlsse durch den Versuch zu kontrollieren, da auch die Untersuchung ber die Konvergenz der angewendeten unendlichen Prozesse noch nicht abgeschlossen ist.“ (ebd., IV) Ob eine Konvergenz der Reihenentwicklung – neben den praktischen Berechnungsschwierigkeiten – berhaupt existieren kann, scheint fr Duffing außer Frage zu stehen. – Treffend parallelisiert Duffing allerdings die „Konvergenz- und Stabilittsfragen“ (ebd., 111).148 Ohne eine adquate Mathematik sieht sich Duffing einerseits gezwungen, theoriearm durch Versuch und Irrtum zu arbeiten.149 Andererseits hat Duffing selbst in einem mathematisch deduktiven Zugang ein Modell entwickelt – den bereits genannten Duffing-Oszillator mit seinen pseudoharmonischen Schwingungen (ebd., 23) (siehe vorne: Abb. 3 – 1). Der Oszillator soll idealisierend Aspekte technischer Schwingungen von Maschinen beschreiben.150 In Duffings Modell schwingt eine abnehmbare Masse an einer Blattfeder unter Dmpfung. Die Blattfeder ist vertikal ausgerichtet; an ihrem oberen Punkt ist die Masse befestigt; am unteren Punkt ist sie an einem Tisch fest angebracht. Drei Gleichgewichtspunkte existieren: Zwei stabile Gleichgewichtspunkte liegen links und rechts von der senkrechten Stellung der Feder, wodurch der dritte instabile Gleichgewichtspunkt gekennzeichnet ist. Er weist die maximale potenzielle Energie auf. Der Aufbau des schwingenden Systems ist nicht derart, „daß die Restitutionskrfte einfach proportional den Entfernungen aus der Mittellage sind.“ (ebd., 22) Vielmehr liegt ein Doppelmuldenpotenzial als einfachste mathematische Struktur zu Grunde: U(x) = 14·x4 12·x2. Theorie der freien Pendelschwingungen wurde durch Weierstrass in eine Form gebracht, die in ihrer Einfachheit wohl als unbertrefflich gelten drfte.“ (ebd., III) 148 Irrtmlicherweise geht Duffing allerdings davon aus, dass es in mathematischer Hinsicht nur eine Frage der Zeit sei, bis zuknftig eine Lçsungsform gefunden werden kçnne (ebd., 111). 149 Duffing (1918, 71) betont: „Mangels der allgemeinen Lçsung […] kann hier der Versuch [ = Experiment] einige Sicherheit geben, und hiernach scheint es, daß [neben einer speziellen Lçsung] keine weiteren periodischen Lçsungen […] existieren.“ Dass Poincar in anderen Gegenstandsfeldern, nmlich in der Himmelsmechanik, strukturhnliche Problemstellungen behandelt hat, hat Duffing offenbar nicht gesehen. 150 Vgl. auch Guckenheimer/Holmes (1983, 82) und Wiggins (1990, 29/153).
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Die Modifikation dieses so genannten bistabilen Schwingers zu einem Duffing-Oszillator geschieht durch eine periodische Treibung des unteren Befestigungspunktes der Blattfeder. Duffing gewinnt hieraus seine Differenzialgleichung fr die Auslenkung x(t): (d2 x / d t2) + a·x – b·x2 c·x3 = k·sin (yt) mit Konstanten a, b, c, y und k. Dieses mathematische Modell soll dazu „dienen, die Schwierigkeiten dieser [Nichtlinearitts- und Instabilitts-] Frage, die restlos erst beim Vorliegen der allgemeinen Lçsung beantwortet werden kann, vor Augen zu fhren.“ (ebd., 5 f ) Derzeit und in nchster Zukunft bestehe allerdings nur eine geringe Aussicht, eine allgemeine Lçsung zu finden. So weicht Duffing auf empirische Untersuchungen zur Frage der „Stabilitt der Bewegung“ (ebd., 95 f ) aus. Er entdeckt, dass sich schon kleine Schwingungen aufschaukeln kçnnen; dynamische Instabilitt („labil“) kann vorliegen. „Nach diesem Resultat erscheint der Bewegungszustand bedingungsweise labil, genauer ausgedrckt: eine kleine Stçrung wird sich bei geeigneten Anfangsbedingungen rasch vergrçßern.“ (ebd., 99) Die „Beantwortung der Frage nach der Stabilitt“ ist fr die Ingenieurwissenschaften von hoher Bedeutung (ebd., 101), insofern konstruktive technische Maßnahmen prospektiv ergriffen werden kçnnen: Instabilitten kçnnten gemieden werden, „einer Gefahr“ kçnnte „aus dem Wege“ gegangen werden.151 Klarerweise sei von Instabilitten ein „Nutzen fr die Technik“ nicht zu erwarten (ebd., 99). Auch in diesem Zugang der angewandten Physik und Ingenieurwissenschaften zeigt sich die Wirkmchtigkeit eines (technisch motivierten) Stabilittsziels:152 Technik ist konstruktiv hergestellte Stabilitt. Technik 151 Duffing (1918, 100) formulierte programmatisch: „[S]o ist es schon gut, wenn man weiß, nach welcher Seite man [den Instabilitten] auszuweichen hat.“ Ingenieurtechnisch wre viel gewonnen, wenn man nicht „jede Stçrung von der Verbrennung fern […] halten [muss]“ (ebd., 2). Er hoffe, zumindest durch Herausstellung der Instabilitten („Labilitt“) Mçglichkeiten aufgezeigt zu haben, mit diesen umzugehen (vgl. ebd., 100). 152 Zu Duffings Fragestellung hat der Ansatz des Elektroingenieurs van der Pol in den 1920er Jahren eine gewisse Nhe (van der Pol 1920; van der Pol 1926). Van der Pol arbeitete in der Industrie und interessierte sich fr einen elektrischen Oszillator mit einer Triode (getriebener gedmpfter elektrischer Schwingkreis, „Autooszillatoren“). Im Jahre 1928 verallgemeinerte Linard die van-der-Pol’schen Anstze (Linard-Gleichung). In den getriebenen gedmpften elektrischen Schwingkreisen treten dynamische und strukturelle Instabilitten auf, welche ebenfalls als stçrend angesehen werden. Cartwright (1952) fhrte die van-derPol’schen Anstze nichtlinearer elektrischer Schwingkreise weiter. Sie bat in einer
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ist Technik, insofern sie stabil ist, und damit berechenbar und kontrollierbar. Stabilitt sichert Reproduzierbarkeit und technisch abgesicherte intentionale Handlungen. Die Stabilittsannahme wird konstruktionsrelevant: in artefaktischer Technik wird das Stabilittsdogma konstruktiv inkorporiert. Vor diesem Hintergrund erscheint Duffing als eine ambivalente Schwellengestalt. Instabilitten werden einerseits als Mçglichkeit anerkannt, andererseits aber als eliminierenswert angesehen und negativ bewertet. Die Technikwissenschaften haben sich zwar seit Duffings Zeit modifiziert (vgl. Moon 1998). Doch der Stabilisierungswunsch und die Stabilittsannahme im Technikverstndnis wirken weiter. Mathematische Modelle ber technische Objektsysteme werden so genannten Sensitivittsanalysen und Sensitivittstests unterzogen. Untersucht wird die Abhngigkeit der Modelldynamik bei Vernderung der Parameter und Startbedingungen. Reagiert die Modelldynamik allzu sensitiv auf Vernderung der Modellparameter, ist sie strukturell instabil. Das Modell gilt dann als kein guter Kandidat fr die Darstellung des artefaktisch-technischen Objektsystems und wird verworfen.153 Allgemein-relativistische Kosmologie Die Physik des frhen 20. Jahrhunderts spielte fr die Thematisierung von Instabilitten eine ambivalente Rolle. Einerseits ist durch die Entdeckung von spontanen Zerstrahlungsprozessen durch die Quantenphysik offensichtlich, dass Instabilitt (in diesem Sinne) ein grundlegender Naturcharakter ist. Andererseits wird Instabilitt dort weder begrifflich noch methodologisch oder erkenntnistheoretisch explizit thematisiert. Instabilitt erreichte in der Quantenphysik keinen Durchbruch. Sptestens seit Albert Einsteins Allgemeiner Relativittstheorie, der allgemeinen kosmologischen Gravitationstheorie,154 etwa seit dem Jahre Art Memorandum Mathematiker um Hilfestellung zur Stabilisierung von elektrischen Schwingkreisen. „[R]adio engineers want their systems to oscillate, and to oscillate in a very orderly way, and therefore they want to know not only whether the system has a periodic solution, but whether it is stable […], and how these vary with the parameters of the equation, and sometimes want the period to be determined with a very small error.“ (Cartwright 1952, 84) 153 Ein instabiles Modell gilt ferner als kein guter Kandidat fr eine Blaupause eines zu konstruierenden technischen Objektsystems. 154 Die grundlegenden Feldgleichungen der Allgemeinen Relativittstheorie (ART) werden i.A. Einstein-Gleichungen genannt: Gab + Kgab = jTab , mit: Gab Me-
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1915, wird die Instabilittsthematik zu einem expliziten astrophysikalischen und innerkosmologischen Thema (Einstein 1916; Einstein 1917). Die Allgemeine Relativittstheorie ist eine nichtlineare Theorie.155 Mit ihr sind mathematische Probleme der Lçsbarkeit und Berechenbarkeit verbunden. So „haben die Kosmologen [bis heute] keine Ahnung, wie eine allgemeine vollstndige Lçsung von Einsteins kosmologischen Gleichungen aussehen kçnnte.“ (Barrow/Silk 1999, 228). Differenzialgleichungen stellen als Gesetzeskorpus nur notwendige, keine hinreichenden Bedingungen dar, um die Zustandsentwicklung eines bestimmten physikalischen Systems zu beschreiben. Einsteins Gleichungen beziehen sich auf eine Vielzahl mçglicher Modelle bzw. Welten – und nicht nur auf unseren einen Kosmos. Trotz dieser Probleme wird von der Validitt der Allgemeinen Relativittstheorie ausgegangen.156 Unter vereinfachten Annahmen werden Idealisierungen vorgenommen und Symmetrien postuliert, um die Zahl der Gleichungen einzuschrnken und den Grad an Nichtlinearitt zu reduzieren. Die Idealisierungen werden als „Modelle“, als „Kosmosmodelle“ und „Universen“, als „Welten“ und „Weltmodelle“ bezeichnet.157 Ein Beispiel sind diejenigen Modelle, die Welten beschreiben, welche im trik, K kosmologische Konstante, j Einstein’sche Gravitationskonstante, Tab Energie-Impuls-Tensor. Die Einstein-Gleichungen basieren auf Annahmen, wie: Kovarianz, Raumzeit als einzige geometrische Struktur, keine Ableitungen grçßer als zwei, im nichtrelativistischen Grenzfall soll sich die Newton’sche Gravitationstheorie ergeben. Wesentliches Element zur Gewinnung der ART ist die Gleichheit von den in beschleunigten Bezugssystemen sprbaren Trgheitskrften mit den Gravitationskrften: trge und schwere Masse sind gleich (u. a. Machsches Prinzip). 155 Sie basiert auf zehn gekoppelten nichtlinearen partiellen Differenzialgleichungen fr zehn das Gravitationsfeld beschreibende Parameter. 156 Lange Zeit war die Allgemeine Relativittstheorie nur in einigen Spezialfllen berprfbar, bspw. durch die Merkur-Anomalie, die Sonnenfinsternis von 1919 und die gravitative Zeiteinwirkung durch das Turmexperiment 1962. 157 Oftmals stellen diese spekulative Denkmçglichkeiten dar. Einige prominente Beispiele fr Kosmos-Modelle sind: (1) Friedmann-Modelle: Mit diesen bezeichnet man die (allgemeine) Modellklasse der isotropen (d. h. richtungsunabhngigen) und homogenen (d. h. ortsunabhngigen) Kosmos-Modelle. Die Modelle bilden eine der einfachsten Lçsungsklassen der Einstein’schen Gleichungen. Sie sind vollkommen symmetrisch und rotationsfrei. Friedmann nahm selbst eine kosmologische Evolution an und wandte sich gegen ein statisches Verstndnis des Universums (vgl. Hawking 1988, 67). Verwandt sind Modelle von Robertson und Walker. Ferner: (2) Einstein-Modell, (3) De-Sitter-Modell (expandierendes Universum ohne Materie), (4) Kasner-Modell, (5) MixmasterModell, (6) Gçdel-Modell – und andere.
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Raum gleich sind, aber mit verschiedenen Geschwindigkeiten in unterschiedliche Richtungen expandieren: homogene und anisotrope Weltmodelle (Kasner-Modelle, u. a.). Wie viele andere theoretisch mçgliche Weltmodelle haben sie jedoch mit unserem Kosmos nicht viel gemein. Die bis ins 20. Jahrhundert ungebremste Wirkungsgeschichte der Stabilittsannahme zeigt sich an Einsteins eigenem Zugang. Einstein war beunruhigt ber seine aus der Allgemeinen Relativittstheorie deduktiv gewonnenen „kosmologischen Betrachtungen“ (Einstein 1917). Fast keine Lçsung der Gleichungen der Allgemeinen Relativittstheorie beschreibt einen in der Zeit unvernderlichen, statischen, stabilen Kosmos.158 Das aber sei notwendig, meinte Einstein, um den Kosmos so zu reprsentieren, wie er wirklich sei. Deshalb postulierte er ad hoc159 ein eigenes Kosmosmodell mit speziellen Annahmen, nmlich mit dem „Kosmologischen Term“, der ein Glied enthielt, das spter als Kosmologische Konstante (k oder K) bezeichnet wurde.160 Das Einstein-Modell (Einstein-Kosmos) von 1917 ist das erste moderne kosmologische Modell und somit der Klassiker schlechthin. Das Modell beschreibt ein endliches, nichtexpandierendes statisches Universum.161 Einsteins Einfhrung der Kosmologischen Konstante zur Sicherung der Stabilitt des Kosmos sowie die sich spter anschließenden steadystate-Modelle (von Bondi u. a.) illustrieren beispielhaft die Wirkmchtigkeit der Stabilittsannahme. Die Kosmologische Konstante ist konstitutiv fr die Formulierung einer kosmologischen Abstoßungskraft. 158 Einstein war indes der Auffassung, dass ansonsten keine homogen-isotropen Lçsungen der Feldgleichungen gefunden werden kçnnen (starkes kosmologisches Prinzip). Insgesamt scheint er wohl niemals realisiert zu haben, welche Konsequenzen die Nichtlinearitten in seinen Feldgleichungen nach sich ziehen kçnnen. Es ist bemerkenswert, dass Einstein gewissermaßen Laplace zustimmt: „In der Mechanik lßt sich der Weg, den ein in Bewegung befindlicher Kçrper beschreibt, vorausberechnen, und auch seine Vergangenheit kann man bestimmen, wenn man seinen gegenwrtigen Zustand samt den Krften kennt, die auf ihn einwirken. So kann man zum Beispiel alle Planetenbahnen vorausberechnen.“ (Einstein/Infeld 1956, 50) 159 Diese Einfhrung wird nicht einmal explizit begrndet (Einstein 1917). Die Erweiterung der Differenzialgleichungen der Allgemeinen Relativittstheorie sind strukturisomorph zur Erweiterung der Poission-Gleichung, und somit methodisch bekannt, vgl. Suchan (1999, 75) und Barrow/Silk (1999, 250 f ). 160 Vgl. den berblick in Suchan (1999) und Kanitscheider (1991, 153 f ). 161 Damals war die Hubble-Expansion (1929) noch nicht bekannt. Das eben beschriebene Modell wird auch als Einstein’sche Zylinderwelt bezeichnet. Es ist homogen-isotrop, statisch, materiedominiert, flach. Es ist das vierdimensionale Analogon des dreidimensionalen Zylinders – daher sein Name.
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Sie sollte der Gravitation ber große Entfernungen von Milliarden Lichtjahren entgegenwirken und den Kollaps verhindern und eine statische Welt konstanter Dichte sichern.162 Stephen Hawking sieht in der Adhoc-Einfhrung ein „metaphysisch“ motiviertes „Frisieren der Theoriestruktur“ (Hawking 2002, 29). Einstein besaß fraglos die metaphysische Hintergrundberzeugung, das Universum msse stabil, stationr, ewig sein, wie es seit Platon tradiert war. Wre Einstein bei seinen ursprnglichen Gleichungen geblieben, „htte er vorhersagen kçnnen, daß sich das Universum entweder ausdehnen oder zusammenziehen muß.“ (ebd.)163 In den frhen 1920er Jahren bereits wies Alexander Friedmann (1922; 1924) auf die Mçglichkeit eines expandierenden Kosmos hin.164 Seit der Entdeckung der kosmologischen Rotverschiebung im Jahre 1929 durch Edwin Hubble stellten dann nicht nur mathematische Argumente, sondern auch physikalische Beobachtungen den stabil-starren EinsteinKosmos in Frage (Hubble 1929).165 Der Kosmos besitzt eine Zeit- und Geschichtsdimension. Einstein hat wenig spter die Einfhrung der Kosmologischen Konstante als Missgriff bezeichnet, als „grçßte Eselei“166 und als „theoretisch ohnedies unbefriedigend“ (Einstein 1931, 236).167 162 Suchan (1999, 84) stellt heraus: „Die Erweiterung der Feldgleichungen [der Allgemeinen Relativittstheorie] geschieht bei Einstein […] als Folge der astronomischen Erfahrung, die vor allem in der Beobachtung der Stabilitt des Universums […] besteht.“ Schon Kant hatte bekanntlich eine Abstoßungskraft angenommen, um dem Gravitationskollaps zu entgehen. 163 Hawking (2002, 30) meint: „Einstein scheint den Urknall niemals ernst genommen zu haben.“ 164 Im Jahre 1922 konnte Friedmann zeigen, dass Einstein eine entscheidende mathematische Operation in Gleichungsgliedern bersehen hatte (Friedmann 1922; vgl. Friedmann 1924). Einstein musste durch Null dividieren, um seinen Beweis des statisch-stabilen Universums sicherzustellen. Das ist mathematisch aber nicht erlaubt. Schon in mathematischer Hinsicht war Einsteins Modelluniversum also nicht mçglich. Friedmann konnte zeigen, dass – entgegen Einsteins Vermutung – auch ohne Kosmologische Konstante homogen-isotrope Lçsungen der Feldgleichungen mçglich sind. Bei Einstein war vermutlich, wie man sagen kçnnte, hier mehr Metaphysik als Mathematik im Spiel. 165 Demnach expandiert das Universum und der Galaxy-Abstand ist proportional zur Rotverschiebung. Relevant ist die Differenzierung: Es handelt sich um eine Expansion des Raumes selbst, nicht um eine Expansion im Raum. 166 Nach Hawking (2002, 105). 167 Vgl. Barrow/Silk (1999, 250 f ). Ironischerweise ist Einsteins Ansatz in mathematischer Hinsicht – ber die Nulldivision hinaus – kaum als problematisch angesehen worden. Doch kçnnen kleinste Fluktuationen der Materiedichte einen kosmologischen Kollaps oder eine Expansion hervorrufen, d. h. das Modell ist nicht strukturell stabil.
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Entgegen Einsteins Intention ist seither die Instabilittsthematik in der Kosmologie innerwissenschaftlich etabliert und wird philosophisch rezipiert. „Philosophisch ist der Instabilittsbeweis der Einstein-Welt insofern von Bedeutung“, resmiert Bernulf Kanitscheider, „als damit feststeht, daß die Welt ihre dynamische Struktur, die wir heute fr empirisch etabliert halten, nicht nur als zufllige, kontingente Qualitt besitzt, sondern daß hier eine Art nomologische Notwendigkeit vorliegt. Einsteins Gravitationstheorie lßt eben eine wirklich stabile, unvernderliche Welt nicht zu.“ (Kanitscheider 1991, 154 f ) Die Kosmologische Konstante allerdings ist auch nach Einsteins Zurcknahme nicht eliminiert. Sie fhrt ein „Eigenleben“; ihr „Charakterbild schwankt seither in der Geschichte.“ (ebd., 155)168 Die Instabilittsthematik tritt in der Kosmologie noch in einer anderen Hinsicht hervor. Seit Hubble fr die moderne Kosmologie erkannt hat, dass der Kosmos expandiert, ist seine Geschichtlichkeit unbestritten.169 Kosmologen fragen nach den physikalischen Bedingungen der Mçg168 Eddington etwa fhrt eine andere inhaltliche Setzung der Kosmologischen Konstante ein und erhlt so ein Weltmodell, das aus dem statischen, Einstein’schen Zustand heraus expandiert. Lemaitre sieht zwischen zwei Phasen der Expansion eine statische Phase, welche mathematisch durch eine bestimmte Setzung der kosmologischen Konstante formuliert wird. Das De-Sitter-Modell des Kosmos schließlich liefert unter Verwendung der Kosmologischen Konstante eine Beschreibung der durch den Phasenbergang – d. h. den Durchgang durch Punkte struktureller Instabilitt – zur Zeit der kosmologischen Großen Vereinheitlichung (aller vier physikalischen Grundkrfte; bis ca. 10 – 35 Sekunden nach dem „Urknall“) vollzogenen inflationren Expansion. Whrend des Phasenbergangs wird in diesem Modelluniversum Energie freigesetzt, fr die eine Kosmologische Konstante bençtigt wird. Diese wirkt hier wie eine abstoßende Fernwirkungskraft, die ferne Teile des Universums auseinandertreibt, so dass sie mit großer Geschwindigkeit expandieren. Nach dem Phasenbergang wird die Kosmologische Konstante wieder Null. Gnzlich entgegen Einsteins ursprnglicher Intention sichert die Kosmologische Konstante hier nicht statische Stabilitt, sondern bildet den Kern einer expansiven Evolutionsphase des Kosmos. – Fhrt man die Gravitationstheorie der Allgemeinen Relativittstheorie mit den Quantenfeldtheorien zusammen, wird in der heutigen Diskussion gefolgert, dass die Raumzeit mit einer so genannten Quantenfluktuation gefllt ist. Die damit einhergehende Vakuumenergiedichte kann als Kosmologische Konstante reinterpretiert werden (Hawking 2002, 104 f ). Insofern scheint die Kosmologische Konstante – in der Interpretation als Energiedichte des Vakuums – zumindest heuristisch fruchtbar zu sein. 169 Klassischer Ausweg war die von Bondi, Hoyle und Gold entwickelte „SteadyState“-Theorie, 1948.
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lichkeit, dass der Kosmos heute so ist, wie er ist, und wie er zuknftig sein wird. Die bisherige Entwicklung, die heutige Struktur und der zuknftige Zustand des Kosmos hngen von kleinsten Details der in der „Urknall“Singularitt170 realisierten Start- und Randbedingungen ab. In diesem Sinne ist die Entwicklung des Kosmos instabil und sensitiv hinsichtlich der Urknall-Bedingungen. Das wurde unter dem Begriff der „Feinabstimmung“ („fine tuning“) diskutiert:171 Nur eine geringe Variation der Urknall-Randbedingungen ist mçglich, um unseren oder einen dem unsrigen hnlichen Kosmos zu erhalten. Auf Begriffe von „Stabilitt“ und „Instabilitt“ wird explizit Bezug genommen, etwa von Manfred Stçckler. „Eine Art Stabilittsanalyse zeigt, daß schon geringe Abweichungen […] der Werte der Konstanten mit der Existenz von Leben unvereinbar sind.“ (Stçckler 1991, 26) Aus der Menge der nach der Allgemeinen Relativittstheorie mçglichen Randbedingungen erfllen nur verschwindend wenige die Bedingung der Mçglichkeit fr die Entwicklung unseres Kosmos und schließlich des heute vorfindlichen Lebens.172 Deren Realisierung wurde als extreme Unwahrscheinlichkeit interpretiert. Die kosmologische Evolution hatte – metaphorisch gesprochen – viele Nadelçhre zu passieren. Nadelçhre kennzeichnen Situationen statischer Instabilitten. Durch die so genannte Inflationstheorie (Theorie des inflationren Universums), wie sie von Alan Guth (1981) und anderen ab den 1980er Jahren formuliert wurde, konnte die zunchst unterstellte Ab-
170 Siehe allgemein zur Kosmologie und zum „Urknall“-Begriff: Kanitscheider (1991). Von Urknall – allerdings ohne „Singularitt“ – in erweiterter Hinsicht kann auch gesprochen werden, wenn man von Quantenfluktuationen ausgeht und die so genannte Stringtheorie oder Quanten-Schleifen-Theorie heranzieht. 171 Insbesondere bei Carter (1974), aber auch schon bei dem Mathematiker Weyl, 1919, dem Astrophysiker Eddington, 1923, und dem Physiker Dirac, 1937, und dem Kosmologen Dicke, 1961, finden sich hnliche berlegungen. 172 Als ein Beispiel sei die kleinste Vernderung der Sommerfeld’schen Feinstrukturkonstanten a genannt. Wre die Feinstrukturkonstante a geringfgig grçßer, dann wren alle Sterne sog. Rote Zwerge, die keine schweren Elemente fr die sptere Planetenbildung erzeugen kçnnten. Wre hingegen die Feinstrukturkonstante a geringfgig kleiner, wren alle Sterne blaue Riesensterne. Deren Energietransport ist durch Strahlung dominiert. Keine Planetenentwicklung wre mçglich. Oder sie wrden nicht lange genug strahlen, um die Entstehung von Leben zuzulassen. – hnliche Argumente kçnnten auch fr andere Konstanten verwenden werden. So meint Barrow (1994, 60), dass die Kosmologie verdeutliche, „wie entscheidend die Anfangsbedingungen fr unser Verstndnis der Ablufe im beobachteten Universum sind.“
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hngigkeit von den Anfangsbedingungen reduziert werden, nicht allerdings die von den Randbedingungen.173 Die Feinabstimmung hat wissenschaftstheoretische und naturphilosophische Diskussionen nach sich gezogen, die unter dem Stichwort Anthropisches Prinzip gefhrt wurden. Der Terminus „anthropic principle“ ist explizit von Brandon Carter 1974 als Interpretationsrahmen in die Kosmologie eingefhrt worden. Ausgangspunkt des Anthropischen Prinzips ist eine Konsistenzforderung: „Our location in the universe is necessarily priviledged to the extent of being compatible with our existence as observers […].“ (Carter 1974, 293)174 Das Anthropische Prinzip kann als Reaktion auf die Instabilitten verstanden werden, wie sie sich in der Feinabstimmung zeigen. Es zielt auf eine erklrungstheoretische Verbindung der im Urknall realisierten Bedingungen mit der Entwicklung und dem heutigen Zustand des Kosmos (vgl. Breuer 1981). Doch nicht nur die Herkunft, auch die Zukunft ist instabil und sensitiv abhngig von den Randbedingungen. Offen ist die Frage, ob und wie die im Urknall begonnene Kosmosevolution einmal enden wird, – obwohl derzeit sogar Indizien fr eine beschleunigte Expansion vorlie-
173 Barrow (1996, 342 f ) fasst zusammen: „Wenn die Struktur des sichtbaren Weltalls mit Hilfe des inflationren Modells erklrt wird, steht dahinter die Absicht zu zeigen, daß das Weltall unabhngig von seinem Anfangszustand […] allein durch die Gesetze der Gravitation [und der Naturkonstanten] seine heutige Gestalt erhielt. […] Bei der Inflationstheorie ist […] das Endergebnis unabhngig vom Anfangszustand.“ Damit erscheint die Inflationstheorie als Versuch, die Startbedingungen zu eliminieren. Die Probleme der Randbedingungen bleiben davon unberhrt. 174 hnliche Formulierungen finden sich auch bei Dicke (1961). Dieser deutete die Koinzidenzen fein abgestimmter Startbedingungen und Naturkonstanten als eine Art Selektionseffekt: Nur dann, wenn die Koinzidenzen auftreten, ist kohlenstoffbasiertes Leben mçglich und nur dann gibt es Beobachter, die die Koinzidenzen feststellen. Carter bezieht sich auf Dickes Ausfhrungen. Das starke Anthropische Prinzip formuliert eine (teleologisch-finale) Notwendigkeitsbedingung, das schwache Anthropische Prinzip eine Kompatibilittsbedingung der im Urknall realisierten Bedingungen zur Existenz des Menschen (vgl. Carter 1974; Barrow/Tipler 1986, 16). In diesem Sinne kann das Anthropische Prinzip als Auswahlprinzip zum Umgang mit Instabilitten verstanden werden, durch welches Naturkonstanten und Anfangsbedingungen aussortiert wurden. Dem etablierten kosmologischen Prinzip, nach dem wir keine privilegierte Position im Kosmos haben, stellt Carter damit ein Prinzip zur Seite, das anthropische Argumente (zumindest wissenschaftsheuristisch) fruchtbar zu machen versteht (vgl. Carter 1974, 291).
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gen.175 Heute nimmt zwar die Entfernung zwischen zwei beliebigen Objekten im Kosmos stetig zu. Das heißt jedoch nicht, dass diese Expansion bis in alle Zukunft fortdauern muss; eine sich anschließende Kontraktion wre mçglich. Die derzeitige Expansion wird gefolgert aus Naturkonstanten und aus der Expansions- oder Entweichgeschwindigkeit, welche ber Rand- und Anfangsbedingungen in die Differenzialgleichungen der Allgemeinen Relativittstheorie eingehen. Nun liegen einige Werte sehr nahe an kritischen Grçßenordnungen, also an strukturellen Instabilittspunkten. Die Frage ist, auf welcher Seite wir uns befinden und uns im Urknall befunden haben, insbesondere welche mittlere Materie- und Energiedichte faktisch vorliegt. Derzeit gibt es – trotz der gravitativ wirksamen dunklen Materie – Hinweise (dunkle Energie) auf eine fortgesetzte Expansion. Fr die physikalische Kosmologie mag die erklrungstheoretische Situation ber Herkunft und Zukunft des Kosmos unbefriedigend sein. Dass Konstanten (und partiell Anfangsbedingungen) eine derartige Bedeutung zukommt, ist eine Folge von Instabilitten. Wrde Linearitt der Grundgleichungen und damit Stabilitt vorliegen, kme es auf kleinste Details nicht an. Es wrden keine unhandhabbaren Sensitivitten existieren. Die Bedeutung der Naturkonstanten (und auch die der Anfangsbedingungen) steht dem traditionellen wissenschaftsphilosophischen Erklrungsverstndnis gegenber, nach dem diese meist als kontingent, als nicht zum nomologischen Kern von Natur gehçrend angesehen wurden. Relevant wre demnach allein der Gesetzeskorpus, etwa die mathematischen Gleichungen der Einstein’schen Allgemeinen Relativittstheorie. Diese traditionelle Trennung – nmlich Rand- und Anfangsbedingungen versus Gesetzeskern – ist tief verankert im deduktivnomologischen Erklrungsverstndnis. Das Anthropische Prinzip geht hier nicht mit. Es weist auf ein Defizit der klassisch-modernen Physik hin: die mangelnde Reflexion der Anfangs- und Randbedingungen. Eine Theorie, die solche Reflexion geleistet htte, so Bernd-Olaf Kppers (2000, 102), stehe aus.176 „Vielleicht“, so spekuliert John Barrow, „gibt es auf einer tieferen Ebene keine Trennung zwischen jenen Aspekten der Wirklich-
175 Die Hubble-Konstante ist nicht so konstant wie vielfach angenommen wurde. Insbesondere wird neben der „dunklen Materie“ auch eine „dunkle Energie“ angenommen, die zur Beschleunigung fhren kann. 176 Dirac hatte einst einen derartigen Versuch zur Verrechnung von Anfangs- und Randbedingungen gemacht.
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keit, die wir gewohnheitsmßig ,Gesetze‘ nennen, und jenen, die wir als ,Anfangsbedingungen‘ kennengelernt haben.“ (Barrow 1994, 60) Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird man sagen kçnnen, dass die in der physikalischen Kosmologie auftretenden epistemischen Probleme nicht nur der Grçße und der Einmaligkeit des Kosmos geschuldet sind. Vielmehr scheinen es, deutlich grundlegender, die Instabilitten des Kosmos selbst zu sein, die in der Kosmologie zu Problemen der Prognostizierbarkeit, Prfbarkeit und Erklrbarkeit fhren. Dann kçnnte sich andeuten, dass die aktuelle Physik der Instabilitten insgesamt – auch im Mesokosmos – „kosmologischer“ sein wird: der Makro-Kosmologie des Universums wird eine Meso-Kosmologie der Objektsysteme der mittleren Grçßenordnung zur Seite gestellt. Zwar sind fr die mesokosmischen Objektsysteme die Gleichungen der Allgemeinen Relativittstheorie nicht angemessen, aber in ihrer Nichtlinearitt und Instabilitt haben sie etwas strukturwissenschaftlich Universelles an sich. Eine MesoKosmologie, die die instabilittsbasierten Einmaligkeiten im Raum der mittleren Grçßenordnung zum Gegenstand hat, gibt es heute in entwickelter Form noch nicht. Die nachmoderne Physik kann womçglich Wege aufzeigen.177 Stçrungstheorie und Stçrungsrechnung Die Stçrungstheorie wurde als mathematisches Nherungsverfahren im Rahmen der Newton’schen Mechanik entwickelt.178 Newton selbst hatte den Begriff der „Stçrung“ zunchst als Eigenschaft der Natur geprgt,179 ihn dann allerdings methodisch auf mathematische Nherungen bezogen. In seiner Principia sagte Newton, dass „[d]ie Mondbewegung […] ein 177 Gerade fr die sich rapide entwickelnden TechnoWissenschaften (Nordmann 2005) kçnnten kosmologische Erkenntnisse strukturisomorphe Problemstellungen anzeigen. 178 Schon bei vielfltigen Spielarten aharmonischer Oszillatoren tritt aufgrund der Nichtlinearitt der Differenzialgleichungen die Notwendigkeit auf, Stçrungsrechnung zu betreiben, um Lçsungen zu bestimmen. Und auch in der Quantenmechanik zur nherungsweisen Berechnung von Eigenfunktion und Eigenwerten des Hamilton-Operators wird die (quantenmechanische) Stçrungsrechnung (u. a. die Schrçdinger’sche zeitunabhngige Stçrungstheorie, die Dirac’sche zeitabhngige Stçrungstheorie, u. a.) verwendet. 179 So weichen demnach viele reale Planetenbewegungen von den einfachen Spezialfllen (Zweikçrpersystemen) der idealisierten Gesetze ab.
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wenig von der Kraft der Sonne gestçrt [wird], aber die unmerklich kleinen Abweichungen vernachlssige ich bei den vorliegenden [mathematischen] Darlegungen der Naturerscheinungen.“ (Newton 1988, 177) Wenn von Stçrung gesprochen wird, wird eine Separierbarkeit des eigentlichen Verhaltens eines physikalischen Objektsystems (bei Newton: Erde-Mond) von einem stçrenden, aber unbedeutenden Rest (hier: Sonne) unterstellt:180 Rckkopplungen gelten als vernachlssigbar. Die Separierbarkeit auf Seiten des Objektsystems findet sich als Subtrahierbarkeit auf Seiten der mathematischen Darstellung und ihrer methodischen Behandlung wieder. Newton begrndete mit der Stçrungsrechnung ein methodisches Nherungsverfahren zur Lçsung von Differenzialgleichungen, die sich nicht geschlossen lçsen lassen. Elementare Lçsungsfunktionen liegen hier nicht vor. Zur nherungsweisen Lçsung wird versucht, eine Subtraktion oder Zerlegung vorzunehmen: in eine hnliche, lçsbare Gleichung und eine Stçrfunktion, welche meist in einer Reihe entwickelt wird, etwa in einer Taylorreihe.181 Das ist voraussetzungsbehaftet. Der Stçrungsansatz und die Stçrungsberechnung basieren auf der Annahme, dass die Stçrung sehr klein ist im Vergleich zu einem ungestçrten, mathematisch gut zugnglichen System. Ferner wird angenommen, dass sich kleine Stçrungen nicht aufschaukeln und große Effekte herbeifhren. Die Stçrungsrechnung basiert somit auf der Annahme von dynamischer Stabilitt. Der stçrungstheoretische Zugang, wie ihn Newton beschritt, hatte Beispielcharakter fr die weitere Physikentwicklung, wie Ivars Peterson (1997, 116) herausgearbeitet hat: Newtons „glnzende Verwendung der Stçrungstheorie zur Herleitung von Lçsungen, die in vielen Fllen genau der Beobachtung entsprachen, verleitete sptere Forschergenerationen sogar zu dem Glauben, daß Differentialgleichungen fast ausnahmslos stabile und regelmßige Bewegungen beschreiben.“ (ebd.) Dass Newtons Stçrungsrechnung versagte, weist auf die Berechnungsprobleme von Dreikçrpersystemen (Sonne, Erde, Mond) mit ihren potenziellen Instabilitten hin.182 180 Allgemein zur Stçrungsrechnung, ihre Methoden und Formulierungen siehe Bellmann (1967). 181 In der Himmelsmechanik sind die Stçrfunktionen i.A. periodisch. Als Ansatz fr sie wird eine trigonometrische Reihe gewhlt, deren Grund- und harmonische Frequenzen der Periodizitt der Stçrung und ihrer Vielfachen entsprechen. Andere Verfahren finden sich ber Wirkungs- und Winkelvariablen Hamilton’scher Bewegungsgleichungen. 182 Von „schrulligen Abweichungen vom blichen“ spricht beispielhaft Peterson (1997, 119). Euler schrieb 1747: „Ich kann mehrere Beweise dafr geben, daß
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Whrend Newton Stçrungen sowohl in der Natur selbst lokalisierte als auch damit eine mathematische Methode bezeichnete, wird bei Laplace (1932, 55) „Stçrung“ mit „Zufall“ identifiziert und als Erkenntnisdefizit gebrandmarkt. Stçrungen kennzeichnen nicht die Natur, sondern primr den Naturwissenschaftler und sein temporres Wissen(sdefizit). Sukzessive seien Stçrungen durch den Erkenntnisfortschritt zu eliminieren. Werden die „wirklichen Lçsungen“ gefunden, so ersetzen diese die nur stçrungstheoretisch bestimmten Nherungen. Poincar radikalisierte den Laplace’schen Zugang zunchst, allerdings um sich anschließend davon abzusetzen. Er parallelisierte in seiner „Fehler-Theorie“ ganz im Sinne von Laplace Begriffe wie „Fehler“ und „Stçrung“ (Poincar 1914, 63 f/69).183 Doch fhrt Poincar eine prgende Unterscheidung ein. Neben den methodisch unvermeidbaren „systematischen Fehlern“ spricht Poincar von „zuflligen Fehlern“ (ebd., 63). Diese gehen auf Instabilitten zurck, sind aber an sich gesetzmßig, auch wenn sich das noch nicht als solches zeige. Es „bleiben noch viele kleine Fehler, deren Wirkungen sich addieren kçnnen und die dadurch gefhrlich werden. Daraus entstehen die zuflligen Fehler; wir schreiben sie dem Zufalle zu, weil ihre Ursachen zu verwinkelt und zu zahlreich sind.“ (ebd.) Mit Poincar erhalten Stçrungen eine gegenber Laplace objektivere Verstndnisweise. Stçrungen als „zufllige Fehler“ lassen sich nicht einfach eliminieren.184 Jenseits der Frage nach dem Status der „Fehler“ – ob ontologisch oder erkenntnistheoretisch – , zeigt sich eine gegenber Newton vernderte Akzentuierung. „Stçrungen“ und „Fehler“ werden begrifflich zusammengefhrt, wenn nicht sogar gleichgesetzt. Verwandt sind Begriffe wie Rauschen, Fluktuationen und Varianzen. Die Varianz etwa, die in statistischen Verteilungsfunktionen zur Beschreibung von „Streuungen“ und die Krfte, die auf den Mond wirken, Newtons Regeln [= Gravitationstheorie] nicht genau gehorchen […]. Da sich die Fehler nicht der Beobachtung zuschreiben lassen, zweifele ich nicht daran, daß eine gewisse Stçrung der Krfte, die in der Theorie angenommen werden soll, der Grund ist.“ (zitiert nach: Peterson 1997, 156). 183 Seit einiger Zeit zeigt sich – neben der Wiederentdeckung des Experiments durch den „Neuen Experimentalismus“ – eine Entdeckung von Fehlern, von Fehlertheorie und Fehlerrechnung, siehe: Hon (1989) und Hon (1998) sowie Mayo (1996) und Mayo (2000). 184 Gleiches findet sich aus anderer Perspektive auch bei Fechner (1982, 25), wenn er sagt, dass „die Stçrung nun einmal in der Natur vorhanden ist, und also auch durch die Rechnung gedeckt werden muss, gleichviel, ob unsere Bequemlichkeit dadurch gestçrt wird.“
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„Stçrungen“ empirischer Messwerte angenommen wird, stellt eine Varianz von einer Regel (Gesetzmßigkeit, Modell, Funktion) dar. Wer von „Varianz“, „Stçrung“ und „Streuung“ spricht, verwendet einen relationalen Begriff, bezogen auf eine Regel-Nhe. Damit verbunden ist eine Exogenisierung der Stçrung. Sie wird als weißes Rauschen oder als Fluktuation, als Abweichung von etwas verstanden, was nicht das Eigentliche ist.185 So liegt die Stçrung nicht in der Natur und in den Objektsystemen, sondern in der unzureichenden Abschließbarkeit des experimentellen Setups gegenber der Restnatur. Hier dominiert die Perspektive linearer und stabiler mathematischer Gleichungen, welche vermeintlich das separierbare reale Objektsystem adquat reprsentieren. Doch scheinen – so wird man sagen mssen – die Gleichungen nicht nur das Objektsystem zu reprsentieren, sondern auch zu konstituieren. Von „Fitting Facts to Equations“ und von „Approximations not Dictated by the Facts“ spricht Nancy Cartwright (1983, 128 ff; 1999, 119): die abgeleiteten oder postulierten ungestçrten fundamentalen Gleichungen werden als der Bezugspunkt fr die Datenerzeugung angesehen. Insofern dieser Zugang Stçrungen exogenisiert, heißt dies nicht nur, dass mit Stabilitt und nicht mit Instabilitt gerechnet wird. Vielmehr werden die Objektsysteme als solche zugerichtet.186 Stçrungstheoretische Zugnge haben betrchtliche Erfolge in der Wissenschaftsgeschichte aufzuweisen. Ihre Blte begann etwa um 1800. Herausragend ist die Entdeckung des Planeten Neptun. Seine Existenz wurde aus der Newton’schen Mechanik mit stçrungstheoretischem Zugang – bezogen auf den Planeten Uranus – deduziert.187 – Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellt sich heraus, dass der im Jahre 1781 von William 185 Moon (1987, 91) fhrt aus: „[T]he engineer or scientist was taught to look for resonances and periodic vibrations in physical experiments and to label all other motions as ,noise‘.“ Und Wolfram (1985b, 298) meint ganz hnlich: „Randomness […] in physical systems are usually attributed to external noise.“ Das „Signal-Noise“-Verhltnis, wie es im Sprachgebrauch von Physikern und Ingenieuren heißt, basiert auf der Annahme der Unterscheidbarkeit von einem ungestçrten Signal einerseits und einem fehlerbehaften, zuflligen, kontingenten, das Eigentliche verdeckenden Rauschen andererseits. 186 In experimenteller Hinsicht spricht Janich (1973) sogar von „Stçrungsbeseitigungswissen“; siehe auch dazu die Untersuchungen von Mayo (1996) zum Thema „Error and the Growth of Exerimental Knowledge“. 187 Siehe allgemein die umfassende und detaillierte Darstellung von Peterson (1997, 124 f ).
4.4. Faktisch: Wissenschaftshistorische Beispiele
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Herschel entdeckte Uranus188 nicht der Bahn folgt, die berechnet wurde: Uranus schien gestçrt zu werden. Unter Verwendung der Stçrungsrechnung wurde nun die Existenz eines weiteren Planeten postuliert. Dieser wurde als Stçrquelle (zunchst hypothetisch) angenommen. Mit der Stçrungs-Annahme wurde erneut die Bahn von Uranus im Jahre 1844 von Urbain Leverrier berechnet. So konnten schließlich die irregulr erscheinenden Abweichungen des Uranus von seiner ungestçrten Bahn erfolgreich beschrieben werden. Zwei Jahre spter beobachtete der Astronom Johann Gottfried Galle tatschlich den postulierten Planeten, der Neptun genannt wurde. Auch der Planet Pluto wurde auf hnliche Weise entdeckt.189 In einem anderen Fall allerdings war der stçrungstheoretische Zugang nicht erfolgreich. Leverrier postulierte 1859 zur Erklrung der MerkurAnomalie – die gemessene Merkurbahn wies eine deutliche Abweichung von der mit der Newton’schen Mechanik berechneten Bahn auf – einen neuen Planeten Vulkan. Letzterer wurde als reale Stçrung der theoretischberechneten Merkurbahn angenommen.190 Doch Vulkan konnte empirisch niemals beobachtet werden; es gibt keinen derartigen Planeten. Andere Anstze, die Merkur-Anomalie zu beschreiben, waren theoretischer Art, insofern hier gestçrte oder vernderte Newton’sche Gravitationsgesetze postuliert wurden.191 Obwohl diese Anstze die Merkurbahn gut zu approximieren und damit zu reprsentieren vermochten, versagten sie in der konsistenten Beschreibung aller Planetenbahnen zusammen. Diese gemeinsame bruchlose Beschreibung einer physikalischen Wirklichkeit gilt jedoch als ein wesentliches Geltungskriterium einer adquaten physikalischen Theorie. Erst durch die Nichtlinearitten und Instabilitten im Rahmen der Allgemeinen Relativittstheorie gelang es, die Merkur-Anomalie befriedigend zu beschreiben und zu erklren. 188 Uranus wurde eigentlich schon 1756 von Mayer und 1763 von Le Monnier „gesehen“, allerdings von diesen fr einen Fixstern gehalten. 189 Als sich die Beobachtungstechniken verfeinerten und die Daten prziser wurden, trat eine weitere Bahnanomalie, d. h. eine Nichtbereinstimmung der empirischbeobachteten mit den theoretisch-berechneten Bahnelementen, auf. Der kleine Planet Pluto wurde postuliert, um die mathematischen Gleichungen fr Uranus und fr Neptun stçrungstheoretisch zu modifizieren. Pluto wurde einige Jahrzehnte spter gefunden. 190 Als einen „nontheoretical attempt to remove the anomaly“ bezeichnet Ghde (1997, 96) diesen Ansatz. 191 Das war zeitlich frher als auch spter, etwa durch Clairaut (1745) und Hall (1894), vgl. auch Ghde (1997).
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Wer Stçrungsberechnungen betreibt, unterstellt – so wird man zusammenfassend sagen kçnnen – , dass Instabilitten zu vernachlssigen sind. Insofern steht die Stçrungstheorie im Horizont der Stabilittsannahme. Die Stçrungstheorie ist folglich weit mehr als nur eine mathematische Methode und ein ußeres Instrument: Sie prgt und konstituiert Objektsysteme. Poincar hat hier eine Ambivalenz lokalisiert, nmlich die Unumgehbarkeit und die gleichzeitige Fundamentlosigkeit stçrungstheoretischer Zugnge: „Das Problem ist so kompliziert, daß es unmçglich ist, es mit voller Strenge zu behandeln. Man ist gezwungen, gewisse vereinfachende Annahmen zu machen; sind sie legitim, sind sie widerspruchsfrei? Ich glaube nicht, daß sie es sind.“192 Poincars Vermutungen besttigen sich heute. Stçrungen sind einerseits methodisch schwer zu handhaben. Andererseits werden sie als endogener Teil vieler physikalischer Objektsysteme angesehen, nicht als Teil der ußeren Umwelt. Ob dann berhaupt noch von Stçrung gesprochen werden kann, ist fragwrdig.
4.5. Festhalten oder festlegen? Stabilitt zwischen Dogma und Konvention Seit den 1920er und 1930er Jahren bestand fr Physiker und Mathematiker kein Zweifel, dass nicht nur dynamische Instabilitten vorliegen kçnnen. Vielmehr kçnnen auch Gesetze instabil sein. Es war naheliegend zu fragen, was diese strukturelle Instabilitt ber Natur aussagt und ferner, ob sich Konsequenzen fr die physikalische Methodologie ergeben. Zwei Antwortrichtungen zeichneten sich ab. Sie zielten einmal explizit auf die Einforderung von Stabilitt („Stabilittsdogma“). Physikalische Methodologie kann nur dort sein, wo strukturell-stabile Objektsysteme existieren oder als solche konstituiert werden. Zum anderen wurden Instabilitten pluralisiert – und relativiert. Instabilitten erhielten damit den Status eines fragestellungsabhngigen Reflexionsbegriffs. 192 Zitiert nach Ebeling/Feistel (1994, 23). Erst ab den 1940er Jahren wurde die analytisch geprgte Stçrungstheorie mit ihren Anstzen, analytische Nherungslçsungen auch fr nichtlineare Differentialgleichungen zu gewinnen, pragmatisch ergnzt. Numerische Nherungslçsungen stehen seit dieser Zeit zur Verfgung. Die Rechnertechnologie fhrte zwar nicht zur Weiterentwicklung der analytischen Stçrungstheorie, wies aber Wege auf, wie mit Nichtlinearitten und Instabilitten operational umgegangen werden kann.
4.5. Festhalten oder festlegen? Stabilitt zwischen Dogma und Konvention
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Dogmatisierung von Stabilitt bei Andronov – das „Stabilittsdogma“ Maxwell und Poincar nahmen, wie gezeigt, primr auf dynamische Instabilitten Bezug. Strukturelle Instabilitten wurden erst Jahrzehnte spter zum Thema. Sie betreffen die Struktur der Gesetze selbst, die Funktionen, Parameter und Konstanten. Damit stehen sie dem nomologischen Kern dessen nher, was gemeinhin als physikalische Theorie bezeichnet wird. Der russische Physiker und Mathematiker Alexander Andronov193 hat in den 1930er Jahren eine strukturelle Stabilittsforderung formuliert, welche heutzutage als „Stabilittsdogma“ bezeichnet wird (Guckenheimer/Holmes 1983, 259): Stabilitt wird als metaphysisches und als methodologisches Programm betrieben – und das, als Reaktion, in einem Moment, in dem strukturelle Stabilitt fragwrdig geworden ist.194 Dogmatisiert wird oft nur das, was nicht mehr selbstverstndlich ist. Insofern vermag eine Dogmatisierung auch zur Explikation dessen beizutragen, was vormals eine stillschweigende Annahme war. Im Stabilittsdogma zeigt sich fraglos der Kern eines Metaphysik-MethodologieAmalgams. Andronov ist in diesem Sinne eine herausragende Schwellengestalt auf dem Wege zur nachmodernen Physik. Einerseits setzt sein Programm auf einer ontologischen Hintergrundberzeugung auf: Natur ist Natur, insofern sie stabil ist. Andererseits erkennt Andronov, dass Natur nicht nur stabil ist. Er ahnt, dass damit eine Problematisierung herkçmmlicher Physik verbunden ist. Der Zweifel Andronovs an der Mçglichkeit einer adquaten Beschreibung physikalischer Systeme bei Instabilitt sollte sich als wegweisend herausstellen. Andronovs Zugang verbleibt folglich in der Ambivalenz eines Noch-nicht-Vollziehens.
193 Andronov war einer der Schler des großen sowjetrussischen Physikers Leonid Isaakovich Mandelstam. Die physikalisch-ingenieurwissenschaftlichen Arbeiten von van der Pol und von Barkhausen zu den elektromagnetischen Schwingungen wurden von Andronov rezipiert und weitergefhrt. Analytische Untersuchungen mit Hilfe der weiterentwickelten (durch Poincar begrndeten) mathematischen (Differenzial-) Topologie schlossen sich an. Andronov verwendete insbesondere neuere topologische Techniken zur Untersuchung nichtlinearer Oszillatoren, vgl. Aubin (1998, 251). Heute sind seine Arbeiten und die seiner Schler als „Andronov-Schule“ bekannt, vgl. (Pechenkin 1992, 195 f ). 194 Auch Thom (1975, 25) meint: „Historically, the idea of structural stability was first introduced into mathematics by Andronov and Pontryagin.“
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Andronov hatte konkrete Phnomene der Physik der mittleren Grçßenordnung und die der Ingenieurwissenschaften im Blick.195 Ausgangspunkt war fr ihn die „große Bedeutung der Schwingungsprozesse in der modernen Physik und der Technik“.196 Doch er betrieb nicht nur eine Analyse unterschiedlicher dynamischer Einzelphnomene in ihren jeweiligen technischen Problemstellungen. Vielmehr fragte er grundlegender nach einem „Modell fr Modelle“, nach den Bedingungen der Mçglichkeit von Modell- und Gesetzesbildung. „Welche Eigenschaften [mssen] dynamische Systeme (Modelle) besitzen […], um physikalischen Problemstellungen zu gengen?“ (Andronov et al. 1965, 403 ff ) Entwickelt hat Andronov diesen Zugang gemeinsam mit dem mathematischen Topologen Pontryagin in den 1930er Jahren. Gemeinsam fhrten sie den Begriff „systme grossier“ ein (Andronov/Pontryagin 1937).197 Darunter wird ein „coarse system“ verstanden, eine Art Grobkçrnigkeit, Grobheit oder Robustheit. Heute wird der Begriff als „strukturelle Stabilitt“ bersetzt. Ein „systme grossier“ liegt vor, wenn kleinste Vernderungen der Systemgleichungen den topologischen Charakter nicht verndern – wenn also die Schar der Trajektorien und die Struktur des Attraktors gleichbleiben.198 „This definition of a system’s coarseness can be considered as that of the stability of a dynamical system with respect to small variations. […] This kind of stability is interesting for physics.“ (Andronov/Pontryagin 1937) Andronov spricht auch von 195 Andronov verallgemeinerte ber Linard hinaus die van-der-Pol’schen nichtlinearen Schwingungsgleichungen nochmals. Andronov hat den Begriff der „Autooszillation“ gesprgt, welcher im Deutschen oftmals und zunchst als „selbsterregte Schwingung“ bersetzt wurde, vgl. Pechenkin (1992, 197). 196 Mit zwei Koautoren, Witt und Chaikin, verfasste Andronov in den 1930er Jahren das umfassende Werk Theorie der Schwingungen (1965 ff ). Mandelstam konstatiert im Vorwort, dass „[i]n der letzten Zeit […] sich jedoch bei einer ganzen Reihe von physikalischen und technischen Fragen eine neue Klasse von Schwingungsproblemen herausgebildet [hat], fr die der Apparat der linearen Schwingungstheorie entweder nicht ausreicht oder vçllig unbrauchbar ist.“ (Mandelstam im Vorwort zu: Andronov et al. 1965, vi) 197 Lefschetz besorgte eine englischsprachige bersetzung des russischen Originals der „Theorie der Schwingungen“. Dabei griff Lefschetz deutlich in den Text ein. Lefschetz ersetzte den Begriff der „Coarseness“ durch „strukturelle Stabilitt“ und prgte damit diesen Begriff bis heute (hnlich wie er den Begriff „Topologie“ prgte, ohne auf den Gauß-Schler Listing, 1847, zu verweisen), vgl. Aubin (1998, 274 f ). 198 D.h. des globalen Flusses. Gemeint ist: Isolierte Punkte bleiben isolierte Punkte, Grenzzyklen, usw. Heute spricht man von einer Eigenschaft, die als topologische Konjugation bezeichnet wird.
4.5. Festhalten oder festlegen? Stabilitt zwischen Dogma und Konvention
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„groben Systemen“, von „groben Gleichgewichtszustnden“ und von „notwendige[n] und hinreichende[n] Grobheitsbedingungen“ (Andronov et al. 1965, 403 ff ). Schon terminologisch steht der Grobheit der Stabilitt die Feinheit der Instabilitt gegenber. Stabilitt stellt fr Andronov eine notwendige und folglich einzufordernde Bedingung dar. Erst sie ermçgliche eine Brcke zwischen Mathematik und Physik herzustellen, zwischen Feinheit und Grobheit. Dieses Verhltnis zwischen mathematischen Modellen (Theorien, Gesetzen) einerseits und physikalischer Wirklichkeit andererseits ist fr Andronov allerdings klrungsbedrftig.199 Welche Bedingungen sind erstens an physikalische Objektsysteme, zweitens an mathematische Modelle und drittens an deren Zusammenhnge zu stellen? Erstens zum „ontologischen“ Argument (Fluktuationsresistenz-Argument physikalischer Objektsysteme als innere Stabilitt): Reale physikalische Objektsysteme sind „Fluktuationen“ und „Schwankungen“ unterworfen (Andronov et al. 1965, 4). Fluktuationen liegen in allen physikalischen Systemen vor. Sie sind nicht extern durch die Messapparatur oder durch Ablesefehler erzeugt. Allgemein sind sie fr Andronov kein Kennzeichen von Instabilitt. Damit Fluktuationen nicht anwachsen, bedarf es kompensierend der inneren Stabilisierung. Ansonsten wrde das System kollabieren, was der empirischen Beobachtung widerspricht. Also wird eine Fluktuationsresistenz durch das physikalische System als solches selbst gewhrleistet. Die Existenz eines physikalischen Systems und die Nichtexistenz instabiler Momente werden parallelisiert. Andronov stellt heraus, „daß in beliebigen physikalischen Systemen (da geringe zufllige Abweichungen unvermeidlich sind) keine Prozesse existieren kçnnen, deren Ablauf nur beim Fehlen irgendwelcher zuflliger Auslenkungen und Abweichungen mçglich ist.“ (ebd.) Kleine zufllige Abweichungen 199 Mandelstam hebt hervor: „In der Lehre von den Schwingungen tritt die Wechselwirkung zwischen Physik und Mathematik, der Einfluß der physikalischen Forderungen auf die Entwicklung mathematischer Methoden und umgekehrt, der Einfluß der Mathematik auf unsere physikalischen Kenntnisse besonders klar zu Tage.“ (Mandelstam, Vorwort in: Andronov et al. 1965, v). Dabei setzt Andronov (1965, 1) voraus, dass es sich um zwei hinreichend unabhngige Bereiche handelt, nmlich den der (abstrakten) mathematischen Modelle (Theorien, Gesetze, Propositionen) einerseits und den der (realen konkreten) physikalischen Phnomene, Gegenstnde, Daten andererseits. „Nur nach Vergleich derjenigen Resultate, die man auf Grund der idealisierten [mathematischen] Betrachtungen erhlt, mit den Ergebnissen des Experimentes lßt sich beurteilen, ob eine Idealisierung gerechtfertigt ist.“ (ebd.)
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
sind „im wesentlichen auch im realen [physikalischen] System zu beobachten, sowohl in bezug auf die kleinen Koordinaten- und Geschwindigkeitsnderungen als auch bezglich der kleinen Abnderungen“ des gesamten Systems selbst (ebd.). Insofern das physikalische System existiert und nicht kollabiert, ist strukturelle Stabilitt notwendig. Reale physikalische Systeme sind grobe dynamische Systeme; sie sind strukturell stabil.200 Natur aus dem Blickwinkel von struktureller Stabilitt zu denken, stellt dann keine Einschrnkung dar. Vielmehr ist Stabilitt der allgemeine Fall, so Andronov. „Anders ausgedrckt, jedes vorgegebene [physikalische] System ist im allgemeinen grob, whrend die nicht groben Systeme die Ausnahme bilden.“ (ebd., 406) Andronov nimmt, ganz im Sinne klassisch-moderner Stabilittsmetaphysik, eine ontologische Setzung vor. Nur dasjenige kann ein reales Objektsystem sein, welches strukturell stabil ist. Zweitens zum methodologisch-modelltheoretischen Argument (Idealisierungs-Argument physikalischer Modellkonstruktion): Trivial wre ein methodologisches Argument, wenn man es als Folgerung des ontologischen Arguments ansehen wrde. Bei Andronov findet sich hingegen ein vom ontologischen unabhngiges, methodologisches Argument. Methodologisch trete eine normative Forderung an die Physik heran, welche von Andronov erlutert und gerechtfertigt wird. Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass der Physiker „[b]ei jeder theoretischen Untersuchung irgendeines realen physikalischen Systems […] stets zu mehr oder weniger umfangreichen Vereinfachungen, zur Idealisierung der Eigenschaften des zu beschreibenden Systems gezwungen [wird]. Eine Idealisierung ist niemals zu vermeiden.“ (ebd., 1) Andronov nimmt (antikonstruktivistisch) an, dass der Gegenstand als eine unabhngig gegebene Entitt existiert, welche zu reprsentieren ist: die Realittsseite steht fest. Kontingent ist hingegen die mathematische Modellseite, welche von Andronov als Konstruktion verstanden wird. Ein „mathematisches Modell eines physikalischen Systems“ ist ein „Gleichungssystem, welches das Verhalten dieses physikalischen Systems beschreibt“ (ebd., 1). In Modellen „kçnnen keinesfalls alle Faktoren bercksichtigt werden, die in der einen oder anderen Form das Verhalten des betrachteten physikalischen
200 In der Umkehrung: „Es ist klar, daß so etwas [wie strukturelle Instabilitt] in realen Systemen nicht vorkommen kann. [… Reale] Systeme werden ,grob‘ genannt.“ (ebd., 403)
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Systems beeinflussen.“ (ebd., 403)201 Die reale physische Totalitt ist mathematisch nicht erfassbar. Idealisierungen sind notwendig, welche sich an den Modellbildungszwecken orientieren. „Der Charakter der Idealisierungen, die bei der Untersuchung eines Problems zulssig sind, wird vom gesamten Problem festgelegt und hngt aus diesem Grund nicht nur von den Eigenschaften des zu untersuchenden Systems, sondern auch davon ab, auf welche Fragen bei der Untersuchung eine Antwort gewnscht wird.“ (ebd., 2) Im Sinne pragmatistischer Spielarten fhrt Andronov diese Fragestellungsabhngigkeit weiter aus, nmlich dass „ein und dieselbe Idealisierung […] sowohl ,zulssig‘ als auch ,unzulssig‘, zweckmßig oder unzweckmßig sein [kann], je nachdem, welche Probleme gelçst werden sollen.“ (ebd., 2 – 3) Damit entsteht eine Kontingenz der Modellkonstruktion oder, umgekehrt, eine Freiheit auf Seiten des Modellierers. Vereinfachungen, Unexaktheiten, Vagheiten sind bei der Modellkonstruktion nicht eliminierbar. Dem msse der Physiker Rechnung tragen. Auf Details solle und drfe es bei der Modellkonstruktion nicht ankommen. „Werden bei der Untersuchung der einen oder anderen konkreten physikalischen Problemstellung den Parametern bestimmte, feste Werte zugeschrieben, so ist das nur unter der Bedingung sinnvoll, daß kleine nderungen der Parameter nicht wesentlich die Bewegungsmerkmale verndern.“ (ebd., 403) Damit ist die Forderung nach Grobheit und struktureller Stabilitt auf Seiten der Modelle methodologisch angegeben. Die Stabilittsforderung ist eine notwendige Konsequenz der Unmçglichkeit einer exakten Abbildung von der physikalischen Wirklichkeit auf ein mathematisches Modell: sie ist ein Produkt der notwendigen Idealisierung bei jeder Modellkonstruktion. Zur Zusammenfhrung des ontologischen und methodologischen Arguments (Synthese-Argument): Die Fluktuationen der realen physikalischen Systeme spiegeln sich auf Seiten der mathematischen Modelle wider. So muss man „das Auftreten von Fluktuationen in realen Systemen auch in der Theorie dynamischer Modelle realer Systeme bercksichtigen.“ (ebd., 4) Grobkçrnigkeit liegt in physikalischen Objektsystemen vor und muss folglich in den Modellen gewhrleistet sein. Diese tritt auf der Modellseite als methodologische Norm hervor und ist als Forderung an die zulssige Modellstruktur einzulçsen. „Aus diesem Sachverhalt entstehen die 201 Andronov warnt vor einem Vollstndigkeitsanspruch, nmlich dass „man keinesfalls danach streben [sollte], ausnahmslos alle Eigenschaften des Systems in Betracht ziehen zu wollen, denn ein solches Vorhaben ist berhaupt unerfllbar.“ (ebd.)
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
Forderungen […], daß Prozesse, die durch ein mathematisches dynamisches Modell widergespiegelt werden, und die entsprechenden Prozesse, die im wesentlichen auch im realen [physikalischen] System zu beobachten sind, sowohl in bezug auf kleine Koordinaten- und Geschwindigkeitsnderungen als auch bezglich kleiner Abnderungen des mathematischen Modells stabil sein mssen. Der erste Teil der Forderung fhrt zum Begriff der Stabilitt der Gleichgewichtszustnde des Modells und der in ihm ablaufenden Prozesse, der zweite zum Grobheitsbegriff fr dynamische Systeme.“ (ebd., 4)202 Wenn ein Modell ein adquater Kandidat fr eine reprsentierende Beschreibung physikalischer Systeme sein soll, ist die Grobheitsbedingung (strukturelle Stabilitt) zu erfllen. Auf Details darf es in der Modellkonstruktion nicht ankommen. Mit der methodologischen „Forderung nach Grobheit“ (ebd., 406) wird gesagt, „welche Eigenschaften [mathematische] dynamische Systeme (Modelle) besitzen mssen, um physikalischen Problemstellungen zu gengen.“ (ebd., 403) Mit dieser Argumentation ist der methodologisch-ontologische Ausgangspunkt fr die mathematische Formulierung des Stabilittsdogmas umrissen. Das methodologisch-ontologische Syntheseargument lsst sich nun von zwei Seiten lesen und sttzt jeweils gegenseitig die Prmissen: Weil einerseits physikalische Objektsysteme strukturell stabil sind, mssen die Modelle ebenfalls strukturell stabil sein, insofern sie beanspruchen, das physikalische Objektsystem adquat zu reprsentieren. Ein ontologisches Primat tritt hervor, verbunden mit Spielarten eines epistemischen Realismus. Der bergang erfolgt vom Ontologischen zum Methodologischen. Weil andererseits jede physikalische Methodologie, um gesicherte Erkenntnisse zu liefern, auf struktureller Stabilitt wegen vielfltiger Idealisierungen aufsetzen muss, werden von ihr solche Objektsysteme als physikalische Objektsysteme konstituiert, welche strukturell stabil sind. Eine methodologische Vorrangstellung zeigt sich, verbunden mit Spielarten des epistemisch-methodologischen Konstruktivismus. Hier geht die
202 Mit anderen Worten: Es „mssen […] bei geringer nderung der Parameter im allgemeinen die Merkmale erhalten bleiben, die das Verhalten des betrachteten [mathematischen] Modells kennzeichnen. Vor allem muß bei dynamischen [mathematischen Modell-] Systemen, die physikalischen Problemen entsprechen, bei geringer Abnderung der Parameter die qualitative Struktur der Zerlegung in Trajektorien ungendert bleiben.“ (Andronov et al. 1965, 403)
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Argumentation vom Methodologischen zur Objektsystemkonstitution ber oder – wenn man will – zum Ontologischen.203 Es zeigt sich, wie eng metaphysische Annahmen und methodologische Erwgungen verflochten sein kçnnen. Eine Dogmatisierung von Stabilitt findet sich bei Andronov sowohl in metaphysischer wie in methodologischer Hinsicht. Konventionalisierung der Instabilitt bei Birkhoff – die Abwendung Die Einforderung von Stabilitt ist nicht die einzig mçgliche Reaktion auf die zunehmende Wahrnehmung von Instabilitten. Anders als Andronov whlte der theoretische Physiker und Mathematiker George David Birkhoff in den 1920er Jahre einen dezidiert konventionalistischen Zugang: Stabilittsverstndnisse kçnnen als kontingente Festlegungen angesehen werden, welche koexistieren (Birkhoff 1927).204 Angesichts der Pluralisierung scheint die methodologische Problematik zu verschwimmen – und die Frage nach den realen Eigenschaften der Objektsysteme zu verschwinden. Die von Andronov herausgestellte strukturelle Stabilitt wird bei Birkhoff nicht zum alleinigen Thema; sie wird eingebettet in unterschiedliche Stabilitts- und Instabilittsbegriffe. Niemals hat es wohl einen umfassenderen und differenzierteren Ansatz zur Instabilittsthematik gegeben als bei Birkhoff. Wirkungsgeschichtlich prgend ist der Ansatz allein schon deshalb, weil er eine Zusammenfhrung von Stabilittsfragestellungen einerseits mit dem mathematischen Konzept des Zustandsraums andererseits vornimmt. In diesem Rahmen deutet sich eine Normalisierung der Stabilitts-Instabilitts-Thematik an. Vor dem Hintergrund der Arbeiten von Poincar hat Birkhoff die Allgemeine Theorie dynamischer Systeme in seinem Lehrbuch von 1927 Dynamical Systems begrndet (Birkhoff 1927; vgl. Whittaker 1945).205
203 Andronov selbst bleibt merkwrdig unentschieden. Seine Argumente sind analytisch nicht derart differenziert, wie hier versucht wurde, sie zu rekonstruieren. 204 Zu Birkhoff siehe u. a. Veblen (1946, 282). 205 „General Theory of Dynamical Systems“, vgl. Birkhoff (1927, insb. Kap. 7). Ein explizierter Rekurs von Birkhoff zu Poincar wird etwa im Zusammenhang mit dem Dreikçrperproblem vorgenommen (Birkhoff 1927, 406) „Birkhoff took up the leadership in this field (dynamical systems) at the point where Poincar laid it down.“ (Veblen 1946, 282) Und Birkhoff gab sein Wissen weiter. Er unterrichtete am MIT zur Zeit, als der junge Ed Lorenz dort studierte. Lorenz sollte
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Vielfach werden auch heute noch die Nichtlineare Dynamik und Chaostheorie sowie die Fraktale Geometrie partiell unter dem Birkhoff ’schen Titel Dynamische Systeme abgehandelt (etwa: Krabs 1998). Birkhoff nahm qualitative Untersuchungen der Gesamtheit mçglicher Zeitentwicklungen eines dynamischen Systems vor und typisierte unterschiedliche Langzeitentwicklungsdynamiken.206 Dazu verfeinerte er qualitative topologische und differenzialtopologische Konzepte, wie sie Poincar vorbereitet hatte, entwickelte hieran anschließend die so genannte Ergodenund die Maßtheorie und fhrte neue weitreichende Begriffe ein.207 Im Unterschied zu Andronov und seiner normativen Stabilitts(ein)forderung betrachtete Birkhoff nicht allein die strukturelle Instabilitt, sondern auch dynamische Instabilitten. Stabilitt und Instabilitt setzt Birkhoff begrifflich – anders als Andronov – in Zusammenhang mit Kausalitt, Regelfolgen208 und Determinismus. Er fragt nach „Stability in Causal Systems“, so der Titel eines Aufsatzes (Birkhoff/ Lewis 1935, 304 ff ). Ein kausales System ist fr Birkhoff durch Differenzial- oder Differenzengleichungen gegeben. Fr die Physik sei das kausale System als Denkmodell konstitutiv (ebd., 304).209 Als Konventionalist vermeidet Birkhoff, Aussagen ber Natur (und auch ber Objektsysteme) vorzunehmen; er verbleibt im Rahmen mathematischer Denkmçglichkeiten. Statische und dynamische Instabilitten sowie die dadurch generierten Sensitivitten werden direkt thematisiert.210 Aus konventionalistischer Perspektive parallelisiert Birkhoff Determinismus und Berechenbarkeit (ebd., 304). Seine Reflexion ber Bere-
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spter den so genannten „Schmetterlingseffekt“ in einem hydrodynamischen Wettermodell auf dem Computer entdecken. Birkhoff (1927, 189) stellt das Qualitative heraus: „The final aim of the theory of motions of a dynamical system must be directed toward the qualitative determination of all possible types of motions and of the interrelation of these motions.“ Wie u. a. „central“, „recurrent“, „minmal“, „wandering and non-wandering motion“ sowie „alpha- and omega-limit sets“. Auch der Begriff der quasiperiodischen Bewegung geht auf Birkhoff zurck. Birkhoff nahm einige derjenigen Eigenschaften vorweg, die spter zum Begriff des „Attraktors“ fhren sollten (vgl. Milnor 1985). Hilfreich waren da auch die Stabilittsanalysen und Stabilittsdefinitionen von Lyapunov (1892). Diese standen erst in den 1960er Jahren in englischer bersetzung zur Verfgung. Auf Hume wird explizit Bezug genommen (Birkhoff/Lewis 1935, 307). Wçrtlich heißt es: „The general concept of causal system has been basic in scientific thought.“ (ebd., 304) Birkhoff (1927, 304) fhrt aus: „In case such a set of variables is not known, the system is more or less indeterminate and exact predictions cannot be made.“
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chenbarkeit zeigt, dass Argumente fr Determinismus und Kausalitt sich allein auf Erfolg oder Misserfolg von Berechnungen in bestimmten Kontexten beziehen kçnnen; nur so kçnnen sie eine Begrndung erfahren. Gleiches gilt fr Kausalitt. Es zeigt sich ein Konventionalismus hinsichtlich der Zuschreibung von Kausalitt. Birkhoff „take[s] the position that […] the distinction between causality and non-causality may be purely conventional.“ (ebd., 306) Denn jede beliebige „Zufallsfolge“ kçnne, so Birkhoff, durch ein „kausales Gesetz“ nachgebildet werden, auch wenn dieses sehr kompliziert sein mag. Whrend Andronov auf ein einzelnes Konzept, das der strukturellen Instabilitt, fokussiert, stellt Birkhoff eine ganze Typologie von Instabilittsbegriffen vor. „Stabilitt“ und „Instabilitt“ werden als kontingente Zuschreibungen angesehen, jeweils abhngig von der Fragestellung, von Ziel und Zweck der Beschreibung. So wird man das Sonnensystem aus einer Perspektive als „stabil“ bezeichnen, nmlich dann, wenn man es auf kurzen Zeitskalen – etwa fr einige Millionen Jahre – betrachtet. Aus einer anderen Perspektive, wenn man etwa die Detailbewegung des Mondes oder – umfassender – des gesamten Sonnensystems fr 4 – 6 Milliarden Jahre betrachtet, wird man eine andere Zuschreibung vornehmen. Mit dem, was wir als „stabil“ und „instabil“ bezeichnen, kennzeichnen wir zugleich unser Erkenntnisinteresse, so Birkhoff: „The fundamental fact to observe here is that this concept [of stability and instability] is not in itself a definite one, but is interpreted according to the question under consideration.“ (ebd., 313) Es findet sich eine Pluralitt von Stabilitts- und damit auch von Instabilittsbegriffen. Beispielsweise definiert Birkhoff „Stabilitt“ im Sinne der „complete or trigonometric stability“, „stability of the first order“, „permanent stability“, „semi-permanent stability“, „unilateral stability“, „regions of stability“211, „stability in the sense of Poisson“ (Birkhoff 1927, Kap. 4, 6, 8, 9, …; Birkhoff/Lewis 1935, 313). Birkhoff fragt etwa, ob letztere Benennung adquat sei, sowohl hinsichtlich der Intuition als auch im Vergleich zu anderen Stabilittsbegriffen. Die „stability in the sense of Poisson“ bezieht sich – nach der Begriffs-Prgung durch Poincar – auf so genannte rekurrente Dynamiken, also auf solche Dynamiken, durch welche fast jeder beliebige Anfangszustand irgendwann unter der Zeitentwicklung einmal nherungsweise wieder erreicht
211 Heute wrde man von Einzugsgebiet bzw. Bassin sprechen.
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wird.212 Birkhoff kritisiert diese Begriffsprgung. „This use of the word ,stability‘ is, however, unfortunate. We wish to reserve for this word another meaning and so we shall always use ,recurrent‘ to specify systems stable in the sense of Poisson.“ (Birkhoff/Lewis 1935, 310) Dieser Stabilittsbegriff erscheint Birkhoff einerseits als zu wenig spezifisch und extensional zu umfassend, andererseits als nicht phnomenadquat, insofern dissipative Systeme – etwa ein gedmpfter harmonischer Oszillator – diese Stabilittsbedingungen nicht erfllen. Bezeichnet man hingegen Stabilitt im Sinne der „regions of stability“ auf den Zustandsraum bezogen (ebd., 313), dann wird Stabilitt als Attraktivitt gefasst: Im Laufe der Zeit werden alle Startpunkte auf eine kompakte Region abgebildet („Attraktor“; Milnor 1985). Doch auch das, so Birkhoff, sei zu allgemein.213 Als durchaus plausibel, insbesondere hinsichtlich der Frage nach einer Stabilitt des Sonnensystems, erscheint Birkhoff hingegen der Begriff der „strengen Stabilitt“.214 Unter Bezugnahme auf das Dreikçrperproblem (Birkhoff 1927, 227/260) erçrtert er ferner die „stability of periodic motion“ (ebd., 97 ff ), „the problem of stability“ und gibt ein Kriterium fr Stabilitt an (ebd., 226 f ). Zentral ist fr Birkhoff allgemein der Zusammenhang von Stabilitt, Reversibilitt und Zeitlichkeit sowie von „stability and transitivity“ (Birkhoff/Lewis 1935, 326).215 Die Frage, ob und in welcher Hinsicht Stabilitt oder Instabilitt in der Natur real existiert, wird von Birkhoff nicht diskutiert. Wie seine Beispiele des Planeten- und des Billardsystems jedoch andeuten, geht er offenbar davon aus, dass es Phnomene in der Natur gibt, die – je nach Verstndnisweise – zu Recht als „instabil“ oder „stabil“ bezeichnet werden kçnnen. Doch warnt er in seinem Definitionskonventionalismus davor, 212 D.h. nicht exakt. Przisier, jede Umgebung eines jeden Startpunktes wird wieder erreicht. Man spricht nach dem Poincar’schen Wiederkehr-/Rekurrenz-Theorem auch von approximativer Wiederkehr. 213 Birkhoff meint: „It will be seen that this definition of stability is so general that it can hardly be called a definition at all.“ (Birkhoff/Lewis 1935, 314) Vielmehr zeige sich eine unabweisbare Fragestellungsabhngigkeit: „Certain parts of phase space are regarded as ,regions of stability‘, the others as regions of instability. A motion then will be said to be ,stable‘ if, after the instant in question, its curve of motion forever lies in the stable part of phase space.“ (Birkhoff/Lewis 1935, 313) 214 „We know“, so Birkhoff, „that those of stable type are rigorously stable in the sense that nearby motions remain in the vicinity of the periodic motion for all time.“ (Birkhoff/Lewis 1935, 319) 215 Birkhoff kann zeigen, „that the requirement of complete stability is also very intimately connected with that of reversibility in time of a given differential system.“ (Birkhoff 1927, 115)
4.5. Festhalten oder festlegen? Stabilitt zwischen Dogma und Konvention
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„Stabilitt“ und „Instabilitt“ allzu viel Bedeutung im Sinne eines epistemischen Realismus zukommen zu lassen. Schließlich sei der semantische Kern dessen, was Birkhoff als „Stabilitt“ gefasst zu haben glaubt, ußert klein; alle anderen Verstndnisweisen verwirft Birkhoff: „[A]ll that stability can mean is that, for the system under consideration, those motions whose curves lie in a certain selected part of phase space from and after a certain instant are by definition called ,stable‘, and other motions ,unstable‘. Thus the possible types of stability are infinitely numerous and varied. […] No matter how fascinating the purely mathematical study of causal systems may be, it would seem not to be desirable to take them too seriously from a realistic point of view.“ (Birkhoff/Lewis 1935, 332/3)216 Stabilitt und Instabilitt erscheinen so als fragestellungsabhngige kontingente Konventionen, bezogen auf Kausalitt – im Sinne gesetzmßiger „causal systems“. Methodologische Probleme fr die Physik wren demnach in jedem Einzelfall zu untersuchen. Wege zur Normalwissenschaft – eine Zusammenfassung Andronov und Birkhoff sind sich einig, dass „mathematische Modelle“ (Andronov) bzw. „dynamische Systeme“ (Birkhoff ) instabiles Verhalten aufweisen kçnnen. Die Anerkennung von Instabilitten bezieht sich bei Andronov objektiv auf die mathematische Ebene, whrend sie fr Birkhoff subjektiv bzw. intersubjektiv bleiben, als Zuschreibung, Festlegung, Konvention. Damit ist, wie gezeigt, noch nichts ber Natur und physikalische Objektsysteme ausgesagt. Bei Andronov liegen zwei komplementre Gedankengnge vor: Einerseits wird Natur (ontologisch) als stabile Natur gesetzt. Daraus folgt im Sinne eines epistemischen Realismus, dass auch die mathematischen Modelle stabil sein mssen. Andererseits ist eine physikalische Methodologie nur dann mçglich, wenn Modelle, Theorien, Gesetze stabil sind. So gelangt man bei Andronov aus unterschiedlichen Zugngen zum „Stabilittsdogma“. – Statt eine eindeutige normative Festlegung von Stabilitt vorzunehmen und damit anzunehmen, dass adquat von „Stabilitt“ und „Instabilitt“ gesprochen werden kçnnte, verbleibt Birkhoff in einem kontextspezifischen Definitionskonventionalismus pluraler Verstndnisweisen von Stabilitt und In216 Die heutige Physik, die als „nachmodern“ bezeichnet wird, schließt sich dieser Sichtweise nicht an.
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
stabilitt. Eine spezifische Herausforderung, mit Instabilitten umzugehen, ergibt sich hieraus nicht. Auch wenn sich Andronov und Birkhoff also nicht auf die gleichen Phnomentypen beziehen,217 so zeigen sie doch zwei mçgliche Auswege, wie mit der Stabilitts-Instabilitts-Thematik umgegangen werden kann: Entweder wird Stabilitt gegenber allzuviel Instabilitt dogmatisiert oder Instabilitt wird konventionalistisch gefasst und relativiert.
4.6. Folgen: Stabilitt und Instabilitt in einem neuen Verhltnis Seit Mitte der 1960er Jahre wird zunchst die statische und die dynamische Instabilitt, dann auch die strukturelle Instabilitt zu einem anerkannten und breit diskutierten Topos innerhalb der Physik. Es zeigte sich, dass die Ahnungen der frhen Pioniere wie Maxwell, Poincar und Duhem ber methodologische Problempunkte nicht nur einige wenige Randbereiche betrafen. Vielmehr waren sie grundlegender als – auch von diesen – angenommen wurde: Instabilitten sind in der Natur nicht randstndig. Erst durch die nun faktisch vollzogene Wissenschaftsentwicklung der Physik lassen sich Reflexionstiefe, Relevanz und Aktualitt ihrer Gedanken erfassen. Natur ist gerade auch dort Natur, wo sie instabil ist; physikalische Objektsysteme sind auch solche, die hochgradig instabil sind.218 Stabilitt und Instabilitt treten in ein neues Verhltnis; Stabilitt zeigt sich im Rahmen allgemeiner Instabilitten. Vielfach sind lokale (dynamische und strukturelle) Instabilitten sogar konstitutiv fr eine globalere Stabilitt.219 Das neue Verhltnis von Stabilitt und Instabilitt leitet eine Umkehrung dessen ein, was von Platon ber Newton bis hin zu Duhem und Andronov in ontologischer und in methodologischer Hinsicht unterstellt wurde. Instabilitten wurden traditionell – wenn berhaupt – aus Perspektive des Stabilen wahrgenommen. Rckblickend, so John Barrow, „mssen wir ein Geheimnis darin sehen, daß es in der 217 Andronov bezieht sich fast ausschließlich auf strukturelle Instabilitt, whrend Birkhoff daneben auch dynamische Eigenschaften, Stabilitt und Instabilitt sowie Topologisches im Blick hat. 218 Gleichermaßen wird, freilich stark metaphorisch, von „Inseln im Chaos“ oder „Ordnung am Rande des Chaos“ gesprochen, wie etwa von Waldrop (1996). 219 Ein gutes Beispiel sind lebendige Systeme, etwa das gesunde Herz; vgl. dazu Liebert (1991) und Morfill (1994).
4.6. Folgen: Stabilitt und Instabilitt in einem neuen Verhltnis
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Natur so viele lineare und einfache Erscheinungen gibt.“ (Barrow 1994, 165) hnlich haben Loistl und Betz (1994, 4) herausgestellt, dass „niedrig-dimensionales Chaos [und dynamische Instabilitt] eher den Regelfall als die Ausnahme der Natur darstellt.“ (Loistl/Betz 1994, 4) Fragt man nochmals nach wissenschaftshistorischen Hintergrnden, warum sich die Instabilittsthematik ab dieser Zeit zu etablieren begann, so liegt es nahe, Fragestellung und Blickrichtung umzukehren: Aufgrund welcher Hindernisse wurden die Instabilitten erst so spt anerkannt? Mindestens fnf Grnde liegen rckblickend nahe (Kapitel 3.1). Erstens war die rechnertechnologische Entwicklung noch nicht soweit vorangeschritten, dass Computer zur Simulation instabiler Dynamiken zur Verfgung standen (methodisch-rechnertechnologisches Hindernis). Zweitens dominierten innerhalb der Mathematik und Physik andere Theorieformen (Grundlagendiskussionen; Relativittstheorie, Quantenmechanik) (forschungsgebietsspezifisches Hindernis). Drittens wirkte das Stabilittsdogma ungebrochen weiter und prgte Hintergrundberzeugungen ber Natur wie ber Wissenschaft (metaphysisch-methodologisches Hindernis). Viertens wurden aus ingenieurtechnischer Perspektive Instabilitten als wenig hilfreich fr die Technik angesehen: Technik, so schien es, bedrfe der Stabilitt (Hindernis im Technikverstndnis). Fnftens spiegelte sich dies auch in der Gesellschaft, insofern gesellschaftliche Planbarkeit gerade als Eliminierung von Instabilitt angesehen wurde (gesellschaftliches Hindernis). All diese Hindernisse, vielleicht mit Ausnahme des gesellschaftlichen, waren ab den 1960er Jahren nicht mehr gegeben. Dass sich die Instabilittsthematik ab dieser Zeit in der Physik etabliert hat, kann exemplarisch anhand von drei Merkmalen belegt werden. Diese lassen sich unter folgende Begriffe stellen: (a) Objektsysteme und Forschungsfelder, (b) Modellsysteme und Paradigmata, (c) Communities und Forscherpersçnlichkeiten; ein systematischer Beleg wird dazu erst in den kommenden Kapiteln (5 – 7) geliefert.220 Die beiden ersten Merkmale spiegeln eher interne Aspekte wider, das letzte hauptschlich externe. Betrachten wir (a) zunchst einige Objektsysteme und Forschungsfelder. Wegweisend waren erstens die Arbeiten von Kolmogorow (1954), Arnold 220 Damit wird hier eine – im Vergleich etwa zu Kuhn – zunchst unblich erscheinende Darstellung gewhlt. Kuhn hatte vier Kriterien angegeben: (1) Symbolische Verallgemeinerungen; (2) Heuristiken; (3) Werte; (4) Exemplarische Leistungen und Paradigmata; vgl. auch Diskussion von Bçhme (1993a, 219).
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
(1963) und Moser (1973) zur Stabilitt bzw. Instabilitt des Sonnensystems, welche die Erkenntnisse Poincars und Birkhoffs aufnahmen, weiterentwickelten und fallbezogen spezifizierten.221 Zweitens sammelten Alan Turing 1950 und Edward Lorenz 1961 unter Verwendung von Computern und Computersimulationen Erfahrungen ber die Wirkungen von Instabilitten. Turing verwendet eine Formulierung, die an Poincar anschließt: „The system of the ‘universe as a whole’ is such that quite small errors in the initial conditions can have an overwhelming effect at a later time. The displacement of a single electron by a billionth of a centimetre at one moment might make the difference between a man being killed by an avalanche a year later, or escaping.“ (Turing 1950, 440)222 Lorenz, der spter den populren Begriff des „Schmetterlingseffekts“ prgte, untersuchte niedrigdimensionale meteorologische Modelle und fand einen „nonperiodic unstable flow“ (Lorenz 1963). Ab Mitte der 1960er Jahre begann die Suche nach Nichtlinearitten und Instabilitten in vielfltigen Objektsystemen – und auch ihr Nachweis. Dies ging zwar von Teildisziplinen der Physik aus (Mechanik, Astronomie), umfasste bald aber vielfltige Disziplinen, in denen mathematische Modelle ein wesentliches Erkenntnismittel oder Erkenntnisziel darstellen. Die Liste der Disziplinen erstreckt sich von der Physik ber die Chemie, Biologie, Medizin und Psychologie, die Geo- und Ingenieurwissenschaften bis hin zu den Wirtschafts- und Politikwissenschaften.223 Die Breite der Phnomengruppen innerhalb der Disziplinen und Teildisziplinen kann hier nur durch Stichworte illustriert werden (vgl. Beckmann 1997). Erstens Physik: Mechanik224, Akustik225, Astronomie und Kosmologie226, Fest221 Das von ihnen bewiesene mathematische Theorem besagt, dass die nicht-resonanten invarianten Tori eines integrablen Systems bei kleinen Stçrungen des Systems im wesentlichen erhalten bleiben. Allerdings zerfallen die durch rationale Frequenzverhltnisse charakterisierten resonanten Tori aufgrund der Stçrung: es entstehen hier chaotische Orbits, neue Tori und auch periodische Orbits. Wenn der Betrag der Stçrung gegen Null strebt, dann konvergiert das natrliche Maß der Zustnde im Phasenraum, welche auf einem invarianten Tori liegen, gegen eins. Kolmogorow, Arnold und Moser bezogen sich auf Arbeiten von Poincar und G.D. Birkhoff. 222 Doch Turing bleibt – auf technische Systeme bezogen – ebenfalls eine ambivalente Schwellengestalt: „It is an essential property of the mechanical systems which we have called ‘discrete state machines’ that this phenomenon does not occur.“ (Turing 1950, 440) 223 Ein ber- und Einblick findet sich in: Mainzer (1996a) und Mainzer (1999). 224 Bspw. Nichtlineare Oszillatoren, Pendel, Atwoods Maschine, magnetomechanische Schwinger, hpfender Ball, Torsionsstbe und -drhte, …
4.6. Folgen: Stabilitt und Instabilitt in einem neuen Verhltnis
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kçrperphysik und kondensierte Materie227, Fluidmechanik228, Optik und Laserphysik229, Plasmaphysik230, Kern-, Teilchen- und Hochenergiephysik, …. Zweitens Chemie: Reaktionskinetik und enzymkinetische Reaktionen, chemische Uhren, Moleklstabilitt, …. Drittens Geowissenschaften: Erdrotation, Erdmagnetismus, Atmosphrendynamik, Strahlungsbilanz, El Nino, Tsunami, Erdbebenentstehung, Vulkanbildung, … Viertens Biologie, Medizin, Psychologie: biologische und biochemische Oszillatoren, Atmungsdynamik, Gehirndynamik, Herzdynamik, çkologische Dynamiken und Populationsdynamik, Epidemologie, Gruppendynamik, Verhaltenspsychotherapie, Entscheidungsprozesse, … Fnftens Ingenieurwissenschaften: Technische Mechanik, Maschinenbau und -dynamik, Eisenbahnbau und Dynamik von Eisenbahnwaggons, Werkstoffmechanik/Rissforschung231, Elektrotechnik, Nachrichtentechnik, Schiffbau, Regel- und Steuerungstechnik, Verfahrenstechnik, Verkehrsdynamik, … Sechstens Wirtschaftswissenschaften: Makroçkonomie, Preisentwicklung, Wechsel- und Aktienkurse, Logistik, Werbungsdynamik und Kundenverhalten, … Siebtens Politikwissenschaften: Wettrsten, Rstungskontrolle, Internationale Regime, Taktik beim Luftkampf, Krisenmanagement, Akzeptanzproblem der Kernenergie und Dynamik einer Kernkraftwerkspopulation, … – Diese unvollstndige Liste illustriert die Breite der Objektsysteme innerhalb Teildisziplinen der Physik bis hin zu den Sozialwissenschaften, in welchen statische, dynamische und strukturelle Instabilitten auftreten. Ferner spielen (b) beispielhafte Modellsysteme und Paradigmata fr die Etablierung der Instabilittsthematik eine wesentliche Rolle. Sie prgen Methoden und Begriffe, schrfen den Blick fr Phnomene, weisen Erklrungsbedrftigkeiten aus, legen Lçsungswege und Argumentationsstrategien nahe. Studierende und junge Forscher werden anhand von 225 Bspw. Musikinstrumente, Stick-Slip-Oszillatoren, Schallerzeugung durch Laser, … 226 Bspw. Sonnensystem, Sternbewegung, Sonnenflecken, Pulsar- und Quasarperioden, Galaxieverteilung, … 227 Bspw. Phasenbergnge, Strukturbildung, Stromleitung in Halbleitern, Halbleiterlaser, Spinwellen („Spinwelleninstabilitten“), … 228 Bspw. Turbulenz, Turbulenzbergang, Kristallwachstum, Flssigkeitsoberflche ber vibrierendem Grund, … 229 Bspw. Laserstabilitt und Laserinstabilitt, Halbleiterlaser, gekoppelte Laser, nichtlineare Absorber, optogalvanische Systeme, … 230 Bspw. Gasentladungsschwingungen, Musterbildung, Plasmawellen, … 231 Die so genannte Rissforschung ist eine Forschung, welche Instabilitten explizit zum Gegenstand hat.
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
beispielhaften Modellsystemen geschult und sozialisiert. Die Modellsysteme stellen nicht nur einen Forschungsgegenstand reprsentierend dar. Sie haben auch einen didaktischen Zweck in der Wissensvermittlung und bilden die Basis fr normalwissenschaftliches „puzzle solving“. In jedem einfhrenden Buch werden sie diskutiert.232 Meist sind es niedrigdimensionale Modellsysteme, d. h. Modelle mit nur wenigen Freiheitsgraden und einer transparenten Gleichungsstruktur. Beispielhaft sind: die logistische Abbildung (Verhulst-Dynamik), die Zeltabbildung, die eindimensionale Symboldynamik sowie die Hnon-Abbildung, die Smale’sche Hufeisen-Abbildung, das Doppelpendel, der Duffing-Oszillator.233 Anhand dieser Modellsysteme wurden auch Methoden der Nichtlinearen Datenanalyse entwickelt und erprobt, ehe sie fr reale Zeitreihen Verwendung fanden.234 Schließlich sei (c) auf die Communities und Forscherpersçnlichkeiten hingewiesen, die zur Etablierung der Instabilittsthematik beigetragen haben. Gewiss, es hat sich keine einheitliche Scientific Community etabliert wie etwa die der Hochenergie- und Teilchenphysiker. Disziplinen und Teildisziplinen orientieren sich immer noch in ihrem Selbstverstndnis primr am Gegenstands- und Objektbereich (und partiell der Methoden), weniger an Strukturen und allgemeinen Phnomenklassen. „Instabilittsforscher“ bilden mithin nicht eine einzelne Scientific Community, sondern mehrere. Das hnelt demjenigen, was ihren Forschungsgegenstandsbereich kennzeichnet: Kontextualismus statt Universalismus. Die Instabilittsthematik ist von unterschiedlichen Forscherpersçnlichkeiten an verschiedenen Orten vorangetrieben worden und wurde mit unterschiedlichen programmatischen Namen versehen. Ende der 1960er Jahren sprach Prigogine von „dissipativer Strukturbildung“ (vgl. Glansdorff/Prigogine 1971; Prigogine 1992) und begrndete „seine“ Brsseler Schule. Anfang der 1970er Jahre stellte Haken den Begriff der Synergetik in den Mittelpunkt, um ein neues Forschungsprogramm an der Universitt Stuttgart – und dann weltweit – zu kennzeichnen (Haken 232 Bspw. Ott (1993), Guckenheimer/Holmes (1983), Devaney (1989). 233 Weiter wre zu nennen: der van-der-Pol-Oszillator, der harmonisch getriebene gedmpfte Schwinger, das Lorenz-System, die Bnard-Konvektionszelle, die Belousov-Zhabotinskij-Reaktion, das Drei-Kçrper-Problem, der Rçssler-Attraktor, spter auch „Impact“-Oszillatoren, „Stick-Slip“-Oszillatoren, … 234 Die Poincar-Abbildung, die Bifurkationstheorien sowie Intermittenzanalysen als Konzepte zur Untersuchung von Instabilitts-Phnomenen schrften sich an den Modellsystemen, bevor sie Verwendung bei der Analyse von Labor- und Translabor-Systemen fanden.
4.6. Folgen: Stabilitt und Instabilitt in einem neuen Verhltnis
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1980). In dieser Zeit begann in den USA und in Frankreich die Konjunktur der Chaostheorie (Ruelle/Takens 1971; Li/Yorke 1975). Spter zog die Komplexittstheorie nach (Mitarbeiter des spteren Santa Fe Instituts; vgl. Lewin 1993). In den frhen 1970er Jahren fasste Thom seine Arbeiten zur Stabilitts- und Instabilittsthematik unter dem Begriff der Katastrophentheorie zusammen (Thom 1975). Mandelbrot begrndete 1977 die Fraktale Geometrie (Mandelbrot 1991). Verwandt ist auch, was Wolfram wenig spter als „Zellulre Automaten“ bezeichnete (Wolfram 1984; Wolfram 1986). Begriffsschçpfungen sollten neue Forschungsprogramme ausweisen. Konkurrenz entstand zwischen den verschiedenen sich bildenden Communities. Zwar wurden unterschiedliche Akzente gesetzt, doch die Inhalte waren hnlich. Wer die Definitionsmacht ber den neuen Forschungskorridor erhalten sollte, blieb offen.235 Neue Fachzeitschriften entstanden, wie „Nonlinearity“, „Nonlinear Science Today“, „Complex Systems“, „Journal of Nonlinear Science“, spter das „International Journal of Bifurcation and Chaos“, u. a. In den 1980er Jahren folgte eine Welle von nationalen und internationalen Tagungen, Workshops, Seminaren, die sowohl auf die Strkung der Communities zielte als auch auf die ffentlichkeit (vgl. Hedrich 1994, 148).236 Zeitgleich entstanden an Universitten Spezial- und Kursveranstaltungen zur Nichtlinearen Dynamik und mit ihr zur Instabilittsthematik. Arbeits- und Forschergruppen konstituierten sich. Forschungsfçrderungsinstitutionen schrieben Schwerpunktprogramme aus. Mit diesen drei skizzenhaften Hinweisen zu wissenschaftsinternen sowie zu wissenschaftssoziologischen Aspekten – in den Kapiteln 5 – 7 folgt eine systematische Darlegung – zeigt sich noch einmal, dass die Stabilittsannahme ab den 1960er Jahren brchig wurde. In vielfltigen Objektsystemen wurden Instabilitten identifiziert. Dass das Stabilittsdogma eine selektierende Funktion durch „apriori Restriktionen fr ,gute‘ Modelle ber physikalische Phnomene“ darstellt (Guckenheimer/Holmes 1983, 259), wurde ab dieser Zeit als hinderlich fr die Physikentwicklung angesehen. Derartige Restriktionen, die als apriorische Annahmen in die Modell- und Theoriebildung der Physik eingehen, verfehlen den instabilen Charakter der Natur; sie verhindern die Erschließung neuer Ge235 Die Synergetik hat sich, dies wird man heute konstatieren, begrifflich durchgesetzt. 236 Die Popularisierung erfolgte ab den 1980er Jahren: Gleick (1987), Davies (1988), Briggs/Peat (1993).
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4. Wissenschaftshistorische Wege der Instabilitten
genstandsfelder. Was an die Stelle des Stabilittsdogmas treten kçnnte, ist allerdings bis heute nicht abschließend geklrt. Zumindest entstand eine intensive innerphysikalische Diskussion, die um Klrung bemht war, wie die kommenden Kapitel zeigen werden. Die hier vorgetragenen wissenschaftshistorischen Ausfhrungen sollten – ber die systematischen Erçrterungen hinaus – zeigen, dass Instabilitten implizite Annahmen der klassisch-modernen Physik problematisieren: Prognostizierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Prfbarkeit, Reduzierbarkeit werden explizit zu zentralen und reflexionsbedrftigen Themen in einer nachmodernen Physik. Problematisierung und Erweiterung, Begrenzung und Grenzberschreitung liegen dicht beieinander. Auch wenn Lyotard keine systematisch ausgearbeiteten Argumente bereitgestellt hat und seine Analyse im Horizont eines nicht unproblematischen Postmodernismus ansiedelt, so identifiziert er doch treffend ein Forschungsprogramm: „Die postmoderne Wissenschaft als Erforschung der Instabilitten“ (Lyotard 1993, Kapitel 13). Die nachmoderne Physik – nicht als postmoderne Wissenschaft beliebiger Sprach-, Macht- und Legitimationsspiele verstanden – ist tatschlich eine Physik zur Erforschung von Instabilitten. Es beginnt sich herauszukristallisieren, wie Michel Serres sagt, dass „Schwankungen, Unordnung, Unschrfe und Rauschen […] keine Niederlagen der Vernunft [sind]. [Sie] sind es nicht mehr.“237 Dazu werden im Folgenden einige erkenntnistheoretische und methodologische Details darzustellen sein.
237 Zitiert nach Gamm (1994, 14).
Teil III: Nachmoderne Physik
5. ber Genese und Geltung Wissenschaftstheoretische Erweiterung zur nachmodernen Physik 5.1. Einleitung: Jenseits der Strukturwissenschaften … Was ist noch „Physik“ und was nicht mehr? Ist das, was im Vorangegangenen – in systematischer wie historisch-rekonstruktiver Hinsicht – als Physik nach der klassisch-modernen Physik, als nachmoderne Physik bezeichnet wurde, berhaupt noch „Physik“? Bestreiten werden dies all diejenigen, die die Chaos-, Komplexitts- und Selbstorganisationstheorien als „Strukturwissenschaften“ etikettieren. Strukturwissenschaften, wie sie von Carl Friedrich v. Weizscker (1974, 22 f ) begriffsprgend eingefhrt wurden, sind mathematisch-abstrakte Interdisziplinen,1 beispielsweise die Spieltheorie oder die Kybernetik. Sie liegen jenseits der Physik. Doch fr die Instabilittsthematik – und mit ihr fr die Chaos-, Komplexitts- und Selbstorganisationstheorien – scheint die Charakterisierung als „Strukturwissenschaften“ allein nicht ausreichend zu sein. Denn das, was unzweifelhaft als Physik mit diesen Theorien verbunden ist, bliebe unberhrt. Unthematisierbar wren somit erkenntnistheoretische und methodologische Vernderungen innerhalb der Physik. Das alles zu bersehen, wre – wie gezeigt wird – ein Fehler. Fr diese These – die nachmoderne Physik ist noch Physik – sprechen nicht nur die wissenschaftshistorischen Argumente (wie bereits in Kapitel 4 entdeckungsgeschichtlich belegt), sondern insbesondere wissenschaftstheoretische, -inhaltliche und -programmatische. Diese sollen im Weiteren prsentiert und diskutiert werden. Mit dem Begriff der „nachmodernen Physik“ ist allerdings kein homogener Physik-Typ bezeichnet. „Nachmoderne Physik“ erscheint selbst als plural und fraktal verfasst. So sind einige Spielarten der nachmodernen Physik strker an konkreten Phnomenen der Natur orientiert, an1
Strukturwissenschaften untersuchen „Strukturen in abstracto, [… d. h.] unabhngig davon, welche Dinge diese Strukturen haben, ja ob es berhaupt solche Dinge gibt.“ (Weizscker 1974, 22 f ) Eher verfehlt wre es hier, primr von einer „strukturwissenschaftlichen Revolution“ (Hedrich 1994) zu sprechen.
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5. ber Genese und Geltung
dere hingegen technischer ausgerichtet. Die Objektsysteme sind vielfltig; die Geltungsansprche in unterschiedlichen Kontexten verschieden. Es zeigt sich auf der Ebene des Wissenschaftsverstndnisses etwas hnliches wie auf der des Naturverstndnisses, nmlich eine Pluralisierung.2 Mit diesem Hinweis ist zwar der Rahmen, aber noch keine Richtung und Position gekennzeichnet. Einer Positionszuschreibung kann sich auch der hier verfolgte Ansatz nicht entziehen. Wenn in der „neurophilosophischen“ Diskussion von einem „nichtreduktiven Physikalismus“ gesprochen wird,3 so bleibt dabei zwar sowohl die Frage nach der jeweils mit diesem Physikalismus anvisierten Ebene (Ontologie, Epistemologie, Methodologie) ungeklrt als auch die Zusammenhnge und Unterscheidungsmçglichkeiten der Ebenen. Doch vorsichtig kçnnte die hier vertretene Position – in begrifflicher Anlehnung und jenseits der GeistGehirn-Thematik – als „nichtreduktiver nachmoderner Physikalismus“ apostrophiert werden.4 Allerdings ist der nachmoderne Physikalismus ein anderer als die Spielarten der herkçmmlichen Physikalismen, wie Klaus Mainzer (1996a, 1 f ) (unter anderer Begrifflichkeit) herausstellt: Fr den nachmodernen Physikalismus kann nur die nachmoderne Physik das relevante Bezugssystem sein. Wie zu zeigen sein wird, ist er mehr als eine 2
3 4
Eine Wissenschaftsphilosophie der nachmodernen Physik muss sich in Bescheidenheit ben. Sie kann keine Wissenschaftstheorie im engeren, klassischanalytischen Sinne sein. Sie kann nicht beanspruchen, die nomologische Struktur, die theoretischen Terme, die verwendete Sprache, die Geltungsansprche, die Wissenstypen allgemein erfassen zu kçnnen. Mit dem Wandel des Wissenschaftsverstndnisses der Physik beginnt sich auch das Wissenschaftstheorieverstndnis zu verndern. Eine Wissenschaftsphilosophie der nachmodernen Physik vermag die Diskussionen der letzten 25 Jahre aufzunehmen, insbesondere die These von Cartwright, dass der Zusammenhang der Physik eher als Patchwork und nicht als einheitswissenschaftliche Pyramide zu denken ist (Cartwright 1999). Damit dient die nachmoderne Physik als Katalysator fr „neue Perspektiven […. der] Wissenschaftstheorie“ (Poser 2001, 279). Auch im Angesicht eines derzeitigen „Jahrhunderts der life sciences“ hat sich die Wissenschaftsphilosophie der Physik nicht erbrigt und aufgelçst, wohl aber abgelçst von idealtypisierenden Engfhrungen. Vgl. Beckermann et al. (1992), Roth/Schwegler (1995), Schwegler (2001), Kim (1998), Stephan (1999), allg. Schmidt (2003c). Mit diesem Physikalismustyp soll sich von traditionellen und vieldiskutierten Spielarten des Physikalismus abgesetzt werden, insofern sich diese auf das klassisch-moderne Einheitsprojekt der Physik idealtypisierend beziehen – und meistens auf ontologisch-metaphysischen Setzungen basieren. Statt dessen wird fr einen „Aspektepluralismus“ argumentiert; zum „Aspektedualismus“ im Rahmen der Physik siehe Schwegler (2001, 78 f ).
5.2. Reflexivitt und Anforderungen an „gute“ Gesetze und Modelle
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binnenphilosophische Konstruktion des analytisch Denkmçglichen, das im Horizont der Spielarten des monistischen Materialismus und des Naturalismus (oftmals ontologisierend) zu finden ist. Die zu entfaltende These lautet, dass dem „nachmodernen Physikalismus“ die geltungsrelativierte und extensionserweiterte Physik zugrunde liegt. Die nachmoderne Physik wird im Folgenden als eine modelltheoretisch und modellpraktisch orientierte interdisziplinre Methoden- und Modellierungswissenschaft verstanden, die trotz ihrer Heterogenitt durch die und in den Instabilitten einen nomologischen Kern aufweist. Es wird gezeigt, dass die Bedingungen der Mçglichkeit von mathematischer Naturwissenschaft innerphysikalisch zum Thema werden. Dargelegt werden zunchst wissenschaftstheoretisch-methodologische Aspekte (Reflexivitt, dann: Qualitative Prfung, Modell-Erklrung, Schattenberechnung, Computerexperimentalitt) (Kapitel 5), welche sich an den vier Merkmalen der klassisch-modernen Physik orientieren (vgl. Kapitel 2 und 3). Im Anschluss daran (Kapitel 6) werden Facetten der Theorieinhalte und des Naturverstndnisses – Selbstorganisation/Emergenz mit Zeit/Prozessualitt/Produktivitt sowie Zufall/Kausalitt – diskutiert. Schließlich wird der Zugang zu Natur und Technik erçrtert, das leitende Erkenntnisinteresse reflektiert und die jeweiligen Objektsysteme in ihrer Gegenstandsextension gekennzeichnet (Kapitel 7). – Mit dieser Dreiteilung wird auch deutlich, dass ein Verstndnis der Disziplin „Physik“ sich aus entsprechenden Merkmalen zusammensetzt: Methoden der Erkenntnisgenese und des Geltungsausweises (Kapitel 5), Theorieinhalte und Naturverstndnis (Kapitel 6) und Zugangsinteressen und Gegenstandsfelder (Kapitel 7).
5.2. Reflexivitt und Anforderungen an „gute“ Gesetze und Modelle Schon in der Thematisierung von Instabilitten innerhalb der Physik zeigte sich eine Reflexivitt (Kapitel 3 und 4): die Reflexion ber die Bedingung der Mçglichkeit nomologischer Naturerkenntnis. Instabilitten haben seit Ende der 1960er Jahre Physiker verstrkt herausgefordert, ihre Hintergrundberzeugungen und Annahmen ber typische Verhaltensweisen (von Modellen und von physikalischen Ob-
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5. ber Genese und Geltung
jektsystemen) zu explizieren und zu modifizieren.5 So ist heute die Diskussion ber methodologische Grundlagen selbst ein Teil der Physik.6 Reflektiert und revidiert werden Gesetzes- und Modellanforderungen (als Bedingung der Mçglichkeit von Modellbildungen und Modelltests), Modellbildungsschritte (als Modellgenese und -konstruktion) und Modelltests (als Modellgeltung und -validierung).7 Lyotard sprach davon, dass sich in der „Wissenschaft als Erforschung der Instabilitten“ eine „Immanenz des Diskurses ber die Regeln, die seine Gltigkeit ausmachen“, findet (Lyotard 1986, 159). Im Zentrum der wissenschaftstheoretischen Diskussion innerhalb der nachmodernen Physik finden sich Begriffe wie „Stabilitt“, „Generizitt“ und „Prvalenz“. Insbesondere wird gefragt: Welche Anforderungen sind an Kandidaten fr „gute“ Modelle und Gesetze zu stellen? Welche Eigenschaften und Phnomene physikalischer Objektsysteme sind zugnglich und in Modellen reprsentierbar? Aspekte dieser wissenschaftstheoretischen Diskussion werden im Folgenden dargelegt. Es wird dabei zunchst um die strukturelle Instabilitt gehen, also die Instabilitt der Modelle und Gesetze selbst. War die dynamische Instabilitt sptestens seit den Zeiten Birkhoffs weitgehend anerkannt, blieb dies fr die strukturelle Instabilitt aus. Je nher man dem nomologischen Kern der klassisch-modernen Physik kommt und je grundlegender das Selbstverstndnis berhrt ist, desto wirkmchtiger scheint die implizite klassischmoderne Stabilittsannahme hervorzutreten. In der Physik, die hier als „nachmodern“ bezeichnet wird, wird aus mathematisch-mengentheoretischer Perspektive (Menge, Umgebung, Dicht5 6
7
Beispielsweise bei Gutzwiller (1990, 2): „Chaos is not only here to stay, but will challenge many of our assumptions about the typical behavior of dynamical systems.“ Unter ihnen beispielhaft sind Beckmann (1997), Ruelle (1989, 45 f ), Ott (1993, 42/127), Sauer, Yorke und Casdagli (1991, 584), Shub (1987), Thom (1975, 21 f ) und Wiggins (1988, 58 f; 1990, 94). Weitere Beispiele ließen sich anfgen. Vorlufer waren Smale (1966) und Peixoto (1962). Jackson (1989) diskutiert in seinem Lehrbuch „Perspectives of Nonlinear Dynamics“ modelltheoretische Probleme wie strukturelle Stabilitt vor dem Hintergrund der physikalischen Endlichkeit von Raum und Zeit (versus mathematischer Unendlichkeit), der Berechenbarkeit, der Modellierbarkeit, u. a. So gilt nicht mehr allgemein, was Grunwald (2000, 59 f ) beklagt: „Was im Modellieren tatschlich passiert und vor allem, welche Gelingens- und Erfolgsbedingungen gute Modelle von schlechten unterscheiden, ist kaum wissenschaftstheoretisch reflektiert.“
5.2. Reflexivitt und Anforderungen an „gute“ Gesetze und Modelle
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heit) diskutiert, ob und in welcher Hinsicht ein gegebenes oder gebildetes Modell (Gesetz), welches durch seine Dynamik gekennzeichnet ist,8 typisch ist fr die Modellklasse und damit generisch auf dem Raum der Modelle, aus der es stammt.9 Als Frage formuliert: Ist dieses Modell ein guter Reprsentant fr alle Modelle einer Modellklasse und damit ein guter Kandidat zur Darstellung empirischer Phnomene?10 Die Modellklasse ist pragmatisch durch gewisse, jeweils durch Konventionen festzulegende (Familien-) hnlichkeitsbeziehungen (als Klasse) gekennzeichnet.11 Fr den Ausweis der modellmethodologischen Reflexion ist der Begriff der typischen oder generischen Eigenschaft zu spezifizieren, zunchst ohne auf Stabilitt und Instabilitt Bezug zu nehmen. – Zunchst wre es plausibel, ein spezielles Modell als typisch zu bezeichnen, wenn dieses im formalen Sinne dicht in der Menge der Modelle und damit dicht in der Modellklasse liegt. Dicht heißt im mathematischen Sinne, dass es in jeder Umgebung eines jeden Elements der Menge wieder ein Element der Menge gibt: In unmittelbarer Nachbarschaft unseres speziellen Modells wrde damit wieder ein Modell liegen, das die von uns favorisierte Eigenschaft aufweist. – Dichtheit ist jedoch leider nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung: das modelltheoretische Problem wurzelt darin, dass auch das Komplement einer dichten Menge dicht sein kann.12 Somit bençtigt man, um den Begriff der generischen Eigenschaft sinnvoll festzulegen, zur Dichtheit eine zustzliche Forderung. Diese soll ausschließen, dass in unmittelbarer Nachbarschaft des speziellen Modells andere Modelle liegen, die die favorisierte Eigenschaft nicht aufweisen. Hier kann die zustzliche Forderung der offenen Menge Abhilfe schaffen. Fr offene Mengen existieren Umgebungen mit Modellen, welche die
8 Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass ein Modell- bzw. Gesetzesverstndnis, was sich allein auf den Gesetzeskorpus und einzelne Anfangs- und Randbedingungen bezieht (wie das HO-Verstndnis), zu kurz greift. 9 „Typisch“ und „generisch“ werden quivalent verwendet. 10 Dies wird ebenfalls diskutiert von Wiggins (1988, 60), Wiggins (1990, 99), Ruelle (1989, 44). 11 Die Modelle einer Klasse weisen beispielsweise dieselbe Gleichungsstruktur auf, lediglich in einem einzelnen Parameterwert fr die Randbedingungen unterscheiden sie sich. 12 Beispielsweise sind sowohl die rationalen als auch die irrationalen Zahlen dicht auf den reellen Zahlen.
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5. ber Genese und Geltung
von uns favorisierte Eigenschaft besitzen.13 Zusammenfassend kann eine typische oder generische Eigenschaft als eine solche charakterisiert werden, die auf offenen dichten Mengen vorliegt. Wenn also ein spezielles Modell bezogen auf eine Eigenschaft generisch genannt wird, so heißt das, dass die betrachtete Eigenschaft auch von sehr vielen anderen Modellen in der Modellklasse erzeugt wird, nmlich von solchen, die offen und dicht im Raum der Modelle liegen.14 Vor diesem Hintergrund der Generizitt wurde von Physikern und Mathematikern – zunchst noch ganz im Rahmen der klassisch-modernen Stabilittsannahme – gefragt, ob etwa strukturelle Stabilitt eine generische Eigenschaft ist. Diese Hoffnung konnte in den 1960er Jahren gesttzt werden durch die Tatsache, dass fr zweidimensionale zeitkontinuierliche Modellsysteme einfache Bedingungen fr strukturelle Stabilitt formuliert werden konnten (Peixoto 1962). So ist fr diese Modellsysteme strukturelle Stabilitt eine generische Eigenschaft. In zwei Dimensionen kann aus dynamischer Perspektive auch nicht viel geschehen; es kann keine dynamische Instabilitt im Sinne des regelbehafteten Chaos auftreten. Doch zeigte sich schließlich, dass strukturelle Stabilitt fr hçherdimensionale Modellsysteme keine generische Eigenschaft ist (Smale 1966).15 Das vermuteten bereits Duhem und Andronov. Wie bei ihnen schon angedeutet, kçnnte man das negative Resultat Smales durch eine normative Forderung zu ersetzen versuchen: Wenn man am Konzept der strukturellen Stabilitt festhalten mçchte, so ist dieses einzufordern. Denn Physik kçnne nur dort sein, wo strukturelle Stabilitt ist. Generizitt ist dann zu verschrfen. Man braucht eine eingrenzende Forderung, die ausschließt, dass in der Nhe eines Elements der ausgezeichneten Menge, die die Modelle mit der favorisierten Eigenschaft enthlt, solche Elemente liegen, die diese Eigenschaft nicht besitzen. Die verschrfte 13 Die Forderung nach Offenheit ist allgemein fr Eigenschaften von Bedeutung. Fr die Eigenschaft der strukturellen Stabilitt wre sie nicht explizit zu fordern, weil hier schon der Umgebungsbegriff mit gegeben ist. 14 Die przise Definition einer generischen Eigenschaft verwendet das so genannte residual set, d. h. ein Schnitt offener dichter Mengen (Ruelle 1989). Hamiltonsche Systeme sind beispielsweise in der Menge der dynamischen Systeme (Modellklasse) nicht generisch. Durch kleinste Vernderungen erhlt man dissipative Systeme. Diese sind nicht (Familien-) hnlich (topologisch quivalent oder konjugiert) zu Hamilton’schen Systemen, was u. a. daran zu erkennen ist, dass letztere i.A. nicht attraktiv sind, also keine Attraktoren besitzen. 15 Rckblickend stellt Wiggins (1990, 100) fest: „Unfortunately, we do not have a similar theorem in higher dimensions.“
5.2. Reflexivitt und Anforderungen an „gute“ Gesetze und Modelle
231
Forderung lautet dann: Ein mathematisches Modell ist genau dann ein „guter“ Kandidat fr ein Modell ber physikalische Phnomene, wenn es generisch strukturell stabil ist. Jenseits der Frage nach Stabilitt oder Instabilitt schien alsbald offensichtlich, dass der mengentheoretische Zugang (Menge, Umgebung, Dichtheit) nicht hinreichend ist. Vielmehr bedarf es fr empirische, d. h. messende Naturwissenschaften eines maßtheoretischen Zugangs, denn Mengen und Umgebungen sind als solche empirisch nicht zugnglich. So wurde gefragt: Ist eine generische Eigenschaft auch „vorherrschend“, „wahrscheinlich“, also „in der Regel wahr“? Spezieller: Ist generische strukturelle Stabilitt eine vorherrschende Eigenschaft? Eine Eigenschaft ist genau dann als vorherrschend anzusehen, wenn das Komplement der Menge, auf welcher diese Eigenschaft vorliegt, bezogen auf die Modellklasse vom Maß Null ist. Die Antwort auf diese Frage fiel ebenfalls negativ aus: Eine generische Eigenschaft ist im Allgemeinen nicht notwendigerweise eine vorherrschende; insbesondere ist generische strukturelle Stabilitt nicht notwendigerweise wahrscheinlich. Beispielsweise gibt es dichte offene Mengen mit einer generischen Eigenschaft auf dem Einheitsintervall, welche ein verschwindendes (Lebesgue-) Maß besitzen.16 Umgekehrt existieren nirgends dichte Mengen, so genannte Cantor-Mengen,17 die zwar aus isolierten Punkten bestehen, aber fett sind: Fette Cantor-Mengen besitzen ein positives Lebesgue-Maß; sie sind damit empirisch, also durch Messungen zugnglich (vgl. Jackson 1989, 65/ 168). Generische Eigenschaften sind folglich nicht hinreichend fr eine empirische Relevanz. Will man diese sicherstellen, ist die Forderung der generischen Eigenschaft maßtheoretisch zu verschrfen, indem man zudem fordert, dass diese vorherrschend ist. Eine vorherrschende Eigenschaft nennt man auch prvalent. Eine prvalente Eigenschaft ist allgemein eine solche, die auf einer Menge vorliegt, deren Komplement eine Nullmenge ist, also eine Menge vom Lebesgue-Maß Null. Von prvalenter struktureller Stabilitt spricht man, wenn strukturelle Stabilitt auf einer Menge existiert, deren Komplement ein verschwindendes Maß 16 Das Lebesgue-Maß gilt als ein physikalisch-empirisch relevantes Maß, vgl. Ruelle (1989, 45), Guckenheimer/Holmes (1983, 258), Sauer et al. (1991, 584). Das Lebesgue-Maß ist aus mathematischer Perspektive nicht kanonisch gegeben, sondern muss explizit gewhlt werden (Ruelle 1989, 44). 17 Eine Cantormenge ist eine abgeschlossene, total unzusammenhngende, perfekte Menge, vgl. Devaney (1989).
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5. ber Genese und Geltung
besitzt. Prvalente generische strukturelle Stabilitt heißt, dass die Eigenschaft der strukturellen Stabilitt sowohl generisch als auch prvalent ist. Diese Eigenschaft ist genau das, was der klassisch-moderne Physiker von Modellen und Gesetzen fordert: Es soll in seinem physikalischen Zugang zur Natur nicht so genau auf Details bei der mathematischen Modellierung ankommen; Stçrungen sollen mit einkalkuliert werden.18 Obige methodologische Forderungen an Modelle physikalischer Phnomene (etwa prvalente strukturelle Stabilitt) spielen sich im idealtypischen mathematischen Rahmen ab, ohne auf konkrete physikalische Phnomene, auf physikalische Objektsysteme und deren Eigenschaften, i.w.S. ohne auf „Natur“ Bezug zu nehmen, also um Methodologie ohne Wirklichkeitsbezug. Dieser Zugang wird durch die Entdeckung der Instabilitten in der Natur problematisch: Die Forderungen an ein mathematisches Modell sollten dem, was man an physikalischen Phnomenen finden kann und dort erkennt, zumindest nicht widersprechen. So sind heute dynamische und strukturelle Instabilitten in physikalischen Objektsystemen innerhalb der scientific community der nachmodernen 18 In den 1970er und 1980er Jahren wurde anhand der logistischen Abbildung gezeigt, dass es strukturell instabile Systeme gibt, welche auf nichtleeren offenen Mengen instabil bleiben unter kleinen Stçrungen (Ruelle 1989, 43). Diese strukturell instabilen Systeme verndern dabei kontinuierlich ihre topologische quivalenzklasse. Beispiele hierzu sind neben der logistischen Abbildung etwa die Hnon-Abbildung, der Bouncing-Ball und der getriebene Duffing-Oszillator (Guckenheimer/Holmes 1983, 267). Die logistische Abbildung ist gegeben durch: xn+1 = l·xn·(1 – xn) mit Kontrollparameter l (Ott 1993, 42/127). Wir betrachten die Vernderung von l auf dem Intervall [l1, 4], wobei mit l1 blicherweise derjenige Parameterwert bezeichnet wird, an dem das (Feigenbaum-) Periodenverdopplungsszenario durchfahren ist und unendlich viele periodische Orbits vorliegen. Die Teilintervalle, deren l-Werte stabile periodische Attraktoren generieren, liegen dicht im Intervall [l1, 4]; Periodizitt ist damit eine generische Eigenschaft. Fr die chaotischen Attraktoren im Intervall [l1, 4] bleibt folglich im mengentheoretischen Sinne kaum noch Raum. Die l-Werte der chaotischen Attraktoren liegen isoliert (Jackson 1989, 168). Somit sind diese Attraktoren strukturell instabil: Kleinste Vernderungen kçnnen sie zerstçren. Neben der Existenz von Attraktoren, die nicht strukturell stabil sind, tritt bei der logistischen Abbildung eine weitere Eigenschaft auf, welche u. a. auch den Begriff der Prvalenz illustriert. Die isolierten, strukturell instabilen chaotischen Attraktoren haben ein positives, nicht zu vernachlssigendes Lebesgue-Maß; Periodizitt ist folglich keine prvalente Eigenschaft, obwohl sie generisch ist: Wenn man aus der Parametermenge im Intervall [l1, 4] einen Parameter l zufllig auswhlt, ist die Wahrscheinlichkeit, ein chaotisches l gewhlt zu haben, ungleich Null (Ott 1993, 42; Jackson 1989, 168). Somit ist das Komplement jener Menge, die stabile periodische Orbits generiert, keine Nullmenge.
5.3. Qualitative Prfungen und Kontexttests
233
Physiker weitgehend akzeptiert (Kapitel 4 sowie Kapitel 5 – 7). Es gibt dynamisch und strukturell instabile Modelle, welche heute als „realistische Modelle fr korrespondierende physikalische Systeme“ angesehen werden (Guckenheimer/Holmes 1983, 259). So wurde unter Hinweis auf empirisch-physikalische Phnomene herausgestellt, dass die „Logik“, welche „durch die Stabilittsannahme“ getragen wurde, „falsch war“ (ebd.). Ein wesentlicher methodologischer Ausweg lag nun fr die Physik darin, bescheidener zu sein und nicht mehr auf strukturelle Stabilitt zu fokussieren, sondern auf kontextuelle Eigenschaften, also solche Eigenschaften, die fr eine bestimmte Problemstellung gerade angemessen erscheinen und die dann aber auch generisch bzw. prvalent sein sollten. Damit deutet sich eine Abkehr von Universalismen der klassisch-modernen Physik an und eine Zuwendung zu kontextspezifischen Modellierungen. Die nachmoderne Physik wird im Folgenden – ber die Reflexivitt hinaus – wissenschaftsphilosophisch charakterisiert. Ganz hnlich wie bei der Kennzeichnung (Kapitel 2) und der Problematisierung (Kapitel 3 und 4) der klassisch-modernen Physik werden dazu Merkmale der Prfung, der Reduzierbarkeit/Erklrbarkeit, der Prognostizierbarkeit und der Reproduzierbarkeit herausgestellt. In jedem dieser Merkmale zeigt sich eine gegenber der klassisch-modernen Physik anders akzentuierte Verstndnisweise von Physik.
5.3. Qualitative Prfungen und Kontexttests Zum Begriff des Kontexts Lag und liegt das Erkenntnisziel der klassisch-modernen Physik – ihrem Anspruch nach – in einer vereinheitlichten fundamentalen Theorie,19 so gilt das fr die nachmoderne Physik nicht mehr. Der Geltungsanspruch der nachmodernen Physik ist nicht universalistisch, sondern kontextualistisch. Unter „Kontext“ wird hier zunchst eine bereichsspezifische Geltung eines Modells (Gesetz, Theorie) verstanden.20 Ein Modell kann in einem 19 Cartwright (1999) spricht von einem „universalistischen Fundamentalismus“. 20 Zur systematischen Entwicklung des Begriffs „Kontext“ siehe Schiemann (2005).
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5. ber Genese und Geltung
speziellen Gegenstandsfeld als gltig ausgewiesen sein, in einem anderen ist die Geltung nicht erwiesen, fragwrdig oder sogar ausgeschlossen. Kontexte kçnnen auch durch materielle Grenzsetzungen und Bereichsabtrennungen konstruiert sein, etwa durch handelnd hergestellte Laborgrenzen (Schmidt 2004c). Obwohl die meisten Resultate der klassischmodernen Physik im Kontext des Labors gewonnen wurden, wird angenommen, dass sie auch auf die Natur jenseits des Labors bertragen und verallgemeinert werden kçnnen. Denn als „Natur“ wird das verstanden, was als Gesetzmßigkeit mçglich – und damit was im Labor technisch prparierbar – ist. Das ist kein Kontextualismus, sondern das Gegenteil, ein durch Entkontextualisierung gewonnener Universalismus. In einer extremen Spielart geht der Kontextualismus von Bereichs-Naturen oder gar von einem Schichtenmodell der Natur aus. In den jeweiligen Bereichen oder Schichten gelten unterschiedliche Gesetzmßigkeiten, weil Natur unterschiedlich ist. Schwchere Spielarten beziehen sich weniger auf die Gegenstandsseite als auf unser Wissen und unsere Erkenntnis oder auch auf Methoden und Zugnge. Entscheidend fr den Kontextualismus ist der Begriff einer Grenze, durch welche zwei Bereiche differenziert und abgetrennt werden.21 Ein naturphilosophisches Schichtenmodell oder regionale Ontologien sollen fr die folgenden Ausfhrungen nicht (voraus-) gesetzt werden, obwohl seit Nicolai Hartmann und Edmund Husserl hierfr gute naturphilosophische, transzendental-phnomenologische sowie im Rahmen der physikalischen und auch der interdisziplinren Reduktionismusproblematik gute wissenschaftstheoretische Argumente vorgebracht werden kçnnen (Schmidt 2003c). Mit den hier zunchst bevorzugten schwcheren Spielarten wird keine ontologische Verstndnisweise vorausgesetzt; sie ist fr die Argumentation nicht notwendig. Formal kann Kontextualitt als Bereichsspezifizitt verstanden werden und somit als eine Art „Definitionsgebiet“ einer mathematischen Funktion oder eines Modells. Die Bereichsspezifizitt wird etwa durch ceteris paribus-Klauseln festgelegt.22 Die „gescheckte Welt“, von der Nancy Cartwright (1999) spricht und auf die im Folgenden Bezug genommen wird, ist weniger in starker Hinsicht, also 21 Zur Explikation des Begriffs „Grenze“ in ontologischer, epistemologischer, methodologischer und operationaler Hinsicht siehe Schmidt (2004c, 214 ff ). 22 Bei Aussagen ist das einsichtig. Eine universelle Aussage ist: „Es sind 15 Grad Celsius“, eine kontextuelle hingegen: „Es sind 15 Grad Celsius in meinem Zimmer.“ Weitere Spezifizierungen bzw. „Kontextualisierungen“ sind mçglich. „Es sind 15 Grad Celsius in meinem Zimmer im Dezember 2007.“ usw.
5.3. Qualitative Prfungen und Kontexttests
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nicht ontologisch zu verstehen, sondern bezieht sich auf das Wissen von Wirklichkeit. Zu unterscheiden von der bereichsspezifischen Geltung ist die perspektivenabhngige. Bezog sich erstere auf unterschiedliche Bereiche von Wirklichkeit oder unterschiedliche Objektsysteme, so betrifft die Perspektivenabhngigkeit ein Objektsystem. Demnach sind es die Zugnge, Fragestellungen, Perspektiven und Blickwinkel, die den Erkenntnisprozess und die Geltung des gewonnenen Wissens vorprgen. Ein physikalisches Objektsystem ist nicht als Ganzes universell zu beschreiben, sondern nur in Aspekten, bezogen auf jeweilige Merkmale.23 Dass allerdings Bereichsspezifitt und Perspektivitt verwandt und mitunter nicht zu trennen sind, sollte nicht verwundern. Schließlich lsst sich selten sagen, ob es sich um ein Objektsystem oder um mehrere handelt – und auch nicht, ob und wie Objektsysteme jenseits der jeweiligen Merkmale als existent auszuweisen sind. Der doppelte Kontextualismus – Bereichsspezifitt und Perspektivitt – tritt als Folge der Prfbarkeitsproblematik instabiler Modellsysteme auf. Eine universelle Prfmçglichkeit zum Geltungsausweis von Modellen wird durch Instabilitten verhindert.24 Doch gibt es bei diesen eingeschrnkte Mçglichkeiten unter Verwendung von bereichsspezifischen und perspektivenabhngigen (Komplexitts-) Kenngrçßen. Das soll nun gezeigt werden. Messender Zugang: Nichtlineare Zeitreihenanalyse und die Gesamtheiten Jede Prfung setzt einen Vergleich von Modell einerseits und physikalischem Objektsystem der empirischen Wirklichkeit andererseits voraus, und schließlich die jeweilige Bewertung des Vergleichs.25 Bei Instabilit23 In der „neurophilosophischen“ Diskussion wurde hierfr der Begriff des Aspektedualismus eingefhrt. Ein und dasselbe Objektsystem erscheint je nach Betrachungsweise jeweils anders. In unserem Zusammenhang wre weitergehend von einem Aspektepluralismus zu sprechen. 24 So meinen Rueger und Sharp (1996, 103): „If we test a theory in this [traditional universalistic] way, we will not find a precise quantitative fit, and this is to be expected if the theory is true of the system.“ 25 Es wird ein minimaler Realismus unterstellt, insofern dem physikalischen Objektsystem eine gewisse, vom messenden Menschen weitgehend unabhngige Existenz zugeschrieben wird.
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5. ber Genese und Geltung
ten kann eine Prfung nicht derart erfolgen, dass ein Verlauf des Modells mit einem Verlauf des Objektsystems unter klassisch-moderner statistischer Fehleranalyse verglichen wird; kein einzelner Verlauf des physikalischen Objektsystems – dargestellt in einer Zeitreihe – kann mit dem des Modells Punkt fr Punkt verglichen werden. Es bedarf einer modifizierten Methode. Diese basiert auf der Nichtlinearen Zeitreihen- bzw. Datenanalyse, wie sie von Floris Takens und anderen in den 1980er Jahren entwickelt wurde (Takens 1980; Takens 1985; Sauer et al. 1991; Abarbanel 1996). Die Nichtlineare Zeitreihenanalyse (Abb. 5 – 1) ist grundlegend fr die nachmoderne Physik. Sie stellt eine Methode dar, die zur Mçglichkeit eines Vergleichs der Dynamik von Modell und Objektsystem durch Konstruktion von so genannten (Komplexitts-) Kenngrçßen beitrgt. Das sind Grçßen, mit deren Hilfe ein physikalisches System charakterisiert werden kann. Von Charakterisierung wird gesprochen, insofern Kenngrçßen keine universellen Maßgrçßen darstellen, sondern jeweils ein bereichsspezifisches und perspektivenabhngiges Merkmal aus einer Menge mçglicher Merkmale.26 Dass Kenngrçßen in jenem neueren Teil der Physik, der nachmodernen Physik, eine Rolle spielen, obwohl und weil hier unzugngliche (Kausal-) Gesetzmßigkeiten unterstellt werden, ist ein Novum.27 Konnte noch in der Statistischen Thermodynamik das pragmatische Argument verwendet werden, dass die hohe Anzahl der Teilchen eine nichtstatistische Handhabung lediglich aus Ressourcengrnden erschwere, so wird das Argument hier ein prinzipielles. Es kommt ohne Rekurs auf die Hochdimensionalitt eines Vielteilchensystems aus. Selbst bei niedrigdimensionalen und deterministischen Objektsystemen werden Kenngrçßen notwendig. Das ist eine Folge von Instabilitten. Obwohl Kenngrçßen zunchst als mathematische Grçßen Quantitten darstellen mçgen, wird zu Recht von „Qualitten“ gesprochen. Denn es handelt sich um globale topologische (und teilweise um metrische sowie informationstheoretische) Eigenschaften des Systems. Insofern die Topologie28 als mathematische Spezialdisziplin involviert ist, 26 Unendlich viele Kenngrçßen koexistieren (s.u.). 27 Das ist eine Variation des genannten Hypothetizittsarguments: Um wieviel mehr gilt dies, wenn nicht die vereinfachte Unterstellung vorgenommen wird. 28 Zur Topologie allg. Brçcker/Jnich (1990) und Boltjanskij/Efremovic (1986). Die (Differenzial-) Topologie kann als verallgemeinerte Geometrie verstanden werden (vgl. Pechenkin 1992, 197).
5.3. Qualitative Prfungen und Kontexttests
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Abb. 5 – 1: Illustration der Nichtlinearen Zeitreihenanalyse (Takens-RekonstruktionsTheorem). Die qualitative Struktur des unbekannten dynamisch-instabilen (chaotischen) Originalattraktors lsst sich (topologisch-qualitativ) im euklidischen Einbettungsraum durch die Kenntnis einer einzigen Zeitreihe rekonstruieren. Leitende Idee ist, dass sich Trajektorien nicht schneiden drfen.
spricht man auch von einem „qualitativen Zugang“, von einer „qualitativen Theorie der Differenzialgleichungen“, einer „qualitativen Dynamik“ oder – populrer – von einer „Gummimathematik“.29 Nicht quantitative Abstnde von einzelnen Ereignissen oder Zustnden sind relevant, sondern die qualitative Struktur des Raumes und ihre potenziellen Bewegungsgesamtheiten auf Mannigfaltigkeiten („Fluss“) werden in der Topologie zum Thema.30
29 Etwa bei Briggs/Peat (1993, 118). Und Thom (1975, 6/331) stellt das „Qualitative“ in den Mittelpunkt: „We can now present qualitative results in a rigorous way, thanks to recent progress in topology and differential analysis.“ hnliche Formulierungen finden sich bei Birkhoff (1927, 189), wenn er auf „qualitative determination of all possible types of motions“ hinweist. Der Begriff der „Gummimathematik“ ist insofern plausibel, als Verformungen, d. h. Streckungen und Stauchungen, fr die Topologie irrelevant sind, whrend sie fr einen geometrischen und insbesondere messenden (d. h. metrischen) Zugang und auch fr informationstheoretische Zugnge durchaus Bedeutung haben. Gerade zwischen den zwei Hauptlinien der Zugnge, Topologie versus Informationstheorie, liegt eine bis heute andauernde Konkurrenz um adquate und relevante Kenngrçßen vor. 30 Nachmoderne Physik und insbesondere die „chaos theory is the qualitative study of unstable aperiodic behavior.“ (Kellert 1994, 2)
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5. ber Genese und Geltung
Aus einer einzigen Zeitreihe kann – das sichert die Nichtlineare Zeitreihenanalyse mit dem ihr zugrunde liegenden Takens-Theorem31 – die qualitative Struktur des mathematischen Zustandsraumes aller potenziellen Systemdynamiken sowie der realisierten Systemdynamik fr große Zeiten rekonstruiert werden (Abb. 5 – 1), ohne dass spezifische Abstnde und Quantitten gewonnen werden mssen. Die Zeitreihe ist dazu geschickt in den mathematischen Darstellungsraum, den Zustandsraum, einzubetten („Embedology“; Sauer et al. 1991). Man spricht von „Rekonstruktion des Zustandsraums“ mit der durch ihn dargestellten Dynamik, weil man kein physikalisches Gesetz und keine synthetisch generierten Modelldaten unterstellt hat, sondern direkt von den Beobachtungsdaten einer gemessenen Zeitreihe ausgeht.32 Physikalisches Wissen ber das Objektsystem, etwa ber Krfte, Energien, Massen und deren Zusammenhnge, ist nicht verwendet worden – und ist auch nicht nçtig. Man wird fragen, wie es mçglich ist, dass eine einzige Zeitreihe alle qualitativen Informationen ber andere, potenziell mçgliche Zeitent31 Dieses wurde von Takens (1980; 1985) entwickelt und sttzt sich auf Vorarbeiten von Whitney (1936). Sauer et al. (1991) haben Erweiterungen und Przisierungen vorgenommen. 32 Allgemeiner wird von der „Rekonstruktion der Zustandsmannigfaltigkeit“ bzw. des „Attraktors“ gesprochen. Entscheidend fr die Rekonstruktion und die Einbettung der Zeitreihe in den Zustandsraum ist, dass die topologische Struktur des (nur ber die Messung zugnglichen Original-) Attraktors in einem euklidischen Einbettungsraum dargestellt wird (Sauer et al. 1991). – Technisch heißt das, es werden aus der Zeitreihe so genannte Zeitverzçgerungsvektoren („time delay vectors“) entwickelt. Diese Vektoren besitzen als Eintrge die gemessenen Daten der Zeitreihe. Sie werden dann im rekonstruierten Zustandsraum, dem Einbettungsraum, aufgetragen. Grundlegend ist zunchst allerdings die positiv ausweisbare Regularitts- bzw. Determinismusannahme („Surrogat-Zeitreihenanalyse“, Theiler et al. 1992) und die damit einhergehende Voraussetzung der Existenz und Eindeutigkeit der Orbits des zu rekonstruierenden Attraktors. Die Orbits mssen derart in den rekonstruierten Zustandsraum eingebettet werden (kçnnen), dass sie sich nicht schneiden (Takens 1985; Sauer et al. 1991). ber das Verfahren der „Falschen Nchsten Nachbarn“ kann die dafr notwendige Einbettungsdimension des Attraktors aus der Zeitreihe heraus bestimmt werden. Die Einbettungsdimension sagt etwas aus ber die unabhngigen, aber unzugnglichen Zustandsgrçßen der Gesamtdynamik (Liebert/Schuster 1989; Liebert et al. 1991; Buzug 1994; Abarbanel 1996). Nach dem Einbettungstheorem und den Stzen zu Untermannigfaltigkeiten (Whitney 1936) gibt es hierfr adquate mathematische Kriterien zur Dimensionsbestimmung, die allerdings in der Praxis der Zeitreihenanalyse nicht selten zu praktischen Problemen fhren (Abarbanel 1996).
5.3. Qualitative Prfungen und Kontexttests
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wicklungen und mithin ber das Gesamtsystem in sich tragen kann. Das, was sich fr die Prfbarkeit in der klassisch-modernen Physik als unumgehbares Hindernis herausgestellt hat, nmlich die Instabilitten, kehrt sich hier produktiv um: Es sind gerade die Instabilitten, die eine Prfung ermçglichen, nicht eine klassisch-moderne quantitative, sondern eine qualitative Prfung.33 Die Pointe der Zustandsraumrekonstruktion liegt darin, dass in chaotischen Attraktoren der dynamisch-instabile Orbit mit sich selbst verflochten und auf sich zurckgefaltet ist. Kein einzelner Systemzustand, kein Punkt im Zustandsraum und kein Orbit liegt isoliert. Dies zeigt sich in der Wollknuel-hnlichen Struktur des dynamisch-instabilen chaotischen Attraktors. Ein verschlungener Durchmischungsprozess liegt vor.34 Jede Umgebung eines beliebigen Punktes des Attraktors wird nach endlicher Zeit wieder erreicht. Diese approximative Wiederkehr fhrt dazu, dass jede einzelne Messreihe qualitative Informationen ber das Ganze enthlt. Diese sind hinreichend invariant, whrend die Details dynamisch und strukturell instabil sind und als Quantitten unzugnglich bleiben. Kenngrçßen, Konventionen, Kontexttests Mit der Nichtlinearen Zeitreihenanalyse wurde vorausgesetzt, dass die Zeitreihe des realen Objektsystems bereits als gegeben vorliegt: erst die Zeitreihe, dann die Prfung eines Modells; anders gesagt: um erkennen und prfen zu kçnnen, muss man geschehen lassen. Die Phnomene sind somit nicht vorwegnehmbar und hintergehbar. Prfen heißt hier nicht: punktweises (quantitatives) Vergleichen von Mess- und Modellwerten, sondern allgemein (qualitativ) von Kenngrçßen. Beobachtete und berechnete Daten zeigen zwar keine quantitativen, wohl aber qualitative Gemeinsamkeiten von Kenngrçßen.35 Einmal werden Kenngrçßen vom physikalischen Objektsystem (empirisch beobachtend) gewonnen, ein anderes Mal vom mathematischen Modell (synthetisch numerisch). 33 Mit anderen Worten: „In the terminology of the semantic view [of theories], chaos theory [and late modern physics] include […] theoretical hypotheses that assert relationships of qualitative (or topological) similarity between its abstract models and the actual systems it studies.“ (Kellert 1994, 102) 34 Prziser wird dies als topologische Transitivitt und – unter bestimmten Voraussetzungen – als Ergodizitt bezeichnet. 35 Rueger/Sharp (1996, 103) stellen heraus: „Calculated and observed data differ quantitatively but show qualitative agreement.“
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5. ber Genese und Geltung
Hat der Physiker nun ein Modell als Kandidaten zur Beschreibung eines speziellen physikalischen Objektsystems konstruiert, ist zu prfen, ob dieses Modell ein gutes Modell fr die Beschreibung seines Objektsystems ist. Oftmals wird das Modell die Struktur eines Differenzialgleichungssystems aufweisen. Ein nichtlineares Differenzialgleichungssystem kann als solches direkt jedoch schwerlich zu einer Prfung herangezogen werden: Es muss selbst erst zugnglich gemacht werden. Eine mathematisch-numerische Lçsung ist herzustellen, konkrete Dynamiken sind zu berechnen und Kenngrçßen sind zu bestimmen.36 Die nackte Differenzialgleichung ist weder fr eine Prfung noch fr eine Prognose oder Erklrung hinreichend. Phnomene mssen erst erzeugt und aus dem Modell mssen Kenngrçßen erst bestimmt werden. Kenngrçßen sind meist in der Zeit, evolutionr gewonnene Grçßen; sie werden whrend oder nach der zeitlichen Entwicklung des Modells bestimmt. Damit stehen sie eher auf Seiten der Phnomene als auf Seiten der nomologischen Struktur des Modells bzw. der Differenzialgleichung. Doch Kenngrçßen liegen nicht kanonisch in der Natur der Sache. Sie werden konstruiert und festgelegt; sie stellen kontingente Konventionen dar. Es lsst sich kein eineindeutiges Argument fr die eine und gegen eine andere Kenngrçße vorbringen. Dem Physiker kommt eine AuswahlMçglichkeit und -Pflicht der Kenngrçßen zu; er hat eine KonstruktionsMçglichkeit und -Pflicht. Entscheidungen sind zu treffen, die Ziel und Zweck der Modellierung mit einschließen. Vielfltige Kenngrçßen haben sich in der nachmodernen Physik etabliert. Einige sollen genannt werden, um die Vielfalt zu illustrieren: (a) Entropien,37 (b) lokale oder globale Lyapunov-Exponenten und weitere charakteristische Exponenten der Trajektoriendivergenz, (c) Systemeigenzeiten38 und Prdiktionsskalengrçßen, (d) Einschwinglngen und -zeitskalen,39 (e) Kenngrçßen aus Symbolfolgen und ber Folgenrumen,40 (f ) globale und lokale Dimensionen,41 und andere.42 Ferner ist es blich, je nach Fragestellung und
36 Gerade dies scheinen gesetzesfixierte Wissenschaftstheoretiker (Hempel, Nagel, Popper) bersehen zu haben. 37 U.a. sind topologische, metrische, Korrelations- und informationstheoretische Entropien zu nennen. 38 Etwa: Wiederkehrzeiten, Interspike-Kenngrçßen aus Zeitskalen. 39 Man spricht auch von Transientenlngen und Transientenchaos. 40 So genannte Bernoulli-Sequenzen. 41 Bspw. Einbettungsdimension, Kapazitts-, Punkteweise-, Korrelations-, Informations-, Hausdorff-, Lyapunov- sowie verallgemeinerte Rnyi-Dimension.
5.3. Qualitative Prfungen und Kontexttests
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Modellzweck, Kenngrçßen lokal, etwa bezogen auf spezielle Gebiete des Zustandsraumes, oder global, ber den ganzen Zustandsraum, zu ermitteln. Prinzipiell sind unendlich viele Kenngrçßen denkbar. Je nach Kenngrçße werden jeweils andere Kriterien zur Prfung herangezogen. Es liegt ein Kontextualismus vor. Kenngrçßen sind also das Medium und das Mittel der Modell-Prfungen. In ihnen zeigt sich – analog zu den Argumenten von Duhem und Quine – eine Unterbestimmtheit des Modells durch die empirische Wirklichkeit. Diejenige Kenngrçße, die in einem Kontext als wohlbegrndet und geltungsausgewiesen hinreicht, ist in einem anderen Kontext alles andere als evident anzusehen. Einmal werden Bifurkationstypen, ein anderes Mal Attraktorstrukturen oder gar Dimensionen oder Entropiemaße fr empirische Prfungen verwendet. Keine einzelne Kenngrçße kann einer anderen gegenber als privilegiert angesehen werden; eine universelle Rechtfertigung, auch auf ein spezielles Modell bezogen, existiert nicht. Annahme und Verwerfen eines Modells hngen damit ab von den jeweils verwendeten Kenngrçßen. Die Konventionen, wie sie in die Konstruktion der Kenngrçßen eingehen, konstituieren auch den Kontext, also den Bereich, in dem ein Modell als „gutes Modell“ empirische Geltung und positive Evidenz zugewiesen bekommt.43 Konventionalitt und Kontextualitt zeigen sich nicht nur in den Kenngrçßen, sondern allgemein in den Grundbegriffen der nachmodernen Physik. Im erweiterten Sinne kçnnen diese ebenfalls als Kenn42 Ferner: (g) dominante Parameter (Ordnungs- oder „Versklavungs“-Parameter), (h) Kenngrçßen der Selbsthnlichkeit (renormierungstheoretische Kenngrçßen) sowie Feigenbaum- und Fibonaccizahlen (Zahlenverhltnisse wie der Goldene Schnitt), (i) topologische Kenngrçßen (Verschlingungszahlen, topologische Invarianten, topologische Entropien), (j) Anzahl der stabilen und instabilen Orbits und die Attraktortypen (periodisch, quasiperiodisch, chaotisch, koexistierend), (k) Anzahl und Struktur von „bursts“ (exzeptionelle Ereignisse), (l) Struktur der Bassingrenzen, (m) Typen und Strukturen von Bifurkationen (Periodenverdopplung, Sattel-Knoten, Tangenten, „Grazing“, Hopf, „Period-Adding“, Hysteresiseffekte), Typen von Intermittenz und von „crisis“, periodische Fenster, (n) Strukturen von Wiederkehrabbildungen (Poincar-Abbildungen), (o) Besuchshufigkeiten von Bereichen des Zustandsraumes und Histogrammanalyse, (p) Fourier- und Frequenzanalyse, Leistungsspektrum, Transinformation, (q) Grçßen der Kontrolltheorien (u. a. Controlling-Chaos), (r) Symmetrien und Transformationseigenschaften, u. a. 43 Hieran anschließend haben sich auch qualitativ-visuelle Prfungen etabliert. Diese Mçglichkeit basiert auf der computertechnologischen Entwicklung sowie den neuartigen Simulations- und Visualisierungstechniken. Boehm (1994, 13) und Mitchell (1992, 89) sprechen von einem „iconic“ oder „pictorial turn“ (s.u.).
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5. ber Genese und Geltung
grçßen bezeichnet werden. So gibt es etwa deutlich zu unterscheidende Definitionen des Begriffs „Chaos“ (Brown/Chua 1996; Brown/Chua 1998). Je nachdem welche Eigenschaft als relevant angesehen wird, ergeben sich andere Festlegungen. Gleiches gilt fr Begriffe wie „Attraktor“, „Dimension“ und „Selbstorganisation“, und auch fr „Instabilitt“, wie weiter vorne gezeigt wurde. Prominentes Beispiel ist auch der populre Begriff der „Komplexitt“: „Die Definition von ,Komplexitt‘“, so der Physiknobelpreistrger Murray Gell-Mann, „ist zwangslufig kontextabhngig.“ (Gell-Mann 1998, 72 f )44 Einen derartigen Kontextbezug hatte aus anderer Perspektive schon Ernst Mach beschrieben, als er sagte: „Wenn wir Tatsachen in Gedanken [und in Modellen] nachbilden, so bilden wir niemals Tatsachen berhaupt nach, sondern nur jene Seite, die fr uns wichtig ist; wir haben hierbei ein Ziel, das unmittelbar oder mittelbar aus einem praktischen Interesse hervorgewachsen ist.“ (Mach 1988, 458) hnliches findet sich auch bei Heinrich Hertz, der einem Kontextualismus Vorschub leistete, indem er eine Kontingenz bei der Wahl zwischen verschiedenen Modellen, Theorien, Symbolsystemen und „Bildern“ feststellte.45 In dieser Hinsicht zeigt sich in der Prfung und im Geltungsausweis von Modellen in der nachmodernen Physik eine Nhe zu wissenschaftsphilosophischen Traditionslinien des Konventionalismus. Mit dem bergang zu Kenngrçßen wird das Stabilittsdogma verabschiedet. An seine Stelle tritt eine schwchere, auf Qualitten zielende modifizierte Forderung an Modelle. Verlangt wird nicht mehr generische oder prvalente strukturelle Stabilitt, sondern generische oder prvalente Eigenschaften der jeweils als relevant erachteten Kenngrçßen.46 Damit 44 „Komplexitt“ wird sehr unterschiedlich in den jeweiligen Kontexten definiert, je nachdem ob Komplexitt etwa mit einem Entropiebegriff oder, komplementr, mit einem Ordnungsbegriff in Verbindung gebracht wird (Wackerbauer et al. 1994). 45 Hertz spricht nicht von Theorien, sondern von „Bildern“. „Ob ein Bild zweckmßig sei oder nicht, dafr gibt es berhaupt keine eindeutige Entscheidung, sondern es kçnnen Meinungsverschiedenheiten bestehen. Das eine Bild kann nach der einen, das andere nach der anderen Richtung Vorteile bieten […].“ (Hertz 1963, 3) 46 Beckmann (1996, 156) stellt heraus: „Nachdem klar geworden war, dass in hçheren Dimensionen strukturelle Stabilitt keine generische Eigenschaft ist, modifizierte man das ,Stabilittsdogma‘ dahingehend, dass man nicht mehr generische strukturelle Stabilitt in den Mittelpunkte stellte, sondern einzelne generische bzw. prvalente Eigenschaften. D.h. das Programm lautet: suche ge-
5.3. Qualitative Prfungen und Kontexttests
243
werden kontextspezifische Relevanzentscheidungen notwendig, wie Guckenheimer und Holmes meinen. „The definition of physical relevance will clearly depend upon the specific problem. This is quite different from the original statement that the only good systems [= models] are ones with all of their properties preserved by perturbations.“ (Guckenheimer/Holmes 1983, 259) Diese Prfung von Modellen – unter Verwendung von kontextuellen Kenngrçßen und qualitativen Eigenschaften – stellt einen anderen Typ des Prfverfahrens dar als jener, der in der klassisch-modernen Physik blich ist.47 Die qualitative Prfung ist in der nachmodernen Physik weithin etabliert und allgemein anerkannt.48 nerische bzw. prvalente Eigenschaften.“ Die Rede von einer „Modifikation des Stabilittsdogmas“ erscheint insofern irrefhrend, weil das Stabilittsdogma aufgegeben und durch kontextuelle Eigenschaften ersetzt wurde. 47 Die nachmoderne Physik und „NLD [ = Nonlinear Dynamics] exemplifies a departure from what has often been regarded as the standard methods of physical research.“ (Rueger/Sharp 1996, 110) Merkwrdigerweise bleibt die Wissenschaftsphilosophie zu Kenngrçßen weitgehend stumm. Das ist bemerkenswert, denn schließlich liefern sie entscheidende Argumente fr einen Kontextualismus und einen Anti-Fundamentalismus. Lediglich Cartwright scheint mit ihrer Thematisierung der „capacities of nature“ (1994) einen ersten Weg beschritten zu haben, Kenngrçßen ernst zu nehmen. 48 Dazu einige Beispiele. – Fr Hans True ist die Prfbarkeit seines Modells ber das physikalische System eines rollenden Schienenfahrzeugs dadurch gegeben, dass das Modell qualitativ eine kritische Entgleisungsgeschwindigkeit reproduziert, die am physikalischen Objektsystem beobachtet werden kann (True et al. 1997). Ein Prfkriterium ist fr True eine erfolgreiche Prognose, welche konstruktiv zur Optimierung beim Bau von Schienenfahrzeugen eingesetzt werden soll. Die Komplexittskenngrçße umfasst folglich die kritische Entgleisungsgeschwindigkeit, den Typ des Sinuslaufes des Eisenbahnwaggons und den Bifurkationstyp, welche vom Modell adquat wiedergegeben werden. – Leon O. Chua hat einen speziellen elektrischen Schwingkreis modelliert, welcher chaotisches Verhalten generieren kann („Chua-Circuit“). Als Komplexittskenngrçßen eines modifizierten Modells des Chua-Schwingkreises dienen den Physikern Murali und Lakshmanan die Existenz von Chaos, eine reverse Sequenz von Periodenverdopplungsbifurkationen, periodische Fenster, Hysteresis, Koexistenz von chaotischen und nichtchaotischen Attraktoren, Intermittenz (Murali und Lakshmana 1990). Diese Komplexittskenngrçßen werden neben der Kenntnis einiger physikalischer Teilgesetzmßigkeiten herangezogen, um die Gltigkeit des Modells unter Rekurs auf das physikalische Realsystem zu rechtfertigen. – Die Prfung des Modells eines speziellen elektrischen Schwingkreises wird auch von Jackson (1989, 360) diskutiert. Das Bifurkationsdiagramm, insbesondere der Bifurkationstyp, wird als Komplexittskenngrçße zum Test herangezogen. Der erfolgreiche empirische Test ist durch die computernumerische Reproduktion des Typs der Bifurkation gegeben. – Hans Meinhardt (1995; 1997) testet sein Modell zur Beschreibung der Bildung von Pigmentmustern auf Muschelschalen
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5. ber Genese und Geltung
5.4. Modelle und Erklrungen Modelle im Schatten von Theorien Der Rekurs auf Modelle stellt der Sache wie dem Begriff nach ein weiteres Argument fr die Erweiterungsthese dar. Ist die klassisch-moderne Physik in ihrem Erkenntnisideal primr an vereinheitlichten Theorien und fundamentalen Gesetzen mit universellem Geltungsanspruch orientiert, so ist die nachmoderne Physik durch die Anerkennung von Instabilitten geltungsrelativierter, kontextspezifischer, reflexiver. Nachmoderne Physiker sprechen weniger von Theorien und fundamentalen Krften als von Phnomenen, Eigenschaften, Dynamiken, insbesondere von Modellen. „[R]esearchers in chaos theory do not portray their work as discovering new laws of nature.“ (Kellert 1994, 111)49 Statt dessen zielt die als „nachmodern“ bezeichnete Physik auf „Modeling Systems“ (Shaw 1981, 218 f ).50 Als „reflexiv“ kann die aktuelle Physik bezeichnet werden, insofern sie die Bedingung der Mçglichkeit fr „a mathematical representation or model of the system […] being a good one“ diskutiert (Batterman 2002, 57).51 phnomenologisch, indem er eine Muschel neben ein algorithmisches, vom Modell erzeugtes Muschelmuster legt. Wenn ein „hnliches“ Pigmentmuster vorliegt (phnomenologisch-qualitative Komplexittskenngrçße), gilt dies fr Meinhardt als Indiz fr die erfolgreiche Prfung des Modells. 49 Kellert (1994, 111) argumentiert weiter: „If science gives us understanding of the physical world by expanding the scope of nomic necessity, then chaos theory does not give us any understanding at all. Nomic necessity requires that from universal laws and statements of initial conditions we can generate with deductive rigor the uniquely determined past and future of a system in fine detail. But chaos theory is neither strictly deductive, nor quantitatively predictive, nor globally deterministic.“ 50 Fr Rueger und Sharp (1996, 101) zeigt sich in der „Nonlinear Dynamics“ ebenfalls ein „modelling approach“. Thom (1975, 325) versteht seine Arbeiten als „Outline of a General Theory of Models“. Als „physikalische Modelle“ bezeichnet Andronow diejenigen „dynamischen Systeme“, die seine Robustheitsforderung (strukturelle Stabilitt) erfllen (Andronow et al. 1965, 403). „[W]elche Eigenschaften [mssen] dynamische Systeme (Modelle) besitzen […], um physikalischen Problemstellungen zu gengen“ (ebd., 403 ff )? Ein „mathematisches Modell eines physikalischen Systems“ ist fr Andronov ein „Gleichungssystem, welches das Verhalten dieses physikalischen Systems beschreibt“ (ebd., 1). Hedrich (1999, 5) spricht von „Dynamical Systems Theory and the Model-Theoretical Relevance of Mathematics for the Empirical Sciences“. 51 Poser (2001, 284) meint: „Durch vçllig neue Methoden und Modellbildungen sind neue Formen der Wissenschaften entstanden.“
5.4. Modelle und Erklrungen
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Die Diagnose eines verstrkten Modellbezugs und einer vertieften Modellreflexion mag zunchst wenig trennscharf anmuten. Denn Physik lebt, denkt, arbeitet, handelt und erklrt seit jeher in Modellen. Meist jedoch blieben Modelle im Verstndnis von Physik implizit und im physikalischen Erkenntnishandeln peripher. Sollte das einmal nicht so sein, erschienen sie lediglich als Approximationen oder als Bestandteile von Theorien. Einer derartigen Abwertung hat einerseits der so genannte semantic view (Suppe 1977; van Fraassen 1980) mit dem Hinweis auf den Modellcharakter von Theorien Vorschub geleistet. Der semantic view versteht eine Theorie als eine Familie von Modellen. Letztere werden ausschließlich im Zusammenhang mit Theorien thematisiert, wobei diese unterschiedliche Modelle in einer vereinheitlichten semantisch gehaltvollen Struktur zusammenfhren (vgl. Giere 1988, 85 ff ). – Andererseits war der traditionelle, stark an der mathematischen Struktur orientierte axiomatic view wirkungsgeschichtlich prgend. Nach dem axiomatic view wird eine Theorie ber ihre mathematisch gefassten Axiome verstanden. Modelle stellen dann, wenn berhaupt, randstndige Approximationen und Konkretisierungen von Theorien dar, um von den abstrakten Theorien zu den konkreten Phnomenen in Raum und Zeit vorzudringen.52 Die beiden Positionen sind zunchst aufschlussreich. Mit dem Modellbegriff ist im Vergleich zu Theorien ein anderer epistemologischer Status verbunden. Konnten Theorien noch einen universellen Geltungsund Erklrungsanspruch erheben, so gilt das fr Modelle nicht mehr. „Keiner glaubt, eines dieser Modelle stelle die ganze Wahrheit dar; und es kann durchaus sein, daß sie sich nicht widerspruchsfrei zueinander verhalten.“ (Hacking 1996, 70)53 Fr die nachmoderne Physik ist die Geltungsrelativitt kennzeichnend. Mit der Hinwendung zu Modellen tritt zudem die Modellbildung, die Modellkonstruktion und Modellierung als Thema explizit in die Physik ein. Der Prozess zum Modell wird reflektiert: Zugang und Genese treten zur Geltung von Aussagen als weitere Kennzeichen von Physik hinzu.
52 Wenn etwa die Reibungskraft in der Newton’schen Mechanik („Theorie“) in die Kraftfunktion mit aufgenommen wird, liegt demnach ein „Modell“ vor. 53 Andere Stimmen sind hnlich: „A model is usually less general than a theory.“ (Auyang 1998, 69)
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Wider „Natura non facit saltus!“ – Erweiterung der Modellklassen Ein Beleg fr die Bedeutung und Reflexion von Modellen ist die Entwicklung und Verwendung neuer Modellklassen, die in der klassischmodernen Physik unblich sind. Dass die Natur weder zeitliche noch rumliche Sprnge mache, war eine wirkmchtige Hintergrundberzeugung von klassisch-modernen Physikern und Naturphilosophen, von Aristoteles ber Newton und Leibniz bis zu Kant und Darwin u. a. Natura non facit saltus, das lex continui in natura! Hier artikuliert sich ein Leitbild der griechischen Physik und der Klassischen Mechanik, das sich als prgend fr die weitere Entwicklung der klassisch-modernen Physik erwies. Die Klassische Mechanik geht implizit von der Existenz einer kontinuierlichen zeitlichen Folge von Zustnden aus. Diese werden verstanden als Trajektorien im Zustandsraum, generiert durch Differenzialgleichungen. In der klassischmodernen Physik war die Kontinuittsannahme fraglos erfolgreich. Zur Charakterisierung von Physik ist diese Annahme jedoch weder notwendig noch hinreichend. Die Quantenmechanik hat zwar grundlegend im Naturverstndnis mit dieser Annahme gebrochen. Doch auch sie hlt methodologisch am Primat der kontinuierlichen Differenzialgleichung fest.54 Dagegen ist in der nachmodernen Physik das Spektrum mçglicher Modellklassen reichhaltiger, wie auch die Objektsysteme reichhaltiger sind. Neben den Differenzialgleichungen gibt es hier Differenzengleichungen, Zellulre Automaten, Genetische Algorithmen, Knstliche Neuronale Netze und allgemeine Agenten- und Netzwerksysteme. So geht der Physiker Toffoli sogar soweit, die Modellklasse der Zellulren Automaten „as an Alternative to (Rather Than an Approximation of ) Differential-Equations in Modeling Physics“ zu bezeichnen (Toffoli 1984).55 54 Die zeitkontinuierliche Schrçdingergleichung steht in Zentrum der Quantenmechanik. Der Bruch zum Determinismus wird in der Kopenhagener Interpretation im Messprozess gesehen, der zu einer „diskontinuierlichen“ Kollabierung des Wellenpakets fhrt. 55 Die Modellklasse der Zellulren Automaten hat zur computerbasierten Erforschung von „Knstlichem Leben“ („A-Life“) beigetragen, vgl. Langton (1984; 1986). Fox Keller (2003, 209) hat Zellulre Automaten im Rahmen der Physik lokalisert, analog zu der hier vertretenen Erweiterungsthese der Physik: „I include A-Life under the category of ,simulations in the physical sciences‘ for the simple reason that, despite its explicitly biological allusion, it was developed by – and for most part has remained in the province of – physical scientists.“
5.4. Modelle und Erklrungen
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Prominent sind Differenzengleichungen.56 Ihr dynamisches Verhalten ist durch zeitdiskrete „Sprnge“ gekennzeichnet. Man mag fragen, ob das der Natur und den physikalischen Objektsystemen angemessen ist. Zwei Antwortrichtungen sind zu unterscheiden. Erstens: Zeitdiskrete raumkontinuierliche Modelldynamiken kçnnen als adquat fr Objektsysteme angesehen werden, bei welchen Zustnde fr bestimmte Zeiten gar nicht definiert sind: getaktete Systeme. Wir nennen diese Differenzengleichungen zustandsinduziert, weil sich diese aus der Nichtexistenz von Zustnden fr bestimmte Zeiten ergeben. In den Wirtschaftswissenschaften, der Biologie oder der Medizin sind diese Modelle nicht unblich.57 Es verwundert nicht, dass Verhulst 1845 die zeitdiskrete logistische Abbildung zur Modellierung im Bereich der Populationsbiologie einfhrte – und nicht zur Beschreibung eines klassisch-modernen physikalischen Phnomens. Zweitens: Von diesen zustandsinduzierten Differenzengleichungen sind die beobachterinduzierten zu unterscheiden. Sie kommen dem Verstndnis klassisch-moderner Physiker recht nahe. Zustnde existieren demnach zwar objektiv fr alle Zeiten, aber aus pragmatischen oder verarbeitungstechnischen Grnden betrachten Physiker die zugrundeliegende zeitkontinuierliche Dynamik nur zu ganz bestimmten Zeiten oder an ganz bestimmten Orten.58 Insofern in der heutigen Physik Differenzengleichungen auch zustandsinduziert verwendet werden, wird eine Erweiterung der Physik deutlich. Die Kontinuittsannahme scheint brchig zu werden; die Bevorzugung der Differenzialgleichung wird zurckgedrngt. Der mçgliche Einwand aus Perspektive der klassisch-modernen Physik, dass in der Physik Differenzengleichungen niemals zustandsinduziert verwendet werden kçnnen, geht fehl. Ein Beispiel – der mechanische Stoßoszillator59 – kann das zeigen. Schon seit ber 100 Jahren beschftigen Stoßoszilla56 Synonym werden diese auch als „zeitdiskrete Abbildungen“, „zeitdiskrete dynamische Systeme“, „Maps“, „Rekursionsformeln“ o. . bezeichnet (s. o.), vgl. allg. Devaney (1989) und Krabs (1997). Bekanntestes Beispiel ist die logistische Abbildung. Sie ist gegeben durch: fl(xt) = xt+1 = l·xt·(1 – xt), xt, l 2 R. 57 Beispiele: Der Deutsche Aktien Index (DAX) existiert in den Nachtstunden gar nicht; Quartalsabschlsse, Abrechnungen und Budgetierungen werden nicht zeitkontinuierlich durchgefhrt, sondern an bestimmten Stichtagen; Eintagsfliegen leben nachts nicht; die Krankenhuser bestimmen die Anzahl ihrer Patienten um Mitternacht („Mitternachtszhlung“). 58 Stroboskopische Betrachtungsweisen und zeitdiskrete (Poincar-) Abbildungen zur Untersuchung der zugrundeliegenden kontinuierlichen Dynamik auf einer Poincar-Hyperflche sind blich, i.A. arbeitsçkonomisch sinnvoll und analytisch fruchtbar.
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5. ber Genese und Geltung
Abb. 5 – 2: Skizze eines periodisch getriebenen gedmpften Stoßoszillators („Impact Oscillator“) mit Masse m und einer Wand bei x = xc = 1.
Abb. 5 – 3: Stoßoszillator: Zweidimensionaler (x,v)-Phasenplot periodischer und aperiodischer Orbits, unter Variation des Treibungsparameters. Die Wand bzw. Grenze, an der die Masse stçßt, bleibt jeweils fest. Oben links: Periodischer Orbit, der unabhngig von der Grenze existiert. Oben rechts: Periodischer Orbit, der in einem Punkt die Grenze berhrt („Grazing“). Unten links: Chaotischer Orbit, der auf die Wand bzw. Grenze auftritt. Unten rechts: Koexistierende periodische Attraktoren, wobei einer der Attraktoren auf die Wand bzw. Grenze auftritt, der andere nicht.
toren die Physik (vgl. Jeffcott 1919) (Abb. 5 – 2 und 5 – 3). Unter einem Stoßoszillator wird ein mechanisches Objektsystem einer oszillierenden Masse verstanden, die mit einer anderen Masse einen Stoß ausfhrt. Der Stoßoszillator mit instantanem Stoß ist ein Beispiel fr eine Mischung der
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Modellklasse der zeitkontinuierlichen Differenzial- und der zeitdiskreten Differenzengleichungssysteme; ihm kann nicht abgesprochen werden, dass der Teil der Differenzengleichung zustandsinduziert ist. Wie das Objektsystem „Stoßoszillator“ zu modellieren ist, lsst sich weder aus dem physikalischen Gegenstand selbst noch aus der Klassischen Mechanik entnehmen: weder das Empirische noch das Theoretische geben hier klare Hinweise. Dass die Klassische Mechanik mit ihren kontinuierlichen Differenzialgleichungssystemen einen allgemeinen Theorierahmen auch fr Stoßoszillatoren darstellt, mag zwar zutreffen; allerdings ist das nicht hinreichend zur Modellbildung. Gerade zur Modellierung des Stoßprozesses bedarf es zustzlicher Annahmen. Wird die Wand als hart und rigid angesehen, wird man eine Differenzengleichung bevorzugen, im anderen Fall die Differenzialgleichung. Stoßprozesse werden vielfach (im Sinne der ersten) als instantaner Stoß durch Differenzengleichung modelliert. Es kann von einem zustandsinduzierten Differenzengleichungssystem – und nicht nur einem beobachterinduzierten – gesprochen werden. Der gesamte Stoßoszillator wird dann durch eine Verbindung von Differenzial- und Differenzengleichungssystemen beschrieben. Die Modellbildung – im Fall des zustandsinduzierten Differenzengleichungssystems – basiert auf folgenden Konstruktionsschritten: Auf der Wand C bei x = 1 wird eine zeitunabhngige Differenzengleichung definiert, um den instantanen Stoß zu beschreiben.60 Ansonsten liegt ein getriebener gedmpfter harmonischer Oszillator vor. Letzterer kann fr den Fall der schwachen Dmpfung wie folgt mathematisch modelliert und dargestellt werden (vgl. Schmidt 2000a, 91 f ): 1 2D 1 2D €x þ W x_ þ W 2 x ¼ A ðW 2 1Þ cosðtÞ W sinðtÞ ; 8x > 1 (I) x_ 7! r x_ ; x ¼ xc ¼ 1 (II) wobei r 2 R den Dissipationskoeffizienten beim Stoß, D den Dmpfungsparameter und W das Verhltnis von Anregungs- zur natrlichen Frequenz des Systems ohne Wand reprsentiert (Abb. 5 – 2 und 5 – 3).61 Die erste Zeile (I) charakterisiert das Differenzialgleichungssystem, welches fr das Gebiet mit x > -1 vorliegt; die zweite Zeile (II) kennzeichnet 59 Man spricht von „Impact“-Oszillator, vgl. Thompson/Ghaffari (1982), Schmidt (2000a), Bishop et al. (1996) und Moon (1998). 60 Formal geschrieben: DG: C ! C, C = { (x,v,t) 2 R R S1: x = xc = 1}. 61 Durch D und r sind zwei Mechanismen fr Dissipation („Reibung“) gegeben.
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das Differenzengleichungssystem; die Differenzengleichung x_ 7! r x_ bildet fr x = -1 von der physischen Wand C sich selbst ab. Nichtlinearitt und die Mçglichkeit der Instabilitt kommen durch die Wand ins Spiel. Ohne den Stoß wrde lediglich ein getriebener gedmpfter harmonischer Oszillator vorliegen, wie in (I) dargelegt, allerdings dann fr alle x. Der Stoß stellt eine besonders deutliche Form der Nichtlinearitt dar.62 Von „Modell“ kann hier in zweifacher Hinsicht gesprochen werden: Modelle vermitteln einerseits zwischen Theorie und Phnomen (zwischen der Newton’schen Mechanik als Theorierahmen und einem realen physischen Stoßoszillator). Andererseits werden Modelle auch jenseits von Theorien konstruiert und verwendet – hier folgt gerade der Stoßprozess nicht aus der Theorie. Aus beiden Perspektiven kann das Modell des Stoßoszillators interpretiert werden; das jeweilige Verhltnis von Modell und Theorie ist damit nicht allgemein gegeben, sondern abhngig von dem, was jeweils im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Beide Aspekte – sowohl im Rahmen als auch jenseits von Theorien – scheinen fr die nachmoderne Physik charakteristisch zu sein. Dazu im Folgenden die Darlegung einiger Diskussionslinien, welche wissenschaftsphilosophische Aspekte von Modellklassen in den Blick nehmen. Zweierlei Modelle In der nachmodernen Physik kçnnen Modelle einerseits zwischen Theorie und Phnomen lokalisiert werden (Approximations- und Vermittlungsverstndnis), andererseits aber auch jenseits von Theorien (Autonomie-
62 Die Prfung und der Geltungsausweis dieses Modells erfolgt auf zwei Wegen: Einmal sind Modellkonstruktion und Modellierungsschritte transparent und partiell durch physikalische Theorien, hier die Newtonsche Mechanik, ausweisbar. Damit ist ein Rahmen gegeben, innerhalb dessen die Modellkonstruktion liegt. Zum anderen werden Kenngrçßen herangezogen, wie beispielsweise die Struktur der Bifurkationen mit ihrer charakteristischen spitzen Form (Grazing Bifurcations, vgl. Schmidt 1999a, Bishop et al. 1996). Damit werden Phnomene ber bestimmte Strukturen und spezielle Kenngrçßen in den Blick genommen.
5.4. Modelle und Erklrungen
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verstndnis). Gerade das oft unbeachtete Autonomieverstndnis zeigt sich in der nachmodernen Physik.63 Die wissenschaftsphilosophische Reflexionstradition kann dazu beitragen, die beiden Verstndnisse zu schrfen. Modelle werden in der Wissenschaftsphilosophie erst seit gut 40 Jahren thematisiert. An diese kurze Traditionslinie kann die modelltheoretische Reflexion der nachmodernen Physik sowohl anknpfen als auch sich davon abgrenzen und Unterschiede herausstellen. In den 1960er Jahren haben Patrick Suppes (1961), Mary Hesse (1966) und Peter Achinstein (1968) zwischen Typen von Modellen unterschieden sowie ihre Funktionen, ihren propositionalen Status und ihre Geltungskriterien diskutiert. Bei Achinstein (1968) wird der Begriff des „theoretischen Modells“ im Rahmen seines theorierealistischen Zugangs przisiert,64 wobei Modelle – wie blich – auf die Seite der Theorie fallen: „A model is proposed in the framework of some more basic theory or theories“. Es stelle eine „simplified approximation“ dar.65 Hesse (1966) hat die bei Achinstein angedeutete Funktion von Modellen im Hinblick auf Analogien, Analogieschlsse und Analogiebertragungen spezifiziert. Modelle dienen dem Transfer: sie bersetzen Theorien in empirisch zugngliche Aussagen. Hier schließt Michael Redhead mit seinem Aufsatz „Models in Physics“ (1980) an. Redhead unterscheidet Approximationstypen im Rahmen von Theorien und deutet diese als Modelltypen. Von „Modell“ kann immer dann gesprochen werden, wenn Approximationen im Spiel sind. Modelle treten dann in zweifacher Hinsicht auf, nmlich als Approximation entweder von Differenzial(grund)gleichungen oder von deren Lçsungen (Redhead 1980, 150 f ). Der Hintergrund fr diese Unterscheidung liegt bei Redhead bemerkenswerterweise in Instabilitten.66 Die Thematisierung von Modellen vertiefte und erweiterte sich in den 1980er Jahren. Nancy Cartwright hat in ihrem Werk „How the Laws of Physics Lie“ (1983) Modelle nicht mehr ausschließlich aus Perspektive von Theorien verstanden, obwohl ein Theoriebezug bestehen bleibt. 63 Hierfr sind Modellklassen wie Differenzengleichungssysteme, Zellulre Automaten, Genetische Algorithmen, Neuronale Netze und allgemeine Agentensysteme beispielhaft. 64 Dazu gehçren Annahmen ber (1) Anwendungsobjekte, (2) innere Modellstrukturen, (3) Approximationstypen und (4) Analogiebildungen. 65 So Redhead (1980, 146) ber Achinstein. 66 Redhead (1980, 151) erwhnt Instabilitten wie folgt: „They [ = the models] may have quite different solutions from the original equations due to instability effects.“
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5. ber Genese und Geltung
Modellen wird ein eigener epistemischer Status zugeschrieben. Das bleibt allerdings bei Cartwright – im Unterschied zu Mary S. Morgan und Margaret Morrison (1999) ein Jahrzehnt spter – begrifflich noch implizit. Entgegen der etablierten Auffassung des Theorienrealismus behauptet Cartwright, dass kausale Theorien selbst ber kein reprsentierendes Wissen und keine universelle Wahrheit verfgen. Sie sind Denkhilfen, symbolische Instrumente, methodische Hilfsmittel. ber die konkreten empirischen Phnomene vermçgen sie jedoch keine Aussagen zu treffen. In diesem Sinne „lgen“ Theorien, Modelle hingegen nicht. „To explain a phenomenon is to find a model that fits it into the basic framework of the theory and that thus allows us to derive analogues for the messy and complicated phenomenological laws which are true of it.“ (Cartwright 1983, 152) Modelle dienen dem bergang zu den „phenomenological laws“67 – oder sie sind selbst phnomenologische Gesetze. Cartwright whlt das Beispiel einer instabilen Dynamik, nmlich die Bewegungsbahn eines Tausend-Dollar-Scheines, der von einem Turm geworfen wird (Cartwright 1999, 27 f ):68 Eine Theorie, etwa die klassische Mechanik der Kontinua, helfe bei einer instabilen, wirr erscheinenden Bewegung nicht weiter. Modellen kommt nach Cartwright, im Vergleich zu Theorien, ein empirischer Gehalt zu. Nur Modelle kçnnen im reprsentierenden Sinne eine Erklrungsleistung beanspruchen. Schließlich beschreiben die „abstract theoretical concepts […] the world only via the models that interpret these concepts more concretely. So the laws of physics apply only [to experimental phenomena] where its model fit.“ (Cartwright 1999, 4) Modelle erhalten somit einen eigenen Status; sie ermçglichen eine Vermittlung zwischen Theorien und Phnomenen.69 Doch Cartwright hlt, wie in der wissenschaftsphilosophischen Denktradition blich, an Theorien fest, wenn auch lediglich in denkçkonomischer Hinsicht einer komprimierten Beschreibung. So sind Modelle niemals losgelçst von, sondern nur in Bezug auf Theorien existent.70 67 Diesen stellt Cartwright die „fundamental laws“ gegenber. 68 Cartwright bezieht sich hier auf ein Beispiel von Neurath. 69 Es sind die Modelle, die die Theorien sttzen, nicht die Modelle, die aus Theorien folgen bzw. diese approximieren. Doch auch Cartwright assoziiert – problematischerweise – mit Theorien „Regelhaftigkeit“ und rekurriert auf Robustheit und Stabilitt; zur Kritik siehe Rueger/Sharp (1996, 101 f ). 70 Vor diesem Hintergrund fllt die Beurteilung von Cartwrights Wissenschaftsphilosophie fr die Instabilittsthematik ambivalent aus. (a) Zutreffend an Cartwrights Ansatz ist, dass die Erklrungsleistung fundamentaler Theorien ber
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An diese Thesen schließen Morgan und Morrison (1999) an. Mit ihrem programmatischen Entwurf „Models as Mediators“ zielen sie auf eine weitere Pluralisierung. Die Elemente, die die diagnostizierte Dichotomie Phnomen-Theorie vermitteln, sind Modelle, welche als „autonomous agents“ bezeichnet werden (Morgan/Morrison 1999, 10). Die wissenschaftstheoretische Diskussion radikalisiert hier den von Redhead und Cartwright entwickelten Approximations- und empirischen Anwendungszugang: Wenn sich Modelle zwischen Theorie und Phnomen schieben, wird fragwrdig, was Theorien ber experimentelle Daten und empirische Phnomene aussagen kçnnen. So scheinen auch hier Modelle, wie schon bei Cartwright, den Phnomenen nher zu stehen und wahrheitsadquater zu sein als Theorien; Modelle, nicht Theorien, tragen empirisch-reprsentierenden Gehalt.71 – Ob allerdings ein derartiges Modellverstndnis, das immer noch im Horizont von Theorien steht, durchzuhalten ist, erscheint zweifelhaft. Fr den Stoßprozess des Stoßoszillators ist zumindest fragwrdig, ob hier berhaupt ein Theorierahmen gegeben ist.72 So deutet sich heute an, dass in der nachmodernen Physik sowohl Modelle eine Rolle spielen, denen partiell eine Theorie zugrunde liegt – wie bei Redhead, Cartwright, Morgan und Morrison – als auch solche, die weitgehend ohne theoretischen Hintergrund auskommen. Prototyp war hier der Stoß des physikalischen Stoßoszillators; instabile Objektsysteme, wie die Bewegungsbahn des Tausend-Dollar-Scheines, eher gering einzuschtzen ist; in dieser Hinsicht wird mit Cartwright zu argumentieren sein. (b) Doch Cartwright differenziert nicht zwischen Stabilitt und Instabilitt. Fragwrdig (gegen Cartwright) ist, ob sich die geringe Erklrungsund Geltungsleistung fundamentaler Theorien tatschlich fr stabile Objektsysteme allgemein belegen lsst. – Eine klare Demarkationslinie zwischen Stabilitt und Instabilitt findet sich bei Cartwright also nicht. 71 ber die Arbeiten von Hesse und Cartwright hinaus stellen Morrison und Morgan (1999, 10 f ) eine Systematik zum Verstndnis von Modellen zur Verfgung. Vier grundlegende (nicht-disjunkte) Elemente seien bei der Charakterisierung von Modellen zu bercksichtigen, nmlich (a) ihre Konstruktion („Modellierung“), (b) ihre Funktion („Instrument“), (c) ihre Reprsentation („Geltung“) und (d) ihre induzierten Lernprozesse („Modell-Bildung“) (vgl. Morrison/Morgan 1999, 10 f ). Mit dieser pluralen Typisierung wenden sich Morrison und Morgan gleichzeitig gegen all diejenigen Anstze, die definitorisch einen Modellbegriff festzulegen oder gar eine „Theorie ber Modelle“ vorzulegen versuchen. „We do not see ourselves as providing a ,theory‘ of models.“ (Morrison/Morgan 1999, 12) Fr die nachmoderne Physik erweist sich diese Pluralitt als zentral. 72 Zweifelhaft ist, ob fr den Stoßprozess des Stoßoszillators die Newton’sche Mechanik adquat als „Theorie“ zu bezeichnen ist, obwohl offenkundig ist, dass sie hier eine Rahmentheorie darstellt.
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5. ber Genese und Geltung
doch das Spektrum der Objektsysteme ist deutlich reichhaltiger (Kapitel 7). Zu letzteren Modellen – den Modellen jenseits von Theorien – scheint die engere Wissenschaftstheorie bislang allerdings geschwiegen zu haben. Wenn nicht aus wissenschaftstheoretischer, so doch aus der Perspektive der Systemanalyse, der Technikfolgenabschtzung und der Szenariotechnik haben sich wissenschaftsphilosophisch reflektierte Modellierungstheorien etabliert (Stachowiak 1973; Ropohl 1979; Bossel 1994).73 Nicht die Vermittlungsfunktion zwischen empirischem Phnomen und Theorie liegt in ihrem Fokus, sondern die Modellkonstruktion, die Funktion von Modellen und die Reprsentation empirischer Phnomene, jenseits eines Bezugs auf fundamentale Theorien.74 Anders als bei Morrison und Morgan tritt der Theoriebegriff in dieser pragmatisch ausgerichteten Modelltheorie kaum auf, worin sich eine Nhe zur nachmodernen Physik zeigt. Primr werden induktive Bottom-Up-Modellierungen vorgenommen: Ausgehend von Phnomenen komplexer Objektsysteme werden diese durch Modelle zu fassen, zu beschreiben und zu prognostizieren versucht (Stachowiak 1973; Ropohl 1979). Dass auch Wissen in die Modellierung eingeht, welches u. U. Theorien entstammen kann, wird konstatiert; allerdings bleibt diese Wissensquelle unspezifisch. Diese pragmatisch ausgerichtete Modelltheorie verwirft zwar den objektivistischen Anspruch traditioneller Spielarten der Abbildtheorien und des wissenschaftlichen Realismus (Ropohl 1979, 162 f ).75 Jedoch werden die Modelle nicht als reine beziehungslose Geisteskonstruktionen dargestellt, sondern als Modelle von bzw. ber Systeme(n). Es bleibt eine Referenz zu einem ußeren erhalten, welche konstruktiv hergestellt wird. Das gilt auch dann, wenn die Systeme abermals als Modelle von etwas anderem interpretiert werden, und ein Zirkel entsteht, in dem Modelle und Systeme zu zirkulieren beginnen. Es gibt zwar keinen dogmatischen, wohl aber einen pragmatischen Abbruch. So reduziert sich sowohl der
73 Sie stehen in der Traditionslinie des Pragmatismus und werden auch als „pragmatische“ oder auch „neopragmatische Modelltheorien“ bezeichnet. 74 Eine „Theorie“ liegt in den (zumeist interdisziplinren) Gegenstandsfeldern, zu denen die neopragmatischen Modellierungstheorien einen Beitrag leisten mçchten, nicht vor. 75 Im Rahmen seiner „Allgemeinen Systemtheorie“ hat Ropohl (1979, 162 f ) eine analytische Schrfung des Modellbegriffs vorgenommen.
5.4. Modelle und Erklrungen
255
Reprsentationsanspruch des Realismus als auch der Konstruktionsanteil des Konstruktivismus.76 Diesen theoriefernen Zugang hat der Physiker Peter Beckmann fr die konkrete Modellierung komplexer instabiler Objektsysteme herangezogen (Beckmann 1997). Die von Ropohl verwendete Fassung der Begriffe sowie die Strukturierung der Modellbildung scheinen geeignet zu sein, Modellierungen dort vorzunehmen, wo eine physikalische Theorie fern ist, etwa bei Werkzeugmaschinen, Logistikprozessen in der Automobilproduktion, biologischen Evolutionsprozessen oder kosystemdynamiken. Hier werden – jenseits der Argumentation von Cartwright, Morgan und Morrison – „rechnernahe“ Modellklassen wie Zellulre Automaten, genetische Algorithmen, Neuronale Netze oder Agentenund Netzwerksysteme verwendet. Die Modelle werden nicht aus einer physikalischen Theorie gewonnen und approximieren keine Grundgleichungen, sondern stellen Ad-hoc-Konstruktionen fr konkrete Fragestellungen vor dem Hintergrund rechnertechnischer Simulationen dar. So erhalten sie einen von Theorien autonomen Status. Dann allerdings ist nach den Geltungsansprchen dieser Modelle zu fragen. Es wre zu erlutern, was unter „Erklrung“ verstanden werden kann. Dynamisch-qualitative Erklrungen Beide Hauptstrçmungen der Reflexion ber Modelle – die wissenschaftstheoretische77 wie die pragmatisch-systemanalytische78 – weisen Fragwrdigkeiten auf, enthalten aber auch weiterfhrende Aspekte, um 76 Der pragmatische Modellbegriff weist folglich auf ein Defizit traditioneller Erkenntnistheorien hin, nmlich der mangelnden Vermittlung zwischen Spielarten von Realismus und Konstruktivismus. Fr Details siehe Ropohl (1979). 77 Morrison und Morgan (1999) zeigen zu Recht, dass Modelle in den Wissenschaften eine bedeutende, bislang wissenschaftstheoretisch unterschtzte Rolle spielen. Allerdings ergeben sich dann neue Fragen. Aus systematischer Perspektive wre zu klren, warum Modelle bedeutend sind (bzw. geworden sind). Warum bençtigen die Wissenschaften derartige bersetzungen, wie sie angeblich mit Modellen verbunden sind? Die offenen Fragen lassen sich anhand der Instabilittsthematik konkretisieren. Gerade bei instabilen Objektsystemen sind Modelle unabdingbar. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive muss gefragt werden, wie es geschehen konnte, dass die Einzelwissenschaften nicht selbst explizit Modelle thematisiert haben. Wenn Modelle relevant sind fr Genese und Geltung von Theorien – wie Morrison, Morgan und Cartwright behaupten – warum sind sie dann bislang in den Wissenschaften selbst vernachlssigt worden?
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5. ber Genese und Geltung
die modellmethodologische Ausrichtung der nachmodernen Physik zu systematisieren. Modelle kçnnen hier in folgender Hinsicht charakterisiert werden: Eigenstatus: Modelle haben gegenber Theorien einen eigenen epistemischen Status. Sie stehen mit Theorien in einem Spannungsverhltnis. Das Modell des Stoßoszillators (s. o.) ist nicht aus der Newton’schen Mechanik deduktiv zu gewinnen, auch wenn diese den allgemeinen Rahmen darstellen mag. Unabhngigkeit: Modelle kçnnen nicht nur gegenber Theorien einen eigenen epistemischen Status aufweisen. Sie sind vielfach auch unabhngig von diesen. Um von Modellen zu sprechen, ist es nicht unbedingt notwendig, auf Theorien zu rekurrieren. Ferner sind Modelle nicht hinreichend aus empirischen Phnomenen bestimmt („underdetermination“). Der Stoßprozess des Stoßoszillators lsst sich nicht durch noch so große Messgenauigkeit empirischer Phnomene festlegen. Geltungsrelativierung: Der Geltungs-, Beschreibungs- und Erklrungsanspruch von Modellen ist gegenber Theorien reduziert. Geltung findet sich in bestimmten Kontexten – nicht universell, sondern perspektivenabhngig. Wer von Modellen spricht, ist zurckhaltender als
Kçnnte es nicht sein, dass erst seit einigen Jahrzehnten eine neue Notwendigkeit entstanden ist, Modelle ausdrcklich zu thematisieren, nmlich seit Instabilitten immer deutlicher zu Tage traten? Aus der Perspektive der Geschichte der Wissenschaftstheorie scheint klrungsbedrftig, warum die Wissenschaftstheorie Modelle ihrerseits so lange hat bersehen kçnnen. Auch hier ist der Hinweis auf Instabilitten hilfreich, um die Entwicklung der wissenschaftstheoretischen Reflexionsgeschichte zu verstehen. So bedienen sich Cartwright und Morrison – intuitiv zutreffend – vorrangig der Beispiele instabiler Objektsysteme. – Dass allerdings Grnde fr die heutige Konjunktur von Modellen vorliegen und dass die Entdeckung von Instabilitten hierfr wegweisend sein kçnnte, wird bei Morrison explizit selbst dann nicht angesprochen, wenn sie das Prantl’sche Grenzschichtkonzept der Hydrodynamik diskutiert (Morrison/Morgan 1999, 53). Dieses stellt einen methodologischen Umgang mit Instabilitt, Nichtlinearitt und Turbulenz dar (Kapitel 4, in dieser Arbeit). Zwar wird die Chaostheorie in dem Buch von Morrison und Morgan durch R.I.G. Hughes einmal erwhnt (ebd., 97), jedoch tritt deren inhaltliche Bedeutung ganz hinter das Instrument Computer zurck.
5.4. Modelle und Erklrungen
257
der, der sich auf Theorien bezieht. Der vorne angefhrte Stoßoszillator gilt nicht fr einen Stoß mit einer weichen Wand.79 Handlung: Modelle setzen eine Modellbildung und Modellkonstruktion voraus, wie die pragmatische Modelltheorie betont. Die nachmoderne Physik ist explizit prozess- und handlungsorientierter als die klassisch-moderne Physik. Methoden zur Konstruktion von Modellen stellen einen reflektierten Teil der Physik dar, der auch in Publikationen nicht (mehr) verschwiegen wird. Nicht allein die Geltung, sondern auch Zugang und Genese erhalten einen relevanten Stellenwert. Pluralitt: Eine einheitliche Wissenschaftstheorie der Modelle und Modellbildung ist nicht in Sicht; der Modellbegriff weist im physikalischen Erkenntnishandeln keine Einheitlichkeit auf. Modelle dienen der Approximation von Theorien (Grundgleichungen, Lçsungen) sowie der theorieunabhngigen instrumentellen Ad-hoc-Beschreibung. Verschiedene Funktionen von Modellen in Zugang, Genese, Geltung und Anwendung zeigen sich (Morgan/Morrison 1999). Damit ist eine Charakterisierung von Modellen in der nachmodernen Physik gegeben: Einem Modell kommt, wie gezeigt wurde, keine universelle Geltung zu, sondern eine relative, bezogen auf jeweilige Kenngrçßen. Das sagt jedoch noch nichts ber die Erklrungsleistung aus. In der nachmodernen Physik ist diese Differenz bekannt. Mit Hilfe der mathematischen Modellklasse, etwa eines Knstlichen Neuronalen Netzes, kçnnen Daten eines empirischen Objektsystems approximativ gut re78 Auch die pragmatische Modelltheorie muss sich kritischen Anfragen stellen. Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive muss diskutiert werden, ob die Nivellierung zwischen Theorien einerseits und Modellen andererseits gerechtfertigt ist. Gibt es nicht Kriterien, wie etwas als „Theorie“ auszuweisen und von „Modellen“ zu unterscheiden ist? Relativiert die pragmatische Modelltheorie Theorien, so geht sie gleichzeitig von der prinzipiellen Mçglichkeit der Modellierbarkeit jedes Objektsystems aus, freilich jeweils perspektivenabhngig und geltungsbeschrnkt. Instabilitten hat sie nicht im Blick. Ferner werden Instabilitten wohl benannt, aber nicht als solche erkannt. Ropohl benennt das deterministische Chaos, doch stellt er lediglich einen Zusammenhang mit der Problematik der Prognostizierbarkeit her (Ropohl 1996, 274). Die fr Ropohl ansonsten naheliegenden Themen wie Modellkonstruktion, Modellvalidierung und Modellerklrung bleiben unbercksichtigt. 79 Dann wrde die Masse des Oszillators in die Wand ein wenig eindringen. In diesem Fall wre nicht ein Differenzengleichungssystem zur Beschreibung eines instantanen Stoßes an der Wand anzuschließen, sondern ein zweites Differenzialgleichungssystem fr die Dynamik in der Wand.
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5. ber Genese und Geltung
prsentiert oder gar hinsichtlich spezifischer Anforderungen optimiert werden, ohne dass mit diesem Geltungsausweis eine Erklrungsleistung verbunden wre. Das Knstliche Neuronale Netz wird deshalb auch als „black box“ bezeichnet. Physikalische Informationen werden hier weder verwendet noch werden welche generiert, auch wenn es empirische Daten gut reprsentiert. Neuronale Netze liefern keine Erklrungen, oft aber gute Prognosen. Das Hempel-Oppenheimersche Erklrungsschema mit der Strukturidentitt von Erklrung und Prognose ist durchbrochen. Insofern scheint zunchst die Diagnose naheliegend, dass die aktuelle Physik keine erklrende, sondern nur eine beschreibende Naturwissenschaft sei: Statt Erklrungen liefere sie nur noch reprsentierende Datenfits und numerische Approximationen, wie der Mathematiker Steffen meint. „[D]em mit Chaostheorie und Fraktalgeometrie eingefhrten Trend zur bloß beschreibenden Darstellung von Naturvorgngen durch manchmal sehr entfernte Analogien und Computersimulationen, wird – so erwarten wir – eine Phase der Rckbesinnung auf die eigentliche Aufgabe der Physik folgen, nmlich die erklrende Erfassung physikalischer Phnomene in der Weise, dass Theorien auf Grundlage mçglichst weniger physikalischer Gesetze […] entwickelt und anschließend einer berprfung durch Experimente und Beobachtungen unterzogen werden.“ (Steffen 1994, 26) „Erklrung“ im Sinne Steffens wre mithin allein im Rahmen deduktiv-nomologischer Typen zu realisieren. Dieses Erklrungsverstndnis scheint schon fr die klassisch-moderne, erst recht aber fr die nachmoderne Physik allzu eingeschrnkt zu sein (Kapitel 3). Werden deduktiv-nomologische Konzepte als die einzig adquaten eines Erklrungsverstndnisses angesehen, wre ganz im Sinne Steffens zu sagen: Diese neuere Physik „erklre“ nichts mehr.80 Davon allerdings kann keine Rede sein. Jedoch wandelt sich das Verstndnis von „Erklrung“. Wer nach „Erklrung“ fragt, sollte zunchst nach dem Wozu und dem Was fragen, das einer Erklrung bedarf. Das Wie, also die formale logische Struktur und das Erklrungsverstndnis, ist nicht ohne die Fragestellung nach dem Wozu und dem Was zu explizieren (Zweck und Inhalt). Nachmoderne und klassisch-moderne Physik stellen unterschiedliche Fragen – auch deshalb sind sie unterschiedliche Physiktypen (Kapitel 7.1). Was also ist das Was? Kellert arbeitet eine Differenz heraus: „One 80 So scheint es zunchst plausibel zu sein, herauszustellen: „[W]e must acknowledge the existence of an open question as to whether it [ = Nonlinear Dynamics] provides any understanding at all.“ (Kellert 1994, 79)
5.4. Modelle und Erklrungen
259
of the keenest difficulties in comparing philosophical accounts of explanation with the understanding provided by chaos theory [and late modern physics] results from a mismatch between the item to be explained in the former and the item to be understood in the latter. While philosophers commonly address scientifc explanations of such things as ,facts‘, or ,events‘ […], chaos theory [and late modern physics] usually studies such things as behaviors, patterns, or bifurcations.“ (Kellert 1994, 81) Auch wenn zunchst zwischen „facts“ und „patterns“ nur ein gradueller Unterschied vorliegen mag, insofern im erweiteren Sinne auch „patterns“ als „facts“ verstanden werden kçnnten, so deutet sich doch eine Verlagerung an: das, was als erklrungsbedrftig und erkenntniswrdig angesehen wird, wandelt sich. Folgt man dieser Sichtweise, so stehen zeitliche Prozesse von phnomenalen Strukturen – Aufbau, Vernderung, Bruch und Abbau – im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses und des Erklrungsverstndnisses.81 Im Fokus liegt das prozesshafte Wechselspiel von Unordnung und Ordnung, von Deformation und Formation, von Instabilitt und Stabilitt, traditionell von „Vernderung“ und „Bestand“. „The ultimate goal“, so Berg et al., „is to understand the origin and characteristics of all kinds of time-evolution encountered, including those which at first seem totally disorganized.“ (Berg et al. 1984, 102) Die „Method of Understanding“ liegt im „constructing, elaborating, and applying simple dynamical models.“ (Kellert 1994, 85) Die Dynamik eines Modells – seine in und mit der Dynamik erzeugten phno81 Zentrale erkenntnisleitende Fragen sind beispielsweise: (1) Stabilitts-Instabilitts-Fragen: Wie finden bergnge zwischen Stabilitten und Instabilitten statt? Welche bergnge und „Routen ins Chaos“ liegen vor? (2) Zeit- und Dynamikfragen: Wie wird eine Dynamik induziert? Welche Zeitskalen und Eigenzeiten spielen eine Rolle? (3) Ordnungs-, Struktur- und Komplexittsfragen: Wie entsteht Ordnung- und Strukturbildung? Was kann unter Ordnung verstanden werden? Was sind geeignete Komplexittsmaße und Kenngrçßen? (4) Phnomen-Gesetzes-Fragen: Wie kçnnen welche Phnomentypen aus welchen Gesetzmßigkeiten erzeugt werden? Welche Bedingungen sind an bestimmte Bifurkationstypen zu stellen? (5) Strukturisomorphie-, hnlichkeits- und AnalogieFragen: Welche hnlichen Phnomene liegen in unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit vor? (6) Prognose-, Zufalls- und Kausalitts-Fragen: Wie werden welche Typen von Vorausberechenbarkeit ermçglicht oder verhindert? Welche Anforderungen kçnnen formuliert werden? Welche Zeitskalen sind relevant? Welche Ressourcen zur Bewltigung einer Prognoseproblematik sind zu bercksichtigen? Was ist unter Kausalitt zu verstehen? – Die hier nur als Beispiele vorgetragenen Fragen zielen mehr auf Qualitten als auf Quantitten. Es werden verstrkt Kriterien und Konventionen gefordert, reflektiert und revidiert.
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5. ber Genese und Geltung
menalen Strukturen und Muster – stehen im Zentrum, nicht das nackte Gesetz als solches. Das Gesetz ist zunchst „stumm“; es gibt die Phnomene nicht ohne Weiteres preis. Hat man ein Gesetz gefunden, endet die Arbeit nicht, wie dies in der klassisch-modernen Physik der Fall war. Man muss erst zu den Phnomenen, Mustern und Strukturen vorstoßen, sie numerisch-simulativ generieren und in den Blick nehmen, um sie dann mit dem Empirischen der Objektsysteme vergleichen zu kçnnen. Ein derartiger Phnomenbezug ist dem traditionellen, rein nomologischen Erklrungskonzept von Hempel, Oppenheim, Popper, Nagel, Scheibe und anderen fremd.82 Erklrung – als qualitativ-phnomenale oder auch qualitativ-dynamische Erklrung, wie man diesen Typ vielleicht nennen kçnnte83 – basiert auf Analogiebildung und mimetischer Strukturidentifikation von Modell-generierten und von empirisch-objektseitigen Phnomenen, Strukturen und Mustern. Traditionell wurde die Analogiebildung recht allgemein, etwa von Wolfgang Stegmller (1969, 131 f/134), als „unwissenschaftlich“84 abgeurteilt. Doch diesem Erklrungstyp sind durchaus Leistungsmerkmale zuzusprechen, wie man aus den hier dargelegten Argumenten folgern kann. Einmal basiert die Analogiebildung auf qualitativen Kenngrçßen als kontextabhngige Kennzeichnung der jeweiligen Strukturen und Muster. Erklrung meint dann, dass die empirisch-objektseitigen phnomenalen Strukturen qualitativ durch ein Modell erzeugt und nachgebildet werden kçnnen. Damit ist keine Reduktion auf eine mathematische Gleichung verbunden, sondern auf einen Phnomentyp, wie er durch dieses Modell – oder auch ein anderes – erzeugt werden kann. Noch in einer zweiten Hinsicht sind Analogiebildungen relevant. Modelle lassen sich in ihrer mathematischen Form auf unterschiedliche Objektsysteme bertragen; Analogien sind herstellbar, wie etwa die Lorenz-Gleichung, die eigentlich aus der Strçmungsphysik stammt. Das, was an einem empirischen Objektsystem durch Untersuchung der dynamischen Eigenschaften strukturell gewonnen wurde, gilt auch fr an82 Zumindest wre das HO-Schema um Aspekte der Phnomene, Strukturen und Muster bzw. um Zeitliches zu erweitern. 83 Kellert (1994, 77) spricht von „dynamic understanding“. 84 Bei Stegmller heißt es: „Will man Phnomene einer bestimmten Art X erklren, so muß man nach Gesetzen suchen, unter welche diese Phnomene subsumierbar sind bzw. nach einer diese Phnomene erklrenden Theorie. Die Tatsache, daß eine andere Klasse von Phnomenen ein Analogiemodell fr die untersuchten Phnomene darstellt, hilft dabei nicht.“ (Stegmller 1969, 135)
5.5. Approximationsnumerik und Schattenberechnungen
261
dere Objektsysteme. Muster gelten als strukturisomorph. Die LorenzGleichungen beispielsweise „lost all wetness, all the properties of a fluid except chaos; the same equations could conceivably arise in many situations that have nothing to do with fluid dynamics. The great distance of these equations from fluid dynamics emphasizes the abstract mathematical nature of chaos.“ (Yorke/Yorke 1981, 93) Topologisch qualitative Strukturuntersuchungen schließen sich an und belegen die Mçglichkeit von bertragungen und von dynamisch-qualitativen Analogieerklrungen. So kann man zusammenfassend sagen, dass die nachmoderne Physik ein Erklrungsverstndnis favorisiert, „that is holistic, historical, and qualitative, eschewing deductive [nomological] systems and causal mechanisms and laws.“ (Kellert 1994, 114) Phnomenalitt, Dynamik und Zeitlichkeit sind entscheidend, so auch der Physiker Hirsch: „Dynamics is used more as a source of qualitative insight than making quantitative predictions.“ (Hirsch 1984, 11) Der Rekurs auf Strukturen (Muster und Ordnungen von Phnomenen) und auf Dynamiken (Zeitlichkeiten, Prozesse, bergnge) weist darauf hin, dass Erklrungen instabiler Phnomene nur als qualitativ-phnomenal bzw. qualitativ-dynamisch zu verstehen sind.
5.5. Approximationsnumerik und Schattenberechnungen Die Zukunft ist quantitativ verschlossen Wenn bisher von Erklrungen die Rede war, so soll es nun um Prognosen und um Berechnungen gehen. Nehmen wir an, es wrde ein Modell (Gesetz) vorliegen. Ob es wahr bzw. evident ist oder nicht, sei dahingestellt. Das Modell als solches hilft jedoch nicht weiter, insbesondere reicht es nicht aus fr eine empirische Prfung; es bleibt „stumm“. Vielmehr sind an und mit dem Modell Operationen durchzufhren: die Differenzialgleichung ist zu lçsen und Berechnungen sind vorzunehmen. Aus ihr und mit ihr sind die Dynamiken zu erzeugen und die Phnomene zu generieren. So werden die Methoden, die Mçglichkeiten und Grenzen von (metamathematischer) Berechenbarkeit und (konkreter) Berechnung zu einem innerphysikalischen Forschungsfeld (Jackson 1989, 210).85 85 Vgl. ferner Aurell et al. (1997), Badii (1991), Binder/Jensen (1986), Coven et al. (1988), Guckenheimer/Holmes (1983, 248), Peitgen et al. (1992, 120 f ),
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5. ber Genese und Geltung
Nachmoderne Physik und theoretische Informatik weisen eine Schnittmenge auf. Dass Berechenbarkeit durch Instabilitten problematisiert wird (Kapitel 3), heißt jedoch nicht, dass jegliche Berechnung unmçglich wird.86 Eine qualitative Berechenbarkeit – und eine reduziert quantitative – bleiben durchaus erhalten (Hirsch 1984, 11). Qualitative Aspekte sind auch die Grundlage dessen, was wir als dynamisch-qualitative Erklrungen bezeichnet haben. Dazu kann unter Verwendung einer strker mathematisierten Sprache gezeigt werden, dass Instabilitten – trotz prinzipieller Nichtberechenbarkeit – teilweise numerisch zugnglich sind. Die Physik hat eigene Methoden bereitgestellt, um mit den methodologischen Problemen der Nichtberechenbarkeit umzugehen. Geltungsrelativierung und Methodenerweiterung liegen beieinander. Durch die sukzessive Anerkennung von Instabilitten ist auch der Bedarf an rechnertechnologischer Entwicklung gewachsen. Allerdings sind digitale Computer physikalisch-thermodynamische Maschinen endlicher Genauigkeit. Fr eine exakte Berechnung dynamisch-instabiler Bahnen (Orbits, Trajektorien) ist endliche Genauigkeit nicht hinreichend. Dies fhrte, wie wir gezeigt haben, zu Problemen der Prfung instabiler Modelle: Der unbekannte, nichtzugngliche („wahre“) Orbit einerseits und der numerisch berechnete („falsche“) Orbit andererseits konvergieren wegen der sensitiven Abhngigkeit nicht (Kapitel 3). Dynamisch-instabile, d. h. aperiodische und chaotische Bahnen kçnnen mithin im strengen mathematischen Sinn auf dem Computer nicht behandelt werden. Wege approximativer Behandlung – einige Details Dennoch kann man in bestimmten Fllen qualitativ und zum Teil auch quantitativ zuverlssige Berechnungen durch computernumerische Lçsungen erhalten, welche durch das so genannte Beschattungslemma („shadowing lemma“) gesichert werden (Bowen 1970/78).87 Neben der Ramsey (1996), Seydel (1997), Troparevsky (1992). Eine umfangreiche und detaillierte Einfhrung in Berechenbarkeitstheorien findet sich bei Mainzer (1994). 86 Die Verstndnisweisen von Berechenbarkeit bzw. Nichtberechenbarkeit erhalten in der aktuellen Physik eine inhaltliche Schrfung, vgl. Schmidt (2003a). 87 Vgl. Guckenheimer/Holmes (1983, 251), Coven et al. (1988), Jackson (1989, 214), Peitgen et al. (1992, 120 f ).
5.5. Approximationsnumerik und Schattenberechnungen
263
Nichtlinearen Zeitreihenanalyse liegt hier explizit eine neue eigene Methode vor, die von der Physik in den letzten drei Jahrzehnten entwickelt wurde. Mit dem Beschattungslemma kann der Auffassung widersprochen werden, dynamisch-instabile Orbits seien einer numerischen Behandlung grundstzlich unzugnglich. Wenn ein dynamisches System instabile Orbits enthalte, so die weit verbreitete Meinung, wre eine numerische Analyse prinzipiell unmçglich und die berechneten Bahnen wren ausschließlich Computerartefakte (Lorenz 1989; Adams et al. 1993). Diese Auffassung ist aber unhaltbar, insofern sie nicht nur die numerisch unmçgliche Exaktheit der Berechnung dynamisch-instabiler Orbits betrifft, sondern sich auch auf allgemeine Approximationen88 bezieht. Dennoch bleiben relevante Grenzen der Vorausberechenbarkeit im Sinne einer hinreichend exakten Prognose. – Der weniger an Mathematik Interessierte mag den folgenden Unterabschnitt ohne weiteres berspringen, allerdings nicht ohne zu bemerken, in welcher Grundstzlichkeit die Frage nach der Prognostizierbarkeit in der nachmodernen Physik gestellt wird. Die Prognoseproblematik sowie die Chancen einer Berechnung soll unter Verwendung von zeitdiskreten Abbildungen (Differenzengleichungen) erlutert werden.89 Sei F eine stetige Abbildung auf einem kompakten metrischen Raum. Der Orbit (Trajektorie, Bahn) von y 2 X ist die Folge von Zustnden {y, F(y), F2(y), …}. Folglich ist eine beliebige Folge von Zustnden {y0, y1, y2, …} genau dann ein Orbit, wenn F(yi) = yi+1 fr alle i 0. Dieser Orbit Ow := {y0, y1, y2, …} soll wahrer Orbit genannt werden, welcher – wenn er dynamisch-instabil ist – computernumerisch nicht exakt zugnglich ist. Numerisch sind i.A. lediglich so genannte d-Pseudo-Orbits Ops zugnglich.90 Definiert sei zunchst allgemein ohne Bezug zur Numerik und zur nichtexakten Darstellbarkeit: Gegeben sei ein d > 0. Ein d-Pseudo-Orbit Ops ist eine endliche oder unendliche Folge von Zustnden {x0, x1, x2, …}, so dass d(F(xi), xi+1) < d fr 0 i < imax. d(x, y) sei eine Abstandsfunktion in X (Abb. 5 – 4).
88 Allerdings nicht im Sinne Taylors. 89 Das geschieht ohne Begrenzung der Allgemeinheit („o.B.d.A.“). Was fr Abbildungen gilt, ist fr die theoretische Analyse des Berechnungsproblems bezglich der numerischen Behandlung von Differenzialgleichungssystemen ebenfalls gltig. 90 Umfangreich gezeigt in Robinson (1998), Ruelle (1989), Guckenheimer/Holmes (1983).
264
5. ber Genese und Geltung
Abb. 5 – 4: In der oberen Skizze ist die zeitliche Entwicklung eines numerisch berechneten Orbits im Vergleich zum numerisch unzugnglichen, wahren, chaotischen Orbit illustriert. In der unteren Skizze ist ein numerisch berechneter Pseudo-Orbit im Vergleich zu wahren Trajektorienstcken illustriert. Der Radius der Kreise betrgt d.
Interpretiert werden soll nun Ops auf dem Hintergrund numerischer Behandlung. F(xi) sei das wahre, nichtzugngliche Bild von xi ; und xi+1 sei das numerisch berechnete Bild von xi. Ein d-Pseudo-Orbit Ops liegt nur dann vor, wenn diese sich nicht um mehr als einen Abstand d, d(F(xi), xi+1) < d, unterscheiden. Da man xi+1 als eine (numerische) Stçrung n von F, F(xi) := F(xi) + n(xi), jn(xi)j < d, im Abbildungsschritt von i auf i+1 interpretieren kann, erhalten wir: F(xi) = xi+1 „ F(xi). Die durch numerische Berechnung entstandene Stçrung n in Abbildungsschritt i+1 ist unabhngig von der Stçrung in Abbildungsschritt i. Die Tatsache, dass bei einem d-Pseudo-Orbit die einzelnen Punkte vom wahren, nichtzugnglichen Bild ihrer Vorgnger weniger als d abweichen, besagt noch nicht, dass der d-Pseudo-Orbit einen wahren Orbit approximiert und nicht nur wahre Stcke verschiedener Trajektorien, wie in Abb. 5 – 4 dargestellt. Wenn nun nach der Vertrauenswrdigkeit eines berechneten Orbits relativ zu einem (unzugnglichen) wahren Orbit gefragt wird, ist der Begriff des Schattenorbits und der e-Beschattung hilfreich. Der Schattenorbit ist ein wahrer Orbit, der dem berechneten d-Pseudo-Orbit wie ein Schatten folgt. Wir formulieren dies zunchst wieder allgemein ohne numerischen Bezug: Der Punkt z0 2 X e-beschattet den d-Pseudo-Orbit Ops = {x0, x1, x2,…}, wenn gilt: d(Fi(z0), xi) < e, i 0. Der Orbit {z0,
5.5. Approximationsnumerik und Schattenberechnungen
265
Abb. 5 – 5: In der Skizze ist die zeitliche Entwicklung des wahren Schattenorbits und des berechneten d-Pseudo-Orbits dargestellt
F(z0), F2(z0), …} heißt e-Schattenorbit des (numerisch berechneten) Pseudo-Orbits Ops. Es ist nicht apriori klar, dass zu jedem berechneten Orbit Ops ein wahrer Orbit, d. h. zu einem d-Pseudo-Orbit Ops ein e-Schattenorbit existiert. Das Beschattungslemma zeigt nun, dass ein berechneter dPseudo-Orbit unter bestimmten Voraussetzungen immer in der Nhe eines wahren chaotischen Orbits bleibt. Es gilt somit unter einschrnkenden Voraussetzungen: Auch dann, wenn der (numerisch berechnete) Pseudo-Orbit Ops, welcher den bei y0 gestarteten wahren Orbit Ow beschreiben sollte, nicht in der Nhe des einen wahren Orbits Ow bleibt, so wird der Pseudo-Orbit Ops dennoch von einem anderen wahren ¯ w e-beschattet. Insofern ist in vielen Fllen die (unzugnglichen) Orbit O Mçglichkeit von Computersimulationen als Hilfsmittel zur Analyse chaotischer Dynamiken gegeben, und zwar auch dann, wenn man eigentlich die Berechnung des wahren Orbits Ow durchfhren wollte. Eine Voraussetzung, die zu erfllen ist, um das Beschattungslemma zu beweisen, ist, dass alle numerischen Fehler in jedem numerischen Rechenschritt jeweils durch die positive Konstante e > 0 beschrnkt sind. Das Beschattungslemma lsst sich formal folgendermaßen formulieren: Es existiert (unter bestimmten Voraussetzungen)91 fr jedes e > 0 ein d > 0, so dass es fr jeden d-Pseudo-Orbit {x0, x1, x2, …} in K einen e-Schattenorbit gibt, welcher von einem Punkt z0 2 K ausgeht (siehe ¯ w. D.h. ein mit Abb. 5 – 5).92 Der e-Schattenorbit ist ein wahrer Orbit O ¯w dem Computer berechneter Orbit approximiert einen wahren Orbit O erstaunlich gut, wobei die Voraussetzungen zu gewhrleisten sind. 91 K sei eine invariante hyperbolische Menge unter der stetigen Abbildung F. 92 Vgl. Coven et al. (1988), Ruelle (1989, 101), Guckenheimer/Holmes (1983, 251).
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5. ber Genese und Geltung
Das Beschattungslemma ist allerdings kein Weg zur Umgehung der dynamischen Instabilitt. Es bringt keinen konkreten praktischen Nutzen fr die Aussagen ber das Langzeitverhalten einer speziellen Trajektorie, woran empirische Physiker, Ingenieure und konomen interessiert sind. Das Beschattungslemma besttigt aber, dass statistische Eigenschaften dynamisch-instabiler Systeme, die durch Computersimulationen gewonnen werden, tatschlich eine Aussagekraft haben.93 Dass man trotz des Beschattungslemmas nicht allzu hoffnungsvoll bei der computernumerischen Berechnung instabiler Dynamiken sein sollte und die Beschattungseigenschaften nicht immer erfllt werden kçnnen, haben Dawson et al. (1994) gezeigt. Es gibt relevante Klassen von Systemen,94 in denen berechnete Orbits (Pseudo-Orbits) existieren, welche keine wahren Orbits (Schattenorbits) besitzen. Die Beschattung gilt zudem nur fr kurze Zeiten. Weil es chaotische Dynamiken gibt, welche nicht die Voraussetzungen des Lemmas erfllen, ist seine Relevanz und Reichweite fr die Berechenbarkeitsproblematik umstritten und bedarf im Einzelfall der Analyse. Diese lsst sich jedoch nicht immer in der notwendigen mathematischen Strenge durchfhren, so dass unklar ist, ob jeweils die Voraussetzungen des Beschattungslemmas erfllt sind. Wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass Trajektorien numerische Artefakte sind, stellt sich noch einmal dringlicher die Frage nach der Prfung von Modellen. „Unshadowability raises interesting questions about the validity of deterministic modeling for dynamical systems.“ (Dawson et al. 1994) Dass das Beschattungslemma innerhalb der Physik entwickelt wurde, zeigt – so lsst sich zusammenfassend sagen – , dass die Berechenbarkeitsthematik zu einem festen Bestandteil der erweiterten Physik zu zhlen ist. 93 Binder und Jensen (1986) zeigen, dass statistische Eigenschaften dynamischinstabiler Systeme wie die invariante Wahrscheinlichkeitsverteilung und Lyapunov-Exponenten in numerischen Simulationen (also auf endlichen Maschinen) erhalten bleiben. Ihr Beispiel ist die logistische Abbildung. 94 Dies sind so genannte nichthyperbolische Systeme, vgl. Guckenheimer/Holmes (1983, 40). Nun erfordert der Nachweis der Existenz eines e-Schattenorbits einen hohen mathematischen Aufwand und ist nicht allgemein sicherzustellen. Fr spezielle dynamische Systeme, die so genannten Axiom-A-Diffeomorphismen konnte die Existenz von Schattenorbits auf nichtwandernden Mengen nachgewiesen werden. Coven et al. (1988) zeigen unter Verwendung der Knetsequenz, dass die Familie von Zeltabbildungen tk (x) = { a·x, 0 x 1 ; a·(2x), pffiffiffi 1 x 2} die Beschattungseigenschaft fr fast alle Parameter a 2 [ 2, 2] besitzt, vgl. Nusse/Yorke (1988).
5.5. Approximationsnumerik und Schattenberechnungen
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Prognosen als Diagnosen Damit ist ein mçglicherweise paradox erscheinender Doppelaspekt hinsichtlich der Berechenbarkeit gekennzeichnet: Einerseits weist die nachmoderne Physik auf prinzipielle Grenzen der (quantitativen) Berechenbarkeit hin und fçrdert damit eine Erkenntnisskepsis, andererseits erweitert sie (partiell quantitative und insbesondere qualitative) Prognosehorizonte und tritt erkenntnisoptimistisch auf. Hier findet die Nichtlineare Zeitreihenanalyse (Takens 1980/85; Sauer et al. 1991) – jenseits des obigen Beschattungslemmas – eine weitere Verwendung. Der Zugang wird vielfach als black-box-Zugang oder als phnomenologischer Zugang bezeichnet (Abarbanel 1996). Im Unterschied zur Modellbildung ist hier ein physikalisches Wissen ber das reale dynamische Objektsystem, an dem gemessen wird, nicht notwendig. Die Nichtlineare Zeitreihenanalyse zielt nicht auf ein Systemverstndnis und auf Erklrungen, sondern auf lokale Zustandsprognosen. Es herrscht ein wissenschaftstheoretischer Instrumentalismus in Reinform vor, also Prognose ohne Erklrung. Zur lokalen kurzzeitskaligen Zustandsprognose instabiler Dynamiken sind weniger Informationen nçtig als zur Erklrung von physikalischen Systemeigenschaften. Das deduktiv-nomologische Erklrungsverstndnis mit seiner Identifikation von Prognose und Erklrung zeigt abermals seine Grenzen. Mit Hilfe der Nichtlinearen Zeitreihenanalyse und der qualitativen Rekonstruktion des Attraktors kann man kurzzeitskalige Prognosen durchfhren. Befindet sich die Dynamik auf dem Attraktor, wird sie diesen nicht mehr verlassen. Im Rahmen der Attraktorgeometrie sind Prognosen von zuknftigen Zustnden mçglich. Die Produktivitt der auf dynamischen Instabilitten wurzelnden Nichtlinearen Zeitreihenanalyse gegenber klassisch-statistischen Verfahren liegt darin, dass erstere den instabilen, aber regelbehafteten Aspekt der Dynamik in den Mittelpunkt stellen. Das wird besonders bei der Methode der Surrogat-Zeitreihenanalyse (Theiler et al. 1992) deutlich, welche zur Nichtlinearen Zeitreihenanalyse hinzutritt. Die Surrogat-Zeitreihenanalyse wurde als „Determinismustest“ oder „Kausalittstest“ bezeichnet (Theiler et al. 1992). Klassisch-statistische Verfahren suchen hingegen nicht nach regelbehafteten Anteilen in Zeitreihen, sondern nach Korrelationen. Zufllig erscheinende Zeitreihen wurden traditionell als vollstndig regellos, als „ontologisch“ zufllig, als „weißes Rauschen“ betrachtet und als solche statistisch analysiert – wie etwa im linearen und statistischen Zugang der Fourier-Analyse. Einzelereignisse („bursts“) gehen in statisti-
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5. ber Genese und Geltung
schen Mittelungen ber Gesamtheiten unter. Wer sich fr den Zugang mit statistischen Methoden entschließt, hat mithin eine Vorentscheidung getroffen, was er „sehen“ wird. Instabilitten und Chaos werden in diesem statistischen Zugang analog zu weißem Rauschen betrachtet und gelten als reiner Zufall. Dass sie Regelhaftigkeiten und Strukturen aufweisen, geht unter. Die nachmoderne Physik externalisiert hingegen gerade dasjenige nicht, was „wirr“ erscheint. Das Wirre ist zentraler Bestandteil der Natur und kein Zeichen unseres Wissensdefizits. Eine ihrer grundlegenden Erkenntnisse liegt ja darin, dass nicht alles, was wirr aussieht, ohne jede Regelhaftigkeit ist. Instabilitten sind also die Quelle, welche einen wirren Phnotyp erzeugen. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn wir den regelbehafteten „Genotyp“ nicht kennen oder gar nicht kennen kçnnen. In ihrer Anerkennung von dynamischen Instabilitten ermçglicht die nachmoderne Physik eine Trennung von rauschenden und regelbehafteten Anteilen der Dynamik (Schreiber/Grassberger 1991), was klassischstatistische Verfahren nicht leisten. Die regelbehafteten Anteile bilden den Hintergrund fr lokale Prognosen. Fr die ingenieurwissenschaftliche Praxis beispielsweise sind eingeschrnkte Prognosen in einigen Verwendungskontexten vielfach hinreichend, in anderen nicht. Somit ist eine weitere Kontextualitt zu erwhnen: Das, was als „berechenbar“ oder als „nicht berechenbar“ ausgewiesen werden kann, hngt vom Kontext, vom konkreten Objektsystem und von den Fragestellungen ab. So gehen in die Zuweisung „berechenbar“ und „nichtberechenbar“ Ziele und Zwecke sowie auch computernumerische Ressourcen ein. Eine universelle Ausweitung der Prognosehorizonte ist allerdings nicht in Sicht: Die nachmoderne Physik ist nicht als Fortsetzung klassisch-moderner Berechenbarkeitsprogramme (Kapitel 2) zu verstehen. Selbst wenn eine Rekonstruktion des Attraktors gelingt, sind nur kurzzeitige Prognosen mçglich; allgemeine Prognoselimitationen bestehen nach wie vor.95 Die nachmoderne Physik zeigt also eine Doppelbewegung: einerseits erweitert sie die Berechenbarkeit auf Objektsysteme, die 95 Es gibt ferner Hindernisse, etwa lange Einschwingzeiten („Transienten“). Dann verstreichen oftmals lange Zeitskalen, bis die Dynamik einen Attraktor erreicht, vgl. Abarbanel (1996). Und ob der Attraktor schließlich erreicht ist, lsst sich selten eindeutig feststellen. Ferner ist die Qualitt der Zeitreihe, insbesondere ihre Lnge, die Anzahl der Messpunkte und die Messgenauigkeit, oft unzureichend, um die mathematischen Voraussetzungen der Nichtlinearen Zeitreihenanalyse zu erfllen und eine verlssliche Prognosegrundlage zu erhalten.
5.6. Computerexperimente, Simulationen und Laborversuche
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sich dieser bislang entzogen haben; andererseits zeigt sie allgemeine Grenzen der Berechenbarkeit auf. Vielleicht wre dabei statt von Prognose besser von Diagnose zu sprechen. Damit wrde der qualitative Aspekt zutreffender hervorgehoben und zudem eine Nhe zur Medizin und zu den dortigen Diagnosen von Phnomenen und Symptomen des komplexen Organismus hergestellt (s.u.). Auch in der Medizin sind grundlegende Gesetzmßigkeiten unzugnglich. Dennoch hat sich ein diagnostisches Wissen etabliert, das es ermçglicht, sowohl aus Symptomen auf mçgliche Krankheitsquellen zu schließen („Erklrungsaspekt“) als auch aus bestimmten Symptomen warnend auf das mçgliche Auftreten unerwnschter zuknftiger Zustnde hinzuweisen (qualitativer Prognoseaspekt) (vgl. Liebert 1991).
5.6. Computerexperimente, Simulationen und Laborversuche Rechnertechnologie – eine dritte Sule der Physik? Technik ist fraglos zur faktischen Bedingung der Mçglichkeit von physikalischer Erkenntnis avanciert, wie umgekehrt Technikentwicklung ohne physikalische Entdeckungen unmçglich ist.96 Die Verschrnkung schreitet in der nachmodernen Physik weiter fort. Die Disziplinen – hier Ingenieurwissenschaften, dort Physik – rcken noch nher zusammen, als dies bereits ab dem 19. Jahrhundert der Fall ist. Wenn es je eine Trennung von Grundlagen- und Anwendungsforschung gegeben haben sollte, wird sie in Teilbereichen der nachmodernen Physik aufgehoben. Das zeigt sich nicht allein im Materiell-Artefaktischen, sondern insbesondere im Rahmen der computertechnologischen Entwicklung mit ihren neuartigen numerischen und visuellen Mçglichkeiten. Es verndert sich die physikalische Wissensproduktion. Aspekte einer technoscience werden innerhalb der Physik sichtbar.97 96 Dass Technikentwicklung weit mehr ist als eine kontingente Randbedingung fr die Entwicklung der Physik, wurde von der Wissenschaftsphilosophie lange Zeit bersehen. Nicht zuletzt jedoch haben wissenschaftshistorische Fallstudien seit einigen Jahren zur „Entdeckung des Experiments“ beigetragen und damit einen Technik- und Handlungsbezug herausgestellt, vgl. Kapitel 2 dieses Buches. 97 Zum Begriff der „Wissensproduktion“ siehe Gibbons et al. (1994) und zu dem der „technoscience“ siehe Haraway (1995), Latour (1987), Nordmann (2005) sowie Kapitel 7 in dieser Arbeit.
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5. ber Genese und Geltung
Ein doppelseitiges Bedingungs- und Ermçglichungsverhltnis von Physik und Rechnertechnik liegt vor. Einerseits wurzelt die rechnertechnologische Entwicklung in der Physik selbst. Die Festkçrper- und Halbleiterphysik und die Elektrodynamik spielten eine bedeutende Rolle. Automaten- und Informationstheorie, Kybernetik und allgemeine Strukturwissenschaften prgten durch theoretische Konzepte die Entwicklung der Rechnertechnologie.98 Ende der 1960er Jahre etablierte sich schließlich die Informatik als eigenstndige Disziplin (Mainzer 1979).99 Andererseits basiert die Physik – neben vielem anderen – auf der rechnertechnischen Entwicklung. Physik ist nicht losgelçst von „technical developments that open new opportunities for experimentation and theorizing.“ (Rouse 1987, 140) Die nachmoderne Physik erreichte in einer bestimmten historischen Epoche ihren Durchbruch, nmlich zu jener Zeit, als die Computertechnologie so weit fortgeschritten war, dass instabile Modellsysteme numerisch zugnglich wurden.100 Als konstitutive Bedingung zur Vernderung im Physikverstndnis wird die Entwicklung von Computertechnologie meist unterschtzt.101 In der nachmodernen Physik spielt die Computertechnologie nicht allein auf Seiten der Theorien und Modelle (d. h. der Approximation und Prognose) eine Rolle. Sie zhlt nicht ausschließlich zur theoretischen Physik, ist nicht nur ein dort anzusiedelndes ußeres Hilfsmittel und randstndiges Verfahren, wie Manfred Stçckler (2000, 356) meint.102 Vielmehr findet man sie auch auf der komplementren Seite als Teil einer 98 Beispielhaft waren John v. Neumann, Alan Turing, Claude Shannon, Norbert Wiener u. a. 99 Ihr wissenschaftlicher Status war zunchst umstritten. Bis heute hlt die Diskussion um Zweck und Methoden der Informatik an (Coy 1992). Unklar ist, ob sie eine Strukturwissenschaft (der Mathematik verwandt), eine Ingenieurwissenschaft (hnlich der Elektrotechnik) oder ein gnzlich neuer interdisziplinrer Wissenschaftstyp ist. 100 Abarbanel (1996, 13) sagt: „The gap between the development of these tools in the 1980 s and 1990 s, and the recognition that the need was there by Poincar and other 80 years before, can probably be attributed to the absence of adequate computational power to analyze the nonlinear dynamics [and unstable systems].“ 101 So auch in der aufschlussreichen Studie von Hedrich (1994) und bei Stçckler (2000). 102 Dabei handelt es sich gewiss nicht allein um eine Behandlungs- und Berechnungsmethode von komplizierten Theorien, wie Redhead (1980, 156) meinte. „If a theory T is too complicated to work with in producing precise empirical predictions, we are faced with what may be called the computation gap. This can only be bridged by means of some approximation which will yield predictions for comparison with experiment.“
5.6. Computerexperimente, Simulationen und Laborversuche
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erweiterten Experimentalphysik. Terminologisch wird hier weniger von Berechenbarkeit als von „Computerexperiment“, von „numerischem Experiment“, „statistischem Experiment“ und „numerischer Simulation“ gesprochen (Ulam 1952; Phillips 1956; Warnke 2002). Nimmt man beides zusammen, die numerische Berechenbarkeitsthematik auf Seiten der theoretischen Physik und die computerbasierte simulative Experimentierthematik auf Seiten der Experimentalphysik, scheint es angezeigt zu sein, die traditionelle Dichotomisierung zu erweitern und aufzulçsen. Eine dritte tragende Sule der Physik beginnt sich zwischen theoretischer und Experimentalphysik zu etablieren. Im zunchst paradox erscheinenden Hybridbegriff „numerisches Experiment“ treffen beide zusammen, in der Numerik das Mathematisch-Theoretische, im Experiment das Materiell-Faktische. Vielleicht kçnnte man diese dritte Sule als Simulations-Physik bezeichnen, insofern in Simulationen das Berechnen und das Experimentieren als zwei Seiten einer Handlung zusammenfallen. Entscheidend ist demnach nicht nur die Theorie- und Modellseite und der dort entstandene Bedarf an Rechnertechnologie zur Behandlung instabiler Dynamiken. Vielmehr gab es auch einen experimentellen Bedarf: Denn viele Objektsysteme entziehen sich einer labortechnischen Prparierung und bleiben dem menschlichen Erkenntnishandeln unzugnglich. Das waren zunchst hochdimensionale Objektsysteme der großen Natur wie Kosmos, Planetensystem und Wetter. Kosmologie, Astronomie und Meteorologie konnten zwar als Erfahrungswissenschaften bezeichnet werden, jedoch nicht als Experimental- und Laborwissenschaften.103 Das hat sich verndert. In den letzten 30 Jahren entstand ein computernumerisches Laboratorium, zunchst fr Makroobjekte, dann fr Meso- und Mikroobjekte, damit auch fr instabile Objektsysteme der mittleren Natur. Sie kçnnen nicht derart labortechnisch prpariert und in ihrem Verhalten beherrscht werden, dass ein materiellenergetisches Experimentieren und Reproduzieren mçglich wre. Numerische Experimente schaffen Abhilfe und ermçglichen quasi-experimentelle Untersuchungen. Sie stellen allerdings nicht nur einen notdrftigen Ersatz oder ein geringfgig modifiziertes Instrument dar, sondern sie sind etwas Anderes und Neues in der Physik. 103 Fr die Kosmologie hat sich das schon dadurch gendert, dass der frhe Kosmos und die sukzessive Ausdifferenzierung der vier Grundkrfte heute technisch in hochenergetischen Teilchenbeschleunigern, zumindest teilweise, zugnglich sind.
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5. ber Genese und Geltung
Numerisches Experiment, Computer-Experiment, Virtuelles Labor Durch die Rede von „numerischen Experimenten“ und „virtuellem Labor“ (Ulam 1952; Phillips 1956; Meinhardt 1996) deutet sich eine Vernderung und Erweiterung des Experiment-Verstndnisses sowie der Experimentier-Kultur an.104 Experimente werden in der nachmodernen Physik von materiell-energetischen und von rumlichen Dimensionen weitgehend abgelçst. Eine Entmaterialisierung des Experiments und eine Digitalisierung der experimentellen Erfahrung zeigen sich. Computergesttzte Visualisierungen prgen physikalisch-nachmodernes Erkenntnishandeln. So kçnnte man von einer Virtualisierung und von einer Informatisierung experimenteller Erfahrung sprechen. Numerische Experimente sind als solche schon auf den Computer zugeschnitten; sie sind von diesem abhngig und ohne ihn unmçglich. In die Konstruktion der numerischen Experimente gehen die verfgbaren Computerressourcen und Computerarchitekturen mit ein, die digitaldiskreten Visualisierungsmçglichkeiten, die algorithmisch mçglichen numerischen Lçsungsverfahren und Simulationstechniken. Vielfach werden eigens Simulationsmodelle fr computernumerische Verwendungen („Implementierungen“) konstruiert, etwa die raum-, zeit- und zustandsdiskreten Zellulren Automaten (Wolfram 1984). Bettina Heintz und Jçrg Huber bezeichnen nicht nur die Variation von Parametern und Startbedingungen sowie die numerische Simulation, sondern auch den Visualisierungsprozess als „genuin experimentellen Vorgang“ (Heintz/ Huber 2001, 23).105 Insofern Experimente charakterisiert wurden (Kapitel 2.4) durch (0) Isolierbarkeit, (1) Zugnglichkeit, Variierbarkeit und Kontrollierbarkeit, (2) Wiederholbarkeit von Prozessen sowie (3) Reproduzierbarkeit von Resultaten, kçnnen auch numerische Experimente als „Experimente“ bezeichnet werden. Das deckt sich mit dem gngigen Wortgebrauch bei Physikern. Der Rekurs der klassisch-modernen Physik auf das MateriellEnergetische stellt aus dieser Perspektive eine Einschrnkung des Expe104 Zwar wird man in Rechnung stellen mssen, dass der Begriff des Experiments niemals przise war (Heidelberger/Steinle 1998). Vielfach wurde nicht nur von „Experiment“, sondern auch von „Gedankenexperiment“ gesprochen – ein Begriff, den Ernst Mach im Jahre 1905 von Oersted, 1811, aufnahm (Mach 1991, 183 ff ). Aber eine derartige Erweiterung des Experiment-Verstndnisses, wie es sich heute in der nachmodernen Physik findet, ist dem bisherigen unhnlich. 105 hnlich auch Earnshaw/Wiseman (1992, 5).
5.6. Computerexperimente, Simulationen und Laborversuche
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rimentbegriffs dar. Eher kçnnte sich eine Verwandtschaft von numerischem zum Gedanken-Experiment (Mach 1991, 183 ff ) finden. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Bei einem Gedankenexperiment spielt weniger die Zeitlichkeit und der Prozess eine Rolle – es ist nicht selbst in der Zeit. Auf den Prozessverlauf und Vollzug als Charakteristikum des Experiments kann allerdings, so hatten wir in Kapitel 2 dargelegt, nicht verzichtet werden. Ansonsten wrde jedes logische Ableitungsund Schlussverfahren als „Experiment“ zu bezeichnen sein. Das wre allerdings allzu umfassend und zu unspezifisch. Numerische Experimente stellen also zeitliche Prozesse dar. Jeder computernumerische Lauf bençtigt Zeit. Die Zeitlichkeit ist der basalen Physikalitt geschuldet: Computer sind physische Maschinen, fr welche physikalische Gesetzmßigkeiten gelten (elektromagnetische, thermodynamische, …). Das verbindet sie mit den nicht-instantanen Experimentier-Prozessen in der materiell-energetischen Welt. Wenn von Entmaterialisierung des Experiments gesprochen wird, so ist damit also nicht gemeint: jenseits des Materiellen, sondern: jenseits der ObjektsystemMaterialitt. Das Materielle, der Computer, wird verwendet, um mit etwas anderem, was als Nicht-Materielles – etwa das im Programm-Code dargelegte und zugerichtete Modell – vorliegt, zu experimentieren. Im Computer wird das Nicht-Materielle mit dem Materiellen verwoben. Eine „Hybridisierung“ von Soft- und Hardware findet statt. Wird ein Experiment ein erstes Mal durchgefhrt, so wird meist etwas Neues hervorgebracht oder produziert, analog zu dem, was von Selbstorganisationstheorien beschrieben wird (s.u.). Michael Heidelberger (1998) spricht von einer „Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment“. Vor dem erstmaligen Auftreten war das Neue unbekannt, auch wenn es Hinweise gegeben haben mag. Anders jedoch als bei materiell-energetischen Experimenten ist das Neue in numerischen Experimenten kein Phnomen in Raum und Zeit. Vielmehr ist es „neu“, insofern das mathematische Modell und seine Gleichungen es nicht direkt zu zeigen vermochten. Die Phnomenalitt war verschlossen; sie musste erst im numerischen Experiment produziert werden, um spter reproduziert werden zu kçnnen. Der nachmoderne Physiker experimentiert folglich nicht primr mit materiell-energetischen Objektsystemen, sondern mit Modellen, welche er konstruiert und computernumerisch zugerichtet hat.106 Doch fllt das 106 Beispielsweise fhren Mossner, Drossel und Schwabl (1992) „Computer simulations of the forest-fire model“ durch und publizieren ihre Ergebnisse in einer physikalischen Fachzeitschrift („Physica A“).
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5. ber Genese und Geltung
numerische Experiment nicht allein auf die Seite der Theorie, auch wenn das Theoretische, in der Form eines Modells, eine grundlegende Rolle spielen mag. Das numerische Experiment trat in der wissenschaftshistorischen Entwicklung zunchst an die Stelle eines nicht realisierbaren materiell-energetischen Experiments (etwa in der Meteorologie, funktionaler Grund), spter aus pragmatischem Grund an die Stelle von Experimenten in hochdimensionalen, finanzressourcenraubenden oder risikoanflligen Objektsystembereichen, heute aus prinzipiellem Grund auch in der nachmodernen Physik an die Stelle niedrigdimensionaler instabiler Objektsysteme. Das numerische Experimentieren erfllt dabei die fr „Experimente“ geltenden Merkmale: Zugnglichkeit, Variierbarkeit und Kontrollierbarkeit (Kapitel 2). Verschiedene Start- und Randbedingungen sind zugnglich; sie werden kontrolliert, variiert, durchgespielt, um Neues zu erzeugen, Bekanntes zu reproduzieren und Komplexitts-Kenngrçßen zu gewinnen. Auch und gerade im numerischen Experimentieren tritt etwas Spielerisches zu Tage. Verlust der Wirklichkeit? – Probleme eines berzogenen Realismus In der logisch-empiristischen wie der kritisch-rationalistischen Standardauffassung diente das Experiment der Prfung von Theorien und der Auszeichnung von Gesetzen. Die kritische Prffunktion erscheint derart zentral fr Geltung und Begrndung der Physik, dass ohne sie jede exakte Naturwissenschaft ihren Boden verlieren wrde. Mit dem Empirieverlust wre jeglicher Rekurs auf Wirklichkeit unmçglich. Nennt man das numerische Experiment ein Surrogat fr ein materiell-energetisches Experiment, so liegt es nahe, einen Verlust von Wirklichkeit und von ußerer Referenz zu konstatieren. Die materiellen Natur-Objekte werden nicht mehr erreicht; reprsentierendes Wissen wird unmçglich, wie Jean Baudrillard meint: „Heute geben unsere Wissenschaften das strategische Verschwinden des Objekts auf dem Schirm der Virtualisierung zu: das Objekt ist fortan nicht mehr greifbar.“ (Baudrillard 2002, 47) Das mag fr starke Spielarten eines wissenschaftlichen Realismus eine Provokation darstellen. Aus Perspektive des Realismus, der ironischerweise Experimente ansonsten kaum zur Kenntnis nimmt, kann sogar bestritten werden, dass numerische Experimente als „Experimente“ bezeichnet werden kçnnen. Demnach stehen numerische Experimente ganz auf der Seite der Theorie; sie beziehen sich allein auf den mathematischen Umgang mit der Theorie. Der Computer
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erscheint lediglich als ußeres Instrument, als modifizierter Taschenrechner oder als visuell-illustrierendes oder didaktisches Darstellungsmedium, ohne jede Einwirkung auf physikalische Methodologie und die Geltung von Theorien: „Computer simulations enable tremendous progress on a pragmatic level, as a matter of degree in terms of speed and quantity, but not a revolution in the principles of methodology.“ (Stçckler 2000, 356) So bleibt es beim ußerlich instrumentellen Verstndnis, ohne die Reflexionstiefe der Technikphilosophie zu erreichen. Computersimulationen sind, so Stçckler (2000), „Instruments for the study of Complex Systems“ – mehr nicht. In der Abwertung des Computers als Instrument liegt eine verblffende hnlichkeit zur traditionellen Marginalisierung des materiell-energetischen Experiments vor: Beide besitzen lediglich eine dienende Funktion. Dass Simulationen eine eigene Realitt aufweisen, kann dann nur bestritten werden. Eine dritte Sule der Physik oder gar eine nachmoderne Physik scheint undenkbar zu sein, und falls doch, so steht sie zumindest unter dem Vorbehalt des Unwissenschaftlichen, als reines Spiel ohne Referenz. Es mag zunchst ein terminologisches Problem darstellen: „Simulation“ klingt nach dem, was gerade nicht real zu sein scheint. Sie stellt demnach knstliche Ablufe dessen dar, was gerade nicht (real) ist; sie (be)trifft offenbar nicht die „wirkliche Natur“, wie sie ist. Somit kçnnen Simulationen keine Wirklichkeit reprsentieren, keine Beobachtungsaussagen darstellen und keinen naturwissenschaftlichen Geltungsanspruch erheben – obwohl doch gerade nicht Nichts simuliert wird, sondern versucht wird, physikalische Objektsysteme zu imitieren. Skeptisch mçgen Realisten wohl auch deshalb bleiben, weil im Umfeld von Simulationen und Computertechnologien, von Knstlichen Neuronalen Netzen und Zellulren Automaten, der neuere, der radikale Konstruktivismus entstanden ist. Hier mag der Hybridbegriff des „numerischen Experiments“ weniger konstruktivistisch anmuten als der der „Simulation“. Allerdings ndert sich durch die vernderte Benennung nichts an dem Sachverhalt. Numerische Experimente stellen – im Unterschied zu materiell-energetischen Experimenten – nicht das naturgesetzlich Mçgliche als technischexperimentell Realisiertes dar. Vielmehr tritt im numerischen Experiment ein potenziell Naturgesetzliches hervor: Das, was sich im numerischen Experiment zeigt, kann mit den (ußeren) Naturgesetzen in Einklang stehen, muss es aber nicht – von „virtueller Welt“ wird gesprochen. Doch verkrzt wre es, nur bei letzterem den konstruktiven Anteil anzuerkennen; auch materielle Experimente sind konstruiert. Nur graduell, nicht
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5. ber Genese und Geltung
aber prinzipiell steigt der konstruktive Anteil bzw. reduziert sich der realistische Anteil. Schließlich basieren viele der in numerischen Experimenten verwendeten Modelle auf Modellbildungsprozessen, in welche physikalisches Wissen eingeht. Das potenziell Naturgesetzliche ist nicht notwendigerweise als das Nicht-Naturgesetzliche zu fassen. Gewissermaßen kann es das Noch-nicht-Erwiesene, das Hypothetische, sein, was mit einigen, nicht mit allen physikalischen Theorien konsistent zu verbinden ist. Es kann aber auch auf eine technische Realisierung zielen – und damit auf faktisch realisierbare Naturgesetzlichkeiten. Numerische Experimente mit Modellen, die aus der Modellklasse der Zellulren Automaten aufgebaut sind, liegen etwa der faktischen Konstruktion von komplexen technischen Produktionsanlagen zugrunde. An (und mit) Modellen, die aus Genetischen Algorithmen oder Knstlichen Neuronalen Netzen bestehen, wird beispielsweise experimentiert, um Optimierungen in der Automobilkonstruktion und -fertigung vorzunehmen. Zellulre Automaten, Genetische Algorithmen und Knstliche Neuronale Netze tragen damit zur faktischen Konstruktion von Wirklichkeit bei; sie sind weniger Abals vielmehr Vorbild. Diese Technik- und Ingenieursnhe mag einen Teil der Ambivalenz ausmachen, die numerischen Experimenten zukommt. Starke Spielarten des Realismus sind dem Technischen wenig zugeneigt.107 Potenzielle und faktische Naturgesetzlichkeit mçgen zunchst zu unterscheiden sein. Das Newton’sche Gravitationsgesetz mit einer anderen als der gemessenen Gravitationskonstante auf der Erde ist zwar potenziell denkbar, faktisch aber nicht realisiert. Doch kann, wie Astrophysik und Kosmologie zeigen, das computernumerisch-experimentelle Spiel und die Variationen von Konstanten erkenntnisgewinnend sein. Die Kenntnis potenzieller Naturgesetzlichkeit, wie sie im numerischen Experiment durch Simulation gewonnen wird, kann zur Erkenntnis faktischer Naturgesetzlichkeit beitragen. Bestes Beispiel ist die Frage, ob das Universum fr unendliche oder fr endliche Zeit expandiert.108 Ein funktionaler Nutzen numerischer Experimente ist offensichtlich. 107 Sie beziehen sich lieber auf das, was traditionell als Grundlagenforschung, als reine Naturwissenschaft bezeichnet wird. Das war und ist zumeist die theoretische Physik, insbesondere die Hochenergie- und Elementarteilchenphysik sowie die Kosmologie und Astrophysik. 108 Die nach der Allgemeinen Relativittstheorie mçglichen Naturgesetze („Kosmen“, „Welten“) sind nicht notwendigerweise alle faktisch realisiert – auch wenn das etwa die Anhnger der so genannten Vielewelten-Interpretation meinen mçgen.
5.6. Computerexperimente, Simulationen und Laborversuche
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Die Grenze zwischen Faktischem und Potenziellem ist allerdings alles andere als scharf zu ziehen; die Frage nach den Geltungsbedingungen des Faktischen und seine Abgrenzung vom nur Potenziellen scheint nicht abschließend klrbar zu sein, schon gar nicht durch Messungen und Empirie. Hier vermuten Realisten nicht zu Unrecht, dass eine Physik, die auf numerischen Experimenten, Computernumerik und Simulationen basiert, den Realismus nicht ungeschoren lassen kann. Eindeutige ußere Referenz und approximative Reprsentation kçnnten gefhrdet sein. Neue Vagheiten und modifizierte Kriterien einer nur noch qualitativen und strukturellen Reprsentation mçgen dabei tatschlich ins Spiel kommen. Die Objektsysteme der Natur sind offenbar nicht allesamt so geartet, wie sie fr den Realismus als wissenschaftsphilosophische Position hilfreich wren. Realisten haben in ihrer Idealtypisierung der klassisch-modernen Physik – Hacking spricht von einer „Mumifizierung“ (Hacking 1996, 13) – weitgehend diejenigen Objektsysteme ausgeblendet, die dem Realismus seine saubere Argumentationsbasis zu entziehen drohen: die instabilen Objektsysteme. Wenn diese heute vermehrt wissenschaftlich zugnglich werden, wird nicht nur die (Modell-) Genese und (numerische) Experimentierhandlung aufgewertet. Vielmehr wird auch die Geltung der Modelle und Theorien abhngig von numerischen Experimenten und Simulationen. Qualitative visuell-gesttzte Kriterien werden zum Evidenzausweis der Geltung von Theorien herangezogen. Dass die Computerisierung der Physik zu „neuen Kriterien der Wissenschaftlichkeit“ fhre, hat Hans Poser (2001, 282) zu Recht diagnostiziert. Die weiter vorne dargelegten Komplexittskenngrçßen deuten diese Kontextualitt an. Viele Realisten mçgen hier eher Risiken als Chancen sehen. Doch die nachmoderne Physik wird in ihrer Extensionserweiterung und Geltungsrelativierung davon kaum erschttert werden. Sie verliert den Bezug zur Realitt nicht, wie der Realismus ihr unterstellen mag. Aber physikalische Realitten sind nicht mehr nur das, was der Realismus unterstellt, nmlich die einfachen, mathematisch gut zugnglichen stabilen Objektsysteme; und Realitt ist nicht nur die kleinste und grçßte Natur, der Mikro- und Makrokosmos, sondern insbesondere die des Mesokosmos, die Natur der mittleren Grçßenordnung. Fr den Mesokosmos scheint gerade der klassisch-moderne Dualismus von Experiment und Theorie nicht adquat zu sein. Die dritte Sule der Physik – die Simulationen und numerischen Experimente, bezogen auf eine eigene potenzielle Realitt – operiert vermittelnd und erweist sich angesichts der Vielzahl der instabilen Objektsysteme als grundlegend.
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Handeln in Netzen Es war zunchst ein Scheitern, das zur Notwendigkeit numerischer Experimente fhrte: Materiell-energetische Experimente an instabilen Objektsystemen erwiesen sich als problematisch bis unmçglich (Kapitel 3). Lediglich nichtreproduzierbare Zeitreihen kçnnen generiert werden – ohne Chance auf eine hnliche Wiederholung der Dynamik des Objektsystems. Was immer wir handelnd, technisch prparierend und eingreifend versuchen sollten: eine hnlichkeit wird sich nicht ein- und herstellen lassen. Was aber heißt das fr wissenschaftliches und nichtwissenschaftliches Handeln des Menschen in Natur und Technik? Die einst fruchtbare Separierbarkeit von Objektsystem einerseits und seiner Umwelt andererseits steht durch die Erkenntnisse der nachmodernen Physik erneut in Frage. Die Separierbarkeit hatte schon Werner Heisenberg aus quantenphysikalischer Perspektive problematisiert, allerdings ohne Rekurs auf Instabilitten: „Man kann sagen, daß die klassische Physik eben die Idealisierung der Welt darstellt, in der wir ber die Welt oder ber ihre Teile sprechen, ohne dabei auf uns selbst Bezug zu nehmen.“ (Heisenberg 1994, 57)109 Die Idealisierung lçse jeden Bezug auf; sie sei eine voraussetzungsreiche Festlegung, die eine Separierbarkeit der jeweiligen Welt von ihrer Umwelt unterstelle. Doch die Separierbarkeit ist nicht in jedem Falle mçglich. Und sie ist auch nicht notwendig, um Physik als Physik auszuweisen. In der Kosmologie ist etwa ein Beziehungstyp bekannt, der zwar nicht im methodisch-experimentellen, wohl aber im erklrungstheoretischen Sinne kontrovers diskutiert wurde: das Anthropische Prinzip (Carter 1974; vgl. Kanitscheider 1985). In der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik wird ein weiterer Beziehungstyp vorgebracht, der methodisch-experimentell, mçglicherweise sogar ontologisch zu verstehen ist. Jede Messung stellt einen Eingriff in das quantenphysikalische System – und somit einen handelndherstellenden Bezug – dar. Man spricht von einer Reduktion der Wellenfunktion durch die Messung, wobei die Wellenfunktion als vollstndige Charakterisierung des Systems gilt. Ob und was das System unabhngig von der Messung ist, lsst sich nicht sagen. Epistemologie und Ontologie durchdringen einander. Insofern in der Kopenhagener Deu109 Heisenberg (1994, 56) hat herausgestellt: „Die klassische Physik beruhte auf der Annahme – oder sollten wir sagen auf der Illusion? – , daß wir die Welt beschreiben kçnnen oder wenigstens Teile der Welt beschreiben kçnnen, ohne von uns selbst zu sprechen.“
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tung die Messung als von Menschen durchgefhrt verstanden wurde, konnte Niels Bohr sagen: Wir Menschen sind in der Physik – wie „im Schauspiel des Lebens“ – „gleichzeitig Zuschauer und Mitspieler“. Jede quantenphysikalische Tatsache ist eine „Tat-Sache“, sie handelt von unseren Taten, von dem, was wir getan haben (Meyer-Abich 1997b). Das Anthropische Prinzip wurde fr den Makrokosmos, die Kopenhagener Deutung fr den Mikrokosmos formuliert. Selbst wenn man von einer ontologischen Einheit der Natur ausgeht, wird man zugestehen, dass die Natur der mittleren Grçßenordnung, der Mesokosmos – obwohl sie im Prinzip durch die Quantenphysik erfasst wird – wenig berhrt ist. So wurde weiterhin die Separierbarkeit fr den Mesokosmos methodisch als unproblematisch vorausgesetzt. Durch die nachmoderne Physik ndert sich das. Ein Beziehungstyp, analog zur Quantenphysik, wird ebenfalls fr den Mesokosmos formulierbar. Instabile Dynamiken lassen nicht nur eine Reproduzierbarkeit fragwrdig erscheinen. Auch eine Trennung von Experiment und seiner Umwelt wird unmçglich. Ein derartiger Kontrollverlust hatte zur Problematisierung des materiell-energetischen Experiments gefhrt (Kapitel 3). Wenn man dennoch in der nachmodernen Physik von einem materiell-energetischen Experiment spricht, dann nicht mehr bezogen auf Reproduzierbarkeit im Sinne quantitativer Wiederholung von Ereignissen. Das, was im Experiment in der nachmodernen Physik sich ereignet, ist nicht mehr zu kontrollieren und nicht mehr zu reproduzieren: es bliebe das „unkontrollierte Experiment“, oder eben das (reproduzierbare) numerische Experiment. Wissenschaftlich-technisches Handeln stellt sich so als ein Handeln in Netzen dar. Dynamische Instabilitten weisen globale Rckkopplungen auf. Von einem Handlungs-Holismus kçnnte gesprochen werden, insofern Ursachen und Wirkungen ebenso wenig separierbar sind wie verschiedene Ursachen untereinander. Intentionalitt – das klassische Kennzeichen von Handlungen – geht in instabilen Systemen allerdings verloren. Zur Sicherung der Intentionalitt ist ein lineares Verstndnis und stabiles Verhltnis von Ursache und Wirkung notwendig. Klassische Handlungstheoretiker drften bei allzu viel Instabilitt nicht mehr bereit sein, von Handlung zu sprechen (Wright 1991). Wenn das Handlungsverstndnis hingegen von dem engen Bezug auf Intentionalitt – auf voraussehbare und angestrebte Folgen, Ziele, Wirkungen – gelçst werden wrde, kçnnte ein modifizierter Handlungsbegriff – ein HandlungsHolismus – adquat sein. Einerseits ist der Handlungs-Holismus schwcher, insofern das linear-stabile Ursache-Wirkungs-Verhltnis ver-
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5. ber Genese und Geltung
loren geht; andererseits ist er strker, insofern durch Instabilitten ganze Netze involviert sind. Der Handlungs-Holismus fhrt ber die etablierten Fragestellungen des wissenschaftstheoretischen Holismus – ber Duhem, Quine und andere – hinaus. Der wissenschaftstheoretische Holismus hatte in der starken Theorie- und Sprachorientierung das (Experimentier-) Handeln abgewertet. Gerade Duhem war hier allzu deutlich (Duhem 1978, 188 f/ 201 f ). Semantische Fragen und Sprachanalysen dominierten das Feld. Der Handlungs-Holismus hingegen erweitert die Perspektive von Sprache und Theorie auf Mensch, Natur und Technik. Er steht methodologischen Aspekten nher, dem Handeln in komplexen instabilen Netzen. Damit wird ein Bezug zum Mesokosmos hergestellt: Wir sind tatschlich gleichzeitig Zuschauer und Mitspieler im Schauspiel des Lebens und im Schaufenster der Wissenschaft.
5.7. Fazit Die aktuelle Physik der Instabilitten weist modifizierte Bedingungen der Genese und Geltung physikalischen Wissens auf. Das konnte in methodologischer und epistemologischer Hinsicht durch Stichworte gekennzeichnet werden wie Reflexivitt (Abs. 5.2), Kontexttest und qualitative Prfung (Abs. 5.3), Modell und Modellerklrung (Abs. 5.4), Approximationsnumerik und Schattenberechnung (Abs. 5.5) sowie numerische Experimente (Abs. 5.6). Die nachmoderne Physik nimmt einerseits die vierteilige Typologie des Referenzsystems der klassisch-modernen Physik auf (Kapitel 2) und wird als Physik ausweisbar. Andererseits wird die Typologie inhaltlich modifiziert. Die nachmoderne Physik stellt einen Physiktyp dar, der noch zur Physik zu zhlen ist, zugleich aber die Physik erweitert.
6. ber Natur, Welt und Wirklichkeit Wissenschaftsinhaltliche Erweiterung zur nachmodernen Physik 6.1. Selbstorganisation, Materie und Zeit Einleitung Dass Selbstorganisation mçglich ist, kann als der entscheidende Hinweis auf die Existenz und Relevanz von Instabilitten angesehen werden.1 Es soll nun das Verhltnis von Selbstorganisation und Instabilitt nher charakterisiert werden. Eine derartige Erçrterung steht zunchst vor einem begrifflichen Problem. Der Begriff „Selbstorganisation“ wird in den empirischen Wissenschaften sowie in Philosophie und Lebenswelt uneinheitlich verwendet. Er ist weder intensional noch extensional klar gefasst:2 Er tritt in unterschiedlichen, oft unspezifischen Bedeutungen in verschiedenen Verwendungskontexten auf. Die fr Selbstorganisation als beispielhaft angesehenen Phnomene liegen in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Teildisziplinen: Laser, Plasmaphysik, Fluidmechanik, thermodynamisch-dissipative Strukturbildungen, enzymkinetische Reaktionen, mechanische und elektrische Schwingungen, biologische Populationsdynamiken, neuronale Musterbildungen, Zebramustergenerierungen, Kaufhauswarteschlangendynamiken oder auch Staumuster auf Autobahnen.
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Sowohl im lebensweltlichen wie im wissenschaftlich-physikalischen Naturzugang wird man die vielfltigen Phnomene der Selbstorganisation kaum bestreiten kçnnen. Die Entstehung und Entwicklung von komplexen dynamischen Systemen in Natur und Technik konnte die klassische Physik, aber auch die moderne Physik nicht adquat beschreiben. Zur Struktur- und Musterbildung, zur Selbstorganisation von Materie fehlten der klassisch-modernen Physik Instabilitten. Insofern Selbstorganisation auf Instabilitten basiert, werden Instabilitten als zentrale Eigenschaft der Natur positiviert. Das ist hnlich bei verwandten Begriffen, wie „Autopoiesis“, „Emergenz“, „Synergie“, „Chaos“, „Katastrophe“, „Kritikalitt“ und „Symmetriebruch“.
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6. ber Natur, Welt und Wirklichkeit
So verwundert es kaum, dass verschiedene Selbstorganisationstheorien koexistieren. Unterschiedliche Zugnge zu Begriff, Gegenstand und Phnomen von Selbstorganisation finden sich in der Synergetik, der Nichtgleichgewichtsthermodynamik, der Fraktalen Geometrie, der Chaostheorie, der Katastrophentheorie, der Theorie des Hyperzyklus, der Kybernetik u. a. Es gibt folglich nicht die eine Selbstorganisationstheorie, nicht das eine zentrale Phnomen und den einen paradigmatischen Gegenstand dieser Theorie. Und doch ist es wissenschaftsphilosophisch lohnenswert nachzufragen: Was ist das Verbindende, das es rechtfertigen kçnnte, den Kollektivsingular „Selbstorganisation“ zu verwenden? Die hier vertretene und zu begrndende These ist, dass das Verbindende in Instabilitten einerseits und in bestimmten Phnotypen andererseits zu finden ist. Selbstorganisation basiert auf einem physikalisch-nomologischen Kern. Konstitutiv sind unterschiedliche Typen von Instabilitten. Selbstorganisation wird, so die Physiker Werner Ebeling und Rainer Feistel, „durch eine Instabilitt der ,alten‘ Struktur gegenber kleinen Schwankungen eingeleitet.“ „Aus diesem Grunde ist das Studium der […] Instabilitten von hohem Interesse.“ (Ebeling/Feistel 1994, 46) Klaus Mainzer stellt heraus, dass „neue Formen der Natur […] durch Symmetriebrechnungen [entstehen]. Systemzustnde erreichen aufgrund vernderter Nebenbedingungen kritische Werte und werden instabil.“ (Mainzer 1988, 573) Auch Gregoire Nicolis und Ilya Prigogine verstehen „Instabilitten“ als „eine notwendige Bedingung der Selbstorganisation“ (Nicolis/Prigogine 1977, 3). Und Wolfgang Krohn und Gnter Kppers heben hervor, dass „Instabilitten […] der Motor der Systementwicklung [sind].“ (Krohn/ Kppers 1992, 3) Neben dem Verstndnis von Instabilitten als zugrundeliegendem „Entwicklungsmotor“ wird auf Irreversibilitt und auf die Zeitthematik Bezug genommen. Die herkçmmliche Physik sei „nicht in der Lage, den Widerspruch zwischen Reversibilitt und Irreversibilitt aufzuklren. Es bedurfte der Einfhrung des neuen Konzeptes der Instabilitt.“ (Ebeling/Feistel 1994, 197)3 Eine „Physik der Evolutions3
Ebeling und Feistel (1994, 198) stellen heraus: „[D]ie eigentliche Wurzel fr die makroskopische Gerichtetheit ist die Instabilitt, die Divergenz der mikroskopischen Bewegungen.“ hnlich meint Abarbanel (1996, 145): „If biological systems had adopted [stable] periodic or quasi-periodic motions, they might have failed to evolve.“ Langer (1980) hat hierzu einige systematische Aspekte vorgebracht und Grimm (2004, 71 ff ) hat den facettenreichen Stabilitts- und Instabilittsdiskurs in Biologie und kologie reflektiert.
6.1. Selbstorganisation, Materie und Zeit
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prozesse“ und eine „Physik des Werdens“ – so das programmatische Ziel von Ebeling und Feistel und von Prigogine – scheint in greifbare Nhe zu rcken.4 Materie und Selbstorganisation: Instabilitten als Kern der Strukturbildung Selbstorganisationstheorien erweisen sich als instabilittsbasierte systemimmanente Ordnungsentstehungs- und Strukturbildungstheorien der Materie. Einerseits zielen sie auf Maßkonstruktion und Klassifizierung sowie auf Messung und empirische Beschreibung von Ordnung, von Mustern und Strukturen: sie sind Ordnungs- und Strukturtheorien. Andererseits sind sie Prozess- und Zeittheorien, die die Entstehung und Entwicklung von Strukturen untersuchen. Ihre Gegenstnde sind Phnomene in der Zeit, Entwicklungsprozesse, Vorgnge des Werdens. – Beide Zugnge stellen die Systemimmanenz heraus, d. h. dass sich Strukturen im System von allein, von „selbst“, ohne ußere Vorgaben und ußere Ordner bilden. Von beiden Zugngen wird unterstellt, dass Ordnung sowie deren Entstehung nicht fraglos gegeben, sondern fragwrdig und erklrungsbedrftig ist: Die „Wissenschaft [steht] vor der Aufgabe“, so exemplarisch Hermann Haken, „zu erklren, wie Strukturen von allein gebildet werden.“ (Haken 1995, 19) Beide Zugnge – einerseits Ordnung, andererseits Prozessualitt und Zeitlichkeit – spiegeln sich auch in den prominenten Typen der neueren physikalischen Selbstorganisationstheorien wider, in der Synergetik und der Dissipativen Strukturbildung. Ab den 1960er Jahren setzte eine rasante Entwicklung dieser Theorien in den exakten Naturwissenschaften ein.5 Schon frher hatten Ludwig v. Bertalanffy im Rahmen seiner biologischsystemtheoretischen Zugangsweise in seinem Werk Vom Molekl zur 4
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Die Zyklen der Evolution werden beschreibbar im Wechselspiel von Stabilitt und Instabilitt, wobei die Quelle fr Vernderung in den Instabilitten liegt. Ebeling und Feistel (1994, 50) stellen heraus: „Jeder [Evolutions-] Zyklus besteht aus folgenden Stadien: 1. Ein relativ stabiler Evolutionszustand wird durch Vernderung der inneren oder ußeren Bedingungen instabil. 2. Die Instabilitt lçst einen Prozeß der Selbstorganisation aus, der eine neue Struktur hervorbringt. 3. Als Resultat der Selbstorganisation entsteht ein neuer, relativ stabiler Evolutionszustand, der wiederum in einen neuen Zyklus mnden kann.“ Umfangreiche Untersuchungen zur Geschichte der Selbstorganisationsforschung finden sich in Paslack (1991) und Paslack/Knost (1990).
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6. ber Natur, Welt und Wirklichkeit
Organismenwelt (1940)6 und Norbert Wiener in seiner Kybernetik (1948)7 Selbstorganisationstheorien entworfen. Im ergnzenden Kapitel aus dem Jahre 1961 spricht Wiener auch begrifflich von „selbstorganisierenden Systemen“. Er bezieht sich zunchst auf „Gehirnwellen“ und zielt auf eine bertragung dieser natrlichen neuronalen Phnomene auf technische Systeme (Wiener 1968, 217 f/241).8 Damit hat Wiener wegweisend auf die konstitutive Rolle von Nichtlinearitten und Instabilitten hingewiesen. Eine erste umfassende Grundlegung der Selbstorganisationstheorien findet sich bei Heinz v. Foerster in Self-Organizing Systems (1960). Foerster entdeckte das Prinzip Order from Noise und wies auf die positive Funktion von Stçrungen hin. Als Selbstorganisationstheorien im engeren Sinne gelten die in den spten 1960er und frhen 1970er Jahren entwickelte Nichtlineare Thermodynamik fern vom Gleichgewicht mit der Dissipativen Strukturbildung von Ilya Prigogine sowie die Synergetik Hermann Hakens. Whrend fr Prigogine die Nichtgleichgewichtsthermodynamik in offenen dissipativen Systemen beispielhaft fr Selbstorganisationsphnomene ist, bezieht sich Haken auf die Physik des Lasers und die dortigen Phasenbergnge mit der Ausbildung von kohrentem (Laser-) Licht. Prigogines Dissipative Strukturbildung zielt auf eine Objektivierung von Irreversibilitt und Zeitlichkeit, kurz: auf eine „Physik des Werdens“ (Prigogine 1992, 91 f ).9 Haken hingegen konzipiert seine Synergetik als „Lehre vom Zusammenwirken“ (Haken 1995). Die Synergetik verfolgt das Ziel einer Erklrung der makroskopischen Musterbildung durch mikroskopische Fluktuationen instabiler deterministischer oder nichtdeterministisch-stochastischer Prozesse. Prigogine akzentuiert den bergang vom „Sein zum Werden“, Haken den von „Unordnung zu Ordnung“. Wurden die Selbstorganisationstheorien einleitend einerseits als Ordnungstheorien sowie andererseits als Prozesstheorien charakterisiert, tendiert Haken eher zu einem ordnungstheoretischen Verstndnis von Selbstorganisation, Prigogine zu einem prozesstheoretischen. 6 7 8
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Siehe auch Bertalanffys General System Theory (1968). Siehe Wiener (1968). Selbstorganisation meint bei Wiener (1968, 241) eine Frequenzstabilisierung und Erzeugung von Kohrenz in natrlichen und in technischen Systemen. „[E]ine nichtlineare Wechselwirkung, die die Anpassung der Frequenz verursacht, [kann] ein sich selbst organisierendes System erzeugen […], wie es z. B. bei Gehirnwellen […] und bei einem Wechselstromnetz der Fall ist.“ „Physik des Werdens“ und „Selbstorganisation“ werden synonym verwendet (Prigogine 1992, 117).
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Ilya Prigogine und die Dissipative Strukturbildung: Prigogine und mit ihm Isabelle Stengers zielen auf eine (plurale) Zeit- und Prozessontologie, die sie physikalisch einholen und begrnden mçchten. Ausgangspunkt ist eine bekenntnishnliche Haltung: „Wir glauben an die Bedeutung der Zeit, und dank der Kreativitt, die dem wissenschaftlichen Dialog mit der Natur innewohnt, sind wir allmhlich imstande, die Zeit zu begreifen.“ (Prigogine/Stengers 1990, vi) Fr Prigogine steht der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik (Entropiesatz) und seine Problematik fr Strukturbildungen im Mittelpunkt. Der Zweite Hauptsatz besagt im Mittel fr abgeschlossene Systeme einen Zerfall von Ordnung (Entropiezunahme)10 und konstatiert schließlich den Wrmetod des Kosmos. Prigogine fragt, wie trotz dieses Wahrscheinlichkeitstrends zum Zerfall auch Strukturbildung mçglich ist. Zunchst ist hierzu der Begriff der Selbstorganisation der Materie zu klren, um damit spter die Zeitthematik zu beleuchten. Dazu wird von Prigogine – wie auch sonst blich – zwischen konservativer und dissipativer Selbstorganisation unterschieden. Eine konservative Selbstorganisation bei abgeschlossenen Systemen im bzw. nahe 10 1850 formulierte Clausius die erste Fassung des Zweiten Hauptsatzes (vgl. allg. Brush 1966). 1852 sprach er von „Verwandlungswert“ der Wrme, dessen Zunahme in abgeschlossenen Systemen irreversible Verhaltensweisen charakterisieren sollte. Er prgte den neuen Begriff „Entropie“, der die „Wandlungsfhigkeit“ der Energie betraf. Zwei Jahre spter verçffentlichte Lord Kelvin seinen berhmten Artikel „On the universal Tendency in Nature to the Dissipation of Mechanical Energy“. 1871 gelang Boltzmann ein analytischer Beweis des Zweiten Hauptsatzes auf Grundlage einer klassisch-mechanistischen Vorstellung von bewegenden Teilchen. Boltzmann, basierend auf Arbeiten von Maxwell und Gibbs, schlug eine statistisch-mechanistische Erklrung der Wrme vor, indem er die Makrozustnde eines Kçrpers, z. B. die Temperatur auf die Stoßmechanik von Moleklen zurckzufhren versuchte. Er fhrte eine Grçße H ein, die die Verteilung der Molekle im Geschwindigkeitsraum reprsentiert. Boltzmann deutete somit makroskopische Phnomene (Druck, Temperatur, u. a.) durch mikroskopisches Verhalten sehr vieler Teilchen und sehr vieler Freiheitsgrade. Entropie ist fr Boltzmann ein Maß fr die Wahrscheinlichkeit, nach der sich Molekle so gruppieren, dass das System einen beobachtbaren Makrozustand einnimmt. Entropiezunahme bedeutet demnach eine Zunahme an molekularer Unordnung. Heute existieren unterschiedliche Deutungen des Zweiten Hauptsatzes (insbesondere auch vor dem Hintergrund Dissipativer Strukturen fern des Gleichgewichts): Die Menge der Entropie, die in einem Kçrper steckt, ist ein Maß: fr die „Wertlosigkeit“ seiner Energie (Zweiter Hauptsatz direkt), fr die molekulare Unordnung (Statistische Entropie), fr die Vieldeutigkeit (Informationsentropie), fr die „Chaosstrke“ (Bahndivergenzentropie).
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dem thermischen Gleichgewicht (Gleichgewichtsthermodynamik) liegt beispielsweise im Spin-Modell eines Ferromagneten vor. Ein Ferromagnet ist ein komplexes System aus vielen atomaren Elementarmagneten (Dipole). Ihr Spin kann – entsprechend dem Ising-Modell – zwei Richtungen aufweisen. Bei hoher Temperatur zeigen die Elementarmagneten gleichverteilt in alle Raumrichtungen. Es liegt keine makroskopische Magnetisierung vor. Wird der Instabilittspunkt einer kritischen Temperatur unterschritten (Curie-Punkt), findet ein Phasenbergang, d. h. eine echte Symmetriebrechung, statt. Die Elementarmagneten richten sich aus und mit ihnen tritt eine makroskopische Magnetisierung auf. Die Temperatur stellt einen Ordnungsparameter dar. Als weiteres Beispiel einer konservativen Selbstorganisation kann das Auskristallisieren von Eiskristallen bei Temperaturabsenkung genannt werden. Eine niedrigere Temperatur entspricht hier einer hçheren Ordnungsstruktur, die eine geringere Entropie aufweist.11 Nicht alle Prozesse der Selbstorganisation und insbesondere nicht die des Lebens sind analog zur Magnetisierung und Kristallbildung zu verstehen. Dissipative Selbstorganisation ist jener Typ von Selbstorganisation, auf den Prigogine vorrangig fokussiert. Dabei handelt es sich um Selbstorganisation in offenen Systemen, welche fern des thermischen Gleichgewichts liegen, mit der Umwelt im Energie- oder Stoffaustausch stehen und energetisch gepumpt werden. Man spricht von Nichtgleichgewichtsthermodynamik. Erhitzt man beispielsweise eine dnne Flssigkeitsschicht von unten, entsteht zunchst eine Wrmeleitung (Konduktion) von unten nach oben. Das System verbleibt in der Nhe des Gleichgewichts. Bei weiterer Temperaturerhçhung setzt ab einem strukturellen Instabilittspunkt eine Strukturbildung ein. Durch eine Rollenbewegung (Konvektion) bilden sich hexagonale Wabenmuster (BnardZellen). Eine spontane Symmetriebrechung findet statt (Bifurkation). Von kleinsten Fluktuationen hngt es ab, ob sich die Flssigkeit in den einzelnen Zellen links oder rechts herum dreht.12 Prigogine hat vorrangig die dissipative Selbstorganisation der nichtlinearen Thermodynamik im Blick. Als allgemeines Reibungs- und Energieumwandlungsprinzip ist Dissipation generisch und fr Natur konstitutiv. Eine notwendige Bedingung fr diesen Typ von Selbstorganisation ist die geordnete Energiezufuhr oder, quivalent, die Zufuhr nega11 Dies wird durch das so genannte Boltzmann’sche Ordnungsprinzip formuliert. 12 Ein weiteres prominentes Beispiel fr dissipative Selbstorganisation ist die Belousov-Zhabotinsky-Reaktion, vgl. Mainzer (1997b, 132 f ).
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tiver Entropie.13 Selbstorganisation – von Prigogine verstanden als das Auftreten von Bifurkationen, Symmetriebrchen, Phasenbergngen – geschieht in Punkten struktureller Instabilitt. In vielen Fllen sind Details der Schwankungen und der Bifurkationen wegen der intrinsischen Instabilitt und folglich der Sensitivitt nicht vorausberechenbar.14 Ein Beispiel ist die Ausbildung der Rollenrichtung der eben genannten Bnard-Zellen, die sich einmal links- und ein anderes Mal rechtsdrehend einstellt.15 In den sich hier anschließenden naturphilosophischen Interpretationen seiner naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zeigt sich fr Prigogine eine prozessuale Einheit von Natur, nmlich „angefangen von den Elementarteilchen bis hin zu den kosmologischen Modellen“ (Prigogine/ Stenger 1990, 281). Die Physik werde biologischer, insofern sie lebensanaloge Prozesse zum Gegenstand habe. Prigogine sieht eine Prozessontologie der Natur, die er in Anlehnung an Bergson und Whitehead formuliert, besttigt. Im Unterschied zu Haken bleibt Prigogine – rekurrierend auf Neostrukturalisten (Lacan, Deleuze, Levi Strauss) – dezidiert pluralistisch und an den prozessualen Phnomenen orientiert. Hermann Haken und die Synergetik: Demgegenber ist Hakens Zugang von der Laserphysik und weniger von der Thermodynamik und der Physikochemie geprgt. Bei Haken liegt ein „Streben nach einem einheitlichen Weltbild“ und nach einer (interdisziplinren Struktur-) Einheitsontologie zugrunde (Haken 1995, 19). Das mçchte Haken nicht im reduktiven, sondern im ordnungs- und strukturtheoretischen Sinne verstanden wissen. „Alle Lebensvorgnge, […] von einer Zelle bis hin zum Zusammenleben von Menschheit und Natur, sind stets ußerst ineinander verzahnt, alle Teile greifen […] ineinander.“ (ebd., 27) Insofern Selbstorganisation als universelles Phnomen der unbelebten und der belebten Natur anzusehen ist, liegen ihr, so Haken, einheitliche Gesetzmßigkeiten zugrunde (ebd., 25). Durch die Synergetik werde eine „universelle Deutung dieser zunchst unberschaubar vielfltig erscheinenden Phnomene“ mçglich (Haken/Wunderlin 1986, 35). Haken geht 13 Vgl. Schrçdinger (2003) in seinem Werk Was ist Leben? aus dem Jahre 1944. 14 Prigogine spricht von „Ordnung durch Schwankungen“ und „Fluktuationen“ (Prigogine/Stengers 1990, 176 ff ). 15 Ein zugrundeliegendes Strukturerzeugungs- und Ordnungsentstehungsprinzip kann Prigogine (im Unterschied zu Haken) nicht angeben. Entwicklung erscheint bei Prigogine zwar als zeitlicher Prozess, aber nicht als Prozess der „Hçherordnung“ und Komplexittssteigerung.
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damit ber die Physik, ber Laserphysik, Thermodynamik und physikalische Chemie hinaus und konzeptualisiert die Synergetik als „allgemeine Lehre vom Zusammenwirken“. Disziplinbergreifend verbinde sie in einer vereinheitlichten Strukturtheorie der Ordnungsentstehung vielfltige Phnomene. Ihre forschungsprogrammatische Aufgabe sei, so Haken, „die Gesetzmßigkeiten herauszufinden, die der Selbstorganisation von Systemen in verschiedenen Wissenschaftsbereichen zugrunde liegen.“ (Haken 1995, 26) So ist die Synergetik „als eine Wissenschaft vom geordneten, selbstorganisierten, kollektiven Verhalten an[zu]sehen.“ (ebd.) Anders als fr Prigogine liegt der Anspruch Hakens an einer gesetzesorientierten Erklrung durch ein ad hoc angenommenes, terminologisch nicht unproblematisch gefasstes Prinzip: das Versklavungsprinzip, basierend auf und verbunden mit dem Konkurrenzprinzip. Damit fhrt Haken nicht nur den Begriff „Synergetik“ ein, sondern prgt auch den im Rahmen naturwissenschaftlicher Theorien ungewçhnlichen Begriff der „Versklavung“. In Hakens Beispielsystem, dem Laser, bilden sich bei bestimmten Ordnungsparameterwerten an Instabilittspunkten schlagartig kohrente Wellen (Moden) heraus. Der Wellenzug einer bestimmten Wellenlnge versklavt alle anderen Wellenzge, mit denen er zunchst konkurriert.16 Dieser eine Wellenzug wird durch die Ordnungsparameterwerte geringfgig bevorzugt, so dass er „schließlich gegenber allen anderen“ „gewinnt“ (ebd., 76). Aus mikroskopischen Instabilitten und Fluktuationen entstehen makroskopische Ordnungszustnde. „Die Atome [im Laser] organisieren ihr Verhalten selbst. Der Laser ist […] ein Beispiel fr das Zustandekommen eines geordneten Zustandes durch Selbstorganisation, bei dem ungeordnete Bewegung in geordnete Bewegung berfhrt wird.“ (ebd., 73)17 Metaphorisch lehnt sich Haken an die „unsichtbare Hand“ (ebd., 24) von Adam Smiths klassisch-liberaler konomie an und fhrt damit eine nichtnaturwissenschaftliche Terminologie zur Explikation synergetischer Phnomene ein. Durch die unsichtbare Hand werde ein 16 Haken spricht auch von „Wettkampf“ und von „Ausleseprozeß“ (ebd., 76). 17 Haken verwendet vielfach Vergleiche und Metaphern. „Genauso wie ein leidenschaftlicher Steptnzer den Rhythmus einer Band verstrkt und am Schluß ermattet, ausgepumpt niedersinkt, so ergeht es auch dem Elektron.“ (ebd.) Das Elektron wird anthropomorph beschrieben, um zu erlutern, wie es sich in eine bestehende Ordnung zu integrieren und diese zu verstrken vermag. „Verschiedene Wellen“, d. h. Wellen verschiedener Frequenz, „treten miteinander in Konkurrenz in ihrem Verlangen, von den brigen angeregten Leuchtelektronen Verstrkung zu erhalten.“ (ebd., 76)
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immanenter „Ordner“ von selbst generiert; der Ordner werde „durch das Zusammenwirken der einzelnen Teile geschaffen, umgekehrt regiert der Ordner das Verhalten der Einzelteile. […] Um in Worten der Synergetik zu sprechen, versklavt der Ordner die einzelnen Teile.“ (ebd., 24) Das sei eine Form „zirkulrer“, „zyklischer“ oder auch „Top-Down“-Kausalitt (ebd., 76), insofern „kausale Rckkopplungen“ von der makroskopischen Struktur auf die Mikroentitten entstehen.18 So stelle der Laser eine beispielhafte „Brcke zwischen der unbelebten und der belebten Natur“ dar (ebd., 78).19 Selbstorganisation im Sinne der Synergetik meint also einen aufgrund von Instabilitten durch das Konkurrenz- und das Versklavungsprinzip induzierten Phasenbergang („Laserbergang“), durch welchen Ordnung entsteht: das kohrente Laserlicht. Drei „Prinzipien“ sind nach Haken konstitutiv: (1) Das Prinzip der Instabilitt des Systems als Folge des berschreitens eines Parameterbereichs; (2) das Versklavungs- und Konkurrenzprinzip, das dazu fhrt, dass sich ein mçglicher Systemzustand gegenber anderen durchsetzt; (3) das Prinzip der Ordnungsparameter, die sich im Prozess selbst herausbilden, um das System aus einem ungeordneten in einen geordneten Zustand zu berfhren. In methodologischer Hinsicht wendet sich die Synergetik gegen das klassisch-moderne Vorgehen der Physik, nmlich „Untersuchungsobjekte in immer kleinere Einzelteile zu zerlegen.“ (ebd., 21) Obwohl diese Methode „oft auch erfolgreich“ gewesen sei, werde kein synthetisches Bild eines „sinnvollen Ganzen“ vermittelt.20 Die Erkenntnis isolierter Entitten in der Natur sei nicht hinreichend fr ein Verstndnis von Natur. Schließlich liege der Kern und Charakter von Natur im Mikro-MakroZusammenspiel; die Synergetik stelle sich so als die Lehre dieses Zusammenspiels und -wirkens dar. Naturphilosophisch argumentiert Haken fr ein nicht unproblematisches vereinheitlichtes „Hçherorganisations18 Im Rahmen der „Neurophilosophie“ und der Analytischen Philosophie des Geistes wurde hier von „Supervenienz“ und von „downward causation“ gesprochen (Beckermann 2001, 203 f; Beckermann et al. 1992): Ordnungszustnde supervenieren ber Mikrozustnden. 19 Haken (ebd., 92) stellt weiter heraus: „Eine derartige Analogie zwischen Selektionsvorgngen in der belebten und unbelebten Natur ist nicht auf die Laserschwingungen beschrnkt.“ Die Entstehung des Laserlichtes „kann als Allegorie fr viele Prozesse in ganz anderen Gebieten, insbesondere auch der Soziologie, dienen.“ (ebd., 74) Dies leiste die Synergetik, so Haken programmatisch. 20 Haken verweist auf Goethe: „Dann hat [der Naturwissenschaftler zwar] die Teile in seiner Hand, [was aber] fehlt [, ist] leider nur das geistige Band.“ (ebd., 21)
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prinzip“ mit wachsenden „Ordnungsstufen der Natur“. Dabei wird auch die anorganische Natur teleologisch verstanden.21 Zwar bleiben Prigogine und Haken mitunter begrifflich unbestimmt; doch ihre Konzepte von Selbstorganisation als solche sind ebenso przise wie programmatisch. Allgemein notwendige Bedingung fr Prigogine und Haken sind stets strukturelle Instabilitten. Detailliertere Bedingung fr Prigogines dissipative Selbstorganisation sind Negentropie, Bifurkationen und Fluktuationen, fr Hakens synergetische Selbstorganisation ist es der durch das Konkurrenz- und Versklavungsprinzip sowie das Prinzip der Ordnungsparameter induzierte Phasenbergang, der ebenfalls als eine Bifurkation zu verstehen ist. – Neben Prigogine und Haken haben andere – z. B. Eigen und Schuster, Maturana und Varela oder Holling – Selbstorganisationstheorien entwickelt.22 Erklrungs- und Syntheseversuche dieser unterschiedlichen Theorien finden sich bei Ebeling und Feistel (1990).23 Letztere sprechen von einer „Physik der Evolutionsprozesse“ und machen damit deutlich, dass auch die Physik einen Zugang zu derartigen Fragestellungen findet – ohne dominante (reduktive) Erklrungsansprche zu formulieren.
21 Die Natur wird von Haken quasi „versubjektiviert“: „Erfolgsgeheimnisse der Natur“ (ebd.). 22 Einige weitere Beispiele: Ende der 1960er Jahre begann Eigen Prozesse der molekularen Selbstorganisation zu untersuchen (Eigen 1971). Er beschrieb den prbiotischen Ausleseprozess durch physikalisch-chemische Gesetzmßigkeiten und entwickelte gemeinsam mit Schuster das Modell des (autokatalytischen) Hyperzyklus (Eigen/Schuster 1977/1979). – In den 1970er Jahren untersuchten Maturana und Varela die Organisationsprinzipien von Lebewesen und beschrieben diese als autopoietische Systeme durch natrliches Driften (Maturana/ Varela 1975/1987). – Fr die kologie hat Holling (1973) Konzepte der Selbstorganisation entwickelt bzw. przisiert, vgl. hierzu allg. Grimm (2004). Zur Geschichte der Selbstorganisationsforschung sei auf Paslack (1991) verwiesen. 23 Zentrale Prinzipien der Selbstorganisation, die bei Theoretikern in unterschiedlichen Schwerpunkten immer wieder auftreten, werden von Ebeling und Feistel (1994, 39 f ) wie folgt gebndelt: 1. Entropietransport (Pump-Prinzip), 2. Energietransformation/Energieumwandlung, 3. berkritische Distanz vom Gleichgewicht, 4. Nichtlinearitt und Rckkopplung, 5. Verstrkungsprinzip, 6. Innere Bedingheit und innere Prozessualitt, 7. Spontane Symmetriebrechung, 8. Ordnungsparameter, 9. Instabilitt/Stabilitt, Chaos, Sensitivitt, Flexibilitt, 10. Phasenbergang, 11. Beschrnkte Vorhersage sowie 12. Historizitt und Zeitlichkeit.
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Zeit und Selbstorganisation: Instabilitten als Quelle eines Richtungspfeils „Selbstorganisation“, so wurde herausgestellt, ist ein Begriff, der sich auch auf Prozesse, auf „das Werden“ oder zumindest auf Vernderungen bezieht. Damit ist die Zeitthematik angesprochen.24 Schließlich geschehen Vernderungen in der Zeit, als Vernderung von etwas in Bezug auf eine totalgeordnete Menge, die mit dem Parameter t indiziert und als „Zeit“ (re-) interpretiert werden kann. Zum Thema „Zeit“ scheinen nun Instabilitten neue Betrachtungsweisen zu erçffnen. Hilfreich ist es zunchst, einige gngige Zugnge zur Zeitthematik in der Physik zusammenzustellen und dann herauszuarbeiten, inwieweit Instabilitten hier vernderte Perspektiven ermçglichen. Zeit als Thema der Physik ist umstritten. Kontrovers ist bis heute, ob sich eine (Zeit-) Richtung im Rahmen der Physik finden lsst und mit welcher Berechtigung von „Zeit“ gesprochen werden kann.25 Sieht man Zeit nicht ausschließlich als ußere Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung allgemein oder als etwas, das aus der Lebenswelt protophysikalisch an die Physik herangetragen wird, dann stellt sich die Frage, wo sich „Zeit“ in der Physik zeigt.26 (1) Traditionell stand die mathematische Gleichungsstruktur fundamentaler Theorien im Mittelpunkt. Die Frage nach der Zeit wurde mit der Frage nach der Ersetzung des Zeitparameters t durch -t verbunden. Verndert sich die Gleichungsstruktur unter dieser Operation (durch den Zeit-Transformationsoperator T), nennt man sie
24 Der Begriff „Physik des Werdens“ ist von Prigogine (1992, 117) geprgt. Instabilitten, so ließe sich mit Nietzsche (1980, §1) sagen, weisen auf die „Idiosynkrasie bei den Philosophen“ hin, denn Instabilitten hinterfragen den philosophischen (und klassisch-modernen physikalischen) „Haß gegen die Vorstellung selbst des Werdens“ und gegen ihren Glauben, „einer Sache eine Ehre anzutun, wenn sie dieselbe enthistorisieren.“ 25 Ein berblick findet sich bei Mainzer (1995). 26 Es wird hier nicht die grundlegende erkenntnistheoretische (Kant’sche) Frage nach den Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung angesprochen, welche Zeit als Kategorie vor jeder Erfahrung ansieht; dazu siehe Bçhme (1966). „Da die Unterschiede der Zeitmodi fr das H-Theorem [und damit fr die Formulierung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik] schon vorauszusetzen sind, muß man sie auch als Bedingung der Mçglichkeit von irreversiblen Prozessen ansehen, deren Zustandekommen durch das H-Theorem beschrieben wird.“ (Bçhme 1966, 82)
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zeitvariant (T-Varianz), ansonsten zeitinvariant (T-Invarianz).27 Zeitvarianz gilt traditionell als Hinweis fr die Asymmetrie der Ordnung von Ereignissen und damit als Ausweis eines Zeitpfeils. (2) Doch der Bezug auf die mathematische Gleichungsstruktur allein scheint unzureichend zu sein. Zeitinvariante Gleichungen kçnnen sowohl umkehrbare als auch nichtumkehrbare Prozesse beschreiben. Dies gilt beispielsweise fr die klassische Elektrodynamik. Die elektrodynamischen Maxwellgleichungen sind zwar zeitinvariant. Allerdings werden ber Randbedingungen Lçsungen – wie retardierte und avancierte Funktionen – selektiert. So wird die Propagationsrichtung der Ausbreitung von elektromagnetischen Wellen spezifiziert. Durch diese Randbedingung tritt eine Nichtumkehrbarkeit, das heißt eine Irreversibilitt, auf, welche dann als Zeitpfeil interpretiert werden kann bzw. in welche ein lebensweltliches Zeitverstndnis (als „Zeitordnung“) eingeht.28 Die Differenzierung der Zeitthematik im Rahmen der Physik ließe sich fortsetzen. Drei weitere Aspekte sollen gengen. (3) Statt auf die Gleichungsstruktur der Theorie oder auf Randbedingungen zu rekurrieren, wird mitunter auf Modellgleichungen, abgeleitete Gesetze und Teiltheorien Bezug genommen. So sind Modellgleichungen, wie etwa gedmpfte Schwingungsgleichungen,29 das zweite Fick’sche Gesetz, das Einstein-de Sitter-Modell oder der bereits diskutierte Zweite Hauptsatz der phnomenologischen Thermodynamik zeitvariant, obwohl die grundlegenden Gleichungen der fundamentalen Theorien es nicht sind. (4) Haben sich alle bisherigen drei Zugnge an Gleichungen oder Randbedingungen orientiert, so ist das nicht zwingend. Vielmehr kann „Zeit“ auch in den Lçsungen der Gleichungen („Dynamik“) lokalisiert werden. Mit den Lçsungen stehen die Prozesse im Vordergrund. (5) Zu ergnzen ist die Zeitthematik, wie sie durch den quantenmechanischen Messprozess ins Spiel kommt. Messen kann als ein Systemeingriff verstanden werden, der einen Kollaps der Wellenfunktion herbeifhrt und in dieser Hinsicht als Irreversibilitt und als Zeitprgung verstanden werden kann. 27 Unter Zeitordnung wird i.A. eine zeitliche Ordnung von Ereignissen verstanden. Diese kçnnen sich auf einem eindimensionalen Kontinuum aufreihen. Nichts weiter als eine (mathematisch gesprochen) Totalordnung ist notwendig. 28 Folglich ist zwischen T-Invarianz einerseits und Reversibilitt andererseits zu unterscheiden. T-Invarianz bezieht sich auf die zugrundegelegte Differenzialgleichung, whrend sich Reversibilitt meist auf die Lçsung, die konkrete Dynamik oder den Fluss im Zustandsraum, d. h. den Prozess bezieht. 29 Zentral sind Reibungsphnomene.
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Alle fnf Anstze, Zeit als Thema der Physik zu spezifizieren, sind gleichermaßen unbefriedigend: Entweder ist die Klasse der („Zeit-“) Phnomene, die darunter fallen, ußerst gering (1) oder Zeit erscheint als randstndige und sekundre Eigenschaft (2 – 5). – Zieht man etwa die fundamentalen Grundgleichungen der Physik heran (1), so zeigt sich, dass die meisten von ihnen zeitinvariant sind; fr das Thema „Zeit“ findet sich hier wenig. In den anderen Fllen (2 – 5) kommt die „Zeit“ durch Randbedingungen (2), abgeleitete Modellgleichungen (3), Lçsungen (4) oder den Messprozess (5) ins Spiel. Damit wird ein Dualismus von allgemeinen fundamentalen Gesetzen einerseits und Rand- oder Anfangsbedingungen, Modellen sowie Phnomenen und Handlungseingriffen andererseits konstatiert.30 Als prototypisch gilt die statistischmechanische Thermodynamik, in welcher der Dualismus prominent hervortritt und – blicherweise – allein den „fundamentalen“ Gesetzen der Mechanik (Erklrungs-) Prioritt zuerkannt wird. So koexistieren hier zwar reversible dynamische mikroskopische (fundamentale) Gesetze der Mechanik und irreversible makroskopische Gesetze der phnomenologischen Thermodynamik; in letzterer war der Zweite Hauptsatz zunchst gefasst, welcher irreversible Prozesse zu beschreiben vermag und oftmals mit einer Richtung sowie ferner mit einem Zeitpfeil in Verbindung gebracht wird.31 Doch nach den Arbeiten von Gibbs und Boltzmann gelten – obwohl das umstritten ist – die phnomenologischen Gesetze auf die mechanischen (epistemologisch und ontologisch) reduziert; letztere werden als „fundamental“ bezeichnet. Zeit ist damit nicht als grundlegende, sondern als abgeleitete (phnomenologische) Eigenschaft gefasst. Sie erscheint als subjektives Epiphnomen und spiegelt eher das Wissensdefizit des Menschen als einen objektiven Naturcharakter wider. Gegen diese Abwertung argumentiert Prigogine. Sein Ziel ist eine „objektive Interpretation“ der Irreversibilitt (Prigogine 1995, 32 f ): Die Zeit solle als fundamentale Grçße in die Physik eingefhrt und der Dualismus (von fundamentalem Gesetz vs. Phnomen) berwunden werden.32 Um das leisten zu kçnnen, msse rekonstruiert werden, wes30 Kritisch meinen Prigogine und Stengers (1990, 82). „Daß dieser Dualismus […] konsistent ist, wird heute bezweifelt.“ 31 Zudem wird „Zeit“ nach dem Zweiten Hauptsatz gerade nicht mit Selbstorganisation im Sinne eines Strukturaufbaus von Materie verbunden. Eine (Zeit-) Richtung wird nur dem dominanten Strukturabbau – bis hin zum Wrmetod – zugesprochen. 32 Prigogine (1995, 32) zielt auf Folgendes: „Der thermodynamische Zeitpfeil muß ebenso real sein wie jedes andere physikalische Phnomen.“ Reichenbach (1956,
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halb Irreversibilitt und Zeit zu einem Epiphnomen werden konnten. Boltzmann habe, wie Prigogine herausstellt, eine „subjektivistische Interpretation der Irreversibilitt“33 vorgenommen und den Zeitpfeil im Wissensdefizit des Beobachters lokalisiert (Prigogine/Stenger 1990, 215; vgl. Boltzmann 1896/1898). Boltzmann entwickelte folgenden Gedankengang zur Zurckfhrung der phnomenologischen Thermodynamik auf die statistische Mechanik (vgl. Prigogine/Stengers 1990, 202 f ):34 Mikroskopisch sei, so Boltzmann ontologisierend, die Natur deterministisch. Die klassische Mechanik sei die fundamentale Theorie der Natur; die Atomistik spiegele das adquate Naturverstndnis wider. Anfangszustnde von makroskopischen Systemen, die sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht befinden, sind nach Boltzmann unwahrscheinlich.35 Durch die zeitliche Entwicklung findet ein bergang 16 f ) hat – hnlich wie spter Prigogine – herausgestellt: „Falls es Werden gibt, muß der Physiker es wissen; falls aber die Zeit lediglich etwas Subjektives und das Sein zeitlos ist, muß der Physiker imstande gewesen sein, die Zeit in seiner Konstruktion der Wirklichkeit zu ignorieren und die Welt ohne Hilfe der Zeit zu beschreiben. […] Falls es fr das philosophische Problem der Zeit eine Lçsung gibt, so steht sie in den Gleichungen der mathematischen Physik.“ 33 Wçrtlich heben Prigogine und Stengers (1990, 215) hervor: „Wenn die Irreversibilitt, statt sie mit einer physikalischen Eigenschaft der Dynamik zu begrnden, mit unserem Wissen in Zusammenhang gebracht wird, so ist das eine subjektivistische Interpretation.“ 34 Boltzmann entwickelte sein berhmtes H-Theorem und den darin verwendeten Stoßzahlansatz aus der Kollision von vielen mikroskopischen Teilchen. Thermodynamische Zustandsgrçßen wurden schon frher – etwa von Clausius, Joule, Maxwell – als Mittelwerte von mechanischen Vorgngen gedeutet. Boltzmann zeigte nun 1866, dass die Entropie proportional zum Logarithmus der Wahrscheinlichkeit eines Zustandes ist: Im zeitlichen Verlauf gehen unwahrscheinlichere Zustnde in immer wahrscheinlichere ber. Dies entspricht auf der rein thermodynamischen Seite dem bergang aus einem Ungleichgewichtszustand in einen Gleichgewichtszustand. Sein H-Theorem gibt eine der phnomenologisch gewonnenen Entropie analoge Grçße an, welche sich aus Stoßzahlbetrachtungen herleiten lsst. Die Irreversibilitt kommt ber unwahrscheinliche Anfangsbedingungen ins Spiel. Irreversible Prozesse seien, so Boltzmann, lediglich hufiger anzutreffen, ihre Umkehrung ist sehr selten, weil die Anfangsbedingungen extrem unwahrscheinlich sind. – Kritik an Boltzmann und Einwnde kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Prominent sind: Maxwells Dmon, Gibbs Tintengleichnis, Zermelos und Poincars Wiederkehreinwand, Lohschmidts Umkehreinwand. 35 Sie entsprechen einem nur kleinen Volumen im Phasenraum. Im Laufe der Systementwicklung werden sie aufgrund der Instabilitten auf das ganze Phasenraumvolumen verteilt – ganz so wie sich ein Tropfen Tinte in Wasser verteilt.
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zu wahrscheinlicheren Zustnden statt. Im Prinzip kçnnte eine Rckkehr zu den Anfangszustnden erfolgen. Die erforderliche Zeit wre dann allerdings sehr groß, grçßer als das Alter der Galaxien. Damit wre, so Prigogine, „Irreversibilitt eine Illusion, denn wenn wir noch lnger warten, kann es passieren, daß die Teilchen sich erneut in demselben Behlter konzentrieren.“ (Prigogine 1995, 19) Demgegenber nimmt Prigogine Bezug auf die Quantenmechanik und auf ihren (Operator-) Formalismus. Das hat den argumentationsstrategischen Vorteil, dass die Quantenmechanik nicht als phnomenologische Theorie abgewertet wird, mithin als fundamentaler und objektiver gilt. Die Unschrferelation und der Welle-Teilchen-Dualismus werden als objektive Eigenschaft der Natur angesehen, auch wenn sich (nach Bohr) das Verstndnis von Objektivitt wandeln mag. Sie gelten nicht als subjektives, prinzipiell eliminierbares Nichtwissen. Die Natur selbst besitzt Unschrfen, denen epistemisch Rechnung zu tragen ist. Die anfnglichen Unschrfen werden durch dynamische Instabilitten vergrçßert und auf dem Attraktor verteilt. Ein dynamisches System besitzt damit eine systemspezifische objektive innere Zeitlichkeit, die als Eigenzeit bezeichnet werden kann. Die Eigenzeit bezieht sich auf die Anfangs- und Randbedingungen und auf die von hier ausgehende Systemdynamik; Anfangs- und Randbedingungen sind genauso relevant wie der Gesetzeskorpus. So wird auch die vermeintliche Unwahrscheinlichkeit der Anfangs- und Randbedingungen objektivierbar, wie Prigogine herausstellt. „Der Wahrscheinlichkeitsbegriff, den Boltzmann eingefhrt hatte, um den Zeitpfeil ausdrcken zu kçnnen, entspricht nicht mehr unserer Unwissenheit, sondern erlangt eine objektive Bedeutung.“ (Prigogine 1995, 36) Die Anfangs- und Randbedingungen werden aus dem Verstndnis der Kontingenz herausgefhrt – und mit ihnen auch das Zeitverstndnis.36 Damit ist das Prigogine’sche Programm zur Objektivierung des Zeitverstndnisses angedeutet: Wenn wir Instabilitten und die jeweiligen Eigenzeiten als grundlegende Eigenschaften der Natur anerkennen, dann, so Prigogine, sei der Begriff der Trajektorie, wie er sich in der klassischen Dies konnte u. a. durch die so genannte Gibb’sche Ensembletheorie dargelegt werden. 36 Mit B.–O. Kppers (1992, 10) lsst sich sagen: „Die Komplexitt eines Phnomens ist […] in den Besonderheiten seiner Randbedingungen verankert und wird erst aus der Geschichte der Natur heraus verstndlich.“
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Physik finde, zu modifizieren (ebd., 38).37 Dieser sei nmlich nur dann empirisch gehaltvoll, wenn die mit ihm verbundene Idealisierung auf eineindeutige Zustnde, przise Anfangs- und Randbedingungen, auch durchgefhrt werden kann; das aber ist empirisch und prinzipiell nicht mçglich. Eine Verallgemeinerung (und mithin Auflçsung) des Trajektorienbegriffs – durchgefhrt unter Verwendung einer Operatorformulierung – werde notwendig. Nicht auf einzelne, sondern auf lokale Gesamtheiten von Trajektorien, wie sie durch Verteilungsfunktionen beschrieben werden, wirkt der Operator (Prigogine 1995, 40 f; Prigogine/ Stengers 1990, 264 f ). Der zur Quantenphysik formal analoge EntropieOperator – und der mit ihm verbundene Zeit-Operator – solle den Makro-Mikro-Transfer zwischen phnomenologischer Thermodynamik und statistischer Mechanik leisten, ohne dann eine Reduktionsbeziehung (der ersteren auf letztere) herzustellen:38 Mikroskopisch stabil entspreche makroskopisch reversibel und mikroskopisch instabil werde mit makroskopisch irreversibel bersetzt. „Wir berufen uns“, so Prigogine und Stengers zusammenfassend, nicht mehr „auf unsere Unkenntnis oder andere subjektivistische Faktoren“ (Prigogine/Stengers 1990, 266), sondern auf „objektive Faktoren“, nmlich auf instabilittsbasierte Bewegungen und auf den hier definierten Zeit-Operator.39 Nach Boltzmanns linearer Thermodynamik des Gleichgewichts (Thermodynamik erster Stufe) und Onsagers linearer Thermodynamik des Nichtgleichgewichts40 (zweite Stufe) hat die Brsseler Schule um Prigogine die Thermodynamik in eine dritte Stufe, die Nichtgleichgewichtsthermodynamik fern vom Gleichgewicht, entwickelt. Auch wenn die Zuordnung des Begriffs „Zeit“ zu den jeweiligen irreversiblen Phnomenen umstritten sein mag, zeigt sich, dass Instabilitten berhaupt die Mçglichkeit zu einer prziseren Formulierung von „Zeit“ in der Physik erçffnen. So wird man nicht mehr sagen kçnnen, was Bçhme zu Recht kritisch ber die klassisch-moderne Physik bemerkt, dass es aus lebensweltlicher Perspektive befremdlich sei, „wie tot die Naturwissen37 Denn „auf dem Niveau einer einzelnen Trajektorie [kann es …] keine Irreversibilitt geben“ (Prigogine/Stengers 1990, 211). 38 Der Entropie-Operator wirkt auf so genannte Verteilungsfunktionen. Es hat die Eigenschaft einer Halbgruppe. 39 Als Beispiel gilt das Sinai-Billard zur Modellierung eines idealen Gases oder auch die Bcker-Transformation. Hier wird ein Eigenzeit-Operator zugeordnet, der die Annherung ans „Gleichgewicht“ angibt und damit das „Alter des Systems“ darstellt. 40 Diese bezieht sich auf Gleichgewichtsnhe.
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schaft die Natur hat beschreiben kçnnen, wie in sich verschlossen.“ (Bçhme 1992a, 131) Prigogines Zugang und seine Argumentation erscheinen dann konsistent, wenn man nicht einseitig unterstellt, dass Natur (ontologisch) durch einen mikroskopischen Determinismus bestimmt sei. Gegen diese ontologische Unterstellung liefert bekanntlich die Quantenmechanik triftige Argumente. Dass dennoch an der Brsseler Schule vielfach Kritik gebt wurde,41 sollte angesichts ihres Anspruchs nicht verwundern. Schließlich argumentiert sie gegen die dominante Traditionslinie der Nivellierung und Exklusion von „Zeit“. Im Horizont von Instabilitten und, spezieller, von Selbstorganisation allerdings erçffnen sich neue Betrachtungsweisen zur Zeit-Thematik. Selbstorganisation in der Kulturtradition Die Selbstorganisationsthematik ist keine Entdeckung der Physik des 20. Jahrhunderts, auch wenn sie als Physik durchaus eine Neuheit darstellt und heute eine bis dahin nie erreichte mathematische Przision aufweist.42 Gerade im Zusammenhang mit der Etablierung der Biologie und der Biophysik des 19. Jahrhunderts wurden Phnomene der Selbstorganisation wissenschaftlich zugnglich; aber auch davor, etwa bei Aristoteles, Kant und Schelling wurden wesentliche Aspekte diskutiert. Sie haben die heutigen Diskussionslinien mitgeprgt. Eine Verwandtschaft der Selbstorganisationsthematik mit der Frage einer Naturteleologie ist unbersehbar, allerdings sowohl in Aufnahme als auch in Abwendung teleologischen Denkens und so genannter Prfor41 Beispielhaft sei genannt (vgl. Altner 1986): (1) Prigogine wurden „physikalistische Tendenzen“ und der Versuch einer neuen „Supertheorie“ vorgeworfen. (2) Ein Wandel im Naturverstndnis sei nicht in Sicht, jedenfalls nicht außerhalb der engen scientific community der Nichtgleichgewichtsthermodynamiker. (3) Eine „Ontologisierung“ von Natur werde von Prigogine durchgefhrt, ohne erkenntniskritisch zu bleiben. (4) Natur werde ein Subjekt- und Personenstatus unkritisch zugeschrieben, ohne traditionelle Dichotomien zu reflektieren. (5) Undiskutiert bleibe, ob Wissenschaft nicht als Wissenschaft schon von einer Zeitstruktur ausgehen msse, denn Zeit ist vor jeder Erfahrung, wie etwa C.F.v. Weizscker im Rekurs auf Kant meint. 42 Es finden sich im 19. Jahrhundert im Umfeld der Diskussion um die statistischmechanische Thermodynamik, etwa bei Helmholtz und Boltzmann, entscheidende Arbeiten (Schiemann 1997b; Leiber 2000).
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mationstheorien.43 Selbstorganisationstheorien stehen im Horizont der klassischen Gegenberstellung von Prformationstheorien und Epigenesistheorien. (a) Sie sind allerdings keine Prformationstheorien, nach welchen nur dasjenige deterministisch ausgewickelt wird, was eh schon da ist und dann nur an die Oberflche kommt. Die ontologische These der Selbstorganisationstheorien ist: Es gibt Neues unter der Sonne.44 In diesem Sinne kann von einem gewissen Indeterminismus und einer Gestaltungsfreiheit als Kennzeichen von Selbstorganisation gesprochen werden. (b) Wenn der epigenetische Zugang derart modifiziert wird, dass er jenseits des Vitalismus zu lokalisieren wre, dann kann man sagen, dass sich die aktuellen Selbstorganisationstheorien eher im Rahmen der epigenetischen Theorien wiederfinden als in dem der Prformationstheorien. Selbstorganisationstheorien reagieren – wie wir bei Prigogine und Haken gesehen haben – auf einen Mangel, der durch die mathematischen Naturwissenschaften selbst erzeugt wurde, nmlich die Ausschließung von strukturverndernden Evolutionsprozessen. Insofern das reichhaltige antike Kausalittsverstndnis auf Wirkkausalitt und spter auf die mathematische Funktion reduziert wurde, lag alles andere außerhalb der Physik. Im Rahmen dieses neuzeitlichen reduzierten Kausalittsverstndnisses mussten die Prozesse und die Entstehung von Neuem zu einem Problem werden. Je erfolgreicher die klassische Physik wurde, desto fragwrdiger wurde die andere Seite, die Entstehung von Neuem, von neuen Strukturen und Ordnungen. Diese andere Seite hat auch Kant 43 Siehe zur Teleologie Spaemann/Lçw (1985) und spezieller auf Selbstorganisation bezogen Leiber (2000) sowie Heuser-Keßler (1986). Selbstorganisationstheorien kçnnen einerseits als Aufnahme teleologischen Denkens verstanden werden, insofern sie als Komplexittswachstum und als Richtungspfeil interpretierbar sind. Sie kçnnen aber auch andererseits als Abwendung vom teleologischen Denken begriffen werden, insofern das qualitativ Neue und die immanente Zuflligkeit jede Teleologie unmçglich zu machen scheint. 44 Demgegenber wurde gerade von Leibniz in aller Schrfe eine mechanistische Prformationstheorie vertreten. Prformationstheorien gehen davon aus, dass die Strukturen des vollendeten Organismus schon im Ei vorliegen. Entwicklung meint dann lediglich Auswicklung desjenigen, was schon prformiert vorliegt, allerdings noch nicht an die Oberflche getreten ist. Mit der Prformationstheorie konkurriert klassisch die so genannte epigenetische Theorie (z. B. C.F. Wolff ). Nach dieser sind die sich entwickelnden Strukturen nicht von vornherein prformiert, sondern entstehen im Prozess sukzessive. Neue Formen, Gestalten und Strukturen treten auf, als Wirkung einer „Lebenskraft“ oder eines „Bildungstriebs“. Die Epigenesistheorie wurde traditionell von Vitalisten vertreten, die Prformationstheorie meist von Mechanisten.
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und Schelling beschftigt, die den Begriff des „Sich-selbst-organisierens“ prgten. Ihre Fragestellungen sind auch heute noch unberholt. Die Reichweite der Newton’schen klassischen Physik im Bereich der Selbststrukturierung des Planetensystems auszuloten, war Ziel des jungen „vorkritischen“ Immanuel Kant in der Mitte des 18. Jahrhunderts (Kant 2005). Er ging im Jahre 1755 als einer der Ersten in diesem physikalischen Rahmen von einer Geschichte des Kosmos aus, argumentierte fr eine Allgemeine Naturgeschichte und sah Stabilitt und Ordnungsentstehung als erklrungsbedrftig an. Newtons Theorie stand vor einem Gravitationsproblem, nmlich dass – wenn es einen Mittelpunkt im Universum geben sollte – dorthin alle Materie attrahiert werden wrde. Der Kosmos wrde in sich zusammenstrzen. ber Newton hinausgehend stattete Kant die Materie nicht nur mit der gravitativen Attraktionskraft, sondern auch mit einer (von ihm postulierten) Repulsionskraft („Zurckstoßung“; Kant 2005, 9) aus. Er vertrat in seiner KosmologieSchrift 1755 die so genannte Nebularhypothese (Kant 2005, 40 f.): Aus einem rotierenden, weitgehend homogenen Urnebel aus Gas- und Staubteilchen sind durch Stoß, Gravitation und Repulsion lokale Materiehaufen entstanden, aus denen sich Sterne und Planeten bildeten. Die Selbstordnung des Universums stellt eine Art des Sich-selbst-organisierens dar. Sie bedarf keiner bernatrlichen Erklrung.45 Diese Anstze Kants sind in der modernen Kosmologie zu einer Standardposition geworden.46 In anderen Feldern der Natur, jenseits der Kosmologie und ber 30 Jahre spter, war Kant skeptischer. Er bezweifelte, ob eine Erklrung der Entstehung des Lebens aus „mechanischen Prinzipien“ mçglich sei.47 45 Provokativ sagte Kant (2005, 13): „Mich dnkt, man kçnne hier im gewissen Verstande ohne Vermessenheit sagen: Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! das ist, gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll.“ Einige Jahre spter stellte Laplace hnliche kosmologische berlegungen rotierender Materie an. Die so genannte Kant-Laplace’sche Theorie konnte allerdings noch keine mathematische Beschreibung liefern. 46 Sogar die spekulativ eingefhrte „Zurckstoßungs“-Kraft weist eine Nhe zu jener „Kraft“ auf, die als Abstoßungskraft im Rahmen des modernen Modells des inflationren Universums ber die Kosmologische Konstante Verwendung findet. 47 Das hatte Kant schon in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels fragend angedeutet: „Ist man im Stande zu sagen: Gebt mir Materie, ich will euch zeigen wie eine Raupe erzeugt werden kçnne? […] [E]her [werde] die Bildung aller Himmelskçrper, die Ursach[e] ihrer Bewegung, kurz, der Ursprung der ganzen gegenwrtigen Verfassung des Weltbaues […] eingesehen
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Was Kant der physikalischen Kosmologie zuerkannte, das wollte er der Biologie nicht zugestehen. Aus heutiger Perspektive ist es lohnenswert, die Kant’schen Differenzierungen in den Blick zu nehmen. Ausgangspunkt ist das Problem der Entwicklung der lebendigen Natur (vgl. Lçw 1980, 168 f ). Kant schrieb den Erscheinungen dieser Natur eine Zweckmßigkeit zu. Zwecke treten berall dort hervor, wo Formen entstehen. In der Kritik der Urteilskraft (§64 – §68)48 legte Kant dies in der berhmten Passage nieder: „[E]in Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist.“ (§64, B 286) Das hier zum Ausdruck kommende Kausalittsverstndnis ist verbunden mit Hinweisen auf das Verhltnis des Ganzen zu den Teilen des lebendigen Organismus. „In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle brigen [Teile] da ist, auch als um der anderen und des Ganzen willen existierend, d.i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist (denn er kçnnte auch Werkzeug der Kunst sein […]); sondern als ein die anderen Teile […] hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der alles Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden kçnnen.“ (§65, B 292) Ein sich organisierendes Wesen ist fr Kant nicht eine „bloß[e] Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern [das organisierende Wesen …] besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben: also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermçgen allein (den Mechanismus) nicht erklrt werden kann.“ (§65, B 293 f ) Das Maschinenbild der Klassischen Mechanik, wie es sich in Descartes’ Automaten und in Newtons Physik zeigt, ist fr Kant unzureichend zur Beschreibung oder gar zur Erklrung des Lebens. Ebenso unzureichend ist allerdings auch ein ußeres Beweger-Bewegtes-Verstndnis. In Anwerden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krautes oder einer Raupe, aus mechanischen Grnden, deutlich und vollstndig kund werden wird.“ (Kant 2005, 13), vgl. auch Bçhme (1986, 37/39) und Poser (2001, 256 f ). 48 Es sollen hier hauptschlich einige wenige Passagen aus der Kritik der Urteilskraft (KU) diskutiert werden. Auf die umfangreiche Kant-Rezeption im Hinblick auf die Frage nach dem Status teleologischer Betrachtungen soll hier ebenso wenig eingegangen werden wie auf die Inkonsistenzen der Ausfhrungen zwischen der KU und der KrV. Kant wurde sowohl als Mechanist als auch als Panteleologe interpretiert, vgl. Leiber (2000) sowie Spaemann/Lçw (1985).
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lehnung an die aristotelische techne heißt es bei Kant: „Man sagt von der Natur und ihrem Vermçgen […] bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Knstler (ein vernnftiges Wesen) außer ihr. Sie organisiert sich vielmehr selbst, und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte, zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den Umstnden erfordert.“ (§65, B 293) Sich-selbstorganisieren bezieht sich bei Kant primr auf „organisierte Wesen“, also eher auf das, was man Selbstreproduktion nennen kçnnte. Dabei wendet sich Kant von mechanistischen Prformationstheorien ab und verteidigt epigenetische Zugnge (§81, B 378): Natur, die sich selbst organisiert, sei zu denken als sich „selbst hervorbringend, nicht bloß als entwickelnd“ (ebd.). So verblffend die frhe Vorstellung der sich-selbst-organisierenden und hervorbringenden Natur ist, so vorsichtig sollte man doch sein, den Begriff dem heutigen der „Selbstorganisation“ gleichzusetzen. Kants und im Folgenden auch Schellings Vorstellungen sind jedoch als frhe Signale zu betrachten, die die Grenzen des klassisch-mechanistischen Naturzugangs herausstellen. Die hervorbringende Natur ist fr Kant nur als Zweck-an-sich-selbst vorstellbar.49 Kant hinterfragt, ob dieser Zweck eine objektive Realitt beanspruchen kçnne (§65): Es ist nur eine Anschauung, ein regulatives Als-Ob, kein konstruktives Gesetz. Aus der „eigentmlichen Beschaffenheit meiner Erkenntnisvermçgen ber die Mçglichkeit jener Dinge“ (§75) wird die jeweilige Erscheinungsweise der Dinge vorgeschrieben. Es ist uns, als ob Zwecke in der Natur liegen, eben als ob die Natur kreative Potenziale besitze. Wir sind es, die Natur als Natur im Erkenntnisvorgang so und nicht anders in ihrer Erscheinungsweise sehen (und nicht anders sehen kçnnen). Der Begriff der Zweckmßigkeit wird fr Kant zu einem erkenntniskonstitutiven Reflexionsbegriff. Dieser legt „gar nichts dem Objekte (der Natur)“ bei, sondern ist „die einzige Art, wie wir in der Reflexion ber die Gegenstnde der Natur in Absicht auf eine durchgngig zusammenhngende Erfahrung verfahren mssen, […], folglich ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft.“ (KU, B XXXIV) Als regulatives Prinzip der Erkenntnis ist der Zweckbezug unumgnglich. Durch den Zweckbezug werden Gegenstnde zu Objekten der Erfahrung,
49 Kant meint: „Organisierte Wesen sind also die einzigen in der Natur, welche […] doch nur als Zwecke derselben mçglich gedacht werden mssen.“ (B 293)
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zu Erscheinungen vor den Sinnen; nur so kann ihre Einheit hergestellt werden.50 Doch zeigen sich hier gleichzeitig Erkenntnisgrenzen. Die bildende Kraft der organisierten Wesen bleibt fr Kant „ein unerforschliches Prinzip“ (§81, B 379): „Genau zu reden, hat also die Organisation der [organischen] Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalitt, die wir kennen.“ (§65, B 294) Den Hçhepunkt liefert hier der bekannte erkenntnisskeptische Hinweis zur Unmçglichkeit eines Newton des Grashalms (§75, B 337 f ): „Es ist nmlich ganz gewiß, dass wir die organisierten Wesen und deren innere Mçglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklren kçnnen; und zwar so gewiß, dass man dreist sagen kann, es ist fr Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, dass noch dereinst ein Newton aufstehen kçnne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen […] begreiflich machen werde: sondern man muss diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen.“ Kants Ausfhrungen sind vor dem Hintergrund verstndlich, dass Naturwissenschaft zu seiner Zeit identisch war mit der Klassischen Mechanik Newtons – mit ihren Stabilittsannahmen und einem mechanistischen Naturverstndnis. Die Grenzen der Wissenschaften waren durch die Grenzen der Klassischen Mechanik gegeben. Bis heute bleiben Kants wissenschafts- und erkenntniskritische Reflexionen – bezogen auf die klassisch-moderne Physik – unberholt. Sie treten auch in Spielarten der aktuellen Selbstorganisationstheorien als Kritik an mechanistischen Naturzugngen wieder auf.51 Die heutige nachmoderne Physik steht der Erkenntniskritik Kants an der herkçmmlichen, der klassisch-modernen Physik nahe. Ein Newton des Grashalms bleibt unmçglich. Doch eine Physik von allgemeinen Selbstorganisationsprozessen zeigt – innerhalb der von Kant herausgestellten Grenzen und d. h. jenseits von Newton – deutliche Konturen. Allerdings ist das nicht mehr der Typ von Physik, auf den sich Kant bezogen hat.
50 Pittendrigh (1958) hat hierfr den Begriff der „Teleonomie“ geprgt. Damit versuchte er, Gesetzmßigkeit und Richtungshaftigkeit zu versçhnen, ohne allzu viel metaphysisch-teleologische Konnotation mitzuschleppen. 51 Mit dem Hinweis auf die Unmçglichkeit des Grashalm-Newtons wird dasjenige vorweggenommen, was sich im 19. Jahrhundert verschrfte, der Konflikt zwischen Mechanizismus und Organizismus.
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Die Kant’schen Ideen zu einer sich selbst hervorbringenden Natur hat Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seiner Spekulativen Physik, wie er sie nannte, aufgenommen und modifiziert. Die Schelling’sche „Physik“ – wenn dieser Begriff berhaupt adquat sein sollte – setzt dem Anspruch nach bei einem erweiterten Physikverstndnis an, nmlich einem solchen, das Entwicklung und Geschichtlichkeit in den Mittelpunkt stellt.52 Hier, im Umfeld der Romantik und eines naturphilosophisch-spekulativen Denkens ist die Schelling’sche Frage nach dem Verhltnis von Teil und Ganzem, von Mechanizismus und Organizismus bedeutsam. Natur wird von Schelling als Entwicklung, Entfaltung und Produktivitt verstanden, als organisierte und sich selbst organisierende Materie. Sein Ausgangswie Zielpunkt ist eine ontologische Einheit der Natur in dynamischer Hinsicht, verbunden mit einer Identittsphilosophie von Geist und Natur.53 Schon frh prgte Schelling einen philosophischen Begriff der organischen Evolution.54 1799 stellte er in seiner Schrift Der erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie ein umfangreiches Prinzip der Evolution vor, nach dem die „Produktivitt der Natur“ „absolute Continuitt“ aufweise.55 „Deßwegen werden wir auch jene Stufenfolge der Organisationen nicht mechanisch, sondern dynamisch, d. h. nicht als eine Stufenfolge der Produkte, sondern als eine Stufenfolge der Produktivitt aufstellen. […] Der Sprung vom Polypen zum Menschen scheint freilich ungeheuer, und der bergang von jenem zu diesem wre unerklrlich, wenn nicht zwischen beide Zwischenglieder trten. Der Polyp ist das einfachste Tier, und gleichsam der Stamm, aus welchem alle anderen
52 Ein Vergleich von Schellings Naturphilosophie mit den aktuellen Selbstorganisationstheorien findet sich (positiv) bei Heuser-Keßler (1986) und (kritisch) bei B.–O. Kppers (1992). 53 Ein dynamischer Einheitsgedanke spiegelt sich heute, zumindest dem Anspruch nach, in den aktuellen Selbstorganisationstheorien wider, etwa in der nomologischen Struktureinheit (Haken) und partiell in der phnomenalen Zeit- und Prozesseinheit (Prigogine). Ob es sich nur um vage Analogien zwischen Schelling und den heutigen Selbstorganisationstheorien handelt, wie B.–O. Kppers (1992) behauptet, muss offen bleiben. 54 Damit war Lamarck („Philosophie Zoologique“, 1809) spter als Schelling. Darwins „Origin of Species“ erschien 1859. Der Begriff „Evolution“ findet sich in Schellings Werk vielfach, z. B. Schelling (2001, 80 f/153 f/249 f ). 55 Einen Einblick in Schellings Naturphilosophie findet sich bei Schwarz (2005, 153 f ).
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Organisationen aufgesproßt sind.“ (Schelling 1856 f, III. 54)56 Schelling stellt somit Zusammenhnge alles Lebendigen her und exemplifiziert dies in zeitlicher Hinsicht; Entwicklung wird als Hçherentwicklung („Stufenfolge“), Natur als lebendiges Ganzes verstanden. Von „Natur“ spricht Schelling in seiner Naturphilosophie in zweifacher Hinsicht: „Die Natur als bloßes Product (natura naturata) nennen wir Natur als Object […]. Die Natur als Productivitt (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt […].“ (Schelling 2004, 41) Das scheinbar Stabile, Fortwhrende und Bestndige der Natur ist nur eine Seite von Natur, nmlich Natur als Objekt. Die andere Seite „muß angesehen werden als ein Gewordenes. Keine Materie der Natur ist primitiv, denn es existirt eine unendliche Mannichfaltigkeit ursprnglicher Aktionen, (wie diese entsteht, wird eben das letzte Problem der Naturphilosophie seyn).“ (Schelling 2001, 93)57 Nicht die statisch-starre Ordnung, sondern die dieser zugrundeliegenden mannigfaltigen Prozesse zur Ordnungsentstehung und zum Ordnungserhalt weisen den Kern von Natur aus.58 Vor diesem Hintergrund pldiert Schelling in seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur 1797 fr die Anerkennung einer begrenzten Reichweite der Newton’schen Mechanik (Schelling 1994). Durch einen „wundervollen Zusammenstoß von Atomen“ sei die Entstehung der „organischen Produkte“ nicht erklrbar (ebd., 95). Schelling verfolgt allerdings eine andere Argumentationslinie als Kant: Whrend letzterer eine transzendentale Rekonstruktion und damit radikale Grenzausweisung der (Newton’schen) Physik und des mechanistischen Naturverstndnisses vornimmt, geht es Schelling in seinem objektiven Idealismus um Modifikation und Erweiterung des Naturzugangs, um eine vernderte Natur-Wissenschaft. In diesem Sinne fragt er: Was soll und kann Wissenschaft und Physik sein? Der Hinweis Kants auf die Unerklrbarkeit 56 hnlich Kant (KU, B 368). Zu Kant nimmt Schelling insbesondere in Von der Weltseele (2000) Stellung. 57 Schelling (2004, 45) stellt heraus: „Es ist schlechterdings kein Bestehen eines Products denkbar, ohne ein bestndiges Reproducirtwerden. Das Product muss gedacht werden als in jedem Moment vernichtet, und in jedem Moment neu reproducirt.“ 58 Natur wird nicht allein aus ihren einzelnen statisch-stabilen Naturprodukten erkennbar (natura naturata), sondern aus ihrem Ttigsein, ihrer Produktivitt, ihrem Werden. Die Produktivitt wird nicht durch eine ußere Kraft erzeugt, sondern sie ist es, die Natur als Natur bestimmt. Schelling knpft an die aristotelische Tradition an, nach der Natur, um sich zu erhalten und zu entfalten, keines Anstoßes von außen bedarf. Die Reproduktion und Produktion ist konstitutive Eigenschaft von Natur, einer Natur, deren „Materie“ „nicht primitiv“ ist.
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der organischen Natur ist fr Schelling allzu resignativ und damit unannehmbar. Schließlich sei es „ein alter Wahn [anzunehmen], daß Organisation und Leben aus Naturprinzipien unerklrbar seyen. – Soll damit so viel gesagt werden: der erste Ursprung der organischen Natur seye physikalisch unerforschlich, so dient diese unerwiesne Behauptung zu nichts, als den Muth des Untersuchers niederzuschlagen.“ (Schelling 2000, 68) Diese Bemerkung gilt auch dem Vitalismus, den Schelling wiederholt kritisiert. Die „Lebenskraft“ (entelechie, vis vitalis, vis formalis) sei ein widersprechender Begriff. Denn sie setze zunchst einen mechanistischen Materiebegriff voraus, zu dem sie dann prgend dazukomme. Insofern orientiere sich der Vitalismus allzu stark an der Newton’schen Mechanik. Es geht Schelling also um eine andere Physik, womit er aus heutiger Sicht durchaus ungelçste Fragen der klassisch-modernen Physik anspricht – und spekulative und visionre Perspektiven zu erçffnen versucht (vgl. Schelling 1994, 93 f ).59 Dabei knpft Schelling in vielen Formulierungen an Kant an: Die Natur „organisiert sich selbst, ist nicht etwa nur ein Kunstwerk. […] Nicht ihre Form allein, sondern ihr Dasein ist zweckmßig.“ (Schelling 1994, 94)60 Doch eine ußere kontingente Zuschreibung ist fr Schelling 59 Schelling (1994, 93 f ) hebt hervor: „Nun ist aber Mechanismus allein bei weitem nicht das, was die Natur ausmacht. Denn sobald wir ins Gebiet der organischen Natur bertreten, hçrt fr uns alle mechanische Verknpfung von Ursache und Wirkung auf. Jedes organische Produkt besteht fr sich selbst. […] Jedes organische Produkt trgt den Grund seines Daseins in sich selbst.“ Damit klingt auch noch einmal der Kant’sche Selbst-Zweck des Organismus an. Kein ußeres, insbesondere kein ußerer Gott, habe die organische Natur und das organische Produkt geschaffen. Im organischen Wesen liege, so Schelling (1994, 94), „ohne mein Zutun […] zwischen ihnen [= den Teilen] und dem Ganzen ein objektives Verhltnis […]. Also liegt jeder Organisation ein Begriff zu Grunde, denn wo notwendige Beziehung des Ganzen auf Teile und der Teile auf ein Ganzes ist, ist Begriff. Aber dieser Begriff wohnt in ihr selbst.“ 60 Organische Natur ist Subjekt (natura naturans) und Objekt (natura naturata) zugleich, sie zeige sich als solche durch Selbstorganisation und stehe in einem zyklischen Selbstverhltnis. „Im organischen Produkt ist eben deswegen Form und Materie unzertrennlich; diese bestimmte Materie konnte nur zugleich mit dieser bestimmten Form, und umgekehrt, werden und entstehen. Jede Organisation ist also ein Ganzes; ihre Einheit liegt in ihr selbst, es hngt nicht von unserer Willkr ab.“ (ebd., 94) Einheit ist ursprnglicher als die jeweiligen Erscheinungen, was fr Schelling allein (metaphysisch) „im unendlichen Wesen“ verstanden werden kçnne (ebd., 98). So argumentiert Schelling gegen die Kant’sche Abwertung (Erscheinungshaftigkeit, Als-Ob, regulative Idee). Direkt an Kant adressiert sagt Schelling (1994, 96): „Gleichwohl seid ihr nicht minder
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gar nicht mçglich; gegenber Kant sagt er: „Ihr zerstçrt aber alle Idee von Natur von Grund auf, sobald ihr die Zweckmßigkeit von außen durch einen bergang aus dem Verstande irgendeines Wesens in sie kommen laßt.“ (ebd., 97 f )61 Statt dessen zielt Schelling darauf ab, „Mechanismus“ und „Zweckmßigkeit, d. h. die Unabhngigkeit vom Mechanismus [… und die] Gleichzeitigkeit von Ursachen und Wirkungen“ zu „vereinigen“ (ebd., 106).62 In unserer heutigen Sprache ausgedrckt kçnnte mit Schelling gesagt werden, dass sich physikalische und biologische Gegenstandsbereiche in einer Art Selbstorganisationsprinzip treffen. Ob man eine derartige Verbindung von Schelling zu den aktuellen Selbstorganisationstheorien allerdings ziehen mag (kritisch: Kppers 1992), hngt entscheidend davon ab, ob man Schellings Vorstellung einer selbstttigen Natur und sein dynamisch-prozessuales Naturverstndnis gençtigt, einzurumen, daß die Zweckmßigkeit der Naturprodukte in ihnen selbst wohnt, daß sie objektiv und real, daß sie also nicht zu euern willkrlichen, sondern zu euern notwendigen Vorstellungen gehçren.“ Ferner: „Die Organisation aber ist nicht bloße Erscheinung […].“ (ebd., 95) Gegenber dem regulativen sieht Schelling ein konstruktives Prinzip. 61 Diese Kritik gilt nicht allein Kant und einer bestimmten Interpretationslinie von Kant, sondern neuzeitlichen Dualismen allgemein. Sie gilt auch der platonischen und christlichen Tradition, die den Zweck von der Materie trennen, um Gottes Wirken zu begrnden. Der hohe Erklrungsbedarf von materiell-lebendiger Organisation ist nach Schelling eine Folge von kulturgeschichtlich etablierten Trennungen, etwa von Notwendigkeit und Zuflligkeit, von Materie und Form. Schelling (1994, 99) sagt: „Der ganze Zauber, der das Problem vom Ursprung organisierter Kçrper umgibt, rhrt daher, daß in diesen Dingen Notwendigkeit und Zuflligkeit innigst vereinigt sind. […] Kein Wunder, daß jene Sprache, dogmatisch gebraucht, bald selbst Sinn und Bedeutung verlor. Solange ich selbst mit der Natur identisch bin, verstehe ich, was eine lebendige Natur ist, so gut, als ich mein eigenes Leben verstehe; begreife, wie dieses allgemeine Leben der Natur in den mannigfaltigsten Formen, in stufenmßigen Entwicklungen, in allmhlichen Annherungen zur Freiheit sich offenbaret; sobald ich aber mich und mit mir alles Ideale von der Natur trenne, bleibt mir nichts brig als ein totes Objekt, und ich hçre auf, zu begreifen, wie ein Leben außer mir mçglich sei.“ 62 Dann „entsteht in uns die Idee von einer Zweckmßigkeit des Ganzen, die Natur wird eine Kreislinie, die in sich selbst zurckluft. […] [D]as Einzelne konnte weder ohne das Ganze, noch das Ganze ohne das Einzelne wirklich werden.“ (Schelling 1994, 106) Schelling erkennt in der lebendigen Natur eine Gestaltproduktion und ein Vervollkommnungsprinzip (Prinzip der Hçherentwicklung), welches auf sukzessive „Subjektobjektivierung“ zielt. Im Sinne der Identittstheorie findet sich bei Schelling ein Hçhepunkt der Natur-Geist-Bestimmung, nmlich „die Idee der Natur“ als „der sichtbare Geist, der Geist [als] die unsichtbare Natur“ (ebd., 107).
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von dem hochspekulativen Identittsdenken der idealistischen Naturphilosophie ausreichend zu lçsen vermag. Mit Verweis auf Kant und Schelling, denen vielleicht der an dieser Stelle nicht genannte Gustav Theodor Fechner63 zur Seite zu stellen wre, sollte beispielhaft gezeigt werden, dass die aktuellen Selbstorganisationstheorien nicht losgelçst zu betrachten sind von den reichhaltigen Traditionslinien des philosophischen Denkens. Zwar sind Kant und Schelling nicht als naturwissenschaftliche und begrifflich-detaillierte Vorlufer der heutigen Selbstorganisationstheorien anzusehen (Kppers 1992). Doch haben sie – jenseits metaphysischer Setzungen und Systeme – erkenntnistheoretische und methodologische Diskussionsrichtungen ber Annahmen und Aussagen jener Phnomene geprgt, welche heute im Rahmen der Selbstorganisationstheorien thematisiert und reflektiert werden. Dass sich bei ihnen nicht der Begriff der „Selbstorganisation“, sondern nur der des „Sich-selbst-organisierens“ findet, wird man konstatieren mssen. Dabei akzentuiert Kant primr die Selbstreproduktion, Schelling eher die Selbstproduktion und die Selbsthervorbringung. Beide kritisieren die Einseitigkeit des klassisch-mechanistischen Denkens. Whrend bei Kant eine frhe erkenntnistheoretische Begrenzung der klassischen Physik zu sehen ist, finden sich bei Schelling darber hinaus Aspekte zu einer (spekulativen) Erweiterung. Wenn Schelling davon spricht, dass „Materie nicht primitiv“ sei, so kann darin aus heutiger Sicht – jenseits der metaphysischen Bezge eines objektiven Idealismus – etwas unverkennbar Visionres und Weiterfhrendes gesehen werden. Wo immer heute von „einer erneuten Aktualitt“ der Naturphilosophie gesprochen wird (Schiemann 1996, 7; Bçhme 1992a; Kppers 1992), ist damit auch das naturphilosophische Denken von Kant und Schelling gemeint. Und die physikalischen Selbstorganisationstheorien haben ihrerseits daran einen Anteil; schließlich ermçglichen sie einen erneuten Zugang zu den offenen, uneingeholten, alten Fragen naturphilosophischer Denktraditionen.
63 Siehe die Ausfhrungen in Kapitel 4.2.
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Systematisches: Zum Begriff der Selbstorganisation Trotz der Erçrterung materieller und zeitlicher Aspekte von Selbstorganisationsphnomenen und trotz des Verweises auf Denktraditionen ist der Begriff der „Selbstorganisation“ unscharf und unbestimmt geblieben. So ist zu fragen: Was ist eigentlich gemeint, wenn von „Selbstorganisation“ gesprochen wird?64 Selbstorganisationstheoretiker gehen davon aus, dass die den Selbstorganisationsphnomenen zugrundeliegenden Entitten als physikalisch real anzusehen sind. Makroeigenschaften der Selbstorganisation gelten als ausschließlich durch physikalische Mikroentitten generiert. Nicht gesagt ist damit, dass die Physik – zumal die heutige Physik – epistemisch dazu befhigt ist, alle Selbstorganisationsphnomene beschreiben oder erklren zu kçnnen. Diese („physikalistische“) Grundlage gilt auch dann, wenn man bercksichtigt, dass Selbstorganisationstheorien partiell als naturwissenschaftsimmanente Kritik an etablierten Engfhrungen (etwa auf das Statische, Stabile, Invariante, Lineare, Nicht-Emergente, … ) verstanden werden kçnnen. Selbstorganisationstheorien stellen somit einerseits eine Naturwissenschaftskritik durch den Hinweis auf die Ausblendungen und Limitationen klassisch-moderner Physik dar, andererseits zielen sie auf Erweiterung der Physik. So werden die Selbstorganisationstheorien von einigen Physikern und Philosophen als Grenze traditioneller Spielarten des Physikalismus und Materialismus angesehen, von anderen als neue, flexiblere, weiterentwickelte Versionen.65 Zur Begriffsklrung ist damit herausgestellt, dass (0) die Selbstorganisationstheorien von physikalischen Entitten ausgehen („Ontologie“), etwa von Moleklbewegungen. Man mag das immer noch als „Physikalismus“ bezeichnen. Dann allerdings wre zu betonen, dass noch kein spezifisches Physikalismus-Verstndnis vorgezeichnet ist. Schließlich verndert sich der Begriff des Physikalismus, insoweit auf Physik Bezug genommen wird (Mainzer 1996, 1; Beckermann et al. 1992). Das zeigt sich in der Physik der Instabilitten.66 Neben den physikalischen Entitten sind – je nach Hintergrundberzeugung – mit dem Begriff der 64 Plural wird der Begriff „Selbstorganisation“ auch nach einer Klrung bleiben. In dieser Hinsicht kennzeichnet er – wie andere Grundbegriffe ebenfalls, beispielsweise der Begriff „Chaos“ – die nachmoderne Physik. 65 Vgl. die kontrren Ausfhrungen von Kim (1998) und Kanitscheider (1993). 66 Mçglicherweise kçnnte von einem „nachmodernen Physikalismus“ gesprochen werden, wobei sich eine Nhe zum „nichtreduktiven Physikalismus“ (Beckermann et al. 1992) zeigt.
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Selbstorganisation weitere, im Folgenden darzulegende Merkmale verbunden: (1.a.) die spontane Entstehung von Neuem bzw. Anderem („neuartige Qualitten“, „Emergenz“, „Spontaneitt“, „spontaner Symmetriebruch“) („Ordnungstheorien“), (1.b.) die Prozessdynamik zur und in der Strukturentstehung („Dynamik- und Zeittheorien“), (1.c.) die Immanenz („Internalitt“, „von selbst“), sowie (2) die erklrungstheoretische Irreduzibilitt, (3) die mathematisch-numerische Nichtprognostizierbarkeit und (4) die operational-technische Nichtherstellbarkeit (technische Entzogenheit, handlungstheoretische Unbestimmtheit) bzw., komplementr, die technische Selbstherstellung (etwa im Bereich der Nanotechnologie). In diesen vier Zugngen zu „Selbstorganisation“ spiegeln sich traditionelle Ebenen wider, die die Diskussion prgen: Ontologie, Epistemologie, Methodologie, Operationalitt/Technizitt. Doch wie, so ist zu fragen (1.a.), kann das Neue als „Neues“ begrifflich gefasst werden? Fest steht zunchst im Sinne eines Realismus und in Ablehnung von Prformationstheorien, dass es Neues gibt. Ob und wie das Neue erkennbar wird, ist damit noch nicht gesagt. Man kçnnte gewiss bescheiden sein und Selbstorganisation nicht aus ontologischer, sondern aus epistemologischer oder methodologischer Perspektive verstehen wollen. Die Zuweisung von „Neuem“ kçnnte als Konvention, (Objekt-) Konstitution oder Konstruktion gefasst werden. Konventionalistische, methodologisch-konstruktivistische oder gar instrumentalistische Positionen sind durchaus plausibel. Im Extrem erschiene das „Neue“ sogar nur als das derzeit Neue, als temporres Wissensdefizit, als zu lçsendes Erkenntnisproblem, als innere Begriffs- und Sprachproblematik: Wird das Neue erkannt, wre es verbannt und eliminiert. Selbstorganisationstheoretiker wie Prigogine und Haken halten das fr unangemessen.67 Sie beziehen sich nicht nur auf Methodologisches und Epistemologisches, sondern auf „grundlegendere Ebenen“ – Prigogine auf eine Prozessontologie, Haken auf eine Einheitsontologie. Das unumstrittene und zentrale Kennzeichen von Selbstorganisation ist mithin das Neue, verstanden als neuartige und neue Qualitten.68 Der Begriff der Selbstorganisation steht zunchst dem der Emergenz nahe. 67 Jede nichtrealistische Position erschiene als eine Relativierung, nmlich Selbstorganisation nicht als grundlegend fr ein nachmodern-physikalisches Naturverstndnis anzusehen. 68 Es ist allerdings umstritten, ob und wie von „Neuartigem“ gesprochen werden kann, d. h. ob es sich nicht lediglich um „Anderes“ oder vielmehr um eine „neue Art“ handelt.
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Dieser hebt allerdings primr die abrupte und spontane Entstehung von Neuem als neue Ordnung hervor: Emergenztheorien sind instantane Ordnungstheorien. Die Entwicklung und der Prozess der Hervorbringung von Neuem liegt weniger in ihrem Fokus. Selbstorganisation hingegen ist in einem ber Emergenz hinaus erweiterten Rahmen – sowohl als Ordnungs- als auch als Prozess- und Zeittheorie – zu verstehen (siehe 1.b.). Emergenz stellt somit eine allzu eingeschrnkte Perspektive dar. Besonders deutlich wird dies bei Konrad Lorenz’ Zuspitzung des Emergenzbegriffs. Anstatt von „Emergenz“ wollte Lorenz sogar lieber von „Fulguration“ sprechen, vom blitzartigen Auftauchen und plçtzlichen Hervortreten des Neuen (Lorenz 1973, 46 f ). Hiermit war fr Lorenz der semantische Kern von Emergenz gekennzeichnet. Das Dynamische – sowohl der Prozess zum Neuen als auch die mçgliche Prozessualitt des Neuen selbst und ihre Zeitlichkeit – gert bei dieser Verstndnisweise schnell in Vergessenheit. Gegen eine derartige Favorisierung des Emergenz- bzw. Fulgurationsbegriffs spricht ferner, dass nicht spezifiziert ist, ob es sich um eine Fremdemergenz oder eine Selbstemergenz handelt. Eine Pointe der Selbstorganisation liegt ja gerade in der Immanenz (siehe 1.c.), nmlich darin, zu klren, „wie Strukturen von allein gebildet werden“, wie von selbst, also in und durch Systemimmanenz, Muster und Ordnung entstehen kçnnen (Haken 1995, 19). Um von der „Neuartigkeit“ zur „Selbstorganisation“ zu gelangen, sind also Prozessualitt und Zeitlichkeit (1.b.) sowie die Immanenz (1.c.) zu bercksichtigen. Selbstorganisation als Prozessbegriff bezieht sich auf Vermittlung zwischen Mikro- und Makroebene. Er umfasst sowohl die grundlegenden Elemente als auch die neuartigen, zeitlich entstandenen Makroqualitten, also das Emergente und seine eigene Dynamik. Selbstorganisation meint, wie schon in der klassischen Formulierung von schaffender und geschaffener Natur, den Prozess und das Produkt. Doch von welcher Qualitt ist das Neue, wie es heute von Selbstorganisationstheoretikern diskutiert wird? Entstehen kann (i) eine neue Eigenschaft oder ein neues Merkmal, (ii) eine neue Dynamik, eine Struktur oder ein Muster, (iii) eine neue dynamische Entitt oder Einheit oder sogar (iv) eine vollstndig neue Qualitt, wie z. B. das „Bewusstsein“. Zunchst wird unter Selbstorganisation (i) die Entstehung einer neuen Eigenschaft bzw. eines neuen Merkmals verstanden. Von systemischer Eigenschaftsselbstorganisation kann gesprochen werden. Die systemische Eigenschaft als Eigenschaft der Makroebene liegt in keiner Entitt der Mikroebene vor. In der Analytischen Neurophilosophie ist diese These unter dem Stichwort der synchronen Determiniertheit bekannt (als
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Spielart von Supervenienztheorien; vgl. Stephan 1999): Es kann keinen Unterschied in der systemischen Eigenschaft geben, ohne dass es Unterschiede in den Eigenschaften der Mikroentitten oder in deren Anordnungen gibt; die Umkehrung gilt freilich nicht. Wasser weist z. B. systemische Eigenschaften auf, die weder Sauerstoff noch Wasserstoff allein zukommen. Ein elektrischer Schwingkreis besitzt die SchwingungsEigenschaft, welche weder in einer elektrischen Induktivitt noch in einem Kondensator allein vorhanden war. Man wird hier von einem schwachen Selbstorganisationsbegriff sprechen mssen. Ob er adquat ist, bleibt eine offene Frage. Entsteht allerdings, wie unter (ii) angedeutet, eine neue Dynamik oder Struktur, so liegt hier ein anspruchsvollerer Selbstorganisationsbegriff vor, nmlich der der Strukturselbstorganisation. Sie spezifiziert die systemische Eigenschaftsselbstorganisation. Die dynamische Strukturselbstorganisation ist ein guter Kandidat fr einen ersten gehaltvollen Begriff von Selbstorganisation. Leitend ist hier ein physikalisches Paradigma unterschiedlicher Selbstorganisationstheorien, die Bnard-Konvektion. Sowohl Prigogines Dissipative Strukturbildung als auch Hakens Synergetik haben die Konvektionszelle vor Augen. Wird ein Parameterwert (etwa eine bestimmte Plattentemperatur) berschritten, geht die Konduktion in eine Konvektion ber. Eine qualitativ andere Dynamik, verbunden mit einer Musterbildung, setzt ein. Es entsteht ein Prozess der Rollenbildung des Wrmeaustausches. Gleichzeitig liegt aber auch der „Prozess zur Prozessentstehung“ vor, nmlich die Entwicklung und Herausbildung des Rollenprozesses, der sich in makroskopischen Mustern zeigt. Die spezielle Rollenbewegung (Richtung) entwickelt sich im Prozess selbst. Die beiden Bedingungen – (a) „von selbst“ und (b) „Prozessualitt“ von Entstehung und „Produkt“ – sind erfllt. Noch anspruchsvoller ist das Verstndnis (iii) der dynamischen Entittenselbstorganisation. Beispielhaft mag die Kosmologie sein, etwa die Herausbildung neuer Entitten wie Milchstraßen, Galaxien, Sonnensystemen, Sonnen, Planeten, Schwarzen Lçchern, u. a.. Die neuen Entitten sind selbst das dynamische Produkt eines Prozesses. Hier wre der Begriff der „Emergenz“ irrefhrend, weil mit ihm eine allzu abrupte, plçtzliche, singulre Konnotation einhergeht. Planetenbildung ist ein Prozess, durch den in der Zeit allmhlich Neues entsteht: Entstehung und Entwicklung sind nicht trennbar. Sie erscheinen als komplementre, sich ergnzende Aspekte. Das, was in der Kosmologie vonstatten geht, findet sich auch vielfach auf mikro- und mesophysikalischen Ebenen wieder.
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Weitergehender, spekulativer und umstrittener mag (iv) die Bewusstseinsselbstorganisation sein. Aus neuronaler Mikroebene tritt eine vollstndig neue und kategorial andere Makroqualitt hervor. Das weist ber die Entittenselbstorganisation hinaus. Doch auch der Bewusstseinsselbstorganisation liegt eine dynamische Entittenselbstorganisation zugrunde. Im neurophysiologischen System Gehirn findet eine Selbstorganisation und eine Strukturbildung im offenen Informations- und Energie-Austausch mit der Umwelt statt. Es entstehen zwar keine materiellen Planeten, aber spezifische dynamische Strukturen: die „neurophysiologischen Korrelate“ von Bewusstsein, wie es die Neurowissenschaften nennen (Schmidt/Schuster 2003). Hier ist die verwandte Diskussion um die Supervenienz beheimatet, welche insbesondere auf die erklrungstheoretische Irreduzibilitt (s.u.) rekurriert (Beckermann 2001; Kim 1987; Kim 1998). Die These der Supervenienz besagt, dass „es keine zwei Ereignisse geben kann, die in allen physikalischen Hinsichten gleich, aber in einer geistigen Hinsicht verschieden sind, oder dass sich kein Gegenstand in einer geistigen Hinsicht verndern kann, ohne sich auch in einer physikalischen Hinsicht zu ndern.“ (Davidson 1990, 301) Tragende Idee ist die der multiplen physischen Realisierbarkeit „mentaler Zustnde“.69 Donald Davidson zeichnet damit die physischen Eigenschaften als basal aus. Sie bestimmen die mentalen Eigenschaften. Diese sind von physischen abhngig, doch nicht auf physische (erklrungstheoretisch bzw., strker, ontologisch) reduzierbar. Der Ansatz von Davidson, der zu seiner Position des anomalen Monismus fhrt, wurde vielfach diskutiert und kritisiert.70 69 Drei Merkmale charakterisieren die Supervenienzthese: Kovariation, Dependenz und Nichtreduzierbarkeit/Irreduzibilitt des Mentalen, vgl. Stephan (1999) und Beckermann (2001). 70 Beispielsweise hat Kim (1998) Davidson kritisiert und dabei drei Typen von Supervenienz unterschieden, die schwache, starke und globale Supervenienz. Heute vertritt Kim die These, dass Supervenienz nichts anderes ist als eine asymmetrische Kovariation (Kim 1998, 249 f ). Von den drei ursprnglichen Merkmalen (Kovariation, Dependenz, Nichtreduzierbarkeit) bleiben bei Kim nur noch die Kovariation und eine schwache Art der Dependenz. Damit eignet sich dieser Kim’sche Typ der Supervenienz, im Unterschied zum anomalen Monismus von Davidson, nicht mehr als grundlegende Kritik reduktionistischer Programme. „Ob Supervenienz in einer ihrer verschiedenen Formen uns mit der Mçglichkeit der Formulierung eines nicht-reduktiven Physikalismus versieht, das bleibt also eine offene Frage.“ (Kim 1998, 255) Siehe auch Beckermann (2001, 208).
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Deutlich wird in der Differenzierung der vier mçglichen Ebenen von Selbstorganisation (i – iv), dass das Neue unterschiedliche Komplexittsgrade aufweisen kann. Damit ist nicht genug. Oft werden weitere Kennzeichen hinzugefgt, um den Begriff „Selbstorganisation“ zu fllen. (2) Der Hinweis auf erklrungstheoretische Irreduzibilitt besagt, dass die Selbstorganisationstheorien nicht vollstndig dem erklrungstheoretisch-reduktiven bzw. çkonomistischen Programm der klassisch-modernen Physik folgen. Selbst dann, wenn man einen weniger anspruchsvollen Erklrungs- und Beschreibungsbegriff verwendet, etwa den der Eliminierung von Redundanzen, treten in einer dynamisch und strukturell instabilen Natur Grenzen der Erklrbarkeit auf (s. o., vgl. Schmidt 2003c). Dass etwa eine kompaktere Darstellung fr gegebene Ereignisse (Daten- und Zahlenfolgen), welche durch instabile Prozesse generiert werden, nicht gefunden werden kann, zeigt die algorithmische Informations- und Komplexittstheorie in Verbindung mit der Chaostheorie. Wenn hingegen offensichtliche Regelmßigkeiten in einer Zahlenfolge vorliegen – wie in dynamisch stabilen Systemen (beispielsweise Periodizitten) – so sind Informationen redundant. Eine abkrzende Darstellung der Folge ist mçglich. Unter dem Stichwort „erklrungstheoretische Irreduzibilitt“ ist dagegen angedeutet, dass sich fr gegebene Instabilitten in Selbstorganisationsprozessen keine abkrzende Darstellung finden lsst. (3) Die numerische Nichtprognostizierbarkeit folgt schon aus der Nichtexistenz einer abkrzenden Darstellung. Doch selbst dann, wenn die Gesetzmßigkeit bekannt wre, kçnnte, da sie nichtlinear ist und instabile Lçsungen zur Folge haben kann, keine analytische Berechnung der Lçsung vorgenommen werden. In vielen relevanten Fllen ist auch eine numerische Lçsungsberechnung unmçglich. Damit ist die Prognostizierbarkeit erschwert. Vielfach gilt: Um zu erkennen, muss man geschehen lassen. (4) Ferner kann von einer operational-technischen Nichtherstellbarkeit gesprochen werden. Damit ist eine Entzogenheit von Selbstorganisationsprozessen vor intentionaler Manipulation gekennzeichnet. Technische Kontrollier- und Beherrschbarkeit sind limitiert. Insofern Instabilitten vorliegen und es „auf des Messers Schneide“ steht, kçnnen kleinste Variationen, die fr die Selbstorganisationsprozesse konstitutiv sind, diese auch zerstçren. Aus dieser Perspektive erscheint Technik berall dort im Kern unbestimmt, wo Instabilitten und Selbstorganisationsprozesse herrschen. Ob dies dann noch als „Technik“ aufgefasst werden kann, ist klrungsbedrftig. Allerdings deutet sich neuerdings durch die Ent-
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wicklungen im Umfeld der Nanotechnologie an, dass Selbstorganisationsprozesse – obwohl sie dem Menschen im Detail entzogen sind – doch zu einer eigenen Produktion von gewnschten Substanzen und Strukturen (etwa Mikro-Robotik) verwendet werden kçnnen, vorausgesetzt einige relevante Randbedingungen sind zugnglich.71 Eine mçglicherweise ambivalent zu bewertende Technizitt zeigt sich, welche bislang kaum wissenschafts- und technikphilosophisch rezipiert und reflektiert ist. Fazit: Wege des Wandels Selbstorganisationstheorien und der physikalische Zugang zu Selbstorganisationsphnomenen sind Hinweise auf einen Wandel im Natur- und im Wissenschaftsverstndnis. Ob und in welcher Hinsicht hier noch von „Physikalismus“ gesprochen werden kann, wird vom Physikalismus-Verstndnis abhngen. Denn es kann mit Jaegwon Kim bezweifelt werden, „ob viele Materialisten [und Physikalisten] der Auffassung wren, daß die Konsequenzen [der Selbstorganisations- und Supervenienztheorien] mit ihren materialistischen Grundannahmen vereinbar sind.“ (Kim 1998, 321) Zur Sttzung eines reduktiven Physikalismus jedenfalls finden sich in den Selbstorganisationstheorien keine Argumente. Ob ein nichtreduktiver Physikalismus (Beckermann et al. 1992; Schwegler 2001) eine konsistente Position darstellt, soll hier offen bleiben. Fassen wir zusammen: Instabilitt bildet als nomologischer Kern eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung fr Selbstorganisation. Die phnomenale Seite ist mit zu bercksichtigen. Diese bezieht sich auf vielfltige Phnomene, Strukturen und Muster, die jedoch gemeinsame Merkmale aufweisen: Prozesshaftigkeit („in der Zeit“) plus Neuartigkeit („neuartige Qualitten“) plus Internalitt („von selbst“). Ob der schwache Selbstorganisationsbegriff, d.i. die systemische Eigenschaftsselbstorganisation, diese Kriterien erfllt, ist zweifelhaft. Adquatere Verstndnis71 Damit wird deutlich, dass es sich hier nicht nur um Aspekte einer „knstlichen Intelligenz“ (AI) oder um „knstliches Leben“ (AL; vgl. Langton 1984) handelt, sondern um „hybrides Leben“ („hybrid life“), wie es genannt werden kçnnte. Schließlich operiert dieses nicht nur virtuell in Computern, sondern raumzeitlich in der Realwelt. Fr die Materialisierung des hybriden Lebens liegen bislang kaum wissenschafts(kultur)philosophische Untersuchungen vor. Die Robotik scheint etablierte kulturgeschichtliche Trennungen zu relativieren und eliminieren.
6.2. Kausalitt und Zufall
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weisen sind die der dynamischen Strukturselbstorganisation, der Entittenselbstorganisation sowie als derzeit strkste, die der Bewusstseinsselbstorganisation. Weitere Dimensionen von Selbstorganisation treten hinzu, wenn epistemologische und methodologische Aspekte ins Spiel kommen: Irreduzibilitt, Nichtprognostizierbarkeit und Nichtherstellbarkeit. Die anspruchsvollste Verstndnisweise von Selbstorganisation umfasst alle diese Dimensionen. Dagegen stellen schwchere Verstndnisweisen jeweils einzelne Dimensionen heraus und vernachlssigen andere. Es bleibt eine – mçglicherweise prinzipiell – nicht eliminierbare begriffliche Pluralitt von „Selbstorganisation“. Sowohl der einheitliche nomologische Instabilitts-Kern als auch die phnomenalen Kennzeichen wie Neuartigkeit, Prozesshaftigkeit und Internalitt lassen es jedoch gerechtfertigt erscheinen, gehaltvoll von „Selbstorganisation“ zu sprechen.
6.2. Kausalitt und Zufall Einleitung Weder dem Begriff noch der Sache nach hat sich Kausalitt aus der Physik verabschiedet, wie manche Wissenschaftsphilosophen meinen mçgen.72 Traditionelle wissenschafts- und erkenntnistheoretische Kernthemen treten ein in den Kern von Physik – und ermçglichen von hier aus Rckfragen an Wissenschafts- und Erkenntnistheorien. In der Thematisierung von Kausalitt zeigt sich abermals der reflexive Charakter der nachmodernen Physik. Zwar wird Kausalitt nicht mehr im umfassenden vierfachen aristotelisch-scholastischen Sinn und in all ihren historisch-philosophischen Differenzierungen erçrtert (Heidelberger 1992a; Leiber 1996b). Der Verzicht auf die reichhaltige antike Traditionslinie und die neuzeitliche Fokussierung auf Wirkkausalitt erscheint ebenso unrevidierbar wie die sukzessive (Teil-) Explikation von Wirkkausalitt durch den Gesetzes-, Regelfolgen- und Funktionen-Begriff. Doch zu einer detallierteren Betrachtung und zu einer partiellen Revision neuzeitlicher Engfhrungen geben die Instabilitten heute Anlass. Es finden sich hier Reflexionen zur Kausalitt, die Hinweise geben kçnnten auf ein modifiziertes Kausalittsverstndnis. Dieser Kausalittstyp kçnnte als schwache, weiche, flexible 72 Beispielsweise v. Wright (1991, 43) und Russell (1950, 1).
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Kausalitt bezeichnet werden. Ob und in welcher Hinsicht dieser Typ allerdings berhaupt noch berechtigterweise als „Kausalitt“ zu bezeichnen ist, wird zu klren sein. Dass Kausalitt am Ende des 20. Jahrhunderts (a) wieder thematisiert und (b) in unterschiedlichen Spielarten spezifiziert wird, stellt in Anbetracht der wissenschaftshistorischen Entwicklung der Physik ein Novum dar. Kausalitt schien aus den mathematischen Naturwissenschaften verabschiedet zu sein. Humes wirkungsgeschichtlicher Angriff auf Kausalitt – nmlich dass kausale Beziehungen empirisch gar nicht nachgewiesen werden kçnnen, sondern allenfalls approximativ die regelmßige Abfolge von hnlichen Ereignissen in Ereignisketten – markiert einen prgenden Wendepunkt. Nicht nur Kant, sondern auch Wissenschaftsund Erkenntnistheoretiker des 20. Jahrhunderts teilen die Kritik Humes, zumindest was die Physik angeht. Der Logische Empirismus fhrte das Hume’sche Erbe weiter, radikalisierte es und schwieg schließlich zur Kausalitt. Damit avancierte Kausalitt zu einem Un-Thema, das sich erledigt zu haben schien. So bemerken Russell, v. Wright, Mach, Schiemann u. a. in großer Einmtigkeit, dass Kausalitt der Sache wie dem Begriff nach in der Physik keine Rolle mehr spiele. Physik habe, so Bertrand Russell, „aufgehçrt, nach Ursachen zu suchen, [… weil] es nichts derartiges gibt.“ (Russell 1950) In „der eigentlichen Wissenschaft“ habe, meint Georg Henrik v. Wright aus handlungstheoretischer Sicht, „das ,Kausalittsprinzip‘ keinen Platz mehr, sondern [… stellt] eine typische Philosophenkonstruktion dar.“ (Wright 1991, 43)73 Ernst Mach hebt metaphysikkritisch hervor: „In der Natur gibt es keine Ursache und keine Wirkung.“ (Mach 1988, 459) „Die Zeiten“, so Gregor Schiemann, „in denen Kausalitt das Charakteristikum von Wissenschaftlichkeit war“, seien „zu Ende“ (Schiemann 1997c, 1). Schon Wittgenstein hatte im Tractatus (Satz 5.1361) gesagt: „Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube.“74
73 In Abgrenzung vom Kausalittsprinzip entwickelt v. Wright sein interventionalistisches Kausalittsverstndnis. 74 Und Nietzsche (1993, 27) meinte: „Man soll nicht ,Ursache‘ und ,Wirkung‘ fehlerhaft verdinglichen, wie es die Naturforscher thun […] gemß der herrschenden mechanistischen Tçlpelei, welche die Ursache drcken und stossen lsst, bis sie ,wirkt‘. […] Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Fr-einander, die Relativitt, den Zwang, die Zahl, das Gesetz […] erdichtet haben […].“
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Vereinzelt sind auch gegenteilige Stimmen zu hçren, die an dieser Stelle nicht im Detail entfaltet werden kçnnen.75 Entscheidend ist vielmehr, (a) dass die Diskussion um Kausalitt eine weitere Mçglichkeit erçffnet, zwischen klassisch-moderner und nachmoderner Physik zu unterscheiden; und (b) dass spezielle Verstndnisweisen von Kausalitt in diesem Rahmen thematisiert und modifiziert werden. Kausalittsverdrngung Zur Einschtzung der heutigen Diskussionslage um „Kausalitt“ kçnnte ein Blick in die Geschichte hilfreich sein. Der historische Verdrngungsprozess von „Kausalitt“ in der Physik, der unter die Stichworte Entteleologisierung und Entsubstanzialisierung gestellt werden kann (vgl. Schiemann 1997c, 3), ist zunchst nicht einfach zu revidieren. Dass man die „Wahrheit nicht getrennt von der Ursache wissen“ kçnne, hatte Aristoteles in seiner wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Begrndung von Wissenschaft vorausgesetzt. Wissenschaft hat seit der Antike das Ziel verfolgt, die Ursachen von Naturphnomenen zu finden. Die damit einhergehende Begrndungsverpflichtung fordert, Antworten auf die Frage zu geben, warum etwas der Fall ist. In der aristotelischscholastischen Naturphilosophie und der dortigen Erkenntnishaltung wird den Dingen noch ein Komplex von vier verschiedenen Ursachen zugeschrieben. Fr die neuzeitliche Naturwissenschaft ist allein die WirkKausalitt (causa efficiens) kennzeichnend geworden. Sie gilt dort gemeinhin als die Ursache schlechthin (Mittelstaedt 1989, 148). In der aristotelischen Naturphilosophie hingegen waren teleologische Aspekte und Zweckursachen bedeutsam. Dieser Kausalittstyp orientierte sich (u. a.) am Handeln des Menschen. Von Handlungen ausgehend hatte Aristoteles eine teleologische Naturbetrachtung entwickelt und in der Natur eine Einheit der vier Kausalittstypen lokalisiert (Bunge 1987; Mittelstraß 1981). 75 Heidelberger (1992a) spricht von einer „Revitalisierung der Kausalittsdiskurse“, bezieht sich dabei aber auf Reflexionen innerhalb der Philosophie. Zur Konstitution von Experimenten und von „Verfahren der Experimentalphysik“ sind, so Essler (1973, 133), „Postulate wie das allgemeine Kausalittsprinzip“ notwendig. Weitergehend ist Bunge (1987, 396) mit seiner Diagnose einer „Wiederkehr der Kausalitt“ in den Naturwissenschaften. Vollmer (1988, 39 f ) entwirft einen Weg, „Kausalitt trotz Hume und Kant“ auf einer ontologischen Ebene durch die Bedeutung des Energiebertrags anzusetzen.
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Die klassisch-moderne Physik entstand in Abgrenzung gegenber teleologischen Naturverstndnissen.76 Hume entwickelte die wirkungsgeschichtlich prgende Regularittstheorie der Kausalitt, die sich an den deterministischen Differenzialgleichungs-Gesetzen vom Typ der Newton’schen Mechanik orientierte (Hume 1990, 73 f; s. o.). Nach dem Hume’schen skeptizistischen Empirismus wird unter Ursache nur noch ein erstes Ereignis in einer zeitlichen Relation totalgeordneter, sich hnlich wiederholender Ereignisse verstanden. Ursache und Wirkung sind in diesem Sinne kontingent: Ein Ereignis wird „Ursache“ genannt, ein anderes, was diesem regelmßig („in der Regel“) hnlich folgt, „Wirkung“ (ebd., 75 f ). Kausalitt, insbesondere Ursache und Wirkung sind (inter-) subjektive Zuschreibungen von Relationen zwischen zwei empirisch wahrnehmbaren Ereignissen, die hnlich reproduzierbar sind – und eben keine objektive Gegebenheit der Natur (empiristisches Kausalittsverstndnis). Hume denkt sich diesen Regularittstyp der Kausalitt in Form billardhnlicher Stçße als rumliche Nahwirkung. Empirisch, d. h. aus der Natur lsst sich Kausalitt nicht zeigen. Allerdings bleibt fr Hume Kausalitt eine ntzliche, psychologische Zuschreibung und eine Gewohnheitsannahme („habit“) zur Orientierung in der Welt. Zwei Ereignisse kçnnen demnach genau dann als kausal verknpft gelten, wenn sie hnlich reproduzierbar, also „regelhaft“ aufeinanderfolgen. Alles andere – insbesondere eine Notwendigkeit oder eine Wirkungskraft – ist fr Hume nichts als Einbildung. Kant kann sich mit der empiristischen Wendung zur Gewohnheit nicht zufrieden geben. Zwar besttigt er die These Humes, dass es prinzipiell keine Mçglichkeit gibt, Kausalitt durch empirische berprfungen zu beweisen. Als Begrndung fr die Gltigkeit des Kausalittsprinzips fhrt Kant an, dass ohne Kausalitt die Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung nicht gegeben sei (synthetischer Satz a priori). „Der Grundsatz des Kausalverhltnisses in der Folge der Erscheinungen gilt daher auch vor allen Gegenstnden der Erfahrung (unter den Bedingungen der Sukzession), weil er selbst der Grund der Mçglichkeit einer solchen Erfahrung ist.“ (KrV, B 247/A 202)77 Das Kausalitts76 Zur Teleologie siehe Spaemann/Lçw (1985) und Lçw (1980). 77 An gleicher Stelle sagt Kant: „Also ist das Verhltnis der Erscheinungen (als mçglicher Wahrnehmungen), nach welchem das Nachfolgende (was geschieht) durch etwas Vorhergehendes seinem Dasein nach notwendig, und nach einer Regel in der Zeit bestimmt ist, mithin das Verhltnis der Ursache zur Wirkung die Bedingung der objektiven Gltigkeit unserer empirischen Urteile […].“ (KrV, B 247/A 202)
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prinzip ist fr Kant somit als Kategorie einer jener Grundbegriffe, um Objekte berhaupt zu den Erscheinungen zu denken. Es ist Natur-konstitutiv. „Alles, was geschieht […] setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt.“ (KrV, A 189) „Alle Vernderungen geschehen nach dem Gesetz der Verknpfung der Ursache und der Wirkung.“ (KrV, B 232) Natur ist also (normativ) ber Wirkkausalitt definiert. Somit wurde Natur (materialiter) zum „Inbegriff der Erscheinungen, so fern diese, vermçge eines inneren Prinzips der Kausalitt, durchgngig zusammenhngen.“ (KrV, B 446/A 418) Kausalitt kann demnach nicht aus der Natur herausgelesen werden, insofern sie fr Natur konstitutiv ist. So stellt Kausalitt zwar die Bedingung der Mçglichkeit von Naturwissenschaft allgemein dar, doch innerhalb der Naturwissenschaft ist der Begriff des Gesetzes oder der Regel angemessener. Der klassischen Physik folgend war damit Kausalitt – wenn berhaupt – nur noch als reduzierter Typ der Wirkkausalitt und damit als Regelhaftigkeit thematisierbar. Bei Laplace sollte dann dieser Wirkkausalitts-Typ verallgemeinert und als universelles Determinationsprinzip gefasst werden. Als Ereignis- und Zustandsfolge findet er seine bildhaft technische Entsprechung etwa in einem Kanonenkugelflug oder einem Hammerschlag. Als Ursache wird schließlich noch nicht einmal mehr die verursachende Kraft verstanden, sondern lediglich die Anfangsbedingung. Somit zeigt sich nicht nur eine sukzessive historische Entteleologisierung, sondern auch eine Entsubstanzialisierung von Kausalitt. Mit „Entteleologisierung“ ist der Verzicht auf die reichhaltige aristotelisch-scholastische Verstndnisweise von Kausalitt gemeint. Mit „Entsubstanzialisierung“ soll herausgehoben werden, dass das Ursachenverstndnis nicht mehr an Substanzen gekoppelt ist, sondern sich zunehmend auf die Begriffe des Gesetzes, der Funktion oder Trajektorie, der Regel oder Relationen bezieht. Der ther etwa als nahwirkendes substanzbasiertes Trgermedium wurde obsolet. So stellt Ernst Mach fr die Gesamtentwicklung zusammenfassend heraus, dass in „den hçher entwickelten Naturwissenschaften […] der Gebrauch der Begriffe Ursache und Wirkung immer mehr eingeschrnkt [wird]. Sobald es gelingt, die Elemente der Ereignisse durch messbare Grçßen zu charakterisieren, lßt sich die Abhngigkeit der Elemente voneinander durch den Funktionenbegriff viel vollstndiger und prziser darstellen, als durch so wenig bestimmte Begriffe wie Ursache und Wirkung.“ (Mach 1991, 278) Selbst wenn man nicht von einer klassisch-modernen Verdrngung von „Kausalitt“ sprechen mag, zeigt sich doch eine Verengung.
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Schwache Kausalitt als Revitalisierung von Kausalitt Allen vermeintlichen Verabschiedungen zum Trotz war fr die Schwellengestalten auf dem Wege zu einer erweiterten Physik, etwa Maxwell und Poincar, Kausalitt durchaus ein Thema. Sie standen einerseits der Hume’schen kritischen Diagnose nahe, doch sie schauten differenzierter hin. Andererseits erweiterten sie somit die Regularittstheorie gegen Hume und hielten am Begriff der Kausalitt fest. Hatte Hume sein Kausalittsverstndnis noch eingeschrnkt durch hnlichkeitsbedingungen,78 so erschien dies Maxwell und Poincar unbegrndet: Methodologische Maximen und empirische Zugnglichkeit drfen nicht allein ber Kausalitt befinden. Im Gegensatz zu Hume hlt Maxwell am Kausalittsbegriff auch dann fest, wenn nur schwchere Bedingungen erfllt sind: wenn keine hnlichkeit gilt, sondern lediglich eine empirisch unzugngliche Gleichheit (Maxwell 1991, 13). Doch folgert Maxwell nicht – wie Hume in seinem skeptizistischen Empirismus – , dass damit jede Redeweise von Kausalitt hinfllig wird. Maxwell spricht vielmehr weiterhin von „cause“ und „effect“ (ebd., 14).79 Bei Poincar tritt der Kausalittsbegriff – als „Ursache“ und „Wirkung“ – im Rekurs auf Instabilitten in der bekannten Formulierung noch prononcierter auf: „Eine sehr kleine Ursache, die fr uns unbemerkbar bleibt, bewirkt einen betrchtlichen Effekt, den wir unbedingt bemerken mssen.“ (Poincar 1914, 56 f ) Kausalitt scheint hier jenseits eines Empirismus thematisiert zu werden. Die Vorlufer der nachmodernen Physik dehnten das Kausalittsverstndnis ber den von Hume gesetzten Rahmen hinaus aus in einen Bereich, in dem wir als epistemisch Handelnde (zunchst) kaum empirische Mçglichkeiten haben, Regelmßigkeiten ber Messungen aufzufinden. In Anschluss an Maxwell und Poincar hat sich in der nachmodernen Physik „Kausalitt“ in diesem erweiterten Sinne begrifflich etabliert. Zum Beleg der Revitalisierung kçnnen beispielhaft – neben physikalischen Fachpublikationen – die Lehrbcher zur Chaostheorie und Nichtlinearen 78 Hume meinte, dass nur dann, wenn hnliche Zustnde sich wiederholen, eine konstante Verbindung erkannt und kausale Regelfolgen zugewiesen werden kçnnen, siehe Kapitel 4. 79 Maxwell (1991, 13 f ) stellte heraus: „The same causes will always produce the same effects. […] [T]here are other cases in which a small initial variation may produce a very great change in the final state of the system, as when the displacement of the ‘points’ causes a railway train to run into another instead of keeping its proper course.“
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Dynamik von Otto Loistl und Iro Betz (1994, 6 f ) sowie von Roman Worg (1993, 31 f ) angefhrt werden.80 Die Begriffe der „schwachen“ und der „starken Kausalitt“ werden explizit diskutiert, mathematisch gefasst und illustriert. Starke Kausalitt setzt hnlichkeit voraus: hnliche Ursachen haben hnliche Wirkungen, wobei gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben. Schwache Kausalitt bençtigt schwchere Anforderungen. Hier gilt lediglich das Kennzeichen der Gleichheit (vgl. historisch: Lorenz 1963, allg. Loistl/Betz 1994, 8). Von „causality principle“ und von „cause-effect relation“ spricht ebenfalls der Physiker B. Chirikov (1996, 30). Der Chaostheoretiker David Ruelle (1995, ix) beschreibt die sensitive Abhngigkeit von den Startwerten und die instabilen Dynamiken mit den Begriffen „Ursache“ und „Wirkung“: „A small cause (small change of initial conditions) therefore has a large effect.“ Bei Prigogine und Stengers (1990, 283) finden sich verwandte Formulierungen. Sie beschreiben „a world where small causes can have large effects, but this world is not arbitrary.“ Hermann Haken (1995, 76) spricht von „zyklischer Kausalitt“. Bernd-Olaf Kppers hat herausgestellt, dass „in komplexen Systemen […] Ursache und Wirkung in einem zyklischen Verhltnis zueinander [stehen].“ (Kppers 1992, 10) Sie bilden eine „nicht auflçsbare Einheit.“ (ebd.) Noch in einer anderen Hinsicht wird von „Kausalitt“ gesprochen. In der aktuellen Physik hat sich ein mathematisches Diagnoseverfahren etabliert, das als Test auf „schwachen Determinismus“ bzw. auf „schwache Kausalitt“ bezeichnet wird, nmlich die so genannte Surrogat-Zeitreihenanalyse (Theiler et al. 1992; Abarbanel 1996) (Kapitel 5). Jenseits einer reinen Korrelationsanalyse werden aus empirischer Perspektive, ohne ein physikalisch-qualitatives und theoretisches Wissen ber das Objektsystem annehmen zu mssen, Zeitreihen auf schwach-kausale Regelhaftigkeiten hin untersucht. Somit kann all denjenigen widersprochen werden, die behaupten, Kausalitt sei als Begriff aus der Physik eliminiert. Doch nicht nur dem Begriff, auch der Sache nach gibt es gute Grnde, Kausalitt in der Physik erneut zu thematisieren.
80 Siehe auch die analoge Begriffsverwendung aus Perspektive der „qualitativen Charakterisierung“ von dynamischer Instabilitt in Buzug (1994, 38). Dort wird von einem „starken Kausalittsprinzip“ gesprochen.
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6. ber Natur, Welt und Wirklichkeit
Kausalitt als „Sonde“ zur Unterscheidung von klassisch-moderner und nachmoderner Physik Zwar wird „Kausalitt“ durch die Anerkennung von Instabilitten revitalisiert: mal wird sie aufgenommen, mal grenzt man sich von ihr ab, immer aber wird sie ernst genommen. Doch damit ist noch keine eindeutige Verstndnisweise gegeben. In den erkenntnistheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Traditionslinien liegen Angebote unterschiedlicher Kausalittsverstndnisse vor. Neben der Regularittstheorie (Hume), der Transzendentaltheorie (Kant), der Eliminationstheorie (Russell, Mach) stehen die Handlungs- bzw. interventionalistische Theorie (Locke, v. Wright) und die Emergenz- und Supervenienztheorie (Bunge, Beckermann). Weitere prominente Positionen sind die Kontrafaktizittstheorie (Hume, Lewis), die INUS-Theorie (Mackie) sowie die Probabilittstheorie (Reichenbach, Suppes, Salmon); letztere sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Die hier herangezogenen Kausalittsverstndnisse (Regularitts-, Interventions- und Emergenztheorie) stehen untereinander in einem komplementren Verhltnis. In ihnen spiegelt sich die Diagnose (der Existenz) einer nachmodernen Physik – verstanden als Erweiterung (erste Position), als Vernderung und Verkehrung (zweite Position) sowie als Begrenzung (dritte Position). Die drei Positionen werden im Folgenden vorgestellt. Es zeigt sich erneut, dass mit einiger Berechtigung von „nachmoderner“ Physik gesprochen werden kann und ein Unterschied zur klassisch-modernen Physik vorliegt. Kausalitt dient als Indikator und Sonde fr unsere Erweiterungsthese. Zum Ersten wird gegen Humes empiristische Argumentation von nachmodernen Physikern die Position einer erweiterten Regularittstheorie vertreten. Mit der Unterscheidung zwischen schwacher und starker Kausalitt hat sich ein erweitertes Kausalittsverstndnis etabliert, das ber Hume hinausgeht. Vorausgesetzt wird, dass auch dann von Regelhaftigkeit zu sprechen ist, wenn empirische Hinweise zunchst unmçglich sind. Es handelt sich – um es pointiert zu formulieren – um Hume’sches Regelfolgen ohne Empirismus. Schwache Kausalitt findet sich dort, wo die starke Kausalitt durchbrochen ist, dennoch aber ein Regelfolgen vorliegt bzw. vorliegen kann: hnliche Ursachen kçnnen ganz unterschiedliche Wirkungen nach sich ziehen.81 Schwache Kausalitt basiert 81 Es wird auch von „singulrer Determination“ gesprochen (Niedersen/Pohlmann 1990, 35 f ).
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auf instabilen Dynamiken. Um von Kausalitt sprechen zu kçnnen, muss ber klassisch empiristische Positionen hinaus eine minimale ontologische Prmisse unterstellt werden, nmlich dass es schwache Kausalitt nicht nur in mathematischen Gleichungssystemen gibt, sondern dass sie auch in der Natur liegt (minimaler Realismus). Der Argumentation haftet die Problematik der empirischen Evidenz an. Doch ist schwache Kausalitt als Kausalitt zumindest deduktiv plausibel, insofern sie durch kleine Modifikationen der Systeme starker Kausalitt gewonnen werden kann, etwa durch Modifikation des Doppelmuldenpotenzials mit einer periodischen Treibung (Duffing-Oszillator, Duffing 1918). Somit berschreitet die schwache Regularittstheorie den Empirismus. Es zeigt sich also eine Erweiterungsperspektive, insofern in zweifacher Hinsicht von Kausalitt die Rede ist, nmlich als starke und als schwache Kausalitt. Die klassisch-moderne Physik fokussiert dabei primr auf starke Kausalitt, die nachmoderne Physik auf schwache Kausalitt. Ursache und Wirkung werden jeweils, wie bei Hume, als Ereignisse in einer Ereigniskette angesehen. Die Situation gleicht jenem bereits angesprochenen Billardspiel, bei dem gleiche Anfangsbedingungen (= gleiche Ursachen) gleiche Effekte ( = gleiche Wirkungen) nach sich ziehen. Allerdings kçnnen bei schwacher Kausalitt kleinste Vernderungen ( = hnliche Ursachen) sehr unterschiedliche Effekte ( = unterschiedliche Wirkungen) zur Folge haben.82 Eine zweite Position orientiert sich am interventionalistischen Kausalittsverstndnis, es schließt emergenz- und selbstorganisationstheoretische Betrachtungen mit ein. Bestritten werden kann aus Perspektive des Interventionalismus, dass starke Kausalitt berhaupt als „Kausalitt“ zu bezeichnen ist. Schließlich handele es sich lediglich um Hume’sches Regelfolgen:83 Die regelhafte Sukzession von Ereignissen erfllt noch kein Verstndnis von Kausalitt, in dem Wirkursachen durch ihre Wirkungen etwas hervorbringen. Ganz anders ist dies in der nachmodernen Physik. Hier kann von Kausalitt gesprochen werden, insofern Neues entsteht. 82 Mçglicherweise wre hier eine modifizierte Position anzuschließen, die der zyklischen Kausalitt (Haken 1995, 76). Einerseits wird bestritten, dass Ursache und Wirkung adquat zugewiesen werden kçnnen; Ursachen sind zugleich Wirkungen, und Wirkungen zugleich Ursachen, insofern Rckkopplungen in der Zeit vorherrschen (z. B. eine Ruber-Beute-Dynamik wie im „Lotka-VolterraSystem“). Andererseits wird jedoch am Begriff „Kausalitt“ festgehalten. 83 Wenn sich nichts verndert, wenn also lediglich ein harmonischer Oszillator mit einer Frequenz schwingt, mag man – kritisch gegenber Hume – fragen, warum hier von „Kausalitt“ zu sprechen sei.
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Eine Wirkung wird bestimmbar und spezifizierbar. Intervention bezieht sich dabei nicht nur auf ußere, durch einen handelnden Menschen induzierte Manipulation, sondern auch auf innere, systemimmanente Variation. Anders gesagt: das System variiert sich selbst, durch seine eigene Dynamik, durch Kopplung und Rckkopplung. Das wre Intervention im Sinne der Selbst- oder Eigenintervention.84 Fr diesen erweiterten Interventionalismus ist die schwache Kausalitt die eigentliche Kausalitt. Der erweiterte Interventionalismus kann sich auf Poincar beziehen. Wenn Poincar sagt, dass eine „sehr kleine Ursache, die fr uns unbemerkbar bleibt“, „einen betrchtlichen Effekt“ erzeuge, den „wir unbedingt bemerken mssen“, so meinte er: Ursache als Vernderung von Anfangs- und Randbedingungen. Das aber unterscheidet sich vom regularittstheoretischen Kausalittsverstndnis, das gegebene Anfangs- und Randbedingungen als Ursachen identifiziert.85 Bei Poincar hingegen geht es um Ursache als Vernderung, nicht um Ursache als Anfangsbedingung. Poincars Ursachenbegriff liegt also quer zu dem von Hume. Letzterer versteht unter Ursache einen beliebigen Anfangspunkt in einer Ereigniskette. Da das erweiterte interventionalistische Kausalittsverstndnis kaum entwickelt ist, sollen einige Aspekte in Anlehnung an Mario Bunge und Georg Henrik v. Wright angegeben werden.86 Kausalitt wird bei Bunge aus emergentistischer Perspektive wie folgt gefasst: „Wenn sich C ereignet, dann und nur dann wird dadurch immer E hervorgebracht.“ (Bunge 1987, 52) Kausalitt ist nicht ohne das hervorbringende Moment, die Wirkursache, und – davon zu unterscheiden – das Hervorgebrachte, die Wirkung, zu denken. Verursachung ist „weit mehr als eine Beziehung, sie ist […] eine Kategorie des Wandels; in ihr steckt die Vorstellung, daß aus Altem etwas Neues hervorgebracht wird.“ (ebd.) In der Wirkursache liegt ein „schçpferisches Moment“. Kausalitt erfordert mehr als Regelfolgen. Sie ist anspruchsvoller und umfasst: Konditionalitt, Eindeutigkeit, Unvernderlichkeit der Verknpfung, die genetische Komponente der Relation sowie das Vermçgen des Hervorbringens und das Hervorgebrachte (ebd., 53). In Anlehnung an Bunge kann das Hervorgebrachte als 84 Derartige Spielarten des Emergentismus kçnnen als erweiterter Interventionalismus verstanden werden. 85 Gleiche bzw. hnliche Ursachen ( = Anfangsbedingungen) haben gleiche, hnliche oder unhnliche Wirkungen zur Folge. Das findet sich etwa bei Maxwell (1991, 13): „The same causes will always produce the same effects.“ 86 Es kçnnte auch auf den Methodologischen Konstruktivismus verwiesen werden (Janich 1995).
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neue Struktur verstanden werden.87 Bunges Hervorbringen erfordert eine systemimmanente oder extern-manipulative Vernderung der Startpunkte (Anfangsbedingungen) oder der Parameter (Randbedingungen) ber Punkte oder Intervalle der Instabilitten hinweg. So kann Bunges Kausalittsverstndnis als emergentistisch und auch als interventionalistisch verstanden werden. Einen klaren Interventionalismus vertritt v. Wright (1991). Kausalitt wird hier ber „kausale Wirkungen“ bestimmt. Wirkung meint Einwirkung, Vernderung zur Entstehung von etwas Anderem oder Neuem. V. Wright setzt, hnlich wie Bunge, beim Herbeifhren an: „p ist eine Ursache von q bedeutet, […] daß ich q herbeifhren kçnnte, wenn ich p tun kçnnte.“ (ebd., 75) „Eine Relation zwischen Ereignissen als kausal ansehen heißt, sie unter dem Aspekt einer mçglichen Handlung ansehen.“ (ebd.)88 Der Interventionalismus, den v. Wright (mit-) fundiert hat, stellt das Hervorbringen durch den handelnden Menschen in den Vordergrund. Dagegen orientieren sich emergentistische Positionen an dem, was vermeintlich als Natur gegeben ist und von ihr erzeugt wird. In dieser neuzeitlichen Dualisierung des subjektinduzierten versus selbstorganisatorischen Hervorbringens scheint die aristotelische Gegenberstellung von Technik (Kunst, Handwerk, Handlung, Artefakte) versus Natur (physis) durch. Die Dualitt mag zwar plausibel sein, insofern unsere Kultur davon durchzogen ist; doch aus Perspektive der nachmodernen Physik ist die Dualitt nicht vertretbar. Beide Pole, klassischer Interventionalismus und herkçmmlicher Emergentismus, kçnnen zusammengefhrt werden, ohne dabei einem Kulturalismus oder einem Naturalismus zu verfallen. Scheinbar externe Vernderungen von Anfangs- und Randbedingungen kçnnen durch Systemerweiterung ins Objektsystem integriert werden. Emergenz wird als Eigen- bzw. Selbstintervention zu verstehen sein. Die extern herbeigefhrte Vernderung einer Randbedingung etwa kann durch eine Differenzial- oder Differenzengleichung als interne Vernderung im Objektsystem modelliert werden. Die Dualitt ist also pragmatischer Natur. Sie liegt nicht im Objektsystem, nicht in Natur und Technik selbst. So unterscheiden sich interventionalistische und emer87 Vgl. Kapitel 6.1. zur Selbstorganisation. 88 Hieran orientiert sich auch der Wahrheitsbegriff. V. Wright (1991, 74) betont, dass „wir der Wahrheit von Kausalgesetzen genauso sicher sein kçnnen wie unserer Fhigkeiten, etwas zu tun bzw. etwas herbeizufhren.“ Kausalitt sei die „Bedingung der Manipulierbarkeit“. hnlich bei Heidelberger (1992a, 137): „Gbe es nicht faktisch Kausalitt, wre unser technischer Handlungserfolg ein reines Wunder und jede technische Planung ein vçllig irrationales Verhalten.“
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6. ber Natur, Welt und Wirklichkeit
gentistische Kausalitt lediglich in der Betrachtungsperspektive. Sie sind, nimmt man die nachmoderne Physik ernst, zwei Aspekte einer Sache. Seltener wird eine dritte Position vertreten. Diese orientiert sich, anders als die beiden vorangegangenen, an starken Spielarten des Empirismus. Sie bestreitet, dass die Redeweise von „schwacher Kausalitt“ in der nachmodernen Physik als Aussage ber Objektsysteme gerechtfertigt ist. Damit kehrt sie die zweite Position gewissermaßen um: Um berhaupt von „Kausalitt“ sprechen zu kçnnen, mssen empirische Bedingungen der Zuschreibung gewhrleistet sein. Konnte man noch in der klassisch-modernen Physik Kausalitt als Regelfolgen hnlicher Ereignisketten verstehen, gilt das fr die schwache Kausalitt nicht mehr. Der empirische Nachweis wird erschwert bzw. unmçglich, weshalb – inhaltlich quivalent – mitunter vom „gesetzmßigen Zufall“ gesprochen wird. So tritt ein „akausaler Charakter“ hervor, wie Gregor Schiemann (1997c, 7) herausstellt.89 Mario Bunge meint gleichlautend, dass „Nichtlinearitt […] Nichtkausalitt zur Folge hat […].“ (Bunge 1987, 189) „Instabilitt ist in der […] Physik eine Quelle fr kausale Unstetigkeit.“ (ebd., 158) Die in Nichtlinearitt und Instabilitt wurzelnde nichtadditive Konnektivitt (von Ursachen relativ zu Wirkungen) widerspreche dem jeder Kausalanalyse zugrundeliegenden additiven Charakter der Verursachung (ebd., 187/186), wie er sich in der „Hypothese […] der Superposition“ der Ursachen ausdrcke. Nach Schiemann und Bunge msste man sagen: Die nachmoderne Physik redet von etwas, nmlich von „Kausalitt“, um einen Abschied kenntlich zu machen, den sie aber noch nicht in voller Konsequenz vollzogen hat: „Schwache Kausalitt“ ist keine Kausalitt mehr. Diese Position ist eine Begrenzungsposition, insofern sie auf Grenzen der klassisch-modernen Physik abzielt. Dass durch die nachmoderne Physik (auch) ein schwach-kausales Naturwissen vorliegen kçnnte, erscheint aus dieser (klassisch) empirischen Perspektive unverstndlich.90
89 hnliches findet sich bei Born, allerdings nicht unter Rekurs auf Kausalitt, sondern auf Determinismus. Born (1959, 344) regt an, die Definition des „Determinismus“ an der Unterscheidung „zwischen stabilen und instabilen Bewegungen“ zu orientieren: „Wenn alle Lçsungen der mechanischen Gleichungen […] stabil sind, kann man sagen, die Mechanik ist deterministisch.“ Fr die Instabilitt gelte die Umkehrung: Es liegt kein Determinismus vor. 90 Nicht gesehen wird, dass sich mathematische Verfahren in der nachmodernen Physik etabliert haben, die zwischen den Polen starker Kausalitt und zuflligem Rauschen schwach-kausale Regelhaftigkeit aufzufinden vermçgen, die so genannte Surrogat-Datenanalyse (Theiler et al. 1992).
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Die nachmoderne Physik kann zusammenfassend aus drei sehr unterschiedlichen Perspektiven hinsichtlich Kausalitt charakterisiert werden: 1. Erweiterung des Kausalittsverstndnisses zu einer schwachen Kausalitt, die die starke Kausalitt ergnzt. 2. Umkehrung des Kausalittsverstndnisses, insofern nur noch dort, wo effektiv Neues entsteht, von Kausalitt gesprochen werden kann. Schwache Kausalitt ist somit die eigentliche Kausalitt. Sie fhrt „Kausalitt“ erst wieder in die Physik ein. 3. Begrenzung des klassisch-modernen Kausalittsverstndnisses auf starke Kausalitt. Die Rede von schwacher Kausalitt ist unbegrndet, denn hier ist die Mçglichkeit des empirischen Auffindens von Regelfolgen begrenzt. So verschieden die drei Verstndnistypen sind, so zeigen sie allesamt einen Bruch zwischen klassisch-moderner und nachmoderner Physik. Kausalitt dient fr diesen Bruch als Indikator. Mit dem hier Dargelegten sind ebenfalls Fragen berhrt nach einem (erweiterten) Verstndnis im Verhltnis von Gesetzmßigkeit und Zufall im Verhalten von Objektsystemen.91 Gesetzmßiger Zufall Vor dem Hintergrund eines schwachen Kausalittsverstndnisses (siehe obige Position 1) deutet sich komplementr ein schwaches Zufallsverstndnis an. Auch dieses liegt zwischen zwei Polen: Lag schwache Kausalitt zwischen dem Nicht-Kausalen und dem Stark-Kausalen, so liegt der schwache Zufall zwischen dem Nicht-Zufall und dem weißen Rauschen, also dem „reinen“, „gesetzeslosen“, „starken“ Zufall. Doch „schwacher Zufall“ ist kein gebruchlicher Begriff. Anders als bei Kausalitt, wo sich der Begriff der „schwachen Kausalitt“ etabliert hat, gibt es auf der Seite des Zufalls keinen die Pole vermittelnden Begriff. Gelegentlich wird von „gesetzmßigem Zufall“ gesprochen, ganz so wie von „gesetzmßigem Chaos“. Der gesetzmßige Zufall steht demnach zwischen dem reinen Zufall und deterministischer Notwendigkeit, er vereinigt (stark) Zuflliges wie auch Notwendiges in sich. So avanciert „Zufall“, wie schon „Kausalitt“, zu einem expliziten, nicht nur methodo91 Gesprochen wird nicht nur von schwacher und starker Kausalitt, sondern gleichlautend von schwacher und starker Regelhaftigkeit bzw. von schwacher und starker Gesetzmßigkeit, vgl. Worg (1993).
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logisch gefassten Begriff in der nachmodernen Physik. Zufall kann dann als ein grundlegender Charakter von Wirklichkeit gelten, als instabilittsbasierter gesetzmßiger Zufall. 92 Damit erreicht die Thematisierung des Zufalls in der Physik, so wird man sagen kçnnen, neben den Quanten-, Zerfalls- und Zerstrahlungsprozessen, einen neuen Hçhepunkt. Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte kann zur Klrung von Begriff und Phnomen des Zufalls beitragen und die Besonderheit des instabilittsbasierten Zufalls deutlicher kennzeichnen (Schmidt 2005b). Zu Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft galt der Zufall nicht als ontologischer Grundcharakter von Natur, sondern als Widerstand gegen jegliche Naturerkenntnis und als Synonym fr zu eliminierendes Nichtwissen.93 Pierre Simon de Laplace hatte im frhen 19. Jahrhundert – wie erwhnt – herausgestellt, dass lediglich durch subjektive „Unkenntnis“ „[jene] Ereignisse, […] welche wegen ihrer Geringfgigkeit scheinbar nichts mit den großen Naturgesetzen zu tun haben [… als] vom Zufall abhngen[d]“ angesehen wurden (Laplace 1932, 1/3/4). Hinter jedem vermeintlichen Zufall, jeder scheinbaren Regellosigkeit und phnomenalen Kontingenz wurde Ordnung, Stabilitt, Gesetzmßigkeit bzw. Determinismus postuliert und gesucht. Der Zufallsbegriff hat einen normativen, herausfordernden, forschungswegweisenden, mitunter auch anthropologischen Charakter. In dem, was wir als Zufall bezeichnen, kennzeichnen wir uns selbst: unser derzeitiges Nichtwissen. Die Annahme, durch fortschreitenden Mathematisierungs-, Erklrungs- und Berechnungserfolg werde der Zufall sukzessive aus der Wissenschaft eliminiert, wurde zunchst methodologisch fragwrdig. Seit dem 18. Jahrhundert spielte der Zufall explizit in der Mathematik (Grundlagen der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie) und seit dem 19. Jahrhundert auch in der Physik (statistische Mechanik/Thermodynamik) eine gewisse, wenn auch randstndige, erkenntnisdienende Rolle. Der Zufall wurde als produktives Instrument verwendet, um in wissenschaftlich schwer zugnglichen Situationen, etwa der Hochdi92 So spricht beispielsweise Moser (1973) von „Stable and Random Motions in Dynamical Systems“ vor dem Hintergrund der Differenz von Stabilitt und Instabilitt. 93 Begriffsgeschichtlich weist der Zufallsbegriff einen Prozess der sukzessiven Verwissenschaftlichung, der Przisierung, Mathematisierung, Quantifizierung auf, ohne jedoch aus Lebenswelt und Philosophie verdrngt worden zu sein. Mit der Verwissenschaftlichung wurde der handelnde Umgang sowie partiell die experimentelle Kontrolle und temporre Beherrschung des Zufalls erreicht; zur Geschichte des Zufallsbegriffs siehe Schmidt (2005b).
6.2. Kausalitt und Zufall
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mensionalitt von Vielteilchensystemen, zumindest statistische Aussagen treffen und eingeschrnkte Prognosen durchfhren zu kçnnen. Der instrumentelle Rekurs auf den Zufall mit statistischen Methoden gehçrt seither zu den Bedingungen empirischer Wissenschaften und ihrer Forschungspraxis. ber methodologische Aspekte hinaus ist der Zufall als grundlegender objektiver Naturcharakter partiell seit der Evolutionsbiologie im 19. Jahrhundert (Mutation, Rekombination) und seit der Quantenphysik im 20. Jahrhundert (Unschrferelation in der Kopenhagener Deutung, radioaktiver Zerfall, u. a.) anerkannt. Doch ist bis heute umstritten, wie fundamental der Zufall ist und was darunter verstanden werden kann. Neuerdings wird durch Entwicklungen der Quantenphysik fragwrdig, ob nicht doch eine tieferliegende kausale Geschlossenheit der Natur vorliegt (Dekohrenztheorien). Zufall lge dann wiederum nur im (defizitren) Wissen, nicht jedoch in der Natur. Allerdings setzt dies einen wahrscheinlichkeitstheoretischen und keinen instabilittsbasierten Zugang zum Zufall voraus. Bestrebungen einer explizit intensionalen Definition des Zufalls finden sich im 20. Jahrhundert in den Algorithmen-, Maschinen- und Berechenbarkeitstheorien (0-1-Symbolfolgen), der Informationstheorie sowie eben in der nachmodernen Physik. Mathematisch wurde der Zufall zuerst in der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie (im Umfeld von Glcksspielen) przisiert. Cardano (1545) nahm erste Wahrscheinlichkeitsuntersuchungen vor, welche bei Jakob Bernoulli (1713) systematisch als Wahrscheinlichkeitstheorie („Ars conjectandi“) ausgearbeitet wurden. Wegweisend fr die Entdichotomisierung von Zufall und Gesetzmßigkeit heißt es bereits bei Blaise Pascal (1954, 73 f ) im Jahre 1654: „[D]iese Lehre, die die Exaktheit der mathematischen Beweisfhrung mit der Unsicherheit des Zufalls verknpft und diese anscheinend vollstndig einander widersprechenden Elemente miteinander versçhnt, [kann] mit Recht [… als] die Mathematik des Zufalls [, d. h. die „Gometrie du hasard“] [bezeichnet werden].“94 Das galt zunchst in einem schwachen, rein auf die Mathematik bezogenen Sinne. Paradigmatisch fr den Zufall war fr Jakob Bernoulli das Werfen 94 Bei Pascal heißt es im Detail: Die Lehre, die die Exaktheit der mathematischen Beweisfhrung mit der Unsicherheit des Wrfel- oder Mnzwurfs verknpfe und diese antagonistisch erscheinenden Elemente miteinander versçhne, „joignant la rigueur des dmonstrations de la science l’incertitude du hasard, et conciliant ces choses en apparence contraire“, nenne man, so Pascal, mit Recht „La Gometrie du hasard“ (Wiederholt in einem Brief an P. de Fermat am 28. 10. 1654, in: Rnyi, A., 1969: Briefe ber die Wahrscheinlichkeit, Basel, S. 18), vgl. Schmidt (2005b).
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idealisierter Mnzen und die daraus entstehende (Zufalls-) Folge von 0 („Kopf“) und 1 („Zahl“). Bernoullis Resultat wird heute als (schwaches)95 „Gesetz der großen Zahlen“ bezeichnet: Die relative Hufigkeit, mit der ein mçgliches Ereignis in Wirklichkeit auftritt, ist fr sehr viele unabhngige Wiederholungen etwa gleich seiner Wahrscheinlichkeit. Damit war ein Zufallsverstndnis ber die Unregelmßigkeit von Zahlenfolgen vorbereitet, das in der aktuellen Physik der Instabilitten ber 0-1Symbolfolgen aufgegriffen wird.96 Ohne Rekurs auf den Generierungsmechanismus von Zufall nahm Richard v. Mises 1919 eine exakte Definition des „Zufalls“ in seinen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung vor (Mises 1919; Mises 1928), „Zufall“ nmlich als Unregelmßigkeit einer gegebenen unendlichen 0-1-Folge (Symbolfolge). Zwei Bedingungen („Auswahlregeln“) sollten den Zufall als phnomenale Regellosigkeit („Kollektiv“) charakterisieren: Die relative Hufigkeit des Auftretens von 1 ist im Grenzwert einer unendlichen Realisierung 12. Das Verhltnis verndert sich nicht, wenn man spezielle Teilfolgen herausgreift. Doch diese Bedingungen sind, wie sich zeigte, nicht hinreichend; eine Spezifikation der speziellen Teilfolgen wird notwendig. J. Ville konnte 1939 zeigen, dass es 0-1Folgen gibt, die zwar im Grenzwert zu 12 konvergieren, aber immer wieder eine Vorliebe fr die 1 aufweisen, dass also die Konvergenz einseitig ist (Ville 1939). Folglich bleibt der Zufallsbegriff von v. Mises unzureichend. Weiterfhrend fr eine nicht nur auf einzelne Folgen fokussierte Fassung von „Zufall“ waren A. Kolmogorovs Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung (1933). Kolmogorov fundierte die Wahrscheinlichkeitstheorie maßtheoretisch und wagte einen fr den Zufallsbegriff relevanten Neuansatz („Axiomatisierung der Wahrscheinlichkeitstheorie“). Mit der Betrachtung der Gesamtheiten von Zufallsfolgen – anstatt einzelner Realisierungen – in Wahrscheinlichkeitsrumen war die Grundlage fr eine berechenbarkeitstheoretische bzw. mathematischredundanztheoretische Fassung des Zufallsbegriffs gelegt. Dieser orientiert sich an realisierten Phnomenen und fragt danach, ob und in wel95 In Gegenberstellung zu dem auf Borel zurckgehenden „starken“ Gesetz der großen Zahlen. 96 Erinnert werden soll an Zufall als wahrscheinlichkeitstheoretische Zufallsvariable. Unter einer „Zufallsvariablen“ (Zufallsgrçße) wird eine mathematische Funktion Z: Y 7! R verstanden, die jedem zufllig gewhlten Element y einer Ereignismenge Y eine reelle Zahl Z(y) zuordnet.
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cher Hinsicht ein gegebenes Phnomen durch eine mathematische Gesetzmßigkeit komprimiert dargestellt werden kann, also ob Redundanzen vorliegen. Nicht-Abkrzbarkeit bildet seither einen wesentlichen Kern des Zufallsverstndnisses. Im Rahmen seiner Theorie zur Berechenbarkeitskomplexitt symbolverarbeitender Maschinen bezog sich Kolmogorov 1965 auf die formale Logik sowie auf Algorithmen- und die Automatentheorien, wie sie von Alan Turing u. a. entwickelt worden waren (Kolmogorov 1965; Turing 1936). Die Berechenbarkeitskomplexitt wird als Aufwand einer Berechnung ber die minimale Lnge eines (Turing-) Maschinenprogramms charakterisiert. Nichtberechenbarkeit heißt: Nichtexistenz einer abgekrzten Darstellung einer gegebenen Folge, d. h. unendliche Berechenbarkeitskomplexitt, ganz wie im Falle der aufgezeigten Reduktionsproblematik (Kapitel 4). In diesem Fall heißt eine unendliche 0-1-Folge (Kolmogorov-) zufllig. Nach Kolmogorovs Definition wrde jedoch gar keine Folge existieren, die als zufllig zu bezeichnen wre. Weil es in jeder unendlichen 01-Folge unendlich viele Teilfolgen hoher Regelmßigkeit gibt, steigt die Berechenbarkeitskomplexitt nicht unendlich an, wie P. Martin-Lçf (1966) herausstellte. Das Kriterium fr Zuflligkeit war also zu stark. Martin-Lçf schlug vor, diejenigen unendlichen 0-1-Folgen zufllig zu nennen, die bestimmte universell-rekursive Zufallstests bestehen, d. h. nicht (Turing-) berechenbar sind. So sind gegebene unregelmßige 0-1Folgen (d. h. die Phnomene) auf die Existenz von Zufall zu testen und nicht die mçglichen Generierungsmechanismen (Programm) mit einzubeziehen, etwa deren Generierung durch instabil-chaotische Systeme. Solche universellen Zuflligkeitstests bestanden z. B. die in 0-1-Folgen transformierten Dezimalbruchentwicklungen von e und p, obwohl sie gesetzeshaft-rekursiven Generierungsmechanismen gehorchen: Bei gegebenen 0-1-Folgen lsst sich also niemals prfen, ob nicht doch noch solche gesetzeshaften Generierungsmechanismen gefunden werden kçnnen. Das hat Gregory Chaitin aus der Perspektive der algorithmischen Informationstheorie hervorgehoben: die „Zuflligkeit“ einer Folge kann nicht bewiesen werden (Chaitin 1971/1974).97 Relevant ist heute die Unterscheidung zwischen dem Generierungsmechanismus der Phnomene einerseits und dem Analyseverfahren gegebener Phnomene andererseits. Irregulr erscheinende 0-1-Folgen kçnnen von instabil-chaotischen Systemdynamiken generiert werden. 97 Es zeigte sich, dass Chaitins Theorem nichts anderes ist als ein Sonderfall des ersten Gçdel’schen Unvollstndigkeitssatzes, vgl. Chaitin (1971).
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Der gesetzeshafte Generierungsmechanismus bedeutet aber nicht, dass dann, wenn diese Folgen phnomenal gegeben sind, der Generierungsmechanismus (wieder-) gefunden werden kçnnte. In den Phnomenen liegt eine mathematisch-numerische Nichtberechenbarkeit bzw. Nichtabkrzbarkeit. Weiterfhrend fr das instabilittsbasierte Zufallsverstndnis – wie fr das instabilittsbasierte Kausalittsverstndnis – war wiederum Poincars Zugang. Er sprach bekanntlich davon, dass beim Vorliegen von schwacher Kausalitt „die Vorhersage […] unmçglich [wird:] wir haben eine ,zufllige Erscheinung‘.“ (Poincar 1914, 56) Quellen des Zufalls sind nach Poincar – wie beschrieben – Instabilitten: ein auf die Spitze gestellter Kegel, das Wettergeschehen, das Planetensystem, das Roulettespiel sowie Galtons Brett. Der instabilittsbasierte Zufall weist damit einen „objektiven“ Charakter auf. Das stelle eine „bessere Definition des Zufalls“ dar als diejenige, die an das Wissensdefizit in subjektivistischer Hinsicht anschließt (ebd., 56). Mit diesem Zugang kçnnen auch komplexe Koinzidenzen als „Zufall“ ausgewiesen werden. Hier zeigt sich, dass dieser Zufallstyp in der Geschichte der Physik wohletabliert ist. Als begriffsprgendes Beispiel kann eine unter dem Mikroskop beobachtbare Zitterbewegung von Pollenkçrnern in einer Flssigkeit angesehen werden. Diese von R. Brown (1828) entdeckte irregulre Bewegung konnte seit dem spten 19. Jahrhundert als Abbild einer zugrundeliegenden Molekularbewegung eines thermischen Prozesses interpretiert werden.98 Die Irregularitt der Bewegung der Pollenkçrner hat zur Redeweise eines „allgemeinen Zufallsprozesses“ gefhrt, nach dem Zufall nicht als Ereignis, sondern als Prozess verstanden wird. Bei einer Brown’schen Bewegung hngt die bedingte Wahrscheinlichkeit fr den jeweiligen Endzustand nur von der Wahrscheinlichkeitsverteilung zur vorangegangenen Zeit ab, d. h. nicht von weiteren Vorgngerzeiten (Markov- und Wiener-Prozess). Der jeweilige Stoß zweier Teilchen kann dann als zufllige Koinzidenz zweier Kausalketten verstanden werden: Zufall als instabilittsbasierte komplexe Koinzidenz. Die Brown’sche Zufallsbewegung steht in engem Zusammenhang mit der Molekularhypothese thermodynamischer Prozesse, welche Boltzmanns statistisch-mechanischer Formulierung der phnomenologischen Thermodynamik zugrunde liegt. ber das „randomisierte Verhalten“ von kollidierenden Gasteilchen, d. h. ber die instabilittsba98 Eine mathematische Fundierung gelang erst durch Einstein (1905).
6.2. Kausalitt und Zufall
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sierten zuflligen Koinzidenzen, definierte Boltzmann die Entropie.99 Nach David Ruelle (1994, 140) „mißt die Entropie die Menge des Zufalls, die in einem System vorliegt.“100 Die zuflligen komplexen Koinzidenzen der Teilchenbahnen sind konstitutiv fr die phnomenologisch beobachtbaren Systemzustnde: Koinzidentielle instabilittsbasierte Zufallsereignisse der Teilchenbewegungen stellen ein theorie-irreduzibles Bindeglied von mikrophysikalischer Reversibilitt zu makrophysikalischer Irreversibilitt dar.101 Der instabilittsbasierte gesetzmßige Zufall hat – das sollte diese Skizze zeigen – eine bewegte Wissenschaftsgeschichte, bis er als grundlegender Naturcharakter anerkannt und grundlegend fr die Physik wurde. Wegweisend hierfr waren, so wird man zusammenfassend sagen kçnnen, eine Vielzahl theoretischer Zugnge, wie die statistische Thermodynamik (Boltzmann u. a.), die Himmelsmechanik (Poincar), die Informationstheorie(n) (Chaitin), die Algorithmen-, Berechenbarkeits- und Automatentheorien (Turing, Kolmogorov) sowie die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie (v. Mises, Kolmogorov). Kausalitt und Zufall stehen sich – in welcher Verstndnisweise auch immer – komplementr gegenber. Unter Bezugnahme auf Instabilitten kçnnen Vermittlungen vorgenommen werden. Die aktuelle Instabilittsphysik spricht hier von schwacher Kausalitt, dort von gesetzmßigem Zufall. In semantischer Hinsicht ist dies quivalent. Doch zeigen sich unterschiedliche Zugnge: Wer den Zufall hervorhebt, der scheint eher die methodologischen und epistemologischen Probleme im Blick zu haben. Wenn sich hier das Zufallsverstndnis erweitert, treten epistemische Grenzen der Physik 99 Stichworte hierzu sind: H-Theorem, Stoßzahlansatz, Ergodenhypothese, Zweiter Hauptsatz, vgl. Kapitel 6.1. 100 Etwa im Sinne der Vieldeutigkeit. Von Shannon (1948) wird der Informationsgehalt einer Nachricht ber die Entropie charakterisiert (u. a. Shannon/Weaver 1949). Die Wahl einer Nachricht aus einer Klasse mçglicher Nachrichten (Ereignismenge) hebt „die in dieser Klasse vorliegende Zuflligkeit auf.“ (Ruelle 1994, 183 f ) Je grçßer die Klasse mçglicher Nachrichten, desto grçßer der Zufall, desto grçßer der Informationsgewinn (Informationsgehalt) durch Wahl einer Nachricht. 101 Kontrastiert werden kann der instabilittsbasierte Zufall mit einem konkurrierenden Zufallsverstndnis, das sich an quantenphysikalische Ursachenlosigkeit bzw. Akausalitt anlehnt. Auch der quantenmechanische Zufall ist bis dato nicht auf ein defizitres Wissen ber an sich determinierte Naturprozesse zurckzufhren, wie Einstein hoffte zeigen zu kçnnen („Der Alte [=Gott] wrfelt nicht!“, Einstein et al. 1969, 129 f/204).
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deutlich hervor. Wer komplementr Kausalitt betont, der stellt eher wissenschaftlich produktive Perspektiven heraus. Wenn sich hier das Kausalittsverstndnis erweitert, wie ausgefhrt, zeigen sich Erweiterungen der Physik. – Wie schon unter dem Stichwort „Selbstorganisation“ angesprochen, ist auch die neue Diskussion um den instabilittsbasierten Zufall ein Hinweis dafr, dass in der Physik ein verndertes Natur- und Wissenschaftsverstndnis hervortritt, das sowohl als Erweiterung als auch als Begrenzung anzusehen ist. Instabilittsfhiges Gehirn – ein Beispiel Um schwache Kausalitt und gesetzmßigen Zufall an einem aktuellen Beispiel zu illustrieren, soll hier auf neuere neurowissenschaftliche Erkenntnisse und neurophilosophische Diskussionen eingegangen werden. Fr die interdisziplinr ausgerichteten Neurowissenschaften (Schmidt/ Schuster 2003; Schmidt 2004d) scheint die sukzessive physikalische Anerkennung von Instabilitten sowohl herausfordernd als auch vielversprechend zu sein (Kowalik/Leiber 1999). Seit einigen Jahren gibt es Hinweise, dass das Gehirn in seiner neuronalen Aktivitt als ein komplexes, sich selbstorganisierendes dynamischund strukturell-instabiles System verstanden werden kann und damit schwache Kausalitt bzw. gesetzmßigen Zufall aufweist.102 Das haben Freeman und Skarda (1985) zunchst fr neuronale Aktivitten des Riechorgans von Kaninchen nachweisen kçnnen. Babloyantz und Destexhe (1986) konnten die Vermutung von dynamischer Instabilitt und schwacher Kausalitt schließlich erhrten und auf den Menschen beziehen. Sie haben beispielhaft gezeigt, dass sich bei Epileptikern whrend des epileptischen Anfalls neuronale Strukturmerkmale abrupt verndern. Diese kçnnen durch (Komplexitts-) Kenngrçßen dargestellt werden (siehe Kapitel 5).103 Zum Verstndnis sind einige Details hilfreich (Schmidt 2003c). 102 Vgl. Freeman/Skarda (1985), Skarda/Freeman (1987), Babloyantz/Destexhe (1986), Arnhold et al. (2000), allg. Kowalik/Leiber (1999). Fr die neurophilosophische Rezeption siehe Carrier/Mittelstraß (1989, 263 ff ) und Walter (1999, 193 ff ). 103 Epilepsie ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems, die sich durch wiederholtes Auftreten spontaner krampfhafter Anflle auszeichnet. Scheinbar zufllig „feuern“ Neuronen in beliebigen Gehirnregionen und lçsen lawinenartige, korrelierte Ereignisse aus. Epileptische Anflle kçnnen bei jedem Menschen zu
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Dass das Gehirn in seiner neuronalen Dynamik paradigmatisch ist fr nichtlineare und weitergehend fr instabile Prozesse, zeigt sich zunchst an der Aktivitt einzelner Neuronen. Neuronen „feuern“ ab einem bestimmten Erregungszustand. Diese Plçtzlichkeit weist eine hochgradige Nichtlinearitt auf.104 Die Struktur der Neuronenverbnde zeigt ferner, dass das Gehirn mit seinen ber 100 Milliarden Nervenzellen ein verteiltes, vernetztes und rckgekoppeltes System ist. Rckkopplungen sind notwendige Bedingungen fr die Existenz von dynamischer Instabilitt. Die Aktivitten des Gehirns sind zudem hochdynamisch. Es finden schnelle Interaktionen auf unterschiedlichen Zeitskalen parallel statt. Das Gehirn erzeugt, verarbeitet und vernichtet Informationen im offenen Austausch mit der Umwelt. Direkter noch zeigen sich dynamische Instabilitten in der nichtlinearen EEG-Datenanalyse der Hirnstromaktivitten.105 Das Bild des durch Datenanalyse rekonstruierten chaotischen neuronalen Attraktors scheint angemessen zu sein, um neurophysiologische Prozesse typisieren zu kçnnen. Das, was einen chaotischen neuronalen Attraktor kennzeichnet, ist zunchst metaphorisch plausibel: Hinreichende Regelhaftigkeit der Zustnde, jedoch jeweils phnomenologisch niemals die exakte Wiederkehr des Gleichen. Die neuronalen Aktivittsmuster sind ber lange Zeitskalen hnlich, jedoch mit Schwankungen. Neues kann entstehen und wird auf Bekanntes bezogen; es wird in bisherige neuronale Aktivittsmuster integriert. Der neuronale Attraktor modifiziert dadurch jeweils geringfgig seine eigene Attraktorstruktur; er ist flexibel, sensitiv, form- und prgbar. Attraktoren kçnnen in ihrer geometrischen Dimension und in ihrer Dynamik durch Komplexittskenngrçßen typisiert werden.106 Medizinisch relevant ist, dass Attraktordimensionen whrend eines epileptischen Anfalls sprunghaft absinken. Den Verlust an Chaotizitt haben Jochen Arnhold, Peter Grassberger und Klaus Lehnertz (2000) als einen „graduellen Anstieg der Synchronisation zwischen sich pathologisch entladenden Neuronen“ gedeutet. Entgegen der alltglichen Abwertung von jedem Zeitpunkt auftreten, vgl. Kowalik/Leiber (1999, 234 f ) und Arnhold et al. (2000). 104 Man spricht auch von einem Integrate-and-fire-Prozess, vgl. Schmidt (2000a). 105 Der Instabilitts- und Chaos-Hinweis durch die Methode der nichtlinearen EEG-Datenanalyse (Abarbanel 1996; Sauer et al. 1991; Kowalik/Leiber 1999) kann heute wesentlich zur Diagnose, Prognose und Lokalisierung des Zentrums von Epilepsie beitragen. 106 Die fraktale Dimension ist ein Beispiel fr eine gngige Kenngrçße.
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Chaos und dynamischer Instabilitt ist die allzu einfache Ordnung in neurophysiologischen Prozessen, die starre Periodizitt und Regularitt, gerade kein Indikator fr Gesundheit. Zugespitzt kçnnte man sagen: Menschen mit zu wenig Chaos im Kopf sind krank! In medizinischer Hinsicht relevant ist, dass schon im Vorfeld eines epileptischen Anfalls, im anfallsfreien Intervall, eine zunehmende Absenkung der Chaotizitt zu beobachten ist.107 Diese diagnostische Erkenntnis, die weder mit klassisch statistischen Methoden noch mit dem „medizinischen Expertenblick“ zu gewinnen ist, kann prventiv verwendet werden. Nicht nur in der neurowissenschaftlichen Epilepsieforschung, sondern auch in der Untersuchung von Wahrnehmungsprozessen spielen dynamisch-instabile Attraktoren eine Rolle. Fr Kaninchen ist z. B. seit den 1980er Jahren bekannt, dass sie im entspannten Zustand eine hohe dynamisch-instabile Hirnaktivitt in jenen Regionen aufweisen, die das Riechen reprsentieren (Freeman/Skarda 1985; Skarda/Freeman 1987). Whrend des Wahrnehmungsprozesses eines bekannten Geruchs verringert sich die Chaotizitt der neuronalen Aktivitt. Es bildet sich ein Attraktor niedrigerer Chaotizitt heraus. Wenn das Kaninchen lernt, neue Gerche zu erkennen, entstehen neuartige Attraktoren in einer Energielandschaft. Alle anderen bereits existierenden Hirnattraktoren werden modifiziert. Dies kann als Hinweis auf einen gewissen „Holismus in der Wahrnehmungsphysiologie“ interpretiert werden, so Skarda und Freeman (ebd.). Die Existenz hoher Chaotizitt und damit von lokaler dynamischer Instabilitt im entspannten Zustand ist fr Wahrnehmungsprozesse konstitutiv, insofern das Wahrnehmungssystem sensitiv und fr kleinste Stimuli hochgradig empfnglich ist. In krzester Zeit kçnnen auf diese Art und Weise Gerche erkannt und kategorisiert werden (Scheich 2003). Die lokale Instabilitt chaotischer Hirnattraktoren scheint mit ihrer schwachen Kausalitt fr flexible adaptive Wahrnehmungsleistungen ein entscheidender evolutiver Vorteil gewesen zu sein.108 107 Die Absenkung der Chaotizitt lsst sich bis zu 20 Minuten vor dem eigentlichen epileptischen Anfall nachweisen. hnliche Phnomene, d. h. die Absenkung von Komplexittskenngrçßen der Chaotizitt und dynamischen Instabilitt wurden fr die Dynamik von Herzinfarkten gefunden (Liebert 1991; Morfill 1994), ebenso fr Schizophrenien und bestimmte Depressionstypen, vgl. Rçschke et al. (1995) und Ciompi et al. (1992). Ein allgemeiner berblick findet sich in Kowalik/Leiber (1999). 108 Aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive haben Tschacher und Rçssler (1996) das „Selbst“ als eine „prozessuale Gestalt“ beschrieben und durch einen „chaotischen Bewusstseins-Attraktor“ charakterisiert. Auch wenn das im Detail
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Die Anerkennung von Instabilitten kann dazu anregen weiterzufragen, etwa nach einem anschlussfhigen Verstndnis von Freiheit und Determinismus.109 Jenseits einer umfassenden Thematisierung der kulturgeschichtlichen, anthropologischen und philosophischen Dimensionen von „Freiheit“ (vgl. Walter 1999) kçnnte die schwache Kausalitt bzw. der gesetzmßige Zufall einen relevanten Diskussionspunkt liefern. Als grundlegend kann – was in der aktuellen „Neurophilosophie“ merkwrdigerweise kaum rezipiert wird110 – der Essay von James Clerk Maxwell Does the progress of Physical Science tend to give any advantage to the opinion of Necessity (or Determinism) over that the Contingency of Events and the Freedom of the Will? angesehen werden (Maxwell 1873, 434 ff ). „Much light“, so Maxwell, „may be thrown on some of these questions by the consideration of stability and instability.“ (Maxwell 1873, 440)111 Hier findet sich eine frhe Grundlegung fr den im Folgenden skizzierten innerweltlichen Freiheitsbegriff. Innerweltliche Freiheit bedarf keines außerweltlichen „Divine foreknowledge“ (ebd., 441), also keines empirisch nicht gesttzten Laplace’schen Universaldeterminismus. Jenseits einer umfassenden philosophischen Reflexion zeigt der innerweltliche Freiheitsbegriff mçgliche Korridore auf, in denen sich Neurowissenschaften, Wissenschaftsphilosophie und Anthropologie treffen kçnnen, angeregt durch die Anerkennung von Instabilitten.112
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umstritten sein mag, zeigt sich, dass mit den Begriffen der nachmodernen Physik Zugnge mçglich sind. Eine dafr grundlegende Wissenschaftsphilosophie der Neurowissenschaften – und keine ber die neurowissenschaftlichen Erkenntnis- und Rechtfertigungsprobleme allzu schnell hinweggehende „Neurophilosophie“ – liegt in einem ersten Entwurf vor (Schmidt 2004d). Diese kçnnte davon abhalten, umfassende „unified science of brain-mind“ (Churchland 1986) in erreichbarer Nhe zu vermuten. Das gilt auch fr so grundlegende und detaillierte Arbeiten wie Walter (1999), Carrier und Mittelstraß (1989), Pauen (2001) und Beckermann (2001). Maxwell (1873, 441) meinte: „In the course of this our mortal life we more or less frequently find ourselves on a physical or moral watershed, where an imperceptible deviation is sufficient to determine into which of two valley we shall descend.“ Aus dieser Perspektive argumentiert Maxwell sowohl gegen die „doctrine of free will“ als auch gegen die „doctrine of determinism“. Die innerweltliche oder, wie man vielleicht sagen kçnnte, die kontextbezogene Perspektive auf die Freiheitsthematik scheint gerade den (auch) nachmodernphysikalisch ausgerichteten Neurowissenschaften angemessen zu sein. Ob ein außerweltlicher Gott, ein platonischer Demiurg oder ein Laplace’scher Dmon einen universellen Determinismus in die Natur gelegt hat oder nicht, bleibt freilich unerkennbar – und allein im Horizont bersteigerter Dualismen relevant.
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Der hier gewhlte Zugang findet aus der Perspektive der Anwesenheit des Menschen in der Natur statt. Dann gilt, dass sich weder neuronale Prozesse noch Lebenssituationen wiederholen. Die jeweiligen Rand- und Anfangsbedingungen neuronaler Prozesse sind niemals identisch. Insofern ist jede Wahrnehmung, jedes Fhlen, jede Entscheidung, jede Handlung im geschichtlichen Prozess kontinuierlicher Vernderungen auch physisch einzigartig. Da der Mensch in der Natur Beteiligter ist, ist er fr kleinste Vernderungen sensitiv. Der neuronale chaotische Hirnattraktor reagiert empfindlich. Vor diesem Hintergrund liegt ein innerweltlicher Freiheitsbegriff nahe, der schwcher und weniger exzentrisch ist als der eines idealistischen (prinzipiellen) Freiheitstheoretikers:113 Ein Mensch handelt genau dann frei, wenn er bei sehr hnlichen Bedingungen auch htte anders handeln kçnnen.114 Wenn die Lebenskontexte, die Rand- und Anfangsbedingungen ein wenig anders wren, wrde das zu einer anderen Handlung fhren. Genau das kennzeichnet die Sensitivitt der schwachen Kausalitt. Die nachmoderne Physik erneuert das lebensweltliche Wissen, dass wir als Wahrnehmende, Fhlende und Handelnde immer schon in dieser Welt sind.115 Unsere Perspektive zum Leben und Handeln ist die der innerweltlichen Teilnahme. Die dynamischen und strukturellen Sensitivitten neuronaler Prozesse heben das Dabei-Sein hervor (vgl. MeyerAbich 2001, 357). Freiheit als innerweltliche Freiheit im Lebensprozess zu bestimmen, eben als Phnomen des Beteiligtseins innerhalb einer regelbehafteten Natur, scheint, jenseits herkçmmlicher Dichotomien, mit unserer Intuition bereinzustimmen. Schwache Kausalitt liegt aus innerweltlicher Perspektive gerade zwischen rein regelbehafteter Notwendigkeit und reinem Zufall. Man sollte darin nichts Defizitres, sondern einen zentralen Kern von Natur und Menschen-Natur sehen. Der anthropologischen Medizin Viktor v. Weizsckers ist der prgnante Satz zu verdanken, dessen Relevanz fr jegliche Anthropologie auch heute nicht
113 Walter (1999, 159 ff ) spricht von einer „minimalen Neurophilosophie“. 114 Analoges kçnnte fr die Willensfreiheit angefhrt werden, die jedoch primr als eine innere Freiheit sprbar wird und erst sekundr als Handlungsfreiheit zu Tage tritt. 115 Der Blick auf uns selbst aus einer abstrakten gotteshnlichen Ontologie, gewissermaßen auf eine Welt- bzw. ein Gehirn-an-sich, ist versperrt. Mitunter wird von „embodiment“, „embeddedness“ oder „situatedness“ gesprochen.
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hoch genug eingeschtzt werden kann: „Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen.“ (Weizscker 1947, v)116 Fazit: „Enthrtung“ der Kausalitt Dass mit der Kausalittsthematik Werturteile im Selbstverstndnis der Wissenschaft verbunden sind, zeigt sich in der Zuweisung der Attribute „stark“ und „schwach“. Die starke Kausalitt liefert eine hinreichend gute Grundlage fr effektive Prognostizierbarkeit und fr Reproduzierbarkeit. Schwach kausale Dynamiken hingegen sind nicht global berechenbar und nicht technisch reproduzierend beherrschbar. Schwache Kausalitt erscheint – zu Recht – als kein festes, kein starkes Fundament fr Physik und Technik. Fr die Physik ergeben sich Probleme der Prognostizierbarkeit und Reproduzierbarkeit (Kapitel 3). In Fllen technischer und çkonomischer Anwendungen ist nicht die schwache, sondern primr die starke Kausalitt ntzlich. Als stark und erfolgreich gilt derjenige, der weit prognostizieren kann und somit gut zu planen und begrndet zu handeln vermag, als schwach, wer nicht in der Lage ist, die Zukunft so weit zu erschließen. Somit beziehen sich die Begriffe „schwach“ und „stark“ auf Kausalittstypen, die gemß ihrer Ntzlichkeit fr die klassisch-moderne Naturwissenschaftskonstitution und fr die technische Zukunftsbewltigung unterschieden sind. Homo faber, der sich in den Begriffen „stark“ und „schwach“ artikuliert, nimmt eine Bewertung vor. Diese jedoch scheint angesichts der Erkenntnisse der nachmodernen Physik nicht adquat zu sein. Dass nmlich schwache Kausalitt einen entscheidenden Vorteil hat, wird 116 Die prinzipiellen Reduktionsbarrieren raten zur Bescheidenheit. Epistemisch wird man nicht klar sagen kçnnen, ob der Mensch als „frei denkendes Wesen entthront“ (Roth/Vollmer 2000) wird oder nicht. Denn es ist nicht einmal feststellbar, ob Natur (und Gehirn) eine „deterministische Maschine“ ist oder nicht, also ob die Natur streng kausal geschlossen ist oder nicht. Nicht erst der Mensch, der Geist, das Bewusstein, die Subjektivitt sind unbestimmbar. Auch das Gehirn, das Materielle und Neuronale sind einer vollstndigen Reduktion und einer reduktiven Erklrung unzugnglich. Zwar vermçgen die (auch) nachmodern-physikalischen Erkenntnisse zur Klrung neuronaler Prozesse Entscheidendes beitragen. Doch neuronale Prozesse bleiben schon in engerer materieller Hinsicht nur beschrnkt epistemisch zugnglich. Je weiter die faszinierenden Erkenntnisse der Neurowissenschaften voranschreiten, desto unergrndlicher spiegeln sich unsere instabilittsfhigen Gehirne im Horizont der nachmodernen Physik.
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6. ber Natur, Welt und Wirklichkeit
bersehen. Viele komplexe Systeme in der Natur scheinen gerade deshalb schwach-kausal (d. h. dynamisch-instabil und chaotisch) zu sein, weil nur solche Systeme sich selbst organisieren kçnnen, weil nur sie flexibel und integrativ mit Umwelteinflssen umgehen kçnnen. Sie sind offene Systeme im Energiedurchfluss. Wegen ihrer lokalen Instabilitt sind sie sogar global stabiler als stark-kausale Systemdynamiken. Schwache Kausalitt ist ein evolutiver Vorteil in einer sich verndernden Natur. Als ein zentrales Paradigma fr schwach-kausale Dynamiken kann das gesunde menschliche Herz oder die eben diskutierte gesunde Hirnaktivitt angesehen werden (vgl. Liebert 1991; Schmidt/Morfill 1994; Arnhold et al. 2000). Wre nicht somit die begrifflich gefasste Abwertung der schwachen Kausalitt als „schwach“ zu modifizieren und statt dessen von einer „weich-flexiblen“ Kausalitt zu sprechen? Kausalitt, so wird man zusammenfassend sagen kçnnen, ist in der nachmodernen Physik dem Begriff und der Sache nach ein bleibendes Thema. Sie dient auch als Indikator fr die Diagnose der nachmodernen Physik. Das zeigt sich weitgehend unabhngig davon, welches Kausalittsverstndnis man heranzieht. Die Thematisierung von Kausalitt und Zufall sowie der „erweiterte emergentistische Interventionalismus“ kçnnen vernderte Betrachtungs- und Verstndnisperspektiven andeuten. Das einstige „Sorgenkind der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie“ (Wright 1991, 42) scheint ein geeignetes Fundament zu liefern, die derzeitigen Vernderungen im Natur- und Wissenschaftsverstndnis identifizieren zu kçnnen.
7. ber Zugnge und Ziele Wissenschaftsprogrammatische Erweiterung zur nachmodernen Physik 7.1. Zugnge: Nachmoderne Physik … Die klassisch-moderne Physik wird von der Erkenntnishaltung des Exzentrismus dominiert (vgl. Kapitel 2.6). Fundamentale Erkenntnisse versprechen allein jene Objektsysteme, die im Mikro- und Makrokosmos liegen. Mit Poincar kçnnte nicht nur von Exzentrismus, sondern sogar von einem „Extremismus“ gesprochen werden. Physiker whlen oder konstruieren ihre Objektsysteme „in zwei Extremen: im unendlich Großen und im unendlich Kleinen.“ (Poincar 1914, 9) Sie sind, so John Barrow, „vom ganz Großen und ganz Kleinen beeindruckt. […] Wir fhlen intuitiv, daß die letzten Geheimnisse vom Bau der Welt mit den Extremen unserer Vorstellungskraft zu tun haben mssen.“ (Barrow 1994, 178)1 Mit dem Entdecken und Erobern des ganz Kleinen und des ganz Großen, mit dem Gewinn der exzentrischen Rnder, geht allerdings ein Verlust der Mitte einher: der Mesokosmos2 gilt nicht mehr als fundamental. Er scheint fr die klassisch-moderne Physik keine relevante Erkenntnisquelle darzustellen. Seine Verdrngung mag eine Folge der wachsenden apparativen Technisierung sein, die direkt in den Mikrokosmos fhrt. David Lindley sieht ein „unerbittliches Fortschreiten der Physik aus der Welt, die wir sehen und fhlen kçnnen, in eine Welt, die nur mittels riesiger und kostspieliger experimenteller Ausrstungen zugnglich ist.“ (Lindley 1997, 29) In hnlicher, kritischer Absicht meinte Adolf Portmann, dass diejenige „Forschung, die ins Submikroskopische, ins Strukturgefge der Molekle vorstçßt, [… gleichzeitig] aus der 1
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hnlich Hund (1987, 220): „Wir haben heute eine Physik, die fr den mittleren Bereich im Prinzip abgeschlossen scheint, die im Bereich kleiner Dimensionen und hoher Energien der Elementarprozesse noch offen ist und deren Entwicklung vielleicht auch beim Kosmos noch zu berraschungen fhren kann.“ Zum Begriff des Mesokosmos und dem der Anschaulichkeit, siehe Vollmer (1988, 138 ff ).
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7. ber Zugnge und Ziele
Heimat des Menschen aus[zieht].“ (Portmann 1955b, 35)3 Die technisch-apparative Seite des Exzentrismus ist nicht von einer kognitiven und visuellen zu trennen. Von einer „Radikalisierung der Unanschaulichkeit der Natur durch die wissenschaftlichen Revolutionen im 20. Jahrhundert“ spricht Paul Hoyningen-Huene (1992, 105). An diesem Exzentrismus mit dem Rekurs auf das ganz Kleine und das ganz Große mag es auch liegen, dass die wissenschaftlichen Revolutionen durch Relativitts- und Quantentheorien keinen durchschlagenden Effekt auf das lebensweltliche wie das wissenschaftliche Naturverstndnis zu haben scheinen. Eine Bevorzugung des Mikro- und Makrokosmos liegt keineswegs in der Natur der Sache; sie ist nicht per se gegeben. Vielmehr unterliegt die Prferierung, explizit oder implizit, einer Relevanzentscheidung im Zugang zur Natur: Auf welche Natur wollen wir zugehen (Realismus)? Welche Natur wollen wir als Objektsystem konstituieren (Konstruktivismus)? Im Zugang entscheidet sich, was als wissenswrdig und erkenntnisrelevant anzusehen ist. Hier wurzelt die Wahrnehmung von lohnenswerten Problemen und die Herausbildung von Problemstellungen. Das Wissen-Wollen und Erkenntnisinteresse ist Hintergrund und Grundlage jeder Wissensgenese und Wissensgeltung. Die traditionelle Wissenschaftstheorie hat in ihrer Orientierung am context of justification nicht nur die Genese, sondern auch den Zugang nivelliert.4 3
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hnlich meint Bçhme (1986, 201 f ): „Die Tatsachen des Alltagslebens und die vertrauten Prozesse unserer Umgebung wurden nur insofern Gegenstand der Wissenschaft, als es gelang, sie in etwas Fremdes, in etwas Erklrungsbedrftiges zu transformieren.“ „Moderne Naturwissenschaft ist ihrer Wissensform nach die Erklrung von etwas Ungewçhnlichem. […] Die moderne Naturwissenschaft entwickelt sich auf dem Hintergrund einer Entfremdung von der Natur.“ (Bçhme 1986, 200) Und auch Horkheimer und Adorno (1990, 15) sehen hier einen Prozess der „Entfremdung“: „Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worber sie die Macht ausben.“ Aus anderer Perspektive, nmlich der der transzendental-phnomenologischen Tradition, hat Husserl (1950 ff, Bd. 6, 230) unter dem Begriff der „Abstraktion“ herausgestellt: „Die Naturwissenschaft der Neuzeit hat, als Physik sich etablierend, ihre Wurzeln in der konsequenten Abstraktion, [… die in] der Lebenswelt nur Kçrperlichkeit sehen will. […] Die Welt reduziert sich in solcher mit universaler Konsequenz durchgefhrten Abstraktion auf die abstrakt-universale Natur, das Thema der puren Naturwissenschaft.“ Die Nivellierung mag fr die normalwissenschaftliche (paradigmatische) Phase der klassisch-modernen Physik adquat sein, insofern gegebene disziplinimmanente Probleme in der Art eines Puzzle von einer etablierten und wohlreglementierten scientific community gelçst werden. Sie ist allerdings schon fr die
7.1. Zugnge: Nachmoderne Physik …
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Im Zugang liegt, neben anderem, eine entscheidende Differenz zwischen klassisch-moderner und nachmoderner Physik. Die nachmoderne Physik verfolgt andere Erkenntnisinteressen und besitzt andere Erkenntnishaltungen als die klassisch-moderne Physik; sie verfolgt ein erweitertes Forschungsprogramm. Auch deshalb ersetzt die nachmoderne Physik nicht einfach die unabgeschlossene, ußerst erfolgreiche klassischmoderne Physik, sondern stellt einen anderen Typ dar. Auf die Frage, welche Problemstellungen als relevant anzusehen sind, werden von beiden Physiktypen unterschiedliche, wenn auch sich nicht ausschließende Antworten gegeben. Dass es berhaupt eine Alternativenstruktur und eine Wahlmçglichkeit gibt, freilich auch einen Entscheidungszwang, ist zunchst zu konstatieren. Im Zugang entscheidet sich, was mit dem Mathematiker und Physiker Ren Thom als „Auswahl der Phnomene“5 bezeichnet werden kann. Die Wahl „of what is considered scientifically interesting is certainly to a large extent arbitrary. [Classical-modern] Physics uses enormous machines to investigate situations that exist for less than 10–23 seconds […]. But we can at least ask one question: many phenomena of common experience, in themselves trivial […] – for example, the cracks in an old wall, the shape of a cloud, the path of a falling leaf, or the froth on a pint of beer – are very difficult to formalize, but is it not possible that a mathematical theory launched for such homely phenomena might, in the end, be more profitable for science?“ (Thom 1975, 9)6 Was Thom hier gegenberstellt, ist der Zugangsunterschied von klassisch-moderner und nachmoderner Physik: Exzentrismus im Mikro- und Makrokosmos versus Phnomen-, Struktur- und Isomorphieorientierung im Mesokosmos. Der Zugang und die Wahl der Objektsysteme sind also nicht ein kontingentes Additivum zum Erkannten selbst, wie dies noch im Wissenschaftsverstndnis der traditionellen Wissenschaftstheorie, ihrem Einheitsideal und ihrer sprachorientierten Geltungsfixierung der Fall war. Demgegenber hat die konstruktive Wissenschaftstheorie des Methodologischen Konstruktivismus dem Zugang zumindest eine gewisse Relevanz
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klassisch-moderne Physik fragwrdig, insbesondere bezogen auf ihre vorparadigmatische („explorative“) sowie auf ihre postparadigmatische („Finalisierungs“-) Phase (Bçhme et al. 1978). Noch deutlicher gilt das fr die nachmoderne Physik. Aus Perspektive des Konstruktivismus wre von Phnomenkonstitution oder gar Phnomenkonstruktion zu sprechen. Damit liegen andere Objektsysteme im Erkenntnisinteresse. Thom zielt auf eine Theorie der „qualitativen Dynamik“, nicht eine rein „quantitative“. Letztere identifiziert er im blichen Zugang der klassisch-modernen Physik.
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7. ber Zugnge und Ziele
zukommen lassen (z. B. Janich 1984). So bildet sich im Zugang – vor dem Hintergrund von Prototheorien – das kognitive Instrumentarium zur Erkenntnis heraus, als Begriffssetzung, als normierte Handlung, als technisches Herstellungsverfahren und als „Forschungsform“ (Mittelstraß 1998). hnlich findet sich aus gnzlich anderer Perspektive im Strukturalistischen Theorienkonzept von Sneed und Stegmller eine Andeutung, insofern Objektsysteme zumindest – neben dem dominanten Theoriebzw. Strukturkern – im Sinne „intendierter Anwendungen“ als eigene „prinzipiell offene Menge“ (ebd., 479) zum Theoriekern hinzukommen (Stegmller 1987, Bd. II, 477 f ). Obwohl hier Objektsysteme eine gewisse Rolle spielen, sollte Anwendung nicht mit Zugang verwechselt werden. Mehr Aufmerksamkeit wurde dem Zugang in der Wissenschaftstheorie nicht geschenkt.7 Dass sich „[d]as Grundverstndnis der Wissenschaften […] durch eine Reihe neuer Zugangs- und Sichtweisen vielfach verndert [hat]“, wurde auch aus methodologisch-konstruktivistischer sowie aus strukturalistisch-theoretischer Perspektive kaum gesehen (Poser 2001, 280).8 In der nachmodernen Physik haben sich andere Schwerpunkte und andere Fragestellungen etabliert, also: Fragen, die sich nicht primr auf den Makro- und Mikrokosmos beziehen; Fragen, die vergleichend Strukturen in unterschiedlichen Objektsystembereichen zum Gegenstand haben; Fragen, die auf qualitative Erklrungen zielen, und auch Fragen, die teilweise eng mit Technikentwicklungen verbunden sind. Im Rahmen der Physik deutet sich eine Offenheit des Fragens und eine Pluralisierung der Fragestellungen an. Damit liegt zur Kennzeichnung der nachmodernen Physik und ihrer Unterscheidung zur klassisch-modernen Physik folgende These nahe: Durch den jeweiligen Zugang wird ein Forschungsprogramm herausgebildet, ein Erkenntniskegel aufgespannt, ein Objektsystem als physikalisches konstituiert (Schmidt 2002c). Mçgliche Erkenntnisresultate werden prformiert. Sie sind durch den Zugang jedoch weder fest determiniert (Erkenntnisdeterminismus) noch sind sie vollkommen beliebig (Erkenntnisoffenheit). Der Erkenntniskegel ist ein Mçglichkeitsraum von Erkenntniswegen (Genese) und von zuknftigen Erkenntnisresultaten 7 8
Ausnahmen stellen hier u. a. Arbeiten von Bçhme (1993b) zu „Alternativen in der Wissenschaft“ dar. Poser (2001, 286) sieht zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass mit „neuen Wissenschaften eine Verlagerung des Schwerpunktes leitender Interessen einhergeht.“ Andere Zugnge treten hervor. Es zeigt sich eine „Offenheit des Fragens berhaupt“ (ebd., 293).
7.1. Zugnge: Nachmoderne Physik …
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(Geltung), ein verknpfendes Band vom Zugang zur Geltung.9 Der Erkenntniskegel trgt der graduellen Unbestimmtheit von Erkenntnisprozessen Rechnung.10 Zugnge stellen damit nicht nur externe Faktoren von Wissenschaft dar, sondern gehçren zum Kern von Wissenschaft. Um die Zugangs-These zu begrnden, ist zu zeigen, dass der Zusammenhang von Zugang, Genese und Geltung weder vollstndig unregelmßig und zufllig ist noch streng gesetzmßig, deterministisch verstanden werden kann. Zur Begrndung der Erkenntnisoffenheits-These sind zwei Argumente naheliegend:11 (a) Das experimentalwissenschaftliche Argument fr die Erkenntnisoffenheit fhrt plçtzliche Entdeckungen von neuen unerwarteten Tatsachen, Phnomenen und Effekten ins Feld. Es besagt, dass in Experimenten gerade neue Phnomene als Tatsachen entdeckt oder gar produziert werden. Experimente haben nur dann eine wissenschaftskonstitutive Funktion, wenn ihr Ausgang ungewiss und offen ist.12 (b) Das theorie-orientierte Argument nimmt Bezug auf die Neuartigkeit, den Ad-hoc-Charakter und die Plçtzlichkeit von Gedanken und Ideen. Neue Gedanken formieren sich sprunghaft im Bewusstsein des Naturwissenschaftlers und der scientific community. Ideen werden plçtzlich hervorgebracht. Durch die Begriffe der „wissenschaftlichen Revolution“ und des „Gestaltwandels“ deutet Kuhn (1996) an, dass sich etwas Sprunghaftes in der Theorienentwicklung ereignen kann. Fr Feyerabend ist „die Geschichte voll von Zufllen, Verbindungen und merkwrdigen Kollisionen von Ereignissen und zeigt uns […] die Unvoraussagbarkeit der letzten Folgen irgendeiner menschlichen Handlung.“ (Feyerabend 1983, 13) Gngiges Beispiel fr die Erkenntnisoffenheit ist neben der Entdeckung der Rçntgenstrahlung die der Radioaktivitt (vgl. Simonyi 1995, 479 f ).13 Gerade die jeweilige Neuartigkeit gilt oft als primres Charak9 Damit richtet sich das Modell des Erkenntniskegels gegen die Reichenbach’sche Trennung von context of discovery und context of justification. 10 Außerhalb dieses Mçglichkeitsraumes, des Erkenntniskegels, kçnnen bei einer bestimmten Zugangsweise keine Erkenntnisresultate liegen. 11 Siehe auch die Ausfhrungen von Lakatos (1974, 285 ff ). 12 Bacons und Poppers „entscheidende Experimente“ sind deshalb entscheidend, weil die Natur zu entscheiden scheint, welche der Theorien als falsch und welche als bewhrt anzusehen sind. 13 Eine unter Physikern und Wissenschaftshistorikern bliche Auffassung lautet: „Wir verdanken die erste Beobachtung von Erscheinungen, die mit der Radioaktivitt in Verbindung stehen, einem Zufall.“ (Simonyi 1995, 479) Becquerel konnte im Jahre 1896 freilich keine auf die Radioaktivitt hinzielende Frage stellen, da diese ja noch unbekannt war. Er fragte also danach, warum Uransalze,
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7. ber Zugnge und Ziele
teristikum wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse und ihrer immanenten (Fortschritts-) Dynamik. Doch Zweifel an starken Spielarten der Erkenntnisoffenheitsthese sind angebracht. (1) Normativ-zwecksetzend hat sich schon Francis Bacon gegen die Erkenntnisoffenheit gewendet und den Erkenntnisprozess als zweckgerichtetes Unternehmen zur systematischen Hervorbringung von Entdeckungen konstituiert – vorausgesetzt, Wissenschaft sei adquat institutionell organisiert. (2) Wissenschaftstheoretisch-deskriptiv wurde deutlich, dass Fragestellungen und Methoden sowie die Genese von Hypothesen theoriegeleitet und theoriebeladen ist. „Wissenschaftspraktisch“ basieren Experimente, Messapparate und Instrumente auf bewhrten Theorien und anerkannten technischen Verfahren. Laboratorien und Experimente sind „materialgewordene“ Vorgngertheorien. (3) Wissenschaftstheoretisch-sprachphilosophisch kann ein Zusammenhang zwischen Sprache, Begriffen und der (Logik der) Frage einerseits und mçglichen Antworten andererseits hergestellt werden. Die Frage (und ihre Struktur) prdisponiert Antworten, denn Erkenntnis ist sprachlich vermittelt. (4) Wahrnehmungspsychologisch ist unbestritten, dass nur dann etwas als etwas bemerkbar ist, wenn es Aufflligkeiten enthlt. Nicht alles fllt aber auf, sondern nur etwas, was im Horizont von Erwartungen liegt. Aufmerksamkeit und Wahrnehmung sind interessengeleitet. (5) Wissenschaftstheoretisch-normativ scheint eine totale Erkenntnisoffenheit (zumindest in der Physik) als wenig erstrebenswert zu gelten. Das Vereinheitlichungsprojekt der Physik mit dem teleologischen Ziel einer theory of everything wre nicht erreichbar, wenn in jedem historischen Entwicklungszeitpunkt jegliche Erkenntnis mçglich wre.14 Von einer vollstndigen Erkenntnisoffenheit kann also nicht gesprochen werden. Wie steht es mit dem Gegenteil – mit dem Erkenntnisdeterminismus? „Jenseits der gestellten Frage“, so Klaus Michael MeyerAbich, „gibt es keine Freiheit mehr, dieses oder jenes herauszubekommen. Fr das Ergebnis als solches gibt es, wenn die Frage einmal feststeht, wie man glaubte, „fluoreszierende Eigenschaften“ hervorbringen. Er hatte zwar keine Theorie im Hintergrund, dafr aber bestimmte Hintergrundannahmen. Seine folgenreiche Entdeckung war als solche nicht voraussehbar. 14 Weitere Argumente kçnnten angefhrt werden, etwa „wissenschaftsexterne“: Wissenschaftliches Erkenntnishandeln ist abhngig von technischen, çkonomischen und gesellschaftlichen Ressourcen. Der Superconducting Supercollider beispielsweise, der Anfang der 1990er Jahre in den USA geplante Teilchenbeschleuniger, scheiterte an finanziellen Ressourcen, mit deutlichen Auswirkungen auf das zuknftige wissenschaftliche Erkenntnishandeln der Hochenergie- und Teilchenphysiker.
7.1. Zugnge: Nachmoderne Physik …
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insoweit keine besondere Verantwortung.“ (Meyer-Abich 1997b, 8) Und aus wissenschaftshistorischer Perspektive wurden von Bçhme u. a. ein epochaler Erkenntnisdeterminismus entdeckt (Bçhme et al. 1974). In ihrem Finalisierungskonzept unterscheiden Bçhme u. a. zwischen zwei Typen der Entwicklung, nmlich dem einer darwinistischen (nichtdeterministischen) „naturwchsigen Evolution“ und dem einer „intentionalen, d. h. einer zielgerichteten, geplanten Wissenschaftsentwicklung.“ (Bçhme 1993a, 233) Durch „den [intentionalen] Zweckbezug der Wissenschaft [wird] nicht nur Theorie angewendet, sondern eine Fortbildung der Theorie veranlaßt.“ (ebd., 234) Partielle erkenntnisdeterministische Strukturen sind folglich nicht von der Hand zu weisen. Das Konzept des Erkenntniskegels, des Mçglichkeitsraumes der Erkenntniswege, fhrt das Gesagte zusammen: Die Erkenntniswege sind vom Zugang bis hin zur Geltung weder linear-deterministisch noch unbestimmt und zufllig. Es ist eine Erkenntnisoffenheit mit Grenzen. Zugnge „schrnken das Gebiet der Erscheinungen, das fr die wissenschaftliche Forschung zu einem gegebenen Zeitpunkt zugnglich ist, zwangslufig ein“, ohne die Erkenntnisresultate jedoch eindeutig festzulegen (Kuhn 1996, 73).15 Zugnge ermçglichen eine grundstzliche Unterscheidung der beiden Physiktypen. Denn es ist – wie Goethe feststellte – „ein großer Unterschied, von welcher Seite man sich einem Wissen […] nhert, durch welche Pforte man hereinkommt.“ (Goethe 1960 ff, Bd. 13, 329 f ) So liegt es nahe, im Zugang eine Differenzierung zu sehen. Der Fundamental- und Extremzugang (auf den Mikro- und Makrokosmos) der klassisch-modernen Physik unterscheidet sich von dem dynamisch-qualitativen, am Komplexen orientierten Phnomen-, Struktur- und Isomorphiezugang der nachmodernen Physik.16 Insofern die nachmoderne Physik auch einen Zugang findet zu biologischen und ingenieurwissenschaftlichen Objektsystemen, beginnen sich disziplinre Grenzen aufzulçsen; die Wissenschaftskultur der Physik verndert sich.17 So kann die 15 Nicht von Erkenntniskegeln und -korridoren sprechen Haken (1995), Krohn und Kppers (1992) und Mainzer (1996a; 1999). Ihre Modelle zur Theoriendynamik sind jedoch mit dem der Erkenntniskorridore verwandt. 16 Ein hnlicher Unterschied findet sich in der Biologie zwischen der Verhaltensforschung (mit ihrem partizipatorischen Zugang) und der Molekularbiologie (mit ihrem Fundamentalzugang). 17 B.–O. Kppers (1992, 9) hat herausgestellt, dass „der Trend zur interdisziplinren Forschung ganz wesentlich durch die Tatsache [ausgelçst worden ist], daß sich das Interesse der physikalischen und chemischen Grundlagenforschung zu-
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7. ber Zugnge und Ziele
nachmoderne Physik als eine interdisziplinre Erweiterung der Physik verstanden werden. Sie ist sowohl biologischer als auch technischer, sie ist „Natur-nher“ und technisch-konstruktiver, eben kontemplativer und kontrollierender, rezeptiver und eingreifender; wenn man so will: sie ist sowohl „weicher“ als auch „hrter“. Sowohl aus naturromantisierender als auch aus technikgestaltender Perspektive kann auf die nachmoderne Physik rekurriert werden. Antagonismen durchziehen die nachmoderne Physik. Sie ist nicht nur eins. Es zeigt sich eine Pluralitt der Zugnge innerhalb der Physik. Entgegen vorschneller Abgrenzungskriterien finden sich auch alternative Zugangsweisen (vgl. Bçhme 1993b; Altner et al. 2000) und modifizierte Fragestellungen (Poser 2001) im Kern der Physik. Die Autoritt und Definitionsmacht, den exzentrischen Fundamentalzugang als den einzig mçglichen und als den einzig relevanten anzusehen, wird brchig. So lsst sich mit B.–O. Kppers sagen: „Die Erschließung neuer Phnomenbereiche bleibt in der Regel nicht ohne Auswirkungen auf die innere Konstitution einer Wissenschaft.“ (Kppers 1992, 9 f ) Beispielhaft werden im Folgenden zwei erweiterte Phnomenbereiche der Physik angefhrt.
7.2. … als phnomenologisch-morphologische Physik Zu den Phnomenen! Zur Programmatik einer Phnomenphysik Der berhmte programmatische Aufruf Zu den Phnomenen! 18 – zunchst in der aristotelischen Naturphilosophie, dann in der empiristischpositivistischen, neopositivistischen sowie transzendental-phnomenologischen Traditionslinie – hat zwar die Bedeutung der Erscheinungen vor den ußeren Sinnen fr die Erkenntnis herausgestellt. Blickt man allerdings auf die Physikentwicklung des 20. Jahrhunderts, wird man einwenden mssen: Es sind eigentlich nicht die Phnomene gerettet worden, insoweit sie dem Menschen sinnlich zugnglich sind. Schließlich kann der Mensch „[d]ie Dinge, die in der Wissenschaft des zwanzigsten nehmend von der Erforschung einfacher auf die Erforschung komplexer Naturphnomene verlagert hat.“ 18 Zum Begriff des „Phnomens“ und seiner Begriffsgeschichte, siehe Hacking (1996, 365 f ). Hacking (1996, 367) verdeutlicht, was auch hier zutrifft: „Mein Gebrauch des Wortes ,Phnomen‘ gleicht dem des Physikers.“ Siehe insbesondere Duhem (1969) in seinem Buch „To Save the Phenomena“.
7.2. … als phnomenologisch-morphologische Physik
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Jahrhunderts ,gesehen‘ werden, […] nur selten mit unbewaffneten Sinnen wahrnehmen.“ (Hacking 1996, 280) Es sind also in der klassisch-modernen Physik eher jene Phnomene gerettet worden, die im Mikrokosmos apparativ hergestellt und beeinflusst werden kçnnen. Dann kann man aber nicht von „Rettung“ sprechen, als seien Phnomene schlichte Gegebenheiten oder nackte Tatsachen. Vielmehr handelt es sich um experimentelle Konstruktionen und apparative Wahrnehmungen. Im Unterschied dazu werden in Teilbereichen der nachmodernen Physik „Phnomene gerettet“, insofern sie Gegebenes darstellen und sich als Gestalten zeigen. Sie liegen in der Natur der mittleren Grçßenordnung, im Mesokosmos.19 Weder apparative Wahrnehmung noch technische Erzeugung sind notwendig, wie zu zeigen sein wird. Ohne positivistisches Pathos ruft die nachmoderne Physik aus: Zu den mesokosmischen Phnomenen! Ihr Zugang ist phnomenologischmorphologisch ausgerichtet; er ist deskriptiv und vergleichend, und zielt weniger auf eine fundamentale Theorie. Das Allgemeine erscheint im Besonderen des Augenscheinlichen und Anschaulichen,20 ohne sein Allgemeines zu verlieren. Damit kçnnte dieser Zugang als ein naturwissenschaftlich orientierter Teilbereich des Konzepts zu einer Phnomenologie der Natur (Bçhme 1997) begriffen werden, als physikalische Alternative innerhalb der Physik: zugleich als Abgrenzung und als Erweiterung und Ergnzung der klassisch-modernen Physik. Voraussetzung ist, dass man eine derartige Spezifizierung einer Phnomenologie der Natur berhaupt im Rahmen der Naturwissenschaften – und nicht allein in Abgrenzung zu allen Naturwissenschaften – fr mçglich erachtet. Das ist nicht unstrittig (vgl. Schiemann 1997a). Ein Brckenschlag hngt zunchst vom Verstndnis der Phnomenologie wie auch von dem der Naturwissenschaften ab. Hermann Schmitz (1980, 28 f ) etwa zieht 19 Zum Begriff des Mesokosmos, siehe Vollmer (1988, 100 f ). Bçhme (1992a, 46) argumentiert fr ein Naturverstndnis, das sich am Mesokosmos orientiert. „Unter Natur ist Natur der mittleren Grçßenordnung [zu verstehen], die […] den menschlichen Lebenszusammenhang bildet.“ 20 Eine Struktur ist fr Vollmer (1988, 104 f ) genau dann anschaulich, wenn man sie in eine Struktur der mittleren Dimension, d. h. in den Mesokosmos transformieren bzw. projizieren kann. Anschaulichkeit meint demnach nicht nur (1) das tatschlich Anschaubare, das dem Menschen durch Sinneswahrnehmung Zugngliche, sondern auch (2) das visuell Vorstellbare, gewissermaßen das potenziell Anschaubare, dasjenige, was im Prinzip der Sinneswahrnehmung zugnglich ist. Der Mikrokosmos ist demnach kein verkleinerter Mesokosmos: das Atommodell ist kein verkleinertes Planetensystem.
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7. ber Zugnge und Ziele
einen Schnitt zwischen Phnomenologie und Naturwissenschaften, insofern letztere durch methodische Reduktion Phnomene (im Sinne seiner Phnomenologie) eliminieren. Hingegen schimmern bei Edmund Husserl (1936, 52 f/133) aus Perspektive der transzendentalen Phnomenologie in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis lebensweltliche Bezge durch, so dass die Phnomenologie zur Begrndung von Naturwissenschaft herangezogen werden kann. Doch in den Phnomenen treffen sie sich nicht. Neben der Traditionslinie der transzendentalen (Husserl, u. a.) und neueren Leib- (Schmitz, Bçhme, u. a.) Phnomenologie steht die verwandte, hier fr die Kennzeichnung der nachmodernen Physik zu verwendende Linie der Morphologie. Sie wurde von Johann Wolfgang von Goethe als Teil der Naturwissenschaften konzipiert.21 Damit legte Goethe ein gegenber der Klassischen Mechanik Newtons erweitertes, zugegebenermaßen gegenstzliches Wissenschaftsverstndnis zugrunde. Das wird im Folgenden zu skizzieren sein, um im Anschluss Morphologisches in der nachmodernen Physik identifizieren, spezifizieren und kritisch gewichten zu kçnnen.22 Hier zeigt sich, wie Klaus Mainzer herausstellt, „the Beauty of Nonlinear Science.“ (Mainzer 2005) Zur Morphologie Den Begriff der Morphologie hat Goethe erstmals in seinen Tagebuchaufzeichnungen 1796 verwendet (Goethe 1964, 128).23 In Anlehnung an den griechischen Begriffsursprung versteht Goethe darunter die Lehre von der Form und von der Gestalt. Morphologie wird als eine Universalwissenschaft angesehen, die andere Wissenschaftsdisziplinen, etwa die Physiologie, einschließt. Sie ist Gestaltlehre, die alle natrlichen Phnomene umfasst, die anorganischen ebenso wie die organischen. Morphologie „[be]ruht auf der berzeugung“, so Goethe, „daß alles, was sei, sich auch andeuten und zeigen msse. Von den ersten physischen und chemischen Elementen an, bis zur geistigen ußerung des Menschen lassen wir diesen 21 Zu Goethe siehe die Arbeiten von Bçhme (1993b, 123 f; 1997, 11 f; 2005) und Schweitzer (1992). 22 So wird sich zeigen, dass nicht mehr ausschließlich das gilt, was Bçhme (1993a, 182) fr die klassisch-moderne Physik herausgestellt hat, nmlich dass „physikalisch gesehen […] Realitt [das] ist, was mit einem Apparat festgestellt wird bzw. sich an einem Apparat manifestiert.“ 23 Vgl. allg. Mayer (1967). Unabhngig von Goethe findet sich auch bei Burdach (1800, 62) der Begriff „Morphologie“.
7.2. … als phnomenologisch-morphologische Physik
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Grundsatz gelten. Wir wenden uns gleich zu dem, was Gestalt hat. […] Die Gestalt ist ein Bewegliches, ein Werdendes, ein Vergehendes. Gestaltlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist der Schlssel zu allen Zeichen der Natur.“ (Goethe 1964, 128) Die Gestalten der existierenden Organismen werden als Metamorphosen von Urbildern oder Urphnomenen einer jeweiligen Organismenklasse verstanden. Aus diesen wird der „Typus“ durch „Abstraktion“ gewonnen. Damit ist keine Reduktion und auch kein Erkenntnisprinzip gemeint, vielmehr ein reales Prinzip der Natur. Goethe formuliert seine Morphologie mit dem dezidierten Anspruch einer anderen Natur-Wissenschaft – als einer Wissenschaft von der Natur. Er will mit der „Morphologie eine neue Wissenschaft auf[…]stellen […], zwar nicht dem Gegenstand nach, denn der ist bekannt, sondern der Ansicht und der Methode nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigene Gestalt geben muß als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren Platz anzuweisen hat.“ (Goethe 1964, 140) Das, was Goethe als „Ansicht“ bezeichnet, wurde hier als „Zugang“ charakterisiert. Die Morphologie stellt eine vernderte Methode dar, die im Zusammendenken und Zusammenfhren liegt; sie ist synthetisch und vergleichend, weniger analytisch und zerlegend. Die Differenz zeigt sich nicht nur im Vergleich zu Newtons Optik, sondern auch in Abgrenzung zu Carl v. Linns Zugang und seiner Philosophie der Botanik. Indem Goethe Linns „scharfes, geistreiches Absondern, seine treffenden, zweckmßigen, oft aber willkrlichen Gesetze in mich [ = sich, Goethe] aufzunehmen versuchte, ging in meinem Inneren ein Zwiespalt vor: das was er [ = Linn] mit Gewalt auseinander zu halten suchte, mußte, nach dem innersten Bedrfnis meines Wesens, zur Vereinigung streben.“ (Goethe 1954, 16) Demgegenber zielt Goethe programmatisch darauf ab, das „Ganze der Natur“ in den Blick zu nehmen.24 Das sind vor allem die Dynamiken, Vernderungen und Metamorphosen. Linn hingegen erreicht nur eine Typologie einer jeweils statisch verstandenen Natur. Das ist fr Goethe unzureichend und sei der Natur unangemessen. „Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, so daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke.“
24 Goethe (1994, 12) stellt heraus: „In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe.“
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(Goethe 1954, 7)25 In der Linn’schen Botanik wie auch in der klassischen Physik werde „alles Wandelbare stationr, das Fließende starr […].“ (WA II / 6, 359 f ) Goethe hingegen zielt in einer Art Dynamismus darauf hin, „Werdendes, Wirkendes, Anregendes, Handelndes, Hervorbringendes“ in der Natur anzuerkennen und wissenschaftlich zugnglich zu machen.26 Die sich zeigenden Phnomene stehen im Mittelpunkt von Goethes Methodenverstndnis – sowohl in seiner Morphologie wie in seiner Farbenlehre. Das ist nicht nur rein kontemplativ zu verstehen. Phnomene kçnnen auch zum Zeigen gebracht werden, etwa durch den „Versuch“.27 Dieser wird als „Vermittler von Objekt und Subjekt“ angesehen. Mit dem Versuch erfolgt eine „Vermannichfaltigung“ der Phnomene. Die Vermannigfaltigung gilt mehr fr die Farbenlehre als fr die Morphologie. Denn in der Morphologie tritt ein Phnomenfeld schon unmittelbar in Vermannigfaltigung und Nichtisolation hervor.28 Die Mannigfaltigkeit der Farben wird von Goethe in einer Reihe entwickelt, d. h. als Mannigfaltigkeit mit Ordnung ausgestattet. Goethe spricht von einer „natrlichen Ordnung“. Sie besteht aus Elementen wie Polaritt, Steigerung, Entgegensetzung, Komplementaritt und Nachbarschaft. Goethe hat sein weites Theorieverstndnis auf die Mannigfaltigkeit der Phnomene bezogen. Die Theorie „berschreite nicht“ die Ebene der Phnomene, also dasjenige, was erscheint oder sich zur Erscheinung bringen lsst. Seinen Phnomenalismus bringt Goethe auf die Formel: „Man suche nur nichts hinter den Phnomenen; sie selbst sind Lehre.“ (Goethe 1991, 25/114) Maxime ist, dass man sich mit den Phnomenen, mit ihrer Ordnung und ihrer Vernderung „begngen“ solle. Natur hat weder einen reduktiven Kern noch eine rein ußerliche unbezgliche Schale. Damit ist Goethe nicht, wie man denken kçnnte, Theorie- (oder Mathematik-) feindlich. Diejenigen Theorien gelten ihm als adquat fr 25 Das „Gebildete“, so Goethe, werde als solches „sogleich wieder umgebildet“ (ebd.). Goethe schließt mit dem Hinweis auf Dynamik und Vernderung an Aristoteles an, der Morphe (aktiv) und Hyle (passiv) gegenberstellt. 26 Insbesondere zielt Goethe darauf ab, die damals rivalisierenden Theorien zur Pflanzengenese, die klassische Evolutionslehre (Prformationstheorie, Einschachtelungslehre) und die Epigenesetheorie, zusammenzufhren. 27 Der Versuch, so Bçhme (1997, 21), ist fr Goethe „eine Praxis des ErscheinenLassens“. Zwischen „Versuch“ und „Experiment“ ist folglich zu unterscheiden. 28 Goethe (1994, 48) sagt: „Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit“. Ein Individuum ist doch eine „Versammlung von lebendigen selbststndigen Wesen“.
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Morphologie und Farbenlehre, die sich auf das Phnomenale des (sich) Erscheinenden beziehen und Urphnomene betreffen. In der Farbenlehre sind dies: Licht, Finsternis, Trbe. Diese drei machen zusammen die Farbe aus. Urphnomene liegen den Phnomenen als ideale Formen zu Grunde, sie liegen nicht hinter den Phnomenen. Im Lichte der heutigen nachmodernen Physik erscheinen folgende Kernelemente der Goethe’schen Morphologie beachtenswert: (1) Orientierung an den lebensweltlich zugnglichen Erscheinungen, radikaler Phnomenbezug und Wahrnehmungsrekurs; (2) Werden, Dynamik und Zeitlichkeit; (3) kein nomologischer Theorien-Reduktionismus, sondern idealtypisierende morphologische bzw. Form-Reduktion („Urtypus“, „Urphnomene“); (4) vergleichende Erfassung unterschiedlicher RealFormen; (5) Wissen und Reflexion ber die Problematik jeder Isolierung; (6) Bercksichtigung einer Teilnehmerperspektive der Erkenntnis; (7) programmatische Darlegung der Morphologie nicht als Nicht-Wissenschaft, sondern als innerwissenschaftliche Alternative. Der Zugang Goethes hat sich zwar wissenschaftshistorisch gegenber der klassisch-modernen Naturwissenschaft nicht durchsetzen kçnnen. Seine Farbenlehre war derjenigen Newtons in (deduktiv-nomologischer) erklrungstheoretischer Hinsicht ebenso unterlegen wie seine Botanik derjenigen Linns. Dennoch wurde im 20. Jahrhundert Goethes morphologischer Zugang zunchst von D’Arcy W. Thompson in seiner On Growth and Form (1917)29 und dann von Ludwig v. Bertalanffy in Kritische Theorie der Formbildung (1928) neu aufgenommen und diskutiert. Beide verwenden mathematische Methoden zur Beschreibung biologischer Formbildungsprozesse („Morphogenese“) und untersuchen die Entwicklung und Herausbildung raumzeitlicher Strukturen. Verwandt sind ferner Wissenschaftskonzeptionen wie die Umweltlehre von Jakob und Thure von Uexkll, die Verhaltensforschung von Konrad Lorenz, die Zoologie Adolf Portmanns30 und die Gestaltkreislehre Viktor v. Weizsckers.31 29 So rekurriert auch der Katastrophentheoretiker Thom (1975, xxiii/1 f ) auf D’Arcy Thompson. 30 Portmann hat die „Selbstttigkeit“, die morphologischen „Selbstdarstellungen der Lebewesen“ sowie die „Blattgestalten“ ernst genommen (Portmann 1955a; Portmann 1955b). 31 Dies gilt, insofern sie auf Formen und Gestalten rekurrieren, Form- und Gestaltbildung untersuchen, den Subjekt-Objekt-Dualismus zwischen Erkennendem und Erkanntem zu bersteigen trachten und den Erkenntnisprozess als Partizipationsprozess verstehen, das Qualitative dem Quantitativen vorziehen,
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Es ist bemerkenswert, dass nicht die Biologie, die sich in den letzten Jahrzehnten verstrkt – trotz kologie, Verhaltensforschung, Botanik u. a. – molekularbiologisch und -medizinisch versteht, sondern dass die Physik einen morphologischen Naturzugang wissenschaftlich revitalisiert und reformuliert. Wenn man demgegenber an einem Biologieverstndnis festhalten mçchte, das traditionell das Morphologische mit umfasst, die Formen und Gestalten, wird man sagen mssen: Die nachmoderne Physik scheint in einem bestimmten Sinne „biologischer“ zu sein als die heutige Molekularbiologie. Fr die Konzeption einer „Phnomenologie der Natur“, wie von Gernot Bçhme (1997) vorgeschlagen, finden sich in der nachmodernen Physik fundierende und fundierte Argumente. Das soll im Folgenden anhand prominenter Beispiele ausgefhrt werden. Morphologie in der nachmodernen Physik Die Fraktale Geometrie und die Katastrophentheorie – zwei Teiltheorien der nachmodernen Physik – prsentieren sich explizit als Theorien des Morphologischen. Von einer „morphology of a process“ und „a theory of morphogenesis“ spricht Ren Thom (1975, 38/8), der Begrnder der Katastrophentheorie. Benoit Mandelbrot zielt mit seiner Fraktalen Geometrie auf eine „Morphologie des ,Amorphen‘ “ (Mandelbrot 1991, 13), woran andere nachmoderne Physiker und theoretisch-mathematische Biologen mit einer Art Prozessmorphologie anschließen (z. B. Meinhardt 1995; Richter/Peitgen 1984; Gierer 1981).32 Thom bezieht sich auf die Morphologie von D’Arcy Thompson und stellt seiner Morphogenesis voran, was Thompson – im Rekurs auf Goethe – im Blick hatte: „The waves of the sea, the little ripples on the shore, the sweeping curve of the sandy bay between the headlands, the outline of the hills, the shape of the clouds, – all these are so many riddles of form, so many problems of
und damit innerwissenschaftliche Zugangs-Alternativen zur klassisch-modernen Naturwissenschaft anbieten (Altner et al. 2000). 32 Beispielsweise sprechen Richter und Peitgen (1984) von einer „Morphologie komplexer Grenzen“ und Gierer (1981) hat eine „Physik der biologischen Gestaltbildung“ entwickelt. Frher hatte insbesondere schon Turing (1952) eine dynamische Modellierung einer „Chemical Basis of Morphogenesis“ vorgenommen.
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morphology“ (Thompson 1917).33 Damit sind beispielhaft einige Objektsysteme des phnomenologisch-morphologischen Zweigs der nachmodernen Physik benannt. Doch Thom und Mandelbrot unterscheiden sich. Whrend Mandelbrot Phnomene mathematisch-numerisch generiert und damit Naturphnomene der Form nach imitiert, zielt Thom auf qualitative abstrakt-topologische Darstellungen, allerdings in Abgrenzung zur blichen Vorrangstellung der Gesetze („Differenzialgleichungen“). Das Morphologische liegt bei Thom primr im mathematischen Zustandsraum, auf Mannigfaltigkeiten und in Gesamtheiten von Lçsungsformen. – In beiden Fllen spielt das Mathematische eine wesentliche Rolle, also das, was bei Goethe noch nachgeordnet war, aber nicht ausgeschlossen wird. Morphologie ist demnach der Geometrie verwandt. Doch diese allgemeine Kennzeichnung ist nicht hinreichend. Thom knpft bei der ab dem 19. Jahrhundert zu einer Strukturtheorie verallgemeinerten Geometrie an, bei der damals neuen Teildisziplin der Topologie und der qualitativen Theorie der Differenzialgleichungen, wie sie von Poincar (und von Lyapunov) entwickelt und von G.D. Birkhoff vervollstndigt wurde. Mandelbrot verwendet zwar ebenfalls diese mathematischen Teildisziplinen, doch verortet er seine Geometrie im Visuellen, sthetischen und Erhabenen der konkreten Formen der Natur. Mit diesen beiden Zugngen sind komplementre Facetten der nachmodern-physikalischen Verstndnisweisen des Morphologischen herausgestellt. Sie werden ergnzt durch einen Morphologietyp, der verstrkt die Prozesshaftigkeit im Blick hat. Betrachtet werden sollen im Folgenden drei Morphologietypen der nachmodernen Physik: die Fraktalmorphologie (Mandelbrot 1991), die Strukturmorphologie (Thom 1975) sowie ferner die Prozessmorphologie (Meinhardt 1995). Jeder dieser Morphologietypen umfasst auch Aspekte des jeweils anderen. Untersttzung erhalten die aktuellen Morphologien durch die computertechnologische Entwicklung. Bei Mandelbrot und Meinhardt stellen die Simulations- und Visualisierungstechniken gar die Bedingung der Mçglichkeit ihrer Morphologietypen dar. Im Visuellen liegt ein qualitativer Geltungsausweis von Modellen an mesokosmischen Naturphnomenen (Kapitel 5). Eine visuelle Wissenskultur, so kçnnte man vielleicht sagen, beginnt sich im Rahmen der nachmodernen Physik zu etablieren. 33 Auch Mandelbrot (1991, 15) bezieht sich auf D’Arcy Thompson. Eine zu D’Arcy Thompson fast identische Formulierung findet sich in der Einleitung bei Mandelbrot (1991, 13).
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Abb. 7 – 1: Einige Beispiele geometrischer Strukturen, Gestalten und Muster, die zum Gegenstand der nachmodernen Physik, hier der Fraktalen Geometrie, gehçren.
Die Fraktale Geometrie (Fraktalmorphologie) stellt sich dezidiert als eine geometrische Morphologie dar. Zunchst weist der geometrische Zugang zur Natur bekanntlich eine wohletablierte Traditionslinie auf (Mainzer 2005). Die Euklidische Geometrie und die platonischen Kçrper prgten die Wissenschaftsentwicklung. Galilei nahm wegweisend fr die neuzeitliche Naturwissenschaft an, dass die Sprache der Natur die Mathematik sei und insbesondere, in der Nachfolge Platons, die Geometrie. Die Buchstaben dieser Sprache sind Dreiecke, Kreise, Kuben und andere geometrische Kçrper. Kepler war ein berzeugter platonischer Geometer, der eine wohlgeordnete sthetik der Geometrie im Aufbau der Natur sah, eine gçttliche Harmonie in den Planetenbahnen. Sptestens seit der Entwicklung der Differenzialrechnung durch Leibniz und Newton war die klassische Geometrie der Formen auf dem Rckzug. Eine neue Abstraktionsstufe prgte die Physik: die mathematische Funktion beherrschte fortan die exakte Naturwissenschaft strker als die geometrische Form. So zeigt sich: Erstens war Geometrie seit jeher eine Geometrie der regulren, hochsymmetrischen Formen. Zweitens wurde Geometrie zunehmend an den Rand der mathematisierten Naturwissenschaft gedrngt und durch die Funktion, das Gesetz und allgemeine Symmetrieeigenschaften ersetzt. Drittens abstrahierte auch die Geometrie als Strukturtheorie weiter von den konkreten Phnomenen in Raum und Zeit. Mandelbrots Ausgangspunkt liegt in einer sich hier anschließenden dreifachen Kritik,34 nmlich der Kritik an der Regularittsorientierung, 34 Dies findet sich bei Mandelbrot nicht explizit, sondern stellt eine Zusammenfassung dar.
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an dem Relevanzverlust und an dem Abstraktionsgrad der Geometrie. Er diagnostiziert einen „Verlust von Natur“; die Phnomene der mesokosmischen Natur werden nicht mehr adquat reprsentiert. „Durch die Entwicklung von Theorien, die keine Beziehung mehr zu sichtbaren Dingen aufweisen, haben sie [ = Mathematiker und Physiker] sich von der Natur entfernt.“ (Mandelbrot 1991, 13) Es ist nicht nur bemerkenswert, dass Mandelbrot auf den Begriff der Natur als phnomenale Natur rekurriert – ein Begriff, der ansonsten in der Physik und Mathematik des 20. Jahrhunderts keine Rolle mehr zu spielen scheint. Vielmehr wird Natur nicht allgemein wirkkausalistisch, etwa im Sinne des Naturgesetzlichen, verstanden, sondern im Sinne lebensweltlicher Zugnglichkeit, mesokosmischer Sichtbarkeit und sinnlicher Wahrnehmbarkeit. So ist der Titel des begriffsschçpferischen Werkes Die fraktale Geometrie der Natur35 programmatisch zu verstehen, nmlich als Wiedergewinnung der Natur der mittleren Grçßenordnung und Etablierung der phnomenalen Natur als relevantes Forschungsfeld physikalisch-mathematischer Zugnge. Mandelbrot startete sein fraktalgeometrisch-morphologisches Forschungsprogramm in den 1960er Jahren zunchst mit einer geographischen Frage, an der sich mathematische Naturwissenschaft zu bewhren habe: „Wie lang ist die Kste von England?“. Er erkannte hier eine Maßstabs- und mithin eine Konventionsabhngigkeit. Je feiner man den Maßstab whlt, desto grçßer wird die Kstenlnge. Das liegt daran, dass kein (eindimensionales) Messproblem an einer „glatten“ Flche vorliegt, sondern etwas, das in die zweite Dimension des Raumes hinausreicht. So sind spezielle (Komplexitts-) Kenngrçßen als „fraktale Dimensionen“ zu definieren, die der Nicht-Glattheit der Kurvenform Rechnung tragen. Eine Konvergenz der iterativ gewonnenen Komplexittskenngrçßen, also eines Verhltnisses von Eigenschaften der ersten und der zweiten Raumdimension, kann gesichert werden. Urtyp fraktaler Formen ist das bekannte Apfelmnnchen, verbunden mit der Mandelbrot- und JuliaMenge, aber auch die um die Jahrhundertwende entdeckte Koch- und Schneeflockenkurve.36 Nach unendlich vielen Abbildungsschritten37 ist 35 Es ist bemerkenswert, dass in den selben Jahren (1975 – 77), in denen Mandelbrot den Begriff „Fraktal“ prgte, Li und Yorke den Begriff „Chaos“ wissenschaftsfhig werden ließen. 36 Mandelbrot bezieht sich auf Arbeiten der Mathematiker Peano, Cantor, v. Koch, Julia, Fatou u. a. 37 Bezogen auf die mathematische komplexe Ebene.
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die idealisierte Schneeflockenkurve unendlich lang, obwohl sie niemals ein vorher festgelegtes Gebiet verlsst. Sie gleicht einem unendlich dnnen, unendlich langgezogenen Gummiband, das sich in speziellen, fraktalen Formen anordnet. Derartige Formen von fraktalen Gestalten haben eine besondere Eigenschaft: die der Selbst- oder Skalenhnlichkeit. Wenn man kleine Ausschnitte der Gesamtschneeflocke betrachtet, sind diese Teile immer dem Ganzen hnlich. Auf phnomenologisch-morphologischer Ebene zeigen fraktale Gebilde, dass sich das ganze Bild in allen Teilen des Bildes vollstndig und infinit spiegelt, allerdings in einem anderen Maßstab und mit kleinsten Variationen. Derartige Formen scheinen in der Natur vielfach vorzuliegen. Mandelbrots Zugang zur mesokosmischen Natur basiert, wie man sagen kçnnte, auf lebensweltlicher Anschaulichkeit, nmlich darin, dass „Wolken […] keine Kugeln, Berge keine Kegel, Kstenlinien keine Kreise [sind …], [Baum-] Rinde […] nicht glatt [ist], und ein Blitz […] nicht entlang gerader Linien [verluft].“ (ebd., 13) Mit Hilfe seiner „gegenber Euklid“ „neuen Geometrie“, der „gebrochenen“ Fraktalen Geometrie, lassen sich diese „unregelmßigen“, „unordentlichen“ und „zersplitterten“ Naturphnomene, Gestalten und „Formen um uns herum“ (ebd.) nachzeichnen und konstruieren:38 die Verzweigungen und Verstelungen von Bumen und Struchern, von Blttern und Federn, das Netz von Adern im menschlichen Kçrper, der Weg von Blitzen, der Verlauf von Flssen, die Struktur von Gebirgen, Muscheln, Seepferdchen, Schneeflocken oder Blumenkohl. Dass in der Natur nicht nur geometrische Formen mit ganzzahligen Dimensionen wie Linie, Quadrat und Rechteck, Wrfel und Kugel existieren, sondern oftmals feine Verstelungen, porçse Oberflchen, asymmetrische Gestalten, hatte Mandelbrot durch seine alltglich-sinnliche Wahrnehmung von Natur erkannt. Fraktale Gebilde sind solche Gestalten, die sich darstellen als „faltig, gewunden, kçrnig, picklig, pockennarbig, polypenfçrmig, schlngelnd, seltsam, tangartig, verzweigt, wirr, wuschelig“ (ebd., 17). Sie weisen gebrochene Dimensionen auf, womit diese Formen „qualitativ streng untersuch[t]“ werden kçnnen (ebd.). Das Qualitative spielt eine entscheidende Rolle in der Form-Klassifikation wie auch in der berprfung und im Evidenzausweis der durch Modelle erzeugten Formen an der empirischen 38 So wre zu fragen: Gilt dann noch das, was Blumenberg (1996, 92 f ) herausstellte, nmlich dass der Naturbegriff der Moderne „nichts mehr gemein [hat] mit dem Naturbegriff der Antike, auf den sich die Mimesis-Idee bezieht: das selbst nicht mehr herstellbare Urbild alles Herstellbaren“?
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Wirklichkeit. Methodisch gelinge dies dadurch, dass die Fraktale Geometrie Natur in ihrer Formvielfalt „nachzuahmen“ versuche (ebd., 16). Modelle werden mittels visueller hnlichkeit von Computer-generierten und Natur-vorfindlichen Formen qualitativ validiert. Damit modifiziert sich, was unter Erkenntnis und ihrer Geltung verstanden werden kann. Visuelles wird entscheidend. Wie bei Goethe so ist auch bei Mandelbrot das wahrnehmende Auge entscheidend. „Fr mich ist das wichtigste Denkwerkzeug das Auge. Es sieht hnlichkeiten, noch bevor eine Formel geschaffen worden ist, um [Formen und Gestalten] zu identifizieren.“39 Eine ffnung zu sthetischen Aspekten tritt hervor. „Die Fraktale Geometrie enthllt“, so Mandelbrot, „eine Welt voller Schçnheiten“ (ebd., 16). Mit diesem phnomenologisch-morphologischen Naturzugang unterscheidet sich diese Wissenschaftshaltung etwa von der Molekulargenetik, welche einen Prototyp einer technisierten reduktiv-analytischen Wissenschaft – verbunden mit einer industriellen Technologie – darstellt. Im Sinne Goethes wird in der Genetik hinter oder unter den Phnotypen nach etwas, nach dem genetischen Code gesucht. Dagegen ist das Ziel der Fraktalen Geometrie nicht die Entschlsselung eines genetischen Codes, sondern die Entdeckung von Formen und Gestalten. Goethes Forderung – Suche nichts hinter den Phnomenen! – wird insoweit von der Fraktalen Geometrie erfllt, da sie nicht reduktiv nach einem mçglichen wirkkausalen Kern der Phnomene („Genen“) sucht, sondern bei der Formnachbildung der Phnomene stehen bleibt. Man wird somit den Anspruch Mandelbrots, Natur wieder mesokosmisch, qualitativ, visuellsthetisch in den Blick genommen und einen modifizierten Zugang beschritten zu haben, nicht leichtfertig von der Hand weisen kçnnen. Als weiteres Beispiel einer aktuellen Morphologie (Strukturmorphologie) kann die Katastrophentheorie angesehen werden, wie sie Ren Thom in seinem Buch Structural Stability and Morphogenesis begrndet hat (Thom 1975).40 Auch sie bildet eine Spielart der nachmodernen Physik und stellt eine phnomenologisch-morphologische Naturwissenschaft dar. Aller39 So Mandelbrot, zititert nach Breuer (1993, 56). 40 Wegweisend fr die Katastrophentheorie war auch seine Arbeit zu „Topological Models in Biology“ (Thom 1969). Die Katastrophentheorie wurde zudem von der russischen Schule (parallel) entwickelt (Arnold 1984). Weiterfhrende Hinweise zur Wissenschaftsgeschichte der Katastrophentheorie finden sich bei Arnold (1984, 108 f ).
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dings ist die Katastrophentheorie im Vergleich zu Mandelbrots Fraktaler Geometrie anders geartet. Ursprnglich wurde der Begriff der „Katastrophentheorie“ von Georges Cuvier verwendet, um die Gestalt toter Organismen zu beschreiben, welche fossil in ihrer Form erhalten sind. Hintergrund bilden plçtzliche Katastrophen, etwa berschwemmungen, Kometeneinschlge, Vulkanausbrche, Kollaps des Erdmagnetfeldes, u. a., welche einen abrupten Tod der Organismen herbeigefhrt haben. Thom erweitert dies ins Mathematische. In seiner Fassung stellt die Katastrophentheorie eine mathematisch-topologische Theorie dar, welche mit strukturellen Instabilitten befasst ist und geometrische Darstellungen von Gesamtheiten mçglicher Prozesse in mathematischen Zustandsrumen vornimmt. Thom erkennt, dass sich alle plçtzlichen Vernderungen der strukturellen Instabilitten topologisch als eine von „sieben Elementarkatastrophen“ klassifizieren lassen. Katastrophen werden bei Thom keineswegs, wie das Wort nahelegen mag, negativ bewertet. Vielmehr werden sie als Bedingungen des Wandels und Werdens verstanden. Thom zielt auf „a very general classification of these changes of forms, called catastrophes […].“ (Thom 1975, 8) Die Entstehung neuer Formen, die „Morphogenese“ und die „Dynamics of Forms“ (ebd., 124 ff ) wird durch strukturelle Instabilitten bewirkt. Topologische Darstellbarkeit, mathematische Anschaulichkeit und intuitive Zugnglichkeit rechtfertigen es, so Thom, von der Katastrophentheorie als „Morphology“, spezieller als „General Morphology“, zu sprechen (ebd., 101 ff ). Der katastrophentheoretische Ansatz bezieht sich auf allgemeine Strukturen, welche von den jeweiligen materiellen Trgern absehen.41 Thom zielt auf eine „purely geometrical theory of morphogenesis, independent of the substrate of forms and the nature of the forces that create them […].“ (ebd., 8) Gerade durch (substanzenthobene) topologische Strukturen kann das lebensweltlich Gegebene qualitativ beschrieben werden.42 Thom denkt an „phenomena of common experience“ wie etwa „the form of a jellyfish“, „the shape of a cloud“, „path of a falling leaf“, „the forms of terrestrial relief“, „cracks in an old wall“, „the morphology of stellar objects“, „the dislocations in crystalline lattices“, „the dendritic growth of crystals“ und „the diffusion of a drop of ink in water“ 41 Fr Thom (1975, 8) zeigt sich: „It is the topological richness of the internal dynamics that finally explains the boundless diversity of the external world.“ 42 Es liegt hier eine Art Strukturrealismus vor, vgl. allgemein zum Strukturrealismus: Worrall (1989).
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etc. (ebd., 8/9). Derartige „homely phenomena“ sind von der klassischmodernen Physik und auch von einer gen- und molekularorientierten Biologie unbercksichtigt geblieben. Sie fielen in ein disziplinres Niemandsland. Thom sieht den Grund der Nichtbeachtung darin, dass „these phenomena are highly unstable, difficult to repeat, and hard to fit into a mathematical theory, because the characteristic of all forms, all morphogenesis, is to display itself through discontinuities of the environment […].“ (ebd., 9) Damit sind methodologische Probleme der klassisch-modernen Physik, insbesondere die der Instabilitten, in den Blick genommen. Die Katastrophentheorie tritt an, Abhilfe zu schaffen. Sie trgt bei zur Erweiterung und ffnung der Physik auf Phnomenfelder, welche bislang „generally neglected“ (ebd., 8) wurden. Ein drittes Feld des phnomenologisch-morphologischen Zugangs bietet sich an. Im Umfeld der Fraktalen Geometrie und der Katastrophentheorie haben sich verwandte Zugnge etabliert, wie sie etwa von Hans Meinhardt (1996) beschritten werden. Auch hier nehmen nachmoderne Physiker Beziehung zur Natur auf. Sie sind vielfach ergriffen von ihrer Schçnheit, Eleganz und Funktionalitt. Bereits im Zugang wird Natur als phnomenale Natur sthetisch wahrgenommen. Das wird auch – entgegen der vielfach blichen Praxis – in wissenschaftlichen Publikationen nicht verschwiegen. Von einer Prozessmorphologie kçnnte gesprochen werden, insofern sich im Morphologischen die Prozesshaftigkeit ekstatisch zeigt. So ist beispielsweise Hans Meinhardt durch sinnliche Wahrnehmung von phnomenaler Natur – jenseits einer technischen Labornatur – auf sein Forschungsfeld gestoßen (Meinhardt 1996, vii): durch die „Schçnheiten von Muscheln“, ihrer Schalenpigmente und Wachstumsfalten.43 Schçnheit zeigt sich nicht nur in offenkundiger Regelhaftigkeit und perfekter Symmetrie, sondern auch in den jeweiligen Abweichungen und in vermeintlicher Irregularitt.44 Vielfach tritt eine phnomenale „Einmaligkeit“ der Pigmentmuster der Muscheln hervor (ebd., vii): Kleinste Variationen in der Umwelt oder in der Muschel selbst werden durch Instabilitten whrend der Musterentstehung verstrkt, so dass eine phnomenal wahrnehmbare Einmaligkeit hervortritt. Doch nicht nur Einmaligkeit, auch Geschichtlichkeit zeigt sich. Die Pigmentmuster 43 So stellt Meinhardt (1996, vii) heraus: „The pigment patterns on tropical shells are of great beauty and diversity.“ 44 Irregularitt ist nach Meinhardt (1996, vii) konstitutiv: „They [ = pigment patterns] fascinate by their mixture of regularity and irregularity.“
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verweisen auf die Entstehung und das Werden der Muscheln, sie zeigen gefrorene Zeitlichkeit und spiegeln die Dynamik wider, die zu ihrer Entstehung fhrte. Meinhardt spricht davon, dass „the underlying mechanism that generates this beauty is eminently dynamic. […] A certain point on the shell represents a certain moment in its history.“ (ebd.) Die Muschelpigmentmuster sind dabei eher als Spiel der Natur zu verstehen als rein funktional zu deuten. Denn, so Meinhardt: „We do not know what these patterns are good for. Presumably there is no strong selective pressure on the shell pattern. Variations are possible without severely influencing the viability of the animals.“ (ebd., vii) Natur zeige im Spiel der Formen einen berfluss und Reichtum. Im Sinne einer Morphologie wird ein berindividuell Allgemeines erkennbar. Meinhardt meint, dass „[t]he shell patterning appeared to be just another realization of a general pattern forming principle.“ (ebd., vii) In Anlehung an Goethes Morphologie kann hier ein Urphnomen oder eine Urform lokalisiert werden. Das ist aber nicht als Reduktion auf ein Gesetz zu deuten. Schließlich gilt, dass „these patterns are not explicable on the basis of the elementary mechanisms in a straight forward manner.“ (ebd.) Eine reduktive Erklrung materiell wirkender Entitten auf molekularbiologischer oder physikalischer Basis misslingt wegen der intrinsischen Instabilitt. Unter Verwendung von ad hoc-Modellen, von Computernumerik und Simulationen sowie Visualisierungsmethoden in einem „virtuellen Labor“ (ebd., i) wird eine „Morphologie der Formbildung“ mçglich.45 Methodisch nimmt Meinhardt keine quantitative, sondern eine qualitativ-visuelle Prfung der Modelle vor. Als Prfargument wird das photografische Bild einer Muschel einem modellbasierten, computernumerisch generierten Bild der Pigmentstruktur visuell gegenbergestellt (ebd., 31/81/87/149) und hinsichtlich augenflliger hnlichkeiten bewertet. Das Auge bildet das unumgehbare Mittel und Medium der Prfung.46 Zusammenfassend sind die Charaktere der Muschelpigmente ausweisbar durch Einmaligkeit/Individualitt, Dynamik/Geschichtlichkeit, Experimentalitt/Funktionslosigkeit, Formprinzip/Urphnomen. In diesem Sinne legt Meinhardt eine allgemeine Prozessmorphologie vor. 45 Meinhardt bezieht sich auf ein allgemeines Modell: das „Activator-InhibitorSystem“ (Meinhardt 1996, 23). 46 In Genese und Geltung tritt die „algorithmic Beauty of Sea Shells“ (ebd.) vermittelnd sowohl in der Natur als auch auf dem Bildschirm hervor.
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Die phnomenologisch-morphologischen Zugnge haben auch das Interesse der Wissenschaftsforschung sowie der philosophischen sthetik geweckt.47 So wird herausgestellt, dass die neue, erweiterte Physik dem Visuellen – jenseits von Illustrationen, Piktogrammen und Grafiken – einen besonderen Raum in Zugang, Genese und Geltung des Wissens einrumt. Visualisierungen stellen, so Rae Earnshaw und Norman Wiseman (1992), einen „cornerstone of scientific progress throughout history“ dar. Ein „iconic turn“ oder „pictorial turn“ wurde diagnostiziert (Boehm 1994, 13; Mitchell 1992, 89). Bettina Heintz und Jçrg Huber sehen in den computergesttzten Visualisierungen einen „genuin experimentellen Vorgang, bei dem die Bildinformation so lange verndert, gefiltert, geglttet und bereinigt wird, bis sich zwischen der Erwartung – dem ,Schatz von Mustern‘ – und dem Prsentieren eine Relation einstellt.“ (Heintz/Huber 2001, 23) Dabei ist allerdings sowohl der erkenntnistheoretische Status als auch die performative Funktion von Bildern kaum geklrt (ebd., 19). Doch wird man sagen kçnnen, dass Bildhaftigkeit, Gestaltwahrnehmung und visuelle Sinnlichkeit Mittel empirischer Evidenzzuschreibungen darstellen. Welche Rolle die Bilder im Evidenz- und Geltungsausweis der Physik spielen, wird zuknftig zu klren sein. Dass sie eine derartige Rolle spielen, ist offensichtlich – und weist auf eine neue visuelle Wissenskultur in der Physik hin, die nicht nur die Erkenntnisgenese, sondern auch die Geltung betrifft. Visuell-sthetisches, Nachmodern-physikalisches und Naturphilosophisches rcken zusammen. Friedrich Cramer etwa hat eine sthetische Theorie der Natur vorgelegt – eine „prozessuale sthetik der Natur“ (Cramer 1989).48 Ausgangspunkt ist bei Cramer, wie bei Mandelbrot, eine Kritik an der lebensweltlichen Phnomenabwendung der klassischmodernen Naturwissenschaften mit ihrem methodischen und epistemologischen Reduktionismus. Die Vernachlssigung der Phnomenalitt von Natur und die ausschließliche Orientierung an einem vermeintlichen Gesetz(eskern) sei problematisch, insofern augenfllig sei, dass „[k]eine Fichte [… phnomenal] mit der anderen identisch [ist], trotz gleicher Genetik.“ (Cramer 1995, 30) Es sind die mesokosmischen Naturph47 Beispielsweise sei der Kunstband „Verknpfungen – Chaos und Ordnung inspirieren knstlerische Fotographie und Literatur“ (Hoffmann 1992) genannt. Umfangreich sind die Zusammenhnge von Kunst und Komplexitt von Mainzer (2005, 357 f ) dargelegt worden. 48 Vgl. ferner Cramer/Kmpfer (1992), Cramer (1994), Cramer (1995) und allg. Fischer (1997).
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nomene, die Cramer zum Ausgangspunkt seiner Reflexion ber die Zeitlichkeit von Natur und zur Konzeption einer „allgemeinen Zeittheorie der Natur“ nimmt. Cramer unterscheidet zwei Zeitformen, nmlich eine „reversibel-zyklisch-schwingende“ und eine „irreversibelkippende“ Zeit (ebd., 11). Die irreversibel-kippende Zeit ist durch Instabilitten hervorgerufen. Dieser Zeityp kennzeichnet Wachstum und Strukturbildung; er wird seinerseits durch diese gekennzeichnet. Zeit zeigt sich so in „geronnener Form“, als morphologische „Prozessgestalt“. Hier schließt Cramer einen „dynamischen Begriff der Schçnheit“ an: Schçnheit als „Gratwanderung“ zwischen der Erstarrung einerseits und dem Wirren andererseits. „Der spezifische Reiz, der von Natur-Formen ausgeht, drfte darin zu suchen sein, daß auch sie Prozeßformen abbilden. Sie sind gleichsam stehengebliebene – in Wahrheit jedoch meist fortschreitende – Prozesse, die mit dem Prozeß korrelieren, in dem der Beobachter selbst begriffen ist. Das Leben der Natur korreliert mit dem Leben des Betrachters.“ (ebd., 43) Im mesokosmischen Phnotyp der Instabilitten begegnet der Mensch der Natur als Beteiligter, als Mensch, der selbst Natur qua Leib ist (vgl. Bçhme/Schiemann 1997, 19 f/134 f; Bçhme 1999, 53 f ). Innere und ußere Natur sind aufeinander bezogen, besitzen die gleichen tragenden Instabilitten der Natur. Phnomenale Natur ist dem Menschen nichts Fremdes, sondern Spiegel seines eigenen Naturseins. Der universelle Formbildungsprozess und die Chiffren von Zeitlichkeit sind der Prozess der Schçnheit der Natur, insofern sie sich als „Natur in der Zeit“ zeigt. Die naturphilosophische Konzeption Cramers weist der phnomenologisch-morphologischen Natur-Wissenschaft eine visuell-sthetische Prgung zu.49 Fazit: Alternativen in der Wissenschaft Eine Morphologie des Amorphen – das, was sich uns als mesokosmische Natur zeigt – war das Ziel Mandelbrots. „In den Ereignissen und Strukturen um uns herum bekommen wir die Welt gebrochener Symmetrien zu sehen“, so John Barrow (2001, 107). Die gebrochenen 49 Wie schon Kepler rekurriert Cramer auf den Goldenen Schnitt, auf die Fibonacci’schen Formeln und ferner auf zahlentheoretische berlegungen zu allgemeinen Wachstumsprozessen. Allgemein zum Goldenen Schnitt siehe: Mainzer (2005) und Richter/Scholz (1987).
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Symmetrien zeigen dynamisch-gefrorene Formen und weisen auf Instabilitten hin. Die phnomenologisch-morphologische Natur-Wissenschaft – als Zweig der nachmodernen Physik – kann zusammenfassend durch einige Stichworte gekennzeichnet werden, die sie einerseits von der klassischmodernen Physik abhebt, andererseits doch im Horizont von Physik bleibend lokalisiert: sie bildet eine Alternative in der Wissenschaft (Bçhme 1993b), nicht jenseits derselben.50 Als kennzeichnende Stichworte mçgen dienen: Einmaligkeit/Individualitt, Dynamik/Geschichtlichkeit, Mesokosmizitt/Lebensweltlichkeit, Bildhaftigkeit/Sinnlichkeit, Qualitativitt sowie Subjekt-Objekt-Vermittlung. Das zeigt sich im Zugang zur Natur, in der Genese und Geltung der physikalischen Erkenntnisse. Der Charakter dieser erweiterten Natur-Wissenschaft ist nicht mehr (im Erkenntnisideal und faktisch) bilderlos, unsinnlich, formal und abstrakt, sondern es ist gestattet, visuelle Erfahrungen zu machen. Fr den Evidenz- und Geltungsausweis ist das sogar notwendig.51 Ob damit tatschlich eine Alternative zum Mainstream vorherrschender Naturwissenschaft vorliegt, wird sich erst in den kommenden Dekaden zeigen. Der phnomenologisch-morphologische Zweig der nachmodernen Physik scheint zumindest Wege zu weisen.
7.3. … als ChaosTechnoscience und Econophysics Gestaltet die Welt! Zur Programmatik einer eingreifenden Physik Die nachmoderne Physik kçnnte, insofern einer ihrer Zweige soeben als phnomenologisch-morphologisch bezeichnet wurde, dem Vorwurf ausgesetzt sein, einer (Re-) „Romantisierung“ von exakter Naturwissenschaft und einer „romantischen“ Naturtheorie Vorschub zu leisten (vgl. Sokal/ Bricmont 1999, 155 f ). Man kçnnte skeptisch bleiben. Denn einerseits mag damit die effektive Macht- und Handlungsfçrmigkeit exakter Na50 „Immer mehr biologische Fragestellungen“, so B.–O. Kppers (1992, 9), rcken „ins Zentrum der physikalisch-chemischen Grundlagenforschung“. Die Physik çffnet und erweitert sich zur Biologie. Untersuchungsgegenstnde finden sich auch in der kologie und in der Evolutionsbiologie. Einen berblick geben Scheu/Drossel (2004). 51 So rettet die nachmoderne Physik die Phnomene als mesokosmische – und erfllt damit, aus gnzlich anderer Perspektive, die zentrale Forderung von klassischem Empirismus und von Neoempirismus.
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turwissenschaft unkritisch verdeckt werden: das Kontemplative wre nur Kosmetik am Rande des Mainstreams der Physik. Andererseits kçnnte gerade hierdurch abermals die Frage aufgeworfen werden, ob die nachmoderne Physik berhaupt noch als „Physik“ gelten kann. Vorwrfe dieser Art sind allerdings, aufs Ganze gesehen, nicht zutreffend. Denn die nachmoderne Physik ist vielschichtiger, wie zu zeigen sein wird: sie ist auch eingreifend, technisch, handlungsfçrmig. Sie nimmt nicht nur eine Extensionserweiterung in Richtung der Biologie und des Phnomenologisch-Morphologischen vor, sondern auch – deutlicher als in der Vergangenheit – in Richtung der Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften. Damit wird die nachmoderne Physik (auch) zu einem Promotor und Prototyp einer Technoscience,52 zu einer „neue[n] Form der Wissensproduktion“ (vgl. Gibbons et al. 1994). Wissenschaftliches, Technisches und Gesellschaftliches, insbesondere Erkennen und Gestalten, rcken noch nher zusammen als dies bisher der Fall war. An den neuen, durchaus fraktalen Rndern der aktuellen Physik entstehen inter- und transdisziplinre Forschungsprojekte. Damit wird – neben anderem – die nachmoderne Physik zum Indikator der gegenwrtigen Vernderungen im Wissenschaftsverstndnis allgemein. Neben „Technoscience“ ist von „Mode-2-Science“ (Gibbons et al. 1994), von „Hybridwissenschaft“ (Latour 1998), von „post-normal Science“ (Funtowicz/Ravetz 1993) und von „problemorientierter Wissenschaft“ (de Bie 1970) die Rede. Anknpfungspunkte ergeben sich insbesondere zur Finalisierungsthese der Starnberger Wissenschaftsforscher aus den 1970er Jahren (Bçhme et al. 1974).53 Nach ber 20-jhriger Nichtbeachtung erhlt die Finalisierungsthese erneut Aktualitt – und mit ihr ein moderater Wissenschafts- und Wissenschaftsgestaltungs-Optimismus.54 Eine Nhe zur Diskussion um Transdisziplinaritt zeigt sich, insofern damit Forschung bezeichnet wird, „die ihre Probleme mit Blick auf außerwissenschaftliche Entwicklungen definiert.“ (Mittelstraß 1992b, 250) Einige Diskussionslinien scheinen im Begriff der Technoscience zu kulminieren. So mag man fragen: Was ist zunchst unter Technoscience zu verstehen? Und dann: Wie passt hier die nachmoderne Physik hinein?
52 Das ist insbesondere programmatisch sowie wissenschaftsphilosophisch diskutiert in Latour (1987), Haraway (1995) und Nordmann (2005) sowie im berblick bei Weber (2003). 53 Selbstkritisch dazu Bçhme (1993a, 7 f ). 54 Das wird von Poser (2001, 173 f ) beleuchtet.
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Im Rahmen der Technoscience verschwimmt die traditionelle Trennung zwischen theoretischer Darstellung und technischem Eingreifen (Nordmann 2005, 214 f.). Es wandelt sich nicht nur das Wissenschaftsverstndnis, sondern die Wissenschaftskultur und das Wissenschaftskulturverstndnis, insbesondere im Hinblick auf das Verhltnis von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Alfred Nordmann identifiziert „Symptome fr den Kulturwandel von der Wissenschaft hin zur TechnoWissenschaft“ (ebd., 215).55 Diese kçnnen auch zur Charakterisierung eines Typs der nachmodernen Physik herangezogen werden. Einige der Symptome sollen genannt werden: „1. Statt darstellender Hypothesen ber die Natur: eingreifende Gestaltung einer hybriden KulturNatur. 2. Statt quantitativer Voraussagen und hochgradiger Falsifizierbarkeit: Suche nach Strukturhnlichkeiten und qualitative Besttigung. 3. Statt Artikulation von naturgesetzlichen Kausalbeziehungen oder Mechanismen: Erkundung interessanter, bzw. ntzlicher Eigenschaften. 4. Statt Orientierung auf die Lçsung theoretischer Probleme: Eroberung eines neuen Terrains fr technisches Handeln. 5. Statt hierarchische Organisation von Natur und Wissenschaft: Orientierung auf transdisziplinre Objekte und Modelle. […]“ (ebd., 215 f )56 Damit wird auch von Nordmann mit dem Begriff der „Technoscience“ ein Epochenbruch diagnostiziert.57 Vertieft kann nun gezeigt werden, dass ein epochaler Wandel zur Technoscience schon innerhalb der Physik (als nachmoderne Physik) 55 Nordmann spricht – mit Fokus auf den deutschsprachigen Raum – von „TechnoWissenschaft“ und nicht von „Technoscience“. 56 Ferner nennt Nordmann (2005, 215 f ): „6. Statt Trennung von (wissenschaftlicher) Gesetzmßigkeit und (technischer) Machbarkeit: programmatische Gleichsetzung von natrlich, bzw. physikalisch Mçglichem mit technisch Realisierbarem. […] 7. Statt organisierter Skepsis: Konvergenz eklektischer Theorien auf verbindliche Artefakte hin. 8. Statt Universalismus und einer Wissenschaftsgemeinschaft aus Gleichgestellten: […] ein Zusammenwirken vieler, ungleich situierter sozialer Akteure. 9. Statt gemeinsamem Eigentum: die Zirkulation von Produkten zwischen Instrumentenherstellern und Laboren, zwischen wissenschaftlich-technischen Einrichtungen, zwischen Labor, Industrie und Gesellschaft. 10. Statt Interessenlosigkeit und Verpflichtung auf ,Wahrheit‘ als einzig geltendem Interesse: weder die wissenschaftliche Suche bloß nach besseren Theorien noch die technische Einwirklung bloß von besseren Gerten.“ 57 Sie wird von Nordmann belegt durch die Nanoforschung und Bionik. Klassische Disziplinen, wie die der Physik, werden nur insofern bercksichtigt, als darauf verwiesen wird, dass Physiker an der Nanoforschung entscheidenden Anteil haben.
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hervortritt – und das jenseits der traditionellen, stark verkrzenden Frage, ob Technikwissenschaften als angewandte Naturwissenschaften verstanden werden kçnnen oder nicht.58 Die Nordmann’sche TechnoscienceThese erfhrt eine Verschrfung: Schon die aktuellen Naturwissenschaften selbst – wie die Physik – tragen Elemente von ihr in sich, die sie zur Technoscience qualifizieren. Technoscience liegt nicht allein im „Niemandsland“ (Wiener 1968, 21) jenseits der klassischen Disziplinen, sondern in diesen selbst. „Disziplinaritt“ erweist sich so als brchiger und flchtiger Begriff. Die hier zu begrndende These, nmlich nachmoderne Physik als relevanten Teilbereich der Technoscience anzusehen, soll im Folgenden belegt werden. Die Ausfhrungen kçnnen so als ein Beitrag zu einer Wissenschaftsphilosophie der Technoscience verstanden werden. ChaosTechnoscience – Erweiterung in die Ingenieurwissenschaften „Die Frage: Was ist dein Argument, was ist dein Beweis wert?“ drngt sich als „Legitimationsfrage“ in der „Erforschung der Instabilitt“ auf, so Jean-FranÅois Lyotards (1986, 159) Diagnose des wissenschaftlichen Wandels zur „Pragmatik“59. Die damit verbundene „Reflexivitt“ meint eine „Immanenz des Diskurses ber die Regeln, die seine Gltigkeit ausmachen.“ (ebd.) Was bei Lyotards Postmodernem Wissen und bei Nordmanns Technoscience als Kriterien fr einen Wandel angegeben wird – etwa „statt [klassisch-moderner] Orientierung auf die Lçsung theoretischer Probleme, [nun nachmoderne] Eroberung eines neuen Terrains fr technisches Handeln“ (Nordmann 2005, 215) – zeigt sich in einer expliziten „Pragmatik“ der nachmodernen Physik. Als an der Universitt (Essen-) Duisburg 1996 ein Lehrstuhl fr „Physik von Transport und Verkehr“ im Bereich der theoretischen Physik eingerichtet wurde, mag das einige Physiker und Wissenschaftstheoreti58 Beispiel fr die wenigen, klassischen wissenschaftsphilosophischen Zugnge zu den Ingenieur- und Technikwissenschaften sind Bunge (1966, 329 f ) und Lenk (1975, 268 f ), die jeweils unterschiedliche Antworten auf die Fragen geben, ob Technikwissenschaften angewandte Naturwissenschaften sind. 59 Damit kçnnte von einem neuen „Pragmatismus“ in der Physik gesprochen werden. Hier soll kein wissenschaftsphilosophisch geschrfter Begriff des Pragmatismus (James, Peirce, Dewey, u. a.) verfolgt werden, sondern lediglich auf die gngige erkenntnistheoretische Gegenberstellung von pragmatistischer und korrespondenztheoretischer Wahrheitstheorie verwiesen werden.
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ker in ihrem Physikverstndnis verunsichert haben. Der dortige Physiker Michael Schreckenberg untersucht nmlich keine materiell-energetischen Phnomene, wie das in der klassisch-modernen Physik blich ist. Vielmehr modelliert und simuliert er Verkehrs- und Stauphnomene auf allgemeinen Transportwegen. Dazu werden theoretisch-mathematische Zellular-Automaten- und Agenten-Modelle verwendet. Diese werden kontextbezogen spezifiziert und mit gemessenen Daten kallibriert, um sie fr konkrete Objektsysteme wie etwa den Verkehrsfluss in Duisburgs Zentrum oder auf dem Kçlner Autobahnring zu verwenden. Ziel des hieraus entwickelten Lehr- und Studienschwerpunktes im Rahmen der theoretischen Physik ist es, Studierenden „auf naturwissenschaftlicher Basis Kenntnisse ber die Modellierung und Computersimulation von Transport- und Verkehrsproblemen unter Einbeziehung von Aspekten der Wirtschaftlichkeit und der Umweltvertrglichkeit [zu] vermitteln.“60 Die Extensionserweiterung des Physikverstndnisses in die Ingenieurund Planungswissenschaften zeigt sich begrifflich und inhaltlich auch in einer Monographie, welche von Dirk Helbing stammt.61 Sie lsst bereits im Titel den nachmodernen Aspekt von „Physik“ anklingen: „Verkehrsdynamik: Neue physikalische Modellierungskonzepte“ (Helbing 1997; vgl. Helbing/Schreckenberg 1999). Helbing versteht Physik als eine Strukturwissenschaft zur Modellbildung, Modellsimulation und Modellerklrung. Als solche ist sie weitgehend unabhngig von konkreten physischen Objektsystemen. Die im Rahmen der Physik entwickelten mathematischen Modelle, wie sie in der Nichtlinearen Dynamik, Synergetik, Chaostheorie, Fraktalen Geometrie, statistischen Physik, Meteorologie u. a. etabliert sind, kçnnen zur Modellierung von allgemeinen Objektsystemen verwendet werden.62 Das kennzeichnet die TechnoscienceDimension der nachmodernen Physik.63 Sie weist eine deutliche Nhe zu den Ingenieurwissenschaften auf, ohne deshalb „weniger“ Physik zu sein. Mit dem Hinweis auf die universitren Institutionalisierungen sowie auf Tagungen und Publikationen wird freilich unterstellt, dass Physik auch das ist, was physikalische Institutionen, was Physiker und was die scien60 Siehe bspw. die Homepage: http://www.traffic.uni-duisburg.de/ 61 Gerade die Arbeit im Umfeld von Haken und Weidlich in Stuttgart haben Helbings Zugang geprgt. 62 Dieser Trend der Extensionserweiterung der Objektsysteme lsst sich auch anhand der Publikationen in einschlgigen Journalen zeigen. Schreckenberg, Helbing und Pçschel publizieren in physikalischen Journalen, wie Physcia D, Physical Review E, Nature u. a.. 63 Die von Nordmann (2005, 215 f ) formulierten 10 Kriterien sind allesamt erfllt.
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tific community der Physiker als Physik akzeptieren. Um diese (deskriptiven) Tatsachen wird auch jede (normative) Wissenschaftstheorie nicht herumkommen. Die Tatsachen fordern die Wissenschaftsphilosophie heraus, nach den Hintergrnden der Vernderung im Physikverstndnis zu fragen und diese zu explizieren: d. h. Instabilitten zu thematisieren. Der hier vorgestellte Typ der nachmodernen Physik ist einerseits stark mathematisiert, andererseits weist er einen expliziten Bezug zur technischen Wirklichkeit und zum eingreifenden Optimieren auf. Betrachten wir einige disziplinre Extrempositionen, um zu zeigen, dass Transportund Verkehrsphnomene auch zur nachmodernen Physik zu zhlen sind. (1) Mathematik: Wre „Physik von Transport und Verkehr“ lediglich eine formale mathematisierte Theorie ohne raumzeitlichen Gegenstandsbezug, wre sie eine Teildisziplin der Mathematik. Als nachmoderne Physik wird hier jedoch der potenzielle Bezug zur materiellen Welt herausgestellt. (2) Ingenieurwissenschaften: Wre sie ausschließlich anwendungsbezogen, rein lçsungs- und handlungsorientiert, so wre „Transport und Verkehr“ allein in den Ingenieurwissenschaften angesiedelt, wie das Fachgebiet Verkehrsingenieurwesen. Doch ein abstraktes und theoretisches Wissen um mathematische Strukturen und physikalische Modellklassen scheint fr die konkrete Modellierung des komplexen Systems „Verkehr“ unabdingbar. (3) Sozialwissenschaften: Wrde die nachmoderne Physik das Fahrerverhalten, kollektives wie individuelles Handeln, in den Vordergrund stellen, wre sie der Sozial- und Verhaltenspsychologie bzw. den Sozial- und Kulturwissenschaften zugeordnet. Dieser Typ der nachmodernen Physik soll im Folgenden als „ChaosTechnoscience“ bezeichnet werden, insofern diese Physik eng mit den Ingenieur- und Technikwissenschaften verbunden ist. Die ChaosTechnoscience bestreitet traditionelle disziplinre Zugnge nicht. Doch „Transport und Verkehr“ ist konkret und abstrakt, pragmatisch und theoretisch, technisch und mathematisch, einmalig und regelbehaftet zugleich. Ein hybrides Objektsystem liegt vor. Es erfordert eine bersetzung von abstrakten Strukturen in konkrete Modelle. Mit Michel Serres kann man von „Zirkulationen“ sprechen: die ChaosTechnoscience induziert und moderiert die bersetzungen (vgl. Serres 1991). Sie schließt an Leistungen der klassisch-modernen Physik an und erweitert diese. Sie ermçglicht die Vermittlung von Makrophnomenen und Mikroelementen, wie sie schon in der Statistischen Thermodynamik auftritt.64 Dieses 64 An anderer Stelle hatten wir von einer Brckenfunktion gesprochen (Kapitel 4).
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methodische bersetzungs- und Vermittlungspotenzial kennzeichnet allgemein die nachmoderne Physik. hnlich verhlt es sich mit Schwerpunkt-Forschungsprogrammen, welche in den 1990er Jahren die bundesdeutsche Forschung mitgeprgt haben, etwa die „Untersuchung nichtlinear-dynamischer Effekte in produktionstechnischen Systemen“ (VW-Stiftung) oder die „Technische[n] Anwendungen von Erkenntnissen der Nichtlinearen Dynamik“ (Bundesministerium fr Bildung und Forschung). Dass in der ChaosTechnoscience ein Anwendungs-, Innovations- und Technologietransfer-Potenzial gesehen wird, ist nicht verwunderlich. Zwei Ergebnisse sttzen diese Erwartung: Erstens kçnnen auch ganz einfache Systeme ein sehr kompliziertes und wirr erscheinendes Verhalten zeigen. Aus alleiniger Kenntnis der Phnomene und ohne Zuhilfenahme nichtlinearer Analysemethoden wrde dies auf totale Unregelmßigkeit hindeuten und keine Gesetzmßigkeiten als Generierungsmechanismen vermuten lassen. Die ChaosTechnoscience nhrt aber die Hoffnung, dass dem wirr erscheinenden Verhalten einfache Gesetzmßigkeiten zugrundeliegen und somit eine Optimierung mçglich ist. Zweitens lsst sich selbst in komplizierten Realsystemen, in denen viele Komponenten zusammenwirken, das Verhalten oft durch wenige Grçßen qualitativ beschreiben. Eine Beschreibung eines derartigen Verhaltens („chaotischer Attraktor“) kann eine lokale Prognose mit dem Ziel einer Optimierung ermçglichen. – So zeigen sich die Ziele der ChaosTechnoscience in einigen Bereichen technischen und betrieblichen Handelns: Monitoring und Betriebsberwachung, Steuerung und Regelung sowie Planung und Konstruktion. Der damit verbundene pragmatische Anspruch auf handlungsrelevantes Eingriffswissen ist keineswegs als bescheiden anzusehen. Der Vorwurf, die „Chaostheorie“ sei eine „Modetheorie“, wie es der Teilchenphysiker Hans Graßmann (1999, 232 f ) aus seinem klassisch-modernen Physikverstndnis heraus formuliert, trifft die nachmoderne Physik nicht. Graßmann kann nicht zuletzt anhand von Beispielen widersprochen werden. Die Beispiele verdeutlichen die Diagnose einer Technoscience im Rahmen der nachmodernen Physik.65 1. Beispiel: Produktionslogistik, Produktionsplanung und nachmoderne Physik:66 Die Anforderungen an die Produktionslogistik und an die 65 Die Beispiele belegen zudem die vielfltigen Quellen von Nichtlinearitten und Instabilitten in technologischen und logistischen Systemen. 66 Siehe die Arbeiten von Wiendahl/Ahrens (1994), Tçnshoff/Glçckner (1994), Wiendahl/Ahrens (1996), Wiendahl et al. (1997) und Beckmann et al. (1998).
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Organisation der Produktion steigen. Produktionsprozesse werden angesichts eines beschleunigten Wettbewerbsdrucks an den Grenzen des technisch und organisatorisch Machbaren betrieben. Das bringt unerwnschte Schwankungen und exzeptionelle Ereignisse mit sich, welche sich negativ auf das Produktionsergebnis auswirken. Nachmodern-physikalische Methoden sind zur Untersuchung von Produktionsanlagen erfolgversprechend, weil komplexe Produktionsprozesse vielfltige Quellen fr Nichtlinearitten und Instabilitten aufweisen. Mit der Zielsetzung, ein besseres analytisches Verstndnis fr Produktionsprozesse zu gewinnen und durch geeignete, flexible und aufwandsarme Steuerung und Regelung die Verfgbarkeit zu erhçhen, konnten mit nachmodernphysikalischen Methoden Prozessdaten, beispielsweise eines Schweißroboters in einer komplexen Produktionsanlage eines Automobilherstellers, analysiert werden (Wiendahl et al. 1997). Im Unterschied zu den gngigen klassisch-statistischen Methoden der gegenwrtigen Ingenieurwissenschaften macht sich die Methode der Nichtlinearen Datenanalyse den dynamischen Aspekt und die globale Vernetzung des komplexen Prozesses zunutze.67 Die mathematische Darstellung ermçglicht die Gewinnung von charakteristischen Kenngrçßen und von Hinweisen auf gesetzmßige Zusammenhnge.68 Diese werden diagnostisch als Indikatoren fr die Fehlerfrherkennung herangezogen. Damit kann ein Beitrag zur Optimierung von Produktionsanlagen geleistet werden. 2. Beispiel: Maschinenbau und nachmoderne Physik:69 Im Maschinenbau spielen Rotordynamiken und Rundlaufeigenschaften eine wesentliche Rolle: eine Welle mit technisch nicht eliminierbarer kleinster Unwucht rotiert in einem Lager mit Spiel (Simon 1997).70 Quelle der Instabilitten sind sprunghafte Vernderungen der elastischen Eigen67 Insbesondere mit den Methoden der Nichtlinearen Datenanalyse, des SurrogatTests, der Methode der Falschen-Nchsten-Nachbarn, der Bestimmung der Korrelationsdimension und der Nichtlinearen Prdiktion. 68 Beispielsweise konnten Hinweise zwischen dem Schweißzangenwechsel des Roboters, stçrenden Schwankungen und exzeptionellen, scheinbar irregulren Ereignissen entdeckt werden (vgl. Wiendahl et al. 1997). Mit den klassisch-statistischen Methoden der gegenwrtigen Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften wren diese Ereignisse nicht detektierbar gewesen, sondern im statistischen „Rauschen“ der Mittelwertbildungen untergegangen. Die nachmoderne Physik macht sich komplexe Strukturen der (gesetzmßigen) Dynamik zu nutze, die kein weißes Rauschen zufallsbedingter Einzelereignisse sind. 69 Siehe die Arbeiten von Moon (1998), Weck/Hilbing (1998), Hilbing et al. (1999) und Beckmann et al. (1998). 70 Klassisches Ursprungsmodell ist der Jeffcott-Rotor (Jeffcott 1919).
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schaften des Lagermaterials – wenn die rotierende Welle in Lagerkontakt gelangt und einen Stoß erfhrt („Impact“-Phnomene; Bishop et al. 1996). Ziel der Analyse der Rotordynamik ist eine Erhçhung der Bearbeitungsqualitt und eine frhzeitige Diagnose von mçglichen Stçrungsursachen.71 Mit Methoden der Nichtlinearen Datenanalyse, welche beispielsweise Daten von Weg- und Kraftsensoren an Maschinen verarbeitet, wurden Komplexittskenngrçßen extrahiert. Diese ermçglichen eine Systemberwachung und einen Systemeingriff. Weil nicht nur zufllige, sondern insbesondere auch regelbehaftete Verhaltensweisen der Dynamik von Werkzeugmaschinen zu Grunde liegen, kçnnen Verfahren der flexiblen nichtlinearen Regelung72 verwendet werden. 3. Beispiel: Fertigungstechnik und nachmoderne Physik:73 Bei Zerspanprozessen – einem zentralen Bereich der Fertigungstechnik – werden von einem Werkstck Werkstoffschichten in Form von Spnen zur nderung der Werkstckform mechanisch abgetrennt. Die Abtrennung fhrt zu Schwingungen zwischen Werkstoff und Werkstck, die die Oberflchengte reduzieren. Neben der Reduzierung dieser Effekte ist aus betrieblicher Perspektive von Interesse, eine Prognose der Standzeit der Anlage und ihrer verschleißbedingt terminierten Einsatzfhigkeit vorzunehmen. Die nachmoderne Physik ermçglicht Optimierungen. Bei der Zerspanung gibt es fr nichtlineare und instabile Zusammenhnge viele Quellen. In der Spanentstehungszone existieren inhomogene Spannungs- und Temperaturverteilungen, nichtlineare Spannungs-Dehnungs-Abhngigkeiten und tribologische Effekte. Mit diesen Gesetzmßigkeiten ist eine Grundlage fr die Verwendung der Methoden der nachmodernen Physik gegeben. So konnten beispielsweise durch Nichtlineare Datenanalyse von gemessenen Fertigungsmaschinendaten (ber Kçrperschall) Hinweise auf die Existenz von gesetzesmßigem, aber irregulr erscheinendem Verhalten („dynamische Instabilitt“) und auf die Anzahl der prozessrelevanten Einflussgrçßen ermittelt werden. Durch nichtlineare Modellierungsanstze wurde von Grabec (1986) ein vierdi71 Aus physikalischer Perspektive konnte beispielsweise unter Verwendung des physikalischen Wissens ber lokal-empirische Gesetzmßigkeiten der Rotordynamik ein nichtlineares Gesamtmodell konstruiert werden, welches diagnostische und klassifikatorische Hinweise auf die mçglichen dynamischen Eigenschaften liefert (Moon 1998; Hilbing et al. 1999). Die Simulation dieses dynamischinstabilen Gesamtmodells zeigt, dass je nach Drehzahl und Startbedingung ganz verschiedene, auch dynamisch-instabile Bewegungsformen auftreten kçnnen. 72 Dies basiert auf der Controlling-Methode von Ott, Grebogi und Yorke (1990). 73 Siehe die Arbeiten von Grabec (1986), Gradisek et al. (1996) und Moon (1998).
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mensionales Zerspanprozess-Modell („Cutting-Process“) entwickelt.74 Heute stellen lokale Prognosen – basierend auf nachmodern-physikalischen Methoden – in der betrieblich-technologischen Praxis eine Grundlage zur Erhçhung der Prozesssicherheit dar.75 4. Beispiel: Verfahrenstechnik und nachmoderne Physik:76 In der Verfahrenstechnik sind die Einfluss-Wirkungs-Zusammenhnge oft nichtlinear und instabil. Quellen fr instabile Dynamiken liegen in der Struktur der zugrundeliegenden chemischen Reaktionsgleichungen und in den Transport- und Durchmischungsvorgngen, die der Hydrodynamik verwandt sind (Qammar et al. 1996). Ein Beispiel sind Wirbelschichtreaktoren („Fluidized Bed“; Breu 1997). Makroskopische kollektive Verhaltensweisen von Teilchen in der Flssigkeit treten hier auf. Diese kçnnen periodisch, aber auch dynamisch-instabil sein. Beispielsweise kçnnen kritische Parameter, bei welchen ein bergang von einem Bewegungszustand zu einem anderen stattfindet, mit Hilfe nachmodern-physikalischer Analysemethoden aus empirischen Zeitreihen bestimmt werden.77 5. Beispiel: Eisenbahndynamik und nachmoderne Physik:78 Im Zentrum der Eisenbahntechnik steht der selbstlenkende eiserne Radsatz mit konischen Rdern. Bei hçheren Geschwindigkeiten schaukeln Eisenbahnfahrzeuge im Gleis von einer auf die andere Seite (Sinuslauf ), so dass es zum Entgleisen kommen kann. Die kritische Entgleisungsgeschwindigkeit und das Stabilittsverhalten hngen von der Konstruktion der Gleise und des Eisenbahnfahrzeugs ab. Quelle der dynamisch- und strukturell-instabilen Verhaltensweise der Schienenfahrzeuge sind (a) die nichtlinearen Schlupfkraftbeziehungen zwischen Rad und Schiene und (b) die Spurkranzkraft (Flanschkraft), die eine Art stoßenden Oszillator (Impact-Oscillator) darstellen. Die hier auftretenden Krfte bestimmen das Stabilittsverhalten der Schienenfahrzeuge. Stabilittseigenschaften sind aus zwei Grnden von Interesse: aus konstruktiver Vorsorge vor 74 Anhand dieses Modellsystems konnte das Werkzeug-Werkstck-Schwingungsverhalten untersucht werden. 75 Man erhlt bspw. diagnostisch relevante Kenngrçßen zur Fehlerfrherkennung aus empirischen Zeitreihen. 76 Siehe Breu (1997), Schouten/van den Bleek (1992) und Qammar et al. (1996). 77 Hilfreich ist es zudem, die Komplexittskenngrçßen der Nichtlinearen Zeitreihenanalyse zur geeigneten Prozessfhrung zu verwenden. Durch die nichtlineare Methode der Symboldynamik und der Symbolstatistik konnte ferner eine gezielte Systemberwachung vorgenommen und ein Monitoringverfahren entwickelt werden. 78 Siehe Xu et al. (1990), True (1993) und True et al. (1997).
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Entgleisungen und wegen des Komforts fr die Reisenden. Beispielsweise wurden aus der Perspektive der nachmodern-physikalischen Modellierung die neuen vierachsigen Drehgestelle der australischen Eisenbahnwaggons unter Verwendung eines vierzehndimensionalen mathematischen Differenzialgleichungs-Modells auf Stabilitt hin untersucht. Es zeigte sich, dass diese instabiler sind als die konventionellen zweiachsigen Drehgestelle (Xu et al. 1990). Kritische Geschwindigkeiten und bergnge zwischen verschiedenen Bewegungsformen wurden als Kenngrçßen bestimmt, um Optimierungen zu ermçglichen.79 Dass die nachmoderne Physik den Bereich der physikalisch zugnglichen und als erkennenswert angesehenen Objektsysteme der klassischmodernen Physik erweitert, kçnnte noch anhand weiterer Beispielprojekte belegt werden, an welchen Physiker aus physikalischen Instituten maßgeblich beteiligt sind.80 Ob die heutige Einschtzung der großen Potenziale der nachmodernen Physik mit ihren vernderten Zugangsweisen und Methoden berechtigt ist, wird sich erst im nchsten Jahrzehnt zeigen.
79 Diese Erkenntisse htten in der Planungs- und Konstruktionsphase der Waggons verwendet werden kçnnen, um Optimierungen zu erreichen. 80 Weitere Beispiele sind: (1) Anwendungen von Methoden der Nichtlinearen Dynamik in einem Mechatronikunternehmen, Carl-Schenck AG, Darmstadt, (2) Stabilisierung chaotischer Systeme im Automobilbereich, DaimlerChrysler-Forschungszentrum, Frankfurt, (3) das Verhalten des Lichtbogens beim Plasmaschmelzschneiden und dessen Einfluss auf die Qualitt der geschnittenen Bleche, Institut fr Unterwasserschneidtechnik, Hannover, (4) Beitrge der Nichtlinearen Dynamik zur Werkstoffcharakterisierung, Institut fr Physik, Halle, (5) Analyse dynamischer Stçrungen in Przisionsmaschinen auf Basis nichtlinearer Verfahren, Institut fr Produktionstechnologie, Aachen, (6) Selbsterregte Reibschwingungen in nichtlinearen elastomechanischen Reibungssystemen, Physikalisches Institut, TU Szczecin, (7) Nichtlineare Kontaktmodelle beim Außenrundschleifen, Institut fr Materialforschung/Institut fr experimentelle Physik, Universitt Hannover, (8) Off-Shore-Dynamik und Schiffsstabilisierung, Institut fr Physik, Universitt Kiel. U.a.
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Econophysics – Erweiterung in die Finanz- und Wirtschaftswissenschaften Nicht nur in den Ingenieurwissenschaften, auch in den Finanz- und Wirtschaftswissenschaften gibt es Objektsysteme, zu welchen die nachmoderne Physik Zugang findet:81 nicht nur materiell-artefaktische Technik, sondern auch Analyse-, Entscheidungs- und Handlungs-Techniken im Soziokosmos. Hier wie dort werden nachmodern-physikalische Modellbildungs- und Datenanalysemethoden verwendet und weiterentwickelt. Sie dienen nicht nur der Erkenntnis ber Objektsysteme, sondern der Optimierung von Objektsystemen. Das ist nicht primr als Anwendung von etwas zu verstehen, das bereits fertig vorliegt, sondern hat Einund Rckwirkungen auf die Theorien. Zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung kann in den Technosciences nicht mehr scharf unterschieden werden. Zum Verstndnis von Objektsystemen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften haben Physiker schon immer – seit den 1960er Jahren aber verstrkt – beigetragen. Theoretische Volkswirtschaftler und theoretische Physiker finden gemeinsame Zugnge. Physikalische Modelle werden in die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften transferiert. (1) Als Klassiker einer Modellierung çkonomischer Systeme ist Goodwins volkswirtschaftliches Ruber-Beute-Modell zu bezeichnen (Goodwin 1967). Auf Basis von Arbeit und Kapital – so die Modellannahme – wird Ertrag produziert. Die zeitlichen Variationen der Arbeits- und Kapitalkurve werden durch bekannte Modellgleichungen vom Typ Lotka-Volterra dargestellt. (2) Einen wesentlichen Meilenstein im Bereich der nachmodern-physikalischen Modellierung çkonomischer Prozesse bilden die Arbeiten des konometrikers Richard Day. 1982 publizierte er ein neoklassisches Wachstumsmodell mit dem Titel „Irregular Growth Cycles“ (Day 1982). Day fhrt eine Modellbertragung durch und verwendet die fr allgemeine Wachstumsprozesse charakteristische logistische Abbildung zur Beschreibung neoklassischer Systeme der konomie (vgl. Schmidt 1995). Die erklrungstheoretische Adquatheit eines derartigen Zugangs liegt fr Day insbesondere in der Plausibilitts-berprfung der zugrundeliegenden qualitativen Annahmen. (3) Der Astrophysiker Gregor Morfill (1991, 70 f ) untersucht die Investitionszyklen in einer Volkswirtschaft unter Verwendung nichtlinearer Modellierungsmethoden. (4) Der Produktionswissenschaftler Hans Kurt Tçnshoff hat 81 Dazu vgl. allg.: Mainzer (1996a), Mainzer (1999) und Kuhlmann (2005).
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zusammen mit dem Physiker Marc Glçckner (1994) auf Grundlage der nachmodern-physikalischen Modellierungsanstze ein Trichter- und Flussmodell von Produktionsprozessen, insbesondere logistischer Aspekte gekoppelter Produktionslinien, entwickelt. (5) Kunal Sen (1992) konstruiert ein dynamisches Wirtschaftsmodell unter Bercksichtigung von Investition, Produktionsstock und Kapital einer Marktwirtschaft. (6) Die Mathematiker, Physiker und konomen Gustav Feichtinger und Michael Kopel (1994) modellieren niedrigdimensionale çkonomische Konjunktursysteme und Nachfragemodelle – im Sinne von John M. Keynes – unter Verwendung nichtlinearer und dynamisch-instabiler Gleichungstypen. Sie zielen damit auf eine Kritik der Dominanz neoklassischer Modelle in der mathematisch-formalen Ausrichtung der theoretischen Volkswirtschaftslehre. – Heute schließlich wird auch von „Butterfly Economics“ gesprochen (Ormerod 1998). Der auf dynamische Instabilitt hinweisende Schmetterlingseffekt wird zur (nicht nur metaphorischen) Beschreibung wirtschaftlicher Dynamiken herangezogen. Neben der theoretischen Volkswirtschaftslehre findet die nachmoderne Physik auch einen Zugang zu Objektsystemen der Finanzwirtschaft. Der neue Begriff der Econophysics (und neuerdings der Soziophysics) indiziert eine Erweiterung der Physik (McCauley 2004; Mantegna/ Stanley 2000).82 Gelegentlich wird auch von „financial engineering“ gesprochen. Die Beziehungen zwischen physikalischen und Finanz-Problemen haben eine lange Geschichte, die sptestens mit der Entdeckung einer Art „Brown’schen Molekularbewegung“ und so genannten „Random Walk“-Prozessen in der Finanzwelt durch den Mathematiker und Physiker Louis Bachelier (1900) begann. Albert Einstein hatte entscheidenden Anteil daran durch seine molekulartheoretische Erklrung der
82 Vgl.: www.infm.it/econophysics und www.econophysics.org. Das Physik Journal 5/2003 hatte den Schwerpunkt „Physik sozio-çkonomischer Systeme“. Die Beitrge stellen „ein neues Forschungsgebiet [dar], das noch mit viel Skepsis bedacht wird“, sich aber sukzessive zu etablieren beginne (S. 33 ff ). Unter dem Titel „Econophysics“ wurden und werden an den Universitten Bayreuth, Mnster, Mainz und anderswo Vorlesungen und Seminare angeboten. Seit einigen Jahren findet sich auch im Rahmen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft ein Arbeitskreis „Physik sozioçkonomischer Systeme (AKSOE)“, vgl. www.dpg-fachgremien.de/aksoe/ . Eine beispielhafte „International Conference on Noise and Fluctuations in Econophysics and Finance“ fand in Austin/USA vom 23 – 26 Mai 2005 statt. Das sind nur einige Beispiele, die belegen, dass sich eine wachsende scientific community von Econophysikern zu etablieren beginnt.
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Brown’schen Zitterbewegung (1905).83 Die heutige Physik der Instabilitten findet darber hinaus Zugnge zu fluktuierenden Finanzdaten, etwa zu Kursen von Aktien, Wertpapieren, Derivaten, Hedge-Papieren. Diese werden mit Modelltypen beschrieben, klassifiziert oder gar simuliert, die in der aktuellen Physik etabliert sind, wie Lawinenbildung, Chaos, Turbulenz, selbstorganisierte Kritikalitt, Phasenbergnge, Fraktale, u. a.84 Benoit Mandelbrot hat „Fractals and scaling in finance“ untersucht (Mandelbrot 1987). Die Fraktale Geometrie findet hier Verwendung und Weiterentwicklung, insofern Finanzdaten Strukturen aufweisen, welche sich mit Mandelbrots Methoden charakterisieren und klassifizieren lassen. hnlich sprechen die Physiker Wolfgang Paul und Jçrg Baschnagel von „Stochastic Processes: From Physics to Finance“ (Paul/Baschnagel 2000). Und Rosario Mantegna und Eugene Stanley haben in ihrer „Introduction to Econophysics“ mathematische Modelle von der Chaostheorie bis hin zu Stochastischen Prozessen verwendet (Mantegna/Stanley 2000). Die Econophysics steht als Forschungsprogramm erst am Anfang, ebenso wie die wissenschaftsphilosophische Reflexion darber (vgl. Schmidt 2001a; Kuhlmann 2005). Doch zeigt sich schon heute ein Erfolg der physikalisch-nachmodernen Zugangsweise: Detailliertere Preisberechnung und Formulierung von Hedging-Strategien bei Derivaten, Frhwarnsysteme bei Bçrsencrashs, grundlegendes Verstndnis von Marktheterogenitten und Synchronisationen von Hndlern, etc. Die finanzwirtschaftliche Perspektive der nachmodernen Physik hat an bundesdeutschen Universitten bereits zu vernderten Lehrveranstaltungen gefhrt. Finanzwirtschaftliche Spezialvorlesungen und Seminare haben sich in der Physikerausbildung etabliert. Sie werden wohl die fachdisziplinre Sozialisation von Physikern prgen.85
83 Die Econophysics bedient sich vielfach der auf Brown und Einstein zurckgehenden berlegungen: Das Zittern von Atomen hat konzeptionell gesehen sehr viele Gemeinsamkeiten mit dem Schwanken der Bçrsenkurse. 84 Etwa auch Random Walk, Spinglser, Monte-Carlo-Simulationen. 85 Einige Beispiele: Modelle der Brown’schen Bewegung, der Black-Scholes-Theorie fr Optionen, der Gauss- und Levy-Verteilungen und der Korrelationen und des Skalenverhaltens in Finanzmrkten werden etwa in Vorlesungen und Seminaren der Universitten Mnster, Mainz, Basel und Bayreuth in den Fachbereichen Physik diskutiert. Eine Vorlesungsreihe an der Universitt Mainz ist in einem Buch mit Titel „Stochastic Processes: From Physics to Finance“ zusammengefasst (Paul/Baschnagel 2000).
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All das geht nicht nur ber das klassisch-moderne Physikverstndnis, sondern auch ber klassisch-erkenntnistheoretische Engfhrungen hinaus: Nicht nur Erklrungserfolge, sondern mehr noch Eingriffs-, Gestaltungsund Handlungserfolge werden als erweiterte und modifizierte Wahrheitskriterien herangezogen. Vor diesem Hintergrund kann den Teilchenund Hochenergiephysikern Sokal (1999) und Graßmann (1999) widersprochen werden. Graßmann hatte in Anlehnung an das klassisch-moderne Einheitsparadigma behauptet: Die Chaostheorie ist eine reine „Modetheorie“. „Ich weiß trotz der Lektre all jener Bcher ber die Chaostheorie bis heute nicht, was sie eigentlich soll. In diesen Bchern steht nichts, was man verstehen kçnnte. Denn das Falsche oder Inhaltslose lsst sich nicht verstehen.“ (Graßmann 1999, 232) Zumindest eine Relevanz der nachmodernen Physik im technischen Handeln werden Sokal und Graßmann zur Kenntnis nehmen mssen. Finalisierung und postparadigmatische Aspekte der nachmodernen Physik In der ChaosTechnoscience und Econophysics verschmelzen Physik und Technik noch weitgehender und expliziter, als das ohnehin schon der Fall war. Zum Verstndnis der Durchdringungen von Physik und Technik, verbunden mit konomie und çkonomischen Zwecken, kçnnte – jenseits der programmatisch prgenden Ausfhrungen von Francis Bacon – ein Ansatz hilfreich sein, der in den 1970er Jahren formuliert wurde. Damals entwickelte das Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt das so genannte Finalisierungsmodell (Bçhme et al. 1972; 1974; 1977; 1978), das die epochalen Wandlungen in den Zugngen und Zwecken wissenschaftlichen Handelns beschreibt und historiographisch wissenschaftsdynamische Entwicklungslinien zu rekonstruieren versucht. Das Finalisierungsmodell erfhrt seit einigen Jahren erneute Rezeption. Hans Poser nimmt das Finalisierungsmodell in seiner „Wissenschaftstheorie“ (2001, 173 f ) auf, um darzulegen, dass und wie sich wissenschaftstheoretische Reflexionen seit der Popper-Kuhn-Kontroverse verndert haben, insbesondere insofern „neue Formen der Wissenschaften“ entstanden sind. Die Finalisierungsthese, die ein Umschlagen von einer darwinistisch „naturwchsigen“ zu einer „intentionalen, d. h. zu einer bewussten, zielgerichteten, geplanten Wissenschaftsentwicklung“ (Bçhme 1993a, 233) in bestimmten Situationen („reifer Wissenschaf-
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ten“) diagnostiziert, scheint gerade jenes vermischte Phnomen zu beschreiben, das heute große Aktualitt – in ChaosTechnoscience und Econophysics – besitzt: die „Anwendungsgrundlagenforschung“ (Bçhme et al. 1978, 215). Diese stellt einen Mischtyp zwischen reiner Grundlagenforschung und bloßer Anwendung bereitliegender Theorien dar.86 Auch fr eine Kennzeichnung von ChaosTechnoscience und Econophysics ist – zunchst – die Kritik der Starnberger Wissenschaftsforscher an klassischen Konzepten von Wissenschaftstheorie und von theoretischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung (Popper, Kuhn, u. a.) weiterfhrend. Denn die klassischen Konzepte vermçgen die relative Stabilitt klassisch gewordener Theorien ber revolutionre Umbrche hinweg nicht zu erklren. Die Klassische Mechanik etwa behlt auch nach den wissenschaftlichen Revolutionen durch Relativittstheorie und Quantenmechanik ihre relative Gltigkeit und mithin ihre empirische Evidenz bei. Sie stellt eine (begriffliche, messtheoretische, inhaltlich-theoriebasierte) Voraussetzung fr die Theorien der modernen Physik dar. Und fr viele Zwecke ist sie nicht nur hinreichend genau, sondern im Vergleich zu exakteren Konkurrenztheorien transparenter und leichter zu handhaben. In den Ingenieurwissenschaften und der dortigen Teildisziplin der Technischen Mechanik findet sie Verwendung. Aufzge, Rolltreppen und Flaschenzge werden mit ihr gebaut. Bei Hauskonstruktionen kommt sie – und nicht die Quantenphysik – zur Anwendung und zeigt ihre tragende Gltigkeit.87 Zusammengenommen hat die klassische Physik eine ungebrochene Relevanz fr das heutige Technik-, Natur- und Wissenschaftsverstndnis. Neben dem Befund der relativen Stabilitt klassisch gewordener Theorien liegt ein weiterer, zur Kennzeichnung von ChaosTechnoscience und Econophysics hilfreicher Aspekt der Starnberger Wissenschaftsforscher in der Frage nach den treibenden Krften der Wissenschaftsentwicklung. Der in Poppers und Kuhns Modellen implizierte Internalismus wird dann problematisch, wenn wissenschaftsexterne Aspekte einen Einfluss auf die Wissenschaftsentwicklung nehmen. Externe Aspekte, also Interessen, gesellschaftliche Werthaltungen und Zwecksetzungen sind sowohl in der 86 Die Finalisierungsthese weist gleichzeitig darauf hin, dass die Differenzierung nicht (mehr) trgt. 87 Das Bohr’sche Korrespondenzprinzip, nach dem die jeweiligen Vorgngertheorien Grenzflle der neueren, sie ablçsenden Theorien sind (oder sein sollten), ist auch als ein Prinzip zur relativen Geltungserhaltung klassischer Theorien zu verstehen.
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vorparadigmatischen bzw. explorativen Phase als auch in der postparadigmatischen Phase prgend. Popper und Kuhn vernachlssigen, dass Wissenschaft, Technik und Gesellschaft verwoben sein kçnnen. Keine klare Abgrenzung ist mehr mçglich. Popper und Kuhn verkennen gleichermaßen, dass es eine postparadigmatische Wissenschaftsentwicklung geben kann, welche sich an die Kuhn’sche paradigmatische Phase anschließt. Wissenschaft ist in dieser Phase gegenber externer Gestaltung, politischer Steuerung und çkonomischer Zwecksetzung – bis in die Theorieentwicklung hinein – offen. Somit unterstellen die Starnberger zwar eine Intern-Extern-Diastasethese, nmlich die Trennbarkeit von Internem und Externem (zur Konstitution der paradigmatischen Phase),88 andererseits beziehen sie diese aufeinander und sehen Durchmischungen. Im Nachweis der letzteren liegt ihr eigentlicher Zielpunkt (Bçhme 1993a, 19). Das kçnnte zum Verstndnis der nachmodernen Physik hilfreich sein. Die Wissenschaftsentwicklung ist fr die Starnberger Forscher also gekennzeichnet von epochalen Umschlgen zwischen den Phasen, die als explorativ, paradigmatisch und postparadigmatisch bezeichnet werden. Den entscheidenden Umschlag von einem naturwchsig-evolutionren Typ der Wissenschaftsentwicklung zu einem intentionalen, d. h. zu einem bewussten, zielgerichteten, geplanten Typ, der postparadigmatischen Phase, wird als „Finalisierung“ bezeichnet. Die Finalisierung wird durch ein ber Kuhn hinaus erweitertes Phasenmodell beschrieben. Whrend Kuhn annahm, dass sich die paradigmatische Phase durch eine stndige Ablçsung von inhaltlich unterscheidbaren Paradigmata fortsetzt, unterstellen die Finalisierungstheoretiker, dass es fr bestimmte Objektsysteme so etwas wie „abgeschlossene Theorien“ (Bçhme et al. 1978, 15) gibt. Mitunter wird auch von „reifen Theorien“ gesprochen. Solche Theorietypen kçnnen nicht durch kleinste Vernderungen verbessert werden.89 Hat eine Wissenschaft fr ein Objektsystembereich eine abgeschlossene Theorie erreicht, kann sie als „reife Disziplin“ bezeichnet werden.90 Wenn eine Disziplin reif ist, ist die wissenschaftliche Arbeit (an und mit klas88 In der paradigmatischen Phase findet die Wissenschaftsentwicklung autonom, von externen Einflssen unabhngig, statt, so Bçhme et al. (1978, 228). Bçhme et al. gehen somit – argumentationsstrategisch geschickt – auf die damals etablierte Standardpositionen der Wissenschaftstheorie ein, um sie dann zu wenden. 89 Zweifel daran, dass das Kriterium trennscharf ist, wurde beispielhaft von Poser (2001, 178) formuliert. 90 Damit soll die relative Stabilitt einer klassisch gewordener Theorie und ihre tragende Geltung in begrenzten Bereichen erklrt werden.
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sisch gewordenen Theorien) aber noch nicht beendet. Es tritt dann der postparadigmatische Wissenschaftstyp hervor. Vom Stadium der Reife an kann sich eine wissenschaftliche Disziplin durch externe Zwecke leiten lassen. Sie ist dazu sogar gezwungen, weil die internen Relevanzkriterien zur Selektion mçglicher Problemstellungen und Richtungsentscheidungen nicht mehr ausreichen. Externalitt ist der Motor fr postparadigmatische Wissenschaft. Zu den wissenschaftsexternen Faktoren zhlen Bçhme et al. die sozialen, sozioçkonomischen, kulturellen und religiçsen Regulative, zu den internen logisch-transzendentale und forschungslogisch-methodologische. Durch diesen intentionalen, d. h. externen „Zweckbezug der Wissenschaft [wird] nicht nur die Theorie angewendet, sondern eine Fortbildung der Theorie veranlaßt.“ (Bçhme 1993, 234) Die Zwecke ziehen sich bis in die Theorieentwicklung hinein. Sie bleiben der Theorie nicht nur ußerlich.91 Fazit: Finalisierte Technoscience Inwieweit kçnnen nun aus der Finalisierungsthese Merkmale gewonnen werden, um den Wandel zur ChaosTechnoscience und Econophysics zu beschreiben? Was kennzeichnet diese? Zu nennen sind (1) konstruierte Objektsysteme: Die Objektsysteme der ChaosTechnoscience sind selbst technisch produziert und konstruiert: Werkzeugmaschinen, Eisenbahndynamiken, Produktionssysteme, verfahrenstechnische Systeme. Sie sind also nicht Natur, wie sie als solche gegeben ist, noch sind sie reine Labornatur. Auch die Objektsysteme der Econophysics sind nicht gegeben, sondern im gesellschaftlichen Raum gemacht. (2) Keine reine Anwendung: Durch den externen Zweckbezug wird nicht nur eine Theorie ange91 Bçhme et al. (1978, 211) stellen heraus: „Theorieanwendung [ist] Theorieentwicklung.“ Mit diesem Hinweis sind Anforderungen an philosophisch sowie sozialwissenschaftlich orientierte Wissenschaftsforscher formuliert. Diese werden von den Starnbergern aufgefordert, die externen Zwecke zu identifizieren, um eine transparente Explikation zuknftiger Forschungslinien und Entwicklungspfade zu erreichen. Zweckexplikation stellt die Bedingung der Mçglichkeit der zielorientierten „Steuerung von Wissenschaftsentwicklung“ („Finalisierung“) dar. Auf dieser Linie liegen auch zahlreiche detaillierte Beispiele, die van den Daele, Krohn und Weingart unter dem Titel „Geplante Forschung“ (1979) exemplifizieren und die etwa Mainzer fr die Informatik, Kppers fr die Fusionsforschung und Weingart fr die Umweltforschung darstellen. Im Zusammenhang mit der Nichtlinearen Dynamik spricht der Physiker Beckmann von „angewandter theoretischer Physik“ (Beckmann et al. 1998).
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wendet, sondern deren Weiterentwicklung veranlasst. Es werden nicht allein bestimmte Rand- und Startbedingungen in ein bestehendes Fundamentalgesetz eingesetzt oder allgemeine Gesetzmßigkeiten spezifiziert. Vielmehr spielen der Prozess der Modellbildung und Modellkonstruktion sowie die Messstruktur und die Datenanalyse eine zentrale Rolle. Die Theorien der Differenzial- und Differenzengleichungen wurden – wie gezeigt – durch die nachmoderne Physik weiterentwickelt. Die Klassische Kontinuumsmechanik ist beispielsweise, als abgeschlossene Theorie der Physik, immer noch eine grundlegende Theorie der Ingenieurwissenschaften, zumindest des Maschinenbaus. Doch die Ingenieurwissenschaft des Maschinenbaus hat die Klassische Mechanik fr ihre Zwecke vielfach verfeinert, konkretisiert, handhabbarer gemacht, als Technische Mechanik reformuliert sowie Tochter-Theorien entwickelt. Sie ist von den Erkenntnissen der nachmodernen Physik durchdrungen. Ferner (3) Reifegradkriterium: Die Ausgangstheorie muss einen gewissen Reifegrad erreicht haben oder gar abgeschlossen sein. Die der ChaosTechnoscience und der Econophysics zugrundeliegenden Fundamentaltheorien haben diesen Reifegrad erreicht. In vielen Fllen liegen die Klassische Mechanik, die Hydrodynamik oder die Himmelsmechanik (u. a. die Allgemeine Relativittstheorie) zugrunde. Doch diese Theorien helfen allein kaum weiter; sie gehen als Teile in spezifizierte und differenzierte Modelle ein. (4) Eingriffsziel: Finalisierte Wissenschaft ist selbst technik(en)generierend. Sie zielt nicht allein auf Darstellung von Natur und Wirklichkeit, sondern auf Eingreifen und Vernderung. In diesem Sinne sprechen die Starnberger Wissenschaftsforscher auch von „Techniktheorien“ (Bçhme et al. 1978, 367). Aus der Modellierung, Systemanalyse und Simulation der Objektsysteme durch die ChaosTechnoscience und Econophysics folgen diagnostische und prognostische Mçglichkeiten. Die Ergebnisse der nachmodernen Physik werden in Planung und Konstruktion technischer Systeme wie auch in die Bewertung von Finanzdaten integriert. ChaosTechnoscience und Econophysics zeigen beispielhaft, dass und wie physikalische Theorien in eine finale Wissenschaftsepoche eintreten kçnnen und von „externen“ Aspekten durchzogen sind.92 „Als weitere Folgerung“, so Bçhme (1993a, 19), „ergab sich, daß die Unterscheidung von Grundlagenforschung einerseits und Anwendung andererseits bzw. 92 Kritisch kçnnte man von einer technischen wie auch çkonomischen Instrumentalisierung der Physik sprechen und diese Wende zum Pragmatismus und zur Verzweckung problematisieren.
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die Unterscheidung von Wissenschaft einerseits und Technik andererseits in der Regel nicht durchzuhalten ist.“ Diese Durchdringungen finden sich in dem technisch ausgerichteten Zweig der nachmodernen Physik.93
7.4. … und die interdisziplinre ffnung der Physik Instabilitten haben zu einer doppelten Bewegung der Physik gefhrt, durch welche ein epistemischer Wandel gekennzeichnet wurde: Erweiterung und Relativierung. In dieser doppelten Bewegung hat sich eine interdisziplinren ffnung der Physik, z. B. in Richtung Biologie und Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften, gezeigt (Abb. 7 – 2). „Vçllig neue Gegenstandsbereiche, Theorienstrukturen, berprfungskriterien und normative Festlegungen“ (Poser 2001, 284) etablieren sich in der erweiterten Physik. Eine „interdisziplinre Methodologie“ ist im Entstehen, so Klaus Mainzer (1996a, ix). Metaphorisch kçnnte man sagen, dass die Ober- und Außenflche der Physik selbst fraktal und plural wird, sich verstelt, vielschichtig, durchlssig und anschlussfhig wird. In der nachmodern-physikalischen Relativierung und Erweiterung liegt ein Beitrag der Physik zu interdisziplinren Erkenntnisprozessen und Forschungsprojekten.94 Die nachmoderne Physik trgt so zu einer interdisziplinren Strukturwissenschaft – in nomologischer, phnomenologischer, methodischer und „technischer“ Hinsicht – bei. Dabei meint nomologische Interdis93 Vielleicht kann abschließend ein Analogiehinweis zum knstlerischen Handeln erhellend sein, um die technisch-çkonomische „Produktivitt“ von Instabilitten zu illustrieren. Knstler beherrschen Instabilitten, ohne sie zu eliminieren. Knstler tanzen auf des Messers Schneide. Kunst ist gerade durch die Mçglichkeit des Absturzes gekennzeichnet. Instabilitten sind fr das Knstlerische eine notwendige Bedingung, fr Artisten, etwa fr Einradfahrer, Jongleure oder Drahtseilartisten, aber auch fr Maler, Plastiker und Grafiker. Ihre intuitiven, meist nicht explizierbaren Handlungstechniken stellen die „handwerkliche“ Seite des Knstlerischen dar. ChaosTechnoscience und Econophysik treten als Techniken hervor, die man als wissenschaftlichen Tanz auf des Messers Schneide bezeichnen kçnnte. 94 Nur wer kritisch eine reflexive Relativierung seines Geltungsanspruchs vornimmt, sich eines disziplinren „Imperialismus“ und hegemonialen „DisziplinReduktionismus“ entsagt (Cartwright 1999), wird zur Interdisziplinaritt befhigt. Nur wer sein Erkenntnisinteresse erweitert und sich neuen Fragenstellungen und Gegenstandsfeldern çffnet, wird gleichzeitig Interesse am anderen und an Interdisziplinaritt finden.
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Abb. 7 – 2: Einige Beispiele zur interdisziplinren ffnung der Physik. In den vielfltigen bergangsbereichen und Schnittmengen von klassisch-moderner und nachmoderner Physik lsst sich keine eindeutige (analytische) Zuordnung treffen, schließlich steht die nachmoderne Physik der klassisch-modernen nahe und ist aus dieser hervorgegangen. Dennoch unterscheidet sie sich grundlegend von dieser.
ziplinaritt, dass hnliche Strukturgesetzmßigkeiten verschiedenen Phnomenen und Objektsystemen in unterschiedlichen Disziplinen zugrunde liegen. Ausgehend von Strukturgesetzen geht der nachmoderne Physiker zu Phnomenen ber und vermittelt vom Makro- zum Mikrolevel. Ein Bottom-Up-Zugang liegt vor. Nomologische Strukturen kçnnen als interdisziplinr bezeichnet werden, insofern sie invariant sind von disziplinrem Gegenstandsbezug. Mit Mittelstraß (1998) wird man von einer „Theorieform der Interdisziplinaritt“ sprechen kçnnen. – Phnomenologische Interdisziplinaritt bezieht sich weniger auf die Gesetzesstruktur als auf die Phnomentypen. In unterschiedlichen Disziplinen treten hnliche Phnomene auf: von der Wolken- ber die Blattbis hin zur Oberflchen-Struktur in technischen Zerspanprozessen. Ausgangspunkt sind stets konkrete Phnomene in Natur, Technik und Gesellschaft. Ein Top-Down-Zugang liegt vor.95 – Interdisziplinaritt als 95 Prominent fr diese beiden ersten Typen der Interdisziplinaritt sind Vermitt-
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methodische Interdisziplinaritt schließt sich an, wie Mittelstraß (2005, 18) diesen Typ nennt. Dieser bezieht sich auf die Forschungs- und Handlungsform in der Wissensgenese. Die nachmoderne Physik hat Modellbildungs- und Datenanalyse-Methoden bereitgestellt, welche – obwohl im Rahmen der Physik entwickelt – sich als weitgehend gegenstands- und phnomenunabhngig erweisen. – Darber hinaus kçnnen Zweige der nachmodernen Physik als Technoscience-interdisziplinr bezeichnet werden. Mit Mittelstraß (1992b, 250) wre – statt von „Interdisziplinaritt“ – hier von „Transdisziplinaritt“ zu sprechen, um einen transwissenschaftlichen Zugang zu kennzeichnen. Transdisziplinre Problemkonstitution orientiert sich an „außerwissenschaftlichen Entwicklungen“, an gesellschaftlichen sowie çkonomischen Anforderungen (ebd.). Damit wird der Finalisierungsdiagnose entsprochen.96 Die hier vorgenommene Charakterisierung der nachmodernen Physik als interdisziplinr kann sich auf eine allgemeine Kennzeichnung verschiedener „Dimensionen von Interdisziplinaritt“ (Schmidt 2002b/ 2003b) argumentativ sttzen. Denn die nachmoderne Physik erfllt – in ihren pluralen Aspekten jeweils unterschiedlich – zusammen alle vier Dimensionen von Interdisziplinaritt.97 Die Dimensionen kçnnen charakterisiert werden (a) durch Zugang, Ziele und Zwecke (TechnoscienceInterdisziplinaritt/Transdisziplinaritt), (b) durch Methoden, Handlungsformen und Wissensgenesen (methodische Interdisziplinaritt), (c) durch Theorieformen und Wissenstypen (nomologische Interdisziplinaritt) und (d) durch Objektsysteme und Phnomentypen (phnomenologische Interdisziplinaritt). Diese vier Dimensionen sind in der nachmodernen Physik gegeben.98 lungen zwischen einem elementaren Mikrolevel und einem phnomenalen Makrolevel. 96 Die Unterscheidung von Inter- und Transdisziplinaritt ist ein weites Feld, vgl. Schmidt (2003b). 97 Bereits wenn mindestens eine der Dimensionen erfllt ist, kann von „Interdisziplinaritt“ gesprochen werden. 98 So wird von der nachmodernen Physik eine „vergleichende, pluralistische Epistemologie“ (vgl. Serres 1992, 11 f ) nahegelegt. Hintergrund ist, dass die nachmoderne Physik nicht mehr lnger proklamieren kann, die „universelle Reduktionsbasis“ darzustellen. Daraus folgen fr Serres (1992, 16) „neue Aufgaben“ an die innere Architektur der Wissenschaftsphilosophie. „[D]ie [analytische] Aufteilung hat weniger Bedeutung als die Zirkulation auf den Wegen oder Fasern [der Wissenschaften].“ (ebd., 13) Es gilt, eine plurale Wissenschaftsphilosophie der Interdisziplinaritt – als Theorie der disziplinbergreifenden Zirkulationen – auszuarbeiten.
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So kçnnte man schließlich sagen: Die Physik çffnet sich und befçrdert interdisziplinre Zirkulationen. Eine derartige reflexive Disziplinaritt stellt die Bedingung der Mçglichkeit fr gelingende Interdisziplinaritt dar. Die nachmoderne Physik kçnnte somit zu einer methodologischen Fundierung inter- und transdisziplinrer Formen der Wissensproduktion einen entscheidenden Beitrag leisten (vgl. Mainzer 1996a; Schmidt 2005c).99 Ob sie dazu in der Lage ist, wird die Zukunft zeigen.
99 Welche Rckwirkungen von einer interdisziplinr geçffneten nachmodernen Physik auf die klassisch-moderne Physik ausgehen werden, ist offen. Gewiss gilt, was Mittelstaß (1987, 156) sagt: „Transdisziplinaritt lßt die disziplinren Dinge nicht einfach so, wie sie sind.“
8. Resmee 8.1. Nachmoderne Physik – und mçgliche Einwnde dagegen Die hier vorgenommene Diagnose eines aktuellen Wandels im Physikverstndnis hatte eine doppelte Abgrenzung zu leisten, welche von zwei entgegengesetzten Seiten Einwnde provozieren mag: Entweder, so der erste (Kontinuitts-) Einwand, liege die als „nachmodern“ bezeichnete Physik vollstndig im Horizont der klassisch-modernen Physik, womit alle Unterscheidungsmerkmale entfallen wrden: Nichts Neues in der Physik! Oder, so die Gegenposition, die nachmoderne Physik habe den Rahmen der Physik lngst verlassen (Externalittseinwand). Damit entfalle jede Gemeinsamkeit zur klassisch-modernen Physik: Keine Physik mehr! – Auf diese mçglichen (extremen und sich widersprechenden) Einwnde abschließend einzugehen, kann die Grundlinie der Argumentation noch einmal bndeln, bevor ein Resmee gezogen wird. Die Spielarten des Kontinuittseinwands kçnnten behaupten: Es gibt nichts (relevant) Neues in und an der Physik! Eine erste Spielart bezieht sich auf Poincar und stellt fest, dass Instabilitten als Charaktere physikalischer Objektsysteme seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt sind. Zugespitzt: die nachmoderne Physik liefert inhaltlich nichts Neues gegenber Poincar. – Insofern sich der Einwand auf die Entdeckung der dynamischen Instabilitt als mçgliche Eigenschaft der Natur bezieht, ist er zutreffend. Poincar gehçrt zu den Vtern der nachmodernen Physik. Doch Ende des 19. Jahrhunderts waren Instabilitten weder anerkannt noch war herausgearbeitet, wie weitreichend sie fr das Naturverstndnis und wie problematisch sie fr das Wissenschaftsverstndnis sind. Poincars Arbeiten wurden innerhalb der Physik durch die quantenmechanische und relativittstheoretische Revolution verdeckt. Der Weg von der Erkenntnis, dass es Instabilitten in der Natur gibt, bis zur Anerkennung und Akzeptanz ist lang. Weitreichende Folgerungen fr das Natur- und das Wissenschaftsverstndnis finden sich erst relativ spt. Der Wandel selbst ist ein historischer Prozess von der Erstentdeckung ber die Anerkennung bis hin zur Reflexion der Konsequenzen (Kapitel 4). Erst ab
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8. Resmee
den spten 1960er Jahren gelten Instabilitten nicht als Sonder-, sondern als Normalfall. Eine zweite Spielart des Kontinuittseinwands kçnnte allgemeiner behaupten, dass nicht die nachmoderne Physik, sondern schon Thermodynamik, Hydrodynamik, Festkçrperphysik, Relativittstheorie und Kosmologie Phnomene der Struktur- und Musterbildung untersucht haben. Erinnert werden kçnnte an Boltzmann und Helmholtz. Der nachmodernen Physik fehle damit jedes Spezifikum. – Der Einwand ist dem ersten hnlich, gegen ihn kann hnlich argumentiert werden: Zwischen Entdeckung und Anerkennung – also zwischen Sonder- und Normalfall – ist zu unterscheiden. Dass Instabilitten in diesen Theorien eine Rolle spielen, sagt nichts darber aus, ob sie eine bedeutende Rolle spielen, wie grundlegend sie im Theoriekonzept verankert sind und wie tiefgreifend Konsequenzen fr das Natur- und das Wissenschaftsverstndnis gezogen werden. So ist die klassische Statistische Thermodynamik des Gleichgewichts – obwohl auch sie von Instabilitten weiß – ungengend zur Erklrung von allgemeinen (dissipativen) Struktur- und Musterbildungen. Und die physikalische Kosmologie hat erst in den 1960er Jahren die steady-state-Modelle endgltig verworfen und ein Kosmosverstndnis von Phasenbergngen und Strukturbildungen geprgt. Erst seit dieser Zeit hat sich das (Urknall-) Standardmodell durchgesetzt. Die Erweiterungsthese zur nachmodernen Physik bestreitet also keineswegs, dass es schon in der klassisch-modernen Physik (Erst-) Erkenntnisse von Instabilitten gab. Doch diese lagen nicht im Fokus der Physik. Methodologische und erkenntnistheoretische Reflexionen ber Instabilitten finden sich hier noch nicht als innerer Teil physikalischen Erkenntnishandelns. Konsequenzen fr das Natur- und das Wissenschaftsverstndnis wurden noch nicht gezogen. Eine dritte Spielart des Kontinuittseinwands kçnnte bezweifeln, dass die nachmoderne Physik eigene Methoden besitzt, die sich von denen der klassisch-modernen Physik unterscheiden. In methodischer Hinsicht liege keine einheitliche Klammer vor, die die Redeweise von „nachmoderner Physik“ – als Kollektivsingular – rechtfertigen kçnnte. – Doch auch dieser Einwand lsst sich nicht aufrecht erhalten. Denn die nachmoderne Physik hat durchaus eine Flle von methodisch Eigenem entwickelt. Dazu gehçrt die nichtlineare Datenanalyse und die Rekonstruktion von Attraktoren, die Komplexittskenngrçßen und Klassifikationsmethoden dynamischer Systeme, allgemeine Berechenbarkeitsverfahren endlicher physikalischer Maschinen und Theoreme der „Schattenorbits“ zur numerischen Lçsungsbestimmung, mathematische Strukturen wie Zellulre
8.1. Nachmoderne Physik – und mçgliche Einwnde dagegen
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Automaten und Knstliche Neuronale Netze, sensitivittsbasierte Steuerungs- und Regelungsmethoden sowie Beitrge zur Modellierung komplexer dynamischer Systeme und zu Kopplungen. So bilden nicht nur Instabilitten die inhaltliche Klammer der nachmodernen Physik; vielmehr sind auch eigene Methoden entwickelt worden. Eine vierte Spielart des Kontinuittseinwands kçnnte sich anschließen. Diese Spielart bestreitet, dass Unterscheidungskriterien wie Mesokosmizitt und anschaulich-sinnliche Zugnglichkeit als semantisch gehaltvoll herangezogen werden kçnnen. Schon die Klassische Mechanik sei abstrakt und unanschaulich. Eine Radikalisierung der Unanschaulichkeit finde sich nicht erst in der modernen Physik des 20. Jahrhunderts, sondern kennzeichne die Physikentwicklung kontinuierlich. Sie sei unrevidierbar. – Gegenber diesem Einwand wird eine Differenzierung hervorzuheben sein, nmlich dass die Objektsysteme der nachmodernen Physik nicht primr im (nur) technisch zugnglichen Makrokosmos und im (nur) technisch erzeugten Mikrokosmos liegen. Diesem Exzentrismus der klassisch-modernen Physik folgt die nachmoderne Physik nicht. Ihre mesokosmischen Objektsysteme sind zumindest partiell anschaulichsinnlich zugnglich. Und auch die zur Beschreibung und Klassifizierung verwendete Mathematik ist zunchst eine solche, die im Prinzip einfach ist, etwa die der Differenzengleichungen. Selbst die kompliziertere Differenzialtopologie, die mitunter als qualitative oder Gummi-Mathematik bezeichnet wird, basiert auf Anschauungen allgemeiner Formen und ihrer Transformationen. In gnzlich umgekehrte Richtung argumentieren die Spielarten des Externalittseinwands. Nachmoderne Physik sei keine Physik (mehr)! Eine erste Spielart verortet die nachmoderne Physik in der Mathematik oder, allgemeiner, in den Strukturwissenschaften. Die nachmoderne Physik werde lediglich in der Physik, wie auch in der Biologie oder in den Ingenieurwissenschaften, angewendet. – Doch mit diesem Einwand wird die Entdeckungs-, Entwicklungs- und Etablierungsgeschichte bersehen: Es waren Physiker (Maxwell, Poincar, u. a.), welche Instabilitten an physikalischen Objektsystemen (Himmelsmechanik, Hydrodynamik, Kosmologie) entdeckten. Sie publizierten in physikalischen Fachzeitschriften, wirkten in physikalischen Institutionen, trugen auf physikalischen Kongressen vor. Erst durch diese Entdeckungen im Rahmen der Physik erhielt die Mathematik neue und konkrete Fragestellungen. Dass die nachmoderne Physik auch mathematisch geprgt ist, stellt indes kein hinreichendes Argument fr eine primre Zuordnung zur Mathematik
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8. Resmee
dar. Dass sie interdisziplinr Verwendung findet und allgemeine Strukturen untersucht, heißt nicht, dass disziplinre Herkunft und heutige Forschungspraxis zu vernachlssigen sind. Wer vorschnell von „Strukturwissenschaft“ spricht, setzt ferner eine immer problematischer werdende Dichotomie (von Grundlagen versus Anwendungen) voraus. In diesem ußerlichen Zugang wird bersehen, dass sich die Wissenschaftspraxis und das Wissenschaftsverstndnis innerhalb der Physik verndern. Eine zweite Spielart des Externalittseinwands kçnnte eine andere Perspektive whlen. Sie bezweifelt den epistemischen Status der nachmodernen Physik als „Physik“. Denn diese sei lediglich beschreibend, also nicht erklrend und auch nicht voraussagend. Vage Analogien, gehaltlose Visualisierungen und computer-numerische Virtualitten dominierten die nachmoderne Physik. – Einerseits ist der Einwand berechtigt. Erklrungen in der nachmodernen Physik sind von einem anderen Typ als diejenigen der klassisch-modernen Physik. Andererseits kann in der nachmodernen Physik begrndet von „Erklrung“ gesprochen werden, wie gezeigt wurde. Das physikalische Erklrungsverstndnis erweitert sich ber deduktiv-nomologische Spielarten hinaus. Strukturisomorphie- und Dynamikerklrungen stellen zweifellos modifizierte Erklrungstypen dar. Anzuschließen an die beiden Haupteinwnde – den Kontinuitts- und den Externalittseinwand – sind zwei weitere Typen von mçglichen Einwnden. Bestritten werden kçnnte die Zusammenfhrung von klassischer und moderner Physik und die Gegenberstellung von klassischmoderner versus nachmoderner Physik: Der Rckfall-Einwand kçnnte schlicht behaupten, die nachmoderne Physik sei diskontinuierlich rckwrtsgewandt: Sie sei letztlich eine klassische Physik. Demnach wre zu trennen zwischen klassisch-nachmoderner und moderner Physik. Ganz anders hingegen verortet der Inklusionseinwand die nachmoderne Physik im Rahmen der modernen Physik: Nachmoderne Physik sei Teil der modernen Physik. Die einzige Zsur finde sich dann zwischen klassischer und modern-nachmoderner Physik. Der Rckfall-Einwand behauptet, die nachmoderne Physik falle in die klassische Physik zurck. Eine erste Spielart sieht die nachmoderne Physik gar zurckkehren zu einem mechanistischen Natur- und Weltbild. Schließlich gehçre sie zur Klassischen Mechanik, also zur kausal-mechanistischen Physik des 18. und 19. Jahrhunderts. Die paradigmatischen Vernderungen durch die Quantenphysik wrden nicht mitvollzogen. – Dieser Einwand ist voraussetzungsreich. Er parallelisiert die nachmoderne
8.1. Nachmoderne Physik – und mçgliche Einwnde dagegen
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Physik mit der engeren Chaostheorie; er fokussiert auf das Naturverstndnis und reflektiert nicht das Wissenschaftsverstndnis; er hebt einseitig die Frage nach dem Determinismus (Wirkkausalitt, Regelfolgen) hervor. Sodann unterstellt er durch Verweis auf die Quantenphysik eine Prioritt des quantenphysikalischen Mikrokosmos vor dem Mesound Makrokosmos. Nun wird man sagen mssen, dass das, was hier als Einwand vorgebracht wird, sich bei nherem Hinsehen als ausweispflichtige Unterstellung bezeichnen lsst.1 Schließlich sind die Objektsysteme der Natur nicht nur diejenigen, die durch die Quantenphysik erreicht werden. Und ob berhaupt von einem quantenphysikalischen Universalismus und einem quanten(feld)theoretischen Fundament der Physik gesprochen werden kann, ist offen. Eine Reduktion der gesamten Physik auf die Quantenmechanik konnte bislang nicht erreicht werden; einheitliche Kriterien fr eine gelungene Reduktion sind nicht in Sicht. Darber hinaus ist die nachmoderne Physik facettenreicher als die engere Chaostheorie. Zur nachmodernen Physik zhlen – wie oben gezeigt wurde – auch die Synergetik und die Komplexitts- und Selbstorganisationstheorien. Gerade diese Theorien basieren nicht nur auf deterministischen Gleichungssystemen, sondern verwenden auch stochastische Modellierungsanstze. Ferner stellt der Rckfall-Einwand das Natur- und nicht das Wissenschaftsverstndnis in den Mittelpunkt. Er blendet damit Fragen nach Prognostizierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Prfbarkeit und Reduzierbarkeit aus. Er erreicht schließlich nicht die Objektsysteme des Mesokosmos und kann nicht reflektieren, was es heißt, dass Phnomenologisch-Morphologisches erkenntnisleitend wird. Verfehlt wird ebenfalls der partielle Anschluss an die Ingenieurwissenschaften und die explizite Finalisierungstendenz: der Wandel vom reineren Erkenntnis- zum technischeren Gestaltungsinteresse. Doch nicht nur im Wissenschafts-, auch im Naturverstndnis liegen entscheidende Unterschiede zwischen nachmoderner und klassischer Physik: Selbstorganisation, Prozessualitt und Zeitlichkeit bleiben in der klassischen Physik thematisch randstndig. Struktur- und Musterbildungen liegen nicht in ihrem Fokus. Instabilitten werden nicht zum Kerncharakter, sondern zur Peripherie von Natur 1
Dem Einwand sollte das Hypothetizittsargument (Kapitel 3.2) vorbeugen: Selbst dann, wenn man hypothetisch annimmt, die Natur sei (ontologisch) durch deterministische Differenzialgleichungen bestimmt, folgen methodologische und erkenntnistheoretische Probleme. Um wieviel mehr treten die Probleme fr komplexere hochdimensionalere Objektsysteme hervor.
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gezhlt. Hier von einem klassischen „Physikalismus“ und einem „mechanistischen Weltbild“ zu sprechen, wie es der Rckfall-Einwand nahelegt, wre eine irrefhrende Verkrzung. Angesichts der Pluralitt der nachmodernen Physik ist eine solche Rckkehr gerade nicht zu erwarten. Vielmehr beginnt sich zu verndern, was als „Physikalismus“, als „Naturalismus“ und „Materialismus“ bezeichnet werden kann. Eine zweite Spielart des Rckfall-Einwands nimmt weniger das Naturund das Wissenschaftsverstndnis als die technische Handlungsermçglichung in den Blick. Der Einwand hebt hervor, dass die nachmoderne Physik gar auf eine Erweiterung der Naturkontrolle zielt. Die technikorientierte Ausrichtung sei unbersehbar. – Die Argumentation gegen diesen Einwand fllt zweischneidig aus. Einerseits zeigen sich in der nachmodernen Physik prinzipielle Grenzen der technischen Beherrschund Manipulierbarkeit. Andererseits werden in der Tat Objektsysteme zugnglich und partiell kontrollierbar, welche bislang unzugnglich geblieben sind. So ist zutreffend, dass es eine derartige Seite der nachmodernen Physik gibt. Unzutreffend ist aber, diese als die einzige Seite anzusehen. Die nachmoderne Physik ist selbst plural. So wurde gezeigt, dass es eine komplementre Seite gibt, nmlich die phnomenologisch-morphologische. Sie zielt weniger aufs Beherrschen als aufs Beschreiben (Kapitel 7). Der Inklusionseinwand hingegen sieht das, was hier als nachmoderne Physik bezeichnet wurde, nicht als Teil der klassischen, sondern der modernen Physik an. Eine erste Spielart behauptet eine Nhe des Naturverstndnisses von moderner und nachmoderner Physik – und sieht eine Zsur beider zur klassischen Physik. Gerade insofern in der Quantenphysik Kausalitt gebrochen, Zufall tiefergelegt und Materie (durch Energie) entsubstanzialisiert werde, finde sich ein Paradigmenwechsel von der klassischen zur modernen Physik sowie eine Nhe von moderner zu nachmoderner Physik. Als Beleg dienen – meist unter Bezugnahme auf die Kopenhagener Deutung – quantenmechanische Spalt-, Streu- und Zerstrahlungsexperimente. So werden Unschrferelation, Welle-TeilchenKomplementaritt und Nichtlokalitt ins Feld gefhrt und die Konsequenzen von Superpositionsprinzip, Messprozess und Korrespondenzprinzip diskutiert.2 – Demgegenber wird man sagen mssen, dass die 2
Weitere, in Physik und Wissenschaftsphilosophie viefach diskutierte Themen sind mit Stichworten wie „Schrçdingers Katze“ (zur Bedeutung von superpositionierten Quantenzustnden fr Makroobjekte) und „EPR-Paradoxon“ (zur
8.1. Nachmoderne Physik – und mçgliche Einwnde dagegen
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Kerntheorie der modernen Physik, die Quantenmechanik und die ihr zugrundeliegende Schrçdingergleichung, eine lineare Theorie darstellt. So kçnnen von ihr allein keine Prozesse der Selbstorganisation beschrieben werden. Ferner unterscheidet sich das Kausalitts- und das Zufallsverstndnis der Quantenphysik von dem der nachmodernen Physik. Zeitlichkeit wird in der modernen Physik lediglich spter in der Allgemeinen Relativittstheorie im kosmologischen Rahmen zum Thema.3 Und die Objektsysteme, auf die sich die moderne Physik bezieht, sind die des Mikro- und partiell auch die des Makrokosmos. Es dominiert hier, zumindest methodologisch, ein Mikroreduktionismus. Eine zweite Spielart des Inklusionseinwands kçnnte sich auf das Wissenschaftsverstndnis und den Geltungszusammenhang beziehen. Eine Kontextrelativitt und Hypothetisierung der Geltung physikalischen Wissens zeige sich schon in der modernen Physik, nicht erst in der nachmodernen. Schon hier werde die Prognostizierbarkeit und Reproduzierbarkeit limitiert sowie die Prfbarkeit und Reduzierbarkeit begrenzt. Damit fehle der nachmodernen gegenber der modernen Physik ein differenzierendes Spezifikum. – Eine derartige Geltungsrelativierung mag aus Perspektive der Wissenschaftsphilosophie offensichtlich sein, insofern sich aus dieser Perspektive im 20. Jahrhundert die Fallibilitt jedes Wissens gezeigt hat und seither wissenschaftsphilosophisch anerkannt ist. Physikalisches Wissen ist in diesem allgemeinen Sinne immer hypothetisches bzw. Vermutungs-Wissen.4 Diese wissenschaftsphilosophische Reflexionsperspektive scheint sich allerdings nicht mit der modernen physikalischen Forschungsperspektive, den Programmen und Praxen – und den dortigen Reflexionen – zu decken. Physiker halten unverndert am Ziel einer theory of everything und am reduktiven Vereinheitlichungskonzept aller vier fundamentalen Krfte („Gesetze“) fest; Quantenkosmologien, Stringtheorien und Schleifen-Quantengravitationstheorien („loop quantum gravity“) werden entwickelt und verworfen. Von einer Geltungsrelativitt angesichts dieses Erfolges der Vereinheitlichung zu sprechen, wie in diesem mçglichen Einwand formu-
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Frage nach der Nichtlokalitt und Unvollstndigkeit der Quantenphysik und zur Existenz verborgener Variablen) verbunden. Es sei denn, man sieht etwa die Zeitphilosophie C.F.v. Weizsckers als charakteristisch fr die moderne Physik an. So zeigt sich beispielsweise auch eine Geltungsrelativitt in Bezug auf jeden mechanistischen Atomismus und auf ontologisch-reduktive Erklrungen.
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liert, wre kaum angemessen;5 die vermeintliche Hypothetizitt wre entweder eine Unterstellung oder eine Trivialitt. Schließlich gehen moderne Physiker ber die weitgehend erfolgreichen Theorie-Reduktionen hinaus von einer hinreichenden Prognostizierbarkeit, Reproduzierbarkeit und Prfbarkeit aus (Kapitel 2). Der Geltungsanspruch der modernen Physik – und auch die tatschlichen Erklrungsleistungen ihrer Theorien sowie die Leistungen der experimentellen Methoden im Mikround Makrokosmos – kçnnen folglich kaum als zurckhaltend eingeschtzt werden. Ihr geltungsbezogener Universalismus ist ebenso ungebrochen leitend wie die gesetzesorientierte Reduktion auf fundamentale Theorien und die Abwertung phnomenologischer Modelle. Gerade dieser moderne Anspruch tritt in der nachmodernen Physik in den Hintergrund. In dieser Sandwich-Position sich einander widersprechender potenzieller Einwnde zwischen Vereinnahmung („Nichts Neues in der Physik!“) und Verstoßung („Keine Physik mehr!“), zwischen der Zuordnung zur klassischen Physik („Rckfall!“) oder zur modernen Physik („Inklusion!“), war es fr die Erweiterungsthese zur nachmodernen Physik nicht leicht, Stand zu gewinnen. Es wurden Argumente fr eine deutliche Abgrenzung der nachmodernen von der klassisch-modernen Physik vorgebracht, allerdings nicht fr eine Ablçsung, sondern fr eine solche nachmoderne Physik, welche noch unverkennbar im Rahmen der Physik verbleibt: Nachmoderne Physik steht der klassisch-modernen Physik weder allzu nah noch allzu fern. So werden die vier zentralen Merkmale der klassischmodernen Physik nicht eliminiert, sondern modifiziert: Die Prognostizierbarkeitsthese verndert sich in der nachmodernen Physik zu dem, was als „Approximationsnumerik und Schattenberechnung“ bezeichnet wurde. Qualitative Prognosen ersetzen quantitative. Zeitskalen werden entscheidend. Die Berechenbarkeitsthematik avanciert zu einem inneren Diskussionsbestandteil der nachmodernen Physik. Die Kriterien dessen, was als „berechenbar“ ausgewiesen wird, variieren von Kontext zu Kontext. Berechenbarkeit wird explizit zu einem relationalen Begriff. Insgesamt sind die Kriterien schwcher als das „ontologisch“ 5
Das wrde sich nicht mit den Auffassungen und ußerungen moderner Physiker decken (Kapitel 2). Dabei liegt freilich ein (insbesondere gegenber dem Mainstream des 19. Jahrhunderts) anderer Reduktionismustyp vor: nicht der (ontologisch verstandene) mechanistisch-atomistische, sondern der (erklrungstheoretische) deduktiv-nomologische.
8.2. Der Weg zu einem erweiterten Physik- und Naturverstndnis
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geprgte Berechenbarkeitsideal der klassisch-modernen Physik. Die Reproduzierbarkeitsthese kann sich in der nachmodernen Physik kaum noch auf Realexperimente und Laborversuche beziehen. Vielmehr stehen Computerexperimente und Simulationen im Mittelpunkt. Eine objektseitige Virtualisierung wird sichtbar. Graphische digitale Darstellungstechniken erhalten in Genese und Geltung von physikalischer Erkenntnis eine bislang unbekannte Rolle. Computerexperimente sind auch in Gegenstandsfeldern mçglich, welche bis dahin experimentell unzugnglich waren (z. B. Klima, Kosmos). Die Prfbarkeitsthese, welche in der klassisch-modernen Physik ebenfalls quantitativ verstanden wurde, wird in der nachmodernen Physik aufgehoben durch Kontexttests und qualitative Prfungen. Jeweils zu konstruierende Kenngrçßen weisen einen neuen Typ eines Konventionalismus aus. Schließlich wird die universalistisch ausgerichtete Reduzierbarkeitsthese der klassisch-modernen Physik problematisiert und pluralisiert durch kontextbezogene, qualitative Erklrungstypen. Diese beziehen sich auf die jeweiligen Modelle, verwenden Modellbertragungen und basieren auf Analogien. In ihrem Mittelpunkt stehen dynamische Phnomene, Muster und Strukturen. Der Anspruch an „Erklrungen“ reduziert sich einerseits; andererseits werden durch die nachmoderne Physik weitere Objektsysteme zugnglich; sie werden als physikalisch „erklrbar“ angesehen.
8.2. Der Weg zu einem erweiterten Physikund Naturverstndnis So sollte deutlich geworden sein, dass mit der Entdeckung und Anerkennung von Instabilitten in Natur und Technik – verbunden mit der sukzessiven Computer-Technologisierung von physikalischem Erkenntnishandeln – Modifikationen im Physikverstndnis einhergehen. Eine instabilittsbasierte Physik zeigt sich. Dieser Physiktyp wurde hier als „nachmodern“ bezeichnet. Damit sollte gegenber der klassisch-modernen Physik eine Differenz markiert werden: Das klassisch-moderne Physikverstndnis wird nicht verabschiedet, wohl aber problematisiert und pluralisiert, ergnzt und erweitert. – Verfolgen wir rckblickend noch einmal den Gang der Argumentation, die vor dem Hintergrund der aktuellen Geschichte der Physik in ihrem Charakter durchgngig von wissenschaftsphilosophischen, wissenschaftshistorischen und interdiszi-
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8. Resmee
plinren Fragestellungen geleitet wurde. Der Argumentation lag ein Dreischritt zu Grunde. Zunchst wurde das Referenzsystem der „klassisch-modernen Physik“ konstruiert. Es umfasst vier Merkmale oder vier Physikverstndnisse (Kapitel 2), welche sich auch in wissenschaftsphilosophischen Reflexionstraditionen wiederfinden: Physik als Wissenschaft der Prognose (Instrumentalismus), der experimentellen Reproduktion (methodologischer Konstruktivismus), der Prfung (Empirismus, Realismus) sowie der Reduktion, Redundanzeliminierung und Vereinheitlichung (Rationalismus). Diese vier Physikverstndnisse wurden durch die Entdeckung der Instabilitten innerhalb der Physik hinterfragt (Kapitel 3 und 4). – Zwischen verschiedenen Typen von Instabilitten kann differenziert werden, nmlich zwischen statischen, dynamischen und strukturellen (Kapitel 3). Instabilitten problematisieren methodologische Voraussetzungen sowie metaphysische Hintergrundberzeugungen der klassischmodernen Physik. Dies konnte in systematischer sowie in wissenschaftshistorischer Hinsicht gezeigt werden. Wissenschaftshistorisch (Kapitel 4) interessant erscheint die Rekonstruktion, wie Instabilitten zu einem Thema wurden, wie auf die Erkenntnis der Existenz von Instabilitten zunchst methodologisch geantwortet wurde („Stabilittsdogma“) und wie die heutige Anerkennung von Stabilitt als einer Sonderform von Instabilitt zustande kam. Die systematische und historische Rekonstruktion zeigt ferner, dass die heutigen heterogenen Theorien der nachmodernen Physik – Chaostheorien, Selbstorganisations- und Komplexittstheorien, Synergetik, Fraktale Geometrie, u. a. – einen einheitlichen Kern und eine semantische Klammer aufweisen: den der Instabilitten. Ein modifizierter Physiktyp emergiert und erweitert die Physik (Kapitel 5 bis 7). Die nachmoderne Physik zeigt wissenschaftliche Perspektiven in dreifacher Hinsicht. Methodologisch (Kapitel 5) kann sie gekennzeichnet werden durch: Reflexivitt, Kontexttest und qualitative Prfung, Modellbildung und Modellerklrung, Approximationsnumerik und Schattenberechnung sowie Computerexperiment und Simulation. In den letzten vier Merkmalsgruppen tritt das Referenzsystem der klassischmodernen Physik verndert hervor. Inhaltlich (Kapitel 6), d. h. auf Natur, Technik und Wirklichkeit bezogen, sind es vor allem das Verstndnis von Selbstorganisation, von schwacher Kausalitt und schwachem Zufall, das durch die nachmoderne Physik geprgt wird. Objektseitig (Kapitel 7) werden von der nachmodernen Physik Objektsysteme als physikalisch Erkenntnis-generierend angesehen, die bislang außerhalb der Physik
8.2. Der Weg zu einem erweiterten Physik- und Naturverstndnis
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verortet wurden. Die Erweiterung dieser Gegenstandsextension und des Erkenntnisinteresses wurde beispielhaft anhand der Biologie (phnomenologisch-morphologische Physik) und der Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften (ChaosTechnoScience, Econophysics) dargelegt. – Es zeigt sich also eine Geltungsrelativierung (methodologischer Aspekt), ein verndertes Natur-, Technik- und Weltverstndnis (inhaltlicher AussagenAspekt) sowie eine Extensionserweiterung (objektseitiger Aspekt). Die nachmoderne Physik kann gekennzeichnet werden durch Stichworte wie Pluralitt, Perspektivitt und Phnomenalitt. So sollte am Ende dieses Buches deutlich geworden sein, dass und wie sich das Natur- und das Physikverstndnis historisch wandeln. Instabilitten problematisieren die klassisch-moderne Physik, aber es zeigen sich gleichzeitig auch neue Erkenntniswege. Ein anderer Physiktyp entsteht, ohne die ußerst erfolgreiche klassisch-moderne Physik zu verabschieden. Die nachmoderne Physik thematisiert und fokussiert Instabilitt. Sie setzt Stabilitt und Instabilitt in ein neues Verhltnis und zeigt, dass Instabilitt ein grundlegender Charakter von – anorganischer wie organischer – Natur ist. Durch Instabilitt wird Wachstum und Strukturbildung mçglich. Natur tritt als selbstorganisierend, geschichtlich-zeitlich und schwach-kausal hervor. Nicht nur Stabilitt, insbesondere Instabilitt ist fr Natur konstitutiv. Kurzum: Natur ist Natur, insofern sie instabilittsfhig ist.
Anhang A.1. Stabilitt und Instabilitt – einige mathematische Details In der vorliegenden wissenschaftsphilosophischen und wissenschaftshistorischen Arbeit zu Instabilitten in Natur und Wissenschaft werden drei zentrale Stabilitts- und Instabilittstypen reflektiert, ohne sie – dem Ziel der Arbeit entsprechend – mathematisch im Detail zu entfalten. Im folgenden Anhang soll eine Przisierung vorgenommen werden (Krabs 1998; Devaney 1989; Wiggins 1990; Beckmann 1996; Buzug 1994). Betrachten wir ein glattes zeitkontinuierliches dynamisches System, das gegeben sei durch die Differenzialgleichung dx/dt = F(x, a), wobei x den (d-dimensionalen) Zustand(svektor) und a einen Parameter kennzeichnet (Aulbach 1997). Die Lçsung der Differenzialgleichung wird blicherweise mit V(t, x0) = x0, t 2 R+, bezeichnet, wobei x0 den Startpunkt und t den Zeitparameter darstellt. Mit der Lçsung ist auch jeweils eine Trajektorie (Orbit) gegeben, die die Zeitentwicklung im Zustandsraum reprsentiert. Die Gesamtheit der Trajektorien bildet den Fluss im Zustandsraum. An das Lçsungsverhalten anschließend kçnnen zwei dynamische Stabilittsbegriffe – und als deren Negation: zwei Instabilittsbegriffe – unterschieden werden. Erstens: Eine Lçsung V(t, x0) heißt Lyapunov-stabil, wenn gilt: "e > 0 $ d = d(e), "y0 mit jx0 – y0 j< d , so dass jV(t, x0) – V(t, y0)j < e, "t > 0 Anschaulich bedeutet dies: Wenn eine Lçsung V(t, x0) Lyapunov-stabil ist, kann man sie mit einem e-Schlauch umgeben und stets einen Startpunkt y0 einer benachbarten Trajektorie V(t, y0) finden, so dass diese Nachbartrajektorie fr alle zuknftigen Zeiten innerhalb dieses Schlauches bleibt. Zweitens: Die asymptotische Stabilitt kann als eine Verschrfung der Lyapunov-Stabilitt angesehen werden. Eine Lyapunov-stabile Lçsung V(t, x0) heißt asymptotisch stabil, wenn gilt: $ b > 0, so dass: limt !1 jV(t, x0) – V(t, y0) j = 0 fr jx0 – y0 j< b
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Anhang
Asymptotisch stabile Lçsungen konvergieren in dem oben angegebenen e-Schlauch. In beiden Fllen – Lyapunov- wie asymptotischer Stabilitt – handelt es sich um Definitionen. Sie geben nicht an, wie man die Stabilitt einer Lçsung feststellt und ihr eine quantitative Grçße zuordnet. Der einfachste Fall ist der in der Umgebung eines Fixpunkts xF , welcher blicherweise durch lineare Stabilittsanalyse untersucht wird. Man betrachtet hierzu das Lçsungsverhalten der (fr die Umgebung des Fixpunktes xF durch Entwicklung gewonnenen) Differenzialgleichung dy/dt = DF(xF) · y , wobei DF(xF) die Jacobi-Matrix von F in xF ist. y(t) wird als Nherung des dynamischen Systems in Fixpunktnhe xF , d. h. fr x(t) – xF interpretiert, wobei eine wesentliche Voraussetzung eingeht, nmlich dass der Fixpunkt hyperbolisch ist. Wenn der Realteil aller Eigenwerte k(xF) von DF(xF) kleiner als Null ist, so zeigt sich wegen der Lçsungsform y(t) ~ exp(DF(xF)t) asymptotische Stabilitt, wenn er grçßer als Null ist hingegen Instabilitt. Diese lineare Stabilittsanalyse stellt einen Spezialfall eines allgemeinen Vergleichs von Trajektorien bzw. Flssen verschiedener Dynamiken dar. Allgemein wird nach topologischer quivalenz und Konjugation gefragt.1 Damit sind allgemeine Transformationseigenschaften bezeichnet, welche durch stetig differenzierbare Abbildungen erzeugt werden (Diffeomorphismen) und damit die Trajektorien von einem auf ein anderes dynamisches System glatt berfhren. Gelingt dies, so sind die Systeme in der Gesamtheit ihrer Dynamiken qualitativ quivalent, auch wenn sich Abstnde ndern mçgen. Sie haben, so kçnnte man sagen, „im Wesentlichen die gleiche Dynamik“. Der hier zugrundeliegende Satz von Hartman und Grobman besagt, dass das nichtlineare System in der Umgebung eines hyperbolischen Fixpunktes qualitativ dem linearisierten System hnelt; die beiden Systeme sind „topologisch konjugiert“ (Beckmann 1996). Die lineare Stabilittsanalyse zeigt, dass sich allgemeine dynamische Systeme in der Nhe von Fixpunkten oft hnlich wie lineare dynamische Systeme 1
Der Unterschied zwischen topologischer quivalenz und der Konjugation liegt darin, dass an Konjugationen – ber die quivalenz hinaus – die Bedingung der Erhaltung der Parametrisierung der Zeit gestellt wird.
A.1. Stabilitt und Instabilitt – einige mathematische Details
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verhalten: D.h. eine topologische quivalenz bzw., strker, eine topologische Konjugation liegt vor. Nach dem Hinweis auf Stabilitt betrachten wir nun die Instabilitt. Diese wird zumeist durch die sensitive Abhngigkeit von Startwerten charakterisiert. Die Dynamik V(t, x) heißt sensitiv abhngig ber einem Gebiet des Zustandsraums M (vgl. Devaney 1989, 49), wenn es ein d > 0 gibt, so dass fr jedes x0 2 M und fr jede Umgebung N von x0 gilt: Es existiert ein y0 2 N und ein tn > t0 2 R+, so dass: jV(tn, x0) – V(tn, y0) j > d. Entscheidend ist, dass sich nicht alle Startpunkte y0 in der Umgebung N von x0 unter der Dynamik entfernen (mssen). Jedoch muss (zumindest) ein solcher Punkt y0 in jeder beliebigen Umgebung von x0 liegen. Der eSchlauch, von dem oben bei der Definition der Lyapunov-Stabilitt die Rede war, wird schließlich nach einer Zeit tn verlassen. So liegt (mindestens) Lyapunov-Instabilitt vor,2 wie dieser Instabilittstyp aus physikalischer Perspektive bezeichnet werden kann. Die jeweilige Rate der Trajektorien-Divergenz messen die Lyapunov-Exponenten k. Edward Ott nennt die Lypunov-Exponenten „stability coefficients“ (Ott 1993, 30); ebenso gut kçnnte man, komplementr, von „instability coefficients“ sprechen. Oftmals liegt die dynamische Instabilitt nicht in allen Bereichen des Zustandsraumes vor, sondern nur auf einer Teilmenge, etwa einem kompakten Attraktor.3 Wer von Stabilitt und Instabilitt spricht, ist angehalten, diesen Bereich zu spezifizieren. Attraktoren treten typischerweise in dissipativen Systemen auf. Physikalisch gesprochen ist Reibung ihre Quelle. Attraktoren sind invariante Mengen, die (fast alle) Trajektorien aus ihrer Umgebung anziehen (Milnor 1985; Eckmann/ Ruelle 1985). Nun kann die Trajektorien-Divergenz (und dynamische Instabilitt) auf einem kompakten Attraktor nicht immer und fr alle Zeiten gelten. Es gibt in diesem Attraktor einen maximalen Abstand der Zustnde, den die Trajektorien nicht berschreiten kçnnen. Wenn von Trajektorien-Divergenz die Rede ist, so handelt es sich um einen Mittelwert. Die Lyapunov-Exponenten k messen die mittlere Trajektorien-Divergenz auf dem Attraktor. Man betrachtet immer wieder die exponen2 3
Strker wre der zur asymptotischen Stabilitt komplementre Instabilittsbegriff, welcher von uns als „statische Instabilitt“ bezeichnet wird. Zu Begriff und Konzept des Attraktors siehe Milnor (1985).
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tielle Divergenz im Kleinen, nimmt dann eine Reskalierung vor und mittelt ber alle lokalen Divergenzen.4 Die allgemeine Struktur der Lyapunov-Exponenten k(x,e) ergibt sich aus der Proportionalitt zu expkt. Das ist analog zu dem, was oben zur linearen Stabilittsanalyse bezogen auf einen Fixpunkt gesagt wurde. Ist nun einer der Lyapunov-Exponenten grçßer als Null, so liegt – hnlich wie vorne spezieller bei der JacobiMatrix DF(xF) > 0 dargestellt – Trajektorien-Divergenz vor und mithin dynamische Instabilitt (oder Lyapunov-Instabilitt).5 Es gibt so viele Lyapunov-Exponenten wie das dynamische System Dimensionen, d. h. unabhngige Zustandsgrçßen, hat. In einem dissipativen dynamischen System ist die Summe der Lyapunov-Exponenten kleiner als Null.6 Einer der Lyapunov-Exponenten ist gleich Null, wenn der Attraktor kein Fixpunkt ist. Whrend die asymptotische Stabilitt der strkere Stabilittstyp im Vergleich zur Lyapunov-Stabilitt ist, gilt das fr die Instabilitt ebenso, nur gewissermaßen als Umkehrung (Negation). Bei Lyapunov-Instabilitt handelt es sich nur um eine mittlere Trajektorien-Divergenz. Bei asymptotischer Instabilitt nhern sich Trajektorien nicht wieder an. Hier sprechen wir auch von statischer Instabilitt (s. o.). Ein weiterer in der vorliegenden Arbeit vorgetragener Instabilittstyp ist der der strukturellen Instabilitt, der sich von der dynamischen Instabilitt unterscheidet. Eine Trajektorie wurde eben als dynamisch stabil bezogen auf ihre Umgebung bezeichnet, wenn ihr Verhalten fr kleine nderungen des Startpunktes weitgehend erhalten bleibt. Ganz analog kann man die strukturelle Stabilitt im Hinblick auf eine nderung des Gesetzes (Vektorfeld, Modell) verstehen. Anschaulich wird die nderung des Gesetzes F meist durch eine Variation eines Systemparameters vorgenommen. Die Gesetzesnderung wird als „Stçrung des Vektorfeldes F“ 4
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D.h., man nimmt in dem zugehçrigen Tangentialraum TxM ! TxM durch DV(t,x) die Untersuchung vor. Man erhlt limt !1 1/t ln ( jDe Vx,t(e) j) = k(x,e) mit dem Vektor e 2 TxM, e „ 0. Zu den einzelnen Voraussetzungen an den Zustandsraum (Riemann’sche Mannigfaltigkeit), an das Maß (Lebesgue-Maß) u. a. siehe Beckmann (1996, 85 f ). Mit anderen Worten: „Die berlegung, die hinter diesem Ansatz [der LyapunovExponenten] steht, geht davon aus, daß die Trajektorien eines chaotischen Systems nicht Lyapunov-stabil sind.“ (Beckmann 1996, 84) Bei Dissipation kontrahiert sich das Phasenraumvolumen. Dissipation d := div F = Spur (DF) < 0
A.1. Stabilitt und Instabilitt – einige mathematische Details
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bezeichnet (Wiggins 1990)7, wobei die Stçrung hier eine hnliche Rolle spielt wie die d-nderung des Startwertes bei der dynamischen Stabilitt bzw. Instabilitt. Ein Gesetz F heißt strukturell stabil, wenn es unter allen kleinen e-Stçrungen topologisch quivalent zum ungestçrten F bleibt. Zwar mçgen sich Abstnde verndern; in der Gesamtheit bleibt die Dynamik jedoch im Wesentlichen erhalten: Keine neuen Orbits entstehen und keine Orbits werden zerstçrt; sie werden lediglich gestreckt oder gestaucht. Durch Negation der strukturellen Stabilitt erhlt man nun die strukturelle Instabilitt. blich ist die Betrachtung der Stçrung des Gesetzes durch Variation von Systemparametern. Diejenigen Systemparameterwerte, bei denen die Dynamik sich qualitativ verndert und damit strukturell instabil ist, nennt man – wie besprochen – Bifurkationspunkte (Wiggins 1988).8 Eine dreifache Pluralitt von Stabilitts- und damit von Instabilittsbegriffen liegt vor. Weiterfhrende Differenzierungen finden sich schon bei G.D. Birkhoff in den 1920er Jahren, dem Begrnder der „Theorie dynamischer Systeme“, etwa „Stabilitt“ als „complete or trigonometric stability“, „stability of the first order“, „permanent stability“, „semi-permanent stability“, „unilateral stability“, „regions of stability“9, „stability in the sense of Poisson“ (Birkhoff 1927, Kap. 4, 6, 8, 9, …). Der letzte Stabilittsbegriff bezieht sich, nach der Begriffs-Prgung durch Poincar, auf so genannte „rekurrente Dynamiken“, also Dynamiken, durch welche fast jeder beliebige Anfangszustand irgendwann unter der Zeitentwicklung einmal nherungsweise wieder erreicht wird. Unter Bezugnahme auf das Dreikçrperproblem (ebd., 227) erçrtert Birkhoff ferner die „stability of periodic motion“ (ebd., 97 f ), „the problem of stability“ und gibt „a criterion for stability“ an (ebd., 226 f ).10 7 G ist eine Ck-e-Stçrung des Ck-Vektorfeldes F, k r, wenn sich die ersten k Ableitungen von F und F-G nur auf einer kompakten Teilmenge K des Zustandsraums unterscheiden und dies um weniger als e. Das heißt, die e-Stçrung ndert das Vektorfeld nur auf einer kompakten Teilmenge des Zustandsraumes in den ersten k Ableitungen und das jeweils nur gering, nmlich um weniger als e. 8 Bifurkationen bezeichnen bergnge von einer Bewegungsform zu einer anderen, etwa von einer periodischen Bewegung der Periode 2 zu einer der Periode 4, usw. Diese sind topologisch nicht quivalent. 9 Heute wrden wir von einem „Attraktor“ sprechen. 10 Zentral erscheint der Zusammenhang von Stabilitt, Reversibilitt, Zeitlichkeit und von „stability and transitivity“ (Birkhoff/Lewis 1935, 326). Birkhoff hat zeigen kçnnen, „that the requirement of complete stability is also very intimately
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Weitere begriffliche Fassungen und mathematische Definitionen ließen sich anfgen (Wiggins 1988). Fr diese Arbeit gengt es, dargelegt zu haben, dass die drei uns leitenden Stabilitts- und Instabilittstypen (statisch, dynamisch, strukturell) gngig sind und mathematisch przise gefasst werden kçnnen.
connected with that of reversibility in time of a given differential system.“ (Birkhoff 1927, 115)
A.2. Der Begriff „Chaos“ – hermeneutische Elemente
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A.2. Der Begriff „Chaos“ – hermeneutische Elemente in der nachmodernen Physik Der Begriff „Chaos“ wird in der nachmodernen Physik uneinheitlich verwendet, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Im Gegensatz zum Mainstream des gesetzesorientierten und auch begrifflichen Vereinheitlichungsbestrebens innerhalb der klassisch-modernen Physik scheint die Bedeutungspluralitt allerdings keinen Nachteil fr die Wissenschaftsentwicklung darzustellen – obwohl jeweils zu erlutern ist, was gemeint ist, wenn von „Chaos“ gesprochen wird. Dabei tritt eine Art „hermeneutisches Element“ in den Rahmen der Physik ein, wie man dies mit aller Vorsicht vielleicht nennen kçnnte.11 Der Chaosbegriff hat seinen Platz in der Schnittmenge von Kulturgeschichte, Lebenswelt, Literatur und Wissenschaft. Hintergrundberzeugungen finden sich in den jeweiligen Deutungen und Auslegungen wieder. Die Wandlungsgeschichte des Chaosbegriffs seit Hesiods „ghnendem Abgrund“ und „klaffendem Schlund“ im babylonischen Schçpfungsmythos bis heute ist alles andere als abgeschlossen (Hlsewiche 1992). Wegweisende Arbeiten zur vergleichenden intensionalen und extensionalen Festlegung von „Chaos“ sind auch von Naturwissenschaftlern in den vergangenen Jahrzehnten publiziert worden, etwa von Brown und Chua (1996; 1998) und Krabs (1998). Semantische Fragen treten hervor und werden intensiv bearbeitet.12 So scheint es unangemessen zu sein, die exakte Naturwissenschaft als eine Hochstilisierungs- und Przisierungsmethode lebensweltlicher Begriffe anzusehen, wie es die Protophysiker des Methodologischen Konstruktivismus13 einst vorgeschlagen hatten. In der nachmodernen Physik zeigt sich vielmehr eine operative Pluralitt
11 Zu den Facetten des Hermeneutik-Verstndnisses sowie zu unterschiedlichen Methodologien, siehe den berblick in Gadamer/Boehm (1978). Kritisch ußern sich Sokal/Bricmont (1999) zum Begriff der „Hermeneutik“ im Rahmen der Naturwissenschaften. 12 So lsst sich mit Atmanspacher et al. (1992) gegen klassisch-moderne Vorurteile argumentieren: „It is still a widely accepted prejudice among representatives of the so-called exact sciences (such as physics, chemistry, astronomy) that questions of semantics, meaning, and interpretation have to be kept strictly apart from science itself. Scientific reasoning is required to be unique and context-free in order to enable a universal description of the world toward which scientific effort is traditionally assumed to develop.“ 13 Siehe den berblick in Bçhme (1976).
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und fragestellungsbezogene Perspektivitt statt einer eindeutigen Przision. „Chaos“ ist das beste Beispiel dafr. Es dominieren allgemein zwei unterschiedliche Zugnge zu Begriff und Phnomen des Chaos. Aus Perspektive idealisierter mathematischer Definitionen scheint Chaos nur mçglich, wenn unendliche Zeit und unendliche Przision (d. h. ein kontinuierlicher Zustandsraum) gegeben sind; nur dann sind Grenzmengen, Attraktoren, Cantormengen, u. a. definierbar. Mathematisch motivierte Definitionen nehmen meist auf topologische Eigenschaften Bezug; sie kçnnen als topologische Definitionen bezeichnet werden. Fr experimentelle Wissenschaften, fr empirische Messungen und numerische Behandlungen hingegen sind nur endliche Informationen, endliche Przision und endliche Zeiten zugnglich und verarbeitbar. Topologisches ist nur bedingt relevant. So sind aus Sicht der experimentell-empirischen Wissenschaften mathematische Chaos-Definitionen oftmals allzu abstrakt.14 Demgegenber erscheinen aus physikalischer Perspektive metrische (mess- und informationstheoretische) Definitionen erfolgversprechender, etwa positive metrische Entropiegrçßen wie der Lyapunov-Exponent. – Wir beginnen mit der Darstellung von Chaos aus mathematischer Perspektive in niedrigdimensionalen Abbildungen und ergnzen spter Chaos (physikalisch) fr zeitkontinuierliche und zellulre Systeme. Chaos in mathematischen Abbildungen Die mathematischen Chaos-Definitionen fr Abbildungen lassen sich allgemein in zwei Klassen unterteilen: Li-Yorke- und Devaney-Chaos. 1. Li-Yorke-Chaos: Fr die Namensgebung „Chaostheorie“ ist der berhmte Artikel „Period Three implies Chaos“ von Li und Yorke aus dem Jahre 1975 grundlegend. Die Bedeutung von Orbits der Periode 3 fr eindimensionale Differenzengleichungen („Abbildungen“), von denen Li und Yorke sprechen, wurde eigentlich schon von Sarkowskii im Jahre 1964 erkannt (Sarkowskii 1964). Dass fr eindimensionale stetige Abbildungen aus der Existenz eines Orbits der Periode 3 Orbits alle belie14 Nicht nur in dieser Hinsicht herrscht Unklarheit darber, welche Phnomene mit „Chaos“ in Verbindung zu bringen sind. Auch kann bislang als ungeklrt angesehen werden, ob bestimmte Eigenschaften periodischer oder aber aperiodischer Orbits fr Chaos charakteristisch und konstitutiv sind.
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bigen anderen Perioden folgen, hat Sarkowskii zeigen kçnnen.15 Nach seinem Zahlenordnungstheorem sind die Zahlen wie folgt zu ordnen: 3 > 5 > 7 > 9 > … > 2·3 > 2·5 > 2·7 > … > 22·3 > 22·5 > 22·7 > … > 23·3 > 23·5 > 23·7 > … > 24 > 23 > 22 > 2 > 1 Mit der Zahl 3 hat es demnach tatschlich etwas auf sich. Sie ist die grçßte, die Zahl 1 die kleinste Sarkowskii-Zahl (Stefan 1977; Devaney 1989; Krabs 1998). Periode 3 impliziert die Existenz aller anderen Perioden. Wenn ein periodischer Orbit vorliegt, dessen Periodizitt ungleich 2n ist, dann folgt, dass unendlich viele periodische Orbits existieren. Diese Eigenschaft stellten Li und Yorke (1975) als zentral fr ihr Theorem und ferner fr die Definition von Chaos heraus. Fr sie ist Chaos eine Eigenschaft im Zusammenspiel von periodischen und nichtperiodischen Eigenschaften. Ein dynamisches System – dargestellt durch eine stetige eindimensionale Abbildung – ist demnach chaotisch, wenn es die folgenden Eigenschaften erfllt: 1. Es besitzt periodische Orbits jeder Periodizitt. 2. Jede aperiodische Lçsung nhert sich jeder anderen beliebig nahe an. 3. Unabhngig davon, wie nahe sich zwei aperiodische Orbits kommen, sie entfernen sich schließlich wieder voneinander. 4. Aperiodische Orbits konvergieren nicht gegen periodische Orbits, sondern beide divergieren. Diese vier Eigenschaften haben Li und Yorke przise gefasst.16 Notwendige Voraussetzung fr die Existenz von Li-Yorke-Chaos ist die Nichtinjektivitt von Abbildungen. Dass sich Chaos nicht aus einer beliebigen 15 Doch seine Publikation erschien zunchst nur in russischer Sprache. Li und Yorke verweisen in ihrer Publikation nicht auf Sarkowskii. Einer privaten Mitteilung verdanke ich, dass Yorke selbst besttigt hat, dass er keine Kenntnis von Sarkowskiis Resultaten hatte. 16 Satz: Sei F eine stetige Abbildung auf einem Intervall J R. Wenn a 2 J, b = F(a), c = F2(a), d = F3(a), existiert mit entweder d a < b < c oder d a > b > c, dann kçnnen folgende Existenzaussagen gemacht werden: A: Fr alle n > 0, n 2 N, existiert ein periodischer Orbit t der Periode n. B: Es existiert eine berabzhlbare invariante Menge S J mit nichtperiodischen Punkten. Die Menge S besitzt folgende Eigenschaften: - Fr alle x, y 2 S mit x „ y ist lim supk!1 j F k(x) – F k(y) j > 0 , und lim infk!1 j F k(x) – F k(y) j = 0 . - Fr alle x 2 S und jeden periodischen Punkt p gilt: lim infk!1 j F k(x) – F k(p) j > 0 Diese Abbildung heißt Li-Yorke-chaotisch. Zu Details siehe Li/Yorke (1975).
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Ordnung der unter der Abbildung transportierten Punkte („Orbits“) a, b, c und d, sondern nur unter der Bedingung der Nichtinjektivitt ergibt, ist charakteristisch fr Chaos allgemein; dabei sei a ein Punkt auf einem Intervall und es gelte b = F(a), c = F2(a), d = F3(a), mit der stetigen Abbildung F. Die Anordnung der Punkte sei gegeben durch d a < b < c oder d a > b > c. Der Punkt d kann als eine Art „Zurckfaltung“ (wie beim Teigkneten) interpretiert werden, whrend die Punkte a, b, c eine „Streckung“ darstellen. Aus der Anordnung der Punkte a, b, c, d ist der Nachweis der Existenz von Chaos leicht fhrbar. Eine Spezifikation der Menge, auf der eine Abbildung Li-Yorke-chaotisch ist, wird von Li und Yorke jedoch nicht vorgenommen. Chaos ist eine Eigenschaft einer Abbildung allgemein und nicht bezogen auf eine bestimmte Menge. So kçnnen stabile Orbits, wie beispielsweise ein solcher der Periode 3, ebenfalls Elemente des Li-Yorke-Chaos sein.17 Wer sich von Seiten der physikalischen Empirie der Definition von Li und Yorke nhert, kann diese kaum als zufriedenstellend bezeichnen, obwohl die Ordnung der Punkte a, b, c, d numerisch zugnglich ist. – Die Ausfhrungen von Li und Yorke sind zunchst auf eindimensionale Systeme beschrnkt; diese finden sich in der Physik kaum. Ferner kann die Menge, auf welcher periodische und aperiodische Orbits dicht liegen, nach Li und Yorke eine Nullmenge bzw. eine Cantormenge sein.18 Der empirische Naturwissenschaftler wrde sicherlich – unter Absehung von Einschwingungseffekten – diese Situation kaum als chaotisch bezeichnen. Denn Nullmengen bleiben meist empirisch unzugnglich.19 Damit ist kein Zusammenhang zur Empirie und zur numerischen Behandlung herstellbar.20 17 Das Theorem von Li und Yorke lsst jedoch i.A. keine Aussage ber die Anzahl der jeweiligen periodischen Orbits zu. In Spezialfllen, wie fr das Fenster der Periode 3 der logistischen Abbildung (via: Symboldynamik), ist das allerdings mçglich (Devaney 1989, 100 f ). 18 Fr die logistische Abbildung liegt beim Parameterwert l = 3.839 das Fenster der Periode 3 vor. Fast alle Orbits konvergieren gegen den stabilen Orbit der Periode 3 (Devaney 1989). 19 Li und Yorke treffen – im Gegensatz zu vielen anderen Autoren – keine Aussage ber Stabilitt oder Instabilitt der periodischen und aperiodischen Orbits. 20 Dennoch stellen wir fest, dass das mathematisch-abstrakte Theorem von Li und Yorke wegen der Einfachheit der Voraussetzungen und der verblffenden Aussage bezglich der Komplexitt der Dynamik mathematisch und sthetisch reizvoll – und wissenschaftshistorisch bedeutsam – bleibt. Li und Yorkes Definition zog eine Publikationswelle nach sich. Die Voraussetzung – die Existenz von Periode3-Orbits oder der Periode 3 verwandter Orbits – konnte nochmals verallge-
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2. Devaney-Chaos: Die empirische Problematik ist in dem zweiten prominenten Chaosbegriff ebenfalls gegeben. Doch zunchst lag eine Motivation zur Einfhrung eines weiteren Chaos-Begriffs in der Unhandlichkeit und Unanschaulichkeit des Li-Yorke-Chaos (vgl. Oono 1978) sowie in der Notwendigkeit, „Chaos“ auch jenseits eindimensionaler Abbildungen betrachten zu kçnnen.21 Die wissenschafts- und mathematikhistorisch bedeutsame ChaosDefinition von Li und Yorke rckte in den 1980er Jahren immer mehr in den Hintergrund. Devaney brachte ein anderes Chaosverstndnis ins Spiel, das der Intuition vieler Mathematiker und Physiker entsprach (Devaney 1989). In der (ursprnglichen) Chaos-Definition von Devaney spielte die empfindliche Abhngigkeit von den Startbedingungen eine wesentliche Rolle, welche eine Verschrfung der Li-Yorke-Anforderungen meinert werden. Nathanson (1977) zeigte durch kombinatorische Permutationen, dass eine Abbildung Li-Yorke-chaotisch ist, wenn eine Periode auftritt, die durch 3, 5 oder 7 teilbar ist und Butler und Pianigiani (1978) erklrten, dass ungerade Perioden mit m·2n, m 3 ungerade, Li-Yorke-Chaos zur Folge haben. Li et al. (1982) wiesen darauf hin, dass, wenn Fn(x) < x < F(x), x beliebig und n ungerade, gilt, Chaos im Sinne von Li und Yorke vorliegt („odd chaos“). Oono (1978) hatte jedoch schon frher eine generalisierte Aussage gefunden: Perioden ungleich 2n sind bereits fr Li-Yorke-Chaos hinreichend. Block und Coppel (1992, 25 f ) fhren im Zusammenhang mit Li-Yorke-Chaos den inhaltlich voraussetzungsvollen Begriff der Turbulenz fr eindimensionale Abbildungen ein. Aus Turbulenz folgt die Li-Yorke-Bedingung. Li-Yorke-Chaos ist somit nicht „so wirr und irregulr“ wie Turbulenz. 21 Der Physiker habe, so Oono (1978), einen intuitiven Zugang zu empirischen Phnomenen. Die Zelt- und Bckerabbildungen seien typische Beispiele fr Abbildungen, die der Physiker intuitiv als chaotisch bezeichnen wrde, vgl. Devaney (1989). Sie bilden fr einige Autoren ein Paradigma fr Chaos, vgl. Wiggins (1992). Zudem kann eine der Zeltabbildung hnliche Struktur aus der numerischen Integration des physikalischen Lorenz-Systems gewonnen werden (Lorenz 1963), welches ebenfalls ein Paradigma fr ein Chaos-Vorverstndnis darstellt. Zelt- und Bckerabbildungen kçnnen topologisch konjugiert auf die Symboldynamik zur Basis 2 abgebildet werden. Unter topologischer Konjugation bleiben wesentliche dynamische Eigenschaften im Sinne der Mathematik, insbesondere jene, die die Bcker- oder Zeltabbildung intuitiv als chaotisch erscheinen ließen, erhalten. Die Symboldynamik kann als Grundlage fr eine von der Zelt- oder Bckerabbildung ausgehende verallgemeinerte Definition von Chaos angesehen werden, wie sie von Devaney basierend auf Smales fundamentalen Arbeiten zur beidseitig-unendlichen Symboldynamik formuliert wurde. Zudem ist das Li-Yorke-Chaos ein Konzept ausschließlich fr eindimensionale Abbildungen, welches wegen der Totalordnung der reellen Zahlen nicht verallgemeinerungsfhig ist.
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darstellt. Gleichzeitig wird eine vereinfachte empirische Zugnglichkeit ermçglicht. Fr Devaney war allerdings nicht nur die empfindliche Abhngigkeit („Sensitivitt“) entscheidend. Diese – die etwa schon beim Zinseszins erfllt ist – ist alleine nicht hinreichend fr Chaos. Zustzliche Eigenschaften, wie die der topologischen Transitivitt, werden bençtigt.22 Mit topologischer Transitivitt ist eine Art Durchmischung und Unzerlegbarkeit des Zustandsraumes gemeint. Eine Menge, auf der die Abbildung topologisch transitiv ist, kann nicht in weitere topologisch transitive Mengen zerlegt werden (Devaney 1989, 48 f ). Ferner fordert Devaney, dass periodische Orbits vorhanden sind und diese dicht in der betrachteten Menge liegen. Letzteres wurde oft als Element der Regelmßigkeit und als Ordnung interpretiert. Devaney definiert also ein dynamisches System – zunchst ebenfalls auf eindimensionale Abbildungen bezogen – als chaotisch, wenn es folgende Eigenschaften aufweist: 1. Unvorhersagbarkeit („empfindliche Abhngigkeit von den Startwerten“) 2. Unzerlegbarkeit und Durchmischung („topologische Transitivitt“) 3. Elemente der Regelmßigkeit („Existenz und Dichtheit periodischer Orbits“) Devaneys Definition von Chaos, so betonen beispielsweise Peinke, Rçssler und Crannell, ist „the most common“, „the most popular and most widely known“ (Peinke et al. 1992; Cranell 1995). Doch Devaney-Chaos ist wegen der Dichtheits- und der Transitivittsforderung (2. und 3.) selbst an wohldefinierten simulierten Modellsystemen und insbesondere an empirischen Zeitreihen in mathematischer Strenge nicht nachweisbar. Zudem verwendet Devaney sowohl topologische (2. und 3.) als auch metrische (1.) Eigenschaften zur Definition von Chaos. Dies wurde als unbefriedigend angesehen, weil letztere Eigenschaften von der Wahl der Metrik – also von Meßsystemen – abhngen. Sie sind damit kontingenten Momenten unterworfen. Um hingegen von „physikalischen Eigenschaften“ zu sprechen, wird meist eine Invarianz unter einer mçglichst großen Klasse von Transformationen (topologische 22 Eine Abbildung heißt topologisch transitiv auf einer invarianten Menge, wenn jede beliebige offene Menge von jeder beliebigen anderen irgendwann im Laufe der Zeitentwicklung berlagert wird. D.h. eine Abbildung ist topologisch transitiv auf einer invarianten Menge I, wenn fr jedes Paar offener Mengen U, V I ein n > 0, n 2 N, existiert, so dass Fn(U) \ V „ 1.
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quivalenz) gefordert. Banks und andere haben nun Anfang der 1990er Jahre zeigen kçnnen, dass die metrische Eigenschaft der Sensitivitt (1) unter topologischer Konjugation nicht erhalten bleibt, whrend das fr die topologische Transitivitt (2) und die Dichtheit der periodischen Orbits (3) gilt (Banks et al. 1992). Vom Standpunkt der Topologie haben sie dargelegt, dass die sensitive Abhngigkeit – obwohl sie vom Alltagsverstndnis her transparenter und anschaulicher ist – nicht grundlegend ist. Sensitivitt ist nicht essentiell, sondern eine schlichte Folgerung der topologischen Transitivitt und der Dichtheit der periodischen Orbits: Aus (2) und (3) folgt damit (1).23 Die Diskussion um Bedeutungen, um Begriffe, Definitionen und Folgerungen sowie die methodologische Debatte um empirische Zugnglichkeit, intuitive Anschaulichkeit und Transparenz verschrfte sich Ende der 1980er Jahre. Von Cranell wurde kritisiert, dass die topologische Transitivitt nicht intuitiv zugnglich und evident sei (Cranell 1995). Statt dessen schlgt er vor, durch eine „strker intuitive“ Herangehensweise die topologische Transitivitt zu umgehen. Dazu definiert er eine Eigenschaft, die er „strongly blending“ nennt, und knpft hier sein Chaos-Verstndnis an (ebd.).24 – Alligood und Yorke (1989) haben beispielsweise den Terminus „chaotischer Orbit“ im Sinne eines exponentiell instabilen Orbits eingefhrt.25 – Gegenber diesem Verstndnis von Chaos und den Eigenschaften aperiodischer Orbits hat Touhey darauf hingewiesen, dass die Quelle fr Chaos auch in bestimmten Eigenschaften periodischer Orbits gesehen werden kann (Touhey 1997).26 Dies ist interessant, weil zumeist die aperiodischen Orbits als Quelle des Chaos betrachtet werden und nicht allein die periodischen. Die topologische 23 Devaney-Chaos kann auch auf hçhere Dimensionen – also ber eindimensionale Abbildungen hinaus – bertragen werden, siehe Loistl/Betz (1994, 42). 24 Eine stetige Abbildung F ber dem eindimensionalen metrischen Raum X heißt „strongly blending“, wenn fr jedes Paar nichtleerer offener Mengen U und V aus X ein k > 0 existiert, so dass Fk(U) \ Fk(V) „ 1. Es gibt demnach Dynamiken, die topologisch transitiv sind, aber nicht „strongly blending“, wie beispielsweise F(h) = h + k, k/p irrational. Wenn jedoch zustzlich zu „strongly blending“ periodische Orbits betrachtet werden, dann lsst sich Chaos im Sinne Devaneys definieren (Cranell 1995). 25 Ein Orbit O(x) in einem beschrnkten X heißt chaotisch, wenn F auf X sensitiv ist und fr den Abschluss gilt: cl(O(x)) = X (Alligood/Yorke 1989). 26 Gegeben sei ein metrischer Raum X und eine kontinuierliche Abbildung F: X ! X. F heißt chaotisch auf X, wenn fr eine offene nichtleere Menge V X ein periodischer Punkt p 2 U existiert mit einer nichtnegativen ganzen Zahl k 2 N, so dass Fk(p) 2 V.
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Transitivitt kann somit durch spezielle Eigenschaften periodischer Orbits auf offenen Mengen erfllt werden. Attraktoren Der Begriff „Chaos“ tritt oft gemeinsam mit dem Begriff „Attraktor“ auf – als „chaotischer Attraktor“. Doch auch der Begriff „Attraktor“ und der ihm zugrundeliegende Begriff der „attraktiven Menge“ sind uneinheitlich. Einigkeit herrscht allerdings darber, dass die attraktive Menge eine Forderung an die (Umgebung bzw. an die) ußere Struktur der Menge ist. Hingegen stellt die topologische Transitivitt eine Forderung an die innere Struktur dar. Unter einer attraktiven Menge wird meistens eine abgeschlossene invariante Menge verstanden: Beliebige Umgebungen werden unter der Zeitentwicklung auf diese Menge abgebildet.27 Unter einem Attraktor wird i.A. eine attraktive Menge verstanden, welche topologisch transitiv ist.28 Die topologische Transitivitt ist computernumerisch allerdings fr eine gegebene oder simulierte Dynamik nicht positiv entscheidbar. Wegen der numerischen Unentscheidbarkeit29 ist die topologische Transitivitt aus Sicht der Physik und Informatik als abstrakt einzustufen. Aber nicht nur aus numerisch-physikalischer Perspektive wurde an dieser Attraktor-Definition Kritik gebt.30 Ruelle hatte Anfang der 1980er Jahre 27 Es gibt demnach eine Umgebung Uf von A, so dass fr alle x 2 Uf gilt: (1) fn(x) 2 Uf bzw. vt(x) 2 Uf fr n 0 bzw. t 0, und (2) fn(x) ! A bzw. vt(x) ! A fr n ! 1 bzw. t ! 1 (Wiggins 1988, 21; Guckenheimer/Holmes 1983, 34). Auch wenn diese Definition – ausgehend von Milnors (1985) Arbeit – heftig kritisiert wurde, wollen wir sie zunchst verwenden. 28 Eine Teilmenge K einer Mannigfaltigkeit M heißt Attraktor bzgl. des Flusses v : M ! M bzw. der Abbildung f: M ! M, wenn sie topologisch transitiv und attraktiv ist (Wiggins 1990, 45; Guckenheimer/Holmes 1983, 36; Devaney 1989, 201). Guckenheimer und Holmes (1983,36) fordern statt der topologischen Transitivitt die Existenz eines dicht liegenden Orbits. 29 Ein numerisch ermittelter Attraktor kann u. U. bei einer prziseren Integrationsroutine und Partition des Zustandsraumes in koexistierende Attraktoren zerfallen. 30 Sie wurde bereits im Jahre 1983 „the most naive definition“ genannt (Guckenheimer/Holmes 1983), weil demnach beispielsweise schon ein homokliner Sattelknoten eines zweidimensionalen Vektorfeldes, der attraktiv vom Inneren und repulsiv vom ußeren ist, ein Attraktor wre. Dieses Beispielsystem ist nicht einmal strukturell stabil.
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darauf hingewiesen, dass Attraktoren nicht notwendigerweise offene Einzugsgebiete besitzen (mssen) (Ruelle 1981). Mittlerweile liegen analytische und numerische Erkenntnisse ber die Existenz von so genannten „Riddled Basins“, d. h. von fein durchlçcherten Einzugsgebieten31 vor, die es sinnvoll erscheinen lassen, die Attraktor-Definition zu erweitern, insbesondere dann, wenn zwei oder mehrere Attraktoren gemeinsam vorliegen (Alexander et al. 1992). Es existieren somit Einzugsgebiete mit einem positiven Maß, die keine offenen Mengen enthalten.32 Ein Startpunkt aus jeder offenen Menge hat eine positive Wahrscheinlichkeit, sowohl im betreffenden Einzugsgebiet als auch nicht in diesem (und damit in einem anderen Einzugsgebiet) zu liegen. Um diese Erkenntnisse zu bercksichtigen, schlagen Alexander et al. (1992) vor, „Attraktor“ neu und anderes zu definieren; einige Anstze finden sich schon bei Milnor (1985) und Ruelle (1981). Der Attraktorbegriff, so Alexander et al. (1992), sei unter Bezugnahme auf empirisch zugngliche Maße und ohne Rekurs auf offene Mengen zu fassen: Eine abgeschlossene Menge soll demnach „Attraktor“ heißen, wenn die folgenden Bedingungen erfllt sind: Es existiere ein betreffendes Einzugsgebiet, dessen Startpunkt unter Zeitentwicklung auf die abgeschlossene Menge – den Attraktor – abgebildet werden und diese besitzen ein echt positives Lebesguemaß.33 Damit wird 31 Unter einem durchlçcherten Einzugsgebiet („Riddled Basin“) ist folgendes zu verstehen: In jeder e-Umgebung U(x) eines jeden Punktes x des Bassins B(A) des Attraktors bzw. der attraktiven Menge A liegen Punkte, die nicht zum Bassin gehçren. Die Punktmenge besitzt ein positives Lebesguemaß: l(U(x) \ comp(B(A))) > 0, x 2 B(A),
wobei wir mit comp(B(A)) das Komplement des Bassins des Attraktors A bezeichnen (Alexander et al. 1992). 32 Dies ist auch von so genannten fetten Cantormengen bekannt. 33 Schon bei Collet und Eckmann ist das Verstndnis eines Attraktors als derjenigen Menge zu finden, auf welche unter der Dynamik fast alle – nicht notwendigerweise alle – Punkte in einer Umgebung abgebildet werden (Colett/Eckmann 1980). Wir whlen eine Formulierung nach Alexander et al. (1992), welche u. a. hnlich auch bei Milnor (1985) zu finden ist. Eine abgeschlossene Teilmenge A M heißt Attraktor, wenn die folgenden Bedingungen erfllt sind: das verallgemeinerte Bassin B(A) („realm of attraction“), das aus allen Punkten x 2 M besteht, fr die die y-Grenzmenge y(x) A ist, besitzt ein echt positives Lebesguemaß. Es existiert keine andere abgeschlossene Menge A’ A, die echt kleiner als A ist, so dass bis auf eine Menge vom Maß Null gilt: B(A’) = B(A). Eine weitere, frhe Definition fr einen Attraktor wurde von Ruelle und Takens (1971) vorgeschlagen, welche sich auf so genannte nichtwandernde Mengen
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nicht nur der Erkenntnis der Existenz fein durchlçcherter Einzugsgebiete Rechnung getragen, sondern auch (durch das physikalisch zugngliche Lebesguemaß) eine empirische Relevanz gesichert.34 So zeigt sich, dass nicht nur der Chaos-, sondern auch der Attraktorbegriff Diskussionen ausgelçst hat. Bis heute ist kein Konsenz erreicht worden: es liegt keine einheitliche Definition vor. Chaos in physikalischen Differenzialgleichungssystemen Die Verstndnisweisen von „Chaos“ kçnnen jeweils mit den verschiedenen Attraktor-Definitionen kombiniert werden. Die Existenz von Chaos – in welchem Verstndnis auch immer – ist fr zeitkontinuierliche Dynamiken in ein und in zwei Dimensionen nicht mçglich (Poincar-Bendixson-Theorem). Notwendig ist stets, dass es Orbits gibt, die sich hnlich wie ein unendlich langer, unendlich dnner verschlungener Faden eines Wollknuels anordnen kçnnen.35 In der Attagssprache ausgedrckt: Es muss drunter und drber gehen kçnnen, um „chaotisch“ zu sein. Eine der gngigsten Definitionen, die analog zum topologischen Chaos in einer Dimension formuliert werden kann, ist die folgende: Ein bezieht. Weiterfhrende Stze sind bei Ruelle (1981) zu finden. Aufgrund der unanschaulichen Abstraktion im mathematischen Sinne hat sich – trotz der numerischen Vorteile – die Eckmann-Ruelle’sche Attraktordefinition nicht durchgesetzt (Eckmann/Ruelle 1981). 34 Als Fallbeispiel betrachten wir die bekannte logistische Abbildung. Wir whlen den kleinsten Kontrollparameterwert l der Feigenbaum-Periodenverdopplung 2n fr n ! 1, fr den unendlich viele periodische Orbits existieren ( l 3,5699…) (Devaney 1989). Bei diesem Kontrollparameterwert findet der bergang von periodischem in chaotisches Verhalten (im Sinne von Li und Yorke) statt. In diesem Fall liegt keine attraktive Menge vor, welche – klassisch, wie oben dargelegt – ber Umgebungen definiert ist. Dennoch mçchte Ruelle hier von einem Attraktor sprechen (Ruelle 1981). Der Abschluss des aperiodischen Orbits, der im Urbild des Maximums startet (Knetsequenz), ist eine Cantormenge A (Milnor 1985). Es existieren periodische Punkte in jeder Umgebung von A, aber nicht in A. Diese periodischen Punkte sind alle instabil. Fr fast alle Anfangsbedingungen x0 konvergiert Fn(x0), n ! 1, gegen die Menge A. Milnor und Ruelle nennen A einen Attraktor. Die abzhlbar-unendlichen, instabilen periodischen Punkte sowie deren Urbilder konvergieren jedoch nicht gegen A. Das Einzugsgebiet des Attraktors A ist durchlçchert; es liegt ein „Riddled Basin“ vor. 35 Dass drei Dimensionen in fast allen Fllen sogar hinreichend zur vollstndigen Beschreibung chaotischer Dynamiken sind, darauf hat Robinson (1998) in einem Artikel mit dem Titel „All possible chaotic dynamics can be approximated in three dimensions“ hingewiesen.
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chaotischer Attraktor ist ein Attraktor mit Devaney-Chaos (vgl. Devaney 1989). Demgegenber whlt beispielsweise Wiggins einen anderen Zugang und betont, dass die zweidimensionale zeitdiskrete Smale’sche Hufeisenabbildung (Smale 1967)36 „the prototypical map“ ist, welche ein „chaotic invariant set“ besitze; die Hufeisenabbildung sei oft „the chaotic heart of numerically observed strange attractors.“ (Wiggins 1990, 420/ 572)37 Die Smale’sche Hufeisenabbildung (Wiggins 1990, 436) besitzt 1. abzhlbar unendlich viele periodische Orbits, 2. berabzhlbar viele aperiodische Orbits und 3. einen dichten Orbit. Die Sensitivitt folgt aus diesen drei Eigenschaften. Eine derart chaotische invariante Menge, welche im Falle des Original-Hufeisens von Smale repulsiv ist (Cantor-Menge), ist zunchst nicht direkt mit attraktivem Chaos oder einem seltsamen Attraktor zu verbinden. Doch die drei grundlegenden Eigenschaften lassen sich bernehmen. Smale hatte in seiner bahnbrechenden Arbeit im Jahre 1967 das Programm einer besonderen geometrischen Theorie dynamischer Systeme und insbesondere den Stellenwert eines besonderen Orbits vorgestellt, des transversalen homoklinen Orbits (Smale 1967). Vor diesem Hintergrund verstehen Wiggins, Guckenheimer und Holmes – unter Einbeziehung der Hufeisen-Eigenschaften – einen seltsamen Attraktor wie folgt: Ein Attraktor heißt seltsam („strange“), wenn er einen transversalen homoklinen Orbit enthlt (Guckenheimer/Holmes 1983, 256; Wiggins 1988, 226 f ).38 –
36 Eine Einfhrung in die Hufeisenabbildung findet sich in Wiggins (1990, 420 f ). 37 Diese Anschauung ist auch bei Moon (1990) zu finden. 38 Der Begriff „homokliner Orbit“ geht auf Poincar aus dem 19. Jahrhundert zurck. Er ermçglicht – der topologischen Transitivitt nicht unhnlich – eine Art einer „Durchmischung“ des Zustandsraumes. Fr einen transversalen homoklinen Punkt schneiden sich die stabile und instabile Mannigfaltigkeit transversal. Sie sind stabil gegenber kleinen Stçrungen des Systems. Wenn ein transversaler homokliner Punkt existiert, dann existieren unendlich viele homokline Punkte. Aus der Existenz eines transversalen homoklinen Punktes folgt die Existenz einer hyperbolisch invarianten Menge (Guckenheimer/Holmes 1983; Wiggins 1990, 470 f ). Numerisch ist diese durch das so genannte SmaleBirkhoff-Theorem zugnglich. Nach diesem kann eine topologische quivalenz zu einem Prototyp einer chaotischen Abbildung hergestellt werden: der Bernoulli-Shift-Abbildung mit zwei Symbolen. Es existiert ein Smale’sches Hufeisen (Wiggins 1990; Wiggins 1992, 60; Guckenheimer/Holmes 1983, 252). D.h.
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Weitere Definitionen von seltsamen bzw. chaotischen Attraktoren wurden kontrovers diskutiert (Grebogi et al. 1984; Ruelle 1989).39 Zum empirisch-physikalischen Nachweis der Existenz und zur Charakterisierung von Chaos sind diese beiden (verwandten topologischen) Zugnge wenig geeignet. Schließlich nehmen sie nicht auf empirischmessbare Kenngrçßen Bezug. Dass einige der heute prominenten Verstndnisweisen von „Chaos“ an die Ursprnge des Chaos-Begriffs in der statistischen Physik und Thermodynamik sowie der (probabilistischen) Informationstheorie – an Gibbs, Boltzmann, Wiener, Shannon – anknpfen, weist auf die Bedeutung empirischer Zugnglichkeit hin. Entropiemaße werden hier entwickelt und erweitert – und zur Charakterisierung von Chaos herangezogen. Die (metrische) Kolmogorov-Entropie beispielsweise misst die Divergenz benachbarter Orbits im Zustandsraum und, damit gleichbedeutend, den Verlust an Information, der durch die sensitive Abhngigkeit unter Zeitentwicklung entsteht. Je weiter die Zeit voranschreitet, je lnger sich die Dynamik entwickelt hat, desto mehr Informationen bençtigt man, um das System auf einer speziellen Trajektorie mit einer bestimmten Genauigkeit zu finden; die KolmogorovEntropie ist definiert als die mittlere Rate des Informationsverlusts. So wird mitunter ein dynamisches System als chaotisch bezeichnet, wenn die Kolmogorov-Entropie grçßer als Null ist (Schuster 1988).40 Eine positive also: Wenn ein transversaler homokliner hyperbolischer Fixpunkt existiert, dann existiert ein Smale’sches Hufeisen (Wiggins 1992, 61). 39 Zu den Begriffen: Seltsamer Attraktor: Ein Attraktor heißt seltsam, wenn er ein asymptotisches Maß mit positiven Lyapunov-Exponenten besitzt (Ruelle 1989); Chaotischer Attraktor: Ein Attraktor heißt chaotisch, wenn fr einen typischen Orbit ein positiver Lyapunov-Exponent existiert (Grebogi et al. 1984). – Ein typischer Orbit ergibt sich fr fast alle Startbedingungen im Einzugsgebiet. Wir bemerken, dass von Grebogi et al. (1984) unterschieden wird zwischen einem chaotischen und einem seltsamen Attraktor. Dabei wird unter einem seltsamen Attraktor eine spezielle Geometrie, d. h. eine nichtendliche Punktmenge verstanden, welche nicht stckweise differenzierbar ist. Chaos ist dagegen eine dynamische Eigenschaft. 40 Grundlegend fr die Verwendung von Entropiemaßen K sind Arbeiten von Schuster (1988, 110 f ) (vgl. Eckmann/Ruelle 1985). Sei v(t) = (v1(t), v2(t), … , vd(t)), d 2 N, eine Trajektorie eines chaotischen Attraktors mit den Komponenten vi(t). Der d-dimensionale Zustandsraum sei – entsprechend der empirischen Zugnglichkeit – disjunkt partitioniert in Wrfel mit Volumen sd, s 2 R. Der Zustand des Systems wird in Zeitintervallen t gemessen. Sei Pio :::in die gemeinsame Wahrscheinlichkeit dafr, dass v(t = 0) im Wrfel io liegt, v(t = t) im Wrfel i1 und v(t = nt) im Wrfel in. Analog zur thermodynamischen Entropie kann eine Informationsentropie nach Shannon wie folgt definiert werden:
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Entropie wird also verstanden als eine negative Information (Abarbanel 1996). Damit orientiert sich dieses „Chaos“-Verstndnis unmittelbar – wie wir analog zu der Diskussion der Lyapunov-Exponenten gezeigt haben – an numerischer und physikalischer Zugnglichkeit. Insofern die Kolmogorov-Entropie misst, wie chaotisch ein dynamisches System ist, steht sie in Verbindung zu den positiven Lyapunov-Exponenten und ist darstellbar als mittlere Summe der positiven Lyapunov-Exponenten (Pesin 1977).41 – Die Kolmogorov-Entropie wurde vielfach verallgemeinert (vgl. Schuster 1988). Insbesondere wurde sie erweitert von der rumlichen (Zustandsraum-) Partition auf eine raumzeitliche: Gerade auch diese Kolmogorov-Entropie der q-ten Ordnung42 oder auch generalistierte Entropie stellt eine empirisch zugngliche qualitative Maßgrçße zur Kennzeichnung dynamisch instabilier Systemdynamiken dar. Chaos in zellulren, rumlich verteilten Systemen Von „Chaos“ wird auch in rumlich verteilten Systemen gesprochen (Wolfram 1986; Diks et al. 1997; Kaneko 1989a/b; Weitkmper 1993). Exemplarisch dafr sind Zellulre Automaten (CA).43 Ferner wird auch bei Knstlichen Neuronalen Netzen von der Existenz von Instabilitt und Kn ¼
P io :::in
Pio :::in log Pio :::in
Dieses Entropiemaß ist proportional zu der Information, die bençtigt wird, um das System auf einer speziellen Trajektorie, die die Wrfel io….in durchluft, mit der Genauigkeit s zu finden. Umgekehrt kann der Informationsverlust ber den Systemzustand von Zeitschritt n auf n+1 interpretiert werden. Die KolmogorovEntropie ist definiert als die mittlere Rate des Informationsverlusts. Ein deterministisches dynamisches System heißt chaotisch, wenn die Kolmogorov-Entropie > 0 ist (Schuster 1988). 41 Diesen Zusammenhang stellt explizit die so genannte Pesin-Identitt her, welche streng fr spezielle Maße, die SRB-Maße, bewiesen wurde (vgl. Eckmann/Ruelle 1985). Fr eindimensionale Abbildungen ist die Kolmogorov-Entropie identisch mit dem Lyapunov-Exponenten (Schuster 1988, 113). 42 Aus der generalisierten Entropie kçnnen viele Entropietypen abgeleitet werden. Fr q ! 1 ergibt sich die metrische Entropie, die wir eben diskutiert haben; fr q ! 0 erhlt man die topologische Entropie, fr q = 2 die oft verwendete Korrelationsentropie, usw. 43 Die Modellklasse der Zellulren Automaten bildet die Grundlage fr die vielfache (allerdings terminologisch nicht unproblematische) Sprechweise von „Knstlichem Leben“. So untersucht beispielsweise Langton (1984; 1986) „Artificial Life with Cellular Automata“.
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von Chaos gesprochen (Doyon et al. 1993; Chen/Aihara 1997; Aihara et al. 1990). Der sich hier zeigende Zugang ist nicht so neu. Schon Norbert Wiener ließ sich in den 1930er Jahren auf Anregung von John v. Neumann dazu inspirieren, von „[raum-] diskretem Chaos“ zu sprechen und „Chaos“ ber statistische Kenngrçßen zu spezifizieren (Wiener 1938, 925). Eine Modellierung unter Verwendung von Zellulren Automaten (CA) hat gewisse Vorteile gegenber jener mit Differenzial- oder Differenzengleichungen. Denn CA stellen gleichermaßen „dynamische Systeme“ und Modelle fr eine passgenaue numerisch-algorithmische Behandlung dar. Sie sind als „Rechner-nah“ zu bezeichnen. Toffoli geht sogar soweit, die Modellklasse der „Cellular Automata as an Alternative to (Rather Than an Approximation of ) Differential-Equations in Modeling Physics“ anzusehen (Toffoli 1984): Fr die zuknftige, stark computergesttzte Entwicklung der Physik seien sie so grundlegend wie einst die theoretische Entwicklung der Differenzial- und Integralrechnung durch Newton und Leibniz. Das macht Modelle, die auf CA basieren, zu einem zentralen Beispiel der nachmodernen Physik: man findet eine nachmoderne Modell- statt der blichen klassisch-modernen Theorieorientierung. CA-Modelle sind als hinreichend autonom gegenber Theorien zu bezeichnen (Morgan/Morrison 1999). Sollte also von „Chaos“ gehaltvoll gesprochen werden kçnnen, muss der Begriff auch fr CA-Modelle definiert werden kçnnen. Mathematische Chaos-Definitionen, wie wir sie oben diskutiert haben, sind zunchst nicht direkt auf CA bertragbar, weil CA eine endliche Auflçsung (in Raum, Zeit und Zustnden) besitzen. Fr die Existenz von „Chaos“ im exakten, abstrakten, streng mathematischen Sinne ist ein kontinuierlicher Zustandsraum notwendig, unendliche Zeit und unendliche Przision in der Verarbeitung der Zustnde wie dies (a) in CA und (b) fr digitale Computer nicht gegeben ist. Anhand der CA wird vielfach die rumliche und die zeitliche Endlichkeits- versus Unendlichkeits-Problematik diskutiert. Der verallgemeinerte Begriff des Chaos in CA ist weniger abstrakt als andere Chaos-Definitionen. Hilfreich ist dabei ein Blick auf das ChaosVerstndnis von Stephen Wolfram, einem der Begrnder der CA, welches sich an die Prognosemçglichkeit und die Sensitivitt anlehnt (Wolfram 1986, 254; Grassberger 1984; Mar/Denis 1996). Der von Wolfram als Klasse III der CA (CAIII) bezeichnete Typ kann dynamisch-instabiles, „chaotisches“ Verhalten aufweisen (vgl. Wolfram 1984), wobei darauf hingewiesen wird, dass dies lediglich analog bzw. hnlich zu Chaos in
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dynamischen Systemen zu verstehen sei (vgl. Grassberger 1984). Dieser Typ chaotischen Verhaltens ist computernumerisch irreduzibel. „Its outcome can effectively be found only by direct simulation or observation.“ Nach hinreichend vielen Abbildungsschritten sind die statistischen Eigenschaften eines „chaotischen“ CAIII also fr (fast) alle Startbedingungen gleich, insbesondere konvergiert die Dichte der positiv besetzten Zellzustnde gegen einen Wert ungleich Null. Zu beobachten ist auch eine „sensitive Abhngigkeit von den Startzustnden“. Verschiedene Entropieklassen kçnnen fr CA als Maß fr zellulres Chaos definiert werden (Wolfram 1985, 171 f ). Wesentliches Indiz ist eine positive raum- und zeitliche Maßentropie (Definitionen in: Wolfram 1985, 171; Wolfram 1986, 257 f ). Diks et al. sprechen von „zellulrem Chaos“, wenn die Dichte der Informationsentropie positiv ist (Diks et al. 1997). Dass unter bestimmten Bedingungen in numerischen Simulationen (also auf endlichen Maschinen) – auch auf CA bezogen – statistische Eigenschaften zeit- und raumkontinuierlicher dynamisch-instabiler Systeme wie die invariante Wahrscheinlichkeitsverteilung und Lyapunov-Exponenten (und damit Maße fr „Chaos“) erhalten bleiben, haben Binder und Jensen (1986) gezeigt. In der Praxis der computernumerischen Behandlung sind von einem unendlichen mathematischen Objekt c nur endlich viele Elemente der Lnge n bekannt. Wendet man beispielsweise auf einen eindimensionalen CA eine (einseitig operierende) Shift-Abbildung an, wird das Objekt c nach n-Abbildungsschritten unvorhersagbar. Wren unendlich viele Elemente bekannt und wren diese simultan verarbeitbar, so wren die Zustnde in einem CA grundstzlich prognostizierbar. Um nun den Blick auf ein „zellulres Chaos“ hinsichtlich der Nichtvoraussagbarkeit zu erweitern, soll auf grundlegende Ausfhrungen von Codenotti und Margara (1996) hingewiesen werden. Sie stellen einen Zusammenhang von Theorien dynamischer Systeme und CA her, insbesondere durch die Einfhrung der mathematischen Begriffe der topologischen Transitivitt und Sensitivitt in CA: Wenn ein Zellulrer Automat topologisch transitiv ist, zeigt er eine sensitive Abhngigkeit von den Startwerten (Codenotti/ Margara 1996). Ein solcher Zellulrer Automat heißt chaotisch. Zellulre Automaten, die nur periodische Orbits enthalten, sind nicht dynamisch instabil. Zellulre Automaten bieten also eine Mçglichkeit, Chaos (in einer speziellen Verstndnisweise) numerisch simulier- und darstellbar zu machen, indem Diskretisierungen schon whrend der Modellierung und vor der numerischen Behandlung in Simulationen vorgenommen werden:
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Die Rechnernhe fhrt zur Explikation der bersetzungsprozeduren vom Kontinuierlichen ins Diskrete und reduziert die Intransparenz numerischer Ablufe. Fazit: Unbestimmbarkeit und Unauflçsbarkeit von „Chaos“ „Chaos“ bleibt ein vieldeutiger Terminus. Vielleicht ist eine Vereinheitlichung nicht mçglich oder angesichts der Heterogenitt der Objektsysteme sogar nicht wnschenswert. Dass es keine begrifflichen Vereinheitlichungsbestrebungen gibt, ist zumindest bemerkenswert. Man scheint gut in der begrifflichen Mehrdeutigkeit und semantischen Unbestimmtheit forschen, handeln und kommunizieren zu kçnnen. Mit Gerhard Gamm kçnnte herausgestellt werden: Eine „aktuelle Vorstellung verknpft das Unbestimmte eng mit dem Chaotischen, das in sich selbst wiederum mehrdeutig ist.“ (Gamm 1994, 14) Der Chaos-Begriff scheint plural, phnomenbezogen und perspektivenabhngig zu bleiben – wie schon in seiner langen Begriffsgeschichte jenseits der mathematischen Physik. Die Diskussion um den Chaos-Begriff zeigt, dass Begriffsauslegungen und -festlegungen, Begriffsreflexionen und -revisionen in der nachmodernen Physik eine herausragende Rolle zukommen. In aller Vorsicht kçnnte man von „hermeneutischen Elementen“ in der nachmodernen Physik sprechen. Begriffliche Vereinheitlichungsbestrebungen mçgen sich in der klassisch-modernen Physik finden – der nachmodernen Physik sind sie fremd. Die Grundbegriffe der nachmodernen Physik bleiben ebenso plural wie ihre Gegenstandsfelder, ihre Methoden und Aussagen.
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