190 70 5MB
German Pages 263 [264] Year 1991
Eine Einführung in die Wissenschaftsphilosophie von
Karel Lambert Gordon G. Brittan, jr.
aus dem Amerikanischen übersetzt von
Joachim Schulte
w DE
G 1991 Walter de Gruyter
Berlin
New York
S A M M L U N G G Ö S C H E N 2236 Karel Lambert University of California, Irvine Gordon G. Brittan, jr. M o n t a n a State University Titel der Originalausgabe: An Introduction to the Philosophy of Science. T h i r d edition ©
Copyright 1970, 1 9 7 9 and 1 9 8 7 by Karel L a m b e r t and G o r d o n G. Brittan, jr. Deutsche Übersetzung mit Genehmigung der Ridgeview Publishing C o m p a n y ClP-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Lambert, Karel: Eine Einführung in die Wissenschaftsphilosophie / von Karel Lambert ; Gordon G. Brittan. Aus dem Amerikan. übers, von Joachim Schulte. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1991 (Sammlung Göschen ; 2236) Einheitssacht.: An introduction to the philosophy of science P(H). Η sei (x) (Sx D Gx) und Ε sei Sa & Ga. Dann werden Η und Ε bei der ersten Interpretation („grün") wieder beide wahr sein, und Η wird intuitiv gesprochen durch Ε bestätigt, während bei der zweiten Interpretation („blün") Ε wahr und Η falsch sein wird, und Η wird intuitiv gesprochen nicht durch Ε bestätigt. Und so geht es nach Glymours Ansicht weiter im Hinblick auf jede sonstige formale Bestätigungstheorie des hier betrachteten Typs. Daraus ist offenbar die Lehre zu ziehen, daß sich das „blün"-Paradox nicht benutzen läßt, um zwischen den vorliegenden Bestätigungstheorien eine Entscheidung zu treffen. Keine von ihnen kann das Paradox lösen, ohne bestimmte Voraussetzungen hinsichtlich der Bedeutung der Ausdrücke hinzuzufügen. Also sollte ein eventueller Mangel in dieser Hinsicht nicht der Münchhausenanalyse angelastet werden. Eine formale Bestätigungstheorie trifft nur dann zu, wenn die Interpretation der Sprache, auf die man sie anwendet, eingeschränkt wird.
34
Diesen Gedanken hat Glymour in seinem Briefwechsel mit den Verfassern zum Ausdruck gebracht.
5. Bestätigung nach dem Münchhausenprinzip
139
Schließlich müssen wir eine offenbar gravierende Schwierigkeit erwähnen, die der Münchhausenanalyse entgegensteht. Diese Analyse wurde, wie wir wissen, so formuliert, daß sie der wirklichen Wissenschaftspraxis entsprechen sollte, insbesondere der häufig schwierigen Prüfung einzelner Hypothesen durch besonders relevante Belege. Es ist aber gar nicht klar, daß es der Münchhausenanalyse gelingt, alle Probleme zu lösen, die sie im Zusammenhang der Relevanzthematik zu lösen beabsichtigt. Im Gegenteil, sie läßt eines der herkömmlichen Probleme in frappierender Weise hervortreten. 35 Dabei handelt es sich um das Problem der ad-hoc-Hypothesen. Ad-hoc-Hypothesen (also Hypothesen für einen bestimmten Zweck) werden eigens ersonnen, um Daten zu erklären, die sonst gegen eine Theorie sprächen; darüber hinaus haben sie keinen Erklärungswert. Für die eigentliche Erklärung der Daten und für die Prüfung von Theorien sind ad-hoc-Hypothesen nicht relevant. Das Problem liegt darin, der jeweiligen Bestätigungsanalyse ein Relevanzkriterium auf solche Weise einzubauen, daß die ad-hoc-Hypothesen ausgeschlossen werden können. Das gelingt der Münchhausenanalyse nicht. Das Hauptmerkmal der Münchhausenanalyse ist, daß ihr zufolge die Belege mit Hilfe von Hilfshypothesen und Hintergrundtheorien mit einer Hypothese in Verbindung gebracht werden. Das Problem liegt nun darin, daß es möglich ist, jeden beliebigen Beleg mit jeder beliebigen Hypothese in Verbindung zu bringen, solange die Hilfshypothese demenstsprechend ausgewählt wird. Gleichgültig, was für ein Gegenstand durch Fa & Ga beschrieben wird, und gleichgültig, was die Hypothese (x)(Rx D Sx) ausdrückt — um die Beschreibung mit der Hypothese in Verbindung zu bringen, brauchen wir also nichts weiter zu tun, als eine Hilfshypothese der Form (x)(Fx D Rx) &C (x)(Gx Ξ SX) anzunehmen. Damit können wir uns natürlich nicht abfinden. Bei der Prüfung wissenschaftlicher Theorien kann man nicht einfach jede beliebige Hilfshypothese voraussetzen. Man darf nur Hilfs-
35
Vgl. Daniel Garber: „Old Evidence and Logical Omniscience in Bayesian Confirmation Theory", in: Testing Scientific Theories.
140
Kapitel III: Bestätigung
hypothesen der richtigen Art annehmen, d. h. solche, die nicht ad hoc sind. Welches sind aber Hilfshypothesen „der richtigen Art"? Glymour meint, solche Hypothesen gehörten zu einer akzeptierten Theorie oder würden auf viele verschiedene Weisen durch eine Vielfalt von Belegen gestützt. Dies scheint die Schwierigkeit jedoch eher aufzuschieben als zu lösen. Denn wenn wir fragen, aus welchen Gründen die Hintergrundtheorie akzeptiert wurde oder auf welche Weise die Hilfshypothesen gestützt werden, ist immer noch ein Kriterium nötig, das angibt, warum die Theorie es wert war, akzeptiert zu werden, und dabei kann es sich nur um ein Kriterium handeln, das zeigt, warum die Stützung nicht inhaltsleer war. Wird kein derartiges Kriterium vorgelegt, besteht nach der Münchhausenanalyse kein Grund, die einen Theorien vor jenen anderen zu bevorzugen. Das liegt daran, daß es ohne ein solches Kriterium stets möglich ist, zwei beliebige Theorien durch die je verfügbaren Belege zu bestätigen, solange man scharfsinnig genug ist, eine Verknüpfungshypothese ausfindig zu machen. Mit anderen Worten, die Münchhausenanalyse scheint entweder zu einem unendlichen Regreß zu führen oder zu der holistischen These, wonach sich die gesamte Wissenschaft (also die Menge aller gestützten Hypothesen) an ihrem Zopf emporzieht. Diese letztere These untergräbt jedoch die intuitive Anschauung im innersten Kern jeder Bestätigungstheorie, wonach Hypothesen jeweils einzeln und in spezifizierbarer Weise durch Belege gestützt werden.
6. Bewertung. Das Problem der Relevanz Hempels Erklärung der Bestätigung durch positive Einzelfälle gewährt den Hypothesen Stützung auch dann, wenn das auf eine Weise geschieht, die nach intuitiver Einschätzung irrelevant ist; im Fall des Rabenparadoxes sind die Belege irrelevant, im Fall des „blün"-Paradoxes ist die Hypothese irrelevant. Die Bayessche Analyse schließt Belege als irrelevant aus, die — intuitiv und von der Praxis her gesehen — eben doch Hypothesen stützen. Dies ist das Problem der „alten Belege". Der Münchhau-
6. Bewertung. D a s P r o b l e m der Relevanz
141
senanalyse gelingt es weitgehend, das Rabenparadox zu lösen, und sie läßt „alte Belege" zu, doch sie hat ihre eigenen Relevanzprobleme. Im Mittelpunkt der Bestätigungsprobleme scheint also das Problem der Relevanz zu stehen. Nun könnte man drei verschiedene Vorschläge machen, um zu erklären, warum dieses Problem bisher ungelöst ist: 1. Die Wissenschaftsphilosophen haben sich nicht eingehend genug mit dem Begriff der Relevanz beschäftigt. Z.B. ist vielleicht die zugrundeliegende klassische Logik, die bei dieser Auseinandersetzung durchweg vorausgesetzt wird, selbst die Ursache des Relevanzproblems. 2. Formale Analysen des betrachteten Typs sind womöglich zum Mißerfolg verurteilt, weil im Fall der Bestätigung — wie vielleicht auch im Fall der Erklärung — pragmatische Aspekte ausschlaggebend sind. Dabei ist es nicht bloß so, daß man bei einer adäquaten Bestätigungsanalyse den theoretischen Kontext als maßgeblichen Parameter gelten lassen muß. Sowohl der Vertreter der Bayesschen als auch der Verfechter der Münchhausenanalyse erkennen die Wichtigkeit des theoretischen Kontexts in formal mehr oder weniger präziser Weise an. Doch die theoretischen und sonstigen Kontexte wechseln, und was in einem bestimmte Fach oder zu einer bestimmten Zeit als Bestätigung gilt, braucht in einem anderen Fach oder in einer anderen Epoche nicht als Bestätigung anerkannt zu sein. 3. Damit ergibt sich die Möglichkeit, daß es vielleicht gar keine monolithische Darstellung der Bestätigung gibt. Die meisten Wissenschaftsphilosophen finden diese Möglichkeit besorgniserregend, denn ihnen geht es um eine Darstellung, die sowohl präzis als auch völlig allgemein ist. Zwar impliziert keine der bisherigen Ausführungen eine pluralistische Erklärung, doch diese ist vereinbar mit einer Art methodologischer Vorsicht, die kennzeichnend ist für die neuere Auseinandersetzung mit dem Bestätigungsbegriff. Glymour z. B. nimmt für seine Analyse nicht mehr in Anspruch, als daß sie die Struktur einiger entscheidender Bestätigungsargumente erhellt, die in der Wissenschaftsgeschichte vorgebracht worden sind. Das Problematische an einem
142
Kapitel III: Bestätigung
derartigen Pluralismus ist freilich, daß es dann nicht mehr plausibel ist, sich auf eine bestimmte Bestätigungstheorie als Maßstab festzulegen und auf diese (von Theorien häufig in Anspruch genommene) Weise Abweichungen vom Maßstab zu erklären oder Hypothesen zu kritisieren, die nicht so gestützt sind, wie es von der Standardanalyse verlangt wird. Das bleibende Relevanzproblem deutet jedoch nicht darauf hin, daß bisher keine großen Fortschritte gemacht worden sind oder daß das Problem unlösbar ist, wie es in der Philosophie oft (fälschlich) der Fall zu sein scheint. In diesem Kapitel sind wir von der Voraussetzung ausgegangen, daß manche Hypothesen durch die Belege, die sich wirklich auf sie beziehen, tatsächlich ausreichend bestätigt sind. Bisher hat die Diskussion nichts ergeben, was gegen diese intuitive Grundanschauung spräche.
Kapitel IV Theorien 1.
Einleitung
In der Erörterung des Erklärungs- und des Bestätigungsbegriffs haben wir auf eine Unterscheidung zwischen Theorien und experimentellen „Daten" angespielt, doch weder über Theorien noch über Experimente ist bisher viel gesagt worden. Diese Unterscheidung ist derart eingebürgert, daß die wissenschaftliche Tätigkeit nach Ansicht der meisten in zwei Teile zerfällt nämlich Theoriebildung und Experimentieren - und daß viele Wissenschaftler von sich selbst sagen, sie beschäftigten sich in erster Linie mit dem einen oder mit dem anderen dieser beiden Gebiete. Die Fragen, die durch diese Unterscheidung aufgeworfen werden, sind nicht nur von akademischem Interesse. Die heutigen Gegner der klassischen Darwinschen Erklärung des Ursprungs und der Differenzierung der Arten behaupten z. B., die Evolutionstheorie sei nichts weiter als eben eine „Theorie" (im Gegensatz zu einer Tatsache), sie sei keine „wissenschaftliche Theorie" (denn Hypothesen der Evolutionstheorie seien, wie es heißt, prinzipiell nicht falsifizierbar) und außerdem sei sie keine „ausreichend bestätigte Theorie" (denn, so behaupten die Vertreter der „wissenschaftlichen Schöpfungstheorie", es gebe zu viele experimentelle Fakten, die sie nicht erklären könne). Ehe wir einen klaren Begriff davon haben, was Theorien eigentlich sind, wie sie mit Tatsachen zusammenhängen und warum wir manche den anderen vorziehen, können wir diese antievolutionstheoretischen Thesen nicht verstehen und erst recht keine Entscheidung über sie treffen. Nun werden wir drei verschiedene Auffassungen wissenschaftlicher Theorien betrachten, wobei wir uns in jedem Fall von
144
Kapitel IV: Theorien
Fragen der Art leiten lassen, wie sie bei der Auseinandersetzung zwischen Evolutions- und Schöpfungstheorie aufgeworfen worden sind. Wir werden uns jedoch außerdem für zwei weitere Fragen interessieren, auf die uns die drei zu untersuchenden Auffassungen keine unmittelbaren Antworten geben: Wie ernst sollen wir die von verschiedenen Theorien eingeführten Begriffe und Gegenstände nehmen? (Sind sie bloße „Konstrukte" oder vermitteln sie uns die Wahrheit über die elementaren Bestandteile der Welt?) Wie ist die „Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnis" oder der „Fortschritt" zu kennzeichnen? Diese beiden Fragen stehen seit eh und je im Mittelpunkt der Auseinandersetzung über das Wesen wissenschaftlicher Theorien. Erstens ist zu bedenken, daß das Problem der Bestätigung dadurch zustande kommt, daß Verallgemeinerungen über ihre stützenden Belege „hinausgehen"; eine empirische Verallgemeinerung wie „Alle Raben sind schwarz" kann falsch sein, obwohl jeder bisher beobachtete Rabe schwarz war. Auch Theorien gehen über die Belege hinaus, und zwar noch weit eklatanter. Sie berufen sich oft auf ungewöhnliche und in vieler Hinsicht unbeobachtbare Entitäten wie Positronen und Neutrinos, Kräfte und Felder, Triebe und Motive. Ja bei den Theorien geht es im Regelfall um mehr als bloße Bestätigung oder Widerlegung. Im Falle der Theorien stellen sich nicht nur Fragen hinsichtlich der Realität der postulierten theoretischen Gegenstände, sondern auch Fragen hinsichtlich der empirischen Signifikanz des Postulats theoretischer Gegenstände (wobei es dann darum geht, wie sich derartige Gegenstände zu den experimentellen „Daten" verhalten). Existieren theoretische Gegenstände wirklich, oder sind Aussagen über sie lediglich ein praktisches Verfahren, Reihen von Beobachtungen in eine Ordnung zu bringen und zu interpretieren? Wie sind Behauptungen über Atome oder über das Unbewußte zu interpretieren oder gar zu beurteilen, sofern die wissenschaftliche Methodologie verlangt, daß die Nachweise des einen Wissenschaftlers vom anderen ebenfalls erbracht wer-
2. Die klassische Auffassung der Theorien
145
den können? Diese Fragen beunruhigen einige Wissenschaftler nicht weniger als die Philosophen, denn die meisten wissenschaftlichen Theorien von heute machen reichlich Gebrauch von Termini, die sich auf Unbeobachtbares beziehen sollen. Zweitens ist da das Faktum des wissenschaftlichen Wandels. Es ist das Faktum, das wir am Anfang dieses Buches besonders herausgestellt haben. Aus der Entfernung betrachtet, wirkt die Geschichte der Wissenschaft wie eine lange Aufeinanderfolge von Theorien, die einander im Laufe der Zeit ablösen. Aber es hat auch wenigstens zwei wissenschaftliche „Revolutionen" gegeben, die eine im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, die andere am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Als sich diese Revolutionen ereigneten, schien es, als wäre alles Frühere plötzlich falsch geworden und müsse abgelehnt werden. Ein Ergebnis dieser Vorgänge ist, daß viele Wissenschaftler eine vorsichtige und pragmatische Einstellung zu den Theorien annehmen, mit denen sie arbeiten. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Sogar die Newtonsche Physik, die über zweihundert Jahre vorherrschend war, wurde durch Einstein offenbar umgestürzt. Besteht überhaupt Grund zur Annahme, daß irgendwelche unserer heutigen Theorien eines Tages nicht ebenso umgestürzt werden? Allgemeiner gefragt: Ist es möglich, im Fluß der historischen Wandlungen ein Muster zu erkennen? Ist der Vorgang in seinem Inneren irgendwie rational? Gibt es in der Wissenschaftsgeschichte nicht nur Aufeinanderfolge, sondern auch Fortschritt?
2. Die klassische
Auffassung
der
Theorien1
Eine Auffassung der Theorien, die Antworten auf einige der im vorigen Abschnitt aufgeworfenen Fragen impliziert und Antwor1
Diese Auffassung wird mitunter auch als die „eingebürgerte" Theorienauffassung bezeichnet. Doch heute ist diese Auffassung nicht mehr maßgeblich, und mit dem Wort „eingebürgert" wird nicht angedeutet, daß diese Auffassung ein Bestandteil der logisch-empiristischen Posi-
146
Kapitel IV: Theorien
ten auf weitere Fragen andeutet, erachtet die kennzeichnenden Merkmale der Theorien für Merkmale ihrer sprachlichen Formulierung. Es ist also eine syntaktische Theorienauffassung, die mit der Ansicht einhergeht, eine wissenschaftliche Theorie sei eine Menge von Sätzen, die in einer Sprache mit deutlich spezifiziertem Vokabular und ebenso klar angegebener Struktur formuliert sind. Diese Sätze gehören zwei Grundtypen an. Erstens sind da die theoretischen Prinzipien der Theorie, die im Regelfall mathematisch ausgedrückt sind und Beziehungen zwischen verschiedenen Arten von Dingen artikulieren, ζ. Β. „p V = r T " , „R = V/I" und „s = 1/2 gt 2 ". Zweitens gibt es die „Korrespondenzregeln", die die theoretischen Prinzipien mit empirischem Gehalt ausstatten, indem sie zumindest einige der Symbole in den Prinzipien mit empirischen Bestimmungen verbinden. So könnte man das Symbol „p" im ersten unserer Beispiele durch eine Korrespondenzregel mit einer empirischen Bestimmung des Drucks in Verbindung bringen, „R" im zweiten Beispiel mit einer empirischen Bestimmung des Widerstands und „t" im dritten Beispiel mit einer empirischen Bestimmung der Zeit. Im Regelfall ist unter einer „empirischen Bestimmung" schlicht ein Verfahren zur Messung der betreffenden Größe zu verstehen. So wird „t" z. B. durch den Gebrauch von Uhren bestimmt. Im Einklang mit dieser Unterscheidung zwischen Typen von Sätzen gibt es eine Unterscheidung zwischen Typen von Ausdrükken oder Termini. Solche Termini sind entweder theoretische oder Beobachtungstermini. „Hat die mittlere kinetische Energie E" und „verdrängt etwas" sind Beispiele der ersteren Art, „ist rot" und „knirscht mit den Zähnen" sind Beispiele der letzteren. Korrespondenzregeln dienen als ein Mittel, durch das den theoretischen Termini eine beobachtungsbezogene (oder meßbare) Bedeutung verliehen wird. Die meisten früheren Versionen der klassischen Auffassung begreifen die Korrespondenzregeln als tion in der Wissenschaftstheorie ist. Eine ausgezeichnete, das Historische wie das Philosophische berücksichtigende Einführung in die meisten dieser Probleme und in einen großen Teil der diesbezüglichen Literatur, findet sich in Frederick Suppe: The Structure of Scientific Theories, University of Illinois Press, 2. Aufl. 1977.
2. Die klassische Auffassung der Theorien
Definitionen-,
147
jeder t h e o r e t i s c h e T e r m i n u s h a b e insoweit Bedeu-
tung, als er durch B e o b a c h t u n g s t e r m i n i definiert werden k a n n . D i e e x t r e m s t e dieser Versionen dürfte der O p e r a t i o n a l i s m u s sein, also jene einflußreiche Auffassung, w o n a c h jeder wissenschaftliche T e r m i n u s s y n o n y m ist mit der „ M e n g e von O p e r a t i o n e n " , durch die er b e s t i m m t o d e r gemessen w i r d . 2 D a s P r o b l e m des O p e r a t i o n a l i s m u s liegt darin, d a ß er impliziert, wir würden j e d e s m a l , w e n n uns eine neue M e ß m e t h o d e — sei es der M a s s e , der L ä n g e o d e r der G e w o h n h e i t s s t ä r k e — in den Sinn k o m m t , den Ausdrücken „ M a s s e " , „ L ä n g e " und „ G e w o h n h e i t s s t ä r k e " eine neue B e d e u t u n g geben. D a m i t ist j e d o c h implizit gesagt, diese T e r m i n i seien m e h r d e u t i g , w ä h r e n d wir intuitiv der Überzeugung sind, jeder von ihnen h a b e nur eine B e d e u t u n g , egal, wie viele M e ß o p e r a t i o n e n bei ihrer A n w e n d u n g g e b r a u c h t w e r d e n . 3 D a h e r halten die B e f ü r w o r t e r der klassischen A u f f a s s u n g es generell nicht m e h r für m ö g l i c h , t h e o r e t i s c h e T e r m i n i in einem B e o b a c h t u n g s v o k a b u l a r explizit zu definieren, und b e h a u p t e n nun lieber, jede O p e r a t i o n , auf deren Basis wir einen theoretischen T e r m i n u s a n w e n d e n , gebe seine Bedeutung nur partiell a n . 4 D o c h gleichviel, w e l c h e F o r m die K o r r e s p o n d e n z r e g e l n
2
3
4
Die klassische Formulierung des operationalistischen Standpunkts findet sich in dem Buch des Nobelpreisträgers P. W. Bridgman: The Logic of M o d e r n Physics, M a c m i l l a n , 1927. Der in den Verhaltensund Sozialwissenschaften häufig anzutreffende Begriff „operationale Definition" ist aus der Position Bridgmans abgeleitet, doch heute wird er oft recht ungezwungen und lässig verwendet. Kritisiert wird die operationalistische Position von C. G. Hempel in „A Logical Appraisal of O p e r a t i o n i s m " , abgedruckt in Aspects o f Scientific Explanation. Die Auffassung, wonach die Bedeutung theoretischer Termini nur partiell interpretiert ist, wird von Rudolf Carnap ausführlich dargestellt in „Testability and M e a n i n g " , Philosophy of Science 3 (1936), S. 4 2 8 - 4 6 8 , und 4 (1937), S. 1 - 4 0 . Auszüge aus diesem überaus wichtigen Aufsatz sind mehrfach abgedruckt worden, z. B. in Feigl u. Brodbeck: Readings in the Philosophy o f Science. Carnap stellt in den Mittelpunkt seiner Erörterung das Problem der Definition der sogenannten Dispostionsausdrücke wie „löslich", womit er sich auf ein Problem konzentriert, das nahezu unlösbar ist.
148
Kapitel IV: Theorien
annehmen, ausschlaggebend ist, (a) daß eine scharfe Unterscheidung zwischen theoretischen und Beobachtungstermini vorausgesetzt wird und (b) daß irgendeine Art von Korrespondenzregeln nötig ist, um den ersteren vermittels der letzteren Bedeutung zu verleihen. Nur mit Hilfe solcher Regeln gelingt es, die theoretischen Prinzipien auf unsere Erfahrung anzuwenden; nur mit ihrer Hilfe sind wir imstande, die prüfbaren Implikationen dieser Prinzipien abzuleiten. N. R. Campbell, einer der Begründer des klassischen Theorienkonzepts 5 , verwendet die bedeutungsschweren Ausdrücke „Hypothese" und „Lexikon", um die beiden Grundtypen der Sätze, die von einer Theorie umfaßt werden, zu bezeichnen. Zu den „Hypothesen" gehören sowohl die Axiome der Theorie — also ihre fundamentalen theoretischen Prinzipien — als auch die aus ihnen folgenden Theoreme — also die theoretischen Prinzipien, welche nicht fundamental sind. Das „Lexikon" verbindet diese Hypothesen mit der physikalischen Realität, indem es wenigstens einige ihrer „hypothetischen" Termini mit empirisch bestimmbarer Bedeutung ausstattet. Campbell konstruiert das folgende ziemlich abstrakte und recht weit hergeholte Beispiel, um seinen Standpunkt zu veranschaulichen: I. Hypothesen (1) (2) (3) (4)
u, v, a ist b ist c =
w, ... sind unabhängige Variablen. eine Konstante für alle Werte dieser Variablen, eine Konstante für alle Werte dieser Variablen. d, wobei c und d abhängige Variablen sind.
II. Lexikon (1) Die Aussage, daß a(c 2 + d 2 ) = R , wobei R eine positive rationale Zahl ist, impliziert die Aussage, daß der Widerstand eines bestimmten Stücks reinen Metalls R ist.
5
Campbell: Foundations of Science, Dover, 1952; 1. Aufl. unter dem Titel: Physics. The Elements, 1919.
2. Die klassische Auffassung der Theorien
149
(2) Die Aussage, daß cd/b = Τ impliziert die Aussage, daß die Temperatur ebenjenes Stücks reinen Metalls Τ ist. 6 Aus den Hypothesen können wir mit Hilfe rein mathematischer Schlußverfahren ableiten, daß a(c 2 + d 2 ) -
cd/b = 2ab =
const. 7
Sobald diese Aussage mit Hilfe des Lexikons interpretiert wird, erhalten wir: Das Verhältnis des Widerstands eines Stücks reinen Metalls zu seiner absoluten Temperatur ist konstant. Und dies soll eine empirische Verallgemeinerung sein. Zu Campbells Auffassung gehören zwei Korollare: Das eine besagt, daß die Theorie (Hypothesen + Lexikon) eine Erklärung der behaupteten Verallgemeinerung ermöglicht, indem sie zeigt, wie diese aus den Grundprinzipien der Theorie folgt. Das zweite Korollar lautet, die behauptete Verallgemeinerung trage dazu bei, ein Testverfahren für die Theorie anzugeben, denn sie habe offensichtliche beobachtungsbezogene Konsequenzen. Demjenigen, der das klassische Theorienkonzept akzeptiert, liegt nichts daran, ob es die Struktur wirklicher wissenschaftlicher Theorien akkurat wiedergibt. Vielmehr handelt es sich um eine philosophische Rekonstruktion, die sowohl die empirischen als auch die nichtempirischen Merkmale einer Theorie klarmacht. Dabei ist es ohne Belang, daß die meisten wissenschaftlichen Theorien nicht ausdrücklich zwei Grundtypen von Sätzen — 6
7
Hiermit folgen wir Campbells Formulierung der Lexikoneinträge. Dabei scheint diese Formulierungsweise zwei verschiedene Zwecke der Definitionen zu verquicken, nämlich: (a) ein neues Symbol im Interesse der Abkürzung einzuführen (z. B. R = a(c2 + d 2 ), Τ = cd/b) und (b) empirische Kriterien zu liefern, auf deren Basis das eingeführte Symbol angewendet werden soll (so bezeichnet „R" ζ. B. den Widerstand eines Stücks Metall, „T" seine Temperatur, wobei Widerstand und Temperatur in der üblichen Weise zu messen sind). Denn c = d, (c2 + d2) = 2c2 und cd = c 2 ; also 2ac2 — cVb = 2ab. Da a und b Konstanten sind, ist 2ab = const.
150
Kapitel IV: Theorien
nämlich theoretische Prinzipien und Korrespondenzregeln — herausstellen. Der springende Punkt ist, daß sie dazu imstande wären und daß eine derart syntaktisch verfahrende Rekonstruktion der Theorien uns die Möglichkeit gibt, die meisten unserer Anfangsfragen zu beantworten. Erstens wird die irreführende Unterscheidung zwischen Theorien und Tatsachen ersetzt durch eine klare Unterscheidung zwischen theoretischen Sätzen und Beobachtungssätzen. Irreführend ist die Unterscheidung zwischen Theorien und Tatsachen, weil sie suggeriert, „Theorien" seien nicht erwiesen, „Tatsachen" dagegen ja. Doch wenn man dem Sprachgebrauch der Wissenschaftler folgt und eine Menge von Erklärungsprinzipien als „Theorie" bezeichnet, so ist das unabhängig davon, in welchem Grade diese Prinzipien untermauert sind. Manche Theorien (einschließlich der Evolutionstheorie 8 ) sind ausreichend untermauert, andere nicht. Die Unterscheidung zwischen theoretischen Sätzen und Beobachtungssätzen dagegen ist gut begründet, denn Theorien werden eingeführt, um zu erklären, was wir beobachten, und das, was wir beobachten, bestätigt dann wiederum bestimmte Theorien, die wir aufstellen. Das Verdienst der klassischen Auffassung liegt darin, daß sie die Beziehungen zwischen diesen beiden Satztypen klar und präzis herausarbeitet. Zweitens zeigt die klassische Theorienauffassung, wie Theorien — auch diejenigen, die solche intuitiv nicht beobachtungsbezogenen Begriffe wie „Kraft", „Feld" und „das Unbewußte" verwenden — empirische Signifikanz erlangen. Nach dieser Auffassung hat eine Theorie nur dann empirische Signifikanz, wenn sie prüfbare Konsequenzen hat. Eine der Hauptfunktionen der Korrespondenzregeln besteht darin, eine Brücke zu bauen zwischen theoretischen Prinzipien und Fakten der Beobachtung. Dementsprechend ist eine Theorie, die sich des Begriffs des Unbewußten bedient, empirisch nur dann signifikant, wenn sie 8
Vgl. die bequeme Zusammenfassung der Belege und die aufschlußreiche Erörterung der Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Schöpfungstheorie und Vertretern der Evolutionstheorie in: Philip Kitcher: Abusing Science, M I T Press, 1982.
2. Die klassische Auffassung der Theorien
151
z. B. prüfbare Konsequenzen in der Form von Voraussagen über das in bestimmten Situationen erfolgende künftige Verhalten von Personen mit einer bestimmten Vorgeschichte hat, wobei die Verbindung vermutlich mit Hilfe von Korrespondenzregeln hergestellt wird. Die eigentliche Herausforderung besteht für Vertreter einer „wissenschaftlichen Schöpfungstheorie" nicht darin, Phänomene ausfindig zu machen, die die Evolutionstheorie angeblich nicht erklären kann, sondern darin, zu zeigen, daß ihre eigene Theorie prüfbare Konsequenzen hat. Denn nach klassischer Auffassung gibt die Prüfbarkeit die Möglichkeit, Wissenschaft und Theologie auseinanderzuhalten. Aus diesen beiden Punkten ergibt sich ein wichtiger Folgesatz, nämlich daß wir immer (zumindest im Prinzip) imstande sind, die Ansprüche konkurrierender Theorien durch Ausführung eines Experimentum crucis zu klären. Bei einem Experimentum crucis geht es darum, aus konkurrierenden Theorien mit Hilfe von Korrespondenzregeln beobachtungsbezogene Prognosen abzuleiten. Da die Theorien miteinander konkurrieren, müssen die Prognosen auseinandergehen; es kann jeweils höchstens eine wahr sein. Daraus folgt, daß ein Experimentum crucis zumindest eine der beiden Theorien widerlegt. In der Geschichte der Wissenschaft gibt es viele Beispiele für Experimenta crucis. Eines der berühmtesten betraf eine anhaltende Kontroverse um das Wesen des Lichts. Es gibt zwei bekannte Theorien über das Licht. Die eine wird mit der Newtonschen Weltauffassung in Verbindung gebracht. Sie behauptet, das Licht bestehe aus winzigen Teilchen, die sich mit sehr hoher Geschwindigkeit bewegen. Nach der anderen Theorie besteht das Licht aus Wellen. Nun kann man aus der Teilchentheorie den Schluß ziehen, das Licht müsse sich im Wasser schneller bewegen als in der Luft, und die Geschwindigkeitsdifferenz läßt sich genau berechnen. Aus der Wellentheorie dagegen kann man folgern, das Licht müsse sich im Wasser langsamer bewegen als in der Luft, und auch hier läßt sich die Größe berechnen. Erst um 1850 waren die Instrumente weit genug entwickelt, um die vorhergesagten Geschwindigkeiten zu messen. Als das Experiment schließlich ausgeführt wurde, stellte sich heraus, daß sich
152
Kapitel IV: Theorien
das Licht im Wasser tatsächlich langsamer bewegt, und zwar um gerade soviel langsamer, wie es von der Wellentheorie vorhergesagt worden war. Das Resultat dieses Experiments war, daß die Wellentheorie allgemein akzeptiert und die Teilchentheorie allgemein abgelehnt wurde, jedenfalls bis Einstein 1905 neue Grundlagen für die Teilchentheorie darlegte. Drittens ergibt sich aus der klassischen Auffassung zwar keine Antwort auf Fragen hinsichtlich der Realität theoretischer Entitäten 9 , doch sie legt ein Bild der Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnis nahe und unterstreicht die Rationalität des wissenschaftlichen Wandels. Der Erfahrung in Gestalt unserer Beobachtungen stehen vermittels Korrespondenzregeln die Theorien gegenüber. Diese Erfahrung stellt ein neutrales Schiedsgericht dar, vor dem über die Ansprüche der verschiedenen Theorien befunden werden soll. Im Regelfall erscheinen die Theorien paarweise vor dem Gericht, und um zu einer Entscheidung zwischen ihnen zu gelangen, wird ein Experimentum crucis ausgeführt. Daher ist die Bewertung der Theorien völlig objektiv. Eine Theorie verdrängt die andere, je nachdem, welche von ihnen besser imstande ist, den Verlauf unserer Erfahrung vorherzusagen. In Einklang mit der Vorstellung, daß Theorien kommen und gehen, während ihre Beobachtungsbasis gleichbleibt, haben einige Vertreter der klassischen Theorie folgende Darstellung der Zunahme der wissenschaftlichen Erkenntnis vorgeschlagen 10 : Die eine Theorie ersetzt eine andere, weil sie besser bestätigt ist, weil sie als Erweiterung der früheren Theorie jetzt mehr Phänomene umfaßt oder weil sie bislang getrennte Bereiche vereinigt. Im ersten Fall wird eine Theorie, die mit Bezug auf die verfügbaren 9
10
M a n c h e Philosophen, die sich zur klassischen Auffassung bekennen, sind Vertreter des wissenschaftlichen Realismus; sie glauben, daß zumindest einige der von wissenschaftlichen Theorien postulierten Entitäten existieren. Andere Anhänger der klassischen Auffassung sind Antirealisten. Sie alle sind jedoch übereinstimmend der Meinung, das Problem der Existenz sei strenggenommen kein wissenschaftliches und die Z w e c k e der Wissenschaft, die vor allem Erklärung und Voraussage betreffen, würden davon nicht unmittelbar berührt. Vgl. Ernest
Nagel:
T h e Structure of Science, 11. Kapitel.
2. D i e klassische Auffassung der T h e o r i e n
153
Instrumente und Beobachtungen ausreichend bestätigt ist, im Hinblick auf bessere spätere Messungen entkräftet. Als Belegbeispiel wird häufig die Verdrängung der Ptolemäischen durch die Kopernikanische Theorie genannt (denn es wurde nachgewiesen, daß die Voraussagen der Planetenpositionen nach der Ptolemäischen Theorie weniger akkurat waren), und das gleiche könnte man vielleicht auch von der nach 1850 erfolgten Verdrängung der Teilchentheorie durch die Wellentheorie des Lichts behaupten. Im zweiten Fall wird die eine Theorie durch eine andere ersetzt, sobald sich die erste auf die zweite zurückführen läßt (und zwar in dem Sinne, daß ihre theoretischen Prinzipien aus den theoretischen Prinzipien der zweiten Theorie abgeleitet werden können, wobei manchmal Annahmen hinzukommen, die den Anwendungsbereich der Prinzipien beschränken). Für diese Art der „homogenen" Zurückführung ist kennzeichnend, daß die beiden Theorien in etwa die gleichen Begriffe verwenden und daß die beschriebenen Phänomene qualitativ ähnlich sind. Häufig genannte Beispiele sind die Übertragung der klassischen Teilchenmechanik auf die Erforschung starrer Körper, die Aufnahme der Galileischen Gesetze in die Newtonsche Physik und die Zurückführung der Theorie Newtons auf die Einsteins (unter der Annahme, die Lichtgeschwindigkeit sei unendlich). Im dritten Fall wird die eine Theorie durch eine andere ersetzt, wenn sich die erste mit Hilfe von Zusatzannahmen, welche Begriffe der ersten mit Begriffen der zweiten Theorie in Verbindung bringen, auf die zweite zurückführen läßt. Dabei handelt es sich um eine „heterogene" Zurückführung. So verwenden etwa die klassische Thermodynamik und die statistische Mechanik ganz verschiedene Begriffe und wurden zunächst eingesetzt, um unterschiedliche Phänomene zu beschreiben, doch die erstere soll sich im Grunde auf die letztere zurückführen (aus dieser ableiten) lassen, wenn man der statistischen Mechanik eine Aussage hinzufügt, die die Temperatur mit der mittleren kinetischen Energie der Moleküle gleich- oder sie zu dieser in Beziehung setzt. Ebenso hat man behauptet, sobald die chemische Beschaffenheit der Gene richtig verstanden sei, lasse sich die klassische Genetik auf die Molekularbiologie zurückführen.
154
Kapitel IV: T h e o r i e n
Abschließend sind im Hinblick auf die klassische Auffassung noch die folgenden beiden Punkte hervorzuheben, die dazu beitragen, diese Auffassung in eine umfassendere Perspektive zu rücken. Der erste Punkt ist, daß die klassische Auffassung ein „hypothetisch-deduktives" Theorienkonzept umfaßt, was zum Teil bedeutet, eine Theorie enthalte „Hypothesen" (die theoretischen Prinzipien), aus denen sich bestimmte Konsequenzen ableiten lassen, denen durch die Korrespondenzregeln empirischer Gehalt verliehen wird. Die Hypothesen sollen, wie wir gesehen haben, die beobachtungsbezogenen Konsequenzen erklären und ihrerseits durch diese bestätigt werden. Daneben ergibt sich aus dieser Auffassung auch, daß sich eine philosophische Analyse wissenschaftlicher Theorien ausschließlich um Rolle und Stellung, Funktion und Form der Hypothesen kümmern muß, während sie die Frage ihrer Entdeckung außer acht lassen soll. Die historischen, psychologischen und gesellschaftlichen Umstände, unter denen eine Theorie entdeckt und aufgestellt worden ist, gelten als belanglos (wie z. B. daß Newton im Garten beobachtet habe, wie ein Apfel herabfiel). Das einzige, worauf es ankomme, seien die begriffliche Struktur der Theorie und die Verfahren, mit deren Hilfe man sie auf die Probe stellen kann. Um Hans Reichenbachs Formulierung aufzugreifen: Es geht uns nicht um den „Entdeckungskontext" einer Theorie, sondern um ihren „Rechtfertigungskontext". 1 1 Als zweiter Punkt ist hier festzuhalten, daß die klassische Auffassung oft mit der Überzeugung einhergeht, es gebe eine logische Einheit der Wissenschaften. Nach dieser Ansicht lassen sich sowohl die Geschichte als auch die gegenwärtige Struktur der Wissenschaft durch eine Pyramide oder durch einen „Schicht-Kuchen" deduktiv verbundener Sätze darstellen, durch die einzelne Beobachtungsfakten als zur untersten Schicht gehörig beschrieben werden, empirische Verallgemeinerungen als zur nächsthöheren Ebene gehörig usw. Logik,
" Vgl. Experience and Prediction, University of C h i c a g o Press, 1938 (dt. E r f a h r u n g u n d P r o g n o s e , G e s a m m e l t e Werke, Braunschweig: Vieweg, 1983).
2. Die klassische Auffassung der T h e o r i e n
155
Korrespondenzregeln und manchmal theoretische Verknüpfungen oder (im Falle heterogener Theorien) „Brückengesetze" führen uns von einer Ebene zur nächsten. Diese Sachlage läßt sich wie folgt darstellen:
Abbildung 4 Die „höheren" Ebenen sind insofern „allgemeiner", als sich die unteren Ebenen aus ihnen ableiten lassen, aber nicht umgekehrt. Daß ein Stück Kreide hinabfällt, wenn man es losläßt, ist demnach eine Einzeltatsache, deren Beschreibung aus der empirischen Verallgemeinerung „Alle ungestützten Gegenstände fallen" abgeleitet werden kann. Diese Verallgemeinerung folgt aus den Newtonschen Gravitationsgesetzen und diese wiederum aus Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Das Bild des Kuchens mit seinen Schichten verdeutlicht einige Thesen, die überaus plausibel wirken: daß der Fortschritt der Wissenschaft durch den Übergang zu Theorien mit höherem Erklärungsvermögen gekennzeichnet ist, daß die Wissenschaft tendenziell eine einheitlichere Struktur annimmt und daß das ganze Gebäude der Wissenschaft auf einer gediegenen empirischen Grundlage ruht. Für das klassische Theorienkonzept spricht eine ganze Menge. Es präzisiert die Struktur der Theorien, liefert ein Verfahren, um ihr Erklärungsvermögen zu verstehen, und überbrückt die offenbare Kluft zwischen Theorien und Beobachtungen. Besonders wichtig ist, daß aus diesem Konzept folgt, jede echte wissen-
156
Kapitel IV: Theorien
schaftliche Theorie müsse empirische Signifikanz haben, und empirische Signifikanz werde nur dann erworben, wenn eine Theorie prüfbare Konsequenzen habe. Theorien stellen — entweder wahre oder falsche — Behauptungen auf über die Beschaffenheit der Welt. Sofern diese Behauptungen empirisch signifikant sind, muß es möglich sein, sie zu bestätigen oder zu entkräften. Auf diese Weise gelingt es den Theorien, die Phänomene objektiv darzustellen. Die klassische Auffassung hat sich aber auch eine Vielfalt kritischer Äußerungen gefallen lassen müssen. Um diese kritischen Äußerungen besser zu verstehen, wollen wir uns ins Gedächtnis rufen, daß die klassische Auffassung aus zwei Hauptelementen besteht: (1) Theorien sollen (wie Arithmetik oder Geometrie) als formale oder syntaktische Strukturen gedeutet werden; (2) zwischen „theoretischen" Sätzen und Termini einerseits und „Beobachtungssätzen" und „Beobachtungstermini" andererseits kann eine scharfe Unterscheidung getroffen werden, und darin steckt oft die These, daß einzelne Fakten, empirische Verallgemeinerungen und theoretische Hypothesen einen „Kuchen" bilden, desen Schichten durch logische Beziehungen und Korrespondenzregeln verbunden sind. Diesen Grundmerkmalen der klassischen Auffassung gilt der größte Teil der Kritik. 1 2 Wir werden uns einen Punkt nach dem anderen vornehmen. Selbst wenn man die umstrittene These gelten läßt, grundsätzlich könne jede Theorie formalisiert werden, stellt sich doch die Frage, ob es philosophisch interessant wäre, so zu verfahren. Es gibt hier zwei verschiedene Überlegungen, die darauf hindeuten,
12
Außerdem behaupten manche Philosophen, die klassische Auffassung gebe eine viel zu schlichte Erklärung wissenschaftlicher Theorien. So schreibt Patrick Suppes in „What is a Scientific Theory?" (in: S. Morgenbesser [Hg.]: Philosophy of Science Today, Basic Books, 1967): „Schon dadurch, daß diese Auffassung bloß eine Skizze ist, wird es möglich, wichtige Eigenschaften von Theorien auszulassen sowie bezeichnende Unterscheidungen, die sich zwischen verschiedenen Theorien einführen lassen."
2. Die klassische Auffassung der Theorien
157
daß es nicht interessant wäre. Die eine Überlegung lautet, ein und dieselbe Theorie könne auf beliebig viele verschiedene Weisen formal geordnet werden, woraus sich jedesmal die gleichen deduktiven Konsequenzen ergeben. Doch diese Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Axiomenmengen läßt darauf schließen, daß die formale Ordnung als solche nicht ausreicht, um die Grundprinzipien einer Theorie auszusondern oder zu klären. Das Mittel der Axiomatisierung dient in erster Linie der Darstellung, gibt uns aber keinen Aufschluß darüber, wie oder warum bestimmte theoretische Prinzipien als Grundsätze gewählt wurden. Die andere Überlegung besagt, im Falle logischer und mathematischer Theorien seien Axiomatisierung oder Formalisierung zwar tatsächlich wichtig, doch das liege gerade daran, daß dies keine empirischen Theorien seien. Die Bedeutung ihrer Grundbegriffe und folglich auch die Wahrheit der Sätze, in denen diese Begriffe vorkommen, werde völlig durch die Axiome „bestimmt". Im Gegensatz dazu werde die Wahrheit empirischer Theorien nicht durch die Art ihrer Formalisierung bestimmt, sondern durch die Beschaffenheit der Welt. Dies erkläre außerdem, warum sich die Logiker und Mathematiker selbst für die Formalisierung interessieren, Physiker, Biologen usw. dagegen nur selten, wenn überhaupt. Befürworter der klassischen Auffassung betonen die Form der Theorie zum Teil deshalb so stark, weil sie überzeugt sind, daß Fragen über die Ursprünge der Theorie, die Absichten des Theoretikers usw. für die philosophische Beurteilung von Theorien ebenso belanglos sind wie Fragen der gleichen Art im Hinblick auf die formale Beurteilung von Schlüssen. Das einzige, was hier zählt, sind die Grundvoraussetzungen und die aus ihnen ableitbaren Beweise, also nicht der „Entdekkungskontext", sondern der „Rechtfertigungskontext". Neuere Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte erheben jedoch Einwände gegen diese Überzeugung.13 Um eine bestimmte historische
13
Vgl. T. S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, University of Chicago Press, 2. Aufl. 1970 (dt. Übers, bearb. von Η. Vetter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976).
158
Kapitel IV: Theorien
Begebenheit wirklich zu verstehen, heißt es, müsse m a n wie ein A n t h r o p o l o g e vorgehen. W e n n der A n t h r o p o l o g e einen u n b e k a n n t e n S t a m m e r f o r s c h t , k a n n er die H a n d l u n g e n der S t a m m e s a n g e h ö r i g e n erst dann verstehen und richtig beschreiben, w e n n er d a h i n g e l a n g t , die H a n d l u n g s a b s i c h t e n und die Bedeutung zu verstehen, die die S t a m m e s a n g e h ö r i g e n den H a n d l u n g e n verleihen. E i n e b e s t i m m t e A b f o l g e von B e w e g u n gen gilt nur dann als R e g e n t a n z und nicht als kollektiver A u s b r u c h einer N e r v e n k r a n k h e i t , w e n n z. B . b e s t i m m t w o r d e n ist, d a ß der S t a m m versucht, die G ö t t e r dazu zu b e w e g e n , R e g e n zu s c h i c k e n . E b e n s o gelingt uns die B e s c h r e i b u n g einer b e s t i m m t e n w i s s e n s c h a f t s h i s t o r i s c h e n E n t w i c k l u n g erst d a n n , w e n n wir die B e s c h r e i b u n g v o m S t a n d p u n k t eines der d a r a n Beteiligten v o r n e h m e n ; erst d a n n läßt sich die eigentliche B e d e u t u n g der E n t w i c k l u n g ermessen. Die D e f i n i t i o n des Elements, die der englische Chemiker Robert Boyle ( 1 6 2 7 —1691) g i b t 1 4 , sieht ganz ähnlich aus wie eine D e f i n i t i o n von heute, und m a n c h e H i s t o r i k e r sind a u c h versucht gewesen, sie in dieser Weise aufzufassen. D o c h diese L e s a r t ist verfehlt, denn o b w o h l Boyle Wörter verwendet, die den in der m o d e r nen D e f i n i t i o n g e b r a u c h t e n ä h n e l n , versteht er diese W ö r t e r d o c h in e i n e m ganz a n d e r e n S i n n , der für das siebzehnte J a h r h u n d e r t c h a r a k t e r i s t i s c h ist. U m zu verstehen, w a s Boyle gemeint h a t , und u m d e m e n t s p r e c h e n d nicht nur seine historische R o l l e , sondern den Inhalt seiner theoretischen Aussagen zu würdigen, ist es notwendig, den K o n t e x t zu rekonstruieren, in d e m er lebte und arbeitete, also s o w o h l den R a h m e n der 14
„Und um Irrtümern vorzubeugen, muß ich darauf hinweisen, daß ich unter ,Elementen' — ebenso wie die besonders deutlich formulierenden Chemiker unter .Prinzipien' — bestimmte grundlegende und einfache oder völlig unvermischte Körper verstehe, die weder aus anderen Körpern noch auseinander zusammengesetzt sind, die Bestandteile bilden, aus denen alle, die vollkommen vermischte Körper heißen, unmittelbar zusammengesetzt sind, und in die sie sich letzten Endes zerlegen lassen." The Sceptical Chymist, Everyman, 1911, S. 187. Gestützt wird die hier über Boyles Definition aufgestellte Behauptung von Marie Boas (Hall): Robert Boyle and SeventeenthCentury Chemistry, Cambridge University Press, 1958, 3. Kapitel.
2. Die klassische Auffassung der Theorien
159
Begriffe und Voraussetzungen, mit deren Hilfe er die Resultate seiner Experimente beschrieb, als auch seine Intentionen. 1 5 Doch dieser Kontext ist freilich der „Entdeckungskontext". Auch gegen die von der klassischen Auffassung geforderte scharfe Unterscheidung zwischen theoretischen Termini und Beobachtungstermini sind aus verschiedenen Gründen Einwände erhoben worden. 1 6 Erstens ist diese Unterscheidung nie wirklich präzisiert worden, und es ist fraglich, ob das überhaupt möglich ist. Intuitiv gesprochen, ist „ist rund" eindeutig ein Beobachtungsterminus und „hat eine relativistische Masse von η G r a m m " eindeutig ein theoretischer Terminus. Doch sobald man der Unterscheidung auf den Grund geht oder ein Kriterium zu formulieren versucht, auf dessen Basis über Einzelfälle befunden werden kann, gerät man schon bald in Schwierigkeiten. Ist „Temperatur" ζ. B. ein Beobachtungsterminus oder ein theoretischer Terminus? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wenn man festsetzt, ein Terminus, der anhand der Verwendung von Instrumenten (wie ζ. B. eines Thermometers) gebraucht wird, sei als theoretischer Terminus einzustufen, dann ist „Temperatur" ein theoretischer Terminus. Doch zugleich scheint „Temperatur" ein Beobachtungsterminus zu sein, denn seine 15
16
Wie Kuhn in seinem Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen ausführt, überblicken wissenschaftliche Lehrbücher ihre Themen (in einem Einleitungskapitel) gewöhnlich vom gegenwärtigen Standpunkt, lesen Bedeutung in die Vergangenheit zurück und betrachten frühere Bemühungen als Schritte, die zu derzeitigen Entwicklungen hinführen (die wichtigen Figuren waren „Vorläufer"). Ein solcher Ansatz ist jedoch ahistorisch und liefert eine arge Verzerrung der Bedeutung verschiedener Experimente und Theorien. Herbert Butterfields überaus interessantes und 1949 zum erstenmal veröffentliches Buch The Origins of Modern Science (Macmillan 1960) war ein früher und einflußreicher Versuch, der Wissenschaftsgeschichte eine historische Perspektive zurückzugeben. So ζ. B. von Peter Achinstein·. Concepts of Science, Johns Hopkins Press, 1968; Mary Hesse: The Structure of Scientific Inference, Macmillan, 1974; und Hilary Putnam: „What Theories Are Not", in: Nagel, Suppes u. Tarski (Hg.): Logic, Methodology, and the Philosophy of Science, Stanford University Press, 1962..
160
Kapitel IV: Theorien
Anwendung ist nicht unmittelbar von einer bestimmten Theorie abhängig. Die Berufung auf den Gebrauch von Instrumenten scheint bei der Formulierung eines allgemeinen Kriteriums ohnehin nicht sonderlich viel zu nützen, denn der Einsatz einer Art von Instrument — etwa eines Mikroskops — gestattet uns sicher die Beobachtung einzelliger Tiere, während die Verwendung einer anderen Art — etwa einer Wilson-Kammer — offenbar nur den Schluß zuläßt, daß Alphateilchen bestimmte Eigenschaften haben. Außerdem bleibt die Frage offen, was eigentlich als „Instrument" gilt — eine Brille, ein Thermometer, ein Elektronenmikroskop, ein Linearbeschleuniger? Zweitens scheinen viele theoretische Termini — also Termini, die oft verwendet werden, um die Grundprinzipien einer Theorie zu formulieren, und deren Einführung dazu beiträgt, den Gang unserer Erfahrung zu ordnen und zu erklären — ebenso eindeutig beobachtungsbezogen zu sein, zumindest insofern, als die Gegenstände und Eigenschaften, auf die sie sich beziehen, mehr oder weniger unmittelbar beobachtet werden können. Beispiele sind etwa „Zelle", „Ladung" und „Reiz". Newton spricht bei der Darstellung seiner Theorie des Lichts sogar von „roten Korpuskeln", womit er ein beobachtungsbezogenes Prädikat auf einen theoretischen Gegenstand anwendet und sich ungeniert über eine Unterscheidung hinwegsetzt, auf der die klassische Auffassung beruht. Die grundlegende Schwierigkeit der klassischen Auffassung liegt diesbezüglich in der Überzeugung, beobachtungsbezogene Daten seien das Urgestein, auf dem Theorien letzten Endes beruhen. Jede Theorie sei zu prüfen, ob sie die beobachtungsbezogenen und daher vortheoretischen Daten angemessen erkläre. Dies ist jedoch bestenfalls eine naive Auffassung. Was als Datum gilt — wovon man annehmen kann, daß wir es „beobachten" —, hängt von den interpretierenden Theorien im Hintergrund ab. 1 7 Losge17
Uberzeugend begründen läßt sich die These, wonach die Unterscheidung zwischen Theoretischem und Beobachtungsbezogenem ihrerseits theorierelativ ist; d. h. was nach der einen Theorie als beobachtungsbezogen gilt, kann nach der anderen als theoretisch gelten.
2. Die klassische Auffassung der Theorien
161
löst von bestimmten „Beobachtungstheorien" - also Mengen von Regeln, die zu jeder wissenschaftlichen Tätigkeit gehören und angeben, wie die Daten zu „lesen" sind —, gibt es eigentlich gar keine Beobachtungsdaten. Viele dieser Regeln hängen mit optischen Korrekturen zusammen, die sowohl im Hinblick auf den Beobachter als auch im Hinblick auf die von ihm benutzten Instrumente ausgeführt werden müssen. Ein einfaches Beispiel ist die augenscheinliche Wanderung der Sonne von Osten nach Westen. Die Kopernikanische Theorie behauptet, dies sei eigentlich gar nicht etwas, was wir wahrnehmen; sondern was wir zu sehen glauben, sei lediglich eine Täuschung, die durch die Hypothese, wonach wir selbst uns in Bewegung befinden, korrigiert oder erklärt werden muß. Ein komplexeres Beispiel betrifft Newton und John Flansteed, den ersten Königlichen Astronomen. Flansteeds überaus sorgfältige, mit Hilfe von Fernrohr und Uhr durchgeführte Forschungen zur genauen Bestimmung der Positionen der Fixsterne gaben Aufschluß über bestimmte Diskrepanzen zwischen seinen Beobachtungen und den Daten, die auf der Basis von Newtons Theorie der Bewegung der Himmelskörper vorhergesagt worden waren. Angesichts dieser Diskrepanzen versorgte Newton den schließlich verärgerten Flansteed mit immer neuen optischen Korrekturen, die in Zusammenhang mit den Fernrohrwahrnehmungen vorgenommen werden sollten und so die Theorie mit diesen Wahrnehmungen in Einklang brachten. Dies deutet darauf hin, daß eine scharfe Unterscheidung zwischen Theorien und Beobachtungen unmöglich zu erkennen ist. Wer auf der Unterscheidung beharrt, wird es als paradox empfinden, daß scheinbare Widerlegungen einer Theorie anhand von Beobachtungsdaten häufig in frappierende Bestätigungen dieser Theorie verwandelt werden. 1 8
18
Vgl. Imre Lakatos: „Falsification and the Methodology of Scientific Research Programs", in: Lakatos u. Musgrave (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge University Press, 1970. Lakatos legt eine Anzahl weiterer Fälle dar, die ebenfalls zeigen, daß es unmöglich ist, die Fakten unabhängig von bestimmten theoretischen Kontexten zu beschreiben.
162
Kapitel IV: Theorien
Eine dritte Form der Kritik der klassischen Auffassung richtet sich speziell gegen die Komponente der „Schichten des Kuchens". Eine einflußreiche, überaus energisch vorgetragene Argumentation stammt von Paul Feyerabend.19 Nach Feyerabend setzt die „Schicht-Kuchen"-Analyse zwei Bedingungen voraus: die Konsistenzbedingung und die Bedingung der Bedeutungsinvarianz. Die „Konsistenzbedingung" verlangt, jede neue Theorie müsse eine Erweiterung einer bereits akzeptierten darstellen oder zuallermindest mit solchen bereits akzeptierten Theorien konsistent sein. Die Konsistenzbedingung schließt also die klassische Ansicht ein, wonach der wissenschaftliche Wandel kumulativ ist. Es kann zwar vorkommen, daß die eine Theorie durch eine andere ersetzt wird (etwa wenn die zweite Theorie umfassender oder genauer ist als die erste), doch die erste Theorie bleibt, sofern sie ausreichend betätigt ist, ein permanenter Teil des wissenschaftlichen Bestands und wird einfach als Grenzoder Sonderfall behandelt. Die Bedingung der „Bedeutungsinvarianz" verlangt, die Bedeutung theoretischer Termini dürfe nicht wechseln, wenn neue Phänomene beschrieben und erklärt werden. Bliebe die Bedeutung nicht konstant, könnten wir den wissenschaftlichen Wandel nicht als kumulativ darstellen. Gälten diese beiden Bedingungen nicht, wäre es vermutlich unmöglich, eine Schicht des „Kuchens" aus der anderen gültig abzuleiten; nach der klassischen Darstellung wäre es also unmöglich, die eine Schicht mit Hilfe der anderen zu erklären. Feyerabend pocht jedoch darauf, daß diese beiden Bedingungen nicht der wissenschaftlichen Praxis entsprechen. Ständig wird gegen sie verstoßen, und ein solcher Verstoß ist ebendas, was eine wissenschaftliche „Revolution" zum Teil charakterisiert. Außerdem ist die Konsistenzbedingung schon von sich aus unvernünftig. ^Erstens wird durch diese Bedingung „eine Theorie nicht deshalb eliminiert, weil sie nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, sondern sie wird eliminiert, weil sie nicht mit einer anderen Theorie 19
Die vielleicht einfachste Darstellung findet sich in seinem Aufsatz „Problems of Empiricism", in: R. Colodny (Hg.): Beyond the Edge of Certainty, Prentice-Hall, 1965. Die im folgenden angeführten Stellen stammen aus diesem Aufsatz.
2. Die klassische Auffassung der Theorien
163
übereinstimmt, deren bestätigende Einzelfälle überdies (mitunter) die gleichen sind wie ihre eigenen. Dadurch wird der bislang ungeprüfte Teil der Theorie zum Maßstab der Gültigkeit. Aber eine Theorie sollte nicht allein deswegen abgelehnt werden, weil sie jüngeren Datums ist." Zweitens, das einzige gute Argument für die Konsistenzbedingung beruht auf einer verfehlten Auffassung des Wesens der Beobachtungsdaten, nämlich daß sie autonom seien und daher als unterste Schicht des Kuchens dazu verwendet werden können, ein objektives Kriterium bereitzustellen, anhand dessen konkurrierende Theorien beurteilt werden können. Die Beobachtungsdaten sind jedoch nicht einmal relativ autonom, sondern jedes Beobachtungsdatum hängt, wie wir im vorigen Absatz gesehen haben, davon ab, wie die Daten interpretiert werden. Eine solche Interpretation ist jedoch mit einer bestimmten theoretischen Betrachtungsweise verknüpft. Aus dieser These ergibt sich, daß „neue Fakten" oft erst dann ans Licht kommen, wenn eine neue theoretische Betrachtungsweise entwickelt worden ist, die mit den bereits verwendeten nicht in Einklang steht. Diese Inkonsistenz entgeht manchmal der Aufmerksamkeit. Vertreter der klassischen Auffassung behaupten oft, die klassische oder phänomenologische Thermodynamik lasse sich auf die statistische Mechanik und die kinetische Theorie der Materie zurückführen. Nach Feyerabend ist diese Zurückführung jedoch nicht unmittelbar möglich. Denn die Fakten über das Brownsche Teilchen und seine Bewegung, die den zweiten Satz der klassischen Thermodynamik widerlegen 20 , hängen davon ab, daß man die Betrachtungsweise der statistischen Mechanik und der kinetischen Theorie annimmt. Dies ist aber nur deshalb möglich, weil diese Betrachtungsweise in bestimmten Hinsichten nicht konsistent ist mit der der klassischen Thermodynamik. Dieses Beispiel läßt sich verallgemeinern: Um potentiell widerlegende Daten zu ermitteln, muß man zumindest manchmal gegen die Konsistenzbedingung verstoßen. Doch wenn man im Interesse einer wahrhaft empirischen Methodologie, die die Theorien der größtmöglichen Anzahl von Prüfungen 20
Einzelheiten in Karl Popper: „Irreversibility, or Entropy since 1905", British Journal for the Philosophy of Science VIII (1957).
164
Kapitel IV: Theorien
unterzieht, gegen die Konsistenzbedingung verstößt, so läuft das nach Feyerabend darauf hinaus, die klassische Auffassung preiszugeben. Nach Feyerabends Ansicht ist die klassische Auffassung nicht nur verfehlt, sondern überdies schädlich. Diese Auffassung ist, wie er betont, ein lähmendes Dogma. Sie verriegelt dem künftigen Fortschritt die Tür, indem sie revolutionäre Entwicklungen des Typs verhindert, von dem solcher Fortschritt abhängt (nämlich die Einführung neuer Theorien, die mit den bereits etablierten nicht vereinbar sind, durchgreifende Veränderungen der Bedeutung theoretischer Termini usw.). Zugleich müsse die klassische Einstellung zur Metaphysik, die aus Systemen unverifizierbarer und daher empirisch sinnloser Sätze bestehe, revidiert werden. Nach Feyerabend gibt es nicht nur kein Verfahren zur klaren Unterscheidung zwischen legitimer Wissenschaft und illegitimer Metaphysik, sondern metaphysische Systeme, die nach seiner Auffassung nichts anderes sind als wissenschaftliche Theorien im Frühstadium ihrer Entwicklung, verdienten es, gefördert statt philosophisch zerschmettert zu werden.
3. Die historistische
Theorienauffassung21
Auffassungen, die von der klassischen abweichen, lehnen eine scharfe Unterscheidung zwischen theoretischen und beobachtungsbezogenen Termini und das Schicht-Kuchen-Bild des wissenschaftlichen Wandels im großen und ganzen ab. Die erste Alternative zur klassischen Ansicht — die historistische Theorienauffassung — beruht auf einer genauen Untersuchung der Wissenschaftsgeschichte. 22 21
22
Diese Theorienauffassung wird auch als „subjektivistisch" bezeichnet. Doch der Ausdruck „subjektivistisch" ist eine irreführende Kennzeichnung für eine Darstellung der Wissenschaft, die deren soziale Aspekte hervorhebt. Außerdem gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen den Vertretern dieser Auffassung und der zu Beginn dieses Jahrhunderts erfolgreichen Bewegung des Historismus. Vgl. Paul Feyerabend: Against Method, New Left Books, 1975 (dt. Ubers. Wider den Methodenzwang: Frankfurt am Main: Suhrkamp,
3. Die historistische Theorienauffassung
165
Aus der historischen Untersuchung der Wissenschaft ergeben sich zwei grundverschiedene Konsequenzen, die zum einen mit dem substantiellen Inhalt der Wissenschaftsgeschichte zusammenhängen, zum anderen eher mit ihrer Methodologie. Die inhaltliche Konsequenz ist folgende: Eine sorgfältige Untersuchung der Wissenschaftsgeschichte zeigt, daß es im Lauf ihrer Entwicklung eine Vielzahl begrifflicher Revolutionen gegeben hat, und dieser Umstand ist schwer mit der von der klassischen Auffassung vertretenen — aus der Schicht-Kuchen-Analyse folgenden — These zu vereinbaren, wonach die Geschichte der Wissenschaft nichts anderes ist als die Geschichte der allmählichen Akkumulation tiefer reichender und präziserer Informationen über die Welt und uns selbst. Denken wir, um ein bekanntes Beispiel zu wählen, an den Übergang von der aristotelischen zur galileischen Physik. 23 In welchen Schicht-Kuchen lassen sich beide physikalischen Theorien einfügen? Offenbar in keinen, denn Galileos Theorie ist nicht nur keine Erweiterung der aristotelischen, sondern ist sogar nicht einmal konsistent mit dieser. Galileo verwirft die von Aristoteles für fundamental erklärte Überzeugung des gesunden Menschenverstands, wonach eine reine Kraft einen Gegenstand sowohl bewegen als auch in Bewegung halten soll. Dieser begriffliche Unterschied ist so grundlegend, daß er die meisten Vergleiche der beiden Theorien zunichte macht 2 4 , ganz bestimmt aber das Bild, wonach sie als aufeinanderfolgende Stufen beim Aufbau eines „Schicht-Kuchens" der Wandlungen erscheinen. Die altmodische Geschichtsschreibung hat den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Wan-
23
24
3. Aufl. 1983); N . R. Hanson: Patterns of Discovery, C a m b r i d g e University Press, 1961; Τ. S. Kuhn: T h e Structure of Scientific Revolutions; Stephen Toulmin: T h e Philosophy of Science, H u t c h i n s o n , 1953 (dt. Übers, von E. Bubser: E i n f ü h r u n g in die Philosophie der Wissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck und R u p r e c h t , 1969). Eine einführende, allerdings vom klassischen S t a n d p u n k t geschriebene Darstellung gibt Gerald Holtan in Introduction to Concepts and Theories in Physical Science, Addison-Wesley, 1953. Welches E x p e r i m e n t u m crucis k ö n n t e m a n denn ü b e r h a u p t ausführen, w o d u r c h die eine T h e o r i e als k o r r e k t , die andere als inkorrekt erwiesen würde?
166
Kapitel IV: Theorien
del oft in der gleichen Weise dargestellt, nämlich so, als vollzöge er sich über „logisch verbundene" Stufen hin zu einem „fortgeschritteneren" Zustand oder Ziel. Diese Darstellung, die man im Hinblick auf die aufgezählten Bereiche längst ausrangiert hat, ist mit Bezug auf den wissenschaftlichen Wandel offenbar nicht vernünftiger. Die Geschichte der Wissenschaft verhält sich wie jede andere Art von Geschichte; sie ist kein Beispiel einer linearen Entwicklung. Die methodologische Konsequenz steht in Zusammenhang mit dem „anthropologischen" Zugang zur Wissenschaftsgeschichte. Will man die Geschichte als Geschichte untersuchen, heißt es, dürfe man nicht die Gegenwart in die Vergangenheit hineinlesen, sondern man müsse die Vergangenheit so wiedererschaffen, wie sie sich selbst verstand. Daraus ergibt sich, daß wissenschaftsgeschichtliche Begebenheiten nur „von innen heraus", im Rahmen des „Entdeckungskontexts" und vom Standpunkt der Beteiligten begriffen werden können. Daher werden die Vertreter des anthropologischen Ansatzes manchmal als „Subjektivisten" bezeichnet. Sie streichen die subjektive Bedeutung wissenschaftlicher Theorien heraus, also die Bedeutung, welche die Theorie für ihre Urheber und Verfechter hat. Dies steht im Gegensatz zur klassischen Auffassung, die die objektive Bedeutung der Theorien betont, welche durch Vermittlung von Korrespondenzregeln jedem zugänglich sei, gleichviel, ob er die betreffende Theorie vertritt oder die ihr zugrundeliegenden Absichten versteht. Um die historistische Auffassung weiter zu verdeutlichen, werden wir uns vor allem an die Arbeiten von Thomas Kuhn halten, dessen Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen die einflußreichste Darstellung dieser Auffassung ist. Kuhns Theorienauffassung wurzelt zwar in einer Konzeption der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung durch Revolutionen und in einer anthropologischen Methodologie, doch zugleich betont er die Wichtigkeit der Tradition und der Stabilität wissenschaftlicher Gemeinschaften. Die Wissenschaft ist seiner Ansicht nach nicht nur von den Einsichten individueller Forscher abhängig, sondern auch von der Existenz von Gemeinschaften, die durch
3. Die historistische T h e o r i e n a u f f a s s u n g
167
gemeinsame Begriffe, Voraussetzungen und Methoden miteinander verbunden sind. Jeglicher wissenschaftshistorische Fortschritt findet im Rahmen solcher Gemeinschaften statt, also in der Forschungstradition der von Kuhn so genannten „normalen Wissenschaft". Neben dem Begriff der normalen Wissenschaft verwendet Kuhn drei weitere Schlüsselbegriffe, und zwar Revolution, Paradigma und Anomalie. Eine knappe Erörterung jedes dieser Begriffe wird die Umrisse von Kuhns Standpunkt deutlicher machen. Dem von der klassischen Auffassung betonten evolutionären Charakter des wissenschaftlichen Wandels stellt Kuhn das Revolutionäre dieses Wandels gegenüber. Der revolutionäre Wandel fordert „von der Gemeinschaft, eine altehrwürdige wissenschaftliche Theorie zugunsten einer anderen, nicht mit ihr zu vereinbarenden, zurückzuweisen" (S. 20 f.). Außerdem lenkt die in dem Wort „revolutionär" enthaltene politische Analogie die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Stadien der revolutionären Entwicklung. Nach Kuhn ist die Wissenschaft wesentlich eine soziale, wenn nicht überdies eine politische Tätigkeit, die man sich mit gesellschaftsbezogenen Begriffen und in einem sozialen Kontext verständlich machen müsse. Eine solche Tätigkeit ist größtenteils konservativ; Revolutionen brechen erst dann aus, wenn es nicht mehr möglich ist, die Vertreter abweichender Meinungen zu unterdrücken. Mit anderen Worten, Revolutionen kommen nur selten vor. Die Kennzeichnung der „normalen Wissenschaft" ist großenteils soziologisch. Unter diesem Begriff ist, wie Kuhn schreibt, eine Forschung zu verstehen, „die fest auf einer oder mehreren wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als Grundlagen für ihre weitere Arbeit anerkannt werden" (S. 25). Sie ist halt das, was die meisten Wissenschaftler meistens tun. Kuhn läßt einen großen Teil der klassischen Auffassung gelten, wenn dieser auf eine bestimmte Tradition der normalen Wissenschaft relativiert wird. Innerhalb einer solchen Tradition kann man, in etwa der Beschreibung der klassischen
168
Kapitel IV: Theorien
Auffassung entsprechend, die typischen Phasen der Beobachtung, der Hypothesenbildung, der Prognose und der Verifikation ausmachen. Was der klassischen Auffassung nicht gelingt, ist eine Beschreibung oder Erklärung des Anormalen, also jener krassen Wechsel des Standpunkts, die eine Revolution ausmachen. Von derartigen Wechseln abgesehen, besteht die wissenschaftliche Arbeit zumeist darin, daß in einem überaus begrenzten Bereich möglicher und verbürgter Lösungen Theorien ausformuliert und Probleme gelöst werden. Schwieriger ist der Begriff des Paradigmas. Diesen Begriff kennzeichnet Kuhn in verschiedenen Weisen, doch bei keiner dieser Kennzeichnungen ist genau klar, welches die Beziehung zwischen „Paradigma" und „normaler Wissenschaft" ist, außer daß sich die Traditionen der normalen Wissenschaft innerhalb bestimmter Paradigmen entwickeln. Der Begriff des Paradigmas ist wichtig, denn wenn man wüßte, wie Paradigmen zu charakterisieren sind, könnte man unter einer Revolution schlicht den Wechsel von einem Paradigma zum nächsten verstehen. Es wäre möglich, ein Paradigma als theoretischen Rahmen aufzufassen, sofern der Begriff „theoretischer Rahmen" so erweitert wird, daß darunter auch ausgewählte Probleme, Verfahrensweisen und Methoden, Instrumentarien usw. fallen sowie die Hypothesen oder theoretischen Grundsätze, die man üblicherweise mit einem solchen Rahmen in Verbindung bringt. Aber auch der solchermaßen erweiterte Begriff des theoretischen Rahmens gestattet es nicht, zwei der zentralen Thesen Kuhns auf einleuchtende Weise präzise oder plausibel zu fassen, nämlich die These, wonach Tatsachen durch Paradigmen bestimmt werden, und die These der Inkommensurabilität der Paradigmen. Aufschlußreicher ist es, wenn man die Paradigmen als Sprachen deutet. 25 25
N a c h Kuhns Ansicht sind Paradigmen zwar etwas Nichtsprachliches, doch er scheint ebenfalls der Meinung zu sein, daß das H a u p t a r g u ment für die These der Inkommensurabilität auf der Gleichsetzung der Paradigmen mit Sprachen beruht. Vgl. seine „Reflections on M y Critics", in: Lakatos u. Musgrave (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge, C a m b r i d g e University Press, 1970 (dieser Band ist eine
3. Die historistische T h e o r i e n a u f f a s s u n g
169
Die These, wonach die Tatsachen durch Paradigmen bestimmt werden, kann man in wenigstens zweierlei Weise verstehen: Nach der „schwachen" Interpretation begrenzen die Paradigmen den Bereich der angemessenen Tatsachen; sie bestimmen, welche Art von Belegen für eine Theorie relevant ist und welche Klassen von Fällen durch sie erklärt werden sollen. Dies könnte der Vertreter der klassischen Theorie jedoch gelten lassen und weiterhin behaupten, es gebe eine scharfe Unterscheidung zwischen Beobachtung und Theorie. Die „starke" Interpretation dagegen besagt, durch die Paradigmen werde nicht bestimmt, welche Tatsachen angemessen sind (worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten sollten), sondern welches eigentlich die Tatsachen sind. Danach gibt es ohne Theorien gar keine Tatsachen oder, um eine manchmal gebrauchte Formulierung zu verwenden: alle Tatsachen sind theoriebeladen. Durch den Hinweis, Paradigmen seien Sprachen, läßt sich die starke Behauptung wie folgt erläutern: Eine Tatsache ist ein Sachverhalt, der in bestimmter Weise beschrieben wird. Doch daraus scheint zu folgen, daß Tatsachen deshalb durch Paradigmen bestimmt werden, weil es von der zur Beschreibung verwendeten Sprache abhängt, welches die Tatsachen sind. Zwei getrennte Beschreibungen, zwei Tatsachen — mit anderen Worten, ein und dieselbe Tatsache läßt sich nicht durch zwei bedeutungsmäßig verschiedene Beschreibungen wiedergeben. Tatsachen werden insofern von Paradigmen bestimmt, als es von den verfügbaren Sprachmitteln abhängt, welches die Tatsachen sind. Noch größere Probleme ergeben sich bei der Interpretation der These, die Paradigmen seien inkommensurabel, und alle diese Probleme hängen mit der Vagheit des Ausdrucks „inkommensurabel" zusammen. Darunter kann nicht bloß zu verstehen sein, daß verschiedene Paradigmen zu verschiedenen Prognosen führen, denn dann könnte man sie paarweise mit den Beobachtungsfakten konfrontieren und Experimenta crucis ausführen. Kuhn will jedoch bestreiten, daß sie sich in dieser Weise vergleichen S a m m l u n g von Aufsätzen über verschiedene Aspekte von Standpunkt.
Kuhns
170
Kapitel IV: Theorien
lassen. Plausibler ist da die Deutung, zwei als Sprachen aufgefaßte Paradigmen seien dann „inkommensurabel" wenn es keine Übersetzung der einen Sprache in die andere gebe. Eine Argumentation für die Inkommensurabilitätsthese läßt sich im Sinne des vorhin angedeuteten anthropologischen Ansatzes darlegen 26 : Ein Anthropologe trifft auf einen Stamm, der eine ihm völlig unbekannte Sprache spricht. Nun versucht er, die von den Eingeborenen geäußerten Laute zu Gegenständen in seiner Umgebung in Bezug zu setzen. Da das Wort „gavagai" z. B. ausschließlich bei solchen Gelegenheiten vorgebracht wird, bei denen ein Kaninchen zugegen ist, setzt der Anthropologe das Wort „gavagai" zu dem deutschen Wort „Kaninchen" in Beziehung. Auf diese Weise stellt der Anthropologe auf der Grundlage solcher Verknüpfungen induktiv ein Übersetzungsmanual zusammen. Doch selbst wenn dieses Übersetzungsmanual vorliegt, wird die Beziehung zwischen den beiden Sprachen insofern unbestimmt bleiben, als die beiden Sprachen zwar empirisch äquivalent sind (d. h. der Eingeborene äußert bestimmte Laute immer und ausschließlich dann, wenn der Anthropologe bestimmte deutsche Wörter verwendet), dennoch aber die Möglichkeit besteht, daß der Anthropologe die Äußerungen des Eingeborenen falsch übersetzt hat. Um es allgemeiner und in der Terminologie der klassischen Theorienauffassung zu formulieren: Die Gesamtheit aller Beobachtungssätze läßt die theoretischen Sätze unterbestimmt; zwei Theorien können selbst dann auseinandergehen, wenn ihnen die gleichen Beobachtungssätze gemeinsam sind. Es könnte sein, daß man „gavagai" mit „Kaninchen" wiedergibt, während sich das Wort in Wirklichkeit auf einen Kaninchenteil bezieht. 27 26
27
Diese Argumentation stammt von W. V. Quine: Word and Object, MIT, 1960 (dt. Übers, von ]. Schulte u. D. Birnbacher·. Wort und Gegenstand, Stuttgart: Reclam, 1980). Quine setzt diese Begründung zu anderen Zwecken ein. Die Ethnologen, die fragend auf ein gewisses Tier deuteten, hielten den von den Eingeborenen verwendeten Ausdruck „Känguruh" für eine Bezeichnung dieses Tiers, während er in der Sprache der Eingeborenen nichts weiter bedeutet als „Ich weiß es nicht".
3. Die historistische T h e o r i e n a u f f a s s u n g
171
Nun wollen wir uns vorstellen, das galileische und das aristotelische Paradigma seien zwei Sprachen. Die Sprecher der einen brauchen die Sprecher der anderen Sprache nicht zu verstehen, obwohl sie immer und ausschließlich bei den gleichen Gelegenheiten die gleichen Wörter „Pendel" und „fallender Stein" (bzw. „zur Erde strebender Körper") verwenden. Denn wenn man etwas ein Pendel nennt, läuft das nicht einfach auf das gleiche hinaus wie die Beschreibung eines fallenden Steins in einem anderen Vokabular, sondern dabei wird zugleich eine Vielzahl theoretischer Festlegungen vorausgesetzt und folglich ein Paradigma ins Spiel gebracht. Ferner hebt Kuhn hervor, daß das, was wir beobachten, nie schlicht gegeben ist, sondern stets von Erwartungen und früheren Erfahrungen abhängt. Es gibt keine wichtige Bedeutung des Wortes „beobachten", in der die Menschen, die sich verschiedener Paradigmen bedienen, dasselbe beobachten. Es gibt keinen gemeinsamen Erfahrungshintergrund, vor dem Theorien miteinander verglichen werden könnten. Da es keine Möglichkeit gibt, die Angemessenheit der Übersetzung von einem Paradigma ins andere auf der Basis von Erfahrungen zu gewährleisten, und da das Faktum, daß das Gesehene das Gesuchte ist, großenteils von den Paradigmen abhängt, mit denen wir umgehen, finden wir weder in der Sprache der Paradigmen noch in der Beobachtungserfahrung, auf die sich die Termini der betreffenden Sprache beziehen, eine gemeinsame Grundlage, und dieser doppelte Fehlschlag impliziert, daß Theorien inkommensurabel oder nicht miteinander vergleichbar sind. Wir sind nicht imstande, Theorien in Theorien oder Fakten in Fakten zu übersetzen. Wenn es nicht möglich ist, Paradigmen unmittelbar miteinander oder mit vortheoretischen bzw. theorieneutralen Beobachtungen zu vergleichen, fragt es sich, wie es je dazu kommt, daß ein Paradigma ein anderes verdrängt, und welche Rolle die Experimente dabei spielen. Um die erste dieser Fragen zu beantworten, bringt Kuhn den Schlüsselbegriff der Anomalie ins Spiel. Anomalien sind Mengen von Daten, die von den herrschenden Paradigmen nur unter Schwierigkeiten eingeordnet werden können. Freilich gibt es immer behelfsweise Verfahren, auch diese Daten
172
Kapitel IV: T h e o r i e n
unter Dach und Fach zu bringen, indem man sie (wie im Kapitel über die Erklärung erwähnt) wegerklärt oder indem man sich (wie im Kapitel über die Bestätigung genannt) die eine oder andere ad-hoc-Hypothese zu eigen macht. Mitunter führt diese Taktik zum Erfolg. Bei anderen Gelegenheiten gelingt das nicht, sondern das Paradigma wird durch ad-hoc-Hypothesen und Versuche, die andernfalls widerstreitenden Beobachtungen wegzuerklären, so übermäßig belastet, daß es allmählich durch sein eigenes Gewicht zum Sinken gebracht wird, und die Wissenschaftler beginnen, sich nach neuen und einfacheren Paradigmen umzusehen. Kuhn bietet eine recht ausführliche Erörterung der Rolle und des Zwecks der Experimente. Danach spielen Experimente drei verschiedene Arten von Rollen. Erstens werden Experimente ausgeführt, um zentrale paradigmatische Konstanten genauer zu bestimmen, z. B. die Punkte, an denen gewisse Lösungen zu kochen oder sauer zu werden beginnen, die Lichtgeschwindigkeit usw. Zweitens, schreibt Kuhn, gibt es eine weniger umfangreiche Klasse von Feststellungen, die sich auf diejenigen Tatsachen beziehen, die zwar häufig von sich aus nur wenig Interesse erregen, dafür aber unmittelbar mit Prognosen verglichen werden können, die der paradigmatischen Theorie entstammen. Nach klassischer Auffassung ist dies natürlich die wichtigste Rolle der Experimente, während Kuhn ihre Bedeutung herunterspielt. Solche Experimente liefern nur selten, wenn überhaupt je einen Test einer Theorie, was unter anderem daran liegt, daß die paradigmatische Theorie ihrerseits unweigerlich in den Entwurf des Experimentierverfahrens hineinspielt. Die Theorie stellt sich also nur selbst auf die „Probe". Drittens gibt es eine überaus wichtige Klasse von Experimenten, bei denen versucht wird, das Paradigma zu artikulieren, d. h. Probleme zu lösen, die seine Anwendung oder Erweiterung betreffen. Aber auch hier setzt die Ausformulierung eines Paradigmas mit Hilfe solcher Experimente das Paradigma voraus, ohne es wirklich zu testen. Theorien oder Paradigmen sind, wie Kuhn es ausdrückt, „Weisen, die Welt zu sehen". Da sie wechselseitig inkommensurabel oder unübersetzbar sind, gibt es keine Möglichkeit, sie miteinan-
3. Die historistische Theorienauffassung
173
der zu vergleichen, und da die Beobachtungsfakten selbst schon theoriebeladen sind, lassen sie sich auch nicht mit der Erfahrung konfrontieren. Daraus folgt, daß die folgenden drei Hauptthesen der klassischen Theorienauffassung preisgegeben werden müssen: daß es möglich sei, eine scharfe Unterscheidung zwischen Theorie und Beobachtung zu treffen; daß Theorien völlig objektiv bewertet werden können; und daß die wissenschaftliche Erkenntnis kumulativ sei (wodurch die jüngere Generation, wie Newton es einmal formuliert hat, weiter sehe als die ältere, da sie auf den Schultern ihrer Vorläufer stehe). Aufmerksamkeit erregte die historistische Auffassung zunächst in den sechziger Jahren, als sie die überlieferten und eingebürgerten Überzeugungen in einer für diese Generation charakteristischen Weise herausforderte. Doch wenn man diese Auffassung im nachhinein betrachtet, scheint sie an unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kranken, die alle in der einen oder anderen Weise mit dem ziemlich drastischen Relativismus zusammenhängen, zu dem sie führt. Die historistische Auffassung hält nämlich dafür, daß sowohl die an die Natur gerichteten Fragen als auch die angemessenen Antworten auf diese Fragen und sogar die Beobachtungsfakten selbst durch bestimmte paradigmatische theoretische Kontexte bestimmt sind und daß diese Kontexte ihrerseits nicht verglichen oder bewertet werden können. Diese Ansicht ist jedoch überaus unplausibel. Erstens, die historistische Auffassung steht schon in Widerspruch zu den geschichtlichen Tatsachen, von denen sie ausgeht, nämlich daß es in der Wissenschaftsgeschichte wichtige Veränderungen gegeben hat und daß man sich den Standpunkt einer Theorie (oder eines Paradigmas) zu eigen machen muß, ehe man ihn begreifen kann. Dem Vertreter des Historismus muß es völlig geheimnisvoll vorkommen, daß es überhaupt zu einer derartigen Veränderung kommen kann. Er hat nicht die Möglichkeit zu behaupten, die eine Theorie trete deshalb an die Stelle der früheren, weil sie jetzt besser bestätigt sei oder weil sie, als Erweiterung der früheren Theorie, nun mehr Phänomene umfaßt oder weil sie bislang getrennte Bereiche vereinigt. Doch von sich aus liefert diese Auffassung keine andere überzeugende
174
Kapitel IV: Theorien
Erklärung. So sollte es z. B. klar sein, daß das Auftauchen von Anomalien nach Kuhns Darstellung nicht ausreicht, um zwingend zu einem Paradigmenwechsel zu führen. Mit solchen Anomalien kann man stets zurechtkommen, indem man ad-hocHypothesen hinzufügt oder indem man so verfährt wie die Vertreter der kopernikanischen Theorie, die den gegen ihre Hypothese gerichteten Einwand, daß Gegenstände nicht von der in Bewegung befindlichen Erde fortfliegen, schlicht zurückweisen und Einwände dementsprechend als keiner Erklärung bedürftig einfach abtun. In der Tat greift Kuhn auf Bilder und Analogien zurück und beruft sich auf „Gestaltwechsel" und dergleichen, womit er einräumt (S. 123 ff.), daß es beim Paradigmenwechsel nicht so sehr um N a t u r oder Logik geht, sondern um Überredung. Es ist nicht nur so, daß der wissenschaftliche Wandel nach historistischer Auffassung ein Geheimnis bleibt, sondern es gelingt dieser Auffassung, wie die Kritik ausführt, außerdem nicht, ein einleuchtendes Motiv für das Anstellen von Experimenten zu nennen. Falls sich die Resultate jeder wissenschaftlichen Untersuchung mit jeder gegebenen Theorie in Einklang bringen lassen, dann dürften Experimente bestenfalls eine begrenzte Rolle spielen, die sicherlich nicht im entferntesten an die Hauptrolle heranreicht, die ihnen von der klassischen Auffassung zugeschrieben wird. Kuhn spielt die Bedeutung der Experimente tatsächlich herunter. Doch dieses Vorgehen steht im Gegensatz zu den historischen Fakten, wonach unglaublich viel Geduld und Scharfsinn im Hinblick auf Experimente aufgewandt wurden, durch die einzelne Theorien getestet werden sollten, und auch im Gegensatz zu der Tatsache, daß die Ergebnisse solcher Experimente häufig als ausschlaggebend angesehen wurden für die Entscheidung zwischen konkurrierenden Theorien. 2 8 Ja, wenn man den Ermahnungen der Historisten folgt und die 28
Außer den im Text bereits genannten Beispielen könnten wir erwähnen, daß die Wissenschaftler selbst glaubten, durch Lavoisiers Verbrennungsexperimente sei der Streit zwischen den Vertretern der Phlogistontheorie und ihren Kritikern entschieden worden. Ebenso war man in einer späteren Generation der Überzeugung, daß die
3. Die historistische Theorienauffassung
175
tatsächlichen Absichten der Wissenschaftler in Betracht zieht, kann man gar nicht umhin, die Test-Rolle der Experimente zu betonen, denn in diesem Sinne sind sie von den meisten Wissenschaftlern aufgefaßt worden. Schließlich gibt es ganz allgemeine Probleme im Hinblick auf den theoretischen oder kulturellen Relativismus, der nur allzu selbstverständlich aus dem sogenannten „anthropologischen" Ansatz hervorgeht. 2 9 Dieser Relativismus ist in mehreren Hinsichten inkohärent. So setzt Kuhns Skizze verschiedener Paradigmen — etwa des prärevolutionären aristotelischen und des postrevolutionären galileischen Paradigmas — als Bedingung unseres Verstehens der Unterschiede zwischen ihnen voraus, daß wir sie beide begreifen. Im Gegensatz zu dem, was Kuhn und die übrigen Vertreter des Historismus meinen, können und müssen wir eine gemeinsame Sprache verwenden, um über wechselnde Paradigmen zu reden. Insoweit uns das gelingt, ist der Boden unter der These, wonach sich die Paradigmen nicht ineinander übersetzen lassen, untergraben. Außerdem ist etwas Paradoxes an der historistischen Metapher der verschiedenen Perspektiven oder Standpunkte. Diese Metapher ist nur sinnvoll, sofern es eine Möglichkeit gibt, diese Standpunkte miteinander zu vergleichen, etwa als verschiedene Orte in derselben Landschaft. Aber die Möglichkeit eines solchen Vergleichs ist nach historistischer Auffassung ausdrücklich ausgeschlossen. Schließlich sind sinnvolle Unterschiede zwischen Theorien nur dann möglich, wenn es einen gemeinsamen Boden gibt, auf dem man sie vergleichen kann. Faßt man paradigmatische Theorien als Sprachen auf, läuft dieser Gedanke auf die These hinaus, daß wir einander verstehen müssen. Kurz, die historistische Auffassung macht sich selbst zunichte, indem
29
berühmten Sonnenfinsternis-Expeditionen von 1919 zur Bestimmung der Umlaufbahn des Planeten Merkur den Ausschlag gaben zugunsten von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Die folgenden Ausführungen sind unsere ganz knappen Erläuterungen zu Donald Davidsons wichtigem und komplexem Aufsatz „The Very Idea of a Conceptual Scheme" (dt. übers, von J. Schulte: „Was ist eigentlich ein Begriffsschema?", in: Davidson: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986).
176
Kapitel IV: Theorien
sie durch ihren Relativismus ebendie Voraussetzung bestreitet, durch die die These dieses Relativismus zunächst kohärent wirkt, nämlich die Voraussetzung, daß die Sprecher verschiedener Sprachen sogar in der Situation radikaler Übersetzung einander verstehen können.
4. Die semantische
Theorienauffassung30
Das Hauptproblem der klassischen Auffassung liegt in ihrer unhaltbaren Unterscheidung zwischen theoretischen und beobachtungsbezogenen Termini. Das Hauptproblem der historistischen Auffassung ist ein letztlich inkohärenter drastischer Relativismus. Die Aufgabe besteht also darin, eine nichtrelativistische oder objektive Theorienanalyse mit der Preisgabe der Unterscheidung zwischen Theorie und Beobachtung in Einklang zu bringen. Die semantische Auffassung behauptet von sich, ebendazu imstande zu sein. Nach der klassischen Auffassung werden die (als Mengen von Sätzen gedeuteten) Theorien mit ihren Formulierungen gleichgesetzt, weshalb sich die Hauptfragen im Hinblick auf Theorien auf ihre sprachlichen oder syntaktischen Aspekte beziehen. Die Historisten bestreiten, daß Theorien mit ihren Formulierungen gleichgesetzt werden sollten, doch die einzigen plausiblen Argumente für ihre Thesen, wonach Beobachtungen theorienbeladen und Theorien inkommensurabel sind, beruhen anscheinend darauf, daß man Paradigmen als Sprachen auffaßt. Diese Gleichsetzung ist jedoch aus wenigstens drei Gründen wenig hilfreich. 31 Erstens, wenn Theorien mit ihren Formulierungen gleichgesetzt 30
31
Vgl. Ronald Giere: Understanding Scientific Reasoning, 2. Aufl., 5. Kapitel; Fredrick Suppe: The Structure of Scientific Theories, 2. Aufl., S. 221 — 230; Patrick Suppes: „What is a Scientific Theory?"; Bas van Fraassen: The Scientific Image, 3. Kapitel. Gieres Darstellung ist besonders leicht zugänglich. Wir haben uns im folgenden auf sie gestützt. Bas van Fraassen zieht das ganze formalistische Programm in Zweifel: „Es kann durchaus sein, daß die wichtigste Lehre der Wissenschafts-
4. Die semantische T h e o r i e n a u f f a s s u n g
177
werden, ergibt sich aus jeder neuen Formulierung eine neue Theorie. Intuitiv sind wir alle jedoch der Ansicht, daß ein und dieselbe Theorie auf viele verschiedene Weisen und in verschiedenen Sprachen formuliert werden kann. Zweitens, es ist fraglich, ob eine Unterscheidung zwischen Typen von Termini — zwischen theoretischen und beobachtungsbezogenen Termini — dazu dienen kann, den empirischen Gehalt einer Theorie zu ermitteln. In diesem Zusammenhang könnte man zwei Punkte hervorheben: Der eine besagt, daß sich viele „theoretische" Termini einfach dadurch mit Hilfe eines „beobachtungsbezogenen" Vokabulars kennzeichnen lassen, daß man „beobachtungsbezogene" Prädikate negiert und z. B. sagt, ein physikalisches Feld sei insofern etwas anderes als ein physikalischer Gegenstand, als es nicht fest, nicht farbig usw. sei. Der zweite Punkt lautet, daß die Grenzen des Beobachtbaren nicht durch Philosophen, die Begriffsanalyse treiben, festgelegt werden, sondern durch die Wissenschaft selbst, und zwar zum Teil mit Hilfe von Theorien über die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit und Physiologie. Drittens sind die Grundfragen im Hinblick auf Theorien nicht sprachlicher Art. Speziell Fragen über das Thema der wechselseitigen Übersetzbarkeit werfen kaum Licht auf Rolle und Stellung der theoretischen Entitäten oder auf die rationale Grundlage des wissenschaftlichen Wandels. Daher sollten wir, wie manche Philosophen geltend machen, die Betonung der eine Theorie formulierenden Sätze und deren Syntax fallenlassen und uns statt dessen auf das konzentrieren, was diese Sätze wahr macht, also auf ihre Semantik. Bei diesem Ansatz kommt ein neuer Begriff ins Spiel, nämlich der Begriff des Modells. Unter Wissenschaftlern ist dieser Begriff schon weitgehend in Gebrauch. Was früher „Theoriebildung" hieß, wird heute als „Aufbau eines Modells" bezeichnet. Allein dieses Faktum liefert einen ausreichenden Grund dafür, die semantische Auffassung und den von ihr verwendeten Modellbegriff näher ins Auge zu fassen. philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts besagt: Kein wesentlich sprachabhängiger Begriff ist philosophisch irgendwie von Belang."
178
Kapitel IV: Theorien
Das Modell ist eine Darstellung eines physikalischen Systems, durch die bestimmte relationale Eigenschaften dieses physikalischen Systems in der Darstellung bewahrt werden, d. h. das Modell ist dem System (oder zumindest seinem empirisch bestimmbaren Teil) strukturell ähnlich oder mit ihm „isomorph". In vielen Wissenschaften ist die Darstellung im Idealfall quantitativ, d. h. das Modell ist ein „mathematisches Modell" und Voraussagen bezüglich des Verhaltens des physikalischen Systems können auf der Basis der Darstellung gemacht und dann im Laboratorium überprüft werden. Gute Modelle werden im Zuge einer solchen Überprügung bestätigt; es heißt dann, daß sie den Daten „entsprechen" oder zu ihnen „passen". Ebenso wichtig ist, daß sie außerdem neue und unerwartete Experimente nahelegen. 32 Das vielleicht bekannteste aller theoretischen Modelle ist das Molekularmodell eines Gases, wobei die Moleküle durch elastische Kugeln wiedergegeben werden, die in einem abgeschlossenen R a u m Masse und Bewegung haben und den Grundgesetzen der statistischen Mechanik unterliegen. Im Hinblick auf dieses einfache Modell können wir so verschiedene Phänomene wie die Beweglichkeit und die wechselseitige Vermischung der Gase erklären. Ebenfalls erklären können wir die beobachteten und im Gesetz von Boyle und Charles niedergelegten Beziehungen zwischen Druck, Volumen und Temperatur eines Gases. In diesem Beispielfall ist das Modell eine idealisierte Wiedergabe eines physikalischen Systems. Um es spezifischer zu formulieren, ein theoretisches Modell postuliert eine Menge von Gegenständen, deren Eigenschaften 32
Diese Kennzeichnung der „Modelle" ist ein wenig enger als die bei Logikern und Mathematikern übliche. Allen Verwendungen des Modellbegriffs gemeinsam ist die Vorstellung, ein Modell sei eine Menge von Entitäten - physikalischen Gegenständen, Punkten, Zahlen oder sonst etwas — mitsamt einer Menge zwischen ihnen bestehender Beziehungen, so daß die modellmäßig wiedergegebenen Sätze der Theorie wahr sind. So liefern die natürlichen Zahlen und die Beziehungen, in denen sie vorkommen, ein Modell der üblichen Axiome der Arithmetik.
4. Die semantische Theorienauffassung
179
und Verhalten durch bestimmte allgemeine Gesetze gekennzeichnet sind. 33 Ein Netvtonsches Teilchensystem z. B. ist ein System (Modell) von Teilchen (Massenpunkten), das die drei Newtonschen Bewegungsgesetze sowie das allgemeine Gravitationsgesetz erfüllt (wahr macht). Da ein Modell ein System von Gegenständen ist, mit Bezug auf das die Sätze einer Theorie unabhängig von ihrer zufälligen Formulierung wahr sind, haben ein und dieselben Modelle verschiedene Formulierungen (z. B. die Axiome der euklidischen Geometrie). Modelle sind nichtsprachliche Strukturen. Um den Sinn des Ausdrucks „Modell", auf den es hier ankommt, deutlicher zu verstehen, wollen wir den theoretischen Modellen maßstäbliche und Analogmodelle gegenüberstellen. 34 Ein maßstäbliches Modell ist natürlich eine physikalische Wiedergabe eines Gegenstands oder Systems, die oft viel kleiner ist als das Original (Modellflugzeuge), mitunter aber auch größer (wie die Modelle von Körperteilen, die im Biologieunterricht zur Veranschaulichung verwendet werden). Maßstäbliche Modelle werden manchmal nicht bloß zur Illustration verwendet, sondern auch zur Erklärung eines bestimmten wissenschaftlichen Phänomens. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist das Doppelhelix-Modell der DNS, das Watson und Crick in den fünfziger Jahren aus Draht und Metall bauten und das ihnen die Möglichkeit gab, den chemischen Aufbau dieser Säure zu verstehen. Theoretische Modelle verhalten sich wie maßstäbliche Modelle, insofern sie auf einer Strukturähnlichkeit mit dem, was sie wiedergeben oder darstellen, abhängen, während sie sich von maßstäblichen Modellen unterscheiden, insofern sie nicht aus verkleinerten oder vergrößerten physikalischen Darstellungen der Phänomene bestehen. Mathematische Modelle oder Computermodelle sind bestimmten Arten von Phänomenen strukturell ähnlich, aber sie sehen gar nicht so aus wie diese. Ein Computer33
34
Im Rahmen des molekularen Gas-Modells sind diese Gesetze die Gesetze der statistischen Mechanik. M i t Hilfe des Modells dienen sie der Erklärung solcher phänomenologischen Regelmäßigkeiten wie des Gesetzes von Boyle und Charles. Vgl. Giere·. Understanding Scientific Reasoning, 2. Aufl., S. 7 8 - 8 1 .
180
Kapitel IV: Theorien
modell kann so entworfen werden, daß es das Wetter simuliert (heute werden die meisten Voraussagen auf der Basis solcher Simulationen gemacht), doch dazu ist keineswegs erforderlich, daß es im Innern des Rechners regnet. Wichtig ist nur, daß das Modell den Phänomenen in bestimmter Hinsicht ähnelt. Wenn bestimmte Inputs gegeben sind, kann es Outputs liefern, die bei einer empirischen Interpretation den tatsächlich beobachteten entsprechen. Theoretische Modelle gleichen außerdem den Analogmodellen. Ein Analogmodell beruht auf einer Analogie zwischen einem bestimmten vertrauten oder verstandenen Phänomen und einem, dessen Hauptmerkmale erst noch entdeckt werden müssen. Auch Analogmodelle spielen bei der Entwicklung wissenschaftlicher Theorie manchmal eine Rolle. So haben Rutherford und Bohr durch ihr bekanntes „Sonnensystem-Modell" die Struktur des Atoms sehr viel klarer dargestellt (bei diesem Modell kreisen die Elektronen um einen zentralen Kern). Das Analogmodell gleicht dem theoretischen Modell ebenfalls darin, daß beide auf einer Strukturähnlichkeit beruhen. Verschieden sind sie, (a) insofern ein theoretisches Modell nicht notwendig vertrauter oder besser verstanden ist als das dargestellte Phänomen (obwohl die steuernden Gesetze präziser formuliert sind oder präziser formuliert werden können) und (b) insofern ein theoretisches Modell nicht auf einer einleuchtenden Analogie beruht (im Fall des Rutherford-Bohr-Modells auf einer einleuchtenden visuellen Analogie). Die einzige erforderliche „Analogie" ist die, daß die vom Modell implizierten Datenkurven den wirklich berechneten Kurven tatsächlich „entsprechen". Da die Unterscheidung zwischen deterministischen und stochastischen Systemen mittlerweile so wichtig geworden ist, sollten wir auch darüber noch eine Bemerkung hinzufügen. 3 5 Der Gegensatz zwischen ihnen ist abhängig vom Begriff des Zustands eines Systems. Der Zustand eines Systems ist seine im Sinne der entsprechenden Theorie formulierte vollständige Kennzeichnung 35
Auf diese Unterscheidung werden wir im Schlußkapitel über die Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung zurückkommen.
4. Die semantische Theorienauffassung
181
für jeden gegebenen Z e i t p u n k t . N u n ist ein deterministisches M o d e l l eines, bei dem der Z u s t a n d des Systems zu irgendeiner bestimmten Zeit seinen Z u s t a n d zu allen anderen Z e i t p u n k t e n vollständig und unveränderlich bestimmt. Ist eine vollständige Beschreibung des Systems zu irgendeiner bestimmten Zeit gegeben, kann m a n auf eine vollständige Beschreibung des Systems zu irgendeiner anderen Zeit schließen. Ein Newtonsches Teilchensystem ist ein klassisches Beispiel für ein deterministisches System. Ein stochastisches System d a g e g e n ist derart, d a ß der Z u s t a n d zu irgendeiner gegebenen Zeit nichts weiter bestimmt als die Wahrscheinlichkeit verschiedener Z u s t ä n d e zu anderen Zeitpunkten. Theoretische M o d e l l e in der Genetik sind im Regelfall stochastischer Art. D i e M e r k m a l e der Eltern bestimmen nicht unbedingt die M e r k m a l e ihrer N a c h k o m m e n , sondern wir können a n h a n d des F a k t u m s , d a ß ein Elternteil oder beide Elternteile ein bestimmtes M e r k m a l h a b e n , lediglich auf die Möglichkeit schließen, d a ß auch d a s Kind dieses M e r k m a l haben wird.36 N a c h der semantischen T h e o r i e n a u f f a s s u n g bestehen T h e o r i e n also aus theoretischen M o d e l l e n s o w i e aus der empirischen Hypothese, d a ß die M o d e l l e die wirkliche Welt in bestimmter Hinsicht annähernd wiedergeben. Insoweit diese a n n ä h e r n d e Wiedergabe gelingt — d. h. insoweit d a s M o d e l l den D a t e n „ e n t s p r i c h t " —, erklärt die T h e o r i e , w a r u m sich die Dinge so abspielen, wie es nun einmal geschieht, und die T h e o r i e wird durch die D a t e n bestätigt. N u n läßt sich zeigen, wie die semantische A u f f a s s u n g mit den Problemen verfährt, die gegen ihre klassische und ihre historistische Konkurrentin erhoben w o r d e n sind. Erstens sind die M o d e l l e , wie schon betont w u r d e , keine sprachlichen M o d e l l e . Ein und dasselbe M o d e l l bzw. ein und dieselbe
36
Eine sehr interessante Anwendung der semantischen Auffassung auf die Untersuchung genetischer Theorien findet sich bei Elizabeth Lloyd: „A Semantic Approach to the Structure of Population Genetics", Philosophy of Science 51 (1984), S. 242 - 264.
182
Kapitel IV: Theorien
Klasse von Modellen kann auf mehrere verschiedene Weisen und in vielen verschiedenen Sprachen beschrieben werden. Die diversen Axiomatisierungen der Teilchenmechanik sind verschieden, doch sie alle definieren oder spezifizieren dieselbe Klasse von Modellen. Zweitens ist die Unterscheidung zwischen Modell und Daten keine Unterscheidung zwischen dem, was „theoretisch", und dem, was „beobachtungsbezogen" ist. Im Regelfall verwendet das Modell zur Beschreibung Termini, die man gleichermaßen als theoretische wie als beobachtungsbezogene bezeichnen könnte. So verwendet die Beschreibung eines Newtonschen Teilchensystems sowohl den vom intuitiven Standpunkt theoretischen Ausdruck „Punktmasse" als auch den beobachtungsbezogenen Terminus „Position". Ebenso werden die Daten derart beschrieben, daß theoretisches und beobachtungsbezogenes Vokabular (sofern ihre Unterscheidung überhaupt einen Inhalt hat) miteinander vermischt werden. Die Daten z. B., die wir in Verbindung mit dem Melekularmodell der Gase sammeln, verlangen häufig überaus komplizierte Meßinstrumente und beruhen auf der Anwendung bestimmter äußerst theoretischer Begriffe (etwa „Gleichgewichtszustand"). Daraus ergibt sich ferner, daß die semantische Auffassung nicht voraussetzt, die Daten seien unabhängig von jeglichem theoretischen Kontext einfach „gegeben". 37 Daten sind immer Daten für eine gegebene Theorie; erforderlich ist nur, daß ihre „Übereinstimmung" mit der Theorie nicht von vornherein verbürgt ist. Die Daten für ein Newtonsches Teilchensystem oder -modell werden mit Hilfe genau derselben Termini beschrieben wie das System selbst, doch das schließt keineswegs die Möglichkeit aus, daß diese Daten nicht zu dem System passen oder es widerlegen. Drittens sorgt die semantische Auffassung für die Objektivität der Theorien. Denn jede Theorie enthält eine empirische Hypo37
Im Regelfalls werden die Daten in mehrerer Hinsicht idealisiert, ehe sie überhaupt mit einem Modell konfrontiert werden. Vgl. Patrick Suppes: „Models of Data", in: Studies in the Methodology and Foundations of Science, Reidel, 1969.
4. Die semantische Theorienauffassung
183
these, die besagt, das betreffende Modell gelte tatsächlich für die gemeinten Daten. Diese Hypothese ist entweder wahr oder falsch und kann — zumindest in den meisten Fällen 3 8 — überprüft werden. Wenn eine weitgehende Übereinstimmung besteht, wenn Teile des Modells unabhängig bestätigt werden können, wenn eine Vielzahl von Belegen zum Einsatz gebracht worden ist usw., können wir behaupten, daß die empirische Hypothese, wonach das Modell „ p a ß t " , bestätigt worden ist. Aber ob es gut „ p a ß t " oder nicht, ist eine ganz objektive Frage, die den „Rechtfertigungskontext" betrifft. 3 9 Abgesehen von der wiederholten Bekräftigung des eigenen Standpunkts von Seiten der Befürworter der klassischen und der historistischen Theorie sind bislang noch keine einleuchtenden Einwände gegen die semantische Auffassung zum Vorschein gekommen, woraus freilich nicht folgt, diese semantische Auffassung sei gegen Kritik gefeit. Es gibt viele Einzelheiten in bezug auf diese Auffassung, die erst noch beigebracht werden müssen. So ist unter anderem bis jetzt nicht klar, wie man nach der semantischen Auffassung aus der Tatsache schlau werden soll, daß es für ein und dieselbe wissenschaftliche Theorie oft mehr als nur ein Modell gibt. Außerdem liefert sie keine Antworten auf all die zentralen Fragen, die man vielleicht im Hinblick auf das Wesen wissenschaftlicher Theorien stellen möchte. Insbesondere gibt sie keine deutlichen Hinweise darauf, wie Fragen bezüglich der Realität wissenschaftlicher Entitäten erörtert werden sollten (manche Vertreter der semantischen Theorie möchten behaupten, ihre Theorie impliziere eine realistische Einstellung, während andere genau das Gegenteil für richtig halten), und sie macht auch nicht klar, wie die Rationalität des wissenschaft-
38
39
M a n c h m a l ist es überaus schwierig, Möglichkeiten der modellmäßigen Wiedergabe der Daten ausfindig zu machen, d. h. wirkliche physikalische Systeme aufzuspüren, die mit einem Teil (dem empirischen Teil) des Modells isomorph sind. Zur Beurteilung des Passens kann man sich der verschiedenen kunstvoll ausgetüftelten und diffizilen Verfahren bedienen.
184
Kapitel IV: Theorien
liehen Wandels oder die Vergleichbarkeit der Theorien zu analysieren sind. Ebendiesen Fragen bezüglich Realität und Rationalität müssen wir uns nunmehr zuwenden.
5. Die Realität wissenschaftlicher
Entitäten40
Eine immer wieder aufgeworfene Grundfrage der Philosophie lautet: Was gibt es eigentlich? 41 Im sechzehnten Jahrhundert begann sich die Setzung nicht wahrnehmbarer Entitäten wie der Atome zur Erklärung von beobachteten Phänomenen der natürlichen Welt immer weiter durchzusetzen, und seitdem wurde die genannte Grundfrage oft durch folgende Frage ersetzt: Inwieweit liefern wissenschaftliche Theorien eine zutreffende Darstellung dessen, was wirklich existiert? Auf diese letztere Frage sind zwei unterschiedliche Antworten gegeben worden. Einerseits wird behauptet, wissenschaftliche Theorien seien eine wahre Darstellung der Welt, und deshalb seien die von ihnen postulierten Entitäten — Atome, Felder, Triebe, Libidoströme usw. — real; theoretische Gegenstände 40
41
Der folgende Abschnitt enthält bereits veröffentlichtes Material aus dem Aufsatz von Gordon G. Brittan jr.: „Kant and the Objects of Theory", in Β. den Ouden (Hg.): New Essays on Kant, Peter Lang, 1987. Für den Realismus sprechen sich unter anderem aus Grover Maxwell: „The Ontological Status of Theoretical Entities", in: Feigl u. Maxwell (Hg.): Minnesota Studies in the Philosophy of Science, University of Minnesota Press, 1962, Bd. III, und ]. ]. C. Smart·. Philosophy and Scientific Realism, Routledge and Kegan Paul, 1964. Ein antirealistischer Standpunkt wird von van Fraassen in The Scientific Image dargelegt. Arbeiten, in denen sein Standpunkt erörtert wird, finden sich in ]. Leplin (Hg.): Scientific Realism, University of California Press, 1984. Die mittlere Position des „internen Realismus" wird von Hilary Putnam vertreten, vgl. Realism and Reason, Cambridge University Press, 1983. Die traditionellen Antworten auf diese Frage sind berühmt-berüchtigt. Besonders gelungen ist die des antiken griechischen Philosophen Parmenides, dessen Auffassung scheinbar impliziert, daß es genau ein Ding gibt, das aber von ihm selbst verschieden ist.
5. Die Realität wissenschaftlicher Entitäten
185
seien existent. Wer sich zu dieser These bekennt, ist ein Vertreter des wissenschaftlichen Realismus. Andererseits wird behauptet, wissenschaftliche Theorien seien keine wahren Darstellungen der Welt; Theorien seien nicht wahr, sondern nützlich. Da die wissenschaftlichen Theorien die Aufgabe haben, die Daten unserer Erfahrung in solcher Weise zu ordnen, daß Prognosen und schließlich Steuerung der Z u k u n f t möglich werden, seien Theorien nichts weiter als Instrumente; theoretische Gegenstände seien im großen und ganzen praktische Fiktionen. Die Vertreter dieser These heißen Instrumentalisten. Zunächst werden wir drei charakteristische instrumentalistische Argumente darlegen, dann einige beispielhafte Erwiderungen von realistischer Seite skizzieren und schließlich andeuten, welches nach unserer Auffassung der Kern der Auseinandersetzung ist. Erstes instrumentalistisches Argument: Die Eliminierbarkeit theoretischer Termini42 Gehen wir davon aus, die Aufgabe der Wissenschaft bestehe tatsächlich darin, die Daten unserer Erfahrung in solcher Weise zu ordnen, daß Prognosen über den künftigen Gang dieser Erfahrung möglich werden. Welche Rolle spielt dann die Setzung theoretischer Entitäten? Eine einleuchtende Antwort lautet, sie gestatte es uns, den Anwendungsbereich unserer empirischen Verallgemeinerungen zu erweitern und einzuordnen, was sonst Ausnahmen wären. Viele alltägliche empirische Verallgemeinerungen sind in ihrem Anwendungsbereich beschränkt und kranken am Vorhandensein von Ausnahmen. So ist z. B. die Generalisierung G . l : Holz schwimmt auf dem Wasser, Eisen sinkt darin auf Holz, Wasser und Eisen beschränkt und wird durch die Fälle beeinträchtigt, in denen Holz (z. B. ein Ebenholzstück) sinkt bzw. Eisen schwimmt (wenn es etwa zu einer Kugel verarbeitet 42
Vgl. Carl Hempel: „The Theoretician's Dilemma", abgedruckt in Aspects of Scientific Explanation.
186
Kapitel IV: T h e o r i e n
wurde). Diese Mängel lassen sich aber offenbar beheben, indem wir den theoretischen Begriff der spezifischen Schwere und überdies eine durch diesen Begriff bezeichnete Entität oder Größe einführen, die definiert wird als der Quotient aus Gewicht und Volumen eines festen Körpers: D . l : f(x) =
g(x)/v(x).
Dann läßt sich ohne weitere Einschränkung behaupten: G.2: Ein fester Körper schwimmt auf einer Flüssigkeit, wenn seine spezifische Schwere geringer ist als die der Flüssigkeit. Diese Generalisierung ist — im Gegensatz zu G . l schränkt und duldet keine Ausnahme.
— unbe-
Nun ist das Problematische an dieser Interpretation der Funktion theoretischer Termini, daß diese grundsätzlich eliminierbar zu sein scheinen, so daß wir keinen Grund zur Annahme haben, daß die von diesen Termini bezeichneten Entitäten wirklich existieren. Das heißt, wir können, indem wir den Begriff „spezifische Schwere" durch seine Definition ersetzen, anstelle von G.2 behaupten: G.3: Ein fester Körper schwimmt auf einer Flüssigkeit, wenn der Quotient aus seinem Gewicht und seinem Volumen geringer ist als der entsprechende Quotient für die Flüssigkeit. Damit können wir genau dieselben Prognosen stellen wie vorher. Was immer der Begriff der spezifischen Schwere leistet, ist — wenn man von seiner Abkürzungsfunktion absieht — auch ohne ihn möglich. Diese Argumentation kann man verallgemeinern. Eine Prognose stellen, so wollen wir annehmen, läuft darauf hinaus, daß man mit Hilfe bestimmter Korrespondenzregeln Κ aus einer Theorie Τ und Beobachtungsaussagen Bi eine Beobachtungsaussage B2 ableitet: Bi Τ Κ also B2
5. Die Realität wissenschaftlicher Entitäten
187
Dieses Argument ließe sich offensichtlich durch ein anderes ersetzen, das Bi und B2 unmittelbar zueinander in Beziehung setzt: Bi Wenn Bi, dann B2 also B2 Daraus ergeben sich die gleichen beobachtungsmäßigen Konsequenzen, ohne daß jedoch Theorien oder theoretische Termini verwendet würden. Hieraus ergibt sich allem Anschein nach die Schlußfolgerung, daß wir stets von Beobachtungen zu (prognostizierten) Beobachtungen gelangen können, ohne einen theoretischen Umweg zu machen. Daher besteht offenbar kein Grund zur Annahme, Theorien seien mehr als bloße Instrumente, also praktische und ökonomische, doch im Grunde eliminierbare Verfahren zur Ordnung der Daten. Argumente dieser Art haben sich auf die methodologischen Grundsätze mancher Wissenschaftler maßgeblich ausgewirkt. Denken wir an den Fall der psychologischen Erklärung. Das Gegebene sind bestimmte wahrnehmbare Aspekte einer Versuchsperson und bestimmte wahrnehmbare Reize, die auf die Versuchsperson einwirken, worauf eine wahrnehmbare Reaktion folgt. Darauf postulieren die Theoretiker „intervenierende Variablen" — Triebe, Hemmungen, Gewohnheitsstärken, Sperren usw. —, um den Übergang vom Reiz zur Reaktion zu vermitteln und auf diese Weise die beobachtbaren Aspekte der Situation zu systematisieren und zugleich zu erklären. Doch sofern die oben genannte Argumentation stichhaltig ist, läßt sich der gesetzähnliche Übergang vom Reiz zur Reaktion ohne Setzung intervenierender Variablen bewerkstelligen. Behaviouristische Psychologen wie B. F. Skinner haben rasch die methodologische Konsequenz gezogen und behauptet, zum Zwecke der Prognose und der Steuerung könne man unmittelbar vom Reiz zur Reaktion übergehen, ohne einen theoretischen Umweg zu machen. 43 43
Science a n d H u m a n Behavior, M a c m i l l a n , 1953, S. 35.
188
Kapitel IV: T h e o r i e n
Zweites instrumentälistisches Argument: Die Unvollständigkeit theoretischer Gegenstände Gewöhnliche Gegenstände sind so beschaffen, daß jede Behauptung über sie entweder wahr oder falsch ist. Gewöhnliche Gegenstände sind also in gewissem Sinne vollständig. Das Gesetz der Zweiwertigkeit (wonach jeder Satz entweder wahr oder falsch ist) gilt mit Bezug auf alle Sätze, die gewöhnlichen Gegenständen angemessene Eigenschaften zuschreiben. Dieses Buch ist also entweder rot oder nicht, es wiegt ein halbes Pfund oder es wiegt nicht ein halbes Pfund, usw. Die theoretischen Gegenstände jedoch sind — im Gegensatz zu Gegenständen gewöhnlicher Art — unvollständig. Die Theorie, in der von Atomen die Rede ist, liefert keine Basis etwa für die Behauptung, Atome seien rot oder nicht rot; in besonders extremen Fällen schließt sie sogar die Möglichkeit aus, es könne überhaupt eine Basis dafür geben, daß atomare und subatomare Teilchen eine gemeinsam und genau angebbare Position und Geschwindkeit haben. Ganz prinzipiell gibt es kein Verfahren, solche Fragen zu entscheiden. Wenn wir die offenbar einleuchtende Voraussetzung machen, ein existierender Gegenstand müsse vollständig sein, dann existieren theoretische Gegenstände nicht und können nicht existieren. Oft wird behauptet, da theoretische Entitäten etwas Imaginäres seien, glichen sie fiktiven Entitäten oder seien nichts anderes als fiktive Entitäten. Wichtiger noch ist die Behauptung, sie seien deshalb wie fiktive Entitäten, weil beide Gegenstandsarten wesentlich unvollständig seien. Viele Aussagen über fiktive Entitäten — etwa über Romanfiguren — sind weder wahr noch falsch (wenn der Autor nichts darüber sagt oder andeutet, können wir z. B. nicht in Erfahrung bringen, ob die Heldin eines Romans Kinder hat oder nicht). In dieser und vielleicht noch mancher anderen Hinsicht verhalten sich Theorien wie Romane. Es gibt freilich andere Hinsichten, in denen sie sich unterscheiden. Viele theoretische Entitäten haben Eigenschaften, die durch Theorien über sie nicht erschöpfend angegeben werden, so z. B. raumzeitliche Orte. Diese lassen sich häufig durch Messung bestim-
5. Die Realität wissenschaftlicher Entitäten
189
men, und in diesem Fall haben die betreffenden theoretischen Entitäten eine reale Geschichte, wie sie fiktiven Figuren nicht zukommt. Außerdem werden Theorien in einer Weise durch Belege gestützt, die bei Romanen nicht in Frage kommt. Drittes instrumentalistisch es Die Idealität theoretischer
Argument: Entitäten
Gegenstände gewöhnlicher Art sind „gegeben". Sie warten lediglich darauf, entdeckt zu werden. Theoretische Gegenstände dagegen sind bewußtseinsabhängig; sie werden nicht entdeckt, sondern erfunden oder postuliert. Anders als die undurchsichtigen, Widerstand leistenden gewöhnlichen Gegenstände, die sich uns aufdrängen, sind die theoretischen Gegenstände „freie Schöpfungen des Geistes". Spezifischer ausgedrückt, eine große Teilklasse der theoretischen Gegenstände, z. B. die Massenpunkte, ist ideal. Diese Gegenstände werden von vornherein als theoretische Konstrukte — als bloße praktische Notbehelfe — behandelt, wobei es einem gar nicht in den Sinn kommt, sie könnten etwa existieren. Ja in Fällen wie dem eines (dimensionslosen) Massenpunkts stellt sich die Frage der Existenz eines solchen theoretischen Gegenstands einfach gar nicht. Diese drei instrumentalistischen Argumente werden hier in der Reihenfolge zunehmender Stärke wiedergegeben. Das erste Argument ist agnostisch: Sofern jede Bezugnahme auf theoretische Gegenstände prinzipiell eliminiert werden kann, besteht kein Grund zur Annahme, daß theoretische Gegenstände existieren. Das zweite Argument besagt, daß theoretische Gegenstände nicht existieren und nicht existieren können, weil sie im Gegensatz zu Gegenständen gewöhnlicher Art unvollständig sind. Das dritte Argument lautet, daß sich die Frage ihrer Existenz zumindest in exemplarischen Fällen nicht einmal stellt; hier steht einfach nichts zur Debatte. Dem fügen die Instrumentalisten mitunter hinzu, ihr Standpunkt sei der vorsichtigere. Ebenso, wie die Theorien im Laufe der Zeit einander abgelöst haben, so ist es auch den von diesen
190
Kapitel IV: Theorien
Theorien postulierten Entitäten ergangen. Warum sollte man sich auf die Existenz der von heutigen Theorien postulierten Entitäten festlegen, wenn sie doch höchstwahrscheinlich von einem künftigen Zeitalter verworfen werden, wie früher schon das Phlogiston, der tierische Magnetismus, der Äther, der Impetus und der Funiculus? Diese Argumente sind nicht gegen Kritik gefeit. Zunächst wollen wir die Kritik des ersten und des dritten instrumentalistischen Arguments betrachten. Anschließend werden wir uns dem Argument der Unvollständigkeit zuwenden und zwei verschiedene Möglichkeiten andeuten, wie sich seine Konsequenzen ausführlich darlegen ließen. Abschließend gehen wir auf Fragen ein, die sich von der augenscheinlichen Instabilität des wissenschaftlichen Weltbilds herschreiben. Erstens ist der Versuch verfehlt, einen Unterschied zu machen zwischen bloß idealen und anderen Arten theoretischer Gegenstände. Zur Veranschaulichung eines immer wiederkehrenden Musters dienen zwei bekannte Vorfälle aus der Wissenschaftsgeschichte: 4 4 Der eine betrifft Galileos Postulat der geradlinigen Komponente der parabelförmigen Flugbahn. Nach Galileos eigener Auffassung gibt es gar keine geradlinige Bewegung; in der Natur findet man ausschließlich gekrümmte Bewegungen. Unter Voraussetzung des begrifflichen Rahmens oder Paradigmas, vor dessen Hintergrund Galileos Theorie der parabelförmigen Flugbahn formuliert wurde, ist es nicht nur faktisch so, daß es keine geradlinige Bewegung gibt, sondern ihre Existenz wäre nicht einmal möglich. 4 5 Doch Galileos Deutung, „die er für sein Teil als Idealisierung betrachtete, wurde von seinen Nachfolgern als buchstäblich richtige Deutung akzeptiert; die wahre horizontale Komponente war danach tatsächlich eine gerade Linie, und eine Abweichung davon sei zurückzuführen auf das Einwirken
44
45
Erörtert werden beide Ereignisse von Dudley Shapere in Galileo, University of Chicago Press, 1974. Vgl. Alexandre Koyre: Galilean Studies, Humanities Press, 1978, S. 155.
5. Die Realität wissenschaftlicher Entitäten
191
einer äußeren Kraft" 4 6 . Der zweite Vorfall ist das bereits erwähnte Postulat diskreter Quanten, das Max Planck zur Analyse der Strahlung schwarzer Körper aufgestellt hat. 4 7 Für Planck, der mit seiner Kurve zurechtkommen wollte, war das betreffende Postulat nichts weiter als ein rechnerisches Hilfsmittel, aus dem sich eine einzige Formel ergab, die für alle Strahlungsfrequenzen schwarzer Körper zutraf. Auch in diesem Fall wurde die Idealisierung ganz bewußt vorgenommen, denn Planck „wußte", daß der Prozeß in Wirklichkeit Kontinuität zeigen mußte, denn Kontinuität war eine wesentliche Komponente jeder bis dahin entwickelten erfolgreichen physikalischen Theorie. Doch im Anschluß an Einsteins spätere Arbeiten über den photoelektrischen Effekt wurden diskrete Quanten als Grundelemente des wahren wissenschaftlichen Bilds der Dinge akzeptiert. Daraus, daß bestimmte Gegenstände als „bequeme Notlösungen" eingeführt werden, oder daraus, daß wenigstens anfangs niemand an ihre faktische oder nicht einmal an ihre mögliche Existenz glaubt, folgt — wie diese beiden Vorfälle zeigen — nicht, daß sich die Frage ihrer Existenz nicht stellt. Was diese und ähnliche Begebenheiten veranschaulichen, ist, daß solche Gegenstände oft zu guter Letzt ohne weiteres als reale anerkannt werden. Zweitens ist es verfehlt, einen Unterschied zu machen zwischen theoretischen Gegenständen und Gegenständen gewöhnlicherer Art. Hier ist unter anderem zu beachten, daß das Argument der Eliminierbarkeit theoretischer Termini eine scharfe Unterscheidung zwischen theoretischen und beobachtungsbezogenen Termini voraussetzt. Doch diese Unterscheidung wird durch die schon früher geäußerte Kritik der klassischen Theorienauffassung in Gefahr gebracht. Zu bedenken ist auch, daß das Argument der Eliminierbarkeit theoretischer Termini auf der These beruht, daß die Funktion solcher Termini darin bestehe, die 44 47
Shapere: Galileo, S. 120. Vgl. M. ]. Klein: „ M a x Planck and the Beginnings of Quantum Theory", Archive for the History of the Exact Sciences 1 (1962), S. 459 ff.
192
Kapitel IV: Theorien
Daten in den angedeuteten Weisen zu „systematisieren". Würde diese These abgelehnt, verlöre auch d a s Argument selbst sehr an Überzeugungskraft. Viele Realisten behaupten sogar, sofern die wissenschaftliche Erklärung und die Beziehung zwischen Theorien richtig verstanden werde, folge der Realismus bezüglich theoretischer Entitäten als eine Art Korollar. Z u diesen Realisten gehört auch Wilfrid Sellars.48 N a c h Sellars erklären Theorien sowohl die Phänomene als auch andere Theorien nicht mittels „Systematisierung" oder Ableitung, sondern durch Gleichsetzung der wahrnehmbaren Phänomene mit nicht wahrnehmbaren Entitäten, deren Verhalten durch die Grundprinzipien der fundamentaleren Theorien beschrieben wird. N a c h Seilars besagt das Grundschema der theoretischen Erklärung: Physikalische Gegenstände gewöhnlicher Art, „die soundso beschaffen sind, gehorchen (annähernd) diesen und jenen Verallgemeinerungen, weil sie tatsächlich Konfigurationen dieser und jener theoretischer Entitäten sind". Während die Funktion theoretischer Termini nach instrumentalistischer Auffassung darin besteht, die Daten zu „systematisieren", besteht ihre Funktion nach Sellars' realistischer Auffassung darin, Entitäten ins Spiel zu bringen, deren Verhalten die Daten erklärt. N a c h der ersteren Auffassung folgt, daß theoretische Termini grundsätzlich eliminierbar sind. N a c h der letzteren Auffassung haben theoretische Termini nur dann Erklärungswert, wenn die Entitäten, auf die sie sich beziehen sollen, tatsächlich existieren. Mit anderen Worten, einen guten Grund für die Anerkennung einer Theorie zu haben heißt: einen guten Grund zu haben für die Überzeugung, daß die von der Theorie zum Zwecke der Erklärung postulierten Entitäten real sind. Dieser Sachverhalt läßt sich durch ein Beispiel verdeutlichen: Angenommen, es werde eine Erklärung der Tatsache verlangt, daß G a s e in etwa dem bekannten Gesetz von Boyle und Charles gehorchen (also einer typischen empirischen Verallgemeinerung). In erster Linie ist eine Erklärung keine deduktive Folgerung (aus 48
„The L a n g u a g e of T h e o r i e s " , in: Science, Perception and Reality, Routledge and Kegan Paul, 1963.
5. Die R e a l i t ä t wissenschaftlicher Entitäten
193
den Prinzipien der statistischen Mechanik und der kinetischen Theorie der Materie), sondern eine Gleichsetzung der Gase mit den Entitäten, welche von der kinetischen Theorie der Materie postuliert werden und deren Verhalten von den Prinzipien der statistischen Mechanik beschrieben wird. Um mit Sellars zu reden: „Weil ein Gas nichts anderes ist als eine Wolke von Molekülen, die sich in bestimmten theoretisch definierten Weisen verhalten, gehorcht es dem empirischen Gesetz von Boyle und Charles."*9 Ein Gas wird wärmer, wenn es komprimiert wird, weil sich die Moleküle, aus denen das Gas zusammengesetzt ist, in solch einem Fall mit größerer Geschwindigkeit bewegen müssen usw. Wenn die Erklärung des Verhaltens eines Gegenstands oder Gegenstandstyps eine Beschreibung des Verhaltens der theoretischen Gegenstände beinhaltet, aus denen sich der betreffende Gegenstand in gewissem Sinne zusammensetzt, werden wir durch die Erklärung auf die Existenz theoretischer Gegenstände festgelegt. Diese lassen sich dann nicht einfach als nützliche Fiktionen auffassen. Im Kern dieser Erklärungsart steckt eine These der folgenden Form: Diese und jene physikalischen Gegenstände sind nichts anderes als Konfigurationen dieser und jener theoretischen Entitäten. Das Bild, das aus diesen Erwiderungen auf das erste und das dritte instrumentalistische Argument hervorgeht, ist das Bild eines Kontinuums von Gegenständen, an deren einem Ende sich „ideale" Gegenstände wie Massenpunkte befinden, während am entgegengesetzten Ende die gewöhnlichen Tische und Stühle stehen. Die Behauptung, es handele sich um ein Kontinuum, besagt, daß es hier keine drastischen Brüche gibt, daß zwischen „theoretischen" und „nichttheoretischen" Gegenständen nirgends bleibende Unterscheidungen getroffen werden können. Doch mit dieser Behauptung sagt man auch, daß wir ganz grundsätzlich nicht imstande sind, sie als existente bzw. nichtexistente Gegenstände auseinanderzuhalten. Überlegungen des gleichen allgemeinen Typs, die zeigen, daß bestimmte physikalische Gegenstände gewöhnlicher Art existieren, können verwendet
49
A. a. O . , S. 121.
194
Kapitel IV: Theorien
werden, um darzutun, daß manche theoretischen Gegenstände ebenfalls existieren. 5 0 D a s zweite instrumentalistische Argument, das sich auf den Gedanken der Unvollständigkeit stützt, ist nicht so leicht abzutun. Der Grund ist folgender: D a s erste und das dritte Argument sind typisch philosophische Argumente; sie berufen sich nicht unmittelbar auf empirische Theorien oder experimentelle Daten, es sei denn, um etwas zu veranschaulichen. Die Erwiderung auf diese beiden Argumente läuft im Grunde auf folgendes hinaus: Wenn ein Gegenstand möglich (d. h. seine Beschreibung logisch widerspruchsfrei) ist, läßt sich seine Existenz oder Nichtexistenz nicht mit rein begrifflicher Begründung nachweisen. D a s Problem muß von der Wissenschaft selbst gelöst werden und ist daher wenigstens teilweise empirischer Art. Doch im Fall des zweiten instrumentalistischen Arguments ist es eine spezifische, wohlfundierte wissenschaftliche Theorie — die Quantenmechanik - , die Fragen aufwirft im Hinblick auf die Realität der von ihr postulierten Entitäten. Es ist überaus verlockend, das Wort „ Q u a n t e n m e c h a n i k " zu beschwören, um eine mannigfaltige Reihe von wissenschaftstheoretischen Ansichten zu untermauern. Es steht jedoch außer Frage, daß der Versuch, diese Theorie und ihre Implikationen zu verstehen, die größte einzelne Herausforderung darstellt, der sich das heutige Denken über Wesen und Adäquatheit des wissenschaftlichen Weltbilds gegenübersieht. Welchen Einfluß hat nun die Quantenmechanik auf das Argument der Unvollständigkeit theoretischer Entitäten? Angenommen, wir argumentierten wie folgt: N a c h dem im vorigen Abschnitt dieses Kapitels genannten Molekularmodell der G a s e haben Gasvolumen oder Gruppen von Molekülen eine mittels bekannter Verfahren meßbare Temperatur. Für einzelne Mole-
50
Mary Jo Nye gibt in Molecular Reality eine faszinierende Darstellung des Vorgangs, wie der auf dem Gebiet der physikalischen Chemie tätige Franzose Jean Perrin (1870 — 1942) die Existenz der Moleküle schlüssig und empirisch bewies.
5. Die Realität wissenschaftlicher Entitäten
195
küle gilt das nicht, obwohl sie kinetische Energie haben. Darum sind individuelle Moleküle mit Bezug auf die Eigenschaft Temperatur unvollständig. Auf eine solche Begründung könnte man stets erwidern, Aussagen, durch die einzelnen Gasmolekülen eine bestimmte Temperatur zugeschrieben wurde, seien falsch gewesen, wodurch dann die Zweiwertigkeit wiederhergestellt würde: Jede sinnvolle Behauptung über Gasmoleküle ist entweder wahr oder falsch. Ebenso gälten Aussagen, welche Atomen Farben zuschreiben, schlicht als falsch, so daß die Atome vollständig determiniert wären. Doch im Fall der Quantenmechanik gibt es keinen derart unkomplizierten Ausweg. Denn nach der vorherrschenden, der von Niels Bohr (1885 — 1962) und "Werner Heisenberg (1901 - 1976) vertretenen „Kopenhagener" Deutung der Quantenmechanik gilt: Wenn ein atomares oder subatomares Teilchen a eine bestimmte Position Μ hat, dann ist es weder wahr noch falsch, daß a die der Quantentheorie zufolge damit unvereinbare Eigenschaft besitzt, daß es eine gegebene Position S einnimmt. Mit anderen Worten, das Teilchen ist wesentlich unvollständig; seinen Positionskoordinaten läßt sich kein Wert zuordnen. Knapp formuliert, unter Voraussetzung der „Kopenhagener Deutung" gibt es wirkliche Schwierigkeiten, wenn man im Hinblick auf die Quantenmechanik einen realistischen Standpunkt beibehalten will. Diese Schwierigkeiten sind jedoch nicht unüberwindlich. Das instrumentalistische Argument beruht auf zwei Prämissen: Unvollständige Gegenstände existieren nicht, und (zumindest einige) theoretische Gegenstände sind unvollständig. Gegen jede dieser Prämissen lassen sich Einwände erheben. Nehmen wir uns zunächst die zweite Prämisse vor. Hier gibt es zwei Schwierigkeiten. Die eine besteht darin, daß der Begriff der Vollständigkeit mehrdeutig ist. Wird er in dem Sinne aufgefaßt, daß jede wirkliche Entität immer eine Eigenschaft aus jeder (klassischen) Kategorie besitzt, dann läßt sich zeigen 51 , daß die 51
Vgl. Karel Lambert: „Logical Truth and Metaphysics", in: Karel Lambert (Hg.): The Logical Way of Doing Things, Yale University Press, 1969.
196
Kapitel IV: Theorien
„Vollständigkeit" der mikrophysikalischen Gegenstände vereinbar ist mit der These, manche Aussagen über sie seien weder wahr noch falsch. Die andere Schwierigkeit besteht darin, daß die Kopenhagener Deutung nicht auf eine spezielle Klasse „theoretischer Gegenstände" zutreffen soll, sondern die von ihr postulierten Unbestimmtheiten gelten für Gegenstände im allgemeinen. Auch die erste Prämisse des instrumentalistischen Arguments, wonach es keine unvollständigen Gegenstände gibt, ist nicht unproblematisch. M a n könnte geltend machen, sie sei schlicht falsch, da einige unvollständige Gegenstände — z. B. Photonen — tatsächlich existieren. M a n könnte auch behaupten, daß alle Gegenstände in unserem ursprünglichen Sinn „unvollständig" seien, da das Zweiwertigkeitsprinzip mit Bezug auf sie alle versage (Fensterglas ist weder rot noch nicht-rot, da es gar nicht farbig ist; Regenbogen sind weder hier noch dort, da sie keinen festen Ort haben, usw.). Folglich gelingt es nicht, mit Hilfe des Begriffs „Unvollständigkeit" zwischen existenten und nichtexistenten Gegenständen zu unterscheiden. Das Ergebnis ist, daß man an der realistischen Grundstrategie festhalten und angesichts des Unvollständigkeitsarguments darauf pochen kann, daß sich keine scharfe Unterscheidung treffen läßt zwischen „theoretischen" und „nichttheoretischen" Gegenständen, und dies ist sogar vor dem Hintergrund der Kopenhagener Deutung der Quantenmechnaik möglich. Der Realist hat nämlich zwei Möglichkeiten: Er kann entweder behaupten, mikrophysikalische Entitäten seien im angemessenen Sinne vollständig — in diesem Fall gibt es keine Unterscheidung zwischen ihnen und Gegenständen gewöhnlicherer Art (deren Vollständigkeit um der Auseinandersetzung willen vorausgesetzt wird); oder er kann bestreiten, daß Gegenstände gewöhnlicher Art vollständig sind — und in diesem Fall gibt es auch keine Unterscheidung zwischen ihnen und den mikrophysikalischen Gegenständen, deren Unvollständigkeit offenbar aus der Kopenhagener Deutung hervorgeht. Andersherum formuliert: Der radikale Instrumentalist oder Antirealist muß zeigen, daß es zwischen theoretischen und gewöhnlicheren physikalischen Gegenständen
6. Die Rationalität der Theorienwahl
197
einen Artunterschied gibt, sofern er geltend machen will, daß sich die ersteren zumindest grundsätzlich eliminieren lassen. Mit Hilfe des Begriffs der Unvollständigkeit gelingt es jedoch nicht, ein Argument zu liefern, auf dessen Grundlage sich ein derartiger Artunterschied nachweisen ließe. Nach all diesen Ausführungen sollte man abschließend nicht übersehen, daß wir de facto schon eine der Grundlagen des instrumentalistischen Standpunkts anerkannt haben. Wir haben nämlich behauptet, daß die Frage, ob eine Eigenschaft beobachtungsbezogen ist oder nicht, und die Frage, ob ein Gegenstand bzw. ein Gegenstandstyp existiert oder nicht, nur durch wissenschaftliche Untersuchungen beantwortet werden können. Und damit ist gesagt, daß es kein unabhängiges, außerwissenschaftliches Kriterium gibt, auf dessen Grundlage man behaupten kann, wissenschaftliche Entitäten seien wirklich real. Die Frage, ob sie wirklich real sind, hat von diesem Standpunkt wenig Sinn. Oder, um eine Formulierung der neueren Wissenschaftsphilosophie zu verwenden: Unser Realismus mit Bezug auf wissenschaftliche Entitäten ist etwas der Wissenschaft selbst Internes.52
6. Die Rationalität der Theorienwahl Eine letzte Frage, die durch Eröterungen dieses Kapitels nahegelegt wird, bezieht sich auf das Problem, ob es rationale Gründe für die Bevorzugung einer Theorie vor einer anderen gibt oder ob die Theorienwahl, wie die Historizisten manchmal implizit behaupten 53 , mehr von Überredung und politischer Macht abhängt als von Logik und Experiment. Diese Frage hat zwei wichtige Aspekte. Der eine betrifft die Rationalität der wissenschaftlichen Praxis. Gibt es bestimmte Normen, mit deren Hilfe sie gerechtfertigt werden kann? Der andere Aspekt betrifft die Rationalität des wissenschaftlichen Wandels. Ist es möglich, einen Fortschrittsbegriff anzugeben, der 52 53
Vgl. Hilary Putnam: Realism and Reason. Vgl. Paul Feyerabend: Against Method.
198
Kapitel IV: Theorien
der Wissenschaftsgeschichte entspricht? Diese Teilfragen lassen sich untereinander verbinden. So könnte man z. B. behaupten, der wissenschaftliche Wandel (die Verdrängung einer Theorie durch eine andere) sei insoweit rational, als er aus der rationalen Wissenschaftspraxis hervorgeht. Zunächst jedoch wollen wir diese Fragen separat besprechen. Es gibt zwei Grundtypen einer Analyse der Rationalität der wissenschaftlichen Praxis, und beide lassen sich mit Hilfe der bekannten Unterscheidung zwischen Mitteln und Zwecken verständlich machen. Die eine Analyse betont die Relativität der Mittel. Sofern bestimmte Zwecke von vornherein gewählt oder bestimmt werden, sind manche Mittel im Hinblick auf das Erreichen dieser Ziele rational, andere dagegen nicht. So schreibt Carl Hempel: Eine Verfahrensweise oder eine Regel, die dieses Verfahren verlangt, kann sicher nur relativ zu den Zwecken, welche durch dieses Verfahren erreicht werden sollen, rational oder irrational sein. Insoweit eine methodologische Theorie tatsächlich Regeln oder Normen vorschlägt, müssen diese Normen als instrumentelle Normen angesehen werden. Ihre Eignung muß mit Bezug auf die Zielsetzungen der betreffenden Forschung oder — ein ehrgeizigeres Unterfangen — mit Bezug auf die Zielsetzungen der reinen wissenschaftlichen Forschung überhaupt beurteilt werden.54 Diese Darstellung hat drei Merkmale, die wir festhalten sollten: Erstens ist sie völlig allgemein; es gibt keine Hinsicht, in der die wissenschaftliche Praxis von sich aus besonders oder größtenteils rational ist. Jede Tätigkeit ist insoweit rational, als sie bestimmte gewünschte Zwecke fördert. Wenn Hans sein Medizinstudium erfolgreich zu Ende bringen will, ist es rational, wenn er die entsprechenden Lehrveranstaltungen besucht, Scheine macht und mit weniger Schlaf auszukommen lernt; ein anderes Verhal54
„Scientific Rationality: Analytic vs. Pragmatic Perspectives", in: T. G. Geraets (Hg.): Rationality Today, University of Ottawa Press, 1979, S. 51.
6. Die Rationalität der Theorienwahl
199
ten wäre irrational. Das ist es, was man unter „Rationalität" versteht; man betimme die Zwecke oder Zielsetzungen, dann läßt sich entscheiden, welche Handlungsweisen oder Praktiken rational sind. Zweitens ergibt sich hieraus, daß, wenn nur Mittel rational sind, die Zwecke ihrerseits weder rational noch irrational sind. Drittens, wenn sich die Zwecke oder Zielsetzungen der wissenschaftlichen Tätigkeit im Laufe der Zeit geändert haben, muß dies auch für die Mittel gelten. Allem Anschein nach haben sich die Zwecke oder Zielsetzungen im Laufe der Zeit tatsächlich geändert. Manche Wissenschaftler (darunter Newton) wollten die Wirkung des Schöpfers auf die Welt nachweisen; andere wiederum wollten Herrschaft über die Natur gewinnen; wieder andere wollten ihre geistige Neugier befriedigen. Hempel glaubt, das Ziel der „reinen wissenschaftlichen Forschung überhaupt" bestehe darin, „eine Reihe immer umfassenderer und genauerer Systeme empirischer Erkenntnis" aufzubauen. 55 Doch dieses überaus moderne Ziel, das Hempels eigene klassische Stellung in der Wissenschaftsphilosophie widerspiegelt, ist nicht immer angestrebt worden. Galileos Theorie z. B. ist nicht annähernd so umfassend wie die des Aristoteles und vielleicht ist sie nicht einmal „genauer" in dem Sinne, daß sie im Hinblick auf gewöhnliche Arten von Beobachtungen präziser wäre. Galileo hat diese Theorie deshalb vertreten, weil sie zumindest in seinen Augen mehr Erklärungskraft hatte, und auch deshalb, weil er sie für wahr hielt. Nach der Relativität-der-Mittel-Analyse ergibt sich daraus, daß Galileo und Aristoteles verschiedene Ansichten gehabt haben müssen über die Rationalität der jeweiligen Verfahrensweisen, und das trifft tatsächlich zu. Aristoteles hielt es für rational, auf der Grundlage von Sinneserfahrungen vorzugehen; Galileo hielt es für rational, auf der Basis mathematischer Rechnungen zu verfahren. Dinge von dieser Art werden von den Historisten natürlich hervorgehoben, und daher ist die Relativität-der-Mittel-Analyse vielen von ihnen sympathisch. Kuhn ist sogar ebenso wie Hempel der Meinung, daß Fragen mit Bezug auf die Rationalität der 55
Ebd.
200
Kapitel IV: Theorien
wissenschaftlichen Praxis notwendig auf Fragen hinauslaufen, die die Wahl von Mitteln zum Erreichen von Zwecken betreffen. 5 6 Von diesem Standpunkt betrachtet, handelt ein Wissenschaftler genau dann rational, wenn er so handelt, wie es nach eigener Überzeugung seinen Zwecken dient. So aufgefaßt, ist Rationalität unweigerlich akteurspezifisch und kontextabhängig, mit einem Wort: „subjektiv". Erst dadurch, daß wir uns im Hinblick auf die betreffenden Zwecke an die Stelle des einzelnen Wissenschaftlers versetzen, können wir feststellen, welches Handeln rational wäre. Es gibt keinen unabhängigen M a ß s t a b , anhand dessen jede Handlungsweise beurteilt werden kann. Galileo ist nicht „rationaler" als Aristoteles und Aristoteles nicht „rationaler" als Galileo, und die Empfehlung, mit weniger Schlaf auszukommen, ist nicht allgemein verbindlich. Die andere Analyse der Rationalität der wissenschaftlichen Praxis verwirft den Gedanken der Relativität der Mittel und betont die Dauerhaftigkeit bestimmter Maßstäbe und Zielsetzungen. Im Mittelpunkt dieser Analyse steht im Regelfall die Behauptung, die wissenschaftliche Praxis sei insoweit rational, als sie von einer bestimmten wissenschaftlichen Methode geleitet werde. Dementsprechend schreibt Israel Scheffler: Die Wissenschaftsgemeinschaft wird nicht durch die einzelnen Theorien, sondern durch die Methode geprägt; und es ist die Stabilität der M e t h o d e beim Streben nach Wahrheit, von der die Gemeinschaft durch die theoretischen Veränderungen hindurch zusammengehalten wird. 5 7 N a c h dieser Darstellung ergibt sich, daß die wissenschaftliche Praxis, soweit sie sich von ihrer charakteristischen Methode lenken läßt, ipso facto überaus rational ist und daß in der 56
57
Vgl. J o u r n a l of Philosophy 80 (1983); dort sind die Beiträge von Kuhn, Hempel und Salmon zu einem S y m p o s i u m abgedruckt. Four Pragmatists, Humanities Press 1974, S. 75. Gerechtfertigt wird dieser Standpunkt von Harvey Siegel in „What is the Q u e s t i o n Concerning the Rationality of Science?", Philosophy of Science 52 (1985), S. 517 — 537. In den folgenden Ausführungen stützen wir uns auf seine versöhnliche Darstellung der beiden Arten der Analyse.
6. Die Rationalität der Theorienwahl
201
Wissenschaft weder Zwecke noch Mittel akteurspezifisch oder kontextabhängig sind. Der Begriff „Wissenschaft" ist durch die Methode der Wissenschaft definiert. Wer die Wissenschaft methodisch praktiziert, verfährt rational. Was ist das Rationale an der wissenschaftlichen Methode? Wer den „methodologischen" Ansatz wählt, behauptet im Grunde, die wissenschaftliche Methode beinhalte eine Festlegung auf Belege, egal, wie man diese „Festlegung" im einzelnen ausdeutet. Es gibt mehrere Bestätigungstheorien, die sich als Verfahren einer solchen Deutung auffassen lassen. Doch dann ist der Zusammenhang zwischen Methode und Rationalität unkompliziert. Denn eine Handlungsweise — oder genauer gesprochen: eine Überzeugung — ist rational, insofern sich Gründe für sie anführen lassen, d. h. insofern sie gerechtfertigt oder verteidigt werden kann. Und typischerweise rechtfertigen wir unser Tun und unsere Überzeugungen, indem wir sie mit Belegen stützen. Die Wissenschaft erheischt unsere Achtung, weil wissenschaftliche Behauptungen aus Gründen der Methode wohlfundiert sein müssen. Und diese Wohlfundiertheit ergibt sich letztlich aus der Anwendung der Logik und der Ausführung von Experimenten. Auf den ersten Blick scheinen die Relativität-der-Mittel-Analyse und die methodologische Analyse unvereinbar zu sein. Dies ist aber eigentlich nicht der Fall. Denn erstens stellen die beiden Analysen recht verschiedene Dinge in den Mittelpunkt. Bei der Relativität-der-Mittel-Analyse geht es in erster Linie um die wissenschaftliche Tätigkeit. Unsere Tätigkeiten rechtfertigen wir großenteils durch Hinweise auf die Zwecke oder Zielsetzungen, die dadurch erreicht werden sollen, obwohl wir auch versuchen, Belege dafür zu liefern, daß die gewählten Mittel tatsächlich zur Erreichung der jeweiligen Zwecke führen. Bei der „methodologischen" Analyse geht es in erster Linie um Überzeugungen. Eine Position vertreten heißt: imstande sein, sie zu verteidigen. Es gibt zwar auch einen Zusammenhang zwischen unseren Überzeugungen und unserem Verhalten, doch letzten Endes ist es so, daß wir unsere Überzeugungen in rationaler Weise verteidigen, indem wir uns auf Belege berufen. Zweitens betonen die beiden
202
Kapitel IV: T h e o r i e n
Analysen verschiedene Elemente des Rationalitätsbegriffs. Von einem Standpunkt handelt eine Person insofern rational, als ihr Verhalten widerspruchsfrei ist. Die Relativität-der-MittelAnalyse deutet darauf hin, daß dieses Handeln nicht in Widerspruch zu den Resultaten stehen darf, die man zu erreichen versucht. Von einem anderen Standpunkt ist die Überzeugung einer Person insofern rational, als sich Gründe dafür angeben lassen; und die besten derartigen Gründe werden durch empirische Belege geliefert. Welches auch immer die Unterschiede zwischen diesen Analysen sein mögen, beide Darstellungen unterstreichen, daß die paradigmatische wissenschaftliche Praxis — ob Überzeugung oder Tätigkeit — rational ist. Unter Voraussetzung der genannten Kennzeichnung des Rationalitätsbegriffs mag man jedoch den Eindruck gewinnen, daß diese Schlußfolgerung wenig nutzt, ja trivial ist. Denn es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die wissenschaftliche „Methode" genauer zu charakterisieren, als wir es bereits getan haben; und der Sinn, in dem die Wissenschaft bisher für rational erklärt worden ist, wirft wenig Licht auf die Frage der Theorienwahl. Mit anderen Worten, keine dieser beiden Analysen enthält anwendbare Kriterien für die Wahl zwischen verschiedenen Theorien. Freilich, Philosophen wie Wissenschaftler haben den Versuch gemacht, den Begriff der wissenschaftlichen Methode zu präzisieren, doch man muß einräumen, daß es ihnen bis jetzt nicht gelungen ist. Hier scheinen zwei Probleme vorzuliegen. Das eine besteht darin, daß die verschiedenen Wissenschaften verschiedene Verfahren benutzen, die so weit auseinandergehen, daß es unmöglich ist, sie alle unter einer nichttrivialen Bezeichnung zusammenzufassen. Als P. W. Bridgman über seine eigene Verfahrensweise und die seiner Kollegen nachdachte, meinte er einmal: „Die Wissenschaft ist das, was die Wissenschaftler tun, und es gibt ebenso viele wissenschaftliche Methoden wie einzelne Wissenschaftler." Es könnte zwar möglich sein, innerhalb bestimmter wissenschaftlicher Einzeldisziplinen und spezifischer Traditionen der von Kuhn so genannten „normalen Wissenschaft" gewisse Maßstäbe und Verfahrensweisen zu unterschei-
6. Die Rationalität der Theorienwahl
203
den, doch es scheint weder eine Einzelmethode noch eine Menge von Methoden zu geben, welche die Wissenschaft als solche kennzeichnen oder von aufeinanderfolgenden Paradigmen umfaßt werden. Dies ist vermutlich der Grund, warum wohlerwogene Formulierungen der wissenschaftlichen Methode tendenziell äußerst allgemein gehalten sind. So schreiben etwa Morris Cohen und Ernest Nagel in ihrer klassischen Darstellung: Wenn wir alle Wissenschaften nicht nur im Hinblick auf ihre Unterschiede, sondern auch mit Bezug darauf betrachten, wie jede von ihnen im Laufe der Zeit sich wandelt und wächst, stellen wir fest, daß das unveränderliche und allumfassende Merkmal der Wissenschaft ihre allgemeine Methode ist, die in nichts anderem besteht als dem beharrlichen Streben nach Wahrheit. 58 Der Begriff der Wahrheit ist, wie wir bereits bemerkt haben, in der Wissenschaft ein wenig problematisch, und es ist gewiß schwierig, ihn ohne Einschränkungen so weit zu fassen, daß er über alle stattgefundenen revolutionären Veränderungen hinweg angewendet werden kann. Außerdem unterscheidet das „beharrliche Streben nach Wahrheit" die Wissenschaft nicht als etwas Besonderes, und überdies würde dieses Kriterium allein keine Entscheidung zwischen gleich gut bestätigten Theorien ermöglichen. Das andere, hiermit zusammenhängende Problem besteht darin, daß es offenbar klare Gegenbeispiele gegen jede einigermaßen präzise Methodologie gibt, die bisher auf die Wissenschaft im allgemeinen angewendet worden ist. 59 Wie wir bereits angedeutet haben, kommt es manchmal vor, daß auf allgemeinere Theorien (wie die des Aristoteles) weniger allgemeine Theorien (wie die Galileos) folgen, obwohl es nach einer bekannten Methodologie immer umgekehrt sein muß. Ähnlich verhält es sich mit der speziellen Relativitätstheorie. Sie wurde akzeptiert, 58
59
An Introduction to Logic and Scientific Method, Harcourt, Brace and World, 1934, S. 192. Vgl. Larry Laudan: „Progress or Rationality? T h e Prospects for Normative Naturalism", American Philosophical Quarterly 24 (1987), S. 1 9 - 3 1 .
204
Kapitel IV: Theorien
ehe gezeigt wurde, daß die Newtonsche Mechanik ein Spezialoder Grenzfall dieser Theorie ist, obwohl eine andere bekannte Methodologie behauptet, eine Theorie könne in einem gegebenen Bereich nur dann durch eine andere ersetzt werden, wenn gezeigt worden ist, daß die erstere ein Spezial- oder Grenzfall der letzteren ist. Und ähnliches gilt für alle übrigen klassischen Regeln der Theorienwahl oder „Akzeptierbarkeit", Einfachheit, Eleganz, Bekanntheit usw. Soweit diese Regeln präzise formuliert werden können, ist keine von ihnen in allen Fällen ausschlaggebend gewesen, in denen eine Theorie einer anderen vorgezogen worden ist; das gilt sogar für die Forderung, die neue Theorie müsse besser bestätigt sein als die frühere. Die Frage, ob die wissenschaftliche Praxis rational sei, ist zweifellos mit Ja zu beantworten, doch die Weise, in der diese Antwort bisher dargelegt worden ist, gibt kaum mehr Aufschluß als die Äußerungen, die im Kapitel über Bestätigung hinsichtlich der Beziehung zwischen Hypothesen und ihren Belegen schon genannt wurden. Außerdem gibt diese Antwort nicht an, in welchem Sinne die Wissenschaft eine hervorragend rationale Tätigkeit sei oder in welchem Sinne wir sagen können, es sei ein Fortschritt gemacht worden. Daher müssen wir uns der Frage des Fortschritts oder der Rationalität des wissenschaftlichen Wandels zuwenden. Dabei stellt sich in der Tat heraus, daß die Antworten auf diese zweite Frage weiteres Licht auf die erste Frage bezüglich der wissenschaftlichen Praxis werfen. Wir werden hier zwei Auffassungen des Wesens des wissenschaftsgeschichtlichen Fortschritts betrachten. Beide Auffassungen setzen voraus, was offenbar unbestreitbar ist, nämlich daß so etwas wie ein „Fortschritt" tatsächlich stattgefunden hat. Die philosophische Aufgabe besteht darin, anzugeben, welcher Art dieser Fortschritt ist. Unsere Liste ist zwar nicht vollständig, doch zusammengenommen geben die beiden hier betrachteten Auffassungen Hinweise auf die wichtigsten Ansätze. Die erste dieser Auffassungen haben wir bereits einer recht detaillierten kritischen Betrachtung unterzogen. Dabei handelt es sich um die Schicht-Kuchen-Auffassung, derzufolge Theorien
6. Die Rationalität der Theorienwahl
205
zumindest im Rahmen einer bestimmten Disziplin oder innerhalb eines bestimmten Forschungsbereichs deduktiv verbunden sind, wobei im Laufe der Zeit allgemeinere Theorien auf weniger allgemeine folgen. Diese Auffassung erwähnen wir hier erneut, um darauf hinzuweisen, daß diese Sicht des wissenschaftlichen Wandels teleologisch ist, also ein Ziel voraussetzt, in dessen Richtung der wissenschaftliche Wandel tendiert. Z u Beginn der Erörterung des Rationalitätsbegriffs wurde Hempel mit der These zitiert, das Ziel der Wissenschaft sei die Entwicklung immer umfassenderer und immer genauerer Theorien. Eine Form dieser Wissenschaftsauffassung war im neunzehnten Jahrhundert dominierend, wobei insbesondere betont wurde, zu guter Letzt müßten alle natürlichen Phänomene unter einem großen Gesetz oder unter einer großen Theorie zusammengefaßt werden, obwohl es viele Auseinandersetzungen darüber gab, ob das „eine große Gesetz" das universelle Gravitationsgesetz, das „Gesetz" der natürlichen Selektion („die Geeignetsten überleben") oder der zweite Hauptsatz der Thermodynamik sei. Dieser intuitive Gedanke kommt auch in dem Hinweis zum Vorschein, eine großartige „einheitliche Feldtheorie" werde nicht nur theoretisch interessante Gebiete der Physik vereinigen, sondern alle Bereiche der menschlichen Erkenntnis. Das Bild, das einem hierbei vorschwebt, ist natürlich linear und kumulativ, und die Linie verläuft in Richtung auf eine abschließende, vollständige, gänzlich befriedigende Erklärung der Welt.60 Die zweite Auffassung des wissenschaftlichen Wandels ist nicht teleologisch, sondern evolutionär. Anstatt ein Ziel anzunehmen, auf das jegliche wissenschaftliche Tätigkeit hinstrebt, oder eine abschließende Theorie, der man im Laufe der Zeit immer näherkommt, sieht der evolutionäre Ansatz die Geschichte der Wissenschaft als eine Reihe von Adaptationen an Umweltzwänge. Das Vorbild dieser Auffassung ist die Theorie Darwins. Sofern es „Fortschritt" gegeben hat, dann nur in dem Sinne, in dem 60
Weitere Ausführungen zu diesem Bild finden sich in dem Kapitel über die Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung unter der Überschrift „Reduktionismus, Vereinigung und wissenschaftliche Erklärung".
206
Kapitel IV: Theorien
Organismen Fortschritte machen, indem sie sich besser adaptieren. Von diesem Standpunkt gelangt Kuhn in seinem Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen zu folgendem Schluß: Der hier als Auflösung revolutionärer Vorgänge geschilderte Prozeß ist die durch Konflikte innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft herbeigeführte Selektion des geeignetsten Verfahrens, in Zukunft Wissenschaft zu treiben. Der Reinerlös solcher durch Zeiten normaler Forschung getrennten revolutionären Selektionsvorgänge ist die prächtig adaptierte Menge von Instrumenten, die wir als moderne wissenschaftliche Erkenntnis bezeichnen. Aufeinanderfolgende Stadien in diesem Entwicklungsprozeß sind durch zunehmende Gliederung und Spezialisierung gekennzeichnet. Und der ganze Prozeß kann — ebenso, wie wir es uns heute hinsichtlich der biologischen Evolution vorstellen — ohne die Hilfe eines vorgegebenen Ziels zustande gekommen sein, also ohne eine bleibende, feststehende wissenschaftliche Wahrheit, die durch jede Phase der wissenschaftlichen Entwicklung immer besser exemplifiziert wird. 61 Die Parallele zwischen der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem Verlauf der biologischen Evolution kann zwar, wie Kuhn betont, übertrieben werden, doch zumindest anfangs spricht eine ganze Menge dafür. Sie legt einleuchtend eine Betrachtungsweise nahe, bei der die Entwicklung nicht auf Gedankengebäude hinstrebt, sondern von gewissen Mengen von Ideen ausgeht. Sie ermöglicht ein Verständnis der Sonderstellung der Wissenschaft in unserer eigenen Kultur wie in anderen Kulturen, indem sie zeigt, in welcher Weise diejenigen, welche an 61
Zweite Auflage, S. 172 f (vgl. dt. Übers., S. 184). Manchmal fügt Kuhn hinzu, daß der häufig gegen seinen Standpunkt erhobene Vorwurf des Relativismus dadurch ein wenig abgemildert wird, daß der wissenschaftliche Wandel nach seiner eigenen evolutionstheoretischen Darstellung in einer einzigen Richtung verläuft und irreversibel ist; dieser Wandel habe eine Struktur, die ein Vertreter des uneingeschränkten Relativismus nicht akzeptieren würde.
6. Die Rationalität der Theorienwahl
207
der wissenschaftlichen Tätigkeit teilnehmen, besser „adaptiert" sind. Eine solche Adaption wiederum läßt sich im Hinblick auf die durch die Wissenschaft ermöglichte technische Entwicklung begreifen, die ihrerseits die heutige ökonomische und politische Vorherrschaft der wissenschaftlichen Kulturen ermöglicht hat. Sie nötigt uns, die verschiedenen Selektionszwänge genauer zu betrachten, die auf die wissenschaftlichen Theorien (einschließlich der „Datenumfelder", in denen sie sich entwickeln) einwirken und mit Bezug auf die die eine Theorie besser „geeignet" ist als die andere. Schließlich wird die Entwicklung der Wissenschaft von der evolutionären Auffassung als planetarische Angelegenheit hingestellt. Deutet man das Schicht-Kuchen-Modell ganz extrem, muß sich die Wissenschaft in allen Galaxien etwa gleichlaufend entwickeln bzw. die Entwicklungslinien müssen, sofern sie verschieden sind, letzten Endes konvergieren. Interpretieren wir die wissenschaftlichen Entwicklungen dagegen als adaptive Reaktionen auf Umweltzwänge, können wir behaupten, es gebe keinen Grund, warum andere Lebewesen unter anderen Umweltbedingungen sich nicht hätten anders entwikkeln sollen. Aus der Erfahrung mit unserem eigenen Planeten wissen wir ja hinlänglich Bescheid darüber, daß eine Vielfalt von Arten dieselben ökologischen Nischen ausfüllen kann. Die Selektion der Natur vollzieht sich nicht zugunsten bestimmter Arten oder — um auf unseren Vergleich zurückzukommen — zugunsten bestimmter Theorien. Nach dieser Auffassung gibt es nicht eine Menge ererbter Merkmale, die ausschließlich allen wissenschaftlichen Theorien gemeinsam sind. In diesem Stadium ist die evolutionäre Analyse kaum mehr als eine Metapher. Dennoch lassen sich drei spezifischere Hinsichten verdeutlichen, in denen diese Analyse der klassischen teleologischen Auffassung gegenübergestellt werden kann. Erstens, die klassische Auffassung ist „externalistisch" in dem Sinne, daß sie den wissenschaftlichen Wandel nicht im Hinblick auf eine spezielle wissenschaftliche Theorie — im vorliegenden Fall die Evolutionstheorie — auffaßt. Danach gibt es theorieunabhängige Maßstäbe, mit deren Hilfe jede Theorie beurteilt werden kann. Die evolutionäre Auffassung ist dagegen „internalistisch". Die
208
Kapitel IV: Theorien
Wissenschaft verstehe ihre eigene Entwicklung durch Anwendung einer ihrer grundlegenden Theorien. Nach dieser letzteren Auffassung gibt es keine unabhängigen Maßstäbe der Theorienbewertung. Gewissermaßen gilt: Je später eine Theorie in der zeitlichen Entwicklung kommt, für desto fortgeschrittener hält man sie in der Evolution, und nur in diesem Sinne könne man sie für „besser" ansehen als ihre Vorläufer. Zweitens, aus diesem Gedanken folgt anscheinend, daß alles, was ist, nach der evolutionären Darstellung rational ist. Da es weder eine bestimmte Zwecksetzung gibt, im Hinblick auf die die Rationalität verschiedener Mittel beurteilt werden kann, noch eine bestimmte Methode, welche die wissenschaftliche Methode definiert, gibt es keine Norm der Rationalität. Daß sich eine wissenschaftliche Entwicklung über eine ziemlich lange Zeit erstreckt, ist ein ausreichender Hinweis darauf, daß sie insofern „rational" ist, als es einen Grund für ihr Überleben geben muß und als sie bestimmte adaptive Merkmale aufweist. Der dritte Vergleichspunkt hat damit zu tun, daß die teleologische Auffassung ein — wie immer beschaffenes — Ziel annimmt, auf das wissenschaftliche Entwicklungen, um auch nur den geringsten Erfolg zu haben, hinstreben müssen. Der evolutionäre Standpunkt ist retrospektiv orientiert. Sofern eine Spezies bestimmte Modifikationen herausgebildet hat, stellen wir die Frage, welches die Selektionszwänge gewesen sein mögen und wie die Modifikationen womöglich herbeigeführt worden sind. Dabei erzählen wir eine Geschichte, wir geben eine naturgeschichtliche Schilderung im Sinne Darwins, durch die einleuchtend dargestellt wird, wie diese Modifikationen im Laufe der Zeit zum Vorschein gekommen sind. Im Hinblick auf die Wissenschaftsgeschichte ergibt sich daraus einfach folgendes: Unter der Voraussetzung, daß unsere derzeitigen Theorien bestimmte allgemeine Merkmale aufweisen, stellen wir die Frage, wie es dazu gekommen sein mag. Von unserem jetzigen Standpunkt aus erzählen wir eine Geschichte, die die Vergangenheit verständlich macht. Vom heutigen Standpunkt aus scheint es der Fall zu sein, daß sich die Wissenschaft insgesamt nicht etwa im Hinblick auf verfügbare Subventionen und politische Zweckdienlichkeit entwickelt hat, sondern im Hinblick auf logisch zwingende Darstellungen, Er-
6. Die R a t i o n a l i t ä t der T h e o r i e n w a h l
209
klärungskraft und experimentelle Bestätigung. Das heißt, wir können erkennen, wie sich unsere Theorien in erster Linie als Reaktion auf die außermenschliche Umwelt entwickelt und es geschafft haben, daß wir mit Bezug auf diese Umwelt adaptiver geworden sind. Von diesem Standpunkt betrachtet, ist die Geschichte des wissenschaftlichen Wandels äußerst rational verlaufen. Der evolutionären Analyse zufolge ist allerdings gar kein anderer Standpunkt möglich.
Kapitel V Das Wesen der Mathematik 1.
Einleitung
Das vielleicht hervorstechendste Merkmal der klassischen Erklärungs- und Bestätigungstheorien ist, daß sie allesamt den empirischen Charakter der Wissenschaften hervorheben. Erklärungen berufen sich auf gesetzartige Verallgemeinerungen, die ihrerseits auf Erfahrung beruhen. Der empirische Charakter der Wissenschaften wird häufig dadurch begründet, daß man sie solchen angeblich nichtempirischen Fächern wie der Mathematik gegenüberstellt. So wird z. B. oft behauptet, die Mathematik sei deshalb keine Naturwissenschaft, weil sie „eigentlich keinen Gegenstand" habe. Vielmehr verhalte sie sich, wie es heißt, zur Wissenschaft wie die Form zum Inhalt: die Mathematik sei die Sprache der Wissenschaft. Ihre Nützlichkeit liege darin, daß sie a) Mittel für die präzise Formulierung empirischer Hypothesen bereitstelle und b) Methoden für die schwierige Aufgabe, ihre Konsequenzen herauszudestillieren. Diese These, die Mathematik sei eigentlich keine Naturwissenschaft, wird oft mit einer weiteren Behauptung verbunden: Im Gegensatz zu Aussagen der empirischen Wissenschaft — wie z. B. „Die Reaktionsleistung ist von vorherigen Verstärkungen abhängig" — seien rein mathematische Aussagen — wie z. B. „Die Menge der reellen Zahlen ist nicht abzählbar" — gewiß; man könne noch so viele Belege sammeln, sie würden nie ausreichen, um diese Aussagen zu widerlegen. Dem entspricht Einsteins bekannte Devise, wonach die Sätze der Mathematik, soweit sie sich auf die Wirklichkeit beziehen, nicht gewiß sind, und sich, soweit sie gewiß sind, nicht auf die Wirklichkeit beziehen. 1 1
Diese Stelle aus Einsteins Buch Geometrie und Erfahrung zitiert Herman Weyl in Philosophy of Mathematics and Natural Science,
212
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
Diese Auffassung des Wesens der Mathematik findet heute bei Wissenschaftlern, Mathematikern und Philosophen weithin Anklang. Warum? Unter anderem deshalb, weil sie den Wissenschaftlern die Möglichkeit gibt, ohne die Berufung auf ein möglicherweise gespenstisch wirkendes Reich nichtempirischer, abstrakter „Entitäten" (wie z. B. Zahlen, Punkte und Mengen) auszukommen. Hinzu kommt, daß die Mathematiker dadurch die Möglichkeit erhalten, ihr Tun (die sogenannte „reine" Mathematik) von den Anwendungen zu unterscheiden, zu denen ihre Arbeiten von anderen benutzt werden. Schließlich gestattet diese Auffassung empirisch gesinnten Philosophen, die augenscheinliche Gewißheit mathematischer Aussagen zu erklären und zugleich zu bestreiten, daß erfahrungsunabhängige Naturerkenntnis möglich ist. Ein Vertreter der Ansicht, die Mathematik habe keinen Gegenstand, ist der Mathematiker und Philosoph John Kemeny, der diese Ansicht besonders unverblümt ausspricht.2 Nach Kemeny ist „die Mathematik eine Untersuchung der Formen von Argumenten und der allgemeinste Zweig der Erkenntnis, der allerdings gar keinen Gegenstand hat" (S. 21). Außerdem „kann die Mathematik, diese unersetzliche Sprache der Wissenschaft, niemals etwas Neues beisteuern" (S. 35). Verträte man die gegenteilige Ansicht, würde man nach Kemenys Meinung die reine mit der angewandten Mathematik verwechseln. Diese letztere habe tatsächlich einen Gegenstand, der je nach Anwendungsgebiet wechsle, doch die erstere, um die es uns hier geht, habe keinen Gegenstand. Wie untermauert Kemeny diese Auffassung? Er stützt sie im Grunde auf zwei Hauptthesen: 1. Mathematische Wahrheiten sind zurückführbar auf (sind nichts anderes als) logische Wahrheiten. 2. Logische Wahrheiten sind analytisch, d. h. sie sind ausschließlich aufgrund der in ihnen enthaltenen Wörter wahr.
2
Princeton University Press, 1949, S. 134 (dt. Fassung München: Oldenbourg, 2. Aufl. 1948). J. C. Kemeny: A Philosopher Looks at Science, Van Nostrand, 1959.
2. Logische Wahrheiten
213
Aus diesen beiden Thesen folgt, daß wahre „mathematische Sätze analytisch sind" (S. 21). Doch sofern sie analytisch sind, entbehrt die Mathematik eines Gegenstands, was allerdings nicht so zu verstehen ist, als „handelten" ihre Aussagen „von" nichts. Der von Kemeny gewählte Beispielsatz (I) 365 - 1 = 364 „handelt von" Zahlen, sofern es dergleichen gibt; doch die den Mathematiker interessierende Wahrheit oder Falschheit (der Wahrheitswert) von (I) hängt nicht von dem ab, wovon der Satz handelt. Die Wahrheit oder Falschheit solcher Sätze „hängt von ihrer Form ab", worunter Kemeny versteht, daß sie „ausschließlich davon abhängt, wie die darin enthaltenen Wörter verwendet werden". Um es anders zu formulieren, der Wahrheitswert mathematischer Sätze wird nicht durch eine Betrachtung der Natur bestimmt, sondern durch eine Betrachtung sprachlicher Konventionen. Aus ähnlichen Gründen sind die mathematischen Sätze gewiß. „Wenn wir uns Möglichkeiten vorstellen, die gewöhnlichen mathematischen Sätze zu testen, stellen wir in jedem Fall fest, daß das Ergebnis der Beobachtung völlig belanglos ist; es kommt nie vor, daß wir den Satz ablehnen ... Mathematische Sätze sind analytisch a priori. Sie bestehen aus einer Analyse der Bedeutungen von Wörtern." (S. 18) Um eine deutlichere Vorstellung von Kemenys Auffassung zu gewinnen, wird es notwendig sein, einen genaueren Blick auf die Zurückführbarkeit der wahren mathematischen Sätze zu werfen. Außerdem werden wir die Theorie untersuchen müssen, wonach die logische Wahrheit sozusagen von der Sprache abhängig ist. Doch zunächst müssen wir besser verstehen, welche Wahrheiten eigentlich logische Wahrheiten sind.
2. Logische
Wahrheiten
Betrachten wir die Aussage „Alle Menschen sind Menschen". Diese Aussage ist nicht bloß wahr, sondern sie bleibt wahr, egal,
214
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
welches Substantiv oder welchen substantivischen Ausdruck wir (an beiden Stellen) statt „Mensch" einsetzen. Selbst wenn wir „Mensch" durch ein Substantiv ersetzen, das sich — wie etwa „Einhorn" — vermutlich auf gar nichts bezieht, bleibt die Aussage dennoch wahr. Aussagen, die diese Eigenschaft haben, heißen logische Wahrheiten. Diese Art, die Klasse der logischen Wahrheiten anzugeben, läßt sich noch ein wenig präziser fassen. Wenn wir die Wörter, die in einer Aussage wie „Alle Menschen sind Menschen" vorkommen, in zwei Gruppen einteilen, nämlich in die logischen und die deskriptiven Wörter (wobei „alle" und „sind" logische Wörter sind, während „Menschen" ein deskriptives Wort ist), ist jede Aussage, die bei allen beliebigen Ersetzungen der darin enthaltenen deskriptiven Wörter oder Ausdrücke durch andere deskriptive Wörter oder Ausdrücke wahr bleibt, eine logische Wahrheit. Eine andere Möglichkeit wäre die Behauptung, logische Wahrheiten seien wahre Aussagen, in denen nur logische Wörter wesentlich vorkommen. 3 Demnach ist „Alle Menschen sind Menschen" offensichtlich eine logische Wahrheit. Hier müssen wir zur näheren Erläuterung drei weitere Punkte nennen: Erstens ist es äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, einen präzisen Maßstab zu nennen, mit dessen Hilfe „logische" und „deskriptive" Ausdrücke auseinandergehalten werden könnten. Für unsere Zwecke ist das jedoch nicht sonderlich wichtig; wir können einfach diejenigen Ausdrücke, die von den Logikern als „logische" eingestuft werden, als die logischen Ausdrücke gelten lassen. Tatsächlich sind vier derartige Ausdrücke — „alle", „oder", „nicht" und „ist ein Element von" — ausreichend, um das ganze Korpus der Mathematik zu formulieren.4 3
Dieses unscharfe, zunächst von Bolzano eingeführte Kriterium der logischen Wahrheit ist von W. V. Quine wiederbelebt und entschieden subtiler formuliert worden; vgl. Mathematical Logic, Harvard University Press, 1951.
4
Eigentlich sind nur drei Wörter nötig, denn „oder" und „nicht" können durch „weder/noch" ersetzt werden. Die Gründe, aus denen unsere Ausführungen hier mit Hilfe der vier genannten Wörter vorge-
2. Logische Wahrheiten
215
Z w e i t e n s , unsere F o r m u l i e r u n g des Kriteriums deutet d a r a u f hin, d a ß alle logischen Wahrheiten s o w o h l deskriptive als auch logische Wörter enthalten. E s ist jedoch wichtig zu erkennen, d a ß es viele logische Wahrheiten gibt, die g a r keine deskriptiven Wörter enthalten. Die folgenden beiden A u s s a g e n sind Beispiele: „ E s gibt e t w a s , w a s mit sich selbst identisch i s t " , und „Alles ist mit sich selbst identisch". 5 Sofern diese A u s s a g e n überhaupt w a h r sind, müssen es logische Wahrheiten sein, denn in ihnen k o m m e n nur logische Wörter vor (und daher k o m m e n auch nur diese wesentlich vor). D a s Vorhandensein solcher Beispiele ist auch keine bloße M e r k w ü r d i g k e i t . A n einer späteren Stelle dieses Kapitels wird sich herausstellen, d a ß A u s s a g e n wie „ E s gibt etwas, w a s selbstidentisch i s t " von zentraler Bedeutung sind. Der dritte Punkt, der zur Erläuterung beitragen soll, besagt, d a ß wir durch unser Kriterium der logischen Wahrheit nicht auf die Ansicht festgelegt sind, logische Wahrheiten seien ausschließlich k r a f t der Bedeutungen der in ihnen enthaltenen Wörter w a h r und aus diesem G r u n d e „ g e w i ß " . J a unser Verfahren zur Hervorhebung der K l a s s e logischer Wahrheiten ist d u r c h a u s vereinbar mit Alternativen wie der, w o n a c h logische Wahrheiten bestimmte g a n z allgemeine M e r k m a l e der Welt kennzeichnen, und der, wonach sie grundlegende „ D e n k g e s e t z e " z u m A u s d r u c k bringen. M i t anderen Worten, a u s der T a t s a c h e , d a ß wir A u s s a g e n a n h a n d sprachlicher M e r k m a l e — nämlich d a n n , wenn nur logische Wörter wesentlich in ihnen v o r k o m m e n — als logische Wahrheiten
5
tragen werden, sind rein pädagogischer Art. Auf unser Beispiel bezogen, wird „sein" wie folgt in das logische Grundvokabular umformuliert: „Alles ist entweder ein Mensch oder nicht ein Mensch." Logische Wahrheiten, die nur „oder" und/oder „nicht" enthalten, werden manchmal Tautologien genannt. Der Ausdruck „ist-identisch-mit" ist ein logischer Ausdruck, der sich durch „alle", „oder", „nicht" und „ist-ein-Element-von" definieren läßt. Das ist deshalb bemerkenswert, weil es bedeutet, daß „istidentisch-mit" nur mit Hilfe des mengentheoretischen Ausdrucks „istein-Element-von" paraphrasiert werden kann. Es gibt Gründe, auf die wir bald zurückkommen werden, weshalb man die Mengenlehre nicht als einen Zweig der „Logik" behandeln sollte.
216
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
herausgreifen, folgt nicht, daß sich ihre Wahrheit oder Gewißheit ausschließlich aus sprachlichen Überlegungen ergibt. Für diese Schlußfolgerung ist eine eigene Begründung erforderlich, die wir betrachten werden, sobald wir auf die sprachbezogene Theorie der logischen Wahrheit eingehen. Auch daß alle Lehrsätze der Geometrie in rein sprachbezogener („syntaktischer") Weise als Menge von Aussagen, die sich aus einer gegebenen Liste von Axiomen ableiten lassen, charakterisiert werden können, impliziert nicht, daß die Wahrheit dieser Lehrsätze auf rein sprachliche Ursprünge zurückgeführt werden könne. So wird die Entstehung der Geometrie der Ebene z. B. häufig wie folgt dargestellt: Zunächst haben die Landmesser die Wahrheit einer gewaltigen Sammlung geometrischer Sätze anhand von Beobachtungen erhärtet. Dann hat Euklid diese Sammlung systematisiert, indem er eine bestimmte Menge dieser wahren Sätze (die Axiome) als grundlegend herausgriff und die übrigen Sätze der Sammlung (die Theoreme) aus dieser grundlegenden Menge ableitete. Der springende Punkt ist, daß die diesen wahren Aussagen zukommende Eigenschaft, Theoreme zu sein, zweifellos sprachabhängig ist, ihre Wahrheit dagegen nicht.
3. Die Zurückfiihrung
der
Mathematik
Die erste der beiden Thesen, auf denen die hier betrachtete Auffassung der Mathematik beruht, besagt, daß die mathematischen Wahrheiten auf logische Wahrheiten zurückführbar sind (also nichts anderes sind als logische Wahrheiten). Im typischen Fall wird diese These durch den Nachweis erhärtet, alle mathematischen Aussagen ließen sich mit Hilfe ausschließlich logischer Regeln aus einer Handvoll logischer Grundsätze ableiten. Dies zeigen heißt: zeigen, daß jede angeblich mathematische Aussage in solcher Weise paraphrasiert werden kann, daß die einzigen Wörter, die wesentlich in ihr vorkommen, logische Wörter sind. In diesem Sinne ließe sich die Mathematik auf die Logik zurückführen. Der Versuch, diesen Nachweis zu erbringen — ein Programm, das unter dem Namen „Logizismus" bekannt ist und mit den Namen Frege, Russell und Whitehead in Verbindung
3. Die Zuriickfiihrung der Mathematik
217
gebracht wird —, gehört zu den großen geistigen Abenteuern der Moderne. Besonders detailliert wird das logizistische Programm in den Principia Mathematica von Russell und Whitehead dargestellt. 6 Hier müssen wir uns mit einer bloßen Skizze dieses Programms begnügen. Der erste Schritt im Rahmen dieses Programms folgt dem Vorbild der Descartesschen Reduktion der Geometrie auf die Algebra mit Hilfe der analytischen Geometrie und besteht darin, die verschiedenen Zweige der Mathematik — wie z. B. Analysis, Algebra und Geometrie - auf die Arithmetik zurückzuführen. Kemeny formuliert das so: „Es läßt sich zeigen, daß die gesamte Mathematik auf den Eigenschaften der ganzen Zahlen beruht. Kennt man sich mit diesen aus, läßt sich die übrige Mathematik mit Hilfe rein logischer Argumente ableiten. In gewissem Sinne kann man das Wesen der Mathematik also mit dem der Theorie der ganzen Zahlen gleichsetzen." (S. 20) Der zweite Schritt besteht darin, daß man zeigt, wie die Arithmetik — „die Theorie der ganzen Zahlen" — auf die Logik zurückgeführt werden kann. In den Principia wird das in etwa wie folgt geleistet: Wir gehen davon aus, daß die Arithmetik auf der Basis von fünf Axiomen entwickelt werden kann, die der italienische Mathematiker Peano gegen Ende des vorigen Jahrhunderts aufgestellt hat. Aus diesen Axiomen lassen sich alle Eigenschaften der ganzen Zahlen durch streng logische Schlüsse ableiten. 7 Die fünf Axiome lauten: A.l: A.2: A.3: A.4:
6
7
0 ist eine Zahl. Der Nachfolger jeder Zahl ist eine Zahl. Keine zwei Zahlen haben denselben Nachfolger. 0 ist der Nachfolger keiner Zahl.
Eine ausgezeichnete Einführung in das logizistische Programm enthält Gottlob Freges Schrift Die Grundlagen der Arithmetik (Hg. Ch. Thiel, Hamburg: Meiner, 1986; Hg. J. Schulte, Stuttgart: Reclam, 1987). Eigentlich sind diese fünf Axiome nur für ein Bruchstück der Arithmetik ausreichend, doch der Punkt, um den es hier geht, bleibt davon unberührt.
218
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
A.5: Wenn Ρ ein auf 0 zutreffendes Prädikat ist und wenn Ρ immer, wenn es auf eine Zahl η zutrifft, auch auf den Nachfolger von η zutrifft, dann trifft Ρ auf jede Zahl zu. Das Kunststück besteht darin, die in diesen Axiomen vorkommenden arithmetischen Begriffe durch logische Begriffe zu definieren. Sobald dies geleistet ist, geht die Zuriickführung der Mathematik auf die Logik ohne Schwierigkeiten vonstatten. Sobald die Zahlen durch logische Begriffe definiert sind, lassen sich die arithmetischen Grundoperationen (Addition und Multiplikation) ebenso definieren. In dieser Weise stellt sich heraus, daß die mathematischen Aussagen innerhalb der Logik als Theoreme bewiesen werden können. Die drei Begriffe, um die es hier geht, sind „0", „ist eine Zahl" und „ist der Nachfolger von". Ja der zweite dieser Begriffe läßt sich durch den ersten und den dritten definieren. Die Aussage, η sei eine natürliche Zahl, läuft auf die Aussage hinaus, η sei 0 oder der Nachfolger von 0, oder der Nachfolger des Nachfolgers von 0 usw.8 Wir brauchen nur mit „0" und „ist der Nachfolger von" zurechtzukommen. „0" kann man definieren als die Menge, die ausschließlich die Menge, welche keine Elemente hat, enthält, also als diejenige Menge, welche die Nullmenge als einziges Element enthält. Und der Nachfolger einer beliebigen Zahl η ist die Menge aller Mengen, die, sobald man ihnen ein Element wegnimmt, zu η gehören. Da sich diese definierenden Ausdrücke ihrerseits durch die logischen Ausdrücke „alle", „oder", „nicht" und „ist ein Element von" analysieren lassen, ist die Zurückführung der Mathematik auf die Logik beinahe vollständig abgeschlossen. Um nochmals Kemeny zu zitieren: Russell und White8
Eine der größten Leistungen Freges war seine Analyse des „usw.". Nach dieser von Russell vereinfachten Analyse ist η genau dann eine natürliche Zahl, wenn η ein Element jeder Menge X ist, so daß 0 ein Element von X ist und so daß alle Nachfolger von 0 Elemente von X sind. Vgl. Quine: Set Theory and Its Logic, Harvard University Press, 2. Aufl. 1969; dort werden in Abschnitt 12 Freges Definition und die Zuriickführung der Arithmetik erörtert.
4. Die sprachbezogene Theorie der Wahrheit
219
head „zeigen, daß die von Peano verwendeten mathematischen Begriffe durch logische Wörter definiert und daß alle ihre Eigenschaften mit Hilfe der reinen Logik nachgewiesen werden können. Damit ist bewiesen, daß die Mathematik nichts weiter ist als hochentwickelte Logik" (S. 21). 9
4. Die sprachbezogene
Theorie der Wahrheit
Die zweite These, auf der Kemenys Argumentation beruht, lautet, logische Wahrheiten seien analytisch, d. h. wahr kraft der Bedeutungen der in ihnen enthaltenen Wörter. Durch unsere Kennzeichnung der Klasse logischer Wahrheiten sind wir, wie gesagt, nicht festgelegt auf eine spezielle Doktrin über die Herkunft ihrer Wahrheit, und sie gestattet uns auch nicht die Folgerung, logische Wahrheiten seien „gewiß". Die sprachbezogene Theorie ist eine solche spezielle Doktrin, und sie gestattet es, die beabsichtigten Schlüsse zu ziehen. Daneben gibt es andere Antworten — z. B., die logischen Wahrheiten seien gewiß, weil sie die allgemeinsten und verbreitetsten Züge der Realität beschreiben —, doch wie wir ebenfalls schon anzumerken hatten, empfiehlt sich eine derartige Antwort nicht dem empirisch gesinnten Philosophen. 10 Die Befürworter der sprachbezogenen Theorie sagen, wir müßten die logischen Wahrheiten als einen Grenzfall innerhalb der Klasse der wahren Aussagen betrachten. Viele wahre Aussagen 9
10
Kemeny fügt dann den folgenden entscheidenden Vorbehalt hinzu: „Dabei kommen zwei neue logische Prinzipien zum Vorschein, nämlich das Unendlichkeits- und das Auswahlaxiom, deren ein wenig umstrittene Natur uns hier nicht zu beschäftigen braucht. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, daß sich die ganze Mathematik ableiten läßt und zu einer bloßen Logik für Fortschrittene wird, wenn wir wie die Mehrzahl der Logiker verfahren und diese beiden Axiome als zulässige logische Prinzipien gelten lassen." Einige der folgenden Ausführungen stützen sich auf W. V. Quines Arbeit „Carnap and Logical Truth", abgedruckt in The Ways of Paradox, Random House, 1966.
220
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
haben sowohl eine fakten- als auch eine sprachbezogene Komponente. So beruht die Wahrheit der Aussage „Das Gras ist grün" sowohl darauf, was ich mit „ G r a s " , „grün" usw. meine, als auch darauf, ob das Gras tatsächlich grün ist oder nicht. Die Wahrheit der Aussage „Das Gras ist grün oder es ist nicht grün" scheint dagegen ausschließlich davon abzuhängen, wie die darin enthaltenen Wörter verwendet werden; d. h. die Wahrheit der betreffenden Aussage hängt einzig und allein von den Bedeutungen der logischen Wörter „ist", „oder" und „nicht" ab sowie von der Voraussetzung, daß „grün" an beiden Stellen seines Vorkommens die gleiche Bedeutung (egal, welche) hat. Ebenso schreibt sich die Wahrheit der logischen Wahrheiten im allgemeinen nicht von faktischen, sondern von sprachlichen Quellen her. Ihre Wahrheit wird ausschließlich dadurch bestimmt, wie die in ihnen enthaltenen Wörter verwendet werden. Wäre z. B. die Aussage „Das Gras ist entweder grün oder es ist nicht grün" falsch, so läge das nicht daran, daß die Welt damit falsch beschrieben würde, sondern daran, daß die darin enthaltenen Wörter andere Bedeutungen hätten als die, welche wir normalerweise mit ihnen verbinden. Diese Theorie der logischen Wahrheit wird manchmal nicht ganz exakt durch die Formulierung wiedergegeben, die logischen (und letztlich auch die mathematischen) Wahrheiten seien „kraft Definition wahr". Und da sie „kraft Definition w a h r " sind, können sie durch empirische Belege nicht widerlegt werden, sondern sie sind gewiß. Mitunter wird die sprachbezogene Theorie auch so formuliert, daß man sagt, die logischen Wahrheiten seien „durch Konvention w a h r " . Insofern alle Definitionen etwas Konventionelles sind, ist diese Spielart der Theorie natürlich eng mit der im vorigen Absatz erörterten verknüpft. Sie läuft auf folgendes hinaus: Nach unserem Kriterium sind logische Wahrheiten diejenigen wahren Aussagen, in denen nur logische Wörter wesentlich vorkommen. Doch, so heißt es weiter, die Bedeutung dieser logischen Wörter „oder", „nicht" usw. sei durch Konvention festgelegt. So beschließen die Logiker z. B., daß Aussagen, die durch „oder" verknüpft sind, genau dann wahr sein sollen, wenn wenigstens eines der Glieder wahr ist. Weil man die Bedeutungen
4. Die sprachbezogene Theorie der Wahrheit
221
der logischen Wörter in bestimmter Weise festgelegt hat, sind die Sätze, in denen ausschließlich sie wesentlich vorkommen, wahr. Und umgekehrt gilt: Hätten wir uns mit Bezug auf den Gebrauch dieser Wörter eine andere Menge von Konventionen zu eigen gemacht, wäre die Klasse der Wahrheiten, in denen nur sie wesentlich vorkommen, nicht dieselbe. Aber auch hier folgt anscheinend, daß die logischen Wahrheiten, sofern sie „kraft Konvention wahr" sind, gewiß sein müssen; ihre Wahrheit ist dann unabhängig davon, wie sich die Dinge in der Welt verhalten. Nimmt man sie zusammen mit der ersten These, wonach sich die mathematischen Wahrheiten auf logische Wahrheiten zurückführen lassen, kann man die sprachbezogene Theorie auch auf mathematische Wahrheiten übertragen. Daher schreibt Kemeny, ein (wahrer) mathematischer Satz sei „wahr aufgrund der Bedeutungen der Termini; er ist ein wahrer analytischer Satz" (S. 21 f.). Daß „365 — 1 = 364" z. B. wahr ist, wissen wir, wenn wir wissen, was „365", „ —", „1", „ = " und „364" bedeuten. Doch wissen, was diese mathematischen Ausdrücke bedeuten, läuft, sofern sich die Mathematik auf Logik zurückführen läßt, darauf hinaus, zu wissen, was die logischen Ausdrücke, durch die sich die mathematischen definieren lassen, bedeuten. Wir wissen aber tatsächlich, was diese Ausdrücke bedeuten; ihre Bedeutungen sind bestimmten Verwendungsweisen entsprechend bestimmt worden. Ebenso ist die Wahrheit von Sätzen der euklidischen Geometrie, wie z. B. des Satzes „Eine Gerade ist die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten", dadurch bestimmt, daß „Punkt", „Gerade", „Ebene" usw. ihre faktisch gegebenen Bedeutungen haben, und nicht etwa durch das (angebliche) Faktum, die Struktur der physikalischen Welt sei euklidisch. Damit würde man, um es nochmals zu sagen, die reine mit der angewandten Mathematik verwechseln. Aussagen der angewandten Mathematik sind nicht ausschließlich kraft der Bedeutung der sie bildenden Wörter wahr; d. h., sie sind nicht analytisch, aber sie sind auch nicht „gewiß". Abschließend ist anzumerken, daß die eben genannten Thesen nicht unverbunden nebeneinanderstehen. Sowohl die Kennzeich-
222
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
nung der logischen Wahrheit als auch die Beurteilung der betreffenden Zurückfiihrung sind großenteils davon abhängig, was wir unter „Logik" verstehen. Die Schlußfolgerungen werden je nach dem Spielraum, den wir uns im Hinblick auf diesen Ausdruck gönnen, variieren.
5. Logik
und
Mathematik
Wir dürfen nicht übersehen, daß die Zurückführung der Mathematik mit Hilfe der Definition von „0" und „Nachfolger" durch logische Termini den Begriff der Menge ins Spiel bringt. 11 Wenn sich die Mathematik auf Logik zurückführen läßt, dann muß „Logik" so aufgefaßt werden, daß auch die Mengenlehre darunter fällt. Es gibt jedoch Gründe, weshalb man einen Unterschied machen sollte zwischen der Logik im engeren Sinne und der Mengenlehre und letztlich auch zwischen Mathematik und Logik. Betrachteten wir etwa das von Russell und Whitehead in den Principia dargelegte Programm etwas genauer, so würden wir erkennen, daß es wesentlich von zwei Axiomen — dem Unendlichkeitsaxiom und dem Auswahlaxiom — abhängt, die überaus schwierig als Prinzipien zu deuten sind, deren Wahrheit oder Falschheit ausschließlich von den Bedeutungen der sie bildenden Wörter abhängt. Daß es, wie das Unendlichkeitsaxiom behauptet, unendlich viele Einzeldinge gibt, scheint weder kraft der Bedeutung der Wörter „es gibt" und „unendlich" noch allein kraft der Bedeutung der beteiligten logischen Wörter wahr zu 11
Der Begriff der Menge und die Grundsätze der Mengenlehre gehören heute in den meisten höheren Schulen zum Lehrstoff des Mathematikunterrichts. Eine Menge ist eine Zusammenfassung von Dingen; sie hat Elemente. Mit anderen Worten, die Mengenlehre beinhaltet den Ausdruck „ist-ein-Element-von". Dieser Ausdruck läßt sich nicht mit Hilfe der übrigen drei logischen Grundwörter „alle", „oder" und „nicht" analysieren. Daraus folgt, daß die Mengenlehre nicht auf eine Logik zurückgeführt werden kann, in der nur von Individuen die Rede ist.
5. Logik und Mathematik
223
sein. Wenn dieses Axiom überhaupt wahr ist, dann nur in dem Fall, in dem tatsächlich unendlich viele Einzeldinge existieren. Ebenso verlangt das Auswahlaxiom mehr als nur ein wenig Phantasie, um als Prinzip der Logik angesehen zu werden. 1 2 Es lohnt sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Beide dieser umstrittenen Axiome stellen Existenzbehauptungen auf. Überhaupt enthält die Mengenlehre generell eine ganze Reihe von Behauptungen über die Existenz bestimmter Arten von Dingen. Betrachten wir etwa die Aussage, es gebe eine Nullmenge, also eine Menge ohne Elemente. Kein Zweifel, diese Aussage (die übrigens keine deskriptiven Wörter enthält) handelt offenbar von etwas, nämlich von der Nullmenge. Wer also behauptet, die Mathematik handele eigentlich von nichts, da die Wahrheit der Aussagen, mit denen sie sich befaßt, auf die willkürlich zugeordneten Bedeutungen der sie bildenden Wörter zurückgehe, muß geltend machen, daß die Abhängigkeit der Wahrheit solcher Aussagen von ihrem Gegenstand bloßer Schein, höchstens eine Εβςοη de parier ist. Aber nehmen wir einmal an, es gebe gar keine Gegenstände oder doch wenigstens keine Mengen. Dann könnte die Aussage, es gebe eine Nullmenge, nicht wahr sein. O b es etwas gibt, ob etwas existiert, hängt sicherlich nicht bloß davon ab, wie wir Wörter verwenden, sondern von den Tatsachen. O b Neutrinos, Gewohnheiten oder Gott existieren, ist (ohne dem heiligen Anselm zu nahe treten zu wollen) nicht dadurch zu entscheiden, daß man sich nur auf die Bedeutungen der Wörter „Neutrino", „Gewohnheit", „Gott" und „existieren" beruft. Wie immer diese Aussagen bestätigt werden können, ihre Wahrheit oder Falschheit geht nicht allein auf den Gebrauch der
12
D a s Auswahlaxiom behauptet, es gebe ein Verfahren, durch das sich aus jeder in einer Liste elementfremder Mengen aufgeführten Menge ein Einzelelement derart herausgreifen läßt, daß die ausgewählten Elemente eine neue Menge bilden, die von allen anderen in der ursprünglichen Liste aufgeführten Mengen verschieden ist. Sofern dieses A x i o m wahr ist, ist zu seiner Wahrheit nötig, daß es ein solches Verfahren (d. h. eine solche Funktion) tatsächlich gibt; es reicht nicht aus, daß die in der Formulierung enthaltenen Wörter die Bedeutungen haben, die sie faktisch besitzen.
224
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
Wörter zurück. Die Behauptung, die Wahrheit von „Es gibt eine Nullmenge" z. B. hänge nur scheinbar von ihrem Gegenstand ab, ist eine These, die ihrerseits auf einer Täuschung beruht. Daraus ergibt sich gegen Kemenys Auffassung des Wesens der Mathematik unmittelbar der Einwand, viele mathematische Wahrheiten — und sogar viele angeblich „logische" Wahrheiten (man denke etwa an „Es gibt etwas, was mit sich selbst identisch ist") — seien gar nicht analytisch. Insofern die Wahrheit dieser Aussagen von den „Tatsachen" abhängt, hat die Mathematik tatsächlich einen Gegenstandsbereich, und das, wovon sie handelt — Mengen, Zahlen oder sonst etwas —, ist dann ein wichtiges Untersuchungsgebiet. Dieser Einwand richtet sich nicht so sehr gegen die These, daß sich die Mathematik auf die Logik zurückführen lasse, sondern gegen die hier als „sprachbezogene" bezeichnete Theorie der logischen Wahrheit. Dennoch sind diese Ausführungen auch für die These der Zurückführbarkeit von Belang. Nach Auffassung des im siebzehnten Jahrhundert geborenen Mathematikers und Philosophen Leibniz ist eine logische Wahrheit in allen möglichen „Welten" wahr. Der Begriff der möglichen Welt ist nicht leicht nachzuvollziehen. Die modernen Philosophen der Logik hegen tendenziell die Vorstellung, eine mögliche Welt sei eine Menge von Gegenständen mitsamt ihren Eigenschaften. Doch dann gehört zu den möglichen Welten auch die Welt, welche gar nichts enthält. In den letzten Jahren haben philosophisch orientierte Logiker logische Systeme aufgebaut, deren sämtliche Theoreme in allen möglichen Welten einschließlich der leeren gelten.13 Nun wirkt sich diese an Leibniz' Kennzeichnung der logischen Wahrheit als Wahrheit in allen möglichen Welten ausgerichtete Reformulierung der Logik so aus, daß Aussagen wie „Es gibt etwas, was mit sich selbst identisch ist" und überhaupt jede Aussage, die mit „Es gibt ..." anfängt, nicht mehr als Wahrheiten der Logik auftreten. Nur in einer „Welt" 13
Ein Beispiel für ein solches System wird dargestellt in Karel Lambert: „Free Logic and the Concept of Existence", in Notre Dame Journal of Formal Logic, Bd. VIII (April 1967), S. 135 - 1 4 1 .
5. Logik und M a t h e m a t i k
225
mit wenigstens einem Element wäre die betreffende Aussage wahr, in der leeren Welt dagegen wäre sie falsch. Da der QuineBolzano-Maßstab der logischen Wahrheit solche Aussagen nicht aus der Klasse der logischen Wahrheiten ausschließt, dürfte die Behauptung berechtigt sein, daß dieser Maßstab keine äquivalente Formulierung der Leibnizschen Kennzeichnung ist, solange mögliche Welten als Mengen von Gegenständen gedeutet werden. 1 4 Es gibt hier jedoch Gründe, die noch tiefer gehen. Reformuliert man die Logik in der oben angedeuteten Weise, enthält sie keine Existenzbehauptungen mehr. Da die Mengenlehre dagegen eine Überfülle an Existenzbehauptungen enthält, ist es nicht der Fall, daß sich die Mathematik auf die Logik zurückführen läßt, denn diese angebliche Zurückführung wird, wie es heißt, auf dem Wege über die Mengenlehre vollzogen. 1 5 Unabhängig davon, ob die Logik Existenzbehauptungen enthält oder nicht, gibt es ein weiteres Argument, das häufig angeführt wird, um zu zeigen, daß sich die mathematische Wahrheit nicht auf die logische Wahrheit zurückführen läßt. Dieses Argument basiert auf einer berühmten Entdeckung des mathematischen Logikers Kurt Gödel.16 Nach Gödels „Unvollständigkeitssatz" gibt es mathematische Wahrheiten, die im Rahmen der Mittel eines formalen Systems, das entsprechende Beweise liefern soll, 14
15
16
Eine aufschlußreiche Erörterung des Quine-Bolzano-Maßstahs in P. Hinman, ]. Kim u. S. Stich: „Logical Truth Revisited", J o u r n a l of Philosophy L X V (September 1968), S. 4 9 5 - 5 0 0 . Vgl. D. Berlinski u. D. Gallin: „ Q u i n e ' s Definition of Logical T r u t h " , N o u s III.2 (1969), S. 1 1 1 - 1 2 8 . An einer früheren Stelle dieses Kapitels wurde Frege als einer der Begründer der jetzt kritisierten Position des Logizismus genannt. O f f e n b a r hat Frege in seiner Spätzeit den Logizismus aus ähnlichen wie den hier und in den vorigen Absätzen angeführten Gründen abgelehnt. Vgl. seinen „ N e u e n Versuch einer Grundlegung der Arithmetik", in: H. Hermes, F. Kambartel u. F. Kaulbach (Hg.): Gottlob Frege. Nachgelassene Schriften, H a m b u r g : Meiner, 2. Aufl. 1983. Eine klare und nützliche Darstellung von Gödels Entdeckung geben Ernest Nagel und James R. Newman: Gödel's Proof, N e w York University Press, 1960 (dt. Übers, von H . Schleichen, Wien/München: Oldenbourg, 1964).
226
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
nicht beweisbar sind. Kurz, die mathematische Wahrheit fällt nicht mit den Beweisen in einem formalen System zusammen. (Es wäre freilich verfehlt zu glauben, dies bedeute, daß manche mathematischen Wahrheiten absolut unbeweisbar seien.) Der springende Punkt ist, daß sich die Logik formalisieren, d. h. auf solche Weise ordnen läßt, daß ihre Theoreme (ihre beweisbaren Formeln) durch bestimmte syntaktische Regeln aus bestimmten expliziten Axiomen abgeleitet werden können. Ferner läßt sich (wie ebenfalls zuerst von Gödel nachgewiesen wurde) zeigen, daß die Klasse der Theoreme mit der Klasse der logischen Wahrheiten zusammenfällt. Dementsprechend gilt: Wenn sich die mathematische Wahrheit (mit Hilfe von Ableitungen) auf die logische Wahrheit zurückführen ließe, würde die mathematische Wahrheit mit einem Beweis in einem formalen System, also mit der formalen Logik zusammenfallen. Doch ebendies wird durch Gödels „Unvollständigkeitssatz" verhindert. Folglich läßt sich die Mathematik nicht auf die Logik zurückführen, solange man — um es zu wiederholen — eine Auffassung der Logik vertritt, nach der sie die Mengenlehre nicht mit umfaßt. Dieser Einwand stellt uns vor ein Dilemma: Entweder umfaßt die Logik nicht die Mengenlehre oder die Klasse der logischen Wahrheiten (die laut Voraussetzung auch die Wahrheiten der Mengenlehre umfassen soll) fällt nicht mit der Beweisbarkeit in einem formalen System zusammen. Sofern man bereit ist, sich mit der Unbeweisbarkeit einer ganzen Klasse logischer Wahrheiten abzufinden, braucht man sich deshalb nicht verwirren zu lassen, wenn die Mengenlehre mit zur Logik gerechnet wird.
6. Wahrheit durch Konvention Gegen Kemenys Ansicht über den konventionellen Charakter der mathematischen Wahrheit lassen sich ebenfalls Einwände erheben. Insbesondere, könnte man geltend machen, scheint er das, was an logischen und mathematischen Aussagen wirklich konventionsbedingt ist, falsch einzuordnen. Betrachten wir erneut die Aussage, es gebe eine Nullmenge. In den meisten Fassungen der Mengenlehre ist diese Aussage, sofern sie selbst
6. Wahrheit durch Konvention
227
kein Axiom ist, aus dem folgenden Axiom ableitbar: Für jede Eigenschaft gibt es eine Menge, die ausschließlich aus allen Gegenständen besteht, die diese Eigenschaft haben. 17 Also hat die Aussage, daß es eine leere Menge gibt, einen Gegenstand, sofern das Axiom, aus dem sie abgeleitet wird, einen Gegenstand hat. Dies ist der Punkt, an dem die Fehleinschätzung beginnt. Es ist eben nicht die Wahrheit des Theorems, welche willkürlich oder konventionell ist, sondern die spezifische Wahrheit, die wir als Axiom festsetzen. Anders formuliert, die Wahrheit ist nicht konventionell, sondern die Axiomatizität. Dies wird durch den Ausdruck „Wahrheit durch Konvention" verborgen: Der Ausdruck kann entweder bedeuten, daß die Wahrheit einer Aussage konventionell ist, oder, daß es eine spezifische, als Axiom gewählte wahre Aussage ist, welche konventionell ist. Aber schon eine oberflächliche Untersuchung der Geschichte der Mathematik genügt, um zu zeigen, daß das Willkürliche im Verhalten der Mathematiker damit zusammenhängt, welche Wahrheit (bzw. welche Wahrheiten) aus einer umfassenderen Gruppe als ausreichende Basis aufgefaßt werden, um die übrigen Aussagen eines gegebenen Zweigs der Mathematik hervorzubringen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die euklidische Geometrie. Dieser Einwand gegen die These „Wahrheit durch Konvention" stammt übrigens von W. V. Quine.is Ein weiterer Einwand besagt, die sprachbezogene Theorie der logischen Wahrheit werde durch eine subtile Mehrdeutigkeit entkräftet. Diese Theorie behauptet, wie wir wissen, die Wahrheit einer logischen Wahrheit werde ausschließlich durch die Bedeutungen der sie bildenen Wörter bestimmt. Äquivalente 17
18
Hier ist anzumerken, daß dieses A x i o m unmittelbar zu Russells Paradox führt, sofern es nicht eingeschränkt wird. (Nehmen wir „ist nicht ein Element von sich selbst" als definierende Eigenschaft. Dann ist die Menge aller Mengen, die nicht Elemente ihrer selbst sind, genau dann ein Element ihrer selbst, wenn sie nicht ein Element ihrer selbst ist; und sie ist genau dann nicht ein Element ihrer selbst, wenn sie ein Element ihrer selbst ist.) Die erforderlichen Einschränkungen sind für die hier besprochene Problematik jedoch ohne Belang. W. V. Quitte: „ C a r n a p and Logical Truth", a. a. Ο.
228
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
Formulierungen der Theorie kann man erhalten, indem man „bestimmt" durch „ist abhängig von" oder „kraft" ersetzt (und den Rest der Aussage nötigenfalls so umformuliert, daß etwas grammatisch Sinnvolles herauskommt). Der springende Punkt ist nun, daß die sprachbezogene Theorie unumgänglich erscheint, wenn man die Methoden untersucht, deren sich die Logiker zur Bestimmung der logischen Wahrheit bedienen. Werfen wir z. B. erneut einen Blick auf die Aussagenlogik. Ein klassisches Verfahren zur Bestimmung der (aussagen)logischen Wahrheit ist die sogenannte tabellarische Methode. Diese läßt sich ganz grob gesprochen als ein Verfahren beschreiben, mit dessen Hilfe sich die Wahrheit zusammengesetzter Aussagen auf der Basis der Wahrheitswerte ihrer einfachen Bestandteile berechnen läßt. So wollen wir annehmen, die Aussage „Hans ist groß" sei die einzige einfache (oder atomare) Aussage in einer Sprache, deren Mittel zur Bildung zusammengesetzter Aussagen die Verknüpfungswörter „nicht" und „oder" sind. (Eine atomare Aussage ist dann eine, die weder „nicht" noch „oder" enthält.) Nun können wir „Konventionen" aufstellen zur Berechnung der Wahrheit und schließlich der logischen Wahrheit zusammengesetzter Aussagen wie „Hans ist nicht groß" oder „Hans ist groß oder Hans ist nicht groß" usw. Hier gibt es im wesentlichen dreierlei „Konventionen"19: 1. Jeder einfachen Aussage ist entweder der Wert „wahr" oder der Wert „falsch" zuzuordnen (unter der Voraussetzung, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist). 2. Die logischen Verknüpfungswörter „oder" und „nicht" sind auf solche Weise zu „definieren", daß man den Wahrheitswert einer diese Verknüpfungswörter enthaltenden Aussage angeben kann. (So können wir z. B. eine Aussage der Form „ ist nicht ..." als wahr „definieren", wenn „ ist ..." falsch ist, und umgekehrt; ebenso 19
Die hier aufgestellten Konventionen gestatten uns also die Bewertung der Wahrheit jeder einfachen oder zusammengesetzten Aussage, in der die logischen W ö r t e r wesentlich oder nicht wesentlich v o r k o m m e n dürfen.
6. Wahrheit durch Konvention
229
sei eine Aussage der Form „ oder . . . " genau dann wahr, wenn wenigstens eine der beiden Aussagen „ " oder „ . . . " wahr ist, andernfalls sei sie falsch.) 3. Man berechne die Wahrheitswerte der zusammengesetzten Aussagen auf der Grundlage von (1) und (2). (Wissen wir z. B., daß der Wahrheitswert von „Hans ist groß" der Wert „wahr" ist, dann muß „Hans ist nicht groß" falsch sein, sofern unsere Definition von „ ist nicht . . . " gilt. Nun wird sich anhand dieser Methode erweisen, daß bestimmte Aussagen unabhängig von den Wahrheitswerten ihrer atomaren Teilaussagen wahr sind. Zu diesen Aussagen gehört etwa „Hans ist groß oder er ist nicht groß", denn wenn „Hans ist groß" wahr ist, ist die zusammengesetzte Aussage wahr; und wenn „Hans ist groß" falsch ist, ist die zusammengesetzte Aussage dennoch wahr. Zu beachten ist, daß die betreffende Aussage sowohl nach dem Quine-Bolzano-Maßstab als auch nach dem Leibniz-Maßstab („mögliche Welten") logisch wahr ist. Dementsprechend setzt uns die tabellarische Methode instand, eine große Klasse logischer Wahrheiten herauszugreifen. Nun ist es, wie bereits gesagt, scheinbar völlig angemessen zu behaupten, die Wahrheit von Aussagen wie „Hans ist groß oder er ist nicht groß" werde ausschließlich durch Berufung auf die Bedeutung der sie bildenden (logischen) Teilwörter bestimmt — in diesem Fall durch Berufung auf die Bedeutung der Wörter „nicht" und „oder". Die sprachbezogene Theorie interpretiert diese völlig angemessene These als Aussage über die Quelle der logischen Wahrheit. Doch ebenso einleuchtend wäre die Behauptung, die tabellarische Methode „bestimme" die logischen Wahrheiten lediglich insofern, als sie sie herausgreift, und die Wahrheit der logischen Wahrheiten schreibe sich nicht von den sprachlichen „Konventionen" (Regeln und Definitionen) her, die zur Bewertung zusammengesetzter Aussagen verwendet werden. Das gleiche läßt sich im Hinblick auf die sprachbezogene Theorie der logischen Wahrheit auch dann sagen, wenn sie mit Hilfe der Ausdrücke „ist abhängig von" oder „kraft" formuliert wird. Mit anderen Worten, die mit den Methoden zur Ermittlung der logischen Wahrheit verknüpf-
230
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
ten „Konventionen" lassen sich als Mittel zur Identifizierung (zum Herausgreifen) logischer Wahrheiten auffassen, die ebenso verwendet werden wie Fingerabdrücke zur Identifizierung von Menschen, ohne dabei als Quellen der Wahrheit von Aussagen wie „Hans ist groß oder er ist nicht groß" gedeutet zu werden. Der Einwand besagt also, die sprachbezogene Theorie der logischen Wahrheit sei bestenfalls unbewiesen; und sie verliert erheblich an Uberzeugungskraft, wenn man die Mehrdeutigkeit des Worts „bestimmt" und seiner Synonyme bemerkt.
7. Mathematik
und
Wissenschaft
Die eben betrachtete Argumentation hat zwei Hauptprämissen — deren eine von der Angleichung der Mathematik an die Logik handelt und die andere von der sprachbezogenen Theorie der logischen Wahrheit. Keine der beiden ist, wie wir gesehen haben, unumstritten. Doch damit ist die Sache nicht erledigt, denn man könnte trotz der geringen Uberzeugungskraft der Argumentation den Eindruck haben, der intuitiv wahrgenommene Gegensatz zwischen naturwissenschaftlichen und mathematischen Aussagen, der durch die Argumentation gestützt werden sollte, sei durchaus real. Zwischen mathematischen Aussagen und naturwissenschaftlichen Aussagen bestehe ein klarer Unterschied, denn die ersteren seien gewiß und für ihre Wahrheit oder Falschheit seien empirische Belege belanglos. In diesem Abschnitt werden wir sehr kurz auf alternative Erklärungen eingehen, denen es nach Ansicht vieler Autoren gelingt, diesen Gegensatz zu untermauern. Die erste dieser Erklärungen berührt einen Punkt, den wir bereits genannt haben. Die Mathematik hat, wie wir angedeutet haben, in gewissem Sinne tatsächlich Gegenstände und ist in dieser Hinsicht nicht von der Naturwissenschaft zu unterscheiden, doch ihre Gegenstände — Mengen etwa — scheinen anderer Art zu sein. Um es in einer Weise zu formulieren, die nahezu eine Petitio principii beinhaltet: Der Gegenstandsbereich der Mathematik ist nichtempirisch, während der Gegenstandsbereich, für
7. Mathematik und Wissenschaft
231
den sich die N a t u r w i s s e n s c h a f t l e r interessieren, aus b e o b a c h t b a ren, räumlich und zeitlich lokalisierbaren G e g e n s t ä n d e n und Ereignissen besteht. D i e M a t h e m a t i k dagegen scheint von G e genständen zu handeln, die sich nicht b e o b a c h t e n lassen und die keinen raum-zeitlichen O r t h a b e n . Dies ist es, w a s m a n n o r m a l e r w e i s e z. B. unter der B e h a u p t u n g versteht, M e n g e n seien abstrakte Gegenstände. Freilich, w e n n es gelänge zu zeigen, d a ß die M a t h e m a t i k o h n e a b s t r a k t e G e g e n s t ä n d e a u s k o m m e n k ö n n t e — w a s im vorliegenden Fall hieße, d a ß sich die M e n g e n zugunsten raum-zeitlicher G e g e n s t ä n d e eliminieren ließen —, w ä r e der angebliche G e g e n satz zur N a t u r w i s s e n s c h a f t hinfällig. 2 0 E s gibt j e d o c h weit eher verfügbare G r ü n d e für die A b l e h n u n g des eben dargelegten Gegensatzes zwischen M a t h e m a t i k und empirischer W i s s e n schaft. Einerseits ist es zumindest ü b e r a u s umstritten, o b b e o b a c h t b a r e , raumzeitliche G e g e n s t ä n d e und Ereignisse schon den ganzen G e g e n s t a n d s b e r e i c h der N a t u r w i s s e n s c h a f t (im eigentlichen Sinne) e r s c h ö p f e n . Viele G e g e n s t ä n d e , die (wie z. B . subm i k r o s k o p i s c h e Teilchen) von der N a t u r w i s s e n s c h a f t untersucht werden, sind in k e i n e m u n m i t t e l b a r einleuchtenden Sinne „ b e o b a c h t b a r " , und in den besonders theoretischen Bereichen der N a t u r w i s s e n s c h a f t m u ß die „raum-zeitliche L o k a l i s i e r b a r k e i t " vielfach e i n g e s c h r ä n k t werden. Andererseits ist b e h a u p t e t w o r d e n 2 1 , die m a t h e m a t i s c h e n G e g e n s t ä n d e seien z w a r vielleicht
20
21
In Principia Mathematica unternahm Russell interessanterweise den Versuch, ohne Mengen auszukommen. Dabei stützte er sich auf eine sogenannte „klassenlose" Theorie, die anscheinend nur auf die Existenz von Einzeldingen festgelegt war. Es gelang ihm aber nicht, die abstrakten Gegenstände auszuscheiden. Diese Elimination gelingt nur um den Preis der Einführung von Attributen, die ihrerseits auch nur eine Spielart abstrakter Gegenstände bilden. Vgl. Charles Chihara: Ontology and the Vicious-Circle Principle, Cornell University Press, 1973. Hier ist besonders Kurt Gödel zu nennen. Vgl. seinen Artikel „Cantor's Continuum Problem" (1947), abgedruckt in Benaceraff u. Putnam (Hg.): Philosophy of Mathematics. Selected Readings, PrenticeHall, 1964.
232
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
nicht raum-zeitlich, wohl aber in g e w i s s e m Sinne „ b e o b a c h t b a r " . Außerdem scheint es schwierig, wenn nicht g a r unmöglich zu sein, diese Bedeutungen des Wortes „ b e o b a c h t b a r " einander gegenüberzustellen, ohne eine Petitio principii zu begehen. 2 2 D a n e b e n gibt es eine Möglichkeit, einen Unterschied zwischen N a t u r w i s s e n s c h a f t und M a t h e m a t i k zu m a c h e n , der sich nicht auf ihre G e g e n s t ä n d e bezieht, sondern auf die Methoden, die verwendet werden, u m Wahrheit und Falschheit von A u s s a g e n zu beweisen. Die Wahrheit oder Falschheit mathematischer Aussagen wird ausschließlich durch analytische Verfahren wie z. B. deduktive Ableitungen erwiesen; u m die Wahrheit oder Falschheit empirischer A u s s a g e n aufzuzeigen, bedarf es dagegen der Beobachtung. Eine rasche Überlegung sollte jedoch genügen, u m deutlich zu m a c h e n , d a ß eine Unterscheidung zwischen mathematischen und naturwissenschaftlichen A u s s a g e n auf der Basis der M e t h o d e n , die zu ihrer Bestätigung verwendet werden, nicht funktioniert. Viele physikalische A u s s a g e n „höherer S t u f e " z. B. lassen sich nicht durch direkte B e o b a c h t u n g testen, und d a s gleiche gilt für die unmittelbaren K o n s e q u e n z e n dieser A u s s a g e n . H ä u f i g werden solche A u s s a g e n durch d a s schlichte F a k t u m gerechtfertigt, d a ß sie a u s anderen, schon akzeptierten A u s s a g e n folgen. J a wir können s o g a r behaupten, es sei fraglich, o b m a n eine A u s s a g e „höherer S t u f e " auf der bloßen G r u n d l a g e empirischer Belege ü b e r h a u p t akzeptieren würde. D o c h wenn die Akzeptierbarkeit vieler naturwissenschaftlicher A u s s a g e n nichts weiter ist als eine K o n s e q u e n z des U m s t a n d s , d a ß zwischen ihnen und sonstigen, bereits akzeptierten A u s s a g e n einer T h e o r i e Implikationsbeziehungen bestehen, gibt es hier keinen G e g e n s a t z zur
22
Gödel formuliert das so: „Obwohl die Gegenstände der Mengenlehre weit von der Sinneserfahrung entfernt sind, kennen wir so etwas wie eine Wahrnehmung dieser Gegenstände, wie aus der Tatsache hervorgeht, daß sich die Axiome uns als wahr aufdrängen. Ich sehe keinen Grund, weshalb wir uns auf diese Art der Wahrnehmung — nämlich die mathematische Anschauung — weniger verlassen sollten als auf die Sinneswahrnehmung." A. a. O., S. 271.
7. Mathematik und Wissenschaft
233
Mathematik. Denn ob eine Aussage eine andere impliziert bzw. von dieser impliziert wird, wird durch rein analytische Verfahrensweisen bestimmt. Hier bleiben noch diejenigen, die den Vorbehalt anmelden, es gebe einen womöglich nur ganz indirekten Zusammenhang zwischen empirischen Tatsachen und wissenschaftlichen Aussagen, der im Falle mathematischer Aussagen nicht gegeben sei. Irgendwo in der Hierarchie der Aussagen, die eine naturwissenschaftliche Theorie bilden, gebe es einen Kontakt mit der Welt, so daß zumindest einige dieser Aussagen beobachtungsbezogene Konsequenzen haben. Dagegen gebe es kein System reiner (d. h. nicht angewandter) mathematischer Aussagen, auf das das gleiche zutreffe. Diese These unterscheidet sich insofern von den bereits untersuchten Argumenten, als die Aussagen der Mathematik und der Naturwissenschaft nicht einzeln, sondern insgesamt betrachtet werden. Es gibt, wie es scheint, wenigstens zwei Möglichkeiten, diese These zu deuten. Bei der einen Möglichkeit kommt der Begriff der „faktenbezogenen Bereicherung" ins Spiel. Betrachten wir die folgenden drei Aussagen: 1. Hans ist groß. 2. Heinz ist dick. 3. Die Ratte lief nach rechts. Diese Aussagen nennen wir atomar (oder einfach), weil sie nicht unter Verwendung logischer Operatoren wie „oder", „nicht" und „alle" aus anderen Aussagen zusammengesetzt sind, und wir können sie auch als Beobachtungsaussagen auffassen, insofern ihre Wahrheit oder Falschheit durch Beobachtung mehr oder weniger bestimmt werden kann. Hier kann man ein interessantes Faktum bezüglich der Logik festhalten: Es ist nicht möglich, ausschließlich mit Hilfe der logischen Wörter und der ihren Gebrauch steuernden Regeln diese Liste der drei atomaren Aussagen zu verlängern. Die Logik kann uns zwar sagen, wie sich diese Aussagen (in wahrheitserhaltender Weise) miteinander verknüpfen lassen, doch sie kann unserem Grundvorrat keine weiteren atomaren Aussagen hinzufügen. Ebendies ist mit der
234
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
Formulierung gemeint, die Logik sei bloß eine Menge von Regeln zur Umwandlung von Aussagen in andere Aussagen und führe aus diesem Grunde nicht zu faktenbezogener Bereicherung. Außerdem können wir selbst dann, wenn wir der Logik die Mathematik hinzufügen, keine weiteren einfachen Beobachtungsaussagen gewinnen, die zu den drei Anfangsaussagen hinzukämen. Die Hinzufügung der Mathematik erweitert nicht unsere Fähigkeit, neue faktenbezogene Informationen dieses Typs zu erhalten. Also führt auch die Mathematik zu keiner faktenbezogenen Bereicherung. Diese These ist nicht schwer zu beweisen. 23 Um es knapp anzudeuten, läßt sich zeigen, a) daß es zur Entwicklung der Mathematik ausreicht, wenn man den Prinzipien der Logik drei Axiome der Mengenlehre hinzufügt — nämlich das (entsprechend eingeschränkte) sogenannte Komprehensionsaxiom, das Extensionalitätsprinzip und das Auswahlaxiom - , und b) daß die Erweiterung der Logik um diese drei Axiome es uns nicht gestattet, mehr atomare Beobachtungsaussagen abzuleiten, als wir vor der Erweiterung abzuleiten vermochten. Da die mathematischen Aussagen nicht imstande sind, unsere faktenbezogenen Kenntnisse in diesem Sinne zu vermehren, darf man behaupten, sie stünden im Gegensatz zu wenigstens einigen der mehr oder weniger „beobachtungsbezogenen" Aussagen, die eine bestimmte wissenschaftliche Theorie bilden. Nicht aufgrund der fragwürdigen These, die Mathematik habe keine Gegenstände, sondern von dem eben dargestellten Standpunkt betrachtet, mag man der Behauptung, die Mathematik sei die Sprache der Naturwissenschaft, etwas abgewinnen. Sie liefert die Mittel, mit deren Hilfe Tatsachen zum Ausdruck gebracht und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen klargestellt werden können. Auch wenn die Mathematik allein nicht imstande ist, uns zu neuen einfachen Beobachtungsaussagen 23
Die Interessierten können diesen Beweis nachschlagen in Hilary Putnams Artikel „Mathematics and the Existence of Abstract Entities", Philosophical Studies VII (1956), S. 8 1 - 8 8 . Putnams neuere Überlegungen zu diesem Thema finden sich in seinem Buch Philosophy of Logic, Harper Torchbooks, 1971.
7. Mathematik und Wissenschaft
235
hinzuführen, kann sie doch die Ausdrucks- und Verknüpfungsmöglichkeiten dieser Aussagen enorm vermehren. Dennoch trägt diese Begründung offenbar wenig dazu bei, den Gegensatz zwischen mathematischen und naturwissenschaftlichen Aussagen im Hinblick auf ihre Gewißheit zu verstärken. Sie liefert uns keinen Grund zur Annahme, mathematische Aussagen seien mehr oder weniger gewiß als naturwissenschaftliche Aussagen. Die zweite Interpretationsmöglichkeit der These, die mathematischen Aussagen stünden nicht in derselben Beziehung zur Erfahrung wie die empirischen Aussagen der Naturwissenschaft, besagt, es sei nicht möglich, die ersteren durch Tatsachen zu widerlegen. Sofern sie überhaupt wahr sind, sind sie unabhängig von allem, was passieren mag, wahr. Aussagen der empirischen Naturwissenschaft dagegen unterliegen stets der Revision im Hinblick auf widerspenstige Erfahrungen im Laboratorium und sind daher weder gewiß noch notwendig. An diesem Punkt berühren sich unsere Ausführungen wieder mit Kemenys Auffassung des Wesens der Mathematik. Mathematische Aussagen sind nach der Ansicht Kemenys und derjenigen, die seine Meinung teilen, unabhängig von den Sachverhalten in der Welt wahr oder falsch; sie sind analytisch. Die empirischen Aussagen der Naturwissenschaft dagegen seien synthetisch. Wahr sind sie nicht aufgrund ihrer Form, sondern aufgrund ihres Inhalts, d. h. aufgrund der Art und Weise, in der sie — und sei es noch so indirekt — durch die Beobachtung bestätigt werden. Diese Auffassung gilt weithin als wahr, wobei allerdings sogleich angemerkt werden sollte, daß sie in der gegebenen Formulierung nicht sonderlich präzise ist. Über den Mangel an Klarheit des Beobachtungsbegriffs haben wir bereits einiges gesagt. Geht man zu einem Alternativvokabular über und meint, die mathematischen Aussagen seien im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen notwendig, so nutzt das auch nicht viel, denn wenn man versucht, diesen Ausdruck zu klären, wird man rasch zu Aussagen über die Begriffe „Bestätigung" und „Beobachtung" zurückgeführt (und es heißt dann etwa, eine Aussage sei genau
236
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
dann notwendig, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie durch Beobachtung zu widerlegen, usw.). Gegen die Auffassung, da die mathematischen Aussagen analytisch und die naturwissenschaftlichen Aussagen synthetisch seien, könne man sie scharf auseinanderhalten, gibt es überzeugende Einwände. Es mag zwar ketzerisch klingen, wenn man sagt, auch mathematische Aussagen „unterlägen stets der Revision im Hinblick auf widerspenstige Erfahrungen im Laboratorium", doch diese Behauptung läßt sich durchaus begründen. Dies kann man am ehesten einsehen, wenn man Beispiele betrachtet. Wir werden uns hier auf zwei konzentrieren. Nehmen wir die Aussage, der Impuls sei proportional zur Geschwindigkeit, als Musterbeispiel einer analytischen Aussage. 2 4 Hier wird „Impuls" einfach als „Masse mal Geschwindigkeit" definiert — dies sei halt ebendas, was „Impuls" bedeutet. Nun wollen wir annehmen, diese Aussage gehöre zu einer naturwissenschaftlichen Theorie (etwa zur klassischen Physik), mit der bestimmte experimentelle Ergebnisse (z. B. der Michelson-Morley-Versuch) offenbar nicht übereinstimmen. 25 Da diese Ergebnisse keiner
24
25
Dieses Beispiel stammt von W. V. Quine, und die folgenden Ausführungen stützen sich weitgehend auf seinen Artikel „Necessary Truth", abgedruckt in The Ways of Paradox. Vgl. ferner Hilary Putnam·. „The Analytic and the Synthetic", in Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Bd. III, hg. von H. Feigl u. G. Maxwell, University of Minnesota Press, 1962, S. 3 5 8 - 3 9 7 . Das Michelson-Morley-Experiment war so angelegt, daß dadurch festgestellt werden sollte, ob sich die Erde im Verhältnis zu einem Äther bewegte, in dem sie sich laut Hypothese befinden sollte. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte die Äther-Hypothese Eingang in die klassische Physik gefunden; und als es nicht gelang, mit Hilfe dieses Experiments eine relative Geschwindigkeit ausfindig zu machen, galt dies als Beleg gegen die klassische Theorie und zugunsten von Einsteins spezieller Relativitätstheorie, in der die Ätherhypothese fallengelassen worden war. Dieses Experiment gehört zu den berühmtesten Versuchen der Wissenschaftsgeschichte, und es ist immer noch umstritten, wie es richtig zu interpretieren ist. Der Originalaufsatz von Michelson und Morley trägt den Titel „On the Relative Motion
7. Mathematik und Wissenschaft
237
speziellen Aussage der Theorie widersprechen, gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die Theorie zu revidieren, um diese Ergebnisse in Rechnung zu stellen. Eine solche Revision, die dazu dient, die Theorie mit den Daten in Einklang zu bringen, läuft darauf hinaus, daß man die Aussage, der Impuls sei proportional zur Geschwindigkeit, verbessert. So könnten wir (im Zuge der Definition oder vielmehr Neudefinition) sagen, der Impuls sei proportional zur Geschwindigkeit geteilt durch eins minus das Verhältnis von Geschwindigkeit zur Lichtgeschwindigkeit. Damit erhält man die Möglichkeit, unter anderem den Michelson-Morley-Versuch in eine Physik einzuordnen, die in vielen sonstigen Hinsichten „klassisch" ist. Doch wenn eine so „analytische Aussage", wie es die hier in Frage stehende angeblich ist, in dieser Weise revidiert werden kann, sobald die Theorie, zu der sie gehört, mit widerspenstigen Erfahrungen konfrontiert wird, scheint es keinen Grund zu geben, sie anderen, angeblich „synthetischen" Aussagen gegenüberzustellen, die die Theorie ebenfalls enthält. Ein noch frappierenderes Beispiel findet sich in der modernen Physik: ein Fall, der insbesondere die Quantenmechanik betrifft. Unser Paradebeispiel einer analytischen Aussage ist diesmal der Satz des ausgeschlossenen Dritten, „p oder nicht p". Dies ist ein fundamentales logisches Prinzip sondergleichen. Es erfüllt jedes in Frage kommende Kriterium einer analytischen Aussage: logische Wahrheit, notwendiger Satz usw. Doch nach der Heisertbergschen „Unschärferelation" ist eine gleichzeitige Bestimmung des Impulses und der Position eines Teilchens unmöglich. So ist es (diesem Prinzip zufolge) z. B. nicht möglich zu behaupten, ein Gegenstand habe zu einem gegebenen Zeitpunkt diesen oder jenen Impuls und diese oder jene Position bzw. er habe sie nicht. Ein Ergebnis dieser Sachlage ist, daß bestimmte Philosophen26 empfehlen, man solle den Satz des ausgeschlossenen Dritten
26
of the Earth and the Luminiferous Ether", American Journal of Science 34 (1887), S. 3 3 3 - 3 4 5 . Dies gilt vor allem für Hans Reichenbachs Buch Philosophical Foundations of Quantum Mechanics, University of California Press, 1944 (dt. Philosophische Grundlagen der Quantenmechanik, Basel: Birk-
238
Kapitel V: Das Wesen der Mathematik
fallenlassen und sich statt dessen für eine Logik entscheiden, in der dieser Satz nicht als logische Wahrheit v o r k o m m t ,
was
wieder heißt, m a n müsse angesichts widerspenstiger Erfahrungen sogar seine Logik revidieren. 2 7 Diese beiden Beispiele legen nahe, daß es z w a r in jeder spezifischen naturwissenschaftlichen T h e o r i e zu jedem spezifischen Zeitpunkt bestimmte Aussagen gibt, die nicht zur Revision anstehen, ohne d a ß jedoch ein Grund bestünde, sie von der Revision auszuschließen. Wenn also in einem F a c h wie der M e c h a n i k bestimmte Prognosen fehlschlagen, begibt m a n sich im Regelfall nicht an eine Revision der Differentialrechnung, o b w o h l auch sie mit zu dieser T h e o r i e gehört. E s gibt jedoch Umstände, unter denen auch diese Revision denkbar w ä r e . Aussagen, die relativ zu bestimmten K o n t e x t e n angesichts der Fakten gegen eine Revision gefeit sind, könnte m a n „analytisch" oder „gewiß" nennen. Der springende Punkt ist, daß es v o m K o n t e x t abhängt, ob m a n solche Aussagen als „analytische" deutet. In der einen Interpretation einer T h e o r i e kann eine Aussage als Definition,
27
häuser, 1949). Reichenbach entwickelte eine dreiwertige Logik als die der Quantenmechanik entsprechende Logik. Daneben haben sich auch die Vertreter der „intuitionistischen" Richtung dafür ausgesprochen, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten in der Mathematik preiszugeben, doch ihre Gründe sind ganz anderer Art. Dies ist nicht die einzige, ja nicht einmal die am weitesten verbreitete Antwort. Eine Einführung in die Quantenlogik gibt Max Jammer: The Philosophy of Quantum Mechanics, Wiley, 1974, 8. Kapitel. Hilary Putnam legt seine radikale Interpretation der Quantenlogik in „Is Logic Empirical?" dar. Der 1934 veröffentlichte klassische Artikel zu diesem Thema „The Logic of Quantum Mechanics" stammt von ]. von Neumann und G. Birkhoff. Beide Aufsätze sind abgedruckt in C. A. Hooker (Hg.): The Logico-Algebraic Approach to Quantum Mechanics, Bd. 8, Reidel, 1975. In demselben Band abgedruckt ist Bas van Fraassens aufschlußreicher Aufsatz „The Labyrinth of Quantum Logic", in dem verschiedene Ansätze zur Behandlung dieses Themas miteinander verglichen werden. Ein Versuch, Reichenbachs Auffassung im. Rahmen der üblichen Logik beizubehalten, wird dargelegt in Karel Lambert: „Logical Truth and Microphysics", in Κ. Lambert (Hg.): The Logical Way of Doing Things, Yale University Press, 1969.
7. Mathematik und Wissenschaft
239
in der anderen Interpretation als Naturgesetz aufgefaßt werden usw. Das zweite Newtonsche Gesetz - F = ma (Kraft gleich Masse mal Beschleunigung) — ist in ebendiesen Hinsichten verschieden interpretiert worden. Die Wahrheit oder Falschheit der Aussage wird weder durch ihre Form noch durch ihren Inhalt bestimmt, sondern durch die Rolle, die sie in den Theorien spielt, in denen sie vorkommt. So ist es — relativ zu bestimmten Theorien und Kontexten (z. B. relativ zum Kontext der Überprüfung der Theorie) — möglich, einen Unterschied zu machen zwischen „analytischen" und „synthetischen" Aussagen. Die „analytischen" Aussagen werden diejenigen sein, die man konstant hält 28 — widerspenstige Erfahrungen werden ohne Einfluß sein auf ihre Wahrheit oder Falschheit. In den meisten Fällen werden die konstant gehaltenen Aussagen logischer und mathematischer Art sein. 29 Es gibt jedoch Fälle wie die vorhin angedeuteten, in denen sogar die logischen und die mathematischen Aussagen der Revision unterliegen können. Im typischen Fall stehen mathematische Aussagen nicht in der gleichen engen Beziehung zur Erfahrung wie empirische Aussagen, und insofern sind sie „notwendiger", sie unterliegen der Revision nicht im gleichen Maße — doch der Unterschied scheint bloß ein gradueller zu sein. Jede scharfe Trennung zwischen Mathematik und Wissenschaft ist vielleicht nichts weiter als eine terminologische Grenze.
28
19
Eine interessante und in diesem Sinne orientierte Kennzeichnung des Begriffs „analytisch" findet sich in Bas van Fraassens A u f s a t z „Meaning Relations A m o n g Predicates", Nous I (1967), S. 1 6 1 - 1 8 1 . Ein Grund, weshalb w i r sie so ungern revidieren, liegt darin, daß sie so überaus allgemein sind.
Kapitel VI Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung 1.
Einleitung
Es ist seit langem umstritten, ob es Grenzen des wissenschaftlich Erklärbaren gibt. Diese Problematik hat viele Facetten. Daher besteht die erste Aufgabe dieses Schlußkapitels darin, die genaue Fragestellung, die zu erörtern ist, zu umreißen. Dabei werden wir uns nicht mit der Frage befassen, ob die Wissenschaft überhaupt etwas erklären kann. Dementsprechend werden wir nicht auf die Argumentation des radikalen Skeptikers eingehen, der den Vorwurf erhebt, die Wissenschaft könne gar nichts erklären, denn die Zuverlässigkeit der Grundlagen, auf die man sich bei wissenschaftlichen Erklärungen stütze — Theorien, Gesetze, Hypothesen usw. — beruhe auf induktiven Schlüssen aus Daten, also auf einem Verfahren, das rational gar nicht gerechtfertigt sei. Ebensowenig geht es uns um die Frage, ob es überhaupt etwas gebe, was die Wissenschaft nicht erklären könne. Daher werden wir auch nicht die Argumentation des radikalen Optimisten untersuchen, der behauptet, für die wissenschaftliche Erklärung jedes Phänomens gebe es im Prinzip keine Grenzen, denn die Entwicklung der Wissenschaft sei — zumindest seit dem sechzehnten Jahrhundert — durch die Übertragung wissenschaftlicher Erklärungen auf immer neue und umfassendere Arten von Phänomenen gekennzeichnet. Statt dessen werden wir uns mit der Frage befassen, ob es innerhalb des anerkannten Bereichs der Wissenschaft bestimmte Arten von Phänomenen gibt, die wissenschaftlich nicht erklärt werden können. Der Wert jeder Argumentation, die eine derart hochwichtige Schlußfolgerung zu begründen beansprucht, wird freilich großenteils von der zugrundeliegenden Theorie der wis-
242
Kapitel VI: Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung
senschaftlichen Erklärung abhängen. Die nötige Vorarbeit ist im zweiten Kapitel geleistet worden und wird in der anschließenden Erörterung benutzt werden. Wir werden uns auf zwei bekannte (und häufig formulierte) Argumentationen bezüglich der Grenzen wissenschaftlicher Erklärung beschränken. Sie werden ausreichen, um den Leser auf die Auseinandersetzung einzustimmen und ihn hoffentlich zu weiteren Untersuchungen der tiefen und mitunter beunruhigenden Dinge anzuregen, die durch diese Auseinandersetzung zum Vorschein gebracht werden.
2. Determinismus
und wissenschaftliche
Erklärung
Die menschlichen Handlungen bilden eine recht umfassende und keineswegs geheimnisvolle Klasse beobachtbarer Phänomene. Schon oft ist behauptet worden, solche Handlungen ließen sich wissenschaftlich nicht erklären. Denn wenn man sie wissenschaftlich erklären könnte, wären sie determiniert. Doch wenn sie determiniert wären, könnten sie nicht freiwillig sein, während sehr viele menschliche Handlungen in Wirklichkeit freiwillig sind. Hier sei also ein Ort, an dem der wissenschaftlichen Erklärung Grenzen gezogen werden müssen. Diese Argumentation hat drei Prämissen. Die eine behauptet einen Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Erklärung und Determinismus, die zweite einen Zusammenhang — bzw. einen fehlenden Zusammenhang — zwischen Determinismus und freiwilligem Handeln und die letzte behauptet die (unterstellte) Tatsache, daß es freiwillige menschliche Handlungen gebe. Manchmal wird diese Argumentation ethisch gewendet, indem man diesen Prämissen eine weitere hinzufügt, die besagt, daß man keine Person für ihre Handlungen verantwortlich machen könnte, wenn die menschlichen Handlungen nicht freiwillig wären. Wir werden uns jedoch hauptsächlich mit der ursprünglichen und einfacheren Argumentation befassen. Wie es scheint, folgt die Konklusion tatsächlich aus diesen Prämissen. Daher stellt sich die Frage, ob das Argument triftig
2. Determinismus und wissenschaftliche Erklärung
243
ist, d. h. ob alle Prämissen wahr sind und ob die Schlußfolgerung daher durch die Argumentation bewiesen werde. Freiwillige Handlungen sind Handlungen, die der Kontrolle des Ausführenden unterstehen. Eine Reflexhandlungen von der Art einer Schreckreaktion ist keine freiwillige Handlung, doch die Betätigung des Anlassers im Auto ist eine. Die Überzeugung, es gebe freiwillige menschliche Handlungen, scheint — obwohl sie nicht völlig unumstritten ist — durchaus fundiert zu sein. Also ist die Triftigkeit der Argumentation für die These, daß manche menschlichen Handlungen wissenschaftlich nicht erklärt werden können, von den beiden übrigen Prämissen abhängig. Diese werden wir uns jetzt nacheinander vornehmen. Die erste Prämisse behauptet eine Beziehung zwischen wissenschaftlicher Erklärung und Determinismus, wobei allerdings nicht sonderlich klar wird, wie diese Beziehung beschaffen ist, denn der Determinismus läßt sich auf verschiedene Weise auffassen. Zwei dieser Auffassungen sind für unsere Erörterung besonders relevant. Die erste oder „schwache" Lesart des Determinismus besagt, ein Ereignis oder Sachverhalt sei determiniert, wenn diese von einem Gesetz „umfaßt" werden. Nach der zweiten oder „starken" Lesart des Determinismus ist ein Ereignis oder Sachverhalt determiniert, wenn sie von einem kausalen Gesetz umfaßt werden. Vom Standpunkt der pragmatischen Theorie der Erklärung ist die erste Prämisse bei beiden Interpretationen des Determinismus falsch, denn diese Theorie bestreitet die Notwendigkeit, bei wissenschaftlichen Erklärungen müßten die erklärten Sachverhalte von einem Gesetz umfaßt werden. Überdies ist diese Prämisse auch vom Standpunkt der klassischen Theorie der wissenschaftlichen Erklärung falsch, sofern der Determinismus im starken Sinne aufgefaßt wird, denn diese Theorie verlangt nicht, die umfassenden Gesetze müßten Kausalgesetze sein. Daher stellt sich die Frage, ob Theorien der wissenschaftlichen Erklärung, die vom Begriff der umfassenden Gesetze ausgehen, mit freiwilligen menschlichen Handlungen zurechtkommen können. Die Antwort auf diese Frage liegt in der Glaubwürdigkeit
244
Kapitel VI: Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung
der zweiten Prämisse, also der Prämisse, die eine Beziehung zwischen Determinismus und freiwilligem Handeln behauptet, denn es gibt zumindest einen Sinn des Ausdrucks „Determinismus", in dem die erste Prämisse sowohl nach der klassischen als auch nach der kausal-statistischen Theorie der wissenschaftlichen Erklärung, die ja beide den Begriff der umfassenden Gesetze in Anspruch nehmen, wahr ist. Zunächst wollen wir weiteren Aufschluß über den Begriff der freiwilligen Handlung gewinnen. Was bedeutet die Aussage, eine Handlung unterliege der eigenen Kontrolle? Sie bedeutet, daß der Ausführende etwas anderes hätte tun können, wenn er sich dafür entschieden hätte. So gedeutet, ist die Behauptung, determinierte Handlungen seien im Sinne der schwachen Interpretation von „Determinismus" nicht freiwillig, gar nicht einleuchtend. Bei der schwachen Form des Determinismus, die von der klassischen Theorie der wissenschaftlichen Erklärung befürwortet wird, können die umfassenden Gesetze von der nichtkausalen statistischen Art sein. Solche Gesetze können, wie im Kapitel über Erklärung ausgeführt wurde, in induktiven Erklärungen vorkommen, also in solchen, die das Nichtvorkommen des erklärten Sachverhalts nicht als etwas Unmögliches ausschließen. Nehmen wir als Musterbeispiel für einen solchen Sachverhalt die Entscheidung Präsident Trumans, Atombomben über Japan abzuwerfen. Zwischen der Aussage, es gebe eine induktive Erklärung seiner Entscheidung durch nichtkausale statistische Gesetze mit Bezug auf das, was die meisten Menschen in einer ähnlichen Situation täten, und der Behauptung, diese Entscheidung sei freiwillig getroffen worden, gibt es gar keinen Konflikt. Denn eine induktive Erklärung dieser Art ist durchaus vereinbar mit der Aussage, daß Truman, wenn er sich dementsprechend entschieden hätte, durchaus imstande gewesen wäre, anders zu handeln und den Abwurf der Bomben zu untersagen. Nun stellt sich die Frage, ob der Determinismus sogar im starken Sinne vereinbar ist mit der Freiwilligkeit einer Handlung (mithin die Frage, ob die zweite Prämisse der Argumentation bezüglich der wissenschaftlichen Erklärbarkeit menschlicher Handlungen falsch ist). Diese Frage ist entscheidend, denn die kausal-statisti-
2. Determinismus und wissenschaftliche Erklärung
245
sehe Theorie verlangt, das Explanans wissenschaftlicher Erklärungen müsse Kausalgesetze enthalten. Wenn die kausalen Gesetze — wie etwa das im zweiten Kapitel angeführte Gesetz über die Kriminalität in Elendsvierteln — statistischen Charakter haben, steht durchaus nicht fest, daß es wirklich einen Konflikt gibt zwischen Determiniertheit und Freiwilligkeit einer Handlung, denn es ist gar nicht klar, daß ihre Determiniertheit die Möglichkeit ausschließt, die Handlung hätte bei einer entsprechenden Entscheidung des Ausführenden anders ausfallen können. Klar ist auch nicht, daß es selbst dann einen Konflikt gibt, wenn das kausale Gesetz nicht statistisch ist und somit eine unveränderliche Beziehung zwischen dem Vorkommen der Ursache und dem Vorkommen der Wirkung behauptet. Hier gibt es zwei verschiedene Arten von Argumenten, die zeigen sollen, daß der starke Determinismus und die „Freiheit" des Handelns einander nicht widerstreiten. Die eine Argumentationsweise geht auf Aristoteles zurück, die andere auf Kant. Aristoteles macht geltend, um freiwillig zu sein, brauche eine Handlung zwar nicht ohne Ursache zu sein, doch die Ursache der Handlung liege dann „im Inneren". Muskelkrämpfe z. B. sind also nicht die richtigen Ursachen, doch geeignet sind Überzeugungen, Überlegungen, Gründe, Wünsche usw. Wenn also die angemessenen Ursachen angeführt werden, löst sich der angebliche Konflikt zwischen determinierten und freiwilligen Handlungen in Luft auf. 1 Für dieses Verfahren, den Determinismus und das freiwillige Handeln miteinander in Einklang zu bringen, spricht eine ganze Menge. Erstens verbindet es das freiwillige Handeln in intuitiv ganz einleuchtender Weise mit dem Wunsch des Ausführenden, etwas zu tun. Zweitens schließt es in ebenfalls intuitiv einleuchtender Weise alle Handlungen aus, die durch „äußere" Umstände wie Hypnose, Z w a n g usw. ausgelöst werden. Drittens macht es 1
Dies ist eine überaus vereinfachte Wiedergabe der Argumentation in der Nikomachischen Ethik.
Aristotelischen
246
Kapitel VI: Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung
die Tatsache verständlich, daß viele unserer Handlungen unter unserer Kontrolle stehen. Diese letzte Überlegung wollen wir ein wenig detaillierter untersuchen. Allzu häufig meinen diejenigen, die auf dem freiwilligen Charakter mancher menschlicher Handlungen bestehen, solche Handlungen seien völlig spontan, unveranlaßt, ja irrational oder zufällig. Der Begriff der freiwilligen Handlung scheint jedoch den Umstand einzuschließen, daß derartige Handlungen der Kontrolle des Betreffenden unterstehen. Und in der Tat wird man vom Gericht nicht für Handlungen verantwortlich gemacht, die unstrittig irrational oder zufallsbedingt sind. Die Wirkursachen der unserer Kontrolle unterstehenden Handlungen „liegen im Inneren". Im Hinblick auf die kausal-statistische Theorie der wissenschaftlichen Erklärung, um die es uns jetzt in erster Linie geht, besteht das Hauptproblem dieser scharfsinnigen Erklärung darin, daß die Frage, ob Erklärungen durch innere Ursachen als wissenschaftlich gelten, umstritten ist. Das liegt, wie im zweiten Kapitel im Abschnitt über intentionale Erklärungen ausgeführt wurde, daran, daß die Verallgemeinerungen, welche Wünsche, Überzeugungen, Erwägungen usw. mit Handlungen verbinden, möglicherweise nicht gesetzartig sind, während die kausal-statistische Theorie ein „Modell" der wissenschaftlichen Erklärung durch umfassende Gesetze darstellt. Um es also ganz bündig zu formulieren: O b das Aristotelische Bemühen, freiwilliges Handeln und Determinismus (im stärksten Sinne) miteinander in Einklang zu bringen, zum Erfolg führt, hängt großenteils davon ab, ob intentionale Erklärungen — also Erklärungen durch „innere Ursachen" — wirklich wissenschaftlich sind. Das andere klassische Argument zur Versöhnung des freiwilligen Handelns mit dem starken Determinismus stammt von Immanuel Kant.2 Für Kant (nach dessen Auffassung die Hauptaufgabe
2
Diese Interpretation des Kaniischen Standpunkts stützt sich weitgehend auf Donald Davidsons Abhandlung „Mental Events" (1970) (dt. Übers, von J. Schulte „Geistige Ereignisse", in Davidson: Handlung
2. Determinismus und wissenschaftliche Erklärung
247
der Philosophie übrigens in der Bestimmung der Grenzen wissenschaftlicher Erklärung besteht) liegt das wesentliche Problem darin, zwei grundlegende Prinzipien miteinander in Einklang zu bringen, nämlich das Prinzip, wonach das Sollen das Können impliziert — d. h. wonach aus der Anwendung moralischer Ausdrücke auf Handlungen folgt, daß die derart gekennzeichneten Handlungen freiwillig (also nach Kants Auffassung „ohne Ursache") sind - , und das Prinzip, jedes Ereignis habe eine Ursache. Da Handlungen nach Kants Überzeugung Ereignisse sind, wirken diese beiden Prinzipien auf den ersten Blick unvereinbar. Grob gesprochen, liegt Kants Lösung in der Behauptung, daß Handlungen auf zwei verschiedene Weisen beschrieben werden können: (1) als physikalische Ereignisse, für die das Vokabular der Wissenschaft geeignet ist, und (2) als geistige oder intentionale Ereignisse, denen das moralische Vokabular angemessen ist. Demnach gibt es nicht zwei verschiedene Arten von Ereignissen, sondern nur zwei verschiedene Arten von Beschreibungen. Der springende Punkt ist, daß die Freiwilligkeit einer gegebenen Handlung von der Art ihrer Beschreibung abhängt. Dies steht jedoch nicht in Konflikt mit der Überzeugung, diese Handlung sei auch determiniert, denn die Eigenschaft der Determiniertheit trifft auf die betreffende Handlung nur dann zu, wenn sie in physikalischer Terminologie beschrieben wird. Hier mag ein Beispiel zur Veranschaulichung nützlich sein: Ein und dasselbe Ereignis läßt sich als das Armheben einer Person beschreiben oder als das Hochgehen des Arms dieser Person. Die erste Beschreibung ist intentional, die zweite physikalisch. Bei der zweiten Beschreibung läßt sich eine kausal-statistische und Ereignis, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 2 9 1 - 3 1 7 ) . Die relevanten Texte von Kant sind die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Abschnitt über die dritte Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft.
248
Kapitel VI: Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung
Erklärung mit Bezug auf Muskelkontraktionen usw. geben, doch bei der ersten Beschreibung ist es auch sinnvoll zu sagen, die als Armheben einer Person beschriebene Handlung unterliege der Kontrolle des Betreffenden. Daher löst sich der Konflikt zwischen der Determiniertheit einer Handlung und ihrer Freiwilligkeit in Luft auf. Obwohl Kants Argumentation so zwingend wirkt, steht sie vor Problemen. Erstens geht sie davon aus, man könne Bedingungen für die Identifikation von Ereignissen angeben und genau artikulieren, was „angemessene Beschreibung" bedeutet. Doch in keinem dieser beiden Fälle liegen die Lösungen auf der Hand. Zweitens, da die Wissenschaft der Kantischen Darstellung zufolge Ereignisse nur unter „angemessenen Beschreibungen" erklärt, läßt sie etwas unberücksichtigt, und zwar ihre geistigen oder intentionalen Aspekte. Daher sind es nicht Ereignisse oder Handlungen, die der wissenschaftlichen Erklärung widerstehen, sondern bestimmte Aspekte dieser Handlungen, nämlich ihre geistigen oder intentionalen Eigenschaften. Es sind nicht bestimmte Handlungen, sondern diese Eigenschaften, die sich der wissenschaftlichen Erklärung durch die kausal-statistische Theorie widersetzen. Nun ist es an der Zeit, die Ergebnisse der Erörterung, ob eine wissenschaftliche Erklärung des freiwilligen Handelns möglich ist, zusammenzufassen. Erstens, der Gang der Argumentation wird in hohem Maße davon betroffen, für welche Auffassung der wissenschaftlichen Erklärung man sich entscheidet. Zweitens, selbst bei der anspruchsvollsten dieser drei Theorien — also bei der kausal-statistischen Theorie — steht nicht von vornherein fest, daß freiwillige menschliche Handlungen wissenschaftlich nicht erklärt werden können.
3. Reduktionismus,
Vereinigung Erklärung
und
wissenschaftliche
Manche Kritiker der wissenschaftlichen Erklärung sind der Meinung, bestimmte Phänomene seien im Hinblick auf andere
3. Reduktionismus und Vereinigung
249
„emergent" und könnten daher nicht wissenschaftlich durch diese erklärt werden. Denn wenn sie derart wissenschaftlich erklärt werden könnten, ließen sich die ersteren auf die letzteren „zurückführen". Dann ließe sich speziell die Biologie auf die Physik, das Geistige auf das Materielle, das Leben auf unbelebte Materie zurückführen. Es sei jedoch nicht möglich, emergente Phänomene auf andere zurückzuführen. Also sei es nicht möglich, sie wissenschaftlich zu erklären. Diese Argumentation hat zwar eine lange Geschichte, aber klar ist sie dennoch nicht. Was bedeutet z. B. eigentlich die Behauptung, ein Phänomen lasse sich nicht auf ein anderes Phänomen zurückführen? Die Vertreter des Emergenzgedankens fassen die Zurückführung normalerweise in einer Weise auf, die schon im Kapitel über Theorien genannt wurde: Anstatt unmittelbar über zurückgeführte Phänomene zu reden, wird vermittels Theorien über Phänomene indirekt über sie gesprochen. Eine Theorie Ti läßt sich auf eine andere Theorie T2 zurückführen, wenn Ti — möglicherweise mit Hilfe von Zusatzannahmen — aus T2 abgeleitet werden kann. So lassen sich z. B. die Phänomene der Wärme auf mechanische Phänomene zurückführen, weil die thermodynamische Theorie, die auf die ersteren zutrifft, mit Hilfe der Annahme, Temperatur sei mittlere kinetische Energie, aus der statistischen Theorie, welche auf die letzteren zutrifft, abgeleitet werden kann. Ein weiteres häufig zitiertes Beispiel ist die Zurückführung der Genetik auf die Biochemie mit Hilfe der Annahme von Watson und Crick, wonach das Gen nichts anderes ist als das DNS-Molekül. 3 Die Grundbeziehung zwischen emergenten und zurückgeführten Phänomenen wird demnach durch folgendes Axiom artikuliert: Wenn sich die Theorie über ein Phänomen Ρ aus der Theorie über Phänomene Q ableiten läßt, dann ist Ρ im Hinblick auf Q nicht emergent. So geht ζ. B. der Geruch von Ammoniakgas emergent aus der unter Strom (in angemessenen Quantitäten) erzeugten Verbindung von Stickstoff und Wasserstoff hervor, 3
In Watsons Buch T h e D o u b l e Helix, M e n t o r , 1968, findet sich eine ausgezeichnete Darstellung ihrer Entdeckung.
250
Kapitel VI: Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung
weil sich die Theorie über diesen Geruch nicht aus der chemischen Theorie über Stickstoff und Wasserstoff ableiten läßt. Wäre sie derart ableitbar — d. h. ließe sich der Geruch des Ammoniakgases doch derart zurückführen —, dann verhielte sich dieser Geruch nicht emergent mit Bezug auf die unter Strom erzeugte Verbindung von Stickstoff und Wasserstoff. 4 Die Struktur dieser Emergenzargumentation ist offenbar folgende: (1) Jedes Phänomen P, das durch die Phänomene Q wissenschaftlich erklärt werden kann, ist auf Q zurückführbar. (2) Jedes Phänomen P, das sich im Hinblick auf die Phänomene Q emergent verhält, ist nicht auf Q zurückführbar. (3) Also ist jedes Phänomen P, das sich im Hinblick auf Q emergent verhält, nicht wissenschaftlich durch Q erklärbar. Dieses Argument ist gültig. Doch selbst wenn man seine Triftigkeit einstweilen einräumt, verbürgt es eine weit schwächere Konklusion, als die Rhetorik der Vertreter des Emergenzgedankens verlangt. Es kann nämlich durchaus sein, daß ein emergentes Phänomen, welches durch bestimmte Phänomene nicht wissenschaftlich erklärt werden kann, im Hinblick auf andere Phänomene dennoch wissenschaftlich erklärbar sein kann, und zwar vielleicht deshalb, weil es sich auf diese anderen Phänomene zurückführen läßt. Dieser Gedanke wird durch ein Beispiel Ernest Nagels untermauert: Verhalten, welches aus Veränderungen in der Temperatur einer Uhr besteht oder aus Veränderungen der magnetischen Kräfte, die durch die relativen Bewegungen von Teilen der Uhr erzeugt werden können, wird von der Mechanik weder erklärt noch prognostiziert. Offenbar steht jedoch nichts außer einer willkürlichen Gewohnheit dem Schritt im Wege, diese „nichtmechanischen" Merkmale des Verhaltens der Uhr 4
D a s Beispiel s t a m m t von C . D. Broad, der in dieser Auseinandersetzung eine bedeutende R o l l e spielt. Vgl. sein Buch T h e M i n d and Its Place in N a t u r e , R o u t l e d g e and Kegan Paul, 1925.
3. Reduktionismus und Vereinigung
251
als im Verhältnis zur Mechanik „emergente Eigenschaften" zu bezeichnen. Andererseits lassen sich solche nichtmechanischen Merkmale sicher mit Theorien über Wärme und Magnetismus erklären, so daß die Uhr im Verhältnis zu einer umfassenderen Klasse theoretischer Voraussetzungen womöglich keine emergenten Eigenschaften mehr an den Tag legt. 5 Daraus ergibt sich, daß der Begriff der Emergenz ein relativer Begriff ist. Was sich im Hinblick auf eine Menge von Phänomenen emergent verhält, ist im Hinblick auf andere Mengen von Phänomenen womöglich nicht emergent und daher vielleicht doch durch diese letzteren wissenschaftlich erklärbar. Aber ist das Emergenzargument in seiner oben skizzierten Form wirklich triftig? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob die Prämisse (1) wahr ist. Die Wahrheit der zweiten Prämisse wird durch die Bedeutung des Wortes „zurückführbar" und durch das Axiom verbürgt, das die Ableitbarkeit mit der Emergenz in Verbindung bringt. Im folgenden werden wir so verfahren, daß wir uns auf ein Beispiel stützen, und zwar auf das Beispiel der Erklärung des Regens in Salzburg, das im vorletzten Abschnitt des Kapitels über den Erklärungsbegriff genannt wurde. Dieses Beispiel gilt, wie wir uns erinnern, nach allen drei in diesem Buch besprochenen Theorien als wissenschaftliche Erklärung. Das zu erklärende Phänomen ist der Regen in Salzburg, und die erklärenden Phänomene sind das dem Regen vorhergehende Vorhandensein eines Tiefdruckgebiets im Salzburgerland, die Temperatur der Luft in der Umgebung usw. Einleuchtend — und in diesem Beispiel unbestreitbar — erscheint die Annahme, daß die metereologische Theorie, die das Vorkommen des Regens umfaßt, dieselbe ist wie die Theorie über Tiefdruckgebiete, Lufttemperatur usw. Nun ist es trivialerweise wahr, daß sich eine Theorie aus sich selbst ableiten läßt, und daher ist es, unter Voraussetzung der vom Emergenztheoretiker angenommenen Bedeutung des Begriffs der Zurückführung, ebenfalls trivial s
Ernest Nagel: The Structure of Science, a. a. Ο., S. 373
252
Kapitel VI: Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung
wahr, daß sich das Vorkommen von Regen in Salzburg auf ein diesem Ereignis vorangehendes Erscheinen eines Tiefdruckgebiets, auf die Temperatur der umgebenden Luft usw. im Salzburgerland zurückführen läßt. Die Aussage, daß sich das Vorkommen von Regen auf das Vorhandensein eines vorangehenden Tiefdruckgebiets, auf die Temperatur der umgebenden Luft usw. zurückführen läßt, ist jedoch entschieden merkwürdig. Wenn man die typischen Beispiele für Zurückführungen in der Wissenschaft betrachtet — etwa die Reduktion der Thermodynamik auf die statistische Mechanik —, ist es offenbar eine notwendige Bedingung der Zurückführung, daß die abgeleitete Theorie (die Thermodynamik) nicht mit der Theorie identisch ist, aus der abgeleitet wird (in diesem Fall: die statistische Dynamik). Die Zurückführung wird durch die Entdeckung bewirkt, daß die Temperatur eines Gases gleichgesetzt werden kann mit der mittleren kinetischen Energie der Moleküle, aus denen das Gas besteht. Mit anderen Worten, die Theorien sind nicht nur im Hinblick auf ihre Formulierungen verschieden, sondern auch im Hinblick auf ihre Gegenstände. Das deutet darauf hin, daß die von den Emergenztheoretikern befürwortete Erklärung der Zurückführung dahingehend verbessert werden muß, daß die Bedingung aufgestellt wird, die Theorien Ti und T2 müßten verschieden sein. Doch nun impliziert die Beispielerklärung des Regens in Salzburg nicht die Zurückführbarkeit — falsifiziert also die Prämisse (1) —, denn die Theorien, die sowohl das erklärte Phänomen als auch die erklärenden Phänomene umfassen, sind gleich. Das durch das Emergenzargument ausgelöste Dilemma ist nun offensichtlich: Entweder ist die Prämisse (1) falsch, oder die emergenztheoretische Auffassung der Zurückführung ist allermindestens merkwürdig. Dieses Dilemma betont nur erneut die zu Beginn des zweiten Absatzes dieses Abschnitts gemachten Bemerkungen, aus denen hervorgeht, daß die Emergenzargumentation trotz ihres Alters unklar ist. Vielleicht läßt sich das Anliegen des Emergenztheoretikers aus einer etwas anderen Perspektive besser begreifen. Eines der Hauptthemen des klassischen Standpunkts ist, wie im Einlei-
3. Reduktionismus und Vereinigung
253
tungskapitel ausgeführt wurde, die „Einheit der Wissenchaft". Dieser Ausdruck hat mehrere Bedeutungen. Er kann bedeuten, daß der Wissenschaft eine methodologische Einheit zukommt. Viele Philosophen glauben, daß sich das Wort „Wissenschaft", sofern es überhaupt eine Bedeutung hat, auf eine bestimmte charakteristische Methode bezieht. Manchmal wird diese Methode in ganz allgemeinem Sinne aufgefaßt, wie z. B. in den Vorschriften „Respektiere die Tatsachen!" oder „Suche immer weiter nach der Wahrheit!". Manchmal wird die Methode wie in dem angeführten Beispiel im Sinne von Erklärungs- und Bestätigungsweisen aufgefaßt. Dann bedeutet die methodologische Einheit der Wissenschaft, daß ein Erklärungsmuster - z. B. die klassische Theorie — allen Wissenschaften gemeinsam ist. Der Ausdruck „die Einheit der Wissenschaft" kann auch bedeuten, daß die Wissenschaft eine strukturelle Einheit besitzt; aber auch der Ausdruck „strukturelle Einheit" hat seinerseits wenigsten drei verschiedene Bedeutungen. Eine dieser Bedeutungen ist in der „Schicht-Kuchen-Auffassung" der Theorien enthalten. Diese Schicht-Kuchen-Auffassung behauptet, wie wir uns erinnern, daß sich die Erkenntnis im Rahmen einer deduktiven Struktur anordnen läßt, wobei die allgemeinsten und umfassendsten Theorien an der Spitze und die besonders direkten empirischen Verallgemeinerungen ganz unten angesiedelt werden. Eine weitere Bedeutung des Ausdrucks „strukturelle Einheit" besagt, daß jeder Zweig der Wissenschaft mit einer bestimmten Art von Gegenstand verknüpft ist, wobei die Zweige im Hinblick auf die Komplexität dieser Gegenstände in einer hierarchischen Ordnung angeordnet sind. Am Boden der Hierarchie stehen die Gegenstände der Physik — zur Zeit also Mesonen und dergleichen —, aus denen sich die von den übrigen Zweigen der Wissenschaft untersuchten Gegegenstände letztlich zusammensetzen. 6 So untersucht die Psychologie das menschliche Verhal-
6
Vgl. Paul Oppenheim u. Hilary Putnam: „Unity of Science as a Working Hypothesis", Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Bd. II, hg. von Feigl, Scriven u. Maxwell, University of Minnesota Press, 1955.
254
Kapitel VI: Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung
ten. Doch Menschen bestehen aus Zellen. Da die Biologie das Verhalten der Zellen untersucht, ist sie eine elementarere Wissenschaft als die Psychologie, insofern die von ihr gelieferten Erklärungen tiefer liegen. Doch die Zellen sind ihrerseits aus submikroskopischen Teilchen zusammengesetzt. Daher ist die Physik, die das Verhalten und die einfachen Eigenschaften dieser Teilchen untersucht, letztlich erklärungskräftiger als die Biologie. Diese Bedeutung des Ausdrucks „strukturelle Einheit" schreibt sich von den Philosophen des antiken Griechenland her. Alle natürlichen P h ä n o m e n e durch Eigenschaften ihrer kleinsten Teile zu erklären, ist schon seit sehr langer Zeit ein Ziel der Wissenschaft. Eine dritte Bedeutung des Ausdrucks „strukturelle Einheit" hängt mit dem augenscheinlichen F a k t u m zusammen, d a ß im Laufe der Zeit immer mehr Phänomene physikalisch erklärbar geworden sind. Im ganzen neunzehnten J a h r h u n d e r t w a r man sogar von Seiten fähiger Biologen der Ansicht, organische Phänomene ließen sich niemals ganz durch physikalische Begriffe erklären; zumindest müsse m a n so etwas wie eine Entelechie oder einen Elan vital annehmen, um das Verhalten lebender Organismen zu begreifen. Doch das zwanzigste J a h r h u n d e r t hat diese Überzeugung mit dem Auftauchen der Molekularbiologie völlig untergraben. Auch f ü r die organischen P h ä n o m e n e gibt es physikalische Erklärungen. Da die erste Art struktureller Einheit in ganz enger Beziehung zur Z u r ü c k f ü h r u n g durch Ableitung steht, nennen wir sie die logische Einheit. Die zweite Art struktureller Einheit heißt im Gegensatz dazu Teil/Ganzes-Einheit. Die dritte Art der strukturellen Einheit nennen wir die progressive Einheit. Der springende Punkt dieser ausführlichen Erörterung der strukturellen Einheit besteht einfach darin, d a ß der Vertreter des Emergenzgedankens die strukturelle Einheit der Wissenschaft in allen ihren Formen bestreitet. Es gebe Phänomene, die sich nicht in das allgemeine Ableitungsmuster fügen lassen, deren Zerlegung in s u b a t o m a r e Teile nichts einbringt oder die auch den größten Anstrengungen der Wissenschaftler, sie rein physi-
3. Reduktionismus und Vereinigung
255
kaiisch zu erklären, widerstehen. Aus diesem Blickwinkel läßt sich die Behauptung des Emergenztheoretikers, wonach bestimmte Phänomene „nicht zurückführbar" sind, noch am ehesten verstehen. Hier gibt es offenbar zwei Fakten, die eine Sonderstellung einnehmen. Das eine Faktum besteht darin, daß die klassische Analyse der Zurückführung als einer deduktiven Beziehung zwischen Theorien und die damit verknüpfte Auffassung, wonach die Wissenschaft eine logische Einheit besitzt, Probleme im Hinblick auf das Wesen des Zusammenhangs zwischen zurückgeführter und zurückführender Theorie aufwerfen. Sofern sich die eine Theorie aus der anderen ableiten läßt, muß es ein Verfahren geben, Termini in diesen beiden Theorien zu verbinden, doch der Vertreter des Emergenzgedankens besteht darauf, daß es kein befriedigendes Verfahren zu diesem Zweck gibt (d. h. die Bedingung der Verbindbarkeit kann nicht erfüllt werden). Das zweite Faktum besteht darin, daß es in der Wissenschaftsgeschichte eine Art Vereinigung gegeben hat, zumindest eine Vereinigung der Art, die wir hier als „progressive" bezeichnet haben. Dies gehört zu dem, was man gewöhnlich meint, wenn von dem Fortschritt die Rede ist, den die Wissenschaft im Laufe der Zeit gemacht hat. Scharfe Grenzen zwischen dem Chemischen und dem Mechanischen, zwischen dem Organischen und dem Inorganischen, ja sogar zwischen dem Geistigen und dem Physischen sind allmählich fortgefallen. Der Emergenztheoretiker, der eine solche Vereinigung bestreitet, hat schlicht unrecht; daher muß seine Argumentation irgendwo einen Fehler enthalten. Nancy Maull hat eine vielversprechende neue Auffassung der Zurückführung vorgeschlagen, die diese beiden Fakten in Rechnung stellt und sowohl die Ansprüche des Emergenztheoretikers als auch das klassische Bild der Zurückführung untergräbt. 7 Zunächst liefert Maull eine Kritik der klassischen Analyse der Zurückführung. 8 Diese verwischt erstens eine wichtige Unter7
8
Nancy Maull: „Unifying Science Without Reduction", Studies in History and Philosophy of Science 8 (1977), S. 1 4 3 - 162. Weitere Probleme, vor denen die deduktive Erklärung der Theorienzurückführung steht, werden in den folgenden Arbeiten genannt:
256
Kapitel VI: Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung
Scheidung zwischen Theorien und Zweigen der Wissenschaft. Die klassische Analyse der Zuriickfiihrung suggeriert, die Zurückfiihrung eines Wissenschaftszweigs — z. B. der Biologie — auf einen anderen — z. B. die Physik — sei nichts anderes als die Zuriickfiihrung einer Theorie auf eine andere. Doch wissenschaftliche Theorien und Zweige der Wissenschaft lassen sich nicht gleichsetzen; ja einige Wissenschaftszweige, namentlich die Biologie, ermangeln sogar einer umfassenden Theorie. Zweitens ist die klassische Analyse keine sonderlich genaue und erst recht keine sonderlich nützliche Beschreibung dessen, was tatsächlich vor sich geht, wenn es zu einer theoretischen Vereinigung kommt. Drittens folgt aus der klassischen Analyse, daß der wissenschaftshistorische Fortschritt durch immer allgemeinere Theorien gekennzeichnet sei; das ideale Ziel sei eine Theorie, die alle natürlichen Phänomene deduktiv umschlossen hält. Doch, um erneut das Beispiel der Biologie zu nennen, der Trend ist nicht unweigerlich in Richtung auf allgemeinere Theorien gegangen. Jetzt haben wir zwar eine einheitliche Deutung biologischer, chemischer und physikalischer Phänomene vor uns, doch das hat nichts mit einer Zurückführung auf allgemeinere Theorien zu tun. Nach Maulls Auffassung richtet sich die Vereinheitlichung in der Wissenschaft auch nicht nach dem Teil/Ganzes-Modell. 9
9
Lawrence Sklar: „Types of Inter-Theoretic R e d u c t i o n " , British Journal for the Philosophy of Science 18 (1967), S. 1 0 9 - 1 2 4 ; K. F. Schaffner. „ A p p r o a c h e s to R e d u c t i o n " , Philosophy of Science 34 (1967), S. 137 - 147; einen „subjektivistischen" Standpunkt vertritt dabei Paul Feyerabend: „ E x p l a n a t i o n , Reduction, and Empiricism", in Feigl u. Maxwell (Hg.): Minnesota Studies in the Philosophy of Science, University of Minnesota Press (1962), Bd. III. Eine treffende Darstellung von Feyerabends A u f f a s s u n g der Reduktionsthematik und ihre Beziehung zu seiner früher erörterten Theorie des Theorienwandels findet sich im 2. Kapitel von I. Hackings Buch Why D o e s L a n g u a g e Matter to Philosophy?, C a m b r i d g e University Press, 1972. Vgl. Gordon G. Brittan jr.: „ E x p l a n a t i o n and R e d u c t i o n " , J o u r n a l of Philosophy L X V I I (1970), S. 446 - 457; in diesem Artikel werden einige der H a u p t m e r k m a l e des Teil/Ganzes-Modells sowie seine Beziehung zur klassischen Analyse erörtert.
3. Reduktionismus und Vereinigung
257
N a c h d e m T e i l / G a n z e s - M o d e l l sind Wissenschaftszweige im Hinblick auf die von ihnen untersuchten G e g e n s t ä n d e charakterisiert. D i e Vereinigung findet statt, s o b a l d G e g e n s t ä n d e auf der einen „ E b e n e " mit Hilfe von G e g e n s t ä n d e n auf der „nächstunteren" Ebene zerlegt worden sind. Putnam und Oppenheim unterscheiden in einem Artikel sechs derartige „ E b e n e n " : soziale G r u p p e n , mehrzellige L e b e w e s e n , Zellen, M o l e k ü l e , A t o m e , Elementarteilchen. N a c h Maull liegt die Schwierigkeit nun darin, d a ß sich Wissenschaftszweige nicht ohne weiteres einer einzigen „ E b e n e " zuordnen lassen. Die Genetik z. B. ist o f f e n b a r auf der molekularen Ebene anzusiedeln, denn G e n e sind M o l e k ü l e . D o c h die Genetik ist keine M o l e k u l a r w i s s e n s c h a f t , und diese T a t s a c h e spricht d a f ü r , die Genetik einer anderen Ebene zuzuordnen. D i e Schwierigkeit geht d a r a u f zurück, d a ß die augenscheinlich „identischen" Teile und G a n z e n — stets im Hinblick auf ein felddefinierendes Problem — auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Begriffen untersucht werden. Die in der Genetik untersuchten G e n e z. B. werden mit den in der Biochemie untersuchten D N S - S e q u e n z e n gleichgesetzt, die jeweils von einem charakteristischen S t a n d p u n k t beschrieben w e r d e n . 1 0 Maulls positive D a r s t e l l u n g der Vereinigung wurzelt in einer Untersuchung dieser Probleme, denn es sind Probleme, die — z u s a m m e n mit kennzeichnenden M e t h o d e n und Techniken — einen Wissenschaftszweig (oder ein „ F e l d " ) definieren. 1 1 Ferner finden die wichtigen Wechselwirkungen, die zur Vereinigung führen, in der Wissenschaft nicht zwischen T h e o r i e n , sondern zwischen Feldern statt. D . h., Probleme, die in einem Feld a u f t a u c h e n , werden h ä u f i g zu den Problemen eines anderen Felds, w a s z u m Teil d a r a n liegt, d a ß sie mit Hilfe der Begriffe und Techniken des Entstehungsfelds nicht gelöst werden können. So ließen sich
10 11
„Unifying Science Without Reduction", S. 155. Demnach ist die Genetik das Feld, dessen charakteristisches Problem die genetischen Unterschiede sind, die Psychologie das Feld, dessen charakteristisches Problem Verhaltensunterschiede sind, usw. Weitere Informationen zu dem allgemeinen Begriff „ F e l d " in Lindley Darden u. Nancy Maull: „Interfield Theories", Philosophy of Science 44 (1977), S. 43 - 64.
258
Kapitel VI: Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung
Probleme, die innerhalb der Genetik mit Bezug auf die physische Beschaffenheit des Gens entstanden, nur mit Hilfe der Begriffe und Techniken der Biochemie lösen, während die Entdeckung, daß das Gen nichts anderes ist als das DNS-Molekül, Probleme aufwarf, die ihrerseits durch die physikalische Chemie gelöst werden können. Es sind die Lösungen solcher Probleme und die Gemeinsamkeit des vorausgesetzten Vokabulars, die Zusammenhänge zwischen Theorien oder, umfassender formuliert, zwischen Feldern herstellen. Doch diese Lösungen werden von Theorien geliefert, die ihrerseits die Verknüpfung bewirken. Es ist also nicht so, als würde eine Theorie reduktionistisch auf eine andere zurückgeführt, sondern statt dessen werden zwei Theorien oder Felder vereinigt, indem eine dritte, zwischen den Ebenen angesiedelte Theorie oder ein zwischen den Ebenen liegendes Feld entwickelt wird. Letztlich ist die Vereinigung in der Wissenschaftsgeschichte progressiver Art. Im Laufe der Zeit entstehen neue Theorien, um bislang getrennte Bereiche zu vereinigen. Die Vereinigung von Genetik, Biochemie und physikalischer Chemie, um die sich die Auseinandersetzung bisher gedreht hat, kann hier als typisch angesehen werden. Der Vertreter des Emergenzgedankens hat zwar recht, wenn es um die Mängel einer reduktionistischen Vereinigungsanalyse geht, doch er verkennt die umfassenderen Einsichten, (a) daß die Vereinigung unabhängig von der reduktionistischen Zurückführung dennoch möglich ist und (b) daß eine solche Vereinigung charakteristisch ist für den wissenschaftlichen Fortschritt. Daraus folgt weder, daß die Vereinigung unumgänglich ist, noch daß alle natürlichen Phänomene zu guter Letzt in das wissenschaftliche Bild eingefügt werden, sondern es folgt nur, daß der Fehlschlag der reduktionistischen Darstellung solchen Entwicklungen nicht den Weg versperrt.
Register Abgrenzungsproblem (Wissenschaft/Nichtwissenschaft) 18-20
abstrakt 231 Achinstein, P. 89, 159 Adams, J. C. 99 f. Adäquatheitsbedingung 37 ad-hoc-Hypothese 139, 172 Airy, G. B. 123 akzidentelle/wesentliche Eigenschaft 67 analytisch 212, 219, 2 3 5 - 2 3 9 Anomalie 171 Antezedens-, Anfangsbedingung 35, 40 anthropologischer Ansatz 166, 170, 175 Äquivalenzbedingung l l l f . Arago, D. F. G. 119 Aristoteles 27, 33, 67, 101, 199f., 203, 245 Auswahlaxiom 219, 222 f., 234 Axiom 148, 157, 178, 2 1 6 - 2 1 8 , 227, 232, 234 Bayes, T. 1 1 4 - 1 2 9 , 133, 138, 140 Beard, C. 27 Bedeutungsinvarianz 162 Begriffsanalyse 1 4 - 1 6 , 21, 177, 213 Behaviourismus 76 - 82, 187 Beleg (evidence) 36, 62, 92, 100 f., 140, 144, 201, 211, 220, 230 Bell, J. S. 4 9 - 5 1 , 63 Belnap, N. 52
Berkeley, G. 14, 18, 67 f. Berlinski, D. 225 Beschreibung 247 f. Bestätigungsklausel 129 Beweis 84, 94, 102, 226, 243 Birkhoff, G. 238 Blackmore, J. 21 Boas (Hall), M. 158 Bohr, N. 180, 195 Bolzano, Β. 214, 225, 229 Boyle, R. 30, 47 f., 54, 158, 178, 192 f. Brentano, F. 74 Bridgman, P. W. 147, 202 Brittan jr., G. G. 184, 256 Broad, C. D. 250 Bromberger, S. 52 Brown, R. 163 Brückengesetz 155 Buchdahl, G. 3 Butterfield, H. 159 Campbell, N. R. 33, 148 f. Cannon, W. B. 29 Carnap, R. 17, 21, 147 Charles, A. C. 30, 47 f., 54, 178 f., 192 f. Chihara, C. 231 Chisholm, R. 78 Cohen, M. 203 Cook, J. 92 covering law model (Modell der umfassenden Gesetze) 34, 46, 243 Crick, F. H. C. 179, 249
260
Register
Dalton, J. 17 Darden, L. 257 Darwin, C. 60, 72, 132, 143, 205, 208 Datenbasis 28 — 33 Davidson, D. 73, 76, 175, 246 deduktives Argument 34 — 37, 42, 53 Definition 147, 158, 220, 236 - 238 Denkgesetz 215 Descartes, R. 13, 16, 18, 217 deskriptiv/logisch 214 f. determiniert, Determinismus 26, 242 - 248 Disposition 77, 147 Donne, J. 16 Dorn, G. 10 Dreiwertigkeit 238 Duhem, P. 96 f. Eddington, A. 98 Einfachheit 33, 204 eingebürgert (entrenched) 108 f. Einheit (Vereinigung) der Wissenschaft 2 5 3 - 2 5 8 Einstein, A. 16, 49 f., 62, 110, 145, 152, 155, 211 emergent 2 4 9 - 2 5 2 , 255, 258 empirische Signifikanz 144, 150, 156 Entdeckungskontext 154, 157,159,
166 EPR (Experiment von Einstein — Podolsky — Rosen) 4 9 - 5 1 , 62f. Espagnat, B. d' 50 Euklid 216 Evolution, -stheorie 26, 143 f., 151, 205 f., 208 f. Experiment 94, 130, 172, 174 f. Experimentum crucis 151 f., 165 Explanandum 35, 38
Explanans 35 explanatorische Relevanzbedingung 54 - 56 Extensionalitätsprinzip 234 Falsifikation 94, 97, 100 Feigl, H . 17 Feld 257 f. Feyerabend, P. 1 6 2 - 1 6 4 , 197, 256 Finetti, B. de 125 Flansteed, J. 136, 161 Formalisierung 226 Fortschritt 197, 258 Foucault, L. 97 Fraassen, B. van 10, 32, 52, 54, 68, 8 7 - 8 9 , 176, 184, 238 f. Frege, G. 2 1 6 - 2 1 8 freiwillig 242 - 248 Friedman, M. 83, 85 Galilei, G. 27, 153, 165, 190 f., 199 f., 203 Gallin, D. 225 Garber, D. 139 Gegensatzklasse 54 — 56, 58 f. Gehalt (content) 119, 127, 177 Gesetz 34, 36 f., 42, 54 f., 57, 65 f., 73, 85 gesetzartig 6 4 - 6 8 , 75f., 211, 246 Giere, R. 95, 119, 176, 179 Glymour, C. 10, 124, 128 - 1 3 0 , 1 3 4 - 1 3 6 , 140 f. Gödel, K. 225 f., 231 f. Goodman, N. 1 0 3 - 1 1 1 , 137f. Grandy, R. 136 Grosser, M . 99 Grossman, S. P. 29 G r u n b a u m , A. 61 Hacking, I. 256 Halley, E. 95 f. Hamblin, C. L. 52 Hamilton, A. 26
Register Handlung 73, 75, 2 4 2 - 2 4 8 Hannson, B. 52 Hanson, Ν. R. 165 Hart, H. L. A. 72 Heisenberg, W. 195 Hempel, C. G. 17, 3 3 - 3 7 , 83, 89, 101, 1 1 0 - 1 1 4 , 1 2 1 , 129,136 f., 140, 147, 185, 1 9 8 - 2 0 0 , 205 Hesse, M. 159 Hinman, P. 225 holistisch 140 Holtan, G. 3, 165 Honore, Α. M . 72 Horwich, P. 114, 121, 122, 128 Hume, D. 14, 40, 45, 92 hypothetisch-deduktiv 154 Idealisierung 65, 115, 125, 178, 189-191 Induktion 92, 101 induktives Argument 34, 36 - 38, 41 f. inkommensurabel 169 — 172, 176 Instrumentalismus 1 8 5 - 1 9 7 Intentionalität 74, 78 - 82, 248 Internalismus 184, 207 Intuitionismus 238 irrealer Konditionalsatz 66, 68
261
Kitcher, P. 150 Klein, M . J. 191 Koexistenz-/Sukzessionsgesetz 61 f. Komprehensionsaxiom 234 Konsequenz 120, 124, 150, 156, 187, 211, 232 Konsistenzbedingung 162 —165 Konvention 213, 220 f., 226 - 230 Kopenhagener Deutung (d. Quantentheorie) 195 f. Kopernikus, N . 33, 127, 153, 161 Korrespondenzregel 148, 150 f., 154 f., 186 Koyre, A. 190 Kuhn, T. S. 157, 159, 165 - 175, 199 f., 202, 206 kumulativ 162, 173, 205 Kyburg, H. 10 Lacks, D. 132 Lakatos, I. 161 Lambert, K. 3, 195, 224, 238 Laplace, P. S. de 84 Laudan, L. 203 Lavoisier, A. L. de 98, 174 Leibniz, G. W. 224 f., 229 Leverrier, U. J. J. 99 f. Lloyd, E. 181
Jammer, M. 238 Jay, J. 26 Jeffrey, R. 42, 60, 114 Joseph, H. W. B. 33, 37
Logik, Aussagenlogik 228, 230, 233 f. logischer Empirismus, Positivismus 17, 21 - 23 Logizismus 216 f., 225
Kalish, D. 77 f. Kant, I. 16, 245 - 248 kausal, Kausalität 27, 40, 45 - 47, 51, 58, 62 f., 71, 78 f., 102, 243-247 Kemeny, J. C. 212 f., 2 1 7 - 2 1 9 , 221, 224, 226, 235 Kepler, J. 37, 127, 134 f. Kim, J. 225
Mach, E. 1 7 - 2 1 Madison, J. 26 Materialismus 78 f., 82 Maull, N. 2 5 5 - 2 5 7 Maxwell, G. 184 Mechanismus 13 Mendel, G. 55, 60 Mengenlehre 215, 222, 225 f., 232, 234
262
Register
Mentalismus 74, 76, 78, 82 Merkmalübertragung 46 Michelson, A. A. 236 f. Mittel/Zweck 1 9 8 - 2 0 0 Modell 1 7 7 - 1 8 3 , 246 mögliche Welt 224 f., 229 Morley, E. W. 236 f. Münchhausenzopfklausel 130
Ptolemäus 127, 153 Putnam, Η. 159, 184, 197, 234, 236, 238, 253, 257
Nagel, E. 9, 17, 25, 82, 152, 203, 225, 251 Neumann, J. v. 238 Newman, J. R. 225 Newton, I. 14, 16, 18, 37, 40, 83, 85, 95 f., 9 8 - 1 0 0 , 110, 130 f., 145, 153 - 1 5 5 , 161, 173, 179, 181 f., 199, 204, 239 normale Wissenschaft 167 f., 202 notwendig 235, 237, 239 Nye, M . J. 21, 194
rational, Rationalität 92 f., 145, 184, 1 9 7 - 2 0 9 , 241 Realismus 152, 183 - 1 8 5 , 192, 195-197 Rechtfertigung 26, 80, 92, 201, 241 Rechtfertigungskontext 154, 157, 183 Reduktion, Zurückführung 212 f., 216 - 219, 222, 224, 248 - 252, 255 f., 258 Reichenbach, H. 17, 42, 45, 154, 237 f. Relativismus 173, 175 f., 206 Relativität der Mittel 199, 201 f. Relevanz 41, 43 f., 47, 51, 88, 128, 140-142 Rescher, N. 42 Revision 235 - 239 Revolution, wissenschaftliche 145, 159, 162, 165, 167 f., 206 Ritchie, Β. F. 77 f. Rosenkrantz, R. D. 10, 114, 120, 122 Russell, B. 216 - 218, 222, 227, 231 Russells Paradox 227 Rutherford, E. 180
objektiv 74, 84, 166, 173 Oppenheim, P. 34, 253, 257 Paradigma 168, 171 - 176, 190 Paradox der Bestätigung 121 - „blün" („grue" - Goodman) 1 0 3 - 1 1 0 , 137 f. - „Raben" (Hempel) 1 1 0 - 1 1 4 , 122 Parmenides 184 Peano, G. 217 Perrin, J. 194 Planck, M . 127, 191 Poincare, H. 115 Poisson, D. 119 Popper, K. R. 21, 9 4 - 1 0 0 , 114, 119, 123, 127, 163 Prognose 22, 6 9 - 7 3 , 168 f., 172, 185 f. projizierbares Prädikat 107—109, 122
Quantenlogik 238 Quantentheorie, -mechanik 49 f., 1 9 4 - 1 9 6 , 237 Quine, W. V. 170, 214, 218 f., 225, 227, 229, 236
Salmon, W. 10, 29, 31, 42, 45, 51 f., 60, 89, 200 Satz des ausgeschlossenen Dritten 237 f. Schaffner, K. F. 256 Scheffler, I. 200
Register Scheibe, Ε. 10, 63 Schicht-Kuchen-Modell 154, 156, 1 6 2 - 1 6 5 , 204, 207, 253 Schöpfungstheorie 143 f., 151 Scriven, M . 42 Seeliger, H . v. 123 Sellars, W. 192 f. Shapere, D. 190 f. Siegel, H . 200 Sinneserfahrung, -Wahrnehmung 14, 19 f., 232 Skinner, Β. F. 76, 80, 187 Sklar, L. 256 Skyrms, B. 63, 105 Smart, J . J . C . 184 Snellius, W. 28, 63 Sprache 168, 170, 176 f., 181 f., 211 f., 216, 219 f., 224, 227, 230 statistisch 43 f., 47, 51, 61, 65, 71, 245 Stich, S. 225 Subjektivismus 164, 166, 200, 256 Suppe, F. 146, 176 Suppes, P. 120, 156, 176, 182 Symmetrie (Erklärung/Prognose) 70 System 180 f. Tautologie 215 teleologisch 205, 207 Teller, P. 10 Testeinsicht 95, 114 Theorem 148, 216, 218, 227 theoretisch/beobachtungsbezogen 146 f., 156, 1 5 9 - 1 6 1 , 164, 177, 182, 191 theoriebeladen 169, 176 Tolman, E. C. 30, 7 6 - 7 8
263
Toulmin, S. 72 Tremblay 58 Trivialisierungsvermeidungsklausel 130, 133 Truman, Η. S. 244 Übersetzung 170, 172, 177 Überzeugungsgrad (degree of belief) 125 Ulrich, W. 3 Unendlichkeitsaxiom 219, 222 f. unerwartet 42 Unwahrscheinlichkeit 96 Verallgemeinerung 22, 64 f., 6 8 , 7 3 , 85, 136, 144, 192, 211 Verifikation 2 0 - 2 2 , 74, 96, 129, 168 Verstehen 83 - 88 Vuillemin, J . 10 Wahrheit 203, 212 - 216, 219 - 239 Wahrheitswert 213, 228 f. Wahrscheinlichkeit 34, 38, 42, 50, 62, 1 1 5 - 1 2 8 , 181 Warum-Frage 26 f., 42, 47, 52, 54, 5 6 - 6 0 , 71, 86, 88 Washburn, A. L. 29 Watson, J . D. 179, 249 Watson, W. Η . 3 Weyl, Η . 211 Whitehead, Α. Ν . 45, 2 1 6 - 2 1 9 , 222 Wie-Frage 59 Winnie, J. 10 Wissenschaftsgeschichte 145, 164, 198, 204, 208, 258 Zweiwertigkeit 188, 196
w Walter de Gruyter OE
G
Berlin - New York
BERNULF KANITSCHEIDER
Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft Oktav. 284 Seiten. 1981. Kartoniert DM 19,80 ISBN 3 11 006811 7 (Sammlung Göschen, Band 2216) TADEUSZ PAWLOWSKI
Begriffsbildung und Definition Aus dem Polnischen übersetzt von Georg Grzyb Oktav. 280 Seiten. 1980. Kartoniert DM 19,80 ISBN 3 11 00661 0 (Sammlung Göschen, Band 2213)
Wozu Wissenschaftsphilosophie? Positionen und Fragen zur gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie Herausgegeben von Paul Hoyningen-Huene und Gertrud Hirsch Oktav. Vm, 433 Seiten. 1988. Kartoniert DM 46,ISBN3 11 011472 0
Preisänderungen vorbehalten