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German Pages 308 Year 2022
Sabrina Krauss Philipp Plugmann Hrsg.
Innovationen in der Wirtschaft Trends in Industrie, Bildung und Gesundheit
Innovationen in der Wirtschaft
Sabrina Krauss · Philipp Plugmann (Hrsg.)
Innovationen in der Wirtschaft Trends in Industrie, Bildung und Gesundheit
Hrsg. Sabrina Krauss SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen Leverkusen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
Philipp Plugmann SRH Hochschule für Gesundheit Leverkusen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
ISBN 978-3-658-37410-5 ISBN 978-3-658-37411-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Carina Reibold Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Geleitwort
Organisationen unterliegen einem ständigen Wandel. Sei dies in der Industrie, dem Bildungssektor oder dem Gesundheitswesen. Damit gehen Herausforderungen für die davon Betroffenen einher, diese Veränderungen zu gestalten, sie mitzugehen oder selbst umzusetzen. Die Verlässlichkeit bewährter Erkenntnisse, Methoden, Prozesse oder Verhaltensweisen muss daher ständig infrage gestellt und falls notwendig, Neues geschaffen werden. Hierzu sind Veränderungen sowohl in der Gesellschaft, der Organisation als Ganzes, der Ebene von Arbeitsgruppen oder Teams sowie beim Einzelnen notwendig. Die Entstehung von Innovationen und deren Umsetzung, z. B. in Organisationen, ist, obwohl es oft so scheint, kein rein sach-logischer Vorgang, sondern weitaus stärker ein psycho-logischer. Hier kommt der „Faktor Mensch“ ins Spiel. Die Psychologie als Wissenschaft vom Erleben, Verhalten und Bewusstsein des Menschen bietet sowohl für die Entstehung von Innovationen, deren Akzeptanz und Umsetzung in den verschiedensten Kontexten als auch im individuellen Verhalten viele sinnvolle Erklärungsansätze, Konzepte und Modelle. Hierzu gehören sowohl das psychologische Wissen zu Kreativität und Innovation als auch zu menschlichen Denk- und Motivationsprozessen, individuellen Persönlichkeitseigenschaften und Einstellungen, der Interaktion von
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Geleitwort
Menschen im Arbeitskontext oder dem Verhalten von Führungskräften. In diesem Verständnis ist der Mensch einerseits Akteur, indem er Innovationen schafft, andererseits auch Umsetzer oder Betroffener von Neuerungen. Das vorliegende Buch stellt unterschiedliche Innovationsprojekte und -themen dar, deren Bezug zur Psychologie teils offensichtlich, teils indirekt vorhanden ist. Damit spielt der menschliche Faktor, also das Individuum, sein Erleben und Verhalten, aber auch die Chancen, die Veränderungen bieten, in allen drei Kapiteln eine wesentliche Rolle. Das „Psychologische“ wird somit zur Klammer der Innovationsbereiche, denn für die Akzeptanz, Umsetzung und Weiterverbreitung dieser innovativen Ideen ist der Mensch unerlässlich. Die drei großen Bereiche, in die das Buch aufgeteilt ist, beschäftigen sich mit Innovationen in der Industrie, dem Bildungssektor und dem Gesundheitswesen. In ihnen wird ein Innovationsspektrum betrachtet, dass von psychologischen, betriebswirtschaftlichen über sozialarbeiterische und pädagogische Themen bis hin zu gesundheitlichen und gesundheitspolitischen Ideenkomplexen reicht. Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung. Heidelberg im Januar 2022
Prof. Dr. phil. habil Ralf Brinkmann SRH Hochschule Heidelberg
Vorwort
Der internationale Wettbewerb ist geprägt durch die Neuentwicklung von Produkten und Dienstleistungen. Dies betrifft sowohl die privatwirtschaftliche als auch die akademische Umgebung. Die Zeiten ändern sich schnell durch Digitalisierung, Innovationen und neue Arbeitsprozesse. Alle Industrien sind von dieser Transformation betroffen, alte Berufsfelder verschwinden und neue Tätigkeitsbereiche entstehen. Die Herausforderungen für Innovationen in der Wirtschaft betreffen Start-Up´s, junge und etablierte Unternehmen. Dieses Buch zeigt durch die Beiträge von verschiedenen Autoren aus Wissenschaft und Praxis einen Querschnitt von Trends in den drei Bereichen Industrie, Bildung und Gesundheit. Dabei werden neben dem Einfluss von Innovationen auf die MitarbeiterInnen und die Unternehmen auch neue Berufsbilder vorgestellt. Der internationale Wettbewerb ist geprägt durch die Neuentwicklung von Produkten und Dienstleistungen, dies betrifft privat-wirtschaftliche und akademische Umgebungen gleichermaßen. Im Zuge der Digitalisierung und der Förderung und Weiterbildung von Nachwuchskräften werden digitale Open-Innovation Plattformen, dynamische und ortsunabhängige Arbeitsumgebungen und neu zu gestaltende Arbeits- und Organisationsarchitekturen entscheiden, wer sich am Markt durchsetzt und wer nicht. Die Beiträge in diesem Buch sollen als Impulse dienen und den Lesern Nutzen bringen. Durch erfahrungsbasierte, anwendungsorientierte oder wissenschaftlich ausgerichtete Beiträge soll das Potential der Innovationen in der Wirtschaft aufgezeigt werden. Besonders die immer weiter sinkende Halbwertszeit von Wissen und Konzepten fordert individuelle Fort- und Weiterbildungen. Es erfordert neue Lernkompetenzen bis hin zur Verstärkung der Autodidaktik, um im Zeitalter der Digitalisierung und Innovationen bei der momentanen Veränderungsgeschwindigkeit in den einzelnen Branchen mithalten zu können. Das lebenslange Lernen ist Realität geworden und altersunabhängig. Das Management von Unternehmen und Projekten wird durch zunehmend flachere Hierarchien und steigenden Ansprüchen der Arbeitnehmerschaft geprägt. Themenbereiche wie Work-Life-Balance, betriebliches Gesundheitsmanagement,
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Vorwort
Unternehmensinfrastruktur und interkulturelle Kommunikationsfähigkeiten gewinnen an Wichtigkeit. Weiteres wirtschaftliches Wachstum ist ohne Berücksichtigung von Innovationen vor diesem Hintergrund für die Unternehmen nicht mehr möglich. Sabrina Krauss SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen Philipp Plugmann SRH Hochschule für Gesundheit
Inhaltsverzeichnis
Innovationen in der Industrie Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat des Persönlichkeitsmerkmals Kreativität oder des richtigen Kontextes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Sabrina Krauss Identifikation von Objekten – eindeutig, fälschungssicher und innovativ . . . . . 19 Gerd Wintermeyer Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? . . . . . . . . . . . . . 43 Jürgen Dahlhoff Resiliente Supply Chains und der Faktor Mensch: Digitalisierung und Automatisierung im Rahmen innovativer Logistikkonzepte in Krisenzeiten. . . . 77 Roman Bruno Kremer Innovation und Trends in Automobilindustrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Marcel Engelmann Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung. . . . . . . . . . . . . . . 101 Jörn Littkemann, Christian Geyer und Sabrina Jung Innovationen im Bildungssektor 11 Thesen zum Lernen der Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Markus Dohm Disruptive Innovationen in der Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Claus Wilke und Stefan Medinger Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Arno Lammerts und Julia Ingwald
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Inhaltsverzeichnis
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung gewinnendes Modell unter kritisch-distanzierter Beobachtung der Disziplin. . . . . . . . . . . . . . 165 Johannes Emmerich und Janine Linßer Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . 183 Bernd Benikowski und Johannes Emmerich Innovationen im Gesundheitssektor Das zukünftige Open-Innovation-Konzept im Gesundheitswesen erfordert die Unterstützung durch Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Julia Plugmann und Philipp Plugmann Medizinische Frühintervention in der Behandlung alkoholkranker Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Arne Lueg Meditation: Altes Wissen in neuem Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Stefanie Uhrig Digital Health Start-ups als Treiber der digitalen Transformation – Herausforderungen aus Perspektive von Gründer:innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Sebastian Merkel und Diana Huth Physician Assistant – ein innovativer akademischer Gesundheitsberuf . . . . . . . 263 Thomas Lichtinger Vom Personalmangel zu neuer Aufgabenverteilung: Die Rolle des Physician Assistant im deutschen Gesundheitswesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Henrik Herrmann Innovative Aufklärungskonzepte in der Prävention – Partizipative Auswahl von Mundhygienehilfsmitteln und -techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Thea Rott Innovationen im betrieblichen Gesundheitsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Jan Iserloh und Berthold Iserloh
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Prof. Dr. Sabrina Krauss ist Professorin für Psychologie und leitet seit 2018 die psychologischen Studiengänge der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Seit 2020 hat sie zusätzlich die Leitung des SRH Campus Rheinland inne. Darüber hinaus berät sie Wirtschafts-Unternehmen, coacht Führungskräfte und forscht zu den psychologischen Auswirkungen der Digitalisierung sowie Social Media und dem Zusammenhang von Langeweile und Kreativität.
Prof. Dr. med. dent. Dr. scient. med Philipp Plugmann M.Sc. M.Sc. MBA ist Zahnmediziner in eigener Praxis in Leverkusen mit 22 Jahren Erfahrung, mehrfacher Unternehmensgründer und Gutachter für das Bundesgesundheitsblatt. Seit 2013 ist er externer Research Fellow in der Abteilung für Parodontologie der Universitätszahnklinik Marburg und seit Februar 2020 Professor für interdisziplinäre Parodontologie und Prävention im Studiengang Dental Hygienist B.Sc. an der SRH Hochschule für Gesundheit. Er hält einen Master of Science in Parodontologie und Implantattherapie (DGParo), einen MBA mit Schwerpunkt Health Care Management und einen Master of Science in Business Innovation (beide EBS Universität für Wirtschaft und Recht). Er hat über 80 Publikationen in den Bereichen Zahnmedizin, Innovation und Medizintechnik und bereits 8 Bücher herausgegeben. XI
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Benikowski, Bernd SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland Prof. Dr. Dahlhoff, Jürgen SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland Dohm, Markus Academy & Life Care, Köln, Deutschland Prof. Dr. Emmerich, Johannes Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Engelmann, Marcel Engelmann Ventures Holding GmbH, Wolfsburg, Deutschland Geyer, Christian M.Sc. Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung und Controlling, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland Prof. Dr. Herrmann, Henrik Professor für Physician Assistance der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera, Gera, Deutschland Huth, Diana M. Sc. Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Dr. Ingwald, Julia SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland Dipl. Psych. Iserloh, Berthold SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland Iserloh, Jan SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland Jung, Sabrina SCM Professional, SMA Solar Technology AG, Kassel, Deutschland Prof. Dr. Krauss, Sabrina SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Leverkusen, Deutschland Prof. Dr. Kremer, Roman Bruno SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Leverkusen, Deutschland Prof. Dr. Lammerts, Arno SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland Prof. Dr. med. Lichtinger, Thomas SRH Hochschule für Gesundheit, Leverkusen, Deutschland Prof. Dr. Linßer, Janine Fakultät für Angewandte Geistes- und Naturwissenschaften Hochschule Augsburg, Augsburg, Deutschland Prof. Dr. Littkemann, Jörn Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
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Lueg, Arne Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, LWL-Klinik Dortmund, Bochum, Deutschland Medinger, Stefan Kaufmännischer Leiter, SRH Schulen GmbH, Neckargemünd, Deutschland Dr. Merkel, Sebastian Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Plugmann, Julia SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland Prof. Dr. med. dent. Dr. scient. med Plugmann, Philipp M.Sc. M.Sc. MBA Studiengang Dental Hygienist, SRH Hochschule für Gesundheit, Leverkusen, Deutschland Frau Prof. Dr. Rott, Thea M.Sc. SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland Dr. Uhrig, Stefanie FreieWissenschaftsjournalistin, Erbach/Odenwald, Deutschland Prof. Dr. Wilke, Claus Prorektor Forschung und Transfer, SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland Prof. Dr. Wintermeyer, Gerd SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland
Innovationen in der Industrie
Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat des Persönlichkeitsmerkmals Kreativität oder des richtigen Kontextes? Sabrina Krauss
Der schillernde Begriff Innovation verkörpert für viele Menschen etwas Besonderes und ist gesellschaftlich sehr positiv konnotiert. Doch für Unternehmen sind Innovationen vor dem Hintergrund des stetig wachsenden wirtschaftlichen Drucks nicht nur angenehm, sondern in vielen Fällen auch der einzige Weg, um am Markt bestehen (bleiben) zu können. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung, in dem sich technische Hilfsmittel exponentiell verändern und mehren, jeden Tag neue Apps und Kommunikationsmöglichkeiten hinzukommen, müssen althergebrachte Produkte oder Dienstleistungen angepasst oder sogar neue erdacht und etabliert werden. Prototypische Beispiele für radikale Veränderungen der letzten Zeit sind zum Beispiel Konstrukte wie „Free Now“ (Fahrzeuge digital orten, reservieren und nutzen) oder Airbnb (die Hotel-äquivalente Buchungsmöglichkeit von Privatwohnungen – meist digital zu buchen). So verwundert es nicht, dass „Innovationen“ im gesamtgemeinschaftlichen Kosens als notwendig und besonders wichtig beschrieben werden. Bedeutung des Begriffs Innovation Wenn es um Innovationen geht ist manchmal auch von einem „innovativen Unternehmensklima“ die Rede, welches erst durch entsprechende Umstände erschaffen werden muss, damit die Mitarbeiter kreativ sein können und gute Ideen bzw. Innovationen hervorbringen. Der Begriff wird also sowohl als Substantiv, als auch in adjektivistischer Form benutzt, ein Umstand der auf unterschiedliche Definitionen des Begriffs hindeutet. In den meisten Fällen werden Innovationen aber wohl mit neuartigen Ideen assoziiert.
S. Krauss (*) SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Leverkusen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_1
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Eine tatsächliche Innovation ist allerdings weit mehr als eine Idee – denn egal wie innovativ ein Gedanke (also eine Idee) ist, solange er anderen nicht zugänglich gemacht wird, kann nicht von Innovation gesprochen werden. Wie findet also eine Idee den langen Weg vom kreativen Gedanken bis hin zum neuen Produkt oder zur neuartigen Dienstleistung? Auch wenn künstliche Intelligenz immer intensiver diskutiert wird, so braucht es (momentan) doch noch Menschen, die erstens eine Idee haben und zweitens aus dieser Idee auch tatsächlich ein Produkt oder eine Dienstleistung erschaffen können – natürlich sehr häufig mit Unterstützung von Algorithmen und/oder Maschinen. Der Begriff Innovation leitet sich aus dem lateinischen Wort „innovare“ ab und bedeutet so viel wie „erneuern“ oder „neuerschaffen“. Im Sinne einer betrieblichen Innovation können nach Hausschildt und Gemünden (2005) Innovationen in „Produktinnovationen“ und „Prozessinnovationen“ unterschieden werden. Produktinnovationen beziehen sich auf ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung, die den Verbrauchern neue oder bessere Nutzungsmöglichkeiten bietet, wohingegen die Prozessinnovation sich auf eine Verbesserung im Prozess der Herstellung eines Produktes bezieht; also eine Innovation, die der Verbraucher nicht direkt sieht, die sich aber z. B. auf den Preis des Produktes auswirken kann. Beide Innovationen bedingen, dass jemand eine Idee zur Verbesserung des Prozesses oder des Produktes hatte. Im Ursprung muss es also eine gute bzw. kreative Idee geben, damit eine Innovation entstehen kann. Innovation und Kreativität Nach Hennessey und Amabile (2010) bezeichnet der Begriff „Kreativität“ Personen mit der Fähigkeit, Ideen zu generieren, die sowohl neu als auch den Umständen angemessen sind. Die Wortherkunft des Begriffs Innovation (innovare) wird – wie schon erwähnt – mit „Neuerschaffen“ übersetzt. Kreativität und Innovation sind also per Definition artverwandte Konstrukte. Artverwandt, aber nicht identisch, obwohl die beiden Begriffe in der Literatur häufig synonym verwendet werden. Beiden gemeinsam ist die Idee zu einer Neuerung. Wie entstehen aber derartige gewünschte, neue und kreative Ideen? Welche Menschen sind in der Lage kreative Lösungen zu erdenken, aus denen dann Innovationen entstehen können, und welche Bedingungen müssen dazu vorherrschen? Wirft man einen Blick in die psychologische Forschung – also die Forschung der Wissenschaft des menschlichen Erlebens und Verhaltens – findet man Hinweise darauf, dass die Entstehung von Innovationen mit dem Persönlichkeitsmerkmal „Kreativität“ zusammenhängt. Zunächst sei vorangestellt, dass es sich bei Persönlichkeitsmerkmalen um Eigenschaften handelt, die einen Menschen ausmachen und über die Zeit hinweg relativ stabil sind. Das bedeutet, dass jemand, der heute sehr gewissenhaft ist, dies auch in einigen Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit noch sein wird. Ausnahmen bilden hier Schicksalsschläge, die eine Änderung der Persönlichkeit hervorrufen können. In der Alltags-Psychologie wird oft von „Persönlichkeitsentwicklung“ gesprochen, die dann durch spezielle Persönlichkeitsentwickler – nach eigenem Belieben – auch kurzfristig hervorgerufen werden kann. Der Begriff „Persönlichkeitsentwicklung“ ist aus der fachlich-psychologischen Perspektive
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allerdings durchaus genau zu definieren, da Persönlichkeitseigenschaften (im Gegensatz zu Zuständen) über die Zeit hinweg mittel- bis langfristig stabil und in einigen Teilen sogar genetisch bedingt sind. Vielleicht ein Grund, warum die sogenannten Persönlichkeitsentwickler in den meisten Fällen keine Psychologen sind. Wäre die menschliche Persönlichkeit so volatil, wie von einigen postuliert, wäre der Einsatz von Persönlichkeitsfragebögen in der Berufsauswahl reine Geldverschwendung, denn warum sollte es interessieren, wie die Persönlichkeit des Bewerbers sich heute darstellt, wenn sie doch morgen schon ganz anders sein kann? Dass die menschlichen Persönlichkeitseigenschaften längerfristig als stabil gelten, heißt allerdings nicht, dass sich Menschen nicht ändern können; vor allem darf Persönlichkeit nicht mit dem Verhalten einer Person gleichgesetzt werden. Verhalten geschieht vor dem Hintergrund der Persönlichkeit, aber immer auch unter Einflussnahme der jeweiligen Situation, in der sich ein Mensch gerade befindet. So kann eine schüchterne Person je nach Situation – bei gleichbleibender Ausprägung der Eigenschaft -einmal mehr und ein anderes Mal weniger schüchtern agieren. Wer sich über das Thema Persönlichkeit umfassender informieren möchte, dem sei das Buch „Psychologie der Persönlichkeit“, von Franz Neyer und Jens Asendorpf (2018) empfohlen. Die genannten Gesetzmäßigkeiten gelten auch für das Persönlichkeitsmerkmal Kreativität, allerdings muss auch hier – wie in der Psychologie üblich – auf die Definition geachtet werden. Der Begriff Kreativität wird im Sprachgebrauch nicht nur zur Umschreibung der menschlichen Persönlichkeit verwendet, sondern oft auch zur Beschreibung eines Produktes oder sogar eines Arbeitsklimas. Schuler und Görlich (2007) geben hier einen sehr guten Überblick über die unterschiedlichen Arten der Nutzung des Begriffes Kreativität. Bei genauerer Betrachtung des Begriffes Kreativität -definiert als Persönlichkeitsmerkmal-, zeigt sich, dass je höher die Ausprägung des Merkmals bei Personen innerhalb einer Arbeitsgruppe (Schuler et al., 1995) ist, desto mehr Innovationen erschaffen werden (in der benannten Studie gemessen anhand der Anzahl eingereichter Patente). Allerdings benötigt eine Innovation nach Schuler und Görlich (2007) mehr als eine zündende Idee mit Wertschöpfungsqualitäten. Es ist ebenfalls notwendig, andere Personen (Kollegen oder Vorgesetzte) von dieser Idee überzeugen zu können und so die Umsetzung der Idee anzustoßen und in der Folge eine Innovation zu etablieren. In der Psychologie spricht man hier in Abgrenzung zur „kreativen Persönlichkeit“ auch von der „innovierenden Persönlichkeit“ (Guldin & Gélleri, 2014). Schuler und Görlich (2007) haben für die jeweiligen Personengruppen Eigenschaftslisten formuliert, anhand derer man in der beruflichen Eignungsdiagnostik Personen mit besonders hohem Kreativitätspotenzial oder Personen mit der Begabung zur gelingenden Umsetzung von Innovationen, erkennen kann. Zur umfangreichen Darstellung empfiehlt sich dem interessierten Leser an dieser Stelle die vollständige Lektüre des Buches „Kreativität“ von Schuler und Görlich (2007). Exemplarisch sei hier auf 3 markant erscheinende Kriterien verwiesen, die das Vorhandensein der jeweiligen Eigenschaften (Kreativität bzw. Innovationsfähigkeit) beschreiben: Kreative Personen sind unter anderem eher überdurchschnittlich intelligent und wissensdurstig und verfügen über viel Fantasie und Vorstellungskraft, wohingegen
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innovierende Personen unter anderem eher gut darin sind andere zu überzeugen, über verkäuferisches Geschick verfügen und unternehmerisches Denken und Handeln zeigen. Vor dem Hintergrund, dass zur Umsetzung einer Innovation sowohl eine neue Idee, als auch das „Umsetzungspotenzial“ vorhanden sein muss, kann es durchaus häufiger vorkommen, dass eine Innovation nicht allein von einer Person erschaffen wird, sondern dazu eine gute Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Personen notwendig ist. An dieser Stelle deutet sich an, dass es für das Zustandekommen von Innovationen nicht nur kreative und innovierende Mitarbeiter braucht, sondern auch Rahmenbedingungen, in denen diese Mitarbeiter gut zusammenarbeiten können. Welche Rolle die Kontextfaktoren spielen wird im späteren Verlauf noch einmal gesondert aufgegriffen (siehe „Kontextbedingungen für kreative Leistung und Innovation“). Kreativität und Intelligenz Wie schon in der Beschreibung einer kreativen Person von Schuler und Görlich (2007) angeklungen ist, hat Kreativität zudem eine enge Verlinkung zur Intelligenz. Menschen unterscheiden sich in ihren Persönlichkeitsmerkmalen wie zum Beispiel in den Dimensionen Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Offenheit für Neues oder Verträglichkeit. Diese Unterscheidungen – egal in welche Richtung, also hohe Extraversion oder niedrige Gewissenhaftigkeit, sind in gesellschaftlichen Diskussionen weniger emotional besetzt als die Diskussion rund um einen hohen oder niedrigen IQ. Diese Emotionalität – in der Regel handelt es sich dabei um die Emotion Angst – rührt daher, dass ein hoher IQ in der westlichen Gesellschaft von den meisten Menschen als die bessere Variante angesehen wird. Also anders als bei hoher Verträglichkeit, die auch (bei sehr hoher Ausprägung) in eine Art „Harmonie-Sucht“ umschlagen kann, möchte grundsätzlich so ziemlich jeder sehr intelligent sein. Die Definitionen von Intelligenz sind vielfältig, unterliegen oft dem Zeitgeist der jeweiligen Epoche in der sie entwickelt wurden und die Messung der Intelligenz (abgebildet durch den IQ) ist hochkomplex und gehört in jedem Falle in die Hände von Fachleuten. Wirklich valide IQ-Test finden sich nicht im Internet, sondern in entsprechenden (psychologischen) Instituten. Die enge Verbindung zwischen Intelligenz und Kreativität zeigt sich auch in der Entstehungsgeschichte der Kreativitätsmessung: Joy Paul Guilford (1897–1987) sah die Beschäftigung mit der Kreativität als Erweiterung – der in den 1950er Jahre vorliegenden -Intelligenzforschung an (Schuler, 2014). Der Begriff Kreativität ist, wenn auch gemeinhin positiv besetzt, emotional allerdings nicht so aufgeladen wie der Begriff Intelligenz und für viele Personen ist es eher annehmbar nicht kreativ zu sein, als nicht intelligent zu sein. Bei genauerer Betrachtung der Messung von Kreativität wird allerdings deutlich, dass Kreativität – verstanden als Persönlichkeitsmerkmal – viel mit der Art des menschlichen Denkens zu tun hat. Kreativität hängt stark mit dem sogenannten divergenten Denken zusammen. Konvergentes und divergentes Denken Die beiden Arten des Denkens beziehen sich auf die Lösung von Problemen. Divergentes Denken wird definiert als Fähigkeit zur Hervorbringung ungewöhnlicher Lösungsansätze
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(Gerrig, 2018) und entsteht durch schnelles und flexibles Denken. Divergentes Denken wird manchmal auch als „Out-of-the-Box-Denken“ bezeichnet. Um diese Art Denkens, bzw. das Vorhandensein von Kreativität zu messen, werden oft die Kriterien „Einzigartigkeit“ und „Ungewöhnlichkeit“ (Runco, 1991) herangezogen. Demgegenüber meint das konvergente Denken jene Denkprozesse, die dazu führen, verschiedene Informationsquellen zu bündeln, um ein Problem zu lösen. Auf dieser Art der „Denkmessung“ beruhen die meisten Intelligenztests. Der Zusammenhang zwischen Kreativität und anderen personalen Eigenschaften Um Lösungen zu generieren, die einzigartig du ungewöhnlich sind, bedarf es allerdings noch weiterer Faktoren. Schuler et al. (2013) benennen in ihrem selbstkonzipierten (und validierten) Test zur Erfassung von Kreativität (siehe auch Abschnitt „Passende Personalauswahl zur Förderung von Innnovation“) neben vorliegender, erhöhter Intelligenz auch die intrinsische Motivation, Nonkonformität, Selbstvertrauen, Offenheit für Neues und die eigene Erfahrung als kreativitätsbedingende oder begünstigende Eigenschaften. Im Besonderen die vorliegende Nonkonformität einer kreativen Person könnte dazu beitragen, dass die Zusammenarbeit mit ihr nicht immer ganz einfach sein könnte. Es zeigt sich also ein enger Bezug der Kreativität zu Intelligenz, aber auch zu anderen Persönlichkeitseigenschaften. Wie genau und in welcher Weise die genannten Faktoren miteinander in Beziehung stehen (korrelieren) oder sogar als Voraussetzung angesehen werden können kann an dieser Stelle nicht vollumfänglich dargestellt werden, eine solch wissenschaftliche Abgrenzung, bleibt der streng empirisch-wissenschaftlich konzipierten Literatur vorbehalten. Kreativität und die Entstehung von Innovation Die Wahrscheinlichkeit, dass Personen mit einer hohen Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals Kreativität, in der Lage sind, kreative Lösungen für Probleme zu entwickeln, ist also erhöht. Die Eigenschaften einer Person sind allerdings oft nicht „die alleinigen Verantwortlichen“ für die Entstehung einer kreativen Idee. Wir Menschen neigen aber dazu, Geschehnisse einzig und allein auf die Person und ihre Eigenschaften zurückzuführen und blenden dabei die Situation, in der es zu einer Handlung kam, gerne aus. Dieses Phänomen wird in der Psychologie „fundamentaler Attributionsfehler“ genannt (Ross, 1977). Würde im Fall der Entstehung einer kreativen Idee bedeuten, dass man für die vorliegende kreative Leistung ausschließlich eine Person, bzw. die Eigenschaften dieser Person, verantwortlich macht. Dieser Fall ist sicherlich nicht ausgeschlossen, es ist jedoch davon auszugehen, dass in vielen Entstehungsgeschichten einer Innovation auch die Situation – also zum Beispiel das Klima in der Arbeitsgruppe, die Unterstützung durch die Führungskraft, etc. – eine große Rolle gespielt haben. Die kreativen und/oder innovativen Eigenschaften einer Person sind zwar sehr gute Voraussetzungen zur Entstehung von Innovationen, also eine notwendige – aber (oft) noch keine hinreichende Bedingung. Dass die kreative Leistung von Studierenden durch situative Einflüsse gesteigert werden kann, zeigten Leung und Chiu (2010) in einer Studie, in der die Studierenden dazu angehalten wurden eine kreative Version des Märchens
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„Aschenputtel“ zu erdenken. Es zeigte sich, dass diejenigen kreativer waren, die zuvor Informationen zu unterschiedlichen Kulturen bekamen (Chinesisch + Amerikanisch) - im Gegensatz zu Studierenden, die nur Informationen zu einer Kultur erhalten hatten. Kritische Denker mögen hier anmerken, dass die Beurteilung, ob es sich um eine kreative Leistung handelt, zu subjektiv sein könnte und in Abhängigkeit der jeweiligen Jury steht. Dem sei entgegengestellt, dass sich Menschen – in Hinblick auf die Einordnung kreativer Leistungen – erstaunlich einig sind (Hennessey & Amabile, 2010). Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden somit zusätzlich noch die wichtigen Kontextfaktoren beleuchtet, welche eine Person oder eine Arbeitsgruppe benötigt, um tatsächlich kreativ sein zu können – bzw. Innovationen hervorbringen können. Kontextbedingungen für kreative Leistungen und Innovationen Zusätzlich zu den benannten Persönlichkeitseigenschaften ist es – besonders bei betrieblichen Innovationen – erforderlich, auch die (Arbeits-) Umstände zu betrachten. In der Literatur werden unter anderem die Einflussgrößen: Art der Organisation bzw. der Hierarchie, Führung, Unternehmenskultur und Innovationsklima hinsichtlich der kreativen Leistungen der Mitarbeiter diskutiert (Schuler & Görlich, 2007). Auch hier zeigt sich, wie schwer Kreativität und Innovation voneinander abzugrenzen sind. Es handelt sich um zwei getrennte Konstrukte, die dennoch in enger Verbindung stehen und durch unterschiedliche Rahmenbedingungen begünstigt oder verhindert werden können. Im Folgenden sollen die Einflussfaktoren Unternehmens- bzw. Organisationskultur und Führung näher betrachtet werden. Der Einfluss der Organisationskultur auf Kreativität und Innovation Die Organisationskultur beinhaltet tief verankerte Werte und Annahmen (Nerdinger, 2014), in Abgrenzung zum Organisationsklima geht es nicht um die „Stimmung im Unternehmen bzw. der Organisation“, sondern um Normen innerhalb eines Unternehmen, von denen die Mitglieder annehmen, dass diese erwünscht bzw. unerwünscht sind. Beispielhaft kann hier das morgendliche Händeschütteln benannten werden (welches zumindest in den Zeiten vor Corona) in einigen Unternehmen als erwünscht und in anderen als unerwünscht galt. Je nach Organisationskultur. Dabei bildet das Händeschütteln keinen Selbstzweck, es soll in symbolischer Weise z. B. ein kommunikatives oder nahes Miteinander repräsentieren. Je nach Unternehmen und entsprechender Kultur kann es also gewünscht sein, dass Mitarbeiter neue Ideen einbringen oder aber auch nicht. Besonders in Unternehmen, die schon lange existieren hören Ideengeber oft Sätze wie „Das haben wir aber noch nie so gemacht“ oder wahlweise auch „Das haben wir doch schon immer so (und nicht anders) gemacht!“ und damit endet dann die Umsetzung einer Innovation. Egal wie kreativ oder innovativ ein Mitglied dieser Organisation dann auch sein mag, innerhalb dieser Rahmenbedingungen wird es wohl eher selten (oder nie) zu einer Innovation kommen.
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Dieses Verhalten wird im Besonderen in Unternehmen gezeigt, die z. B. „Konservativität“ im Wertesystem verankert haben. Solche Unternehmenskulturen sind in doppeltem Sinne für die Entstehung von Innovationen und die Förderung von Kreativität schädlich: Zum einen nutzen sie das vorhandene kreative und innovative Potenzial nicht und zum anderen, im Sinne der Mensch-Umwelt-Passung, vergraulen sie die kreativen Persönlichkeiten. Der Einfluss von Führung auf Kreativität und Innovation Unter Führung versteht man die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen (von Rosenstiel, 2009). Führung wirkt sich auf das Verhalten der Mitarbeiter aus. Der Führungserfolg zeigt sich dann unter anderem in der Leistung der Mitarbeiter (Nerdinger, 2014). Nun haben Mitarbeiter ganz unterschiedliche Aufgaben und die Wirkung des Führungsverhaltens hängt von der Persönlichkeit des Führenden, dem von ihm konkret gezeigten Verhalten, der Situation und letztendlich auch von den jeweiligen Mitarbeitern ab, die das Führungsverhalten „entgegen nehmen“ (vgl. Rahmenmodell der Führung nach Nerdiger, 2014). Dieser Umstand schließt auch in diesem Bereich die beliebten alltagspsychologischen und einfachen „Wenn-Dann-Regeln“ aus. Es geht um komplexe Wirkzusammenhänge, die immer alle beteiligten Komponenten miteinbeziehen müssen. Trotz aller Multikausalität in der Ursachenentstehung zeigen sich Zusammenhänge zwischen dem Auftreten von Kreativität und Führungsverhalten. Förderlich für die Entfaltung des kreativen Mitarbeiterpotenzials hat sich delegatives Führen (Axtell et al., 2000) gezeigt. Auch der sogenannten Transformationalen Führung (Gebert, 2004) kommt eine besondere Bedeutung zu. Transformationale Führung als Faktor der Innovationsförderung Die Transformationale Führung wird gemeinsam mit der Transaktionalen Führung seit einigen Jahren besonders intensiv betrachtet (von Rosenstiel & Kaschube, 2014). Ganz grob dargestellt geht es in im Verständnis der transformationalen Führung in gewisser Weise darum, Mitarbeiter zu „verwandeln“, also zu transformieren (Die Namensgebung bzw. der Begriff dieses Führungsstils stammt aus dem amerikanischen und wird von deutschen Lesern oft als etwas unpassend hinsichtlich eines Arbeitskontextes empfunden). Die Transformation, die sich im Mitarbeiter durch die Führungskraft vollziehen soll, wird durch die folgenden 4 Komponenten, auch Techniken genannt, ausgelöst (Nerdinger, 2014): 1. Idealisierter Einfluss (teilweise erfolgt hier eine Gleichsetzung mit „Charisma“): Die Führungskraft schafft es, den Mitarbeitern eine Vision zu vermitteln. Die Mitarbeiter beginnen an diese Vision zu glauben und vertrauen darauf, dass sie gemeinsam erreicht werden kann. Dadurch beginnen sie, die Ziel- bzw. Visionserreichung selbstständig mit voranzutreiben.
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2. Inspirierende Motivierung: Die Führungskraft schafft es, z. B. durch emotionale Apelle die Mitarbeiter „mitzureißen“. 3. Intellektuelle Stimulierung: Die Führungskraft regt eine kritische Auseinandersetzung mit Werten, Normen und Erwartungen an. 4. Individualisierte Behandlung: Die Führungskraft berücksichtigt die individuelle Situation und die Bedürfnisse der jeweiligen Mitarbeiter Bei dieser Art zu führen soll also der Mitarbeiter in der eigenen Weiterentwicklung – zugunsten der Zielerreichung der Organisation – unterstützt werden, sodass größere Handlungsspielräume entstehen und der Mitarbeiter ggf. sogar selber (kreative oder innovative) Wege finden kann, das übergeordnete Ziel (oder die Vision) durch sein Zutun zu erreichen. Im Besonderen die „Intellektuelle Stimulierung“ soll das Denken der Mitarbeiter dahingehend begünstigen, dass dieser aktuelle Zustände kritisch hinterfragt und eigenständig Notwendigkeiten zur Veränderung erkennt und diese dann selbstständig einleitet. So zeigt sich, dass einige Komponenten der Transformationalen Führung dazu beitragen können, Innovationen bzw. kreative Leistungen zu fördern (Schuler & Görlich, 2007). Nahezu selbsterklärend erscheint es da, dass die Führungskräfte den Mitarbeitern genügend Handlungsspielraum und Freiräume zur Umsetzung der eigenen Ideen lassen müssen und zusätzlich Fehler, die durch Ausprobieren entstehen, nicht bestraft werden dürfen. Die Fehlerkultur ist Teil der Unternehmenskultur, wird aber zumeist durch die Führungskräfte aus- bzw. vorgelebt, da nur die Führungskräfte in der Lage sind – im Gegensatz zu Kollegen – tatsächliche Strafen auszusprechen (Kündigung, Wegfall einer Bonifikation, etc.). Wenn Fehler aber zu Strafe führen, werden die Mitarbeiter schnell lernen, sich nie außerhalb der eingeschliffenen Abläufe zu bewegen und das Ausprobieren neuer Möglichkeiten tunlichst vermeiden. Den Führungskräften kommt also bei der Entstehung von Innovationen eine wichtige Rolle zu. Jeder, der schon einmal Führungsverantwortung hatte, hat jetzt wahrscheinlich einen besonders kritischen Mitarbeiter im Kopf und mag denken: „Oh bitte nicht die anderen auch noch anregen so zu werden!“. Dazu sei gesagt, dass die Anregung zu kritischem Denken (Intellektuelle Stimulierung) nicht als Anregung zu dauerhaften Nörgeleien gleichgesetzt werden kann. Mitarbeiter, die alle eigenen Probleme an die Führungskraft heran tragen und weitergeben, helfen sich selbst, der Führungskraft und dem Unternehmen nicht weiter. Solche Mitarbeiter sind vielleicht (noch) nicht zur selbstständigen Lösung der im eigenen Arbeitsalltag auftretenden Probleme fähig, einige wären es aber möglicherweise, wenn sie größere Handlungsspielräume bekämen und die Führungskraft klar kommuniziert, dass sie an (innovativen) Lösungen mehr Freude hat, als an einer extrem detail-tiefen Darstellung eines Problems. Kurz gesagt soll es bei der intellektuellen Stimulierung um das Finden von Lösungen – statt um die Beschreibung von Problemen gehen. Der Einfluss von Arbeitsgruppen auf Innovation Zur Entstehung von Innovationen braucht es oft nicht nur kreative bzw. innovierende Persönlichkeiten (siehe auch Abschnitt „Passende Personalauswahl zur Förderung von
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Innnovation“), sondern auch eine angemessene Unternehmenskultur und das passende Führungsverhalten. Vor allem dann, wenn sich der Blick in größere Unternehmen richtet. In Startups, oder in auch einigen Fällen innerhalb größerer Unternehmen, ist es natürlich nicht ausgeschlossen, dass eine Person allein eine Innovation „erfindet“, und in der Rolle des Eigentümers eines Startups auch in er Lage ist, alles barrierefrei umzusetzen. Oft werden kreative Ideen aber in einem Team bzw. in einer Arbeitsgruppe erdacht und müssen auch zunächst dort weiterbearbeitet werden. Zusätzlich zu den Komponenten Persönlichkeit, Unternehmenskultur und Führungsverhalten spielt die direkte Arbeitsumgebung – also die Arbeitsgruppe – eine besondere Rolle bei Hebung des kreativen bzw. innovativen Potenzials. Je nach Zusammensetzung und Gruppendynamik der Arbeitsgruppe wird die Entstehung kreativer Ideen oder Innovationen begünstigt oder gehemmt. Eine heterogene Gruppe zum Beispiel, erweist sich als innovationsfördernd (Jackson, 1996). Guzzo und Shea (1992) weisen darauf hin, dass auch die Gruppengröße eine Rolle spielt und darauf geachtet werden sollte, dass die Gruppe nicht zu klein (ca. 3 Personen), aber auch nicht zu groß (>12 Personen) sein sollte, damit genügend Unterschiedlichkeit der Meinungen vorhanden, die Kommunikation aber nicht durch zu viele Personen inneffizient wird. Als kreativitätsförderlich hat sich zudem die Partizipation aller Gruppenmitglieder erwiesen (Wegge, 2014). Gerade dieser Punkt steht in engem Zusammenhang mit der Führung der Gruppe. Die Führungskraft muss bei gegenteiligen Tendenzen – wenn z. B. einzelne Gruppenmitglieder die Meinungsbildung an sich reißen und den Platz für kontroverse Diskussion und andere Meinungen dadurch minimieren – moderierend eingreifen, um die kreativen Leistungen der Arbeitsgruppe nicht zu gefährden. Ein konstruktives Austragen von Kontroversen, die wechselseitige Unterstützung innerhalb der Gruppe und das Belohnen eines gezeigten innovativen Verhalten stellen weitere, kreativitäts- und innovationsförderliche Faktoren dar (Wegge, 2014). Passende Personalauswahl zur Förderung von Innnovation Zunächst einmal kann ein Unternehmen natürlich beschließen, ausschließlich kreative Mitarbeiter einzustellen. Um dieses Vorhaben umzusetzen, könnte zum Beispiel im Rahmen eines ohnehin stattfindenden, professionellen Assessment Centers – zusätzlich zu bereits eingesetzten Instrumenten (wie zum Beispiel IQ- oder Persönlichkeitstest) - ein Test zur Feststellung der Kreativität bzw. zur Innovationsfähigkeit einer Person zum Einsatz kommen. Zur Feststellung der Kreativität würde an dieser Stelle unter anderem das Inventar von Schuler et al., (2013) in Frage kommen. Der sogenannte DBK-PG (Diagnose berufsbezogener Kreativität – Planung und Gestaltung). Vielen Personalern ist gar nicht bewusst, dass zur Messung von Eigenschaften „geeichte“ (validierte) Testverfahren zur Verfügung stehen. Zur Durchführung einer fundierten Eignungsdiagnostik kann die Hinzuziehung eines Arbeits- und Organisationspsychologen also durchaus nützlich sein. Zu beachten ist allerdings, dass der Personalauswahl eine fundierte Stellenbeschreibung bzw. Anforderungsanalyse zu Grunde liegen muss. Ohne zu wissen, was genau die gesuchte Person können muss und womit sie in ihrem Berufsalltag konfrontiert werden wird, ist eine gelingende Personalauswahl nicht möglich.
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Möglicherweise benötigen Unternehmen aber auch Mitarbeiter mit mehreren verschiedenen Fähigkeiten und Eigenschaften, sodass sie das Vorhandensein von Kreativität nicht in den Fokus rücken wollen oder können. Denkbar ist auch, dass ein Unternehmen die eigene Innovationsfähigkeit fördern möchte ohne Neueinstellungen vorzunehmen. In einer solchen Gemengelage minimiert sich die Variante (Personal-) Selektion. Unter diesen Voraussetzungen gilt es dann, Wege zu finden, das vorhandene kreative und innovative Potenzial in Unternehmen besser zu heben oder zu stärken (siehe auch „Kontextbedingungen für kreative Leistungen und Innovation“). Passende Personalentwicklungsmaßnahmen zur Förderung von Innovation Es zeigt sich, dass die Anwesenheit kreativer oder innovierender Personen allein nicht ausreichend sein kann, um Innovationen hervorzubringen. Die Art der Führung, die vorherrschende Unternehmenskultur und sogar die Verhältnisse innerhalb der Arbeitsgruppe, nehmen Einfluss auf die Entfaltung des kreativen Potenzials und die Entstehung von Innovationen. Möchte ein Unternehmen mehr Innovationen hervorbringen, bzw. die Kreativität der Mitarbeiter bei der vollen Entfaltung unterstützen, sollte also nicht nur bei der Personalauswahl, sondern auch bei der Personalentwicklung darauf geachtet werden. Unter Personalentwicklung werden in der Arbeits- und Organisationspsychologie meist alle Maßnahmen verstanden, die die Qualifikationen der Mitarbeiter und Führungskräfte sicherstellen sollen (Blickle, 2014). Die Maßnahmen beinhalten sowohl Analysemethoden wie z. B. die Potenzialanalyse (welche oft auch die Erfassung der Persönlichkeit mittels Fragebogen miteinschließt), als auch Maßnahmen zur Verhaltensmodellierung (z. B. Trainings und Rollenspiele), aber auch Coaching und Mentoring gehören dazu. Trotz oder gerade wegen dieser Fülle an Personalentwicklungsmaßnahmen existiert bis heute kein allgemein anerkanntes Klassifikationssystem dieser Art der Maßnahmen (Kaschube & von Rosenstiel, 2004). Das Thema Personalentwicklung erfreut sich zudem einer multidisziplinärer Beliebtheit und der Markt der Anbieter ist groß und die Angebote sind mehr als vielfältig. Ein guter Gesamtüberblick über die Methoden und Wirkungen fundierter Personalentwicklungsmaßnahmen findet sich im Lehrbuch der Personalpsychologie (2014) von Heinz Schuler und Uwe Kanning. Wer selbst nicht die Zeit und Muße hat, sich vertieft mit dem Thema Personalentwicklung zu beschäftigen, kann einen Arbeits- und Organisationspsychologen hinzuziehen. Vor dem Einsatz einer Personalentwicklungsmaßnahmen sollte natürlich eine gründliche Situations-, Zielund Bedarfsanalyse erfolgen. Anbieter, die eine Personalentwicklungsmaßnahme feil bieten, die nach dem 3-(oder mehr)-in-eins-Prinzip angepriesen wird – also eine Maßnahme und hundert Wirkungen – ist mit Vorsicht zu genießen. Das Angebot an absurden und grotesken Methoden erscheint unendlich: Von Pferde-gestützter Führungskräfteentwicklung über die Deutung von Augenbewegungsmustern bis hin zu waghalsigen Mutproben in Kletterparks, die dann die z. B. die Managementkompetenz erhöhen sollen, bietet der Markt alles. Sicherlich eignen sich einige dieser Aktivitäten
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(gemeinsames Kochen, Kletterpark, Waldbaden, etc.) ggf. für ein erfüllendes Betriebsausflugsprogramm, haben aber mit wirksamen Personalentwicklungsmaßnehmen nichts gemein. In der Regel gilt: Je verrückter und abenteuerlicher eine Maßnahme daher kommt, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass hinter den Anbietern Fachleute (z. B. Psychologen) stehen. Hinter all dem verbirgt sich aber natürlich ein lukratives Geschäft. Wie absurd und zugleich unwirksam derlei Maßnahmen sein können zeigt Uwe Kanning anschaulich in seinem Buch „Wenn Manager auf Bäume klettern“ (Kanning, 2013). Trotz aller gebotenen Vorsicht werden Personalentwicklungsmaßnahmen seit langer Zeit beforscht und in der einschlägigen Fachliteratur (z. B. Schuler & Kanning, 2014) diskutiert. Im Folgenden sollen einige Bereiche der Personalentwicklungsmöglichkeiten skizziert werden, welche sich als „Stellschrauben für die Hebung des kreativen und innovativen Potenzials“ anbieten können. Führungskräfteschulungen Führung meint die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen (von Rosenstiel, 2009). Die Führungskräfte und das von ihnen gezeigte Verhalten haben Einfluss auf das die Mitarbeiter bzw. auf deren Verhalten und Leistung (siehe auch „Transformationale Führung als Faktor der Innovationsförderung“). Ob Führungskräfte erfolgreich führen bemisst sich zumeist an den beiden Dimensionen „Leistung“ und „Zufriedenheit“ der Mitarbeiter. Man könnte auch sagen: „Führung ist viel, aber auch nicht alles“ - um direkt den eventuell aufkommenden Allmachtsphantasien entgegenzuwirken. Um also durch Führung auch die kreativen Leistungen und somit auch die Innovationsfähigkeit zu fördern, ist zu empfehlen, die Führungskräfte dahingehend zu schulen. Ihnen die Zusammenhänge zwischen Kreativität, Innovation, Kultur und Führungsverhalten zu vermitteln und Anreizsysteme schaffen, welche die Führungskräfte dazu veranlassen, ein entsprechendes Führungsverhalten zu zeigen. Also die ggf. notwendige Anpassung des Führungsstils hin zu einem delegativeren Führungsverhalten bzw. hin zur Transformationalen Führung. Einige Führungskräfte müssen lernen, es auszuhalten, Mitarbeitern Freiräume zu gestatten. Auch die veraltete Annahme, man könne Wissensarbeiter beim arbeiten – analog einem Fließbandarbeiter – beobachten, sollte mit den Führungskräften thematisiert werden. Gute Ideen bzw. Innovationen entstehen nicht bei starrem Blick auf das leere Blatt, manche dieser Ideen finden ihren Weg in das Bewusstsein beim Joggen, beim Kaffeetrinken oder zu anderen Gegebenheiten, in denen man eben nicht verkrampft auf ein leeres Blatt schaut. Durch die Anpassung des Führungsstils könnte sich das Verhalten der Mitarbeiter langsam wandeln, Mitarbeiter lernen so, (neue) Freiräume zu nutzen, haben keine Angst mehr vor „Falschen Ideen“ und überdenken den Status Quo eigenständig. Auf diesem Wege könnte sich eine ganz neue, innovative Unternehmenskultur etablieren. Immer vor dem Hintergrund, dass Führung vielen Einflussfaktoren unterliegt (vgl. Rahmenmodell der Führung nach Nerdinger, 2012).
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Rolle der Geschäftsleitung Viele Geschäftsführer oder Vorstände sind so „weit weg“ von den Mitarbeitern – im Besonderen in größeren Unternehmen – dass die Mitarbeiter nur spekulieren können, was auf den oberen Ebenen so passiert, gedacht und gewünscht wird. In Hinblick auf Innovationsförderung erscheint es hier günstig, wenn auch die „oberste Führungs-Rige“ z. B. in Gestalt des Geschäftsführers deutlich macht, dass Innovationen erwünscht sind und Fehler, die auf diesem Wege der „Neuerfindung von Lösungen“ entstehen, in Ordnung sind. Wenn die Mitarbeiter den Eindruck bekommen, dass zwar die eigene Führungskraft (z. B. der jeweilige Abteilungsleiter) Kreativität schätzt, sich aber damit gegen den Willen des Vorstands, Geschäftsführer, o.ä. stellt, kann dies ein ernstzunehmendes Hemmnis darstellen. Erarbeitung einer gemeinsamen Unternehmens-Vision Wenn sich z. B. die Unternehmenskultur in einem großen Versicherungs-Konzern – in dem der Erhalt des bislang gelebten bisher wichtiger war, als die Veränderung der Unternehmenskultur ( z. B. zugunsten einer Marktanpassung), – verwandeln soll, müssen zunächst sogenannte Trägheitsbarrieren (Snyder & Cummings, 1998) überwunden werden. Den Führungskräften muss die Notwendigkeit der Veränderung verdeutlicht werden (siehe „Führungskräfteschulungen“) und sie müssen sodann, sobald es darum geht, das neue Selbstverständnis der Organisation zu entwickeln, mit eingebunden und in die Verantwortung genommen werden. Auch Führungskräfte müssen geführt werden. Im besten Falle verständigen sich die Führungskräfte der erste Ebene auf eine gemeinsame Vision der Unternehmenskultur und vermitteln diese dann durch ihr eigenen Führungsverhalten auch den anderen Führungskräften und den Mitarbeitern (siehe auch „Transformationale Führung als Innovationsförderung“). Damit auch die Mitarbeiter die neue Vision verinnerlichen können, muss ihnen Zeit gegeben werden und die auftretende Skepsis sollte für einen bestimmten Zeitraum Gehör finden. Veränderungen sind für Menschen (privat und beruflich) immer eine Herausforderung, besonders dann, wenn sie nicht selbst gewählt sind. Ein behutsames Vorgehen ist also angeraten. Günstig ist, zu kommunizieren, wie genau der Zielzustand aussehen soll und welche Vorteile dieser erreichte Wandeln dann bietet. Die Mitarbeiter brauchen eine gemeinsame Vision im Sinne eines Zielbildes. Das eine gemeinsame Vision die Leistung der Mitarbeiter positiv beeinflussen kann zeigt sich der Forschung zu „Shared Mental Models“ (vgl. Mathieu et al., 2000). Diese „geteilten mentalen Modelle“ – also zum Beispiel die Vision zur Zukunft des Unternehmens – helfen Mitgliedern eines Team, aufkommende Schwierigkeiten besser zu überwinden: Wenn man weiß, dass man letztendlich nach Rom möchte, die geplante Fahrt mit dem Auto aber nicht stattfinden kann, so kann man sich andere, sogar bislang unbekannte Reisemöglichkeiten erdenken. Eine typische Aufgabe der Mitarbeiter besteht wohl seltener darin, nach Rom zu gelangen. Eine wahrscheinlichere Aufgabe, um in dem bereits benutzen Beispiel zu bleiben, könnte die Beantwortung der Frage: Wie kann eine Versicherung ohne Außendienst bzw. in Zeiten
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der Digitalisierung aussehen?“ lauten. Wenn die Mitarbeiter wissen, wie die Zusammenarbeit oder die Unternehmenskultur, etc. zukünftig aussehen soll, befähigt sie das, in Entscheidungssituationen – vor allem bei der Auswahl unbekannter Lösungswege – für das Unternehmen günstigere und passendere Entscheidungen zu treffen. Halten Führungskräfte solche Vorstellungen über die Zukunft vor den Mitarbeitern „geheim“ oder wissen selbst nicht genau wie sich das Zielbild gestalten soll – werden die Mitarbeiter häufiger fragen müssen, weniger selbstständig arbeiten können und mit geringerer Wahrscheinlichkeit (im Sinne der Transformationalen Führung) intellektuell stimuliert werden. Um die Entstehung von Innovationen in Zeiten der Veränderung anzuregen, ist die Konstruktion und anschließende Kommunikation einer Vision oft förderlich. Teamentwicklung Wie geschildert hat auch die Arbeitsgruppe auf verschiedenen Ebenen Einfluss auf die Entstehung von Innovationen. Da Führungskräfte bei der Gestaltung eines innovationsförderlichen Gruppenarbeitsklimas zwar wichtig, aber nicht die einzige Einflussgröße sind, sollte die Möglichkeit bestehen, die Gruppendynamik und das Miteinander in der Gruppe durch entsprechende Teamtrainings bzw. Workshops zur Zusammenarbeit durch einen Experten zu unterstützen. Anzuraten ist auch – wie oben geschildert – die Erstellung einer zukunftsfähigen Vision der Zusammenarbeit. Die Gruppe sollte dazu angeleitet werden, eigene Regeln der Zusammenarbeit festlegen zu können. Auf fachlicher Ebene können auch verschiedene Techniken (Synektik, Morphologische Analysen, etc.) unter Anleitung zusammen mit der Gruppe ausprobiert und bewertet werden, ein Überblick solcher Techniken findet sich unter anderem im Lehrbuch für Personalpsychologie von Schuler und Kanning (2014). Auch hier sollte (wie bei der Personalauswahl und grundsätzlich allen Personal entwicklungsmaßnahmen) darauf geachtet werden, dass die anberaumte Maßnahme einen sichtbaren Bezug zur Arbeitswelt aufweist. Hilfreich ist es hier, den gesunden Menschenverstand nicht auszuschalten. Wenn die Wirkmechanismen einer Maßnahme nicht erklärt werden können, gibt es wahrscheinlich keine Wirkung, abgesehen vom Bereicherungseffekt seitens des Anbieters. Wenn Mitarbeiter im Rahmen eines Workshops gebeten werden, mittels Kinderspielzeug etwas zu „bauen“, kann die Akzeptanz des Workshops darunter leiden und das gesetzte Ziel – mehr Innovationen durch spezielle Techniken – verfehlt werden. Grundsätzlich gilt für alle Personalauswahl und -entwicklungsmaßnahmen Kann die Wirkung der Maßnahme nicht erklärt werden, wird die Maßnahme vielleicht sogar mystifiziert oder beinhaltet eine Maßnahme eine unglaubliche Vielzahl an Wirkungsfeldern – so ist davon auszugehen, dass es sich eher um ausgedachte, denn um wissenschaftlichfundierte Werkzeuge handelt. Manch einer mag sich denken, dass dies doch wohl klar sei und man einen Management-Posten wohl nicht erreicht hätte, würde man solch märchenhaften Angeboten auf den Leim gehen – leider zeichnet die Praxis ein anderes Bild.
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In der Personalentwicklung einiger Unternehmen kommen sogar Personal entwicklungsmaßnahmen mit einer Art „Zauber-Algorithmus“ zum Einsatz, welcher nicht nur die Persönlichkeit des Mitarbeiters, sondern auch deren Werthaltung, berufliche Eignung und moralische Ausrichtung ermitteln können soll. Grundsätzlich können Maßnahmen zur Personalentwicklung das kreative Denken und ggf. die Entstehung von Innovation anregen, sie sind jedoch kein Allheilmittel und werden auch einen weniger kreativen Mitarbeiter nicht in einen maximal kreativen Mitarbeiter verwandeln. Fazit Es zeigt sich, dass sowohl der Begriff Innovation, als auch der Begriff Kreativität bei näherer Betrachtung in mehrere Unterfacetten zerfallen. Diese Vielschichtigkeit der beiden Begriffe gepaart mit der inhaltlichen Schnittmenge beider Konstrukte – die oft sogar zu einer Gleichsetzung von kreativen Ideen und Innovation führt – erschwert an vielen Stellen die Bewertung, ob ein Unternehmen innovativ ist oder nicht. Um aussagekräftige Antworten liefern zu können, muss festgelegt sein, woran sich die Innovationskraft eines Unternehmens bemisst. Ist es die Anzahl der kreativen Ideen? Ist es die Höhe der tatsächlichen Umsetzungsquote der vorhandenen kreativen Ideen? Auch die Frage, ob die Innovation nach außen hin sichtbar sein muss ist interessant, da z. B. die Prozessinnovationen für Außenstehende gar nicht messbar sind. Die Notwendigkeit der genauen Definition führt zuweilen in der Literatur rund um Innovationen und Kreativität zu sehr heterogenen und sich vermeintlich widersprechenden Leitsätzen und Ratschlägen. Es erscheint empfehlenswert, vor der Beschäftigung mit den Themen Innovation oder Kreativität, genau zu prüfen, worin das eigene Anliegen besteht. Sind Sie der Geschäftsführer eines Startups und möchten die Innovationsfähigkeit erhöhen, so lohnt sich die Frage: „Woran messe ich Innovationsfähigkeit und woran würde ich überhaupt merken, dass sie steigt?“ Eine genaue Analyse des eigenen Anliegens verhindert das Aufspringen auf eine Buzzword-Diskussion, der am Ende mit plumpen Methodenvorschlägen begegnet wird (z. B. „Nutzen Sie doch einfach mehr Brainstorming und Design Thinking“). Es zeigt sich weiterhin, dass die Entstehung von Innovationen keine Selbstverständlichkeit ist, dass aber innerhalb eines Unternehmens viel unternommen werden kann, um kreative Leistungen und Innovationen zu fördern. Sobald ein Unternehmen bzw. die dort ansässigen Führungskräfte die Wichtigkeit zur Hebung des Innovativen Potenzials erkannt haben und erste Zusammenhänge zwischen Führungsverhalten und Organisationskultur klar geworden sind, ist schon einiges erreicht. Allerdings erfordert dies bei einigen – vor allem bei den schon lange im Amt befindlichen Führungskräften – ein Umdenken, dass zunächst oft nicht freiwillig erfolgt. Insbesondere wenn der Glaube an die Angemessenheit des bisherigen Verhaltens bei den Führungskräften hoch ist (Audia et al., 2000), ist die Bereitschaft zu einer solchen Veränderung eher sehr gering. Wenn die Notwendigkeit der Anpassung des Führungsverhaltens und der Änderung der Organisationskultur erkannt ist, gilt es dann, diesen dadurch entstehenden Change zu managen. Nach Überwindung aller Hemmnisse kann die Förderung von Innovationen sodann auf verschiedenen Ebenen angegangen werden:
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• Durch die Personalauswahl • Bei der Auswahl und Entwicklung von Führungskräften • Bei der Zusammensetzung von Arbeitsgruppen • Bei der Gestaltung des Arbeitsklimas innerhalb einer Arbeitsgruppe • Bei der (Weiter-) Entwicklung der Unternehmenskultur • Durch die Kommunikation und das Agieren der Geschäftsleitung (oder anderer Organe der Unternehmensführung) Wichtig ist – wie schon beschrieben – zu Beginn festzulegen, wie genau das anzusteuernde Ziel formuliert sein soll: Kreative Ideen fördern, um das Potenzial einzelner Mitarbeiter besser nutzen oder die Erträge des Unternehmens steigern oder durch die Erfindung einer disruptiven Innovation „berühmt werden“, bzw. „in die Medien kommen“ etc. Wenn das Ziel festgelegt ist, kann die Auswahl der passenden Möglichkeiten zur Innovationsförderung begonnen begonnen werden. Als günstige Voraussetzung erweist sich die Mitbenutzung des „gesunden Menschenverstandes“. Der Wunsch nach mehr Innovation und Kreativität sollte nicht im Einkauf von Zaubermethoden und Showeffekten münden. Kreativität und Innovation sind wichtige Komponenten erfolgreicher Unternehmen, aber es sind nicht die einzigen wichtigen Faktoren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Anforderungen an Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter stetig weiter verändern ist hoch. Alle anderen erforderlichen Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale zugunsten der hier benannten zu vernachlässigen, kann und soll hier natürlich nicht empfohlen werden. Unternehmen sind komplex, so auch die geforderten Eigenschafts- und Fähigkeitspakete und sogar das menschliche Miteinander selbst. Dennoch gibt es Mittel und Wege bei an verschiedenen Stellen im Einstellungsprozess, bei der Personalentwicklung, durch die Unternehmenskultur, etc. Fähigkeiten zu fördern. Diese Förderung sollte behutsam, humanistisch und unter Benutzung der eigenen kognitiven Fähigkeiten erfolgen. Gewaltsame Versuche Kreativität und Innovationen zu fördern, lassen sich sinnbildlich in das „ziehen an wachsenden Pflanzen“ übertragen. Zu viel Druck führt hierbei nicht zum gewünschten Resultat.
Literatur Audia, P., Locke, E., & Smith, K. (2000). The paradox of success: An archival and a labatory study of srategic persistence folloing radical enviromental change. In H. Schuler & U. Kanning (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie. Hogrefe. Axtell, C., Holmann, D., Unsworth, K., Wall, T., & Waterson, P. (2000). Shopfloor innovation: Faciliating the suggestion and impementation of ideas. In H. Schuler & U. Kanning (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie. Hogrefe. Blickle, G. (2014). Personalentwicklung. In F. W. Nerdinger, G. Blickle, & N. Schaper (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie. Springer. Gebert, D. (2004). Innovation durch Teamarbeit. Kohlhammer. Gerrig, R. (2018). Psychologie. Pearson. Guldin, A., & Gelléri, P. (2014). Förderung von Innovationen. In H. Schuler & U. Kanning (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie. Hogrefe.
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Guzzo, R., & Shea, G. (1992). Group performance and intergroup relationsin organizations. In H. Schuler & U. Kanning (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie. Hogrefe. Hauschildt, J., & Gemünden, G. (2005). Dimensionen der Innovation. In S. Albers & O. Gassmann (Hrsg.), Handbuch Technologie- und Innovationsmanagement. Springer. Jackson, S. (1996). The consequences of diversit in multidisciplinary work teams. In H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie- Gruppe und Organisation (S. 494–558). Hogrefe. Kanning, U. (2013). Wenn Manager auf Bäume klettern. Mythen der Personalentwicklung und Weiterbildung. Pabst. Kaschube, J., & von Rosenstiel, L. (2004). Trainig von Führungskräften. In H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie – Grundlagen und Personalpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie. Hogrefe. Mathieu, J. E., Heffner, T. S., Goodwin, G. F., Salas, E., & Cannon-Bowers, J. A. (2000). The influence of shared mental models on team process and performance. Journal of Applied Psychology, 85, 273–283. Nerdinger, F. W. (2014). Führung von Mitarbeitern. In F. W. Nerdinger, G. Blickle, & N. Schaper (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie. Springer. Neyer, F., & Asendoprf, J. (2018). Psychologie der Persönlichkeit. Springer. Schuler, H., & Görlich, Y. (2007). Kreativität. Hogrefe. Schuler, H., & Kanning, U. (2014). Lehrbuch der personalpsychologie. Hogrefe. Schuler, H., Gelléri, P., Winzen, J., & Görlich, Y. (2013). Diagnose berufsbezogener Kreativität – Planung und Gestaltung (Testmanual). Hogrefe. Rosenstiel, L. v. (2009). Grundlagen der Führung. In F. W. Nerdinger, G. Blickle, & N. Schaper (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie. Springer. Rosenstiel, L. v., & Wegge, J. (2004). Führung. In H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 2 – Gruppe und Organisation. Enzyklopädie der Psychologie. Hogrefe. Ross, L. (1977). The intuitive psychologst and his shortcomings. In R. Gerrig (Hrsg.), Psychologie. Pearson. Runco, M. (1991). Divergent thinking. Norwood, NJ: Ablex. In J. Gerrig (Hrsg.). Psychologie. Pearson. Rosenstiel, L. v., & Wegge, J. (2004). Führung. In H. Schuler (Hrsg.), OrganisationspsychologieGruppe und Organisation (S. 494–558). Hogrefe. Wegge, J. (2014). Gruppenarbeit und Management von Teams. In H. Schuler & U. Kanning (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie. Hogrefe.
Prof. Dr. Sabrina Krauss ist Professorin für Psychologie und leitet seit 2018 die psychologischen Studiengänge der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Seit 2020 hat sie zusätzlich die Leitung des SRH Campus Rheinland inne. Darüber hinaus berät sie Wirtschafts-Unternehmen, coacht Führungskräfte und forscht zu den psychologischen Auswirkungen der Digitalisierung sowie Social Media und dem Zusammenhang von Langeweile und Kreativität.
Identifikation von Objekten – eindeutig, fälschungssicher und innovativ Gerd Wintermeyer
1 Einleitung Die Aufgabe einer Supply Chain besteht darin, den Warenfluss, Finanzfluss und Informationsfluss einer Wertschöpfungskette zu planen, zu steuern und zu koordinieren. Die Supply Chain erstreckt sich dabei typischerweise von den jeweiligen Erzeugern der Primärgüter über mehrere Produktionsstufen bis zu dem konsumierenden Endverbraucher. Dabei muss eine Supply Chain so gestaltet sein, dass diese Aufgabe auch unter den Bedingungen wettbewerbsintensiver Märkte funktioniert, was in der Regel hohe Anforderungen an Kosteneffizienz, Flexibilität und Transparenz stellt. Weiterhin müssen Supply Chains die jeweils gültigen oder in Zukunft absehbaren legalen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Erwartungen einhalten. Das können beispielsweise Im- oder Exportbeschränkungen sein, Zollregularien, Informationen über anteilige Treibhausgasemissionen, Land- und Ressourcenverbrauch oder auch die Gewähr für die Einhaltung von Sozialstandards über alle Wertschöpfungsschritte und beteiligten Unternehmen hinweg. Zur erfolgreichen Bewältigung dieses breiten Spektrums an Aufgaben sind eine Vielzahl organisatorischer, technischer, personeller und infrastrukturgebundener Voraussetzungen oder auch Befähigungen notwendig, die mal besser, mal weniger gut von den an einer Supply Chain beteiligten Unternehmen und Volkswirtschaften erfüllt werden.
G. Wintermeyer (*) SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_2
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Es existiert jedoch eine grundlegende Befähigung, die eine Supply Chain besitzen muss und die in ihrer Bedeutung die anderen Befähigungen überragt bzw. erst möglich macht. Um im Bild einer Supply Chain – einer Kette – zu bleiben, ist dieses zentrale Kettenglied die Befähigung, die einzelnen Objekte innerhalb der Supply Chain zu kennen. Dort, wo lediglich Stückzahlen eines bestimmten Artikels oder einer bestimmten Charge relevant sind, müssen Mengen, Mengenabweichungen oder geänderte Chargen gezählt und erkannt werden. Wenn Artikel sich beispielsweise durch eine Serialnummer unterscheiden, muss der einzelne Artikel korrekt erkannt werden. Wo die Integrität einer Supply Chain durch den fahrlässigen oder vorsätzlichen Austausch höherwertiger durch minderwertige Artikel gefährdet ist, muss die Echtheit der Waren wie auch die Konsistenz des den Warenfluss begleitenden Informationsflusses gewährleistet werden. Parallel zur Etablierung des Konzeptes der Supply Chain im Lauf der letzten Jahrzehnte sind unterschiedliche Technologien entstanden und zum Einsatz gekommen, die bei der Aufgabe des Identifizierens und Zählens von Supply Chain Objekten unterstützen. Einige dieser Technologien sind neu, andere blicken auf eine längere Entstehungsgeschichte zurück, sind jedoch ebenfalls kontinuierlich weiterentwickelt, verfeinert und an die speziellen Anforderungsprofile aktueller Supply Chains angepasst worden. Einzelne Technologien wurden in Fachkreisen sowie einer interessierten Öffentlichkeit zeitweise sehr intensiv diskutiert, nur um später wieder in den Hintergrund zu rücken und auf eine anschauliche Weise das Wirken des von Gartner beschriebenen Hype-Zyklus zu illustrieren (vgl. Fenn & Raskino, 2008, S. 8 f.). Als Beispiele seien hier RFID oder Blockchain genannt. Andere Technologien, die von ihrer praktischen Bedeutung her den beiden genannten vergleichbar sind oder diese sogar mit Blick auf Nutzen und Potenzial übertreffen, geraten bei Betrachtungen zum Thema Identifikation in der Logistik schnell in den Hintergrund und sind bestenfalls ausgewählten Spezialisten bekannt. Im nächsten Kapitel werden funktionale Anforderungen an Identifikationssysteme beschrieben. Ausgehend von konkreten Prozessanforderungen innerhalb exemplarisch ausgewählter Supply Chains werden die von der Befähigung „Identifikation“ geforderten Eigenschaften im Detail dargestellt. Basierend auf diesen Detailanforderungen wird eine Klassifizierung der funktionalen Anforderung „Identifikation“ in verschiedene Kategorien vorgenommen, die einen Abgleich mit den Möglichkeiten der unterschiedlichen verfügbaren Technologien erlaubt. Das anschließende Kapitel gibt einen Überblick der unterschiedlichen Technologien und verdeutlicht die grundlegende Funktionsweise. Einzelne Anwendungsfälle der Logistik werden aufgegriffen und dargestellt, wie unterschiedliche Technologien im Verbund miteinander eingesetzt werden, um im Laufe der Zeit immer komplexer werdende Aufgaben zu erfüllen. Zum Abschluss dieses Artikels wird der Blick auf Anwendungsbeispiele innerhalb des Supply Chain Managements gelenkt, die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Nutzung von Identifikationssystemen zeigen und erkennen lassen, warum trotz des bereits erreichten technologischen Levels kontinuierlich weitere Entwicklungsaufwendungen getätigt werden.
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2 Grundsätzliche Überlegungen zur Identifikation 2.1 Identifikation in der historischen Entwicklung Der Vorgang der Identifikation ist gleichbedeutend mit dem Erkennen charakteristischer Eigenschaften eines Objektes (natürlich oder menschengemacht) oder eines Lebewesens (Mensch oder Tier) und dem Einteilen in eine bestimmte Kategorie. Die Kategorie kann eng gefasst ein einzelnes Lebewesen oder Objekt sein, was dann zu der Aussage „das ist Hans“ oder „das ist das Fahrrad mit der Rahmennummer abc123“ als Folge einer erfolgreichen Identifikation führt. Es kann aber auch eine breiter gefasste Kategorie wie „das ist ein Freund“ oder „das ist eine Amphore Wein aus Phönizien“ sein, die es zu identifizieren gilt. Ohne technische Unterstützung erfolgt die Identifikation mit Unterstützung unserer Sinnesorgane. Wir nehmen Informationen auf, die wir abgleichen mit Informationen, die in unserem Gedächtnis oder anderen zur Identifikation verwendeten Datenträgern wie Fotos oder schriftlichen Dokumenten gespeichert sind. Die Informationen können mit dem Auge wahrgenommen werden und Merkmale wie Gesichtszüge oder Aussehen und Farbe von Artikeln beinhalten, aber auch akustische, haptische oder olfaktorische Wahrnehmungen umfassen. Wenn die zur Identifikation vorgesehenen Objekte (oder Lebewesen) keine Merkmale besitzen, die eine ausreichend detaillierte Identifikation erlauben, können zusätzliche Merkmale angebracht werden. Beispiele dafür sind uns bereits aus der Antike bekannt und überliefert. Die Skythen, von denen Herodot in seinen Historien vor über 2400 Jahren berichtete, besaßen tätowierungsartige Hautverzierung, die ihre Stammeszugehörigkeit und möglicherweise auch Status oder Funktion aufzeigten (siehe hierzu Parzinger, 2004, S. 7 f. sowie S. 119– 123). Griechische Händler verwendeten bereits in vorrömischer Zeit spezielle Symbole, um Inhalt und Eigentümerschaft von Fässern und anderen Ladungsträgern anzuzeigen (Scheibler, 1995, S. 144–148). Zur Identifikation einzelner Objekte werden spätestens seit dem 19. Jhd. Seriennummern verwendet, mit denen einzelne Artikel, aber auch Ausweisdokumente, Banknoten oder Vertragsdokumente identifiziert werden. Die Seriennummern werden je nach Artikeltyp von außen erkennbar so auf dem Objekt angebracht, dass ein Verfälschen erschwert oder unmöglich gemacht wird. Die Firmen Gustav Becker (Ermert, 2021) wie auch Singer (Nähzentrum Braunschweig, 2021) verwendeten bereits vor 1870 Seriennummern, um ihre Produkte, Uhren bzw. Nähmaschinen, eindeutig zu identifizieren. Becker startete mit einer dreistelligen Nummer, die später aufgrund des erhöhten Produktionsvolumens auf 4, dann auf 5 und dann auf 6 Stellen erweitert werden musste. Singer startete mit einer sechsstelligen Nummer, die später auf sieben Ziffern, dann auf eine Kombination von sieben Ziffern und einem Buchstaben und dann auf sieben Ziffern und zwei Buchstaben erweitert wurde. Eine eindeutige Identifikation eines einzelnen Objektes ist mit diesen frühen Systemen nur möglich, wenn die Objektkategorie bekannt
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ist („dies ist eine Singer-Nähmaschine aus dem 19. Jhd.“) und die Systematik der Seriennummern rechtzeitig angepasst wurde, bevor Doubletten entstanden. Allein die Aussage, dies ist die Seriennummer AY123456, reicht nicht zur Identifikation eines Objektes. Neben firmenspezifischen Verfahren zur Identifikation einzelner Produkte gab es verschiedene Ansätze, Nachahmern und Fälschern durch Einführung von Klassifizierungsschemata auf der Ebene von Produkten, Produktgruppen oder auch kompletten Herstellungsländern das Leben zu erschweren. Ein auslösendes Momentum dieser Entwicklung ist verbunden mit der Aussage „Deutsche Waren sind billig und schlecht“ (siehe hierzu Braun, 1985, S. 106–114), die 1876 auf der Weltausstellung von Philadelphia getätigt wurde. Um vermeintlich minderwertige Waren – unter anderem aus dem Deutschen Reich – problemlos identifizieren zu können, wurde 1887 vom englischen Parlament der „Merchandise Marks Act“ verabschiedet (Payn, 1888, S. 1–8), der die Kennzeichnung von Waren mit einem Herkunftslandkennzeichen wie etwa „Made in Germany“ verlangte. Ironischerweise führte dies in Zeiten der deutschen Teilung dazu, dass Produkte aus der DDR teilweise mit „Made in Germany“, teilweise aber auch mit „Made in GDR“ und Produkte aus der BRD zur Differenzierung mit „Made in West Germany“ gekennzeichnet wurden. Auch diese Kennzeichnung der Waren erfolgt vergleichbar dem Aufbringen einer Seriennummer dergestalt, dass die Herkunft gut erkennbar und nicht einfach zu verfälschen ist. Eine Weiterentwicklung der Idee, das Herkunftsland zu identifizieren, stellte das 1891 vereinbarte Madrider Abkommen über die internationale Registrierung von Marken dar. Hier wurde ein Regelwerk entwickelt, mit dem weltweit eindeutig Marken (engl.: marks) registriert und als Identitätsmerkmal zur Kennzeichnung von Produkten verwendet werden können. Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis Systematiken entwickelt wurden, mit denen auf eine eindeutige und widerspruchsfreie Art ein Artikel gekennzeichnet und identifiziert werden kann. Das „Uniform Grocery Product Code Council“, ein Verband USamerikanischer Unternehmen der Lebensmittelindustrie, führte 1973 den Universal Product Code (UPC) ein, mithilfe dessen ein Artikel durch eine 12-stellige Nummer identifiziert wird. In verschiedenen europäischen Ländern wurde ab 1976 die European Article Number (EAN) in einer dreizehnstelligen Variante (EAN-13) und einer achtstelligen Variante (EAN-8) zur Identifikation von Objekten auf der Ebene eines Artikels verwendet. Sowohl die UPC wie auch die EAN Systematik entstanden im engen Zusammenhang mit der Entwicklung von Strichcodes, die auf den jeweiligen Artikeln aufgebracht werden konnten. Beide Codierungssysteme verfolgten dabei mehrere Ziele gleichzeitig: • Etablierung einer Systematik, mit der ein Artikel eindeutig benannt ist • Artikel werden mit einem Merkmal versehen, das eine eindeutige Identifikation erlaubt • Unterstützen einer damals noch neuen Technologie, des Erfassen von Strichcodes mit Lesegeräten, die eine teil- oder vollautomatische Erfassung des Objektes ermöglicht
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Mit der Einführung von Strichcodes, Lesegeräten, UPC und EAN wurde die Basis für eine schnelle Ausbreitung dieser Identifikationsmethoden in der Logistik geschaffen. Die Verfügbarkeit dieser Identifikationsmöglichkeiten ist mit dafür verantwortlich, dass das Supply Chain Management als neu entstehende Disziplin sehr stark durch den Einsatz neuester technologischer Möglichkeiten geprägt wurde. Eine erfolgreiche Identifikation erzeugt Informationen über Objekte innerhalb einer Supply Chain. Folgerichtig zeigt die Definition einer Supply Chain als das Koordinieren von Waren- und Informationsflüssen die enge Verbindung zwischen Identifikationstechnologien und Supply Chain Management.
2.2 Identifikation als systemische Aufgabe Die im vorigen Kapitel genannten Beispiele zur historischen Entwicklung der Kunst der Identifikation umfassen ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansätze, die teilweise miteinander gekoppelt, teilweise unabhängig voneinander zum Einsatz kommen können. Anhand der aufgezeigten Beispiele lässt sich ableiten, dass die Befähigung zur Identifikation in unterschiedlichen Kontexten nicht das Resultat einer einzelnen Technologie oder Erfindung ist. Identifikation ist vielmehr eine Aufgabe, die durch ein System zu lösen ist – ein Identifikationssystem, innerhalb dessen unterschiedliche Komponenten miteinander zusammenwirken müssen. Die Komponenten können unterschiedlich ausgeprägt sein, umfassen aber von den Aufgaben her die in den folgenden Abschnitten beschriebenen vier Themenfelder.
2.2.1 Systematik der Benennung Die erste Frage, die beim Aufbau eines Identifikationssystem zu klären ist, befasst sich damit, in welcher Granularität was für eine Kategorie identifiziert werden soll, wie die Kennung konkret aussieht und wie stark formalisiert das Verfahren der Vergabe einer Identifikationskennung ist. Im einfachen Fall fängt ein phönizischer Weinhändler damit an, seine Initialen auf seine Amphoren zu schreiben. Alle interessierten Geschäftspartner nehmen das zur Kenntnis und betrachten die Signatur als eine Art Ursprungsnachweis und Güteversprechen. Wenn sich das Verfahren herumspricht, fangen einige Wettbewerber an, gleichartig vorzugehen und ihre eigenen Initialen anzubringen. Möglicherweise werden aber auch nicht die eigenen, sondern die Initialen eines erfolgreicheren Wettbewerbers angebracht. Das mag unter dem beschriebenen fiktiven Kontext zwar kein Gesetzesverstoß gewesen sein, aber immerhin ein früher Versuch des Plagiarismus oder der Produktfälschung. Ein komplexerer Fall besteht darin, dass beispielweise eine staatliche oder supranationale Organisation ein Klassifizierungsschema vorgibt, mit dem alle einzelnen Produkte bestimmter Kategorien wie beispielsweise Schusswaffen oder Fahrräder mit einem Identifikator versehen werden müssen, der in einem Zentralregister vorgehalten wird. Hier ist Form, Format und Art der Anbringung der Identifikationskennung vorgegeben. Eine Täuschung stellt einen Regelbruch dar, der geahndet werden kann.
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Mit dem UPC und EAN wurden erste Ansätze eines länderübergreifend eingesetzten Klassifizierungsschemas geschaffen. In den folgenden Kapiteln werden Verfahren vorgestellt, die teilweise Nachfolger von UPC und EAN sind, unterschiedliche Granularitäten der Klassifizierung unterstützen und Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnik integrieren.
2.2.2 Aufbringung der Identifikationsmerkmale Das nächste im Rahmen eines Identifizierungssystems relevante Themenfeld beschäftigt sich mit der Frage der Aufbringung von Identifikationsmerkmalen. Im einfachsten Fall muss kein zusätzliches Merkmal aufgebracht werden, ein Lebewesen oder Objekt kann (mit für den angedachten Zweck ausreichender Sicherheit) auch ohne dieses Merkmal identifiziert werden. Dies kann bei der Personenidentifizierung durch visuelle oder systemgestützte Gesichtererkennung erfolgen oder bei einzigartigen Objekten („der Eiffelturm“) durch ihr unverwechselbares Aussehen. Es kann sich um Vorgaben handeln, wie eine Fahrgestellnummer oder ein Herkunftslandsiegel auszusehen hat, wie groß sie zu sein haben und wie diese an dem Objekt anzubringen sind. Um das zu verdeutlichen, betrachten wir ein Beispiel aus der Logistik. Abb. 1 zeigt ein Beispiel einer Containernummer, die auf Containern anzubringen ist. Der internationale Standard ISO 6346 regelt, wie die Containernummer aufgebaut ist und welche Organisation eindeutige Nummern vergibt. Damit ist in dieser Norm die im vorigen Abschnitt besprochene Systematik der Identifizierungsmerkmale klar geregelt. Die Norm ISO 6346 regelt darüber hinaus, wie, in welcher Größe und wo die Containernummer an einem Container anzubringen ist und legt damit die Art der Anbringung des Identifikationsmerkmals fest. Viele Verfahren zur Aufbringung von Identifikationsmerkmalen stehen im engen Zusammenhang mit der Art, wie der Erkennungsvorgang oder das Auslesen stattfinden soll. So macht das Aufbringen eines Strichcodes nur dann Sinn, wenn auch ein Barcodeleser in irgendeiner Form verwendet werden soll. Der Einsatz von Transpondern
Abb. 1 Aufbau einer Containernummer gemäß ISO 6346. (Eigene Darstellung)
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als Identifikationsmerkmal ist gleichfalls ohne dazu passende Lesegeräte nicht vorstellbar. In den folgenden Kapiteln werden die verschiedenen Möglichkeiten zur Anbringung von Identifikationsmerkmalen im Kontext der Beschreibung verschiedener Verfahren zur automatisierten Identifikation detaillierter behandelt.
2.2.3 Durchführung des Lesevorgangs Objekte oder Lebewesen, die irgendeinem Identifikationsschema unterliegen, werden zu bestimmten Ereignissen identifiziert. Jeder Versuch einer Kennung und Identifikation stellt einen Lesevorgang dar. Ein von einer Person durchgeführter Lesevorgang ist in seiner Umsetzung und Genauigkeit geprägt von unseren Sinnesorganen. Je nach Art der zu lesenden Identifikationsmerkmale nutzen wir unsere Augen, um Ziffern zu lesen, Gesichtszüge zu erkennen und gegebenenfalls mit Fotos zu vergleichen oder um ein Objekt anhand seines charakteristischen und unverwechselbaren Aussehens zu identifizieren. Der Tastsinn kann hinzukommen, wenn etwa eine eingeprägte Seriennummer gefühlt wird, in selteneren Fällen auch der Geruchssinn oder das Gehör. Insbesondere im Bereich des Supply Chain Managements gibt es ein breites Spektrum an technischen Lösungen, die ein maschinelles, automatisiertes Identifizieren ermöglichen sollen. Ziel des automatischen Identifizierens, häufig auch als Auto-ID abgekürzt, ist es, Identifikationen schneller, weniger fehlerträchtig, weniger anfällig für menschliche Manipulationen und kostengünstiger durchzuführen. Auch wenn Auto-ID häufig nur mit dem Auslesen von Strichcodes oder von RFID-Transpondern in Verbindung gebracht wird, kommt dennoch im Prinzip das komplette Spektrum an Sensorik zur Durchführung eines automatischen Lesevorgangs infrage, das menschliche Sinnesorgane ersetzt. Darauf aufbauend haben sich zwei Hauptströmungen im Bereich der Auto-ID Verfahren etabliert. Einerseits gibt es die zwei in der Logistik meistverwendeten Verfahren, der Einsatz von optischen Codes und der Einsatz von RFID. Beiden Verfahren ist gemein, dass die verwendeten, in der Regel an Objekten angebrachten Identifikationsmerkmale (Etiketten mit Codes oder Transponder) von Menschen ohne technische Unterstützung nicht ausgelesen werden können. Die Entwicklung dieser genannten Verfahren konzentriert sich darauf, im Wechselspiel zwischen Lesegeräten und anzubringenden Identifikatoren ein Prozessoptimum zu erreichen. Die Entwicklungen in diesem Umfeld werden im folgenden Kapitel detailliert dargestellt. Parallel dazu existiert ein breites Feld an Entwicklungen, die zum Ziel haben, Objekte oder Personen auf eine Weise zu identifizieren, die vergleichbar mit der Identifikation durch menschliche Sinnesorgane ist. Technische Treiber hierbei sind primär Verfügbarkeit und Preisdegression bei Digitalkameras, die Möglichkeit, große Datenmengen zu übermitteln und die rapiden Fortschritte bei der Entwicklung von Softwarealgorithmen, die Form- und Mustererkennung durchführen. Ein Beispiel dafür sind die an Mautbrücken angebrachten Kameras, die nicht nur Digitalbilder der durchfahrenden Fahrzeuge aufnehmen, sondern mittels Mustererkennung die Nummernschilder erkennen und die darauf aufgebrachten Kennzeichen identifizieren. Das Verfahren wird Optical Character Recognition (OCR) genannt. Ein anderes Beispiel sind die in ausgewählten
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städtischen Bereichen angebrachten Kameras, die ebenfalls ein Mustererkennungsverfahren einsetzen, mit dessen Hilfe jedoch nicht Fahrzeugkennzeichen, sondern Personen anhand ihrer Gesichtsmerkmale identifiziert werden. Aus Sicht des Supply Chain Managers ist das Attraktive an diesen Verfahren, dass die Erkennung flexibel mal manuell, mal automatisch durchgeführt werden kann und auf die Anbringung aufwendiger, nur technisch auslesbarer Identifikationsmerkmale verzichtet wird.
2.2.4 Sicherheit des Identifikationsvorgangs Ein weiteres zu betrachtendes Themenfeld zur Beschreibung von Identifikationssystemen beinhaltet die Vorkehrungen, die getroffen werden, um vorsätzliche oder versehentliche Fehllesungen zu vermeiden und Manipulationsversuche zu unterbinden. Fehler oder Manipulationen können in jedem der drei bisher genannten Themenfelder, der Systematik und Buchhaltung der Identifikationsmerkmale, der Anbringung der Merkmale und der Durchführung des Lesevorgangs entstehen. Hinzu kommen noch Risiken bei der Aufbereitung und Übermittlung der bei Identifizierungsprozessen entstehenden Daten. Bereits mit herkömmlichen Systemen zur Identifikation, bei denen Objekte mit einem Siegel oder Stempel als Kennung versehen sind, droht eine Fälschung durch Nachahmung der Kennung. Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit versuchten sich gegen derartige Täuschungsversuche durch schwer zu fälschende Siegel, aber auch durch gesellschaftliche Ächtung und hohe Strafen zu schützen. Das findet bis heute einen Widerhall in unserem Strafrecht (DeutscheAnwaltsauskunft, 2021). § 267 – Urkundenfälschung – greift bereits bei Delikten wie der Fälschung eines Stempels auf der Hand, um unberechtigt Eintritt zu einer Veranstaltung zu erlangen und ist mit einem vergleichsweise hohen Strafmaß im Vergleich zu anderen Gesetzesverstößen belegt. Auch wenn es auf den ersten Blick überraschen mag, ist die besondere Bedeutung der Behandlung der Urkundenfälschung im Strafrecht zurückzuführen auf das Bestreben, Fälschungen an Identifikationsmerkmalen zu verhindern. Vielen aktuellen Methoden im Kontext von Auto-ID Verfahren ist gemeinsam, dass unter Nutzung von Konnektivitätsmöglichkeiten im Moment der Lesung versucht wird, die Identifikation im Abgleich mit anderweitig vorgehaltenen Daten zu verifizieren. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Verwendung kryptografischer Methoden, die sowohl bei der eigentlichen Lesung und Übermittlung der Daten wie auch bei der Speicherung und Buchführung verwendet werden können. Letzteres wird bei Systemen, die Blockchains zur Sicherung von Lesevorgängen und damit assoziierten Transaktionen nutzen, sehr ausgeprägt umgesetzt.
3 Identifikation und Auto-ID Nachfolgend wird die Entwicklung und Funktionsweise einiger weit verbreiteter Identifikationssysteme beschrieben. Der Terminus „Identifikationssysteme“ impliziert, dass jeweils alle vier im vorigen Kapitel genannten Merkmale
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• Systematik der Nummerierung • Aufbringung der Identifikationsmerkmale • Lesung • Sicherheit Bestandteil dieser Systeme sind. Eine genauere Betrachtung der nachfolgenden Beispiele zeigt jedoch, dass typischerweise einzelne der genannten Merkmale Treiber der Entwicklung der einzelnen Technologien waren und die anderen Merkmale anderen Systemen entliehen wurden oder für die betrachtete Technologie nur von untergeordneter Bedeutung waren.
3.1 Optische Codes Mit optischen Codes werden Codierungssysteme bezeichnet, bei denen das Auslesen der Codemerkmale mit optischen Methoden erfolgt. Optische Methoden bedeutet, dass Licht eingesetzt wird (in der Regel im sichtbaren Bereich, bei einigen Spezialanwendungen auch Infrarot oder Ultraviolett), das auf den Identifikationsträger gestrahlt wird, von diesem reflektiert und dann von einem geeigneten fotosensitiven Lesegerät registriert, in analoge elektrische Signale gewandelt und anschließend weiterverarbeitet wird. Letztendlich sind auch die bereits in Abschn, 2.2.3 Durchführung des Lesevorgangs beschriebenen Methoden der Gesichtererkennung oder der Texterkennung mittels OCR optische Lesevorgänge. Da dafür jedoch kein explizites Codierungssystem zur Verschlüsselung von Nutzdaten verwendet wird, werden diese nicht in dem Abschnitt optische Codes mitbetrachtet.
3.1.1 Strichcodes Das aktuell weltweit mit großem Abstand meistverwendete Identifikationssystem beruht auf der Verwendung von Strichcodes, gelegentlich auch Balkencodes, 1D-Codes oder Barcodes genannt. Das Prinzip eines Strichcodes besteht darin, Nutzzeichen wie etwa Namen oder Zahlenfolgen gemäß einer Verschlüsselungsvorschrift als Folge von Strichen oder Lücken, die auf einem Trägermaterial aufgebracht sind, darzustellen. Ziel dieser Art der Darstellung von Nutzzeichen ist es, eine maschinelle Auslesung der Nutzdaten zu ermöglichen, die schneller, kostengünstiger und fehlerärmer gegenüber einer manuellen Auslesung der Nutzzeichen ist. Die Entwicklung und der Einsatz von Barcodes sind daher eng gekoppelt mit der Entwicklung geeigneter Lesegeräte und Möglichkeiten zum Weiterreichen und Verarbeiten der Nutzzeichen. Erste Entwicklungen zu Strichcodes gab es bereits in den 1930er Jahren, die jedoch nie bis zur Einsatzreife gelangt sind. Das erste Patent wurde 1952 an Norman Joseph Woodland und Bernard Silver für ein Barcodesystem mit einem kreisförmigen Muster erteilt (Woodland & Silver, 1952). Weiterentwicklungen in den beiden folgenden Jahrzehnten, die sehr stark von der Lebensmittelindustrie vorangetrieben wurden, führten schließlich bis 1973 bzw. 1977
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zu der Entwicklung von Strichcodes, mit denen die bereits erwähnten Produktklassifizierungsschemata UPC in den USA und EAN in Europa durch einen passgenau konzipierten Strichcode dargestellt werden konnten. Abb. 2 zeigt ein Beispiel eines EAN Barcodes, der nach dem Zusammenführen der EAN und UPC Schemata im Jahr 2005 als „Global Trade Item Number“ (GTIN) bezeichnet wird. Die letzte Ziffer des 13-steligen Codes wird als Prüfziffer bezeichnet. Sie ist nicht Teil der Nutzdaten, sondern berechnet sich aus den ersten zwölf Ziffern gemäß eines eindeutigen Berechnungsverfahrens (für die Interessierten: Das exakte Verfahren ist Modulo 10 mit der Gewichtung 3, beginnend mit der ersten Stelle). Falls eine der 13 Ziffern während des Lesevorgangs nicht korrekt gelesen wird, hat das in der Regel zur Folge, dass die Prüfziffernberechnung auf einen Fehler läuft. Dadurch kann das Lesesystem im Moment der Lesung einen Fehler erkennen und das Resultat verwerfen. Ein vergleichbares Verfahren der Nutzung von Prüfziffern wird in den meisten Auto-ID Codierungssystemen verwendet. Der Aufbau eines Strichcodes ist gekennzeichnet durch Striche und Lücken, die ein Zeichen ausmachen. Zum nächsten Zeichen gibt es eine Trennlücke, die größer als eine normale Lücke ist und eine Ruhezone, die den um einen kompletten Strichcode freizuhaltenden Bereich kennzeichnet. Sowohl die Striche wie auch die Lücken können unterschiedlich breit sein. Einige Strichcodesysteme unterscheiden lediglich zwischen schmalen und breiten Strichen bzw. Lücken. Andere hingegen wie GTIN-13 oder GS1-128 verwenden bis zu 4 unterschiedliche Breiten, was einerseits zu einer größeren Informationsdichte auf den Strichcodes führt, andererseits auch das Risiko einer Fehllesung erhöht. Die Gesamtmenge der heute verwendeten Strichcodesystem ist schwer überschaubar und umfasst genormte, in vielen Bereichen verwendete Systeme wie GTIN-13, aber auch proprietäre Systeme, die lediglich in einem eingeschränkten Umfeld eingesetzt werden. Die verschiedenen Systeme unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich ihres
Abb. 2 Aufbau des GTIN-13 (vormals EAN-13) Strichcodes
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verfügbaren Zeichensatzes, der von 10 Zeichen (nur numerisch) über 43 Zeichen (Ziffern und Buchstaben) bis zum dem kompletten ASCII Zeichensatz von 128 Zeichen reicht. Insbesondere bei den genormten Systemen mit einer Vielzahl von Anwendergruppen gibt es neben Codierungsregeln im Rahmen der jeweiligen Norm weitere Vorgaben hinsichtlich der Größe, der Größenverhältnisse zwischen schmalen und breiten Strichen, Kontrast und Reflexionswert in bestimmten Wellenlängenbereichen. Was unter Kontrast zu verstehen ist, ist beispielsweise in der Norm DIN 66 236 festgelegt. Eine zur Bewertung der Qualität von Strichcodes eingesetzte internationale Norm ist die ISO/ IEC 15416. Ziel dieser Normierungsansätze ist es, eine möglichst große Interoperabilität zwischen Strichcodes und Lesegeräten der unterschiedlichen Hersteller zu erzielen.
3.1.2 Lesesysteme für Strichcodes Die Triebfeder für die Entwicklung der Standardisierungssysteme UPC und EAN waren betriebswirtschaftliche Optimierungspotenziale, die bereits frühzeitig von Handelsunternehmen und der Lebensmittelindustrie erkannt wurden. Um Strichcodesysteme erfolgreich in die Praxis zu tragen, bedurfte es jedoch noch weiterer technologischer Durchbrüche. Woodland und Silver spekulierten in ihrer Patentanmeldung von 1952 noch über die Möglichkeit, ihre kreisförmigen Strichcodes durch ein fotosensitives Gerät (photosensitive apparatus) (vgl. Woodland & Silver, 1952) auszulesen. Am Ende sollte sich jedoch eine Lesetechnik durchsetzen, bei der eine Fotozelle nur einen kleinen Teil des Lesegerätes ausmacht. Ein weiterer Baustein für einen geeigneten Leseapparat wurde bereits viele Jahre vor Woodland und Silver theoretisch angedacht, stand jedoch erst nach der Patentanmeldung von 1952 zur Verfügung. Bereits 1916 beschrieb Albert Einstein die Möglichkeit einer stimulierten Emission von Photonen und legte damit das theoretische Fundament für den Bau von Lasern. Es dauerte jedoch bis 1960, um auf Basis dieser quantenmechanischen Überlegungen einen ersten funktionsfähigen Laser zu entwickeln. Durch die darauffolgende rasanten Entwicklung in der Lasertechnik standen in den 1970er Jahren leistungsfähige und kostengünstige Laser zum Einsatz in der Strichcodetechnik zur Verfügung. Abb. 3 zeigt den grundlegenden Aufbau eines Laserscanners, wie er seit den 1970er Jahren in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen zum Einsatz kommt. Die Grundlage des Signals ist ein kohärenter Lichtstrahl, der von einem Laser erzeugt wird. Der rotierende Polygonspiegel bewirkt, dass der Lichtstrahl über den auszulesenden Bereich eines Strichcodes hinweg läuft. Die bereits im vorigen Kapitel angesprochenen Unterschiede in der Reflexionsfähigkeit zwischen Linien und Lücken bewirken, dass das reflektierte Licht eine variierende Intensität aufweist, je nachdem, ob eine Lücke oder ein Strich erfasst wurde. Nach Bündelung durch eine Optik wandelt der Fotosensor den Lichtstrahl in ein analoges elektrisches Signal um, das anschließend weiterverarbeitet werden kann. Neben unterschiedlichen Varianten von Laserscannern kommen heute zunehmend Digitalkameras bzw. die diesen zugrunde liegende Technik, Charge-Coupled
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Abb. 3 Schematische Darstellung eines Laserscanners, angelehnt an (Datalogic, 2007, S. 67)
Devices (CCD), zum Einsatz. Damit wird ein Strichcode komplett und auf einmal aufgenommen, muss aber anschließend mit einem Softwarealgorithmus analysiert werden.
3.1.3 2D und 3D Codes Die Menge an Nutzdaten, die ein Strichcode transportieren kann, ist meist beschränkt wie etwa die 12 Stellen bei dem GTIN-13 Code. Auch bei den von der Länge her nicht begrenzten Strichcodesystemen sind mehr als 30–40 Stellen innerhalb eines Barcodes im praktischen Einsatz schnell unhandlich. Die Begrenzung des Volumens an Nutzdaten bei einem Strichcode hat dazu geführt, dass sich seit den 1980er Jahren weitere Codes etabliert haben, die auch als 2D oder 3D Codes bezeichnet werden und die primär zum Ziel hatten, das Volumen der einem Code immanierenden Daten zu erhöhen. Abb. 4 zeigt
Abb. 4 Prinzipieller Aufbau von 1D Codes und 2D Codes. (Eigene Darstellung, angelehnt an Datalogic, 2007, S. 5)
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schematisch den Aufbau eines Strichcodes oder 1-dimensionalen Codes und im Vergleich dazu 2 Varianten eines 2-dimensionalen Codes. Der Stapelcode stellt eine folgerichtige Weiterentwicklung des klassischen Strichcodes dar. Er besteht aus mehreren Strichcodes mit kurzen Strichlängen, die übereinandergestapelt sind. Das Nutzdatenvolumen erhöht sich linear mit der Anzahl der Stapelungen. Ein Matrixcode ist in seiner Struktur ein vollwertiger 2-dimensionaler Code, der die komplette zur Verfügung stehende Fläche zur Codierung verwendet. Das aktuell bekannteste Beispiel für einen Matrixcode ist der Quick Response (QR) Code, der 1994 von einem japanischen Automobilzulieferer entwickelt wurde. Abb. 5 zeigt ein Beispiel eines QR Codes. Er hat einen maximalen Informationsgehalt von 31.329 Bit, von dem jedoch je nach Fehlerkorrekturlevel nur ein Teil als Nutzdaten verwendet werden kann. Da es in unterschiedlichen Anwendungsbereichen den Bedarf gibt, noch größere Mengen an Nutzdaten auf einem optisch lesbaren Code anzubringen, gibt es diverse Entwicklungen, die mit dem leicht irreführenden Begriff 3D Code bezeichnet werden.
Abb. 5 Beispiel eines Quick Response oder QR-Codes. Benutzen Sie, sofern vorhanden, eine passende App auf Ihrem Smartphone und entschlüsseln Sie den Code
Abb. 6 Erste Patentschrift aus dem Jahr 1904 für eine RADAR-Anlage, auch wenn der Begriff RADAR (radio detection and ranging) noch nicht verwendet wurde
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Es handelt sich in der Regel um 2-dimensionale Codes, bei denen Farbeigenschaften wie Lichtwellenlänge, Sättigung oder Helligkeit für Striche und Lücken als virtuelle 3. Dimension für einen höhere Informationsdichte pro Flächeneinheit sorgen. Keine dieser Entwicklungen verfügt bisher über eine große Marktdurchdringung.
3.2 Radiofrequenz Identifikation (RFID) Der Begriff Radiofrequenz-Identifikation oder RFID umfasst alle Verfahren, die elektromagnetische Wellen in den typischerweise für funktechnische Zwecke verwendeten Frequenzbereichen zur Identifikation verwenden.
3.2.1 Frühe RFID Systeme Seit Beginn der Nutzung von Radiowellen für Übertragungszwecke gab es Ansätze, diese auch zu Identifikationszwecken einzusetzen. Bereits 1904 wurde von Christian Hülsmann bei dem kaiserlichen Patentamt ein „Verfahren, um entfernte metallische Gegenstände mittels elektrischer Wellen einem Beobachter zu melden“ angemeldet (Hülsmeyer, 1904). Es dauerte noch mehr als 30 Jahre, bis darauf aufbauend die ersten funktionsfähigen Radaranlagen entwickelt wurden, die im 2. Weltkrieg von den hauptkriegsführenden Parteien zur Identifikation von Schiffen und Flugzeugen verwendet wurden. Das Patent von Hülsmann wie auch die frühen Radaranlagen basieren darauf, dass von einer Antenne ein elektromagnetisches Signal ausgestrahlt wird, das von einem zu identifizierenden Objekt reflektiert wird. Das reflektierte Signal wird empfangen und die Empfangseinheit kann allein auf Basis dieses Signals diverse Aussagen treffen: • • • •
Existenz eines reflektierenden Objektes seine Größe oder Reflexionseigenschaften anhand der Laufzeit seine Entfernung aufgrund der Dopplerverschiebung des reflektierten Signals die Geschwindigkeit
Damit stellen bei einer etwas weiter gefassten Definition RADAR-Anlagen (auch diejenigen, die Autofahrer bei Geschwindigkeitsübertretungen erfassen) bereits ein RFID System dar. Eine Weiterentwicklung hin zu dem, was heute im engeren Sinn unter einem RFID System verstanden wird, fand ebenfalls bereits während des 2. Weltkriegs statt. Um zwischen eigenen und fremden Flugzeugen unterscheiden zu können, wurden die eigenen Flugzeuge mit einem Gerät ausgestattet, das von dem eigenen Radar aktiviert wurde und ein Signal, versehen mit einer bestimmten Kennung, aussendete. Das wiederum wurde von der stationären Radaranlage empfangen und ausgewertet.
3.2.2 Funktionsweise von RFID Systemen Die prinzipielle Funktionsweise dieser Identifikationstechnik ist in Abb. 7 dargestellt. Es gibt ein Lesegerät, das ein elektromagnetisches Signal aussendet. Dieses wiederum wird von einer weiteren, zu identifizierenden Einheit, empfangen. Der Empfang des ersten
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Abb. 7 Prinzipielle Funktionsweise eines RFID Systems
Signals aktiviert die zu identifizierende Einheit und diese sendet ein zweites Signal aus, das Informationen beinhalten kann, die von der Leseeinheit empfangen und ausgewertet werden können. Das zu identifizierende Objekt reflektiert also nicht nur wie bei einer Radaranlage die elektromagnetischen Wellen, sondern besitzt eine Einrichtung, die ein Sendesignal empfangen und darauf antworten kann. Diese beiden Funktionen, auf Englisch TRANSmit und resPOND, führten zu dem Begriff Transponder für das mobile Empfangs- und Sendegerät. Die Entwicklung im Bereich der Transponder wird anschaulich durch den Vergleich zwischen einem Beispiel aus dem Jahr 1943 (Abb. 8) mit Transpondern aus dem Jahr 2021, die in Größen unterhalb eines Millimeters Durchmesser gebaut werden können.
3.2.3 Klassifizierung von RFID Systemen Um zu einer sinnvollen Klassifizierung der unterschiedlichen RFID Systeme zu kommen, ist es notwendig, kurz darauf einzugehen, was die wesentlichen Vorteile von
Abb. 8 der FuG25a, ein Sende- und Empfangsgerät (Transponder) für deutsche Jagdflieger aus dem Jahr 1943 (Luftwaffe, 1943, S. 11)
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RFID Systemen im Supply Chain Management gegenüber der Verwendung optischer Methoden wie Strichcodes sind. Prinzipiell bieten RFID Systeme die folgenden zusätzlichen Möglichkeiten: • Das Auslesen eines Transponders kann ohne Sichtkontakt erfolgen • Mehrere Transponder können gleichzeitig ausgelesen werden, eine Eigenschaft, die auch Pulkerfassung genannt wird • Im Rahmen eines Lesevorgangs können Daten nicht nur ausgelesen, sondern auch in umgekehrter Richtung auf den Transponder geschrieben werden • Es können größere Datenvolumen gelesen oder geschrieben werden • Weitere Informationen wie Uhrzeit, Lokation und Sensordaten können vom Transponder erfasst und übermittelt werden • Die Sicherheit der Datenübertragung kann durch kryptografische Methoden erhöht werden Je nach Anwendungsszenario sind alle oder auch nur einige dieser Möglichkeiten gefordert, was entsprechenden Einfluss auf die Bauart der Transponder, die Lesegeräte, die verwendeten Frequenzbänder, die Energieversorgung, Kosten pro Transponder und weitere Charakteristika des für ein spezielles Szenario passenden RFID Systems hat. Die kurze Aufzählung einiger der Merkmale eines RFID Systems gibt einen Hinweis darauf, dass viele Freiheitsgrade bei der Konzeption eines RFID-Systems existieren. Eine Klassifizierung der verschiedenen RFID-Systeme muss diesen Freiheitsgraden Rechnung tragen. Diese Aufgabe wird zusätzlich erschwert durch die rapide technologische Weiterentwicklung, die sämtlich Komponenten von RFID-Systemen umfassen. Ursache dafür sind immer neue Anwendungsbereiche für RFID-Technologien, ein kontinuierlich wachsender Markt und immer mehr Unternehmen, die komplette RFID-Systeme oder einzelne Komponenten herstellen und intensive Forschungs- und Entwicklungsaufwände tätigen. Der Weltmarkt für RFID Systeme umfasst 2021 bereits mehr als 10 Mrd. US $ (Researchandmarkets, 2021) und wird voraussichtlich um 10 % oder mehr p.a. in den nächsten Jahren weiterwachsen. Nachfolgend wird eine grobe Klassifizierung von RFID Systemen anhand einzelner ausgewählter Merkmale vorgenommen. Für einen kompletten Überblick über die aktuellen Entwicklungen und die unterschiedlichen Systeme wird auf die umfangreiche Einzelliteratur oder zusammenfassende Darstellungen wie das RFID-Handbuch (Finkenzeller, 2015) verwiesen. Sende- und Antwortfrequenz Ein wesentliches Merkmal eines RFID Systems ist die verwendete Lesefrequenz sowie die Frequenz des Antwortsignals. Die in der Praxis verwendeten Frequenzbänder liegen in einem sehr weiten Bereich zwischen 100 kHz und 5,8 GHz. RFID Systeme sind Funkanlagen, die einer funktechnische Genehmigung bedürfen. Die verwendeten Sendefrequenzen beschränken sich daher meist auf weltweit zugelassene lizenzfreie Bänder, die für industrielle, wissenschaftliche und medizinische Zwecke zugelassen sind, die
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sogenannten ISM (industrial, scientific, medica)-Bänder. Die gewählte Sendefrequenz hat einen starken Einfluss auf die realisierbare Übertragungsbandbreite, Lesereichweite und Gestaltung der Energieversorgung der Transponder. Höhere Sendefrequenzen erlauben eine größere Lesereichweite und die Übertragung größerer Datenmengen. Bei AUTO-ID Verfahren im Supply Chain Management haben sich in den letzten Jahren aus Gründen der Übertragungsbandbreite vorwiegend Systeme durchgesetzt, die entweder im Hochfrequenzbereich (HF) bei 13,56 MHz oder im Ultrahochfrequenzbereich (UHF) bei etwa 860 MHz bis 960 MHz liegen. Speicher des Transponders Transponder lassen sich nach der Art der Daten, die sie speichern und übertragen können, in 3 Kategorien einteilen: • Read Only Memory (ROM): der Transponder besitzt eine Identifikationsnummer, die vom Hersteller bei der Produktion des Transponders in den digitalen Festwertspeicher des Chips aufgebracht wird und die nicht verändert werden kann • Write Once, Read Multiple (WORM): der Transponder kann von dem Anwender einmalig mit Daten beschrieben werden, die dann wiederholt ausgelesen werden können • Read/write: ein read/write Transponder kann je nach Anwendungsfall wiederholt beschrieben und ausgelesen werden Energieversorgung der Transponder Transponder benötigen Energie, um die für das Response-Signal erforderlichen elektromagnetischen Wellen zu erzeugen. In Bezug auf die Energieversorgung existieren zwei unterschiedliche Varianten von Transpondern, aktive und passive Transponder. Gelegentlich werden Mischformen von aktivem und passivem Transponder als dritte Variante bezeichnet. Aktive Transponder besitzen eine eigene Energiequelle, meist eine Batterie, zum Betrieb des Mikrochips und zum Senden der Daten an das Lesegerät. Passive Transponder besitzen keine eigene Energieversorgung. Sie werden durch die Energie der vom Lesegerät erzeugten elektromagnetischen Wellen aktiviert und verwenden diese zur Datenübertragung zurück an das Lesegerät. Je nach verwendeter Lesefrequenz erfolgt die Energieübertragung entweder durch induktive Kopplung bei geringer Lesereichweite und niedriger Frequenz oder durch elektromagnetische Kopplung im UHF Bereich. Mischformen können beispielsweise eine separate Stromversorgung für den Betrieb des Mikrochips oder weiterer Sensoren besitzen und passive Energieübertragung für den reinen Lesevorgang nutzen. Passive Transponder sind langlebiger, wartungsärmer und in der Regel kostengünstiger als aktive Transponder. Antikollisionsverfahren Im Umfeld des Supply Chain Managements und darüber hinaus gibt es Anwendungsfälle, bei denen im Rahmen eines einzelnen Lesevorgangs mehrere RFID Transponder gleichzeitig ausgelesen werden sollen, ohne dass im Vorhinein bekannt ist, wie viele zu
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identifizierende Objekte sich im Lesebereich befinden. Wenn mehrere vom Aufbau her identische Transponder gleichzeitig ein Lesesignal empfangen, werden sie gleichzeitig ihr Antwortsignal (mit je Transponder unterschiedlichen Informationen) zurückschicken und durch Kollision der Signale ein Lesen erschweren. Antikollisionsverfahren sollen das Verhindern und ein genaues Auslesen und Zählen aller Transponder durch das Lesegerät ermöglichen. Es existieren unterschiedliche Antikollisionsverfahren, die jeweils spezielle sowohl von den Lesegeräten als auch den Transpondern zu unterstützende Logiken einsetzen. Eines der Meistverwendeten ist das Time Division Multiple Access. Die Grundidee bei diesem Verfahren ist, dass die Transponder nach empfangenen Leseimpuls nicht sofort antworten, sondern erst nach Ablauf einer Zeit, die für jeden Transponder unterschiedlich lang und zufallsgesteuert ist, ihr Antwortsignal senden, das dann kollisionsfrei von dem Lesegerät ausgewertet werden kann.
4 Von der Identifikationsnummer zum Internet der Dinge In den vorigen Kapiteln wurden verschiedene Benennungssysteme vorgestellt, die zur Identifikation einzelner Objekte (Singer Nähmaschine 123) oder Gruppen von Objekten wie ein EAN Code verwendet werden. Diese herkömmlichen Benennungssysteme besitzen Überschneidungen und ein Identifikator verweist nur dann eindeutig auf ein Objekt, wenn das jeweilige Benennungssystem bekannt und verstanden ist. Zur Minimierung von Missverständnissen, Fehlern und Verwechslungen wäre es wünschenswert, weg von vielen unterschiedlichen Benennungssystemen und hin zu einem Schema zur universellen und individuellen Identifikation von Objekten zu kommen. Die GS1, eine weltweit tätige Organisation, die Standards für unternehmensübergreifende Geschäftsprozesse entwickelt, hat mit dem Electronic Product Code (EPC) ein Identifikationsschema entwickelt, das diesem Anspruch sehr nahekommt. GS1 formuliert den Anspruch des EPC wie folgt: „The EPC is a universal identifier that provides a unique identity for any physical object. The EPC is designed to be unique across all physical objects in the world, over all time, and across all categories of physical objects“ (GS1, 2017, S. 17). Die konkrete Art, wie dieser Identifikator dargestellt wird, kann je nach Situation oder Anwendungsfall unterschiedlich sein. Er kann beispielsweise als Strichcode dargestellt werden, als Datensatz in RFID Transpondern gespeichert und in informationstechnischen Systemen verarbeitet werden oder in Klarschrift auf ein Objekt geschrieben werden. Wesentlich ist die Grundidee, nur noch eine Benennungsmethodik zu verwenden, die ein Objekt über seinen kompletten Lebenszyklus hinweg unverwechselbar mit einem Identifikator „verheiratet“. Zu dem Erfolg des EPC Codes tragen seine Kompatibilität mit früheren Nummerierungssystemen wie EAN/UPC sowie seine Darstellungsform als „Pure Identity EPC URI“, die sich anlehnt an Darstellungsformate aus der Welt des Internet und World Wide Web, bei.
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4.1 EPC Aufbau und Struktur Die GS1 Organisation hat verschiedene Nummerierungsschemata entwickelt, die zur Identifikation einzelner Objekte oder Gruppen von Objekten in einem geschäftlichen Kontext verwendet werden können. Das bekannteste Schema ist EAN, das seit 2005 unter der Bezeichnung Global Trade Item Number (GTIN) zur Identifikation einer Gruppe von Objekten, die alle Exemplare des gleichen Artikels sind, verwendet wird. Um genau ein einzelnes Exemplar eines Artikels zu identifizieren, stellt GS1 ein weiteres Schema, Serial Global Trade Item Number(SGTIN), zur Verfügung, das aus einer Kombination von GTIN und Seriennummer besteht. GS1 stellt weitere Schemata wie Global Returnable Asset Identifier(GRAI) oder Global Document Type Identifier(GDTI) zur Verfügung, über die einzelne Objekte wie eine Mehrwegpalette oder ein Dokument identifiziert werden können. EPC als universell angedachtes Identifikationssystem verwendet existierende GS1 Schemata zur Bezeichnung einzelner Objekte. Ein EPC Identifikator besteht aus einer Bezeichnung des GS1 Schemas wie beispielsweise SGTIN und der innerhalb des Schemas gültigen eindeutigen Identifikationsnummer. Im Falle eines SGTIN Objektes ist daher der Identifikator eine Kombination aus • dem Schema SGTIN • der GTIN Nummer des Artikels und • der Seriennummer des konkreten Exemplars. Abb. 9 stellt den Zusammenhang zwischen den Objekten innerhalb eines GS1 Schemas und dem EPC als Obermenge aller denkbaren Objekte dar. Ein EPC Schema kann nur ein GS1 Schema sein, das einzelne Objekte identifiziert, wie dies beispielsweise durch SGTIN erfolgt. GTIN hingegen bezeichnet eine Klasse von Objekten, alle Artikel mit der gleichen Artikelnummer, und ist daher nicht als Schema für EPC geeignet. Es können Schemata außerhalb des GS1 Systems für EPC verwendet werden, wie dies beispielsweise mit dem Schema USDOD des US-Verteidigungsministeriums geschieht. Zusätzlich können neue EPC Schemata definiert werden, um zusätzliche Klassen von Objekten zu erfassen, die bisher keinem einheitlichen Identifikationssystem unterliegen.
4.2 Vom Electronic Product Code zum Internet der Dinge Der EPC stellt Möglichkeiten zur Verfügung, mithilfe derer jeder erdenkliche Gegenstand eindeutig identifiziert werden kann, wobei „Identifizieren“ hier gleichbedeutend mit „eindeutig benennen“ ist. Identifikationsmethoden für Objekte sind eine Vorstufe für weitergehende Konzepte wie das das „Internet der Dinge“, häufiger auch „Internet of Things“ oder einfach IoT genannt. Um diese reibungslos umsetzen zu können, benötigen
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Abb. 9 Der Zusammenhang zwischen EPC und GS1 Schemata, die auf einzelne Objekte verweisen. (Eigene Darstellung, angelehnt an GS1, 2017, S. 21)
wir eine Verknüpfung zwischen der gewählten Identifikationsmethode für Objekte und der Art und Weise, wie Ressourcen in der „Internet Community“ dargestellt werden. Um diese Verknüpfung herzustellen, betrachten wir den Request for Comment (RFC)3986 (Berners-Lee, 2005), der eine Beschreibung des für das World Wide Web grundlegenden Konzeptes eines „Uniform Resource Identifier“ (URI) liefert. Danach ist eine URI eine „compact sequence of characters that identifies an abstract or physical resource“. URI ist demnach ein Konstrukt, mit dem alles identifizieren werden kann, was in irgendeiner Form identifizierbar ist. Das kann ein Zugriff auf eine Webseite sein, eine abstrakte Idee, eine Veröffentlichung, das Grundgesetz, eine ISBN Buchnummer oder ein Name für ein einzelnes Objekt wie die Büste der Nofretete. URI verwendet unterschiedliche Schemata für die zu benennenden Konstrukte. Zur Benennung von Objekten wird das Schema Uniform Resource Name (URN) verwendet. Eine durch einen URN benannte Ressource kann ein physisches Objekt, das einen EPC besitzt, aber auch etwas ganz anderes wie beispielweise ein abstraktes Konzept sein. Innerhalb des Schemas URN muss daher als nächster Schritt ein Namensraum oder Namespace Identifier (NID) festgelegt werden. EPC kann als ein NID des URI Schemas URN beschrieben werden. In URI-konformer Schreibweise kann daher ein konkretes durch EPC identifiziertes Objekt wie folgt beschrieben werden: urn:epc:id:sgtin:0123456.222222.100.123 Der erste Teil urn gibt das URI Schema an, der Identifier ist epc, der Electronic Product Code, innerhalb der EPC Notation wird in dem Beispiel das EPC Schema SGTIN
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(serialisierte Global Trade Item Number) verwendet und die nachfolgenden Ziffern stehen für die GTIN Produktnummer und die Seriennummer des einzelnen Objektes. In dieser Darstellungsform können Internet-konform Bezeichnungen für Objekte automatisch erfasst, als Teil von Schnittstellenbeschreibungen zwischen IT-Systemen ausgetauscht und mit weiteren objektspezifischen Informationen, die gegebenenfalls anderen URI Schemata angehören, angereichert werden. Die Verknüpfung zwischen Objekten der realen Welt und der informationstechnischen Darstellung als Basis des Internets der Dinge ist damit geschaffen worden.
5 Identifikationssysteme in der Praxis Das Instrumentarium zur durchgängigen Identifikation von Objekten entlang einer unternehmensübergreifenden Lieferkette steht, wie die vorigen Kapitel zeigen, zur Verfügung. Sind damit Supply Chains, die sich der aufgezeigten Mechanismen bedienen, automatisch fehlerfrei? Mit dieser Frage hat sich im Rahmen des Projektes Zipper (Patton et al., 2018) die Auburn University beschäftigt. Untersucht wurde der Nutzen von RFID-basierten Identifikationssystemen innerhalb von Supply Chains, an denen namhafte und technologisch „state of the art“ ausgestattete Konsumgüterhersteller und Handelsunternehmen beteiligt waren. Das überraschende Ergebnis war, dass im untersuchten Kontext lediglich 31(!) % der zwischen den Unternehmen ausgetauschten Lieferavisen (Advanced Shipping Notification) komplett fehlerfrei waren. Die übrigen 69 % waren nicht komplett falsch, sondern wiesen zumeist bei einzelnen Positionen leichte Abweichungen der Zahlen auf. Die Ursachen für die Abweichungen waren vielfältig, Mehr- und Mindermengen bei der Kommissionierung, nicht gelesene Transponder, doppelt gelesene Transponder, abgefallene oder beschädigte Transponder, um nur einige der gefundenen Fehlerquellen zu nennen. Die Ergebnisse bedeuten nicht, dass der Einsatz der existierenden Identifikationstechniken innerhalb der untersuchten Supply Chain vergebens ist. 31 % komplett fehlerfreie Lieferavisen und 69 % weitgehend richtige Lieferavisen stellen eine höhere Genauigkeit dar, als sie typischerweise mit rein manuellen Methoden zu erreichen ist. Viele schnelldrehende Lieferketten geringwertiger Gütern können auch mit einer Akkuratesse, wie sie im Projekt Zipper gemessen wurde, gut leben. Trotz all dem sind die Ergebnisse nicht gut genug für eine Supply Chain mit hochwertigen oder kritischen Gütern wie beispielsweise Pharmazeutika oder zeitkritischen Ersatzteilen. Gegenüber einer mit modernsten Identifikationsmöglichkeiten ausgestatteten und automatisierten Supply Chain besteht eher die berechtigte Erwartungshaltung einer Genauigkeit von annähernd 100 % der registrierten Objekte. In einer Folgestudie beschäftigte sich die Auburn University mit der Frage, welche Identifikationsmöglichkeiten denn einzusetzen sind, um eine deutlich bessere Genauigkeit bei der Verfolgung der Supply Chain Objekte zu erreichen (Hardgrave et al., 2020).
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Das Ergebnis dieses Proof of Concept lässt sich etwas vereinfacht in dem Diktum zusammenfassen: „viel hilft viel“. Die Objekte der Supply Chain werden häufiger identifiziert. Sie werden individuell mit Seriennummern über eine SGTIN Nummer gekennzeichnet. Zum Datenaustausch werden von GS1 vorgeschlagene informationstechnische Schnittstellenformate, EPCIS (EPC Information Services), verwendet. Zusätzlich werden die Daten zwischen den teilnehmenden Unternehmen über eine Blockchain Plattform fälschungssicher und konsistent ausgetauscht.
6 Ausblick Unser kurzer Streifzug durch die Welt der Identifikationssysteme macht deutlich, dass dieses Themengebiet sich seit Jahrhunderten durch Innovationen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten kontinuierlich weiterentwickelt. In der Vergangenheit waren Mechanik und Ingenieurwissenschaften die Treiber, unterstützt durch gesellschaftliche Entwicklungen wie die Ächtung von Urkundenfälschungen. In neuerer Zeit liefern Entwicklungen in der Lasertechnik, digitale Bildaufnahmen, Informationstechnik und Internet die Werkzeuge für Innovationen in der Identifikation von Objekten. Wohin geht die Reise in den kommenden Jahren? Die Ergebnisse der beiden Studien der Auburn University unterstreichen zwei Dinge: • Zum einen existiert auch dort, wo aktuell „state of the art“ Identifikationssysteme eingesetzt werden, Bedarf an „besseren“ Systemen, um in dem genannte Beispiel über 31 % Korrektheit der ausgetauschten Lieferavisen zu kommen. • Zum anderen zeigt die „Chip“ Studie einmal mehr, dass eine erfolgreiche Identifikation eines systemischen Ansatzes bedarf, in der die Komponenten Identifikationsmerkmal, Benennungssystem, Lesevorgang und Sicherheitskonzept intelligent miteinander zusammenzuwirken haben. Der zukünftige Fokus der Entwicklung wird daher, neben einer allfälligen Weiterentwicklung der einzelnen Komponenten, insbesondere im systemischen Bereich liegen. Wie kann sichergestellt werden, dass die einzelnen Komponenten eines Identifikationssystems nahtlos ineinandergreifen? Wie können Daten aus einem Lesevorgang aufbereitet und derart bereitgestellt werden, dass zukünftige Lesevorgänge mehr Sicherheit durch Zugriff auf diese Daten erhalten? Wie können zusätzliche, augmentierte Informationen über den komplette Lebenszyklus eines Objektes gesammelt und unter Beachtung von Datensicherheitsaspekten berechtigten Parteien zur Verfügung gestellt werden? Die für diese Aufgaben benötigten Werkzeuge kommen aus dem Bereich der Kryptographie, des Cloud-Computings und der Sensorik. Auf der Anwendungsseite sind neben einer Abrundung des Einsatzes innerhalb existierender Supply Chains unterschiedliche Schwerpunkte vorstellbar:
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• Im Bereich der Retrologistik kann eine verbesserte Identifikation dazu beitragen, dass auch noch Jahrzehnte nach der Herstellung irgendwelcher Produkten bei deren Zerlegung einzelne Komponenten fehlerfrei identifiziert und einer zielgerichteten Aufbereitung zugeführt werden. • In gesellschaftlich hochsensiblen Themenfeldern wie dem Umgang mit kolonialer Raubkunst oder der Restitution von Kulturgütern, die infolge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft enteignet wurden, können Innovationen der Identifikation die Provenienzforschung unterstützen.
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Prof. Dr. Gerd Wintermeyer hat an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Physik studiert, über atomare Prozesse bei Schwerionenstößen promoviert und sich anschließend mehrere Jahre als Research Fellow an der University of KwaZulu-Natal, Südafrika mit dem Verhalten von Niedertemperaturplasmen beschäftigt. Die nächsten Karriereschritte unternahm Gerd Wintermeyer in der Logistik- und IT Beratung. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit als Softwareentwickler, IT-Berater und Projektleiter baute er als Bereichsleiter das Leistungsangebot „SAP basierte Logistiksysteme“ bei der damaligen Heyde AG auf. Von 2005 bis 2014 war er Vorstand der inconso AG. Er hat die erfolgreiche Entwicklung der inconso AG als führendes IT- und Beratungshaus für IT und Logistik begleitet und verantwortete das SAP-Beratungsangebot und den Vertrieb. 2014 erfolgte die Berufung als Professor für technische Logistik an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Seine aktuellen Forschungsthemen sind sowohl von seinem Hintergrund in Atomund Plasmaphysik wie auch von seiner langjährigen Erfahrung bei der Entwicklung informationstechnischer Lösungen für Unternehmen geprägt. Schwerpunkt sind Möglichkeiten der Gestaltung digitaler Supply Chains und die dabei auftretenden technischen und naturwissenschaftlichen Limitierungen.
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? Jürgen Dahlhoff
1 Einführung Das externe Rechnungswesen ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Für die diesem Fach zugewandten Personen ist es das Rückgrat eines jeden Unternehmens, ohne das kein Unternehmen vernünftig geführt werden kann. Das Rechnungswesen als modellhafte Abbildung der betrieblichen Realität dokumentiert alle Finanztransaktionen, sowie die materiellen und immateriellen Güterbewegungen eines Unternehmens. Ohne Rechnungswesen wäre es nicht möglich, über ökonomische Kenngrößen wie Vermögen, Schulden, Eigenkapital und Gewinn zu reflektieren. Es ist die Quelle, aus der sich „derivative“ Fächer wie Kostenrechnung (internes Rechnungswesen) oder Controlling entwickelt haben, die ihrerseits Unterstützung und Grundlage für unternehmerische Entscheidungen jeglicher Art sind. Die dem Fach abgeneigten Personen nehmen es eher als stark formalistisches und überkomplexes System wahr, welches durch seine Regeln Unternehmen in ein bürokratisches Korsett zwängt. Zudem kostet es viel Geld, welches für Buchhalter, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und die notwendige Software ausgegeben wird. Erschwerend gilt die Disziplin der Buchführung als eher langweilige und eintönige Tätigkeit. Es ist Pflicht, nicht Kür, aufgrund gesetzlicher Vorgaben. Diese unterschiedliche Wahrnehmung wird von Schriftstellern geteilt, die sich mit dem Kaufmannsberuf auseinandergesetzt haben. Goethe lobt die Buchführung in Wilhelm Meisters Lehrjahren schwärmerisch als eine der schönsten Erfindungen des
J. Dahlhoff (*) SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_3
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menschlichen Geistes (Goethe, 1795, S. 35). Melville (1853) zeichnet mit der Figur des Bartleby das Bild eines pflichtbewussten, langweiligen, wenig emotionalen und unflexiblen Menschen. Zwar bezieht er sich auf einen Kopisten bei einem Rechtsanwalt, aber man könnte aus dem Schreiber Bartleby einen Buchhalter machen und wäre nicht überrascht. „Erbsenzähler“ ist eine Bezeichnung, die gerne Fachkräften im Rechnungswesen zugewiesen wird. Ein weiteres Vorurteil über Buchhalter ist, dass sie unscheinbar seien, fleischgewordene Pendants zur Disziplin der von ihnen praktizierten Buchführung. In Gustav Freytags Roman Soll und Haben über den Kaufmannsstand etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts wird ein Kontor beschrieben, in dem ein Buchhalter namens Liebold arbeitet. Er wird charakterisiert als „ältlicher kleiner Mann mit einer feinen Stimme und einem bescheidenen Lächeln, durch welches er die Welt um Vergebung bat, dass er sich die Freiheit nehme zu existieren.“ (Freytag, 1855, S. 40). So unterschiedlich diese Einschätzungen sein mögen: Die Vertreter dieser Zuschreibungen wären sich sicher einig, dass Rechnungswesen oder enger Buchführung, nicht mit dem Begriff der Innovation in Verbindung gebracht werden können. Das klingt nach einem Oxymoron, einer Wortfigur von zwei Begriffen, die sich widersprechen, wie z. B. Ausnahmeregel, Weniger ist mehr, rasender Stillstand, ohrenbetäubende Stille, geschäftige Inaktivität, Laufruhe oder der stumme Schrei. Aber ist das wirklich so? Passen diese Begriffe nicht zusammen? Schließen sie sich aus? Oder kann es sein, dass sich Rechnungswesen und Innovation wechselseitig beeinflusst haben? Ist es sogar möglich, dass die Untersuchung des Zusammenwirkens von Rechnungswesen und Innovation auch Antworten zur Weiterentwicklung des Fachs bereithält? Mit diesen Fragestellungen beschäftigt sich dieser Artikel. Nach einem Kurzüberblick über das heutige Rechnungswesen und einer Einführung des Innovationsbegriffs, erfolgt eine Betrachtung der historischen Entwicklung des Rechnungswesens. Es werden drei Phasen identifiziert, in denen Rechnungswesen sehr unterschiedlich betrieben wurde und in denen die Innovation als Treiber der Übergänge in die jeweils nächste Phase interpretiert werden kann. Weiterhin wird dargelegt, dass Rechnungswesen und Innovation sich gegenseitig befruchten, wobei nicht ganz klar ist, ob neue Anforderungen an das Rechnungswesen innovative Lösungen erforderten oder umgekehrt, ob Innovationen auch im Rechnungswesen übernommen wurden, um es auf ein neues Level zu heben. Es handelt sich hierbei um das klassische „Henne-Ei-Problem“. Wie auch immer, es wird gezeigt, warum Rechnungswesen sich anpassen und mit innovativen Lösungen den Erfordernissen der Unternehmensführung und des Gesetzgebers gerecht werden musste. Abschließend wird die Frage erörtert, ob die Trias Rechnungswesen, Technik und Recht nicht auch Hinweise für die Weiterentwicklung des Fachs bereithält. Natürlich ist der Autor nicht so verwegen, genaue Prognosen abgeben zu wollen – daran kann man nur scheitern – aber vielleicht kann man auf Basis der bisherigen Entwicklung einige Trends für die kommenden Jahre ableiten. Der Aufsatz schließt mit einem Fazit.
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2 Überblick zum externen Rechnungswesen Unternehmen sind gesetzlich verpflichtet, ihre laufenden Geschäftsvorfälle aufzuzeichnen (§ 238 HGB). Um dieser Pflicht nachzukommen, betreiben sie eine Buchführung. Die Buchführung ist eine Zeitraumrechnung, die alle Transaktionen eines Jahres chronologisch, lückenlos und geordnet aufzeichnet. Diese Dokumentationsfunktion erfolgt durch die Verbuchung aller Geschäftsvorfälle nach dem Prinzip der doppelten Buchführung, also der Verbuchung eines Geschäftsvorfalls auf verschiedenen Konten im Soll und Haben, sowie des zweifachen Erfolgsausweises in der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung. Am Ende des Geschäftsjahres wird eine Schlussbilanz erstellt, die Vermögen, Eigenkapital und Schulden des Unternehmens in aggregierter Form darstellt. Weitere Bestandteile sind die Gewinn- und Verlustrechnung, die Erträge und Aufwendungen sowie den Gewinn darstellt, und abhängig von Rechtsform auch noch Anhang, Lagebericht, Kapitalflussrechnung, Eigenkapitalspiegel und ggfs. eine Segmentberichterstattung. Der Jahresabschluss gilt als eine der bedeutsamsten Aufgaben des externen Rechnungswesens, da durch ihn Rechenschaft über das abgelaufene Geschäftsjahr abgelegt wird und beurteilt werden kann, ob das Unternehmen gut gewirtschaftet hat. Neben dem Jahresabschluss gibt es den rechtlich nicht vorgeschriebenen und weniger aufwendigen Monatsabschluss, der unterjährig die Geschäftsführung und das Controlling mit wichtigen Zahleninformationen versorgt. Zu dieser Informationsfunktion gesellen sich dann noch die Ausschüttungs- und die Steuerbemessungsfunktion des Jahresabschlusses. Hat das Unternehmen erfolgreich gewirtschaftet, ist der erzielte Gewinn die Basis für die Höhe der möglichen Gewinnausschüttung an die Unternehmenseigentümer. Weiterhin ist der nach HGB-Normen erstellte Jahresabschluss Ausgangsbasis für die Steuerbilanz, welche für den Fiskus Grundlage zur Ermittlung des steuerpflichtigen Gewinns ist. Dieser wird herangezogen, um die zu entrichtende Körperschafts- und Gewerbesteuer ermitteln zu können. Das Rechnungswesen ruht auf diversen Normen, die sich über einen langen Zeitablauf entwickelt haben. Man unterscheidet die Normensysteme Handelsrecht (Grundlage ist das Handelsgesetzbuch), Steuerrecht (z. B. mit Einkommensteuer-, Körperschaftssteuer- und Gewerbesteuergesetz), sowie internationale Rechnungslegungsvorschriften, wie die in der EU geltenden IAS/IFRS. Ggfs. kommen weitere Rechtsnormen hinzu, wenn beispielsweise ein Unternehmen Tochtergesellschaft eines US-amerikanischen Unternehmens ist (US-GAAP). Eine weitere Unterscheidung bezieht sich darauf, ob sich der Jahresabschluss auf ein einziges Unternehmen konzentriert (Einzelabschluss) oder eine Vielzahl von Unternehmen inkludiert (Konzernabschluss). Eigens für Konzernabschlüsse wurde die sog. Konzernrechnungslegung entwickelt, die weitere Anforderungen für das Rechnungswesen bereithält, denn es müssen Einzelabschlüsse einer Vielzahl von Tochtergesellschaften (manchmal sogar mehr als tausend Gesellschaften), die in unterschiedlichen Ländern angesiedelt sind, zu einem Konzernabschluss zusammengeführt werden. Diese wenigen Ausführungen lassen
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erahnen, dass das Rechnungswesen der Gegenwart eine recht komplexe Angelegenheit ist, insbesondere für größere Unternehmen. Man kann davon ausgehen, dass mit der Größe des Unternehmens auch die Anforderungen an das Rechnungswesen steigen. Ist es in einem Kleinunternehmen noch überschaubar – häufig ausgelagert an eine Steuerberatung – beschäftigen Konzerne Hundertschaften von Spezialisten, um den Anforderungen an ein zeitgemäßes Rechnungswesen nachkommen zu können. Vorgreifend kann man bereits sagen, dass ohne Innovationen ein solches komplexes Gebilde – welches in einem Großunternehmen Millionen (bei manchen Großkonzernen im Einzelhandel sogar Milliarden) an Geschäftsvorfällen im Jahr verarbeiten muss – schlichtweg nicht operabel wäre.
3 Zum Begriff der Innovation Wer von Innovation spricht, meint meistens Technikinnovationen, wie z. B. maßgeschneiderte Sportschuhe aus dem 3D-Drucker, Peilsender für den Schlüsselbund, Flugtaxis, ein neues Medikament zur Bekämpfung eines tödlichen Virus, oder den Einsatz der Künstlichen Intelligenz bei der Klassifikation von Gurken. Innovationen dieser Art sind im Regelfall durch Patente und andere Rechte geschützt. Tatsächlich ist der Innovationsbegriff weiter zu fassen. So unterscheiden Hauschildt et al., (2016, S. 6 ff.) Produkt-, Prozess-, und Dienstleistungsinnovationen. Die Produktinnovation bezieht sich auf neuartige Produkte, die sich am Markt durchsetzen müssen. Darunter fallen die weiter oben genannten Beispiele. Eine Prozessinnovation ist innerbetrieblicher Art und zeichnet sich durch eine neuartige Kombination der Produktionsfaktoren aus. Ziel ist es, einen Prozess kostengünstiger oder schneller zu machen. Die Einführung der Fließbandfertigung für die Produktion von Automobilen durch Henry Ford im Jahr 1913 ist ein Beispiel für eine Prozessinnovation. Dadurch gelang der Einstieg in die Massenproduktion mit Produkten zu erschwinglichen Preisen. Dienstleistungsinnovationen beziehen sich auf innovative Angebote jenseits von Produktverkäufen. Sie sind eine Kombination von Produkt- und Prozessinnovation. Beispielsweise verkauft ein Softwareunternehmen nicht mehr Software, sondern bietet Lizenzen mit dem Versprechen an, die Software regelmäßig upzugraden und zu warten. Das Produkt Software erbringt nicht nur einen Einmalumsatz beim Verkauf, sondern bindet den Käufer durch den Lizenzerwerb dauerhaft an die Software und sorgt für einen regelmäßigen Einkommensstrom durch die Lizenzerlöse. Eine weitere interessante Sichtweise ist die Betrachtung von Systemen und Veränderung von Systemeigenschaften durch Innovationen (Hauschildt et al., 2016, S. 8 ff.). Dabei kann das Gesamtsystem selbst in einer innovativen Weise verändert werden, es können aber auch einzelne Systembestandteile in einer neuartigen Form verändert, verbunden oder erweitert werden. Als Beispiel ist die Entwicklung eines neuen Geschäftsmodells zu nennen. Ein besonders spektakuläres Praxisbeispiel dazu ist die Veränderung
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der Preussag, die sich im wahrsten Sinne des Wortes mehrfach neuerfunden hat. Sie wurde 1924 als Bergbaukonzern gegründet, entwickelte sich dann ab den 1960ziger zu einem Mischkonzern mit Aktivitäten in Logistik, Maschinenbau, Stahl und Konsumgütern, und ist seit 1999 fast ausschließlich im Touristikbereich unter dem Namen TUI tätig (Tuigroup, o. J.). Ein weiterer Ansatz sind Innovationen jenseits der Technik (Hauschildt et al., 2016, S. 10 f.). Das inkludiert natürlich auch die Technik, die als Kern von Innovationen und daher als Abgrenzung gesehen wird, erweitert aber die Sichtweise auf organisationale (z. B. interne Strukturen, Kultur) und geschäftsbezogene Innovationen (z. B. Marktstruktur oder Spielregeln). Neue Spielregeln können z. B. erstmalige Gesetze in vormals unregulierten Bereichen sein. Sie bewirken Verhaltensänderungen bei den Marktteilnehmern. Beispielsweise wurden im Jahr 1906 landesweit geltende rechtliche Regelungen zum Führen eines Kraftfahrzeugs durch das Reichsstempelgesetz eingeführt. Dieses Gesetz war ein wichtiger Meilenstein in der Schaffung eines rechtlichen Rahmens für den Straßenverkehr. Es wurde die Zulassung zur Nutzung von Fahrzeugen im Straßenverkehr geregelt („Erlaubniskarten“), als auch erstmalig eine Kfz-Steuer eingeführt („Stempelabgabe“). Das Gesetz war insoweit eine soziale Innovation, da Automobile und Krafträder noch zwanzig Jahre zuvor vollkommen unbekannt waren und ihr Verkehr aufgrund ihrer fortschreitenden Verbreitung nun reguliert werden musste. Weiterhin zeichnen sich Innovationen dadurch aus, dass es sich um neuartige ZweckMittel-Kombinationen handelt. Neuartigkeit allein reicht nicht aus, da die Innovation einen konkreten Zweck haben muss und sich dann am Markt, z. B. als Produktinnovation, oder im Unternehmen, z. B. als Prozessinnovation, durchsetzen muss. Gelingt das nicht, handelt es sich um eine Invention oder nur eine Idee, die immer vor der Innovation stehen. Aus der Erfindung wird eine Innovation, wenn sie angewendet wird und Nutzer findet (Hauschildt et al., 2016, S. 4). Beispielsweise gilt Carl Benz als Erfinder des Automobils, der es dann als Innovation ab 1886 auf den Markt brachte und seine ersten Kunden gewann. Tatsächlich haben sich Tüftler mit der Invention Automobil schon jahrzehntelang vor Benz beschäftigt und teilweise kuriose Fahrzeuge entwickelt, die es aber nicht zur Marktreife und damit Innovation brachten. Als weiteres Beispiel sei Leonardo da Vinci genannt, den man für seine vielen Ideen bewundert, die seiner Zeit weit voraus waren, wie Fluggeräte. Es dauerte aber dann noch knapp 400 Jahre bis erste Flugzeuge abhoben, also bis aus Ideen und der folgenden Invention eine Innovation geschaffen wurde. Die Erfindung des binären Zahlensystems Ende des 17. Jahrhunderts wird auf den deutschen Mathematiker Leibniz zurückgeführt. Tatsächlich hat es noch mehr als 200 Jahre gedauert, bis erste Rechenmaschinen dieses Binärsystem anwendeten und sich daraus die Computerindustrie entwickeln konnte. Häufig liegen viele Jahre zwischen Invention und Innovation, manchmal Jahrhunderte. Diese Sichtweisen sind für das vorliegende Thema Rechnungswesen und Innovationen hilfreich, denn sie erweitern den Spielraum für dieses Begriffspaar und lassen ihr Zusammenwirken besser nachvollziehen.
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4 Innovation im Rechnungswesen Dieser Artikel fokussiert sich auf die Innovation im Rechnungswesen, also die nutzbringende Anwendung einer Erfindung. Der „Urknall“ im Rechnungswesen war die Anwendung der doppelten Buchführung durch handeltreibende Kaufleute. Dieses neue System ermöglichte es Unternehmern, über ein aussagefähiges Informationssystem zu verfügen, mit dessen Hilfe sie ihre Unternehmen lenken konnten. Im Folgenden wird dargelegt, dass sich die Beziehung zwischen Rechnungswesen und Innovation in drei Phasen aufteilen lässt: • Phase 1, das manuell geprägte Rechnungswesen, startete um 1300 und wurde durch handschriftliche Aufzeichnungen geformt. Tintenfass, Feder, Stift und Papier waren das Handwerkszeug des Buchhalters. • Phase 2, das analog geprägte Rechnungswesen, startete um 1890 und war beeinflusst durch das Aufkommen von mechanisch funktionierenden Maschinen, die in allen Bereich der Wirtschaft Einzug hielten, so auch im Rechnungswesen. Die Beschäftigten im Rechnungswesen wurden unterstützt durch Büromaschinen wie Lochkartensysteme oder Buchungsautomaten. • Phase 3, das digital geprägte Rechnungswesen, startete um 1951 und erhielt viele Impulse durch die Verbreitung der Informations- und Datenverarbeitung. Computer wurden erschwinglich und dadurch attraktiv für die Masse der Unternehmen. Diese Phase mit ihren Innovationen hob das Rechnungswesen auf ein neues Niveau. Natürlich lassen sich die zeitlichen Grenzen nicht exakt auf genau diese Jahre festlegen, sie sind fließend. Sie orientieren sich an der kommerziellen Verwendung dieser Innovationen. Ideen, Inventionen, Entwicklungen und Experimente in diesen Phasen können durchaus früher datiert werden. Das Jahr 1300 wurde gewählt, da sich um dieses Jahr herum die doppelte Buchführung erstmalig in den Büchern der Florentiner Kaufmannsfamilien Giovanni Farolfi und Rinieri Fini nachweisen lässt (Gleeson-White, 2012, S. 29). Das Jahr 1890 ist deshalb bemerkenswert, da in diesem Jahr erstmalig eine Lochkartenmaschine des Erfinders Herman Hollerith in einer großen Anwendung eingesetzt wurde, der amerikanischen Volkszählung in jenem Jahr (De Beauclair, 2005, S. 36 f.). Das Jahr 1951 ist wiederum ein wichtiger Zeitpunkt, da die ersten kommerziellen Rechenanlagen auf den Markt kamen, die das digitale Zeitalter einläuteten. Der Rechner Univac des amerikanischen Computerherstellers Remington Rand revolutionierte die Wirtschaftswelt, ausgehend von den USA, durch seine Geschwindigkeit, die Genauigkeit der Verarbeitung und der Automatisierung von Büroarbeiten, für die vorher viele Mitarbeiter notwendig waren. Nun war „die bürokratische Massenverarbeitung von Daten am digitalen Fließband“ möglich (Gugerli, 2018, S. 11 ff.). Weiterhin koexistier(t)en ältere Phasen zusammen mit den jüngeren Phasen. Beispielsweise waren Rechenanlagen in den 1950ziger und 1960ziger Jahren nur für Großunternehmen erschwinglich. Kleinunternehmen mussten weiterhin den Hauptteil ihrer Arbeit im
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Rechnungswesen manuell oder mit Lochkarten erledigen. Das sollte bei der Rezeption dieses Artikels immer beachtet werden. Es waren Pionier-Kaufleute oder -Unternehmen, die zuerst innovative Entwicklungen in ihrem Rechnungswesen einführten. Neben diesen „Early-Adopters“ gab es immer die große Mehrheit der anderen Unternehmen, die erst nach und nach Neuerungen zuließen. So wendeten vermutlich viele kleine Unternehmen im 18. und 19. Jahrhundert noch nicht die doppelte Buchführung an, da sie schlichtweg zu aufwendig zu betreiben und auch nicht nötig für den vorindustriellen Kaufmann war (Gorißen, 2002, S. 340). In diesem Artikel geht es um das Aufzeigen von Veränderungen, die mit diesen neuen Phasen im Rechnungswesen einhergingen. Es sind gravierende Umgestaltungen durch Innovationen gewesen, die neue Anforderungen an das Rechnungswesen stellten und es leistungsfähiger machten. Leistungsfähiger im „olympischen“ Sinne von schneller (z. B. die heute übliche Verbuchung in Echtzeit), größer (z. B. umfangreichere Datenmengen durch mehr zu bewältigende Geschäftsvorfälle) und besser (z. B. das Konzept der „Entscheidungsnützlichkeit“ von Informationen aus dem Rechnungswesen). Warum gab es diesen Wandel im Rechnungswesen? Vier Entwicklungen spielten hier eine Rolle. Der Beginn des kaufmännischen Rechnungswesens hängt eng zusammen mit der sog. Handelsrevolution des 13. Jahrhunderts, als in ganz Europa, ausgehend in Norditalien, die Handelsvolumina und die Bargeldmengen stark zunahmen, und Kaufleute Waren und Luxusgüter für ihre Kundschaft aus aller Welt heranschafften. In dieser Zeit entwickelten sich die „ausgeklügeltsten norditalienischen Innovationen“, wie das internationale Bankwesen, das Versicherungswesen und die Buchführung (Spufford, 2002, S. 14). Die Phasen 2 und 3 wurden durch die Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft durch die industriellen Revolutionen, die durch Basisinnovationen geprägt waren, wie die erste industrielle Revolution, als deren Symbol die Dampfmaschine gilt (ab ca. 1780), ausgelöst.1 Drittens war die Rechtsentwicklung ein weiterer wichtiger Innovationstreiber. Die Erfüllung der Anforderungen des Gesetzgebers an die Rechnungslegung war nur durch eine veränderte Leistungsfähigkeit im Rechnungswesen zu erreichen. Hier kann man von einer sozialen Innovation, eingeführt vom Staat, sprechen, denn RechnungslegungsRechtsvorschriften für Unternehmen gab es in den ersten Jahrhunderten seit Erfindung der doppelten Buchführung höchstens vereinzelt. Als ein wichtiges Datum kann man das Jahr 1861 festmachen, in welchem ein Kaufmannsrecht mit der Schaffung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs (ADHGB) eingeführt wurde. Auch die Einführung der Rechtsform der Aktiengesellschaft, die bereits vor dem ADHGB erfolgte, ist
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Autoren wie Nefiodow (2001) machen bis heute fünf industrielle Revolutionen aus, die Wirtschaft und Gesellschaft durch lange Konjunkturzyklen beeinflussten („Kondratieff-Wellen“). Jede Basisinnovation löste einen Schub an Folgeinnovationen aus, die viele Berufs- und Lebensbereiche beeinflussten und technisierten, also auch das Rechnungswesen.
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ein wichtiger Meilenstein. Haftungsbegrenzung und Trennung zwischen Eigentümer und Management stellten höhere Anforderungen an die Ausübung des Rechnungswesens. Lokal auf Preußen bezogen, kann man dazu das Jahr 1843 mit dem Preußischen Aktienrecht heranziehen, gleichwohl die Gründung einer größeren Anzahl von Aktiengesellschaften sich erst ab 1870 mit den Jahren des Gründungsbooms einstellte (Reckendrees, 2012). Viertens erhöhten sich die Anforderungen von Unternehmern und angestellten Führungskräfte an ihre Buchhaltungsabteilungen. Es erschall der Ruf der Wirtschaft nach akademisch ausgebildeten Kaufleuten, die in der Lage sein würden, Unternehmen wirtschaftlich zu führen. 1898 erfolgte die Gründung der ersten Handelshochschule in Leipzig. Die Betriebswirtschaftslehre war geboren, gleichwohl das Studium noch nicht so genannt wurde. So nannte die Handelshochschule Aachen, die auch 1898 gegründet wurde, ihr kaufmännisches Studium Handelswissenschaften (Zander, 2004, S. 93).2 Der Name Betriebswirtschaftslehre wurde erstmalig 1919 an der Universität Köln verwendet (Schweitzer & Wagener, 1999, S. 18). Auf den Lehrplänen in Leipzig und Aachen stand als eines der Hauptfächer Buchführung. Auch die anderen acht Handelshochschulen, die in den Folgejahren bis 1919 gegründet wurden, boten dieses Fach als ein Kernfach an. Die Absolventen waren diplomierte Kaufleute oder Handelslehrer (Zander, 2004, S. 85). Ging es noch bei den Innovationen in Phase 1 primär um Verbesserungen in der handwerklichen Ausübung der Buchführung, waren die Phasen 2 und 3 durch eine Symbiose zwischen Rechnungswesen und Technik geprägt. Mit Hilfe von Technik erreicht das Rechnungswesen von heute eine Leistungsfähigkeit, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre.
5 Phase 1: Das manuell geprägte Rechnungswesen Das Rechnungswesen in seiner Ausprägung der doppelten Buchführung lässt sich erstmals um 1300 in Florenz nachweisen, eine andere Quelle führt Genua im Jahr 1340 an (Gleeson-White, 2012, S. 20; Penndorf, 1916, S. 8). Sie wurde in der Praxis von handeltreibenden italienischen Kaufleuten aus Venedig, Genua, Florenz, Mailand und Pisa angewendet. Es blieb knapp zwei Jahrhunderte eine exklusive Technik italienischer Händler, die äußerst erfolgreich Handel mit dem Orient trieben und ihre Städte reich machten. Italien zu jener Zeit (Spätmittelalter und Renaissance) galt mit Handelsstädten wie Venedig und Genua über einen Zeitraum von 500 Jahren (1000–1500 n. Chr.) als kommerzielle Drehscheibe zwischen den christlichen Großreichen der Franken und Byzanz einerseits und der muslimischen Welt andererseits. Italienische
2 Ein
weiterer damals gebräuchlicher Name war Privatwirtschaftslehre.
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Kaufleute handelten Luxusgüter jeglicher Art (Textilien, Seide, Wolle, Gewürze, Gold, Silber), aber auch Getreide, Waffen oder Sklaven. Sie stellten ihre Schiffe für Überfahrten der Kreuzfahrerheere zur Verfügung, die es nach Jerusalem drängte. Sie galten als pragmatische, wendige und gewinnorientierte Kaufleute. Eine Technik wie die doppelte Buchführung, die in Italien „scrittura alla veneziana“ (Buchführung nach venezianischer Art) genannt wurde, kam ihnen recht, um die vielfältigen Geschäftsaktivitäten im Überblick zu behalten (Penndorf, 1916, S. 42). Nach Pacioli verschaffte ihnen das System der doppelten Buchführung „Geistesruhe“ in dem Sinne, dass sie sich nicht dauernd Sorge um ihre Geschäfte machen mussten, da jetzt alles geordnet und übersichtlich dokumentiert werden konnte (Pacioli, 1494, S. 89). Das erlaubte ihnen einen ausreichenden Überblick über ihre vielfältigen Aktivitäten. Diese Innovation war nur möglich, weil erst knapp 100 Jahre zuvor das Dezimalzahlensystem mit den Zahlen 0 bis 9 von dem italienischen Mathematiker Fibonacci aus dem arabischen Raum nach Italien gebracht und in einem Buch („Liber abaci“) veröffentlicht wurde (Gleeson-White, 2012, S. 19). Zuvor wurde nach dem umständlichen und unpraktischen römischen Zahlensystem gerechnet. Es ist offensichtlich, dass die Zahl 3483 handbarer als MMMCDLXXXIII ist. Die Dokumentationsfunktion der Buchführung setzte voraus, dass Kaufleute und Handwerker lesen, schreiben und rechnen konnten. Der Wirtschaftshistoriker Spufford geht davon aus, dass die Buchführung einen Anteil an der Alphabetisierung von Teilen der Bevölkerung hatte, denn nun blühte auch die Schulbildung in Norditalien auf (Spufford, 2002, S. 23 f.). Es hat dann nochmals knapp zweihundert Jahre gedauert, bis der Franziskanermönch und Mathematiker Luca de Pacioli, ein Lehrer von Leonardo da Vinci, die Geheimnisse der doppelten Buchführung offenlegte und in seinem Werk Summa de arithmetica im Jahr 1494 veröffentlichte (Pacioli, 1494). Einer raschen Verbreitung im damaligen Europa stand damit nichts mehr im Weg, da praktischerweise der Buchdruck um 1450 von Johannes Gutenberg erfunden wurde. So wurden von Paciolis Werk mehr als 2000 Exemplare gedruckt, die sich gut in Europa verkauften. Die Möglichkeiten der doppelten Buchführung waren in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen wurden mit diesem neuen System sechs Merkmale eingeführt, die bis heute Gültigkeit haben, so der Wirtschaftshistoriker G.A.Lee (GleesonWhite, 2012, S. 20 f.). Diese Merkmale waren: • Kaufmännische Rechtsform als Grundlage für doppelte Buchführung zur Registrierung aller Geschäftsvorfälle mit Dritten. • Die Möglichkeit, alle Geschäftsvorfälle in einer Währung zu erfassen und zu addieren. • Buchung der Zu- und Abnahme von Geld und Waren, sowie Verbindlichkeiten gegenüber Dritten. • Ausweis des Eigenkapitals als Differenz zwischen Gesamtkapital (= Bilanzsumme) und Verbindlichkeiten. • Gewinn als Erhöhung des Eigenkapital bzw. Verlust als Reduzierung des Eigenkapitals. • Ausweis des Gewinnes (oder Verlustes) als Ergebnis einer definierten Periode.
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Der Name doppelt rührt daher, dass man darunter ursprünglich einen Geschäftsvorfall, der in zwei Büchern eingetragen wird, verstanden hat. Nach heutiger Auffassung verwendet man diesen Begriff, um auf die Buchung auf zwei Konten hinzuweisen (jeweils eine Soll- und eine Habenbuchung; kurz Soll an Haben) und auf den zweifachen Gewinnausweis in der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung. Weniger bekannt ist eine zweite Grundidee der doppelten Buchführung. Sie diente auch als Möglichkeit, um Fehler in der Buchführung zu eliminieren. Durch die Verbuchung eines Geschäftsvorfalls auf zwei Konten (eine Soll- und eine Habenbuchung) musste die Balance der eingetragenen Zahlen 0 ergeben. Buchte man beispielsweise Ware an Kasse, also einen sog. Aktivtausch, wurde im Soll der gleiche Betrag erfasst wie im Haben. Der resultierende Saldo ergab 0. In den zuvor angewendeten einfachen Systemen wurden Zahlen häufig in den Büchern falsch eingetragen und es war aufwendig, Fehler zu finden und zu korrigieren. Es ist daher nicht zufällig, dass ein Mathematiker wie Pacioli von dieser Technik fasziniert war und sie erstmalig in einem Mathematikbuch beschrieb, denn es war eine elegante Methode, um Fehler zu vermeiden. Ein dritter Vorteil der doppelten Buchführung, war die Möglichkeit, dass Kaufleute nun bewusst mit Hilfe eines Informationssystems über Gewinn und Verlust reflektieren konnten. Ökonomen wie Werner Sombart sahen in der Buchführung einen unschätzbaren Wettbewerbsvorteil für Unternehmen, insbesondere seit der Industriellen Revolution, als Unternehmen größer und komplexer wurden. Mit der doppelten Buchführung war es möglich, das wirtschaftliche Geschehen in einem Unternehmen in einem geschlossenen System abzubilden. Weiterhin gab es den Drang zu einem aktiven Erwerbsstreben. In der Konsequenz wurde ökonomisch gedacht, der rational handelnde Kaufmann war geboren. Sombart, einer der bekanntesten Ökonomen in der Wilhelminischen Kaiserzeit und mit seinen Werken wichtiger Chronist der kapitalistischen Wirtschaftsweise, war von der wesentlichen Rolle der doppelten Buchführung bei der Entwicklung des Kapitalismus überzeugt: „Man kann schlechthin Kapitalismus ohne doppelte Buchhaltung nicht denken: sie verhalten sich wie Form und Inhalt zueinander. Und man kann im Zweifel sein, ob sich der Kapitalismus in der doppelten Buchhaltung ein Werkzeug, um seine Kräfte zu betätigen, geschaffen oder ob die doppelte Buchhaltung erst den Kapitalismus aus ihrem Geist geboren habe.“ Er führte dann weiter aus:“…daß abermals durch die doppelte Buchhaltung Möglichkeiten und Anregungen geschaffen wurden, damit die dem kapitalistischen Wirtschaftssystem innewohnenden Ideen zur vollen Entfaltung kommen konnten: die Erwerbsidee und die Idee des ökonomischen Rationalismus. […] In der doppelten Buchhaltung gibt es nur noch einen einzigen Zweck: die Vermehrung eines rein quantitativ erfassten Wertbetrages.[…] Man kann also sagen, daß vor der doppelten Buchführung die Kategorie des Kapitals nicht in der Welt war, und daß sie ohne sie nicht da sein würde.“ (Sombart, 1917, S. 118–120) Dieser Sprachduktus war sicher übertrieben, gleichwohl in der hypertrophen Wilhelm II.-Kaiserzeit durchaus verbreitet, dennoch hatte Sombart einen Punkt: Die Buchführung war das wichtigste Informations- und Steuerungssystem in kapitalistisch geprägten Unternehmen, deren Zweck im Erwerbsstreben lag.
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Pacioli beschreibt in seinem Werk auch die Aufteilung der Buchhaltung in diverse Bücher, die sich in dieser Form bis heute in modernen Buchhaltungsprogrammen wiederfinden lassen: Dazu gehören das Inventarverzeichnis, in dem Vermögen und Schulden aufgeführt sind, das Grundbuch, in dem jeder Geschäftsvorfall chronologisch aufgezeichnet wird, das Hauptbuch mit diversen Sachkonten und Nebenbücher, in denen Schuldner (Debitoren) und Gläubiger (Kreditoren) verzeichnet sind (Pacioli, 1494, S. 88 ff.). Damit sind auch die wesentlichen Teile beschrieben, die in der Gegenwart mit der handelsrechtlichen Buchführungspflicht verknüpft sind: Erstellung eines Inventars (§ 240 HGB), Betreiben einer laufenden doppelten Buchführung (§ 238 (1) HGB) und Erstellung eines Jahresabschlusses (§ 242 HGB). Die doppelte Buchführung war nicht von Beginn an in seiner uns heute bekannten Form ausgebildet, sondern entwickelte sich inkrementell über einen Zeitraum von Jahrzehnten, wie Penndorf (1916, S. 41 ff.) anhand von diversen Originaldokumenten nachzeichnet. Die Buchungen erfolgten doppelt (Soll an Haben), sie wurden auf Personen- und Sachkonten vorgenommen, es erfolgten Übertragungen zwischen den Konten, es entstand das Gewinn- und Verlustkonto, welches ab 1426 nachgewiesen ist, auch Inventuren wurden regelmäßig durchgeführt (Penndorf, 1916, S. 43). Die Vielfalt der verwendeten Nebenbücher nahm zu (Warenbuch, Kassenbuch, Wechselbuch, Debitoren, Kreditoren). Dieses umfangreiche Aufzeichnungssystem von Geschäftsvorfällen entsprach der Idee der Abbildung betrieblicher Wirklichkeit in einem geschlossenen System. Das System der doppelten Buchführung wurde auch ausführlich von dem in Neapel tätigen Kaufmann Benedetto Cotrugli im Jahr 1458 in seinem Buch „Della Mercatura es del Mercante perfetto“ beschrieben, der festhält, dass eine Buchführung den Kaufmann unterstützt und ihm hilft, Streitigkeiten und Ärgernissen vorzubeugen. Kheil beschreibt in einer Abhandlung über Cotrugli: „Ordentlich geführte Buchungen unterstützen das Gedächtnis des Kaufmanns in seinen Handlungen, erinnern ihn an seine Forderungen und Schulden, belehren ihn über den Preis der Waren und lassen ihn seine Gewinne und Verluste erkennen. Der Kaufmann hat drei Bücher zu führen: Das Hauptbuch mit seinem Index, das Journal und das Memorial.“3 (Kheil, 1906, S. 23 ff.) Auch über die Aufbewahrung von Belegen, die die Existenz von Geschäftsvorfälle beweisen, machte sich Cotrugli Gedanken, und empfahl die Lagerung von Kontrakten, Urkunden, Handschriften, Rechnungen und Policen, „nach dem Brauche wahrer Kaufleute“.4 (Penndorf, 1916, S. 46) Damit existierte eine schon relativ ausgereifte doppelte Buchführung
3 Anm.:
Cotruglis Werk wurde erst 1573 veröffentlicht, also 115 Jahre nach Verfassen des Skripts. Dadurch gilt Pacioli zu Recht als erster Verfasser einer Abhandlung über das System der doppelten Buchführung. 4 Heute ist das in den §§ 238 und 257 HGB geregelt.
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in Italien, wie sie sich ab Mitte des 15. Jahrhunderts in Europa, auch in Deutschland, verbreitete. In Deutschland waren es die Kontore der Kaufmannsfamilie der Fugger, in denen das Rechnungswesen angewendet wurde. Hier war es insbesondere Matthäus Schwarz, der Chefbuchhalter der Fugger, der ab 1516 in der Buchhaltung arbeitete und die Technik der doppelten Buchführung weiterentwickelte. Er hatte in Mailand, Genua und Venedig um 1514 die Grundlagen der Buchführung kennengelernt. Er war mit seinen Lernerfahrungen nicht zufrieden und begann ab 1518 die Buchführung der Fugger zu verbessern (Penndorf, 1916, S48 ff.). Hier erfolgten weitere inkrementelle Entwicklungen, wie z. B. das „Schwarze Buch“, welches bei den Fuggern zweifelhafte und uneinbringliche Forderungen enthielt und z. B. ab 1527 dokumentiert ist (Penndorf, 1916, S. 60). Auch das eine sinnvolle Aufteilung, die sich bis heute in den Buchhaltungssystemen findet, in denen man nach vollwertigen, zweifelhaften bzw. dubiosen und uneinbringlichen Forderungen unterscheidet. Auch beschäftigten sich die Fugger bereits mit Jahresabschlussarbeiten, um die Bilanz auf- und den Gewinn festzustellen. Es finden sich ferner eine Berechnung zur Auszahlung eines Gesellschafters im Jahr 1562 und sogar Arbitragegeschäfte, wie Penndorf beschreibt. Das Rechnungswesen der Fugger in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war bereits auf einem hohen Niveau, wie Penndorf ausführlich anhand vieler erhaltener Fugger-Dokumente dokumentiert (Penndorf, 1916, S. 46 ff.). Die Grundelemente einer doppelten Buchführung waren damit bereits vor 450 Jahren vorhanden. Dieser Entwicklungsstand sollte sich bis weit ins 19. Jahrhundert halten, also über einen Zeitraum von etwa 300 Jahre, der von Penndorf als Periode des Stillstandes bezeichnet wurde (Penndorf, 1916, S. 189). Der nächste große Innovationsschub im Rechnungswesen erfolgte dann mit der Industrialisierung.
6 Phase 2: Das analog geprägte Rechnungswesen Grundlegende handwerkliche Techniken zur Anwendung der doppelten Buchführung im Rechnungswesen wurden in Phase 1 entwickelt. In Phase 2, dem Zeitalter der Industrialisierung, hatten Unternehmen nun mit dem Problem zu kämpfen, dass die Unternehmen rasch wuchsen, vorher nie gekannte Größen entwickelten (Umsätze, Mitarbeiterzahl, Fabrikflächen u.v.m.), neue Betriebsformen mit einer Produktion betrieben (ante Industrialisierung vorwiegend Handel und Kleingewerbe), und in der Folge immer mehr Geschäftsvorfälle zu bewältigen hatten. Es ist nachvollziehbar, dass erhöhte Umsätze zu einem Anstieg an Ausgangsrechnungen führten, die gebucht werden mussten oder dass eine größere Anzahl an Mitarbeitern zu mehr Personalabrechnungen und einem höheren zu buchenden Personalaufwand führte. Auch wurde mehr investiert, denn Fabriken hatten einen großen Bedarf an Maschinen und Gebäuden im Gegensatz zu den Händlern aus vorindustriellen Zeiten. Das Anschwellen von Investitionen führte im Rechnungswesen zu einem Anstieg von Zugängen im Anlagevermögen. Auch nahmen die rechtlichen
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Anforderungen an das Rechnungswesen zu, da in der sog. Gründerzeit (ab ca. 1848) unzählige Unternehmen gegründet und neue Rechtsformen mit Haftungsbegrenzung, wie die Aktiengesellschaft, immer populärer wurden. Es war klar, dass technische Lösungen – Innovationen – gefunden werden mussten, um die Produktivität im Rechnungswesen zu erhöhen. Dank der Technisierung der Wirtschaft gab es unzählige neue Anwendungen in allen möglichen Lebensbereichen. Medizin, Maschinenbau, Chemie, Elektrotechnik, Kommunikation, Verkehr, um nur einige Bereiche zu nennen, waren mit vielen Innovationen konfrontiert. Forscher wie Virchow, Koch, Röntgen, Planck, von Laue oder Unternehmer wie Siemens, Krupp, Borsig, Linde, Stinnes und Rathenau galten als wichtige Antreiber der Industrialisierung in Deutschland, die ihren Schwerpunkt in den Jahren 1848 bis 1914 hatte (sog. Gründerzeit von 1848 bis 1871, Kaiserzeit 1871–1914 bis zum Eintritt in den 1. Weltkrieg). Auch die administrativen Bereiche wurden mit den Errungenschaften der Technik konfrontiert. In die Buchhaltungen hielten im 19. und frühen 20. Jahrhundert beispielsweise Buchungsmaschinen, Schreibmaschinen, Schreibmaschinen mit Aufsatz (als Ersatz für die teureren Buchungsmaschinen), Rechenmaschinen, die Addieren oder sogar Multiplizieren und Dividieren konnten, Durchschreibegeräte zum Übertragen von Buchungssätzen, Lochkartensysteme mit Locher, Sortier- und Tabelliermaschine, sowie automatischer Kartenzuführung, Lochstreifenapparate, Schreibautomaten und die Mikroform Einzug. Diese Geräte rationalisierten den Arbeitsprozess, da manuelle durch maschinelle Tätigkeiten unterstützt oder ersetzt wurden. Lochkartensysteme gehörten technologisch zum Höhepunkt dieser Phase, denn sie ermöglichten es, gleichartige Sortier- und Summenvorgänge, die sich regelmäßig wiederholten, in hoher Geschwindigkeit und Genauigkeit durchzuführen. Damit war die Massenverarbeitung von Informationen möglich geworden. Zentral war die Lochkarte, in die als Datenträger die zu erfassenden Informationen gestanzt wurden. Dies geschah mit mechanischen Maschinen wie Lochkartenstanzern. Die gelochten Karten wurden dann in Tabelliermaschinen gelegt, die mit hoher Geschwindigkeit die Lochkarten auswerteten (Zählen, Sortieren, Selektieren, Rechnen). Diese Maschinen konnten auch drucken. Im Laufe der Zeit wurden diese Systeme immer raffinierter, da Lochkarten und die dazugehörigen Maschinen immer weiter optimiert wurden (De Beauclair, 2005, S. 35 ff.). Die Lochkartentechnik wurde noch bis in die 1980ziger Jahre in Unternehmen eingesetzt, allerdings hatte sie da bereits ihren Zenit weit überschritten, denn die elektronische Datenverarbeitung löste sie sukzessive ab. Lochkartensysteme bewiesen ihre Tauglichkeit erstmalig während der amerikanischen Volkszählung von 1890, als sie in zwei Jahren knapp 63 Mio. Fragebögen auswerteten, während die letzte Volkszählung von 1880 noch 8 Jahre für die Auswertung von 50 Mio. Einwohnern benötigte. Der Erfinder Hermann Hollerith gründete folgerichtig 1896 ein Unternehmen zur Vermarktung dieser Technik, welches ab 1911 nach der Fusion mit anderen Firmen zur International Business Machines Corporation (IBM) wurde. Erster
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Anwender der Hollerithmaschinen für kaufmännische Aufgaben in Deutschland war im Jahr 1910 die Firma Bayer (De Beauclair, 2005, S. 36). Ein Manko hatten diese Systeme trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile gegenüber den Zeiten ohne Lochkarten. Ihr Betreiben war mit großem Aufwand verbunden. Es kam in den Abteilungen zu Doppelarbeiten, weil handgeschriebene Geschäftsvorgänge, z. B. Bestellungen oder Rechnungen mit der Datenverarbeitung eines Lochkartensystems verbunden werden mussten. Das bedeutete, dass handgeschriebene Vorgänge in einem Schreibsaal von Mitarbeitern für das Lochkartensystem erfasst und die erstellten Lochkarten dann weiterverarbeitet wurden, z. B. in der Buchhaltung. Die Ergebnisse, etwa ausgedruckte Listen, wurden dann wieder an die Abteilungen zurückgegeben, wo sie auf Fehler geprüft wurden. Statt ausgedruckter Listen konnten auch neue Lochkarten erstellt werden, die in der Buchhaltung für die Buchung von Debitoren, Kreditoren oder den Zahlungsverkehr verwendet wurden. Diese Prozedere mit dafür notwendigen großen Mengen an Lochkarten wären heute unvorstellbar, da im Rechnungswesen des 21. Jahrhunderts nahezu jeder Geschäftsvorfall nur noch einmal erfasst wird – in der Regel am Ort des Geschehens, wie Wareneingang, Einkauf oder Vertrieb – und dann über die vernetzte Software auch automatisch das Buchhaltungssystem des Unternehmens mit Daten speist. Aber dazu später mehr, wenn es um die Beschreibung der Phase 3 geht. Insgesamt aber wurde mit Lochkartensystemen der Einstieg in die automatische (später elektronische) Datenverarbeitung eingeleitet, die es möglich machte, dass das Rechnungswesen weiter wirtschaftlich und effizient betrieben werden konnte. Allerdings kosteten die Anschaffung und das Betreiben von Technik viel Geld. Die Finanzkraft war ein Separator zwischen Unternehmen, die sich eine bessere technische Büroausstattung leisten wollten und konnten und den anderen. Die Preise für Büromaschinen waren sehr unterschiedlich. Ein Besuchsbericht von der Internationalen BüroAusstellung (IBA) in Berlin aus dem Jahre 1928 vermerkt für eine Kleinschreibmaschine einen Preis ab 125 Mark, während für eine automatische Schreibmaschine 5.000 Mark angegeben wurden. Rechenmaschinen kosteten zwischen 450 und 11.000 Mark. Lochkartenmaschinen sogar 57.000 Mark (Pleitgen, 2005, S. 87). Bei diesen Preisen war klar, dass nur größere, finanzkräftigere Unternehmen sich teure Systeme für ihr Rechnungswesen leisten konnten, während die kleineren sich eher Geräte für marginale technische Verbesserungen anschafften – wie Schreibmaschinen oder Additionsmaschinen – ansonsten aber wie die Vorväter Rechnungswesen betreiben mussten. Auch stiegen die laufenden Kosten für diese neue Technikabteilungen stark an, da spezialisiertes Bedienungspersonal und Erfassungskräfte für die Erstellung von Lochkarten bezahlt werden mussten. Pleitgen hat die Entwicklung des Rechnungswesens am Beispiel von drei Unternehmen detailliert für die Jahre 1890 bis 1940 nachvollzogen. Die Firmenbeispiele zeigen anschaulich, dass sich das Rechnungswesen inhaltlich über die Jahre immer weiter ausdifferenzierte und dass es zudem gleichzeitig eine sehr mühselige Arbeit war, den verschiedenen Aufgaben nachzukommen. Beispielsweise sind im Laufe der Jahre die Anforderungen an das Berichtswesen gestiegen, da Geschäftsführungen aus der
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Buchhaltung Monatsbilanzen und eine Vielzahl von Statistiken benötigten (z. B. Verkäufe nach Umsatz und Absatz, Produktionszahlen, Mitarbeiterangaben, Anzahl der Kunden nach Vertriebskanälen usw.). Die von der Buchhaltung geführten Bücher wurden im Laufe der Zeit vielfältiger. So verwendete beispielsweise die Buchhaltung der Firma Farina (Hersteller des Parfüms Kölnisch Wasser) Hauptbuch, Journal, Bestell-, Verkaufs- und Versandbücher, Lagerbücher, Kontokorrentbücher, Kassenbücher, Hilfs- und Nebenbücher, Gesellschafterbücher und Geheimbücher (Pleitgen, 2005, S. 105). Ähnlich umfangreich sah es bei dem zweiten beschriebenen Mittelständler, der Firma Joh. Scheidt, eine Kammgarnspinnerei und Tuchfabrik, aus. Noch komplexer war die Situation bei der Gussstahlfabrik von Friedr. Krupp, die allein aufgrund ihrer Größenordnung höhere Anforderungen an das Rechnungswesen hatte. Die Abläufe im Rechnungswesen in der Firma Krupp waren ab den 1920ziger Jahren nicht mehr nach der traditionellen Buchführung mit handschriftlichen Eintragungen zu bewältigen. Beispielsweise dauerte es bis zu einem Jahr (!), bis Rechnungen an Kunden verschickt wurden. Es mangelte an Geschwindigkeit, es gab Übertragungsfehler, das Auffinden von Konten gestaltete sich langwierig (Pleitgen, 2005, S. 203). In einem Groß- und Industriebetrieb wie Krupp zeigte sich, dass die jahrhundertelang von Händlern praktizierte manuell geprägte Buchhaltung an ihre Grenzen geriet. Nur durch den Einsatz von Technik ließ sich das Rechnungswesen mit seinen Aufgaben Dokumentation und Information weiterentwickeln. Auch hatten die Eigentümer einen erhöhten Informationsbedarf, der in Wochen, nicht wie früher in Monaten befriedigt werden sollte [Anm.: heute schafft man das in wenigen Tagen oder Stunden, viele Anwendungen lassen sich sogar in Echtzeit abrufen], um ihre Unternehmen durch die wirtschaftlich schwierigen 1920ziger Jahre zu manövrieren. Daher setzte die Firma Krupp auf erhöhten Technikeinsatz im Rechnungswesen, der ab 1927 mit der Nutzung von Lochkartensystemen und Buchungsmaschinen einsetzte. Es wurde eine Hollerithabteilung eingerichtet, die diverse Aufgaben aus dem Rechnungswesen übernahm. Als Ergebnis erhöhte sich die Geschwindigkeit der Verarbeitung von Geschäftsvorfällen in erstaunlicher Weise. Es konnten monatlich 800.000 Lochkarten erstellt, pro Stunde 24.000 Karten sortiert und viermal pro Monat ausgewertet werden (Pleitgen, 2005, S. 207). Im Gegensatz zu Krupp setzten die Firmen Farina und Joh. Scheidt erst spät erste Buchungsmaschinen ein; Farina im Jahr 1934, Joh. Scheidt ab 1930. Ein Lochkartensystem wollten oder konnten sie sich nicht leisten. Wahrscheinlich erlaubte ihnen ihre überschaubare Größe noch gut mit dem manuell geprägten Rechnungswesen leben. Andere Maschinen, wie Schreibmaschinen oder Additionsmaschinen wurden sicher in allen drei Betrieben eingesetzt. Die drei Beispiele zeigen deutlich, dass das Rechnungswesen im Laufe der zweiten Phase differenzierter und aufwendiger zu betreiben war, und dass größere Betriebe an ihre Grenzen stießen, wenn sie weiter nach Art der Phase 1 ihr Rechnungswesen durchführten. Zudem belegt auch die weiterhin getrennte Führung von Büchern, dass die einzelnen Teilelemente des Rechnungswesens in dem Sinne unverbunden waren, dass Geschäftsvorfälle von einem in ein anderes Buch oder mehrere andere Bücher
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übertragen werden mussten. Das alles war mit hohem Aufwand verbunden. Es lässt sich festhalten, dass die technischen Lösungen der Phase 2 noch Insellösungen waren. Zwar gab es Techniken, wie Durchschreibebuchführung und Durchschreibegeräte, um diese Übertragungen schneller und fehlerfreier zu bewältigen, aber der entscheidende Durchbruch fehlte. Wie später gezeigt wird, wurden in der dritten Phase für genau diese Probleme intelligente Lösungen gefunden. Die Systemteile, einmal bezogen auf das Unternehmen insgesamt (Einkauf, Produktion, Vertrieb, Buchführung) und spezifischer die verschiedenen Bücher des Rechnungswesens, wurden miteinander vernetzt. Erneut waren es technische Innovationen, die das Rechnungswesen moderner werden ließen. Zusätzlich zur Technisierung der Unternehmen folgten erhöhte Anforderungen an die Rechnungslegung der Unternehmen durch den Gesetzgeber. Ob das als soziale Innovation zu bezeichnen ist, mag umstritten sein. Innovationen im Recht sind kein Thema der nicht-rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung. Man kann die Meinung vertreten, dass Neuerungen im juristischen Bereich Rechtsfortentwicklung und keine Innovation sind. Gleichwohl lehnen sich Befürworter der These von Innovationen im Recht an den klassischen Innovationsbegriff an, nach der eine Innovation neuartig und signifikant sein muss. Sie betonen allerdings auch, dass eine rechtliche Neuerung nicht objektivierbar, sondern ein soziales Konstrukt ist, welches aus dem Blickwinkel der Rechtspraxis gesehen werden muss (Hoffmann-Riehm, 2016, S. 11 ff.). Mit so einer Neuheit waren die Unternehmen ab 1861 konfrontiert, als erstmalig landesweit gesetzliche Regelung für das Handelsrecht und die Buchhaltung geschaffen wurden. Das sog. Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB) kodifizierte eine Reihe von Vorschriften für gewerbliche Unternehmen. Diese Vorschriften wurden ab 1869 von den Mitgliedern des Norddeutschen Bundes übernommen und ab 1871 ins Deutsche Reich überführt. Innovativ an diesem Kaufmannsrecht (selbst eine Innovation) war die Pflicht von Vollkaufleuten, eine ordnungsgemäße Buchführung zu betreiben. Artikel 28 des ADHGB schrieb vor: „Jeder Kaufmann ist verpflichtet, Bücher zu führen, aus welchen seine Handelsgeschäfte und die Lage seines Vermögens vollständig zu ersehen sind.“ Es gab zwar in den Jahrhunderten davor immer wieder Vorschriften, aber es waren Stadt- oder Landrechte, also lokale Regelungen in einem in viele Kleinstaaten zersplitterten Deutschland. Es waren Zeiten mit wenig Regulierung. Insofern handelte es sich bei diesem Gesetz um eine soziale Innovation, da sie einheitliche Vorschriften für das Rechnungswesen schaffte und der rechtlichen Vielfalt ein Ende bereitete. Die soziale Innovation eines landesweit geltenden Handelsrechts führte die Verrechtlichung in das Rechnungswesen ein. Ab da setzte dann eine Rechtsfortentwicklung ein – z. B. die Einführung des Handelsgesetzbuchs ab 1900 und weitere Reformen – die bis heute anhält. Das ADHGB und später das HGB beschäftigten sich beispielsweise mit Bewertungsfragen, wie das Niederstwertprinzip, welches für Kapital- und Personengesellschaften verbindlich regelte, dass Vermögensgegenstände vorsichtig zu bewerten sind (Vorsichtsprinzip in den Ausprägungen Realisations- und Imparitätsprinzip; s. § 252 Abs. 1 HGB). Diese Norm führte zu einer konservativen Bilanzierung, und diente damit dem Gläubigerschutz (z. B. Banken und Lieferanten), ganz im Gegensatz zur angelsächsischen Bilanzierung,
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die eher an den Interessen der Eigentümer orientiert ist. Weiterhin entwickelten sich die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (sog. GoB; § 243 Abs. 1 HGB, § 264 Abs. 2 HGB), welche verbindliche Regeln zur Durchführung der Buchführung und dem Aufstellen des Jahresabschlusses regelten. Damit wurden diverse individuelle Lösungen in den Unternehmen eingehegt und galten für alle Kaufleute, die dem HGB-Recht unterlagen. Diese Regelungen betrafen Dokumentation, Bilanzierung, Bewertung und Ansatzgrundsätze. Weiterhin wurden Systemgrundsätze festgelegt, wie der Grundsatz der Unternehmensfortführung („going concern“), Pagatorik und Einzelbewertung von Vermögensgegenständen inklusive des Problems der Abschreibungen. Diese GoB waren natürlich mit Einführung des ADHGB und HGB nicht in Gänze sofort vorhanden, sondern entwickelten sich sukzessive im Zeitablauf und wurden geprägt durch gesetzliche Rechtsanpassungen, Rechtsprechung von Gerichten, Veröffentlichungen durch das Wirtschaftsprüferinstitut, wissenschaftliche Einflüsse durch spezialisierte Lehrstühle und durch die Bilanzierungspraxis. Es gab viele weitere Regelungen, die sich auf die Praxis des Rechnungswesens auswirkten (z. B. Kontenrahmen, Entwicklung von Bilanztheorien, Einzelprobleme der Bilanzierungspraxis). Auch die Jahresabschlussprüfungspflicht durch Wirtschaftsprüfer wurde 1931 eingeführt und gilt als Geburtsstunde der Wirtschaftsprüfung (Weyershaus, 2007, S. 90 ff.). Eine weitere eigene „unendliche“ Geschichte an Vorschriften für das Rechnungswesen erfolgte durch das Steuerrecht, auf welches in diesem Aufsatz nicht weiter eingegangen wird.5
7 Phase 3: Das digital geprägte Rechnungswesen In Phase 3 vollzog sich mit dem Einzug digital basierter Rechenanlagen ein radikaler Wandel in der betrieblichen Realität. Computerisierung und Digitalisierung sorgten dafür, dass „die Welt in den Computer“ kam, um eine Formulierung von Gugerli (2018, S. 7) und dem Technikhistoriker Mahoney zu verwenden. Um diesen Wandel und seine Auswirkungen auf das Rechnungswesen zu verstehen, lohnt es sich, einen kurzen Augenblick bei der Entwicklung der Hardware und der Software zu verweilen. Deren Innovationseinfluss hob das Rechnungswesen auf ein gänzlich anderes Niveau. Die Veränderungen entwickelten sich über einen jahrzehntelangen Prozess, der bis heute anhält, aber viele Grundideen lassen sich bereits an einer der ersten kommerziellen Computeranlagen festhalten, dem UNIVAC („Universal Automatic Computer“) von Remington Rand, der ab 1951 in die Betriebe und andere Großorganisationen (Staat und Militär) Einzug hielt. Diese Rechenanlage verfügte u. a. über eine Hardware,
5 Einen
exzellenten Überblick über das Rechnungswesen mit den einschlägigen handels- und steuerrechtlichen Vorschriften, sowie Angaben zur internationalen Rechnungslegung bieten die Werke „Einführung in das Rechnungswesen“ und „Jahresabschluss und Jahresabschlussanalyse“ von Coenenberg et al. (2018a, b), die regelmäßig neu aufgelegt werden.
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deren Rechenoperationen auf dem Binärsystem basierten, über miteinander vernetzte Hardwarekomponenten, die Eingabe, Verarbeitung, Ausgabe und Speicherung beherrschten und über die erstmalige Anwendung von Softwareprogrammen, die den Maschinen mittels Programmiercode mitteilten, was sie zu tun hatten. Der Beruf des Programmierers entstand (Gugerli, 2018, S. 10 ff.). In rascher Folge entwickelten sich immer leistungsfähigere Computer, die kleiner, schneller und leistungsfähiger wurden. Beispielsweise wurde das Speicherproblem gelöst, der immer knapp war, aber mittlerweile nahezu unbegrenzt verfügbar ist. Der technische Durchbruch in das Computerzeitalter gelang mit den Transistoren, die 1947 erfunden wurden und sich ab den 1960ziger Jahren als integrierte Schaltkreise zu immer leistungsfähigeren Bauteilen entwickelten. Der Vorteil von Transistoren war, dass keine mechanische Bewegungsenergie benötigt wurde, wie für analoge Maschinen, sondern dass nur noch elektrische Signale in Stromkreisen im Transistor bewegt wurden. Weiterhin galten sie als zuverlässig, kostengünstig und waren klein, was hilfreich war, da die neuen Computer nicht mehr große Räume beanspruchten. Die Digitalisierung nahm ihren Anfang. 1971 wurde von Intel der erste Mikroprozessor unter dem Namen 4004 entwickelt und der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Das Patent wurde am 28. Juni 1974 durch das US-Patentamt erteilt (Ceruzzi, 2016, S. 140 ff.). Seit dieser Zeit verdoppelt sich etwa alle 24 Monate die Transistorzahl eines Chips und damit dessen Leistungsfähigkeit (Moore’s Law). Computeranlagen wurden einsetzbar für den Massenbetrieb in den Unternehmen. Nahmen sie vor der Entwicklung der Mikroprozessoren wegen der Verwendung von tausenden von Elektronenröhren und mechanischen Relais in einem Rechner noch die Größe von Schrankwänden ein, konnten nur von wenigen Spezialisten bedient werden, und waren nur für Großbetriebe erschwinglich, wurden sie jetzt kleiner („Miniaturisierung“), anwendungsfreundlicher und günstiger. Mit der Einführung des ersten PC durch IBM im Jahr 1981 für knapp 3.000 US$ setzten sich die Computer in den Betrieben durch. Neben dieser Hardwarerevolution entwickelte sich parallel eine immer leistungsfähigere Software, die Aufgaben in einem Betrieb miteinander vernetzen konnte. Software ermöglichte es, mit Hilfe von Programmiersprachen, der Hardware sinnvolle und flexible Anweisungen durch Programmiercode zu erteilen, die zu immer leistungsfähigeren Anwendungen führten. Die Auswirkungen der digitalen Entwicklung betrafen alle Bereiche des Unternehmens und wurden beispielsweise zur Steuerung von Maschinen in der Fertigung eingesetzt. Computer wurden durch Softwareprogramme, wie einer Auftragsabwicklung oder einem Einkaufssystem anwendungsfreundlicher und konnten nun auch von Nicht-Computerexperten bedient war. Sachbearbeiter in verschiedenen Abteilungen, wie in der Buchhaltung, konnten ihre Aufgaben direkt am PC mit spezialisierter Software erledigen. Die Geschäftsvorfälle wurden direkt am Ort des Geschehens erfasst (z. B. in den Bereichen Wareneingang, Einkauf, Fertigung, Vertrieb) und konnten in digitalisierter Form der Buchhaltung automatisch zur Verfügung gestellt werden. Die Vernetzung von Geschäftsabläufen zwischen verschiedenen Abteilungen wurde möglich. Es entstanden Buchhaltungsprogramme, die auf leistungsfähiger
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Soft- und Hardware basierten. Um dahin zu kommen – man ist bereits in den 1970ziger Jahren bei Großunternehmen und in den 1980ziger Jahren im Mittelstand – musste eine lange Entwicklungsphase durchlaufen werden. Erneut befruchteten Technikinnovationen das Rechnungswesen, wie in diesem Fall aus der sich entwickelnden Computerindustrie mit den Komplementären Hard- und Software. Das Buchführungssystem eines Unternehmens war in vielen Fällen Ausgangspunkt und Motivation für Unternehmen, sich moderne Rechenanlagen und Programme anzuschaffen. Auch der Kern von SAP, welches im Jahr 1972 gegründet wurde, geht auf ein Buchhaltungssystem zurück. Das erste von SAP programmierte Standardpaket war die 1974 auf den Markt gebrachte Finanzbuchhaltung (RF). In rascher Folge folgten weitere Pakete, wie Materialwirtschaft (RM), Anlagenbuchhaltung (RA; auch ein Teilgebiet des Rechnungswesens) und Auftragsverwaltung (RV) (Leimbach, 2010, S. 293). Ziel von SAP war es von Beginn an, eine integrierte Software zu schaffen, die als Standardsoftware in Echtzeit („real-time“) arbeitet und die Abläufe in einem Betrieb integriert, also miteinander verknüpft bzw. vernetzt. Dieses Ziel wird bis heute von Softwareunternehmen – neben SAP gibt es eine Vielzahl weiterer Anbieter – verfolgt und immer weiter optimiert. Es bedeutet z. B., dass Stammdaten zentral gespeichert und dann allen anderen Anwendungen zur Verfügung gestellt werden. Es bedeutet, dass ein Geschäftsvorfall nur einmal erfasst und dann in anderen Anwendungen, z. B. im Buchhaltungssystem automatisch verbucht wird. Es bedeutet, dass die Verarbeitung in Echtzeit erfolgt. Das ist erst seit ca. Anfang der 2000er-Jahre möglich und jetzt State of the Art, vorher gab es Verbuchungsläufe als Stapelverarbeitung nach Betriebsschluss (sog. „Nachtläufe“) oder an Wochenenden. Ähnlich wie bei den ersten Computeranlagen, die nur von finanzkräftigen Unternehmen eingesetzt werden konnten, war die Entwicklung von Software noch einzelfallbezogen, d. h. es wurden Individuallösungen für Einzelfirmen programmiert. Diese Phase reichte bis in die Mitte der 1960ziger Jahre. Daran schloss sich eine Phase der Entwicklung von standardisierter kommerzieller Software an, die an verschiedene Unternehmen verkauft werden konnten. Dieser Zeitabschnitt erstreckte sich bis nahezu zum Ende der 1970ziger Jahre (Leimbach, 2010, S. 42). Die Jahre 1969 bis 1972 sahen besonders viele Unternehmensneugründungen im Bereich Software mit jeweils zwischen 15 und 22 Gründungen. Darunter bekannte Unternehmen wie die Software AG (Gründung 1969), PSI (Gründung 1969) oder SAP (Gründung 1972) (Leimbach, 2010, S. 178 f.). Diese Phase war, beiläufig bemerkt, auch die Chance von SAP gewesen, deren Gründer zuvor noch als Softwareexperten von IBM unterwegs waren und im Jahr 1971 ein einzelfallbezogenes Projekt bei ICI in Östringen für verschiedene Abteilungen entwickelten. Hier kamen sie auf die Idee, eine standardisierte und integrierte Software zu entwickeln, die auch anderen Unternehmen angeboten werden konnte. So formulierten die Gründer Hopp und Plattner 1972 noch für ihren Arbeitgeber IBM eine Idee, die dann der Kern von SAP wurde:“ Für viele Unternehmen ergibt sich mit dem Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen die Notwendigkeit, die Arbeitsabläufe in den einzelnen Bereichen nicht getrennt zu organisieren, sondern eine integrierte Organisation
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anzustreben, in der verschiedene Aktivitäten, aber auch Informationen koordiniert zusammenfließen.“ (Leimbach, 2010, S. 289) Da ihr Arbeitgeber IBM an ihren Ideen wenig interessiert war, verließen sie ihn und gründeten SAP. Mit Unternehmen wie SAP und anderen Softwareunternehmen, wurden nun standardisierte Softwaresysteme für Unternehmen entwickelt. Diese Lösungen waren entweder integrierte Lösungen oder Insellösungen, die dann über Schnittstellen mit anderen Softwareanwendungen verbunden waren. Der Durchbruch von Soft- und Hardware für betriebswirtschaftliche Anwendungen inklusive Finanzbuchhaltung startete mit erschwinglichen PCs zu Beginn der 1980ziger Jahre und einer immer raffinierter werdenden Software, die die bereits beschriebene Integration und Vernetzung von Prozessen im Betrieb weiter verbesserte. Für das Rechnungswesen war nun die Vernetzung mit anderen Bereichen im Unternehmen möglich und damit die Bewältigung großer Mengen an Geschäftsvorfällen ohne manuelles Eingreifen durch Buchhaltungsfachkräfte. Beispielsweise wurden Ausgangsrechnungen im Vertrieb erstellt. Mit ihrer Erzeugung erfolgte gleichzeitig eine automatische Übermittlung an das Finanzbuchhaltungssystem oder -modul mit Verbuchung auf den entsprechenden Debitorenkonten. Diese wiederum waren direkt verknüpft mit sog. Mitbuchkonten in der Hauptbuchhaltung und wurden dort ebenfalls auf Forderungskonten verbucht. Notabene wurde die Mehrwertsteuer automatisch auf entsprechenden Steuerkonten erfasst. Ein Geschäftsvorfall, der noch vor der Digitalisierung mehrfach erfasst werden mussten, kaskadierte sich direkt ohne manuelle Eingriffe in verschiedene Teilsysteme der Buchführung. Auch die zu diesem Geschäftsvorfall gehörigen Buchungen auf der Aufwandsseite konnten nun automatisch verarbeitet werden. Wurde beispielsweise eine Ausgangsrechnung erzeugt, deren Erstellungssignal der soeben erfolgte Warenausgang war, also Verschickung der Ware an den Kunden, so wurde direkt der Warenabgang verbucht und damit eine Lagerbestandsreduzierung. Diese Information ging ebenfalls automatisch auf ein Materialaufwandskonto in der Buchhaltung und erzeugte dort eine Materialaufwandsbuchung, während der veränderte Lagerbestand ebenfalls automatisch auf dem zugeordneten Bilanzkonto verbucht wurde. Das Softwaresystem folgte den klassischen Anweisungen der doppelten Buchführung, indem es automatisch die Ausgangsrechnungen mit dem Buchungssatz Forderungen aus Lieferungen und Leistungen an Umsatzerlöse und Umsatzsteuer verbuchte, und die Lagerreduzierung als Herstellungsaufwand an Vorräte [Anm.: bei Anwendung des Umsatzkostenverfahrens]. Betriebe haben heutzutage hunderte, wenn nicht zehntausende von Ausgangsrechnungen pro Tag zu bewältigen, je nach Umsatzgröße und Produktkategorie. Das Rechnungswesen muss nicht mehr manuell eingreifen, da der Geschäftsvorfall Verkauf von Ware auf diversen Erfolgs- und Bilanzkonten direkt verbucht wird. Eine Rechnung wird in der Vertriebsabteilung erstellt und ausgelöst, parallel erfolgt der Eintrag auf den verknüpften Konten in der Finanzbuchhaltung. Man denke nur an große Ketten im Lebensmitteleinzelhandel, bei denen jeden Tag hunderte oder tausende von Kunden ihre Einkäufe pro Filiale abrechnen. Allein Lidl hat mehr als 3.000 Filialen in Deutschland und würde bei angenommenen 1.000 Kunden pro Filiale 3 Mio. Geschäftsvorfälle pro Tag (!) allein aus dem Verkauf haben. Jeder Verkauf ein Geschäftsvorfall, der auto-
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matisch in diversen Teilsystemen abgerechnet und auch direkt in der Finanzbuchhaltung verbucht wird. Die Zahlung an der Kasse wird in Echtzeit auf eingerichteten Geldkonten verbucht, Umsatz und Mehrwertsteuer auf entsprechenden GuV- und Bilanzkonten. Gleichzeitig werden die Lagerbestände korrigiert, die als bewerteter Vorratsbestand in der Bilanz ausgewiesen werden. Wiederum zeitnah erfolgen Bestellvorschläge im Einkauf, um die Lagerbestände aufzufüllen. Die ausgelösten Bestellungen führen nach Lieferung durch die Lieferanten automatisch zu Buchungen in der Finanzbuchhaltung (Ware an Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistungen), da die Wareneingänge in der Eingangslogistik erfasst werden und Buchungsanweisungen automatisch in der Finanzbuchhaltung erzeugen. Auch hier auf der Wareneingangsseite geschehen zahlreiche Geschäftsvorfälle pro Tag, die ohne Eingreifen der Buchhaltung direkt auf Kreditoren-, Bilanz- und Erfolgskonten verbucht werden. In Industriebetrieben gilt Gleiches für die Produktion, in der zahllose bewertete Produktionsaufträge auch mit den Systemen der Finanzbuchhaltung verknüpft sind, um Materialaufwendungen und Halb- und Fertigerzeugnisse automatisch buchen zu können. Auch an anderer Stelle gibt es Massenbuchungen. Man denke nur an die Abschreibungen auf Anlagevermögen, bei denen monatlich die Abschreibungen für tausende von Anlagegütern als Sammelbuchung hochverdichtet auf den entsprechenden GuV- und Bilanzkonten verbucht werden. Diese Posten werden über einen sog. „Abschreibungslauf“ in der Buchhaltung ausgelöst und automatisch verbucht. Auch die Menge an Personalbuchungen kann dem Massengeschäft zugeordnet werden. Hier werden monatlich aus dem Personalabrechnungssystem über Schnittstellen (sog. „Lohnschnittstelle“) alle Personalaufwendungen und Gehaltszahlungen für jeden einzelnen Mitarbeiter auf GuV- und Bilanzkonten anonymisiert und verdichtet in die Finanzbuchhaltung übertragen und verbucht. Die Buchhaltung greift kaum noch ein, sondern prüft über Plausibilitätschecks und Fehlerlisten, ob alles ordnungsgemäß verbucht wurde. Weiterhin kommen monatliche Abgrenzungsbuchungen für Rückstellungen und Rechnungsabgrenzungsposten in großer Zahl vor. Diese werden ebenfalls im Buchhaltungsprogramm einmal monatlich angestoßen und dann auf vielen Konten und Kostenstellen verbucht. Mit dem Massengeschäft von Geschäftsvorfällen in diversen Unternehmensbereichen ist ein wichtiges Anliegen im Rechnungswesen realisiert worden: die automatisierte Verbuchung von Geschäftsvorfällen. Je mehr automatisiert werden kann, umso schlanker kann man Buchhaltungsabteilungen halten und umso mehr können sie sich um andere Aufgaben kümmern. Das Thema ist bis heute in den Buchhaltungsabteilungen elementar, da man natürlich so viele Geschäftsvorfälle wie möglich zu automatisieren versucht. Der Entwicklungsstand in den Betrieben ist unterschiedlich hoch. Beispielsweise ist die automatische Verbuchung von Zahlungseingängen der Kunden nur teilweise realisiert. Viele Betriebe buchen noch direkt vom Kontoauszug die Debitorenzahlungen – bearbeiten also manuell die Geldeingänge – gleichwohl es hier schon seit vielen Jahren Lösungen gibt und diverse Unternehmen gute Fortschritte gemacht haben. Das Rechnungswesen ist rechtlich ebenfalls weiter reguliert worden. Ging es in Phase 2 i.W. um nationale Normen (HGB, Steuerrecht, Aktiengesetz etc.), lässt sich in
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Phase 3 als wesentliche Entwicklungslinie die Internationalisierung des Rechnungswesens benennen. Das zusammenwachsende Europa verfügt seit 1993 über einen einheitlichen Binnenmarkt, der u. a. durch einen freien Kapitalverkehr gekennzeichnet ist. Um leichter Kapital von in- und ausländischen Investoren für international tätige Unternehmen zu gewinnen, strebte man eine internationale Harmonisierung von Rechnungslegungsvorschriften an. Damit wäre es z. B. für einen englischen Investor leichter, die Jahresabschlüsse eines deutschen mit einem französischen oder spanischen Unternehmen zu vergleichen und zu beurteilen. In Deutschland nahm dieses Bestreben insbesondere seit der IAS-Verordnung im Jahr 2002 (EG-Verordnung Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments vom 19. Juli 2002) Fahrt auf, weil diese verfügte, dass Konzernabschlüsse für kapitalmarktorientierte Unternehmen für Geschäftsjahre ab 2005 verbindlich nach den IAS/IFRS-Vorschriften zu erstellen sind.6 Internationale Rechnungslegungsvorschriften sind insofern eine soziale Innovation für deutsche Unternehmen, als durch die Harmonisierung eine andere Rechtstradition, die anglo-amerikanische, in das Rechnungswesen Einzug gehalten hat. Der anglo-amerikanische Ansatz ist insbesondere an den Interessen der Investoren orientiert und verfolgt primär das Ziel der Informationsvermittlung und Entscheidungsnützlichkeit für diese Gruppe. Dagegen steht die deutsche Bilanzierungstradition mit dem Gläubigerschutz und dem Vorsichtsprinzip (Küting et al., 2011). Auf den Punkt gebracht, bilanziert man nach den IAS/IFRS-Vorschriften „offensiver“ als nach dem HGB. Die Ergebnisunterschiede zwischen einer HGB- und einer IFRS-Bilanzierung können gravierend sein. Abschlüsse nach IAS/IFRS gelten als „ehrlicher“, da sie bei der Bewertung näher am Markt ausgerichtet sind und eine frühere Gewinnrealisierung erlauben als die konservativen HGB-Vorschriften. Kapitalmarktorientierte Unternehmen müssen zweigleisig fahren. Die Einzelabschlüsse für deutsche Gesellschaften werden nach den HGB-Vorschriften erstellt, die Konzernabschlüsse nach IAS/IFRS. Man kann davon ausgehen, dass in größeren kapitalmarktorientierten Unternehmen Mitarbeiter oder einzelne Führungskräfte über eine Spezialausbildung verfügen, wie z. B. das WP-Examen, um die Vorschriften korrekt anwenden zu können. Zur Darstellung und Bewertung jeder einzelnen Bilanzposition gibt es einen oder mehrere Standards. Allein der reine Text der IAS/IFRS-Standards umfasst heute knapp 1.000 Seiten. Die Rechnungslegung nach IAS/IFRS gilt als sehr komplex und anspruchsvoll. Ihre Anwendung kann zu vielen Fehlern führen, wie sie die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) regelmäßig feststellt und im Bundesanzeiger veröffentlichen lässt. National gab es weitere größere Reformen, neben vielen kleineren, wie das
6 Die
Harmonisierungsbestrebungen der Rechnungslegung lassen sich bis zum Jahr 1973 zurückführen, als das International Accounting Standards Committee (IASC) von WP-Organisationen aus zehn Ländern gegründet wurde. Bis die dort entwickelten Standards IAS 1 etc. (später IFRS) aber rechtlich verbindlich akzeptiert wurden, vergingen noch knapp drei Jahrzehnte. Siehe zu der babylonischen Vielfalt internationaler Rechnungslegungsvorschriften Mueller et. al. (1994).
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Bilanzrichtliniengesetz (BiRiLiG) von 1985 oder das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG) von 2009, welche das HGB weiterentwickelt haben. Zieht man ein vorläufiges Fazit über 700 Jahre Rechnungswesen kann man Folgendes festhalten: In Phase 1 wurden Geschäftsvorfälle wie oben beschrieben, noch handschriftlich in verschiedenen Büchern eingetragen, bei seinerzeit geringerer Komplexität, weniger Volumen und geringer Regulierung. In Phase 2 wurden Geschäftsvorfälle aus dem Massengeschäft auf Lochkarten erfasst, bei großer Fehleranfälligkeit und vorherrschenden Insellösungen. Das Rechnungswesen wurde erstmalig durch landesweit geltende Gesetze reguliert. In Phase 3 war es endlich möglich, vernetzt und integriert bei gleichzeitig hohem Volumengeschäft zu arbeiten. Da sich die Leistungsfähigkeit von Hard- und Software immer weiter erhöhte, gleichzeitig aber auch die Kosten stark abnahmen, wurde Software für die Finanzbuchhaltung und Betriebe allgemein ab den 1980ziger Jahren zur Massenware. Mittlerweile gibt es einfache Finanzbuchhaltungslösungen selbst für Kleinunternehmer, Freiberufler und Unternehmensgründer, die für wenige Euro Lizenzgebühr pro Nutzer und Monat über die Cloud betrieben werden können. Großunternehmen setzen aufgrund ihrer Komplexität leistungsfähigere Systeme ein, die aufwendiger und mit hohen Kosten zu betreiben sind. Die rechtlichen Anforderungen an die Durchführung eines Rechnungswesens wurden in Phase 3 weiter kompliziert durch die Einführung der internationalen Rechnungslegung nach IAS/IFRS (Tab. 1). Die Tabelle zeigt den Einfluss von Innovationen auf das Rechnungswesen. Es handelt sich um Wesentlichen um die Erfindung der Technik der doppelten Buchführung, sowie um technische und soziale Innovationen, die seit der industriellen Revolution das Rechnungswesen prägen (siehe Abb. 1). Diese Abbildung zeigt wichtige Zeitpunkte in der Entwicklung des Rechnungswesens und verdeutlicht, dass besonders viel Innovation in den letzten 150 Jahren erfolgt ist.
8 Rechnungswesen und Innovation – Quo vadis? Wenn man knapp 720 Jahre Revue passieren lässt, ergeben sich Hinweise auf die Weiterentwicklung des Fachs, und damit zu der Beziehung zwischen Innovation und Rechnungswesen. Die wesentlichen Entwicklungslinien sieht der Autor auf folgenden vier Gebieten: • Digitalisierung • Recht • Organisation Buchhaltung und Berufsfortentwicklung • Projektfähigkeiten im Rechnungswesen Die Digitalisierung beeinflusst das Rechnungswesen seit Jahrzehnten. Es spricht wenig dagegen, dass es auf diesem Gebiet keine neuen Impulse für das Rechnungswesen geben wird. Einige Beispiele werden später dargestellt.
Technische Innovationen (Beispiele)
Innovationen im Rechnungswesen
Dampfmaschine, Stahl, Eisenbahn, Chemie, Elektrische Energie
Informations- und Kommunikationstechnologie Digitale Technologien Nachhaltige Technologien
Digitales ca. 1951 bis heute Rechnungswesen
Bewältigung von Massentransaktionen Verbindliche Vorgaben zur Rechnungslegung im Handels- und Steuerrecht Automatisierung von Geschäftsvorfällen Echtzeit-Rechnungswesen und sofortige Verfügbarkeit von Informationen Internationalisierung der Rechnungslegung
Analoge Geräte zur Durchführung der Buchführung, z. B. Lochkartensysteme Verrechtlichung des Rechnungswesens Einsatz Personalcomputer und integrierte Software im Rechnungswesen Internationalisierung der Rechnungslegung
Kommunikationshilfsmittel wie Smartphone, E-Mail, Internet, soziale Medien, Computer, Erneuerbare Energien (z. B. Solarzelle), Recycling, Medikamente aus der Pharmaforschung
Schaffung eines Steuerungs- und Informationssystem für den rational handelnden Kaufmann
Ergebnisse Innovationen im Rechnungswesen
Maschinengetriebene Fahrzeuge aller Art, Elektrifizierung von Städten und Fabriken, Telegramm und Telefon
Arabisches Zahlensystem Wind- und Wassermühlen, System der doppelten Handelsrevolution Erfindung Webstuhl, Taschenuhr, Buchführung des Buchdrucks Brille, Kompass
Analoges ca. 1890–1951 Rechnungswesen
Manuelles ca. 1300–1890 Rechnungswesen
Zusammenspiel Rechnungswesen und Innovation Phase Zeitraum Basisinnovationen (Beispiele)
Tab. 1 Phasen im Rechnungswesen und Einfluss von Innovationen
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Abb. 1 Wichtige Meilensteine im Zusammenspiel zwischen Rechnungswesen und Innovation (Eigene Erstellung)
Rechtliche Anforderungen bestimmen spätestens seit 1861 mit dem ADHGB maßgeblich die Agenda im Rechnungswesen. Es ist realistisch anzunehmen, dass die Rechtsfortentwicklung im Rechnungswesen weiter voranschreiten wird. Buchhaltungsabteilungen waren spätestens seit Phase 2 organisatorischen Änderungen ausgesetzt. Sie waren signifikant, aber nicht so einschneidend, wie in anderen Abteilungen eines Unternehmens, z. B. in der Produktion. Das dürfte überholt sein, da
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neue technische Möglichkeiten wesentlichen Einfluss auf die Buchhaltungsabteilungen haben dürften. Rechnungswesen ist schon lange nicht mehr eine gemächlich, vor sich hinfließende Angelegenheit, wenn sie es denn je war. Der Dauermodus, insbesondere in größeren kapitalmarktorientierten Unternehmen, ist heutzutage Veränderung. Das geschieht durch die zuvor beschriebenen Entwicklungslinien. Veränderungen in Organisationen werden durch Projekte eingeführt. Dazu sollte man auch einschlägige Projektfähigkeiten im Rechnungswesen haben, wie später ausgeführt wird. Digitalisierung: Das manuelle Rechnungswesen im Sinne des Handwerks, wie es heute ausgeübt wird (Phase 1), ist relativ ausgereift. Hier dürften sich nur noch marginale Veränderungen ergeben. Das analoge Rechnungswesen (Phase 2) ist weitgehend durch das digitale Rechnungswesen (Phase 3) abgelöst worden. Phase 3 hält noch auf unbestimmte Dauer an. Hier könnte es weitere Innovationen geben, wie sie bereits in größeren Organisationen ausprobiert werden, z. B. die Prozessautomation (s. später), raffinierte Algorithmen, Künstliche Intelligenz und technische Hilfsmittel bei Randaktivitäten des Rechnungswesens, wie die Inventur. Hier lohnt es sich, auf Pionierunternehmen zu schauen, denn sie zeigen, was das Rechnungswesen der Zukunft in weiteren Unternehmen prägen könnte. Ein Beispiel ist die Nutzung von Drohnentechnologie bei der Inventur. Drohnen können in geeigneten Hochregallagern die Bestände anfliegen, die Lagerware per Barcode direkt scannen und die Daten einem Analyseprogramm zur Verfügung stellen. Mit dieser Technik erhofft man sich eine größere Genauigkeit und die Möglichkeit, Inventuren häufiger und schneller durchführen zu können. Auch können Lagerorte im Freien oder auf Baustellen besser überwacht werden. Traditionell sind Inventuren sehr zeitaufwendig für Unternehmen und die als Beobachter teilnehmenden Wirtschaftsprüfer. Weiterhin sind sie fehler- oder sogar manipulationsanfällig. Mit der neuen Technik, die noch nicht ausgereift ist, kann man die Inventur weiterentwickeln. Beispielsweise forscht das Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML) an diesem Thema und es gibt erste Start Ups, die diese Technik bereits verkaufen.7 Ein weiteres Beispiel ist die Verwendung von Softwaretools, um Manipulationen im Rechnungswesen früher aufdecken zu können. Das Rechnungswesen ist leider immer wieder erschüttert worden durch Bilanzskandale. Wirtschaftskriminelles Handeln geschieht häufig in diesem Unternehmensbereich.8 Neben den Unternehmen selbst,
7 Das
Unternehmen doks.innovation GmbH in Kassel ist beispielsweise ein neugegründetes Unternehmen aus diesem Bereich. 8 Einer der jüngeren Fälle ist im Dax-Unternehmen Wirecard aufgedeckt worden, bei dem durch Bilanzmanipulationen ein Schaden von mehr als 2 Mrd. € entstanden ist. Der Fall wurde im Jahr 2020 öffentlich bekannt.
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sind Steuerbehörden und Wirtschaftsprüfer an diesen Tools interessiert. Mathematische Verfahren werden bereits von den Steuerbehörden und WP-Gesellschaften eingesetzt, wie das Benfordsche Gesetz, bei dem man erwartete und tatsächliche Häufigkeiten von Zahlen vergleicht. Kommen beispielsweise bestimmte Umsatzzahlen häufiger vor als nach der Benford-Verteilung erwartet, könnte dahinter eine Manipulation stecken. Auch werden Softwarelösungen Wirtschaftsprüfer dabei unterstützen, historische Buchhaltungsdaten, Geschäfts- und IT-Prozesse zu untersuchen. Tools dieser Art werden bereits eingesetzt und laufend verbessert. Weitere Entwicklungen beschäftigen sich mit dem automatischen Auslesen von Eingangsrechnungen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz, bei der Algorithmen anhand des Textes Zahlen und Informationen identifizieren können und diese ohne manuellen Eingriff direkt auf den entsprechenden Sachkonten verbuchen. Auch monatlich wiederkehrende Routinerechnungen können mit dieser Belegerkennung behandelt wird. Texterkennung wird auch in anderen Bereichen wichtig sein, wie im Vertragswesen. Beispielsweise sind Leasingverträge für die Buchhaltung wichtig, da die dort enthaltenen Informationen eine entscheidende Rolle bei der Verbuchung von Leasinggütern haben. Die Leasingbilanzierung nach IFRS 16 gilt als sehr aufwendig. Leasingobjekte müssen seit 2019 auch beim Leasingnehmer (vorher nur bei eng definierten Fällen) bei der Erstbewertung als Nutzungsrecht aktiviert und als Leasingverbindlichkeit passiviert werden. In der Folgebewertung erfolgt eine Abschreibung des Nutzungsrechts und ein Abtrag der Leasingverbindlichkeit, ausgelöst durch die Leasingzahlungen. Weiterhin wird es verstärkten direkten Datenaustausch mit Lieferanten und Kunden geben. Zwar ist das keine neue Entwicklung – EDIFCAT u.ä. gab es schon in den 1990ziger Jahren – aber die Vernetzung wird sich weiter intensivieren und sich auf andere Bereiche neben der Faktura ausdehnen. Spracherkennung à la „Alexa“ wie im privaten Bereich könnte auch eine Rolle spielen. So könnte eine Buchhaltungskraft in ausgewählten Bereichen verbal Anweisungen an das System erteilen und damit Buchungen auslösen. Gleichzeitig wird der Vorgang dokumentiert, um einer Kernforderung des Rechnungswesens „keine Buchung ohne Beleg“ nachzukommen. Denkbar wäre der Beleg dann als Audiodatei. Es ist wahrscheinlich, dass viele Entwicklungen aus der KI und anderen Data Science-Bereiche auch in das Rechnungswesen Einzug halten werden. KI-Algorithmen können beispielsweise trainiert werden, Prognosen abzugeben und diese laufend zu verbessern. Im Working Capital Management kann dies bedeuten, dass Ausfallwahrscheinlichkeiten von Kunden (Forderungen aus Lieferungen und Leistungen) und Lieferanten (Vorratslieferungen und Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen) laufend ermittelt werden können. Das ermöglicht dem Debitoren- und Kreditorenmanagement früher eingreifen zu können, um mögliche Forderungsverluste zu reduzieren oder ausbleibende Lieferungen zu verhindern. Weiterhin wird es erhöhte Anforderungen an das interne Reporting geben, um eine erhöhte Transparenz zu erhalten. Mit einem Echtzeit-Berichtswesen zu verschiedenen Sachverhalten aus dem Rechnungswesen, welches man sich über eine App jeder-
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zeit aufrufen kann, wird man schneller Entscheidungen treffen können. Eine weitere jüngere Entwicklung ist das Konzept des „Continuous Accounting“, bei dem Prozesse beschleunigt werden. Buchhaltungsdaten werden automatisch abgestimmt und validiert. Genehmigungen werden schneller erteilt und Kontrollen automatisiert durchgeführt. „Continuous“ bedeutet, dass sich das Rechnungswesen permanent um Prozessverbesserungen im Tagesgeschäft und bei Periodenabschlüssen bemüht. Recht: Man kann ferner davon ausgehen, dass es eine Rechtsfortentwicklung im externen Rechnungswesen geben wird. Die vergangenen Jahrhunderte haben folgende Entwicklungslinien in der Gesetzgebung für das Rechnungswesen gehabt: Relativ wenig Regulierung in den ersten knapp sechshundert Jahren seit der Erfindung der doppelten Buchführung, danach Einführung eines nationalen Bilanzrechts ab 1861. Es folgte die Europäisierung des deutschen Bilanzrechts spätestens mit dem Bilanzrichtliniengesetz von 1985. Zu guter Letzt erfolgte eine Globalisierung des deutschen Bilanzrechts mit der verpflichtenden Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards (IAS/IFRS) ab dem Jahr 2005, die für kapitalmarktorientierte Unternehmen der Europäischen Union, also i.W. Aktiengesellschaften, gelten. Im Jahr 2021 kann man festhalten, dass sehr viele Länder – auch außerhalb der Europäische Union – ihre kapitalmarktorientieren Unternehmen nach den IAS/IFRSStandards bilanzieren lassen oder sich daran orientieren (Pacter, 2017). Der andere große Standardsetter von Rechnungslegungsnormen sind die USA, die nach ihrem Standard US GAAP Unternehmen die Bücher führen lassen. Das Fernziel wird sein, dass es weltweit nur noch einen Bilanzierungsstandard geben wird. Das wäre eine gravierende Innovation im Bilanzrecht, denn auf welchen anderen Rechtsgebieten gibt es sonst einen Weltstandard? Der langjährige Vorsitzende des IASB, Sir David Tweedie, schreibt:“…and to ensure that all countries have the same accounting standards, the International Accounting Standards Committee has been reconstituted with effect from 2001 to form a virtually full-time International Accounting Standards Board, the main mission of which is to seek convergence of accounting standards throughout the world.“ (Nobes & Nobes, 2016, Vorwort) Dies entspricht der Vision der IFRS Foundation, die für die Entwicklung der IAS/ IFRS-Standards zuständig ist und ihr Ziel von „global accounting standards“ bereits in ihrer „Unternehmensverfassung“ aus dem Jahr 2001 niedergelegt hat (Pacter, 2017, S. 9). Da die Entwicklungslinien für bedeutsame Rechtsanpassungen lang sind, könnte es ein einheitliches international geltendes Bilanzrecht eher um das Jahr 2050 geben als etwa ab dem Jahr 2025. Nur der Vollständigkeit halber noch der Hinweis, dass natürlich alle Unternehmen weltweit weiterhin ihre jeweiligen nationalen Bilanzierungsnormen anwenden, wie deutsche Unternehmen das nationale HGB, da sie gesetzlich vorgeschrieben sind. Organisation Buchhaltung und Berufsfortentwicklung: Eine bereits eingesetzte Entwicklung betrifft die Mitarbeiter im Rechnungswesen selbst. Hier arbeiten Unternehmen an Prozessinnovationen, um Tätigkeiten und Abläufe zu
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automatisieren. Es ist nicht so, dass das Personal in Buchhaltungen in den beschriebenen Phasen nie von Innovationen und Änderungen betroffen war. Das Gegenteil war der Fall. Neue Berufsbilder entstanden, alte verschwanden. Bediener von Lochkartensystemen oder Datentypistinnen zur Erfassung von Geschäftsvorfällen gibt es schon lange nicht mehr, da diese Jobs durch Technisierung nach und nach überflüssig wurden. Der Bilanzbuchhalter International ist dagegen eine junge und begehrte Zusatzausbildung für Buchhalter in Unternehmen, die nach internationaler Rechnungslegung bilanzieren. Ein „Upgrading“ der Qualifikationen ist nötig, um höher qualifizierte Buchhalter einsetzen zu können, die das Rechnungswesen der Gegenwart gestalten können. Das Outsourcing ist ein schon etabliertes Instrument, welches im Rechnungswesen angewendet wird. Es bedeutet, dass Tätigkeiten im Rechnungswesen an einem Ort im In- oder Ausland konzentriert werden, in einem sog. Shared Service Center (SSC). Nicht mehr dezentral in den vielen Tochtergesellschaften eines Konzerns, sondern zentral in einer eigens gegründeten Gesellschaft, die buchhalterische Dienstleistungen für die Gruppe erbringt. In diesen SSC werden ausgewählte repetitive Massentransaktionen abgewickelt, z. B. die Debitoren- oder Kreditorenbuchhaltung. Das Outsourcing rechnete sich primär nur für Großunternehmen, die relativ stark besetzte Buchhaltungsmannschaften haben und diese an einem Ort konzentrieren können. Ein durch den Controllerpreis 2012 bekanntgewordenes Anwendungsbeispiel stammt von der Otto-Gruppe, die über eine hoch automatisierte und standardisierte Kreditorenbuchhaltung verfügt. Diese verarbeitet in ihrem Shared Service Center Lieferantenverkehr mit 42 Mitarbeiter knapp 450.000 Belege p.a. für 10 Otto-Gesellschaften aus dem Segment Multichannel Einzelhandel und einem Einkaufsvolumen von 2 Mrd. € (Otto-Gruppe, 2012). Eine junge Entwicklung ist die Robotic Process Automation-Technik (RPA), die sich vermehrt seit etwa 2015 in Großunternehmen verbreitet. Mit dieser Technik will man Abläufe ohne menschlichen Eingriff automatisieren. Solche Prozesse sind schneller, genauer und kostengünstiger als bisherige Abläufe. RPA soll Entlastung bei standardisierten und repetitiven Prozessen ermöglichen. Vorteile von RPA sind schnelle und fehlerfreie Erledigung von einfachen Aufgaben, Entlastung von Mitarbeitern und Hinterfragung und Verbesserung von Arbeitsabläufen. Mitarbeiter können für die Bearbeitung qualitativ hochwertigerer Arbeiten eingesetzt werden. Der Begriff Robotic ist nicht zufällig gewählt, da RPA das administrative Pendant zum Roboter in der Fabrikhalle ist. Dort wird der (Hardware-)Roboter bereits im Großeinsatz in der Fertigung eingesetzt. Der Kollege Roboter in der Administration ist ein virtueller (=Software-) Roboter, der Büro- und Buchhaltungstätigkeit automatisiert durchführen kann. Die Software können Makros, Skripts, Bots, Cognitive Automation und andere technische Tools sein, die einen Prozess automatisiert ablaufen lassen. Unternehmen verfolgen diesen Weg, um sogenannte nicht-strategische Kosten, wie sie z. B. in Verwaltungen, also auch der Buchhaltung, entstehen, zu senken oder zumindest nicht weiter ansteigen zu lassen. Als einen Weg sieht man die Ablösung von Arbeitskraft durch virtuelle Roboter, Wie gravierend die Auswirkungen auf Buchhaltungen sein werden, ist umstritten. Man kann grob sagen, dass Beschäftigungen mit einem großen Anteil an Routinearbeiten
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leichter substituierbar sind als Beschäftigungen mit großer Arbeitsvielfalt. RPA und andere Techniken sind Innovationen, die das Rechnungswesen produktiver machen und es ihm ermöglichen, weiter den jeweiligen Herausforderungen gewachsen zu sein. Insoweit könnte man sogar argumentieren, dass diese Techniken benötigt werden, um das Rechnungswesen weiterzuentwickeln, wie beispielsweise die Lochkartentechnik, die vor hundert Jahren den Sprung von der manuellen zur analogen Buchführung ermöglicht hat. Die Zeitersparnisse durch RPA sind enorm. Vorgänge können um ein Vielfaches beschleunigt werden, wie etwa die Verkürzung der Rechnungsbearbeitung von 6 bis 8 min auf 30 s oder die Verkürzung eines Reportingprozesses von 2 Tagen auf 15 min (Smeets et al., 2019).9 Andere Bots helfen bei der Stammdatenanlage und -pflege, können automatisch Kreditlimits pro Kunde festlegen oder E-Mails auslesen und in strukturierte Daten umwandeln. Gelänge es beispielsweise einem Unternehmen, 30 Prozesse zu automatisieren, würde man 30 Bots oder virtuelle Roboter im Einsatz haben, die diese Leistung erbrächten. RPA ist eine interessante Innovation mit großem Potenzial. Ob sie sich schnell verbreitet, bleibt abzuwarten, denn das Auffinden von geeigneten Prozessen und die Umstellung sind relativ mühselige Aufgaben. Projektfähigkeiten im Rechnungswesen: Dieser Punkt mag überraschen, doch die Abwicklung von Projekten ist mittlerweile zur Routine im Rechnungswesen von Unternehmen geworden. Ständig neue Anforderungen durch den Gesetzgeber oder die Unternehmensführung verlangen von dieser Abteilung, dass sie Änderungen, häufig soziale Innovationen, fehlerfrei im Rechnungswesen integrieren. Fehler können sich die Unternehmen nicht erlauben, denn diese könnten Sanktionen seitens der Behörden auslösen. Einige Beispiele aus den letzten knapp 20 Jahren: I. Bilanzskandale und Firmeninsolvenzen haben ab 1998 mit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) zu einer Kaskade von Gesetzen geführt, die das Risikomanagement in Unternehmen sukzessive verbessert haben. Damit einhergehend ergaben sich erhöhte Kontrollanforderungen insbesondere im Rechnungswesen, die regelmäßig durchgeführt, dokumentiert und abgezeichnet werden müssen. Risikomanagementsysteme werden von Wirtschaftsprüfern im Rahmen der Abschlussprüfung beurteilt (§ 317 (4) HGB i.V.m. IDW-Standard 340).
9 Dieses
Werk bietet einen umfassenden Überblick zu RPA mit dem Fokus auf die Finanzbranche.
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II. Ab Anfang 2002 wurden Unternehmen verpflichtet, den Betriebsprüfern im Rahmen von Außenprüfungen elektronischen Datenzugriff auf die Finanzbuchhaltung zu ermöglichen. Die Umsetzung dieser Regelung nach § 147 (6) AO und den sog. GDPdU (Grundsätze zum Datenzugriff und zur Prüfbarkeit digitaler Unterlagen; diese waren gültig bis 31.12.2014) erforderte seinerzeit viel Vorbereitungszeit, um den Vorschriften Genüge zu tun. III. Mitwirkung an der jährlichen Erstellung der Verrechnungspreis-Dokumentation, die seit 2003 für Betriebe verpflichtend ist. Die Erstellung einer solchen Transferpreisdokumentation nach § 90 (3) AO soll den Finanzbehörden belegen, dass grenzüberschreitende Lieferungen zu Marktpreisen erfolgen und die Gewinne daraus im Inland versteuert worden sind und nicht im steuergünstigeren Ausland kommt (§ 1 (1) AStG, § 8 (3) KStG). Die Dokumentationserstellung ist aufwendig und muss inhaltlich den Vorgaben der Finanzbehörden entsprechen (erstmalig im BMF-Schreiben vom 12. April 2005 konkretisiert). IV. Umstellung auf internationale Rechnungslegung ab 2005 nach den IAS/IFRSVorschriften. Die vorbereitenden Projektarbeiten mussten Jahre vorher im Rechnungswesen gestartet werden. V. Umsetzung der HGB-Reform durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG) aus dem Jahr 2009. VI. Seit 2012 müssen Unternehmen verpflichtend eine sogenannte Elektronische Bilanz erstellen, die verpflichtend an das jeweils zuständige Finanzamt per Datenübertragung übermittelt werden muss. Zur Umsetzung waren umfangeiche Vorbereitungsaufgaben in den Buchhaltungen zu treffen. VII. Bis August 2014 musste SEPA („Single Euro Payments Area“) in den Unternehmen eingeführt sein. Jedem Kreditor und Debitor wurden europaweit standardisierte IBAN- und BIC-Nummern zuordnet werden, um weiterhin Überweisungen und Lastschriftverfahren durchführen zu können. Die internen Umstellungen waren teilweise signifikant, u. a. mussten Kunden- und Lieferantenstammdaten geändert werden. Die letzten größeren Projekte betrafen IAS/IFRS-Projekte, wie die Einführung der aktualisierten bzw. neuen Standards IFRS 15 (Erlöse aus Verträgen mit Kunden), anzuwenden ab 1. Januar 2018 und IFRS 16 (Leasing), anzuwenden ab 1. Januar 2019. Auch diese Projekte nahmen mehrere Jahre an Vorbereitung im Rechnungswesen der von diesen Standards betroffenen Unternehmen in Anspruch. Ein weiteres Beispiel: Im Rahmen der Corona-Pandemie musste nahezu ad hoc in wenigen Monaten bis zum Jahresende 2020 eine temporäre Mehrwertsteuersenkung von 19 auf 16 % bewältigt werden. Ein sicher kleineres Projekt, aber auch ein Beispiel, dass in der Buchhaltung Geschwindigkeit und Flexibilität gefragt ist, um solche Umstellungen zu stemmen. Last but not least gibt es in den Unternehmen gelegentlich eine Umstellung auf ein neues
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ERP-System oder eine neue Finanzbuchhaltung. Projekte dieser Art stellen ebenfalls hohe Anforderungen an die Buchhaltungsabteilung. Der Wandel ist mittlerweile im Rechnungswesen der Normalfall.
9 Fazit Das Rechnungswesen ist einen weiten Weg gegangen von der Erfindung der doppelten Buchführung und ihrer praktischen Anwendung durch italienische Kaufleute in der Renaissance bis zum heutigen Echtzeit-Computing, welches die Verbuchung unzähliger Geschäftsvorfälle bereits mit ihrer Werdung ermöglicht. Mühselig war das Buchhaltungsgeschäft am Anfang, als Geschäftsvorfälle handschriftlich auf Papierblättern, die durch Pergamentumschläge zusammengebunden waren, eingetragen wurden. Kompliziert ist das Betreiben des Rechnungswesens in der Gegenwart, mit unterschiedlichen Technologien, komplexen Softwarearchitekturen und einer unübersehbaren Vielzahl von Rechtsvorschriften bei gleichzeitiger Anforderung, hohe Datenvolumina zu verarbeiten, zudem rasch Zahlen liefern zu können („fast close“), und das in einer permanent hohen Qualität. Ohne technische und soziale Innovationen wären diese Entwicklungen nicht möglich gewesen. Es spricht viel dafür, dass sich das Rechnungswesen weiter dynamisch entwickeln wird. Am Anfang dieses Aufsatzes stand die Frage, ob Rechnungswesen und Innovation ein Oxymoron sind. Die Antwort ist eindeutig beantwortet worden: Nein, denn Innovationen liefern wichtige Impulse zur Weiterentwicklung des Rechnungswesens. Durch sie hat das Rechnungswesen ein Leistungsniveau erreicht, welches für frühere Generationen undenkbar gewesen wäre.
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Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron?
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Prof. Dr. Jürgen Dahlhoff lehrt Controlling, Kostenrechnung, Externes Rechnungswesen, Corporate Finance und International Business an der SRH Hochschule Nordrhein-Westfalen am Standort Hamm. Er unterrichtet in deutsch- und englischsprachigen Bachelor- und Masterstudiengängen. Er ist weiterhin Studiengangsleiter für den neu entwickelten Bachelor-Studiengang Business Analytics (deutsch- und englischsprachig), der zum WS 2021/22 gestartet wurde. Vor seiner Tätigkeit im Hochschulbereich hat er mehr als 25 Jahre praktische Tätigkeiten in international ausgerichteten Unternehmen (DAX 30, FTSE 100, Mittelstand) im Kaufmännischen Bereich ausgeübt, davon knapp 18 Jahre als Kaufmännischer Leiter bzw. Finance Director für in- und ausländische Gesellschaften. E-Mail: [email protected]
Resiliente Supply Chains und der Faktor Mensch: Digitalisierung und Automatisierung im Rahmen innovativer Logistikkonzepte in Krisenzeiten Roman Bruno Kremer
1 Globalisierung, permanente Krise und der Klimawandel Wenn Sie an der deutschen Nordseeküste ein Krabbenbrötchen mit Nordesskrabben kaufen, haben diese bereits eine weite Reise hinter sich: rund 90 % der in Deutschland gefangenen Nordseekrabben werden nach dem Fang nach Marokko transportiert, dort gepult und dann zum Verkauf wieder nach Deutschland transportiert (Seekamp & Seidel, 2020). Da die Lohnkosten in Marokko deutlich niedriger liegen als in Deutschland, rechnet sich dieser Prozess trotz der zusätzlichen Transportkosten – zumindest bislang. Durch die Covid-19-Pandemie fielen 2020 stellenweise bis zu zwei Drittel der marokkanischen Pulkapazitäten aus, viele Krabbenfischer*innen gerieten in große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Inzwischen wird laut darüber nachgedacht, das Krabbenpulen wieder nach Deutschland zu holen – mit maschineller Unterstützung (Seekamp & Seidel, 2020). Die Nordseekrabben stehen beispielhaft für eine Entwicklung, die sich aktuell in einer Vielzahl globaler Lieferketten zeigt. Der Fokus auf günstige Lohnkosten und niedrige Bestände, idealerweise sogar eine Just-in-time-Lieferung (JIT) der notwendigen Rohstoffe und Teile (meist aus Ostasien/Südostasien) hat Lieferketten zwar effizient, aber auch anfällig für Störungen gemacht. Nicht nur durch die Covid-19-Pandemie bedingt sind in den Jahren 2020 und 2021 Großstörungen des globalen Warenflusses aufgetreten, die auch in Deutschland spürbare Konsequenzen hatten und haben. Auf die sechstägige
Beitrag zu „Innovationen in der Wirtschaft – Trends in Bildung, Gesundheit und Industrie“ R. B. Kremer (*) SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Leverkusen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_4
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Blockade des Suezkanals, über den rund 12 % des Welthandels fließen, durch die Havarie des Frachtschiffs „Ever Given“ im März 2021 folgte ein Rückstau von über 400 Schiffen. Nach Schätzungen der Fachzeitung Lloyds List entspricht jeder Tag Stillstand im Suezkanal einem Wert von 9,6 Mrd. US-$, die nicht transportiert werden (Meade, 2021). Der Versicherer Allianz prognostiziert allein durch diesen isolierten Vorfall ein potenzielles Schrumpfen des jährlichen Wachstums des weltweiten Handels um 0,2 bis 0,4 Prozentpunkte (Hein, 2021). Im Mai 2021 wurde dann der Hafen von Yantian, über den 90 % aller Elektronikexporte aus China laufen, einen Monat lang gesperrt (Shen, 2021b). Als im drittgrößten Containerhafen der Welt in Ningbo-Zhousan ein Arbeiter positiv auf das Coronavirus getestet wurde, folgte im August 2021 eine zweiwöchige Schließung, deren Folgen zum Zeitpunkt der Abfasung dieses Artikels noch nicht absehbar sind (Shen, 2021b). Inzwischen sind neben Halbleitern und Chips auch Magnesium, das u. a. in der Aluminiumverarbeitung und damit im Fahrzeugbau eine große Rolle spielt, Mangelware (Spinnler, 2021). In vielen Branchen herrscht ein Auftragsstopp; die Lieferzeiten im Automobilbereich betragen teilweise bis zu 14 Monate (Kay, 2021). Diese Beispiele für in rascher Folge auftretende Störungen verdeutlichen etwas, das in der Forschung zu globalen Supply Chains seit langem bekannt und unumstritten ist: globale Lieferketten sind besonders störanfällig und erfordern daher ein gezieltes Risikomanagement sowie eine entsprechend angepasste Strategie. Um Risikofaktoren wie Extremwetterereignisse, Unfälle, Pandemien, Naturkatastrophen oder politische Unruhen in Supply Chains angemessen zu begegnen, hat sich hierzu eine eigene Forschungsrichtung entwickelt, die einer rein effizienzbasierten Sichtweise auf die Supply Chain eine Perspektive hinzufügt, die meist mit den (nicht deckungsgleichen) Begriffen „Resilienz“ („resilience“) und „Nachhaltigkeit“ („sustainability“) beschrieben wird. Überlegungen zu resilienten Lieferketten gibt es dabei genau so lange wie die Logistik selbst. Im Militärwesen, wo Störungen der teilweise globalen Lieferketten oft kriegsentscheidend sein können und oft gewesen sind, wurde die notwendige Robustheit der Nachschub- und Versorgungslinien schon immer mitgedacht. Durch die statistische Häufung globaler Störungen in den Jahren 2020 und 2021, die durch den Klimawandel zudem absehbar immer häufiger vorkommen werden, ist das Thema aber auch in der marktwirtschaftlich geprägten Logistik wieder akut geworden. Schon jetzt sind massive Lieferverzögerungen gerade in den Bereichen Automotive und Consumer Electronics an der Tagesordnung. Zunächst klein anmutende Ereignisse an weit entfernten Orten können dramatische Auswirkungen haben. Der sprichwörtliche Sack Reis, der in China umfällt, steht für gewöhnlich für ein unwichtiges Ereignis. Seit sich gezeigt hat, dass ein an Covid-19 erkrankter Chinese ausreicht, um den drittgrößten Containerhafen der Welt stillzulegen, sollte der Gebrauch des Sprichworts vielleicht überdacht werden. Doch welche Folgen ergeben sich aus diesen Ereignissen für ein Supply Chain Management der Zukunft? Können derartige Störungen in Zukunft besser abgefangen oder sogar ganz vermieden werden? Auch wenn in diesem Rahmen nicht auf die Vielzahl der in der Wissenschaft diskutierten Ansätze zum Gestalten von „resilient supply chains“ (dt. etwa „resiliente Lieferketten“, vgl. etwa Adobor & McMullen, 2018; Christopher & Peck,
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2004; Biedermann, 2018; van Hoek, 2020) eingegangen werden kann, soll im Folgenden ein kurzer, praxisnaher Überblick über die wichtigsten Konzepte, Entwicklungen und Innovationen gegeben und vor allem die Frage beantwortet werden, welche Folgen sich für Supply Chain Manager weltweit aus den Erschütterungen der letzten Jahre ergeben.
2 Automatisierung als Gegenthese zu Billiglohn Die oben genannten Beispiele aus der Seefracht zeigen: Der Mensch ist (oft) das schwächste Glied der Lieferkette. Eine naheliegende Folge ist es daher, den menschlichen Faktor in der Supply Chain zu minimieren. Durch rasante Fortschritte im Bereich der Materialflusstechnik ist es inzwischen in nahezu allen Teilen der Supply Chain möglich, Menschen durch automatisierte Lösungen zu ersetzen. Als Stichworte seien hier Automated Guided Vehicles (AGVs), Autonomous Mobile Robots (AMRs), selbstfahrende LKW, Kommissionierroboter, automatisierte Packstraßen, Palletizer und Sorter, ATLS (Automatic Truck Loading Systems) oder Automatiklager genannt. In vielen Apotheken gehört es inzwischen zum Standard, dass das angeforderte Medikament auf Knopfdruck ausgegeben wird. Vergleichbare Technik existiert in der Logistik auch in deutlich größeren Maßstäben, etwa für Paletten, und wird durch neue Entwicklungen auch immer verbreiteter. Bislang war das größte Hemmnis für derartige Automatisierungslösungen, dass günstigere Lösungen auf dem Markt existierten. In der Regel bedeutete das, dass arbeitsintensive Teile der Supply Chain (z. B. Produktion oder besonders personalintensive Fertigungsschritte) in Länder mit niedrigen Lohnkosten ausgelagert werden konnten. Dieses Modell wird nun zunehmend in Frage gestellt. Während die Kosten für Automatisierungslösungen durch innovative Neuentwicklungen und Skaleneffekte langsam, aber beständig absinken, steigen die Löhne in vielen Staaten in Ostasien seit Jahren an. Beispielsweise haben sich die Löhne in China, das lange als „verlängerte Werkbank der Welt“ galt, zwischen 2008 und 2019 verdoppelt (Specht, 2020). Hinzu kommen gestiegene Ausfallrisiken durch Krankheit, Pandemien, Naturkatastrophen und juristische oder politische Unabwägbarkeiten. Für den europäischen Markt werden lokale Automatisierungslösungen so oft attraktiver als weit entfernte manuelle Bearbeitung – insbesondere, da auch die Transportkosten bei steigender CO2-Bepreisung der Treibstoffe absehbar immer stärker steigen werden und sich durch lokale Lösungen weitgehend vermeiden lassen. Schon jetzt sind die Containerpreise von Asien nach Europa bedingt durch die Entwicklung der internationalen Lage von einem langjährigen Schnitt von 3000 bis 4000 US$ pro großem Container auf bis zu 16.000 US$ gestiegen – also eine Vervierfachung der Transportkosten (Pressberger, 2021). Automatisierung wird daher zunächst in konsumstarken Märkten weiter ausgebaut werden und rein aus Kostengründen ausgelagerte Produktion – man denke an die in Marokko gepulten Krabben – durch lokale Lösungen ersetzen. Manuelle Lösungen werden hingegen dort bestehen bleiben, wo für den lokalen Markt produziert wird und
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die Lohnkosten weiterhin mit Automatisierungslösungen konkurrenzfähig sind. Doch die Stoßrichtung an sich ist klar – der Anspruch, den Shoshanna Zuboff bereits 1988 als „Zuboffs first law“ artikuliert hat, rückt immer näher: „everything that can be automated will be automated” (Zuboff, 2013). Mit einer lokalen Automatisierung lassen sich neben dem „Faktor Mensch“ zudem noch weitere Risikopotenziale reduzieren. Hohe Lagerbestände gelten etwa im Lean Management als Verschwendung (jap. „Muda“) (Wannenwetsch, 2021, S. 298), sind aus Sicht einer resilienten Supply Chain aber im Sinne einer Redundanz bei Ausfall einer oder mehrerer Lieferungen eine möglicherweise sinnvolle Investition (Biedermann, 2018, S. 175). Moderne Automatiklager reduzieren durch ihren hohen Verdichtungsgrad und die potenziell erreichbaren Höhen in der Regel auch die Lagerkosten je Kubikmeter deutlich, wodurch redundante Bestände auch in Gebieten mit bislang hohen Flächenkosten zu einer gangbaren Möglichkeit werden (sieht man von der Kapitalbindung durch die Bestände einmal ab). Tatsächlich ließ sich bereits in den Jahren 2020 und 2021 beobachten, dass viele Firmen nicht länger auf die Just-in-time-Lieferung aus China vertrauen wollten und stattdessen wieder mehr in Lagerbestände in heimischen Gefilden investieren wollten. Im SCI/Logistikbarometer, einer regelmäßigen Umfrage unter repräsentativ ausgewählten deutschen Logistik-Unternehmen, gaben im Januar 2021 rund 52 % der Befragten an, in Zukunft verstärkt in Lagerhallen investieren zu wollen (SCI, 2021, Februar) - im Jahr 2019 waren es noch 33 % gewesen (SCI, 2019, Februar). Stärker noch strahlt jedoch ein Trend aus, der sich schon seit geraumer Zeit abzeichnet: 2021 gaben 69 % der Befragten an, in Zukunft verstärkt in Logistik-Software investieren zu wollen. Tatsächlich gibt es gute Gründe dafür, dass der zukünftige Logistikmarkt noch sehr viel stärker durch Software geprägt werden wird als durch „Hardware“ im Sinne von Automatisierungstechnik.
3 Supply Chain Software: Visibility wird zu Control Wie sehr Software die Zukunft der Logistik prägen wird, mag an einem drastischen Beispiel deutlich werden, das beinahe das Geschäftsmodell eines renommierten Herstellers von Automatisierungslösungen in Frage gestellt hätte. Ein Star am Himmel der derzeitigen Automatisierungstechnik ist der norwegische Hersteller Autostore, der mit einer hochverdichteten automatisierten Lagerlösung bekannt geworden ist. Dabei werden Behälter in einem Aluminiumraster übereinandergestapelt und von Robotern, die auf dem sogenannten „Grid“ fahren, bei Bedarf herausgeholt und an Kommissionierstationen bereitgestellt (Ware-zur-Person-System). Da die Integration in der Regel von einem lokalen Anbieter übernommen wird, macht Autostore selbst vor allem über den Verkauf des Aluminiumrasters samt der dazugehörigen Roboter Umsatz. Die dazugehörige Steuerungssoftware „Planner™“ gibt Fahraufträge an die Roboter weiter, die diese Befehle dann umsetzen. 2020 entwickelte
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das Unternehmen die neue Steuerungssoftware „Router™“, die die Routen der Roboter in Echtzeit berechnet und dynamisch anpasst. Das Problem daran: Die Software funktioniert derart gut, dass das Autostore-System bis zu 40 % effizienter agieren kann als zuvor (AutoStore System GmbH, 2020). Mit anderen Worten: Durch die neue Software müsste Autostore 40 % weniger Roboter verkaufen, um die gleiche Leistung zu erzielen – eine fatale Entwicklung für das Geschäftsmodell. Autostore löste das Problem dahingehend, dass die neue Software nur gegen einen deutlichen Aufpreis vertrieben wird und die alte Software weiterhin erhältlich bleibt. Das Beispiel zeigt aber auf, wie stark eine gute Software-Steuerung bereits im Kleinen Logistikabläufe vereinfachen und drastisch beschleunigen kann. Es ist absehbar, dass zukünftige innovative Lösungen auf dem Logistikmarkt weniger im Feld der Hardware als vielmehr in dem der Software, die die darunterliegende Hardwareschicht steuert, liegen werden. Die von Autostore entwickelte neue Roboterserie „Black Line“ erreicht gegenüber dem Vorgängermodell „Red Line“ „nur“ eine bis zu 20 % bessere Leistung – also halb so viel, wie durch die reine Softwarelösung „Router™“ erzielt werden kann (AutoStore Introduces Newer, Faster Robot Model, 2019). Die in der Logistik eingesetzten Technikplattformen ähneln sich zudem bereits jetzt immer stärker – einen leistungsfähigen Roboter zu bauen, ist nur ein Teil der Lösung. Das mit Abstand größte Potenzial wird in der smarten Steuerung und Vernetzung dieser Hardware durch Softwarelösungen liegen, ähnlich wie in der Automobilbranche inzwischen die Steuerungssoftware zunehmend wichtiger wird als die reine „Hardware“ des Autos selbst. Die Grundvoraussetzung einer umfassenden Softwaresteuerung ist ein nahtloser Informationsfluss. Dieser Gleichschritt von physischer und digitaler Bewegung ist in den letzten Jahren über immer größere Abschnitte der Supply Chain ausgedehnt worden, obschon es auch Rückschläge gab. Das Ziel lautet dabei, den Aufenthaltsort einer Ware zu jedem beliebigen Zeitpunkt möglichst exakt bestimmen zu können – eine Art globales und ubiquitäres Track&Trace also. Die technischen Voraussetzungen hierzu liegen allesamt vor – Probleme liegen nach wie vor an der Uneinheitlichkeit und vor allem Unwirtschaftlichkeit der aktuell erhältlichen Positionierungssysteme. Wenn jede Packung Trockenobst mit einem GPS-Sender ausgestattet wäre, ließe sich zwar ein echtes Tracking and Tracing bis herab zur einzelnen Packung realisieren – die Kosten für die zusätzliche Technik dürften jedoch um ein Vielfaches höher liegen als der Warenwert. Auch die RFID-Technik, von der sich schon 2007 Quantensprünge versprochen wurden (Bullinger & ten Hompel, 2007, S. XXIV), ist nach wie vor preislich für die meisten Einsatzszenarien uninteressant und nur im Bereich von hochpreisiger (z. B. Spezialmaschinen) oder wiederverwendbarer (z. B. Paletten) Ware wirtschaftlich sinnvoll einsetzbar. Nach wie vor sind Barcodes mit den entsprechenden Standards (SSCC, GS1, EAN-128 usw.) die am häufigsten zur Identifikation von Waren eingesetzte Technik. Da es sich bei Barcodes um eine rein passive Technik handelt, ist eine exakte Echtzeit-Bewegung der Ware kaum abbildbar – datentechnisch befindet sich Ware immer „zwischen zwei Scans“. Kommt Ware in einem Lager an, wird sie mit einem Wareneingangsscan vereinnahmt. Bevor aber nicht der
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Ziellagerplatz gescannt wurde, ist lediglich bekannt, dass die Ware sich irgendwo zwischen Wareneingang und Lagerplatz befindet. Erfolgsversprechender ist es, die Transportmittel selbst (Stapler, Kommissionierer, LKW) mit entsprechender Technik zu verfolgen – so, wie es im Bereich der KEPDienstleister für Track&Trace verwendet wird (das Tracking verfolgt das Fahrzeug, mit dem die Ware qua Scan „verheiratet“ wurde). Durch deutliche Entwicklungssprünge und immer niedrigere Kosten im Bereich der Sensorik (insbes. Kameratechnik und Scanner) ist zudem davon auszugehen, dass sich die Scanfrequenz in Zukunft erhöhen und damit eine genauere Positionierung ermitteln lässt. Die Ubiquität mobiler Endgeräte wie Smartphones oder Smartwatches mit GPS-Chip macht das Verfolgen der Personen oder Fahrzeuge, die Ware transportieren, dabei immer wirtschaftlicher. Ein Quantensprung wird hier mit dem Einführen des 5G-Standards eintreten, mit dem auch in Innenräumen zentimetergenaue Lokalisierung möglich sein wird (Müller, 2020) – doch wird diese Lokalisierungsfunktion wohl vorerst weiterhin an übergeordneten Einheiten und weniger an der Ware selbst Verwendung finden. Ein weiteres Hindernis für transparente Warenflüsse ist dem Unwillen einzelner Teilnehmer einer Lieferkette geschuldet, für alle anderen Teilnehmer transparent zu werden bzw. sich auf eine einheitliche Softwarelösung zu verpflichten. In einzelnen Branchen wie der Automobilindustrie mag sich dies noch mit Druck gegenüber den Zulieferern erzwingen lassen. Global betrachtet wird aber eher die Entwicklung von cloudbasierten Softwarelösungen, die über Webservices weltweit zugänglich sind und oft keine lokale Installation oder aufwendige Schnittstellenprogrammierung mehr erfordern, der Transparenz zum Durchbruch verhelfen. Zumindest lässt sich ausgehend von diesen aktuellen Entwicklungen des Softwaremarkts vorhersagen, dass sowohl in den Bewegungsdaten auf operativer Ebene als auch in den softwaregesteuerten Informationsflüssen auf der übergeordneten Ebene eine anhaltende Bewegung hin zu globaler Transparenz und Verfolgbarkeit stattfindet. Jedoch ist schon jetzt ebenfalls absehbar, dass die Entwicklung nicht dabei anhalten wird (und darf), Warenflüsse transparent und nachverfolgbar zu machen. Dieser erste Schritt schafft erst die Voraussetzung dafür, Transporte zu optimieren. In dem Moment, in dem eine komplette Informiertheit eintritt, wird der nächste Schritt das aktive Eingreifen und Steuern von Bewegungen aus einer übergreifenden Verkehrsperspektive sein. Im Beispiel von Autostore entsteht der Mehrwert der Software „Router™“ ja nicht etwa dadurch, dass die exakte Positionierung der Roboter und der Ware bekannt ist (Information), sondern durch das lenkende Eingreifen und Optimieren des Verkehrsflusses in Echtzeit (Steuerung). Derartige softwaregestützte „Verkehrssteuerungen“ existieren bereits vielerorts – jedoch handelt es sich hier in der Regel um Inselsysteme, die nur einen sehr kleinen Teil der Lieferkette steuern. „Fleet Controller“-Software steuert die AGVs in einem Lagerhaus, weiß aber nichts vom menschlichen Kommissionierer, der seine Befehle aus dem Warehouse Management System erhält. Das Staplerleitsystem steuert die Bewegungen des Staplerfuhrparks, weiß aber nichts von der Steuerung der Fördertechnik durch den
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Materialflusscontroller. Das Yard-/Dock-Management übernimmt die Kontrolle über den Verkehr auf dem eigenen Hof, während das Navigationssystem den LKW möglichst verkehrsgünstig an Staus vorbei zu lotsen versucht. Schnittstellen zwischen den einzelnen Systemen sind selten und meist auf zwei oder drei Systeme beschränkt (z. B. Warehouse Management System zu Material Flow Controller). Lokale Optimierungen haben aber nur wenig Einfluss auf das Gesamtbild der Supply Chain bzw. können sogar schädliche Wirkung entfalten, wenn dadurch Flaschenhälse überlastet werden (Verma, 1997). Erst eine globale Betrachtung der gesamten Supply Chain ermöglicht, Flaschenhälse („bottlenecks“) zu identifizieren und die für die gesamte Supply Chain optimale Strategie zu wählen. Hierzu wird es zukünftig notwendig sein, neben einem übergreifenden Informationsfluss auch übergreifende Steuerungslogiken zu implementieren. Es ist dabei jedoch als unrealistisch zu bewerten, dass alle Bewegungen in einer komplexen globalen Lieferkette aus einem einzigen System heraus gesteuert werden können. Vielmehr werden voraussichtlich viele Speziallösungen zunächst bestehen bleiben, jedoch über Standardschnittstellen immer stärker miteinander (horizontale Integration) oder mit einem übergeordneten Lenkungssystem (vertikale Integration) kommunizieren. Dabei wird sich ein volles Ausschöpfen des Potenzials letztlich nur durch eine übergeordnete Steuerung (vertikale Integration) realisieren lassen. In der Praxis ist dies oft eher eine politische als eine technische Frage – sind die Marktteilnehmer bereit, auf einen Teil ihrer Autonomie zu verzichten, um eine global optimale Lösung zu erreichen, oder nicht? In der Literatur (Hausladen, 2020, S. 246) wird in diesem Zusammenhang oft von einem „Supply Chain Execution System“ (SES) gesprochen, das die gesamte Lieferkette als Aneinanderreihung physischer Transporte begreift und steuert (im Gegensatz zu „Enterprise Ressource Planing Systems“ (ERP), die weniger die physische Bewegung als vielmehr die wertmäßige Buchung begleiten). Das soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine vollintegrierte softwarebasierte Transportsteuerung über die gesamte Supply Chain hinweg trotz des modisch anmutenden SES-Begriffs im Jahr 2021 noch Zukunftsmusik ist. Vorstufen zu diesem Modell sind jedoch bereits in Entwicklung und auf dem Markt vorgestellt worden. SAP bietet mit dem Produkt „SAP Supply Chain Execution Platform (SAP SCE)“ eine Lösung an, die verschiedene SAP-Produkte zu Lagerführung, Yardmanagement, Tourenplanung und Track&Trace bündelt, jedoch selbst keine übergreifenden Lenkungsaufgaben übernimmt (Mit SAP SCE (Supply Chain Execution) zu effizienten Warenflüssen, 2021). Das 2020 von der Ehrhardt + Partner Group vorgestellte Produkt „EPG | Suburban“ hingegen zielt auf eine übergreifende Verkehrsplanung in der Intralogistik. Anstelle eines separaten WMS, das menschliche Kommissionierer*innen mit Aufträgen versorgt, eines Fleet Controllers für AGVs und eines Materialflusscontrollers für Automatiklager soll mit „Suburban“ auf Basis einer Lagerkarte (Open Street Map) eine übergreifende Verkehrsplanung für das gesamte Lager erfolgen, bei der aus den Informationen der jeweiligen Subsysteme, die zentral zusammenfließen, eine global optimierte Verkehrsflussplanung entsteht (Ehrhardt + Partner Group, 2021).
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Damit unterliegen dann alle Prozesse der Intralogistik einer gemeinsamen, aufeinander abgestimmten Steuerung. Es existieren also bereits Softwarelösungen, die Transporte aus untergelagerten Systemen bündeln und – zumindest in einem begrenzten Rahmen – aus übergeordneter Sicht steuernd und optimierend eingreifen. Der nächste logische Schritt wird es sein, „Transporte“ an sich global zu betrachten und zu steuern – also ein übergreifendes System zu schaffen, das Transporte von der Quelle bis zur Senke auf der Straße und der Schiene, in der Luft und auf der See, im Lager, auf dem Hof (Yard) und außerhalb des Lagers steuert und das Funktionalitäten einer Tourenplanung, Frachtbörse, Lagerverwaltung und Materialflusssteuerung bündelt. Aktuell existieren insbesondere in Lieferketten, die weitgehend von einem Akteur (z. B. Amazon Fulfillment) beherrscht werden, Systeme, die eine solche Optimierung von einer gewissen „Flughöhe“ aus beherrschen. Diese Order Management Systeme (OMS) weisen beispielsweise einen online auf einer Website getätigten Einkauf automatisch dem Fullfillment-Center zu, das sich in der größten räumlichen Nähe zum jeweiligen Endkunden befindet und die kürzeste Lieferzeit verspricht (Stichwort „same day delivery“). Von einer tiefen Integration mit den ausführenden Systemen, die die einzelnen Transporte steuern, kann hier aber noch keine Rede sein. Mit zunehmendem Automatisierungsgrad (etwa durch selbstfahrende LKW) werden jedoch auf dieser Basis hochkomplexe Steuerungseinheiten entstehen, die „Transport“ als wesentliches Grundelement der Logistik in jeder Distanz und Ausprägung nicht nur abbilden, sondern auch steuern. Alleinstellungsmerkmal gegenüber ERP-Systemen ist dabei der Fokus auf den physischen Transport anstelle der wertmäßigen Buchung. Die eingangs konstatierte Bewegung hin zu mehr Automatisierung und räumlich oft kürzeren Lieferketten wird also absehbar durch innovative Softwarelösungen zentralisiert gesteuert und gelenkt werden. Mit den gewaltigen Umbrüchen, die im Bereich der Supply Chain in den nächsten Jahren zu erwarten sind, ändern sich auch die Anforderungen, die an die mit dem Management der Supply Chain betrauten Menschen gestellt werden. Daher soll abschließend noch ein Ausblick gewagt werden, inwiefern die Veränderungen durch Automatisierung und vernetzte Software auch den „Faktor Mensch“ beeinflussen und von diesem beeinflusst werden.
4 Digitale Logistik und der Mensch Weiter oben wurde bereits das erste Zuboff’sche Gesetz „everything that can be automated will be automated” erwähnt. Der Motivationsredner Tariq Qureishy hat dieses in einem Vortrag 2017 noch um einen treffenden Nachsatz ergänzt: „Anything that can be automated will be automated, and anything that’s left will become 100 times more valuable“ (Churchill, 2017). Werden Automatisierung und Digitalisierung Menschen im Supply Chain Management überflüssig machen? Sicher nicht. Aber die Stellen, die nach der Automatisierung
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verbleiben werden, werden tatsächlich überwiegend hochqualifizierte Stellen für hervorragend ausgebildete Spezialist*innen sein. Bereits die „klassische“ Stellenbeschreibung eines Supply Chain Managers erfordert breit gestreute Kenntnisse in verschiedenen Disziplinen, vor allem im Bereich der Logistik („Supply Chain“) sowie der Betriebswirtschaft („Management“). Die mit der Stelle einhergehende Notwendigkeit zum Aufbauen und kommunikativen Etablieren von internationalen Netzwerken setzt zudem ein breit gefächertes Portfolio in dem voraus, das man gemeinhin „Soft Skills“ nennt. Hierzu wird immer stärker auch die Notwendigkeit treten, sich in IT-Themen sicher zurechtzufinden. Logistiker*innen von morgen werden um eine informatische Grundkompetenz nicht umhinkommen - „Logistics needs IT“ (Hausladen, 2020, S. 14) hat Iris Hausladen diesen Zusammenhang einmal recht treffend genannt. Damit ist eine Entwicklung beschrieben, die nicht nur die Logistik betrifft: Im digitalen Zeitalter „muss das Set der Managementkompetenzen in den Unternehmen um die Fertigkeiten grundlegender Programmierkenntnisse bzw. ein Algorithmusverständnis erweitert werden“ (Lemke et al., 2017, S. 30). Das Supply Chain Management wird absehbar immer näher an Disziplinen wie die Wirtschaftsinformatik und Data Science heranrücken. Da sich Lieferketten nicht mehr analog abspielen werden, muss sich das Management dieser digitalisierten Lieferketten in einem höheren Maße als bisher auch in technischen Zusammenhängen verorten. Die Curricula für die Ausbildung von Logistiker*innen an Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten werden diesen geänderten Rahmenbedingungen ebenfalls Rechnung tragen und die Fachdidaktik sich entsprechend neu orientieren müssen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die bekannten, einfachen manuellen Tätigkeiten gänzlich aus der Logistik verschwinden werden. Zumindest ist vorerst trotz technischer Fortschritte und Skaleneffekten nicht absehbar, dass das Preisniveau für Automatisierungstechnik weltweit so stark sinkt, dass der Einsatz unter allen Umständen wirtschaftlich ist. Es wird auch weiterhin Länder und/oder spezielle Einsatzszenarien geben, in denen Menschen operativ „auf der Fläche“ tätig sein werden – allerdings in der Regel nicht, weil sich ihre Tätigkeiten prinzipiell einer Automatisierung entziehen würden, sondern vielmehr, weil die Automatisierung in diesen Ländern oder in dieser Branche nicht wirtschaftlich wäre. Manuelle Tätigkeiten werden in Zukunft also nicht mehr von Menschen ausgeführt, weil Maschinen diese prinzipiell nicht auch durchführen könnten, sondern weil menschliche Arbeitskräfte in diesen Einsatzszenarien (noch) ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen, das sich freilich voraussehbar immer mehr zu ihren Ungunsten verschiebt. Durch die inzwischen auf dem Markt anzutreffende Möglichkeit, Roboter zu leasen oder sogar „on demand“ zum Ausgleich von Auftragsspitzen auszuleihen (auch „Robot as a service“/RaaS genannt), wird die Konkurrenz von Automatisierungslösungen zu menschlichem Personal tatsächlich oft auf eine simple Kosten-/NutzenRechnung reduziert. Gleichzeitig werden die operativen Tätigkeiten immer stärker mit der digitalen Welt verflochten sein. Während im letzten Jahrhundert in Lagerhäusern noch vielerorts
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Festplätze vergeben wurden, die Kommissionierer auswendig lernen mussten, werden Menschen heute in der Regel von einer Software zu den passenden Lagerplätzen geleitet – sei es über eine gedruckte Liste, ein MDE-Gerät, das eigene Handy oder eine Pickby-Voice- oder Pick-by-Vision-Lösung. Pick-by-light- und Put-to-light-Lösungen leuchten die passenden Fächer aus, während Software die Laufwege kontinuierlich überwacht und optimiert. Immer häufiger arbeiten Menschen dabei auch neben oder sogar mit Roboterlösungen bzw. cyberphysischen Systemen, die softwaregestützt mit der physischen Welt interagieren. Der auf Schuhkartons spezialisierte Kommissionierroboter Magazino Toru kann beispielsweise in der gleichen Fachbodenanlage arbeiten wie menschliche Kommissionierer und parallel die gleichen Tätigkeiten durchführen. Andere kollaborative Lösungen wie selbstfahrende Transportwagen folgen menschlichen Kommissionierer*innen selbstständig und entlasten diese vom Tragen oder Schieben der Ware. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass die Rolle für Menschen in diesen Systemen immer stärker eingeschränkt wird. Mussten Kommissionierer früher, um beim Beispiel der Lagerlogistik zu bleiben, neben den mechanischen Tätigkeiten „laufen“ und „greifen“ auch noch kognitive Tätigkeiten wie „Laufwege finden“, „Artikel identifizieren“ oder „Fehlmengen buchen“ durchführen, reduzieren moderne Kommissioniersysteme den menschlichen Faktor auf das rein mechanische Greifen und Laufen, wobei letzteres durch die zunehmende Verbreitung von Ware-zur-Person-Systemen immer stärker ins Hintertreffen gerät. Vor dem Hintergrund, dass der menschliche Beitrag zur operativen Logistik in Zukunft auf einzelne, repetitive und stark durch Software optimierte Arbeitsschritte beschränkt sein wird, wird zunehmend die Frage gestellt, wie diese Tätigkeiten möglichst „menschengerecht“ gestaltet werden können. Stehen Menschen den ganzen Tag nur an einer Stelle und beschränken sich darauf, Dinge aus Kisten zu holen, hat dies deutliche Auswirkungen auf Physis und Psyche. Inzwischen spielen daher bei Automatisierungsprojekten auch immer stärker Fragen der Ergonomie eine Rolle, um dem Risiko eines hohen Krankenstands und einer hohen Fluktuation zu begegnen. Neben altbewährten Anti-Ermüdungs-Matten für Steharbeitsplätze und höhenverstellbaren Tischen lassen sich auch neuere Systeme als Beispiel anführen. Das HochleistungsKommissioniersystem „Rotapick“ der psb GmbH etwa weitet den menschlichen Arbeitsbereich von einem festen Stehplatz auf eine größere Grundfläche aus. Der Warezur-Person-Transport wird hier um einen (kleinen) menschlichen Weganteil ergänzt, der logistisch zwar vermeidbar wäre, aber ergonomisch deutlich zielführender ist als ein ganztägiges Verharren auf der Stelle. Doch sind die meisten der Bemühungen auf dem Markt noch immer auf den menschlichen Körper ausgerichtet. Erst allmählich findet auch die Psyche verstärkt Beachtung. Die Wirtschaftspsychologie hat in den letzten Jahren ein Konzept der Videospielindustrie in den Fokus genommen, das gleichförmige und eintönige Tätigkeiten mit
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einem Gefühl des Fortschritts und persönlichen Erfolgs auflädt, die „Gamification“. Dabei werden Konzepte wie das Sammeln von Erfahrungspunkten, das Erreichen von Levels und „Achievements“ sowie das regelmäßige Belohnen in die Arbeitswelt transferiert (für eine Übersicht vergleiche Warmelink, 2020, sowie Narayanan, 2014). Als erstes größeres Warehouse Management System wirbt „Manhattan Active Warehouse Management“ ausdrücklich damit, Gamification-Elemente in die Logistik zu übertragen (Gamification of the warehouse, 2020) - ein vielversprechender Trend, der sich in den nächsten Jahren sicher fortsetzen wird. Je eintöniger die verbleibende von Menschen zu erledigende Arbeit in der Logistik wird, desto mehr müssen Supply Chain Manager*innen auch proaktiv bereit sein, Ideen aus der Wirtschaftspsychologie zu adaptieren, um die Arbeitsbedingung neben der rein physischen Ergonomie auch auf eine geistig halbwegs erfüllende Erträglichkeit hin zu gestalten. In einigen Lagerhäusern wird an den von Menschen besetzten Packstraßen inzwischen gelegentlich sogar Musik von DJs aufgelegt, wobei Mitarbeiter*innen im Vorfeld Musikwünsche äußern können. Die Logistik der Zukunft wird vom Wettbewerb um die besten Köpfe geprägt sein – Digitalexperten im Management, aber auch körperlich und geistig gesunde und zufriedene Mitarbeiter*innen im operativen Bereich.
5 Zusammenfassung und Ausblick Durch die aktuelle weltpolitische Lage ist deutlich geworden, dass globale Lieferketten neben großem Nutzen auch große Risiken bergen. Die Logistik der Zukunft wird diesen Entwicklungen Rechnung tragen müssen. Dazu gehört zunächst eine genaue Prüfung, wo globale Lieferketten überhaupt notwendig sind und wo sie absehbar durch lokale Automatisierungslösungen, die Produktion und Lagerung auch in Hochlohnländern wieder konkurrenzfähig machen, ergänzt und ersetzt werden können. Durch die rasante Weiterentwicklung insbesondere im Bereich autonomer Roboter und hochverdichteter Lagerlösungen einerseits und den steigenden Transportkosten und -risiken andererseits besteht hier die Möglichkeit, Leistungen näher am Zielmarkt bei vergleichbaren bis besseren Leistungen und Kosten zu erbringen. Das größte und noch weitgehend ungehobene Optimierungspotenzial besteht aber in einer softwaregesteuerten Transportplanung von der Quelle bis zur Senke, die über möglichst große Teile der Lieferkette und über sämtliche Transportwege und -mittel hinweg in Echtzeit auf ein globales Optimum hinarbeitet. Die zukünftige omnipräsente Durchdringung der Logistik mit Softwarelogiken stellt dabei erweiterte Anforderungen an die Rolle des Supply Chain Managements, das auch curricular vorausschauend auf eine digitale und algorithmenorientierte Zukunft vorbereitet werden muss. Schließlich wird es auch herausfordernd sein, eine Rolle für die verbleibenden operativen Mitarbeiter*innen in einer von Automatisierung und Digitalisierung geprägten Logistikwelt zu finden. Die Tätigkeiten sind
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dabei so auszugestalten, dass Menschen trotz immer wiederkehrender, von Autonomiedefiziten geprägten Aufgaben körperlich und geistig gesund arbeiten können. Hier bieten insbesondere Ansätze der Wirtschaftspsychologie und Game Studies vielversprechende Ansätze, die in Zukunft verstärkt in die Logistik einfließen können und werden.
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R. B. Kremer Prof. Dr. Roman B. Kremer ist Professor für Logistik und Informationssysteme an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Er lehrt und forscht im Bereich strategisches Supply Chain Management, Logistiksoftware, Industrie 4.0 und Prozessmanagement. Er unterrichtet in deutsch- und englischsprachigen Bachelor- und Masterstudiengängen. Vor seiner akademischen Tätigkeit war Prof. Kremer in der Industrie als Trainer und Berater im Bereich Supply Chain Execution-Software (insbes. WMS) sowie in der Lagerplanung und -optimierung tätig. Stetige Innovationen gehören für ihn zur DNA der Intralogistik und bilden daher seit Jahren einen festen Bestandteil seiner Arbeit.
Innovation und Trends in Automobilindustrie Marcel Engelmann
1 Einleitung Die Themen Sicherheit, Gesundheit, Digitalisierung und Nachhaltigkeit gewinnen an Bedeutung (Nobis, 2007). Nach wie vor ist das Bedürfnis nach individueller Mobilität in der Gesellschaft ungebrochen. Jedoch verändern sich die Anforderungen, welche an die Mobilitätsträger gestellt werden (König & Dreßler, 2021). Trotz aller Kritik erfreut sich das Auto weiterhin großer Beliebtheit, um das Bedürfnisse nach individueller Mobilität zu erfüllen. Dies zeigt auch eine Studie vom Statistischen Bundesamt aus dem Jahr 2021, welche dem Auto den größten Anteil an dem individuellen Personenverkehr zuschreibt (Statistisches Bundesamt, 2021). Allerdings kann auch beim Auto beobachtet werden, dass sich die Anforderungen der Nutzer in den vergangenen Jahren deutlich verändert hat. Durch verschiedene technologische Entwicklung haben sich neue Erwartungshaltungen bei den Menschen in den Bereichen Software und Benutzerfreundlichkeit herausgebildet (Llopis-Albert et al., 2021). Menschen erwarten heute ein Auto, welches nach der Auslieferung kontinuierlich mit Aktualisierungen der Fahrzeugsoftware versorgt wird und jederzeit Informationen über das Internet austauschen kann (Kook, 2021). Außerdem haben die Veränderungen des weltweiten Klimas eine Vielzahl von Menschen zunehmend dafür sensibilisiert mit den vorhandenen Ressourcen sorgsamer umzugehen und den Ausstoß von schädlichen Gasen zu reduzieren. Daraus ergeben sich auch neue Anforderungen in Hinblick auf den Ressourceneinsatz in der
M. Engelmann (*) Engelmann Ventures Holding GmbH, Wolfsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_5
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Wertschöpfungskette eines Automobilherstellers und darüber hinaus (Wissuwa & Durach, 2021). Ein weiteres Beispiel für die Veränderung der Kaufentscheidungen beim Auto ist der globale Anstieg beim Bedarf an Elektrofahrzeugen. Einhergehend mit der Nachfrage reagieren die meisten Automobilhersteller und bringen in 2021 so viele Elektrofahrzeugmodelle heraus, wie in keinem Jahr zuvor (Bhardwaj & Gupta, 2021). Bewegt durch die vielen Veränderungen in der Automobilindustrie ist diese Publikation entstanden, um einen Überblick über die Trends und Innovation zu geben. Dabei geht es vor allem um 1) das Connected Car und die dazugehörigen Connected Services, 2) das Autonome Fahren und dessen Auswirkungen, 3) die Weiterentwicklung der Sharing Economy, 4) die aktuellen Entwicklungen bei der Elektrifizierung des Antriebs, 5) die datenbasierten Mehrwertdienste auf der Grundlage von Fahrzeugdaten, sowie 6) die Anwendungen von Fahrzeugdaten für die Smart City.
2 Connected Car & Services Immer mehr Fahrzeuge sind Connected Cars (Bohnsack et al., 2021). Das besondere an diesen Fahrzeugen ist die Anbindung an das Internet. Mit der Internetverbindung des Fahrzeugs wird der Austausch von Daten mit anderen Services ermöglicht. Das Connected Car ist unter anderem die Grundlage für die Aktualisierung der Fahrzeugsoftware, der Navigationskarten oder auch von Streaming Inhalten (Coppola & Morisio, 2016). Besonders die Aktualisierung der Fahrzeugsoftware „Over-the-Air“ ist in den letzten Jahren in den Fokus gerückt (Chowdhury, et al., 2018). Während in der klassischen Automobilentwicklung ein Fahrzeug erst fertig entwickelt und anschließend ohne große Änderungen über mehrere Jahre verkauft wird, hat sich die Erwartung des Kunden deutlich gewandelt und stellt die klassischen Automobilhersteller vor große Herausforderungen. Früher konnte die Software fertig entwickelt, getestet und anschließend ohne weitere Änderung einmalig pro Fahrzeug auf eines der vielen Steuergeräte installiert werden. Heute erschwert die komplexe Elektronik Architektur in den Fahrzeugen vielen Hersteller die Aktualisierung von Software über das Internet, welche jedoch von den Nutzern erwartet wird. Aus diesem Grund lohnt es sich als Automobilhersteller die Anzahl an Steuergeräten zu reduzieren und die Komplexität der eingesetzten Elektronikkomponenten möglichst gering zu halten (Odat & Ganesan, 2014). Deswegen haben auch einige Hersteller, wie Volkswagen, Tesla, Mercedes-Benz oder BMW damit angefangen ihr eigenes Auto-Betriebssystem inklusive der dazugehörigen Rechnerarchitektur zu entwickeln. Ziel der Hersteller ist es die Software im Auto, wie beim Smartphone, immer wieder anzupassen und dem Nutzer dadurch neue Funktionen bereit zu stellen. Beispiele hierfür sind unter anderem die Freischaltung von softwareseitig beschränkten Hardwarefunktionen, wie eine Hinterradlenkung, eine Steigerung der Leistungsfähigkeit von Elektromotoren, eine 360° Kamera-Ansicht, ein Massagesitz oder vieles mehr. Zudem werden immer mehr reine Softwarefunktionen entwickelt,
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welche dem Entertainment während der Fahrt dienen. Vom Streaming von Musik, über Office Anwendungen bis hin zu Spielen für die Mitfahrer auf der Rücksitzbank und dem Beifahrersitz sind diverse Entwicklungen zu beobachten. Vor allem mit den digitalen Inhalten sollen in Zukunft Umsätze für die Automobilkonzerne erzielt werden (Zurawka et al., 2016).
3 Autonomes Fahren Das automatisierte oder auch autonome Fahren ist eines der größten Herausforderungen für die Automobilindustrie. Neben den klassischen Automobilhersteller haben sich vor allem Technologieunternehmen auf diesen Teil der Fahrzeugfunktionen spezialisiert. Ziel der Automobilhersteller als auch der Technologieunternehmen ist es alle Fähigkeiten zum Fahren eines Fahrzeugs durch verschiedene Computerprogramme automatisiert ausführen zu lassen (Beiker, 2012). Das autonome Fahren ist dabei in fünf Stufen aufgeteilt. In der ersten Stufe handelt es sich um assistiertes Fahren. In dieser Stufe beherrscht der Fahrer oder die Fahrerin das Fahrzeug ständig. Der Fahrer oder die Fahrerin muss den Verkehr ständig im Blick behalten. Für Verkehrsverstöße und Schäden haftet der Fahrer oder die Fahrerin. Einzelne Assistenzsysteme unterstützen bei bestimmten Fahraufgaben. Bei der zweiten Stufe handelt es sich um teilautomatisiertes Fahren. Auch hier beherrscht der Fahrer oder die Fahrerin das Fahrzeug ständig. Zudem hat der Fahrer oder die Fahrerin den Verkehr ständig im Blick. Weiterhin haftet der Fahrer oder die Fahrerin für Verkehrsverstöße und Schäden. Unter definierten Bedingungen hält das Fahrzeug die Spur, bremst und beschleunigt. In der dritten Stufe wird von hochautomatisiertem Fahren gesprochen. Der Fahrer darf sich vorübergehend von Fahraufgabe und Verkehr abwenden. In vom Hersteller vorgegebenen Anwendungsfällen fährt der Pkw selbstständig. Der Fahrer muss auf Anforderung durch das System kurzfristig übernehmen. Die vierte Stufe ist das vollautomatisierte Fahren. Der Fahrer kann die Fahrzeugführung komplett abgeben und wird zum Passagier. Das Fahrzeug bewältigt Fahrten auf bestimmten Strecken (z. B. Autobahn, Parkhaus) völlig selbstständig. Es darf dann auch ohne Insassen fahren. Die Passagiere dürfen schlafen, ihr Smartphone verwenden oder Zeitung lesen. Das System erkennt seine Grenzen so rechtzeitig, dass es regelkonform einen sicheren Zustand erreichen kann. Die Passagiere haften während der vollautomatisierten Fahrt nicht für Verkehrsverstöße oder Schäden. Die fünfte Stufe ist das autonome Fahren. Es gibt nur noch Passagiere ohne Fahraufgabe. Fahrten ohne Insassen sind möglich. Die Technik im Auto bewältigt alle Verkehrssituationen. (Thomas Paulsen, 2021). Aktuell werden vor allem Systeme der Stufe 2 und 3 in Fahrzeugen von Automobilhersteller eingebaut. In den USA wird unter anderem von dem Google-Tochterunternehmen Waymo erste Fahrzeuge mit dem Level 4 getestet. Allerdings scheint die Skalierung von autonomen Fahrzeugen auf unbekannte Straßenabschnitte immer noch eine große Herausforderung zu sein. Zudem ist die Rechtsprechung im Bereich des
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autonomen Fahrens noch sehr eingeschränkt und die Haftungsfragen nicht vollständig geklärt. Die ungeklärten Rechtsfragen bezüglich der Haftung sind ein weiterer Grund, warum autonome Fahrzeuge in vielen Teilen der Welt nicht auf öffentlichen Straßen zu sehen sind. Es ist daher zu erwarten, dass die breite Masse noch einige Jahre warten muss, bis Sie die Verantwortung für das Führen des Fahrzeugs vollständig an ein Computersystem abgeben kann (Shladover, 2016).
4 Sharing Economy Immer mehr Menschen, vor allem in Städten, entdecken die Möglichkeit der zeitlich beschränkten Miete von Fahrzeugen. Dabei gibt es verschiedene Abstufungen und Modelle, welche sich über die Jahre entwickelt haben. Einige dieser Modelle sollen in dieser Publikation nun beleuchtet werden. Unter anderem das Autoabo, die klassische Fahrzeugmiete, das Car Sharing, das Ride Sharing und das Mobilitätsabo. Das Autoabo ist in den letzten Jahren in seiner Relevanz deutlich gestiegen. Immer mehr Menschen möchten einen fixen Preis für die Nutzung eines Fahrzeugs bezahlen und sich nicht um die Wartung des Fahrzeugs kümmern. In den Kosten für ein Autoabo sind deshalb meistens alle Wartungskosten, Versicherungen, Zulassungskosten, sowie Nutzungskosten eingerechnet (Szamatowicz & Paundra, 2019). Der Nutzer dieser Sharing Variante muss allerdings darauf verzichten das Fahrzeug individuell zu konfigurieren und erhält in vielen Fällen keinen Neuwagen, sondern ein Fahrzeug aus dem Pool, welches aktuell verfügbar ist. Dafür erhält der Nutzer oder die Nutzerin die Flexibilität das Fahrzeug nach einer kurzen Haltedauer von einem Monat bis sechs Monaten wieder zurückzugeben oder gegen ein anderes Fahrzeug zu tauschen. Besonders die Flexibilität wird dabei von den Kundinnen und Kunden geschätzt. Des Weiteren gibt es innerhalb der Sharing Economy in Bezug auf Autos die klassische Fahrzeugmiete. Bei dieser Variante des Teilens wird ein fester Betrag für die Nutzung eines Fahrzeugs bezahlt, welches sich an der gewünschten Fahrzeugausstattung, der Kilometeranazahl, der Dauer, sowie weiteren Faktoren berechnet. Jedoch hat sich auch die klassische Fahrzeugmiete in den Jahren verändert. Verschiedene Anbieter ermöglichen einen ähnlichen Service, wie die Autoabos, jedoch mit geringer Laufzeit. Beispiel dafür ist der Anbieter Sixt, welcher das gesamte Angebot von klassischer Miete, über Kurzzeitmiete, Autoabo und auch Car Sharing anbietet. Der Übergang zwischen einer Langzeitmiete, Kurzzeitmiete, Autoabo und Car Sharing ist dabei fließend und wird als innovatives Konzept von den Kundenwahrgenommen (Lazov, 2017). Zudem bieten immer mehr Autovermieter die Möglichkeit an flexibel zwischen Autoabo, Langzeitmiete, Kurzzeitmiete und Car Sharing ohne große Aufwände zu wechseln. Beim Car Sharing handelt es sich um eine Flotte an Fahrzeugen, welche zur Nutzung von einem Pool an Nutzern zur Verfügung steht. Beim Car Sharing ist die Idee, dass ausschließlich die Nutzung bezahlt wird und damit die Anzahl an Fahrzeugen in Städten reduziert werden kann (Bardhi & Eckhardt, 2012). Grundlage dieser Bestrebung ist, dass
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ein Fahrzeug mehr 90 % der Zeit steht und nicht genutzt wird. Besonders in Großstädten ist das Angebot von diversen Car Sharing Anbietern sehr groß. Jedoch ist die Auslastung der Fahrzeuge nach wie vor bei vielen Anbietern zu gering, um nachhaltig die Flotte betreiben zu können. Gleichzeitig sind die Kunden von Car Sharing Angeboten sehr preissensitiv, was zusätzlich den Druck auf diese Anbieter erhöht. Besonders durch die Verbindung mit anderen Formen des Sharings scheint jedoch die Profitabilität verbessert werden zu können. Ride Sharing beschreibt die Möglichkeit, eine Fahrt mit anderen Menschen zu teilen. Dabei reduzieren sich die Kosten für jeden Mitfahrer, je mehr Menschen in dem Fahrzeug die gleiche Strecke zurücklegen (Kooti. et al., 2017). Durch das Teilen der Fahrt kann sich die Fahrstrecke und damit auch die Fahrtzeit verlängern. Kunden von Ride Sharing weisen eher eine hohe Preissensitivität auf und sind bereit auf Komfort zu verzichten, um einen günstigeren Preis für eine Transportleistung zu bezahlen. Eine weitere Möglichkeit ein Auto oder darüber hinaus auch andere Mobilitätsangebote mit einer größten Gruppe zu nutzen ist das Mobilitätsabo. Dabei handelt es sich um ein festes Budget oder eine Flatrate, welche für die Nutzung eines Mobilitätsangebotes oder mehrerer Mobilitätsangebote genutzt werden kann (Ratilainen, 2017). Besonders als Ersatz für den Dienstwagen im geschäftlichen Umfeld finden sich verschiedene Arten von Mobilitätsabos. Ziel ist es hierbei dem Nutzer die volle Flexibilität zu bieten und gleichzeitig die Kosten zu begrenzen.
5 Elektromobilität Immer mehr Autohersteller geben bekannt, dass Sie die Produktion von Elektroautos fokussieren oder vollständig von der Produktion von Verbrennerfahrzeugen auf die Produktion von Elektroautos in den kommenden Jahren wechseln wollen. Getrieben durch den amerikanischen Elektroautohersteller Tesla hat sich das Ansehen von Elektroautos innerhalb von 15 Jahren deutlich geändert (Guarnieri, 2012). Zudem verfügen immer mehr Elektroautos ähnliche oder bessere Werte in der Reichweite, Beschleunigung und Sicherheit wie vergleichbare Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor (Holtsmark & Skonhoft, 2014). Besonders wichtig bei der Elektromobilität ist neben der Batteriekapazität und damit der Reichweite der Ausbau des Ladenetzes. Auch hier lässt sich feststellen, dass die Möglichkeiten ein Elektroauto in kurzer Zeit wieder mit ausreichend Energie zu versorgen deutlich verbessert haben (Larson et al., 2014). Jedoch ist das Ladenetz in Deutschland, aber auch in ganz Europa bei weitem noch nicht so groß, wie die Abdeckung mit klassischen Tankstellen für Autos, welche mit Benzin oder Diesel angetrieben werden. Zugleich wird ein großes Augenmerk auf die Reduktion des Luftwiderstands eines Fahrzeugs beim Design und der Konstruktion gelegt. Ein geringer Luftwiederstand sorgt für einen geringen Verbrauch von Elektrizität, besonders bei höheren Geschwindigkeiten. Nicht ohne Grund ist das Serienauto mit dem geringsten Luftwiederstand der Welt ein Elektroauto. Dies führt jedoch auch dazu, dass das Design
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der Fahrzeuge sich immer weiter ähnelt und die Differenzierung zwischen den verschiedenen Autohersteller schwieriger wird. Neben den technischen Spezifikationen von Fahrzeugen ist ein besonders wichtiger Faktor für den Kauf eines Fahrzeugs durch einen Kunden der Preis. Die stetig sinkenden Preise treiben dabei die Verbreitung von Elektroautos. Durch die staatliche Förderung in Deutschland konnte zudem der Absatz von Elektrofahrzeugen gesteigert werden (Propfe et al., 2013). Außerdem sorgt der steigende Preis für Benzin und Diesel dafür, dass das Elektroauto unter Berücksichtigung aller Kosten in immer mehr Fällen günstiger ist als ein ähnliches Fahrzeug mit Verbrennungsmotor. Zudem werden die Einschränkungen für die Nutzung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor immer größer. Schon seit einigen Jahren dürfen in einigen deutschen Städten Dieselfahrzeuge wegen der hohen Feinstaubpartikelbelastung nicht mehr einfahren (Waluś et al., 2018). Diese Begrenzungen führen zu einem deutlichen Anstieg in der Nachfrage nach Elektroautos, aber auch Fahrzeugen mit Benzinantrieb. Der Absatz von Fahrzeugen mit Dieselantrieb sinkt in den letzten Jahren. Durch die veröffentlichen Strategien der Automobilhersteller wird zudem klar, dass der Elektroantrieb in den nächsten Jahren dominieren wird und im Fokus des Automobilbaus ist (Li et al., 2015). Eingeschränkt wird das Wachstum im Bereich Elektroautoverkäufe vor allem von der Knappheit der benötigten Rohstoffe und Zwischenprodukte. Besonders bei der Batterie kommt es schon heute zu einer großen Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen Automobilhersteller. Aus diesem Grund ist es unabdingbar, sich als Automobilhersteller mit dem Aufbau einiger Batteriekapazitäten und dem Ausbau von Kompetenzen rund um den elektrischen Antrieb zu kümmern (Berckmans et al., 2017). Nur wer die Kosten für die Produktion von hochwertigen Batterien deutlich senken kann wird in Zukunft ausreichende Renditen erwirtschaften, um langfristig am Markt zu bestehen.
6 Datenbasierten Mehrwertdienste Ein weiteres spannendes Feld im Umfeld des Automobils sind die Daten, welche durch die Nutzung des Fahrzeugs erzeugt, gesammelt, ausgewertet und weiterverarbeitet werden können. Immer mehr Automobilhersteller erkennen, dass Sie einen Mehrwert für andere Unternehmen oder Menschen schaffen können, indem Sie Informationen aus dem Fahrzeug zusammenfassen und mit weiteren Daten verschneiden. Besonders die Versicherungswirtschaft hat früh erkannt, dass sich basierend auf realen Fahrzeugdaten die Risikoprofile der Kunden besser berechnen lassen (Remane et al., 2017). Mit Hilfe dieser Information ist es möglich genauer abzuschätzen nach wie vielen Kilometer durchschnittlich ein Unfall passiert und dementsprechend die Prämie für die Versicherung anzupassen. Ein anderes Beispiel für einen Mehrwertdienst basierend auf Fahrzeugdaten ist die Werbeindustrie (Liu & Wang, 2017). Zunehmend werden wir sehen, dass wir Angebote auf den Displays angezeigt bekommen, welche im direkten Bezug auf den Standort des Fahrzeugs stehen. Diese Art der Anwendung ist bereits aus
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der Internetwerbebranche bekannt und hat dort bewiesen für eine bessere Steuerung von Werbemitteln zu führen. In Zukunft werden wir noch viele weitere Mehrwertdienste basierend auf Fahrzeugdaten sehen. Besonders in Europa werden allerdings die Hürden deutlich größer sein, da der deutsche Datenschutz sehr strikte Regeln für die Verwendung von Daten den jeweiligen Unternehmen auferlegt (Wachter et al., 2017).
7 Smart City Ein großer Fokus der Automobilhersteller liegt auf der Entwicklung von Anwendungen für Städte (Benevolo et al., 2016). Diese Anwendungen basieren meistens, wie die datenbasierte Mehrwertdienste auch auf den Daten der Fahrzeugflotte des Herstellers. Besonders für Städte ist die Auswertung und Weiterverbreitung von Fahrzeugdaten interessant, da Sie die Infrastruktur verwalten und pflegen müssen. Zudem sind Sie gesetzlich dazu verpflichtet die Infrastruktur in einem Zustand zu halten, welche die Nutzung ermöglicht. Autos bieten sich dabei als Datensammler vor allem deshalb an, da diese mit sehr vielen Sensoren ausgestattet sind. Die Mange an Sensoren ist auch auf Grund der steigenden Anzahl an Assistenzsysteme, besonders für die Vorstufen des autonomen Fahrens, deutlich angestiegen. Des Weiteren sind immer mehr Fahrzeuge Connected Car, als mit dem Internet verbunden. Die Kombination aus vielen Sensoren, der Möglichkeit der Übertragung der Sensordaten über das Internet und die sinkenden Kosten der Datenspeicherung ermöglichen zunehmend diverse Anwendungen für Städte. Beispiel für Smart City Anwendungen ist die intelligente Verkehrssteuerung (Zhao et al., 2019). Ampeln können je nach Verkehr anders geschaltet werden, um durchschnittliche Fahrzeit innerhalb einer Stadt zu reduzieren. Des Weiteren können Gefahrenstellen im Straßennetz durch die Fahrzeugsensoren erkannt werden und anschließend passende Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit umgesetzt werden. Auch in Zukunft wird dieses Thema an Relevanz gewinnen und bei Automobilherstellern in den Fokus rücken. Zusammenfassung Das Auto wird zunehmend vernetzter, digitaler und elektrischer. Besonders im Bereich der Digitalisierung und der Softwareentwicklung müssen Automobilhersteller weitere Kompetenzen aufbauen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Auch bei den Kompetenzen im Bereich der Elektromobilität sind weiterhin hohe Investitionen nötig, um die Nachteile zu einem Verbrennerfahrzeug zu reduzieren oder vollständig aufzulösen. Mittelfristig werden nur sehr wenige Menschen autonom fahren. Langfristig geht auf Grund der hohen Verkehrstoten kein Weg an der vollständigen Automatisierung von Fahrzeugen herum. Aus diesem Grund sollten sich schon heute mehr Menschen Gedanken machen, was mit der Zeit angefangen werden kann, welche anschließend für andere Tätigkeiten frei wird. Besonders das Thema Mehrwertdienste und Smart City wird in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen. Auch hier wird es nötig sein die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um Technologie so einzusetzen, dass Sie dem Menschen dient. Es bleibt weiterhin eine spannende Zeit der Transformation.
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M. Engelmann
Offenlegung Marcel Engelmann ist Arbeitnehmer bei der Mercedes-Benz AG in Deutschland und besitze Aktien von diversen Unternehmen im Bereich Mobilität, Technologie und Digital Services. Bei der Erstellung der Publikation wurde größte Mühe aufgewandt, um die Inhalte unabhängig, objektiv und ohne eigene Meinung darzustellen. Die Daten dieser Veröffentlichung kommen von öffentlich zugänglichen Quellen und sind vollständig im Anhang diese Publikation offengelegt.
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Marcel Engelmann ist Experte für Innovationen und Digitalisierung mit dem Fokus auf Produktion, Mobilität und Logistik. Als Berater für das Top-Management der Mercedes-Benz AG darf er wegweisende Projekte für die Mobilität von Morgen begleiten. In seinem Buchbeitrag zeigt Herr Engelmann verschiedene Innovationen der Automobilbranche auf und gibt einen Ausblick auf die zukünftigen Trends.
Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung Jörn Littkemann, Christian Geyer und Sabrina Jung
1 Einleitung Digitalisierung und Start-Up-Kultur sind weiterhin in aller Munde. Erfolgsgeschichten wie die von Google, Apple, Netflix oder Facebook wecken das Interesse an innovativen Neugründungen. Auch in Deutschland zeichnet sich in den letzten Jahren grundsätzliche eine positive Entwicklung des Startup-Ökosystems ab (Kollmann et al., 2020, S. 17). Daten der KfW zeigen beispielsweise, dass der Bestand an Start-Ups in Deutschland zwischen 2016 und 2019 kontinuierlich angewachsen ist, bevor er vor allem bedingt durch den Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 leicht einbrach (Metzger, 2021, S. 2). Die Corona-Krise stellt Start-Ups und das gesamte Ökosystem weiterhin vor enorme Herausforderungen. Gleichzeitig ist die aktuelle Phase aber auch als Treiber bestehender Trends einzustufen und sorgt für einen Digitalisierungsschub in Wirtschaft und Gesellschaft (Hirschfeld & Gilde, 2020), wodurch das Startup-Ökosystem weiter an Relevanz gewinnt.
J. Littkemann (*) Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Geyer Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung und Controlling, FernUniversität, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Jung SCM Professional, SMA Solar Technology AG, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_6
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Vor allem die großen deutschen Start-Ups wie Zalando, DeliveryHero, Auto1 und HelloFresh gelten hierzulande als Vorbilder für Gründer, da diese Unternehmen es geschafft haben, in kurzer Zeit ein milliardenschweres Geschäft aufzubauen. Doch nicht jedes Start-Up schafft es, sich am Markt zu etablieren. Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig. Als eine der Hauptursachen für ein nicht erfolgreiches Start-Up wird das Fehlen eines innovationsunterstützenden Controllingsystems angesehen (Vietor & Wagemann, 2017, S. 8 ff.; Weber & Tilch, 2020, S. 3 ff.; Diehm, 2016, S. 2; Achleitner & Bassen, 2002, S. 1192; Kerschenbauer et al., 2016, S. 1642; Littkemann, 2005, S. 12 ff.). Der Online-Modehändler Zalando begründet seinen Erfolg beispielsweise u. a. darin, dass bereits zu Gründungsbeginn ein finanzwirksames Controlling im Unternehmen installiert wurde, welches stets einen Überblick über die aktuelle Liquidität und den Bedarf an finanziellen Mitteln ermöglichte (Kemper & Schäffer, 2013, S. 49). Wie eine effektive und effiziente Gestaltung eines Controllingsystems in Start-Ups konkret realisiert werden kann, wird in der aktuellen Forschungsliteratur rege diskutiert. Aufgrund der besonderen Merkmale von Start-Ups, wie fehlende Vergangenheitsdaten oder ein hohes Maß an immateriellen Vermögenswerten, können die für etablierte Unternehmen gültigen Empfehlungen nicht ohne weiteres auf das Controlling eines Start-Ups übertragen werden. Der Kapitalbedarf von Start-Ups wird zumeist aufgrund mangelnder Sicherheiten und des hohen Insolvenzrisikos größtenteils durch sog. Risikokapital, welches oft durch Venture Capital-Gesellschaften (VCG) bereitgestellt wird, gedeckt. Venture CapitalInvestitionen stiegen in Deutschland zuletzt kontinuierlich an und haben sich zwischen den Jahren 2015 und 2019 mehr als verdoppelt (Dealroom, 2020). Alleine im Jahr 2020 wurde von VCG ein Investitionsgesamtvolumen von ca. 1,9 Mrd. € in Start-Ups getätigt (Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften e. V., 2021). Sowohl Zalando als auch Auto1, DeliveryHero und HelloFresh wurden durch VCG finanziert (Thomas, 2018, S. 142 ff.).
2 Definitorische Grundlagen Der Begriff Start-Up (engl.: to start up = „gründen, in Gang setzen“) wurde gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts im Silicon Valley in den USA geprägt, als sich dort aufgrund des technologischen Fortschritts, insbesondere des Internets, tausende Unternehmen mit innovativen Vorhaben neu gründeten (Beige, 2016). Achleitner (o. J.) beschreibt Start-Ups als „junge, noch nicht etablierte Unternehmen, die zur Verwirklichung einer innovativen Geschäftsidee (häufig in den Bereichen Electronic Business, Kommunikationstechnologie oder Life Sciences) mit geringem Startkapital gegründet werden und i. d. R. sehr früh zur Ausweitung ihrer Geschäfte und Stärkung ihrer Kapitalbasis entweder auf den Erhalt von Venture Capital (VC) bzw. Seed Capital (evtl. auch durch Business Angels) angewiesen sind. Aufgrund der Aufnahme externer Gelder wie Venture Capital ist das Unternehmen auf einen Exit angewiesen,
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im Zuge dessen die Kapitalgeber ihre Investments realisieren.“ Sie legt damit den Schwerpunkt auf die Innovation, die zeitliche Komponente und die Finanzmittelknappheit. Eine weitere Definition geben Blank und Dorf (2014, S. XXI): „Ein Startup ist eine temporär existierende Organisation auf der Suche nach einem skalierbaren, nachhaltigen, profitablen Geschäftsmodell.“ Sie heben dabei die zeitliche Komponente sowie die Wachstumsorientierung hervor. Ries (2017, S. 27) bezeichnet ein Start-up als “… a human institution designed to deliver a new product or service under conditions of extreme uncertainty”. Das Hauptaugenmerk dieser Definition liegt wie bei Achleitner auf der Innovation sowie auf den damit verbundenen extrem unsicheren Umweltbedingungen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen verdeutlichen, wie breit der Interpretationsspielraum zur begrifflichen Eingrenzung eines Start-Ups ist. Die von Achleitner und Blank & Dorf hervorgehobene, zeitliche Komponente ist ein wichtiges Abgrenzungskriterium für ein Start-Up. Die Literatur liefert hierfür allerdings keine eindeutige zeitliche Eingrenzung. Der Bundesverband Deutsche Startups e. V. definiert ein Start-Up als jünger als 10 Jahre (Kollmann et al., 2018, S. 18). Andere Autoren nennen eine Zeitspanne von bis zu 20 Jahren (Volkmann & Tokarski, 2006, S. 15). Die Einbeziehung des Lebenszyklusmodells für Unternehmen ermöglicht eine idealtypische Einordnung des Start-Ups in bestimmte Lebenszyklusphasen (Wittenberg, 2006, S. 23 ff.). Da ein Start-Up nach Achleitner jung und noch nicht etabliert sowie laut Blank & Dorf skalierbar und auf der Suche nach einem profitablen Geschäftsmodell ist, befindet es sich gemäß den Definitionen entweder in der Gründungs- oder Wachstumsphase. Hier findet eine Abgrenzung zu etablierten Unternehmen statt, die sich überwiegend in späteren Lebenszyklusphasen befinden, auf eine längere Unternehmenshistorie zurückblicken können und ihr Geschäftsmodell i. d. R. bereits umgesetzt haben. Die Gründungsphase gliedert sich in eine Seed- und eine Start-Up-Phase und dient der Ideenfindung, -formulierung und -umsetzung (Kollmann, 2016, S. 46). In der Seed-Phase wird das Geschäftsmodell geplant, der Markt analysiert und ein Businessplan, welcher das Geschäftsmodell beschreibt und meist als Grundlage zur externen Finanzierung dient, erstellt (Reißing-Thust, 2003, S. 12 ff.). Erste Forschungs- und Entwicklungsarbeiten (F&E) werden durchgeführt und Produktprototypen aufgebaut (Vogelgesang et al., 2018, S. 325 ff.; Klandt, 2006, S. 141 ff.). Die anschließende Start-Up-Phase beginnt mit der formal-rechtlichen Gründung des Unternehmens, gefolgt von der praktischen Umsetzung der Planung mit ersten Produktverkäufen. Zum Gründungszeitpunkt besteht das Unternehmen oftmals nur aus einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern, meist den Gründern selbst. Es herrschen flache Hierarchien und der anfallende Arbeitsaufwand muss mit einer geringen Personalkapazität bewerkstelligt werden (Grichnik et al., 2010, S. 311 f.). Weiterhin ist es für die Gründungsphase charakteristisch, dass oft erst gegen Ende der Phase erste (meist kleinere) Umsätze erzielt werden. Die zu Beginn der Gründungsphase notwendigen, hohen Ausgaben für F&E können somit nicht aus Verkaufserlösen gedeckt werden. Folglich ist das Start-Up durch knappe finanzielle und auch personelle Ressourcen gekennzeichnet. Sofern das
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Abb. 1 Unternehmensphasen eines Start-Ups (in Anlehnung an Schefczyk, 2006, S. 42)
Start-Up mit geringem Startkapital gegründet wurde, wird an dieser Stelle im Regelfall eine Finanzierung durch Venture Capital erforderlich (Pape, 2018, S. 35). Die folgende Wachstumsphase ist durch den Produktionsbeginn und steigende Umsätze gekennzeichnet. Erste Gewinne können erzielt werden. Das Start-Up muss sich organisatorisch an die wachsenden Anforderungen anpassen und benötigt Kapital für die Wachstumsfinanzierung. Abb. 1 gibt einen Überblick über die idealtypischen Lebenszyklusphasen eines Start-Ups. Ein weiteres wichtiges Abgrenzungskriterium eines Start-Ups ist die von Achleitner und Ries genannte Innovation. Start-Ups sind gekennzeichnet durch neue Produkte, neue Verfahren oder innovative Dienstleistungen, häufig in technologiebasierten Bereichen. Diese sind i. d. R. mit hohen F&E-Kosten verbunden und stellen einen immateriellen, schwer bilanzierbaren Vermögensgegenstand dar (Rieg, 2004, S. 110; Littkemann, 2005, S. 25 ff.). Anhand des Innovationsgrades von Start-Ups findet eine klare Abgrenzung zu anderen Unternehmensgründungen, welche keinen innovativen, sondern imitativen Charakter haben, statt. Schlussfolgernd lassen sich anhand der angeführten Definitionen und unter Einbeziehung des Lebenszyklusmodells von Unternehmen folgende Abgrenzungsmerkmale eines Start-Ups ableiten (siehe Tab. 1): Tab. 1 Abgrenzungsmerkmale eines Start-Ups. (Eigene Darstellung)
Abgrenzungsmerkmale eines Start-Ups – Zustand der Gründungs- oder Wachstumsphase – Innovative Geschäftsidee – Knappe finanzielle und personelle Ressourcen – Wachstumsorientierung – Unsichere Unternehmensumwelt
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3 Start-Up-Finanzierung: Möglichkeiten und Besonderheiten Die Deckung des Kapitalbedarfs eines Unternehmens kann aus verschiedenen Quellen stammen. Diese können aufgrund der Mittelherkunft grundsätzlich in Innenfinanzierung und in Außenfinanzierung unterteilt werden (Pape, 2018, S. 36 f.). Bei der Innenfinanzierung erfolgt die Kapitalbedarfsdeckung i. d. R. aus der Einbehaltung erwirtschafteter Gewinne (Selbstfinanzierung). Bezogen auf ein Start-Up ist diese Art der Selbstfinanzierung zu vernachlässigen, da ein Start-Up meist erst in der Wachstumsphase eigene operative Erlöse erzielt und die Gewinnschwelle überschreitet (Grichnik & Kraschon, 2002, S. B9). Der Kapitalbedarf tritt jedoch meist aufgrund hoher Anfangsinvestitionen bereits in den früheren Phasen auf. Somit konzentrieren sich die Finanzierungsmöglichkeiten der Start-Ups auf die Bereiche der Außenfinanzierung. Da ein Start-Up in den frühen Phasen kaum Sicherheiten vorweisen kann, das Risiko einer möglichen Insolvenz beträchtlich ist und eine klassische Unternehmensbewertung aufgrund des hohen Innovationsgrades sowie den unsicheren Umweltbedingungen für potenzielle Fremdkapitalgeber nur schwer möglich ist, kommt die traditionelle Fremdkapitalfinanzierung für Start-Ups zumeist nicht infrage (Hof, 2017, S. 17 f.). Eine Mezzanine-Finanzierung stellt für Start-Ups eine gute Alternative dar, um Kapital zu beschaffen ohne Firmenanteile abgeben zu müssen (Hahn, 2018, S. 35 ff.). Allerdings kann durch diese Form der Finanzierung i. d. R. nicht der komplette Kapitalbedarf des Start-Ups gedeckt werden (Schüle, 2015, S. 72). Das größte Potenzial der Kapitalbedarfsdeckung liefert somit die Eigenkapitalfinanzierung. Dabei finanzieren sich die Start-Up-Gründer zunächst durch ihre eigenen Einlagen. Übersteigt jedoch der Kapitalbedarf die von den Gründern eingebrachten Mittel, so gibt es die Möglichkeit der Beteiligungsfinanzierung durch Venture Capital. Bei dieser Finanzierungsform investieren externe Kapitalgeber eine hohe Summe in das Unternehmen und erwerben im Gegenzug entsprechende Unternehmensanteile. VC-Geber sind als Eigentümer direkt am Erfolg bzw. Misserfolg des Unternehmens beteiligt. Je nach Rechtsform haften die Eigentümer im Falle einer Insolvenz in Höhe ihrer Einlage oder sogar darüber hinaus und werden bei der Befriedigung der Gläubigerforderungen nachrangig behandelt (Pape, 2018, S. 39). Diesem hohen Risiko des Totalverlusts steht eine überdurchschnittliche Renditeerwartung durch einen hohen Exit-Erlös gegenüber, sofern das StartUp skaliert und sich erfolgreich am Markt etabliert. Weiterhin werden den VC-Gebern klar definierte und im Beteiligungsvertrag rechtlich gesicherte Informations-, Mitwirkungs- und Kontrollrechte am Start-Up gewährt (Hahn, 2018, S. 36 f.). Zu den wichtigsten Kapitalquellen der VC-Finanzierung zählen Business Angels und Venture Capital-Gesellschaften. Bei Business Angels handelt es sich um Privatpersonen, die Teile ihres Privatvermögens in das Start-Up investieren und dafür Unternehmensanteile erwerben (Pape, 2018, S. 83 f.). Business Angels bringen meist ein hohes Maß an Branchenerfahrung mit
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Abb. 2 Finanzierungsformen nach Unternehmensphase (in Anlehnung an Schefczyk, 2006, S. 42)
und verfügen über weitreichende branchenrelevante Kontakte. Sie liefern dem Start-Up sowohl Kapital als auch Know-How. Der Zweck dieses informellen Investments dient zum einen der potenziellen Gewinnerzielung und zum anderen der Unterstützung des Managements. Die Investitionssummen liegen in Deutschland zwischen ca. 10.000 und 500.000 € (Volkmann & Tokaski, 2006, S. 319 ff.). VCG investieren dagegen sehr hohe Summen (ab ca. 500.000 €) in das Start-Up, werden im Gegenzug Gesellschafter des Unternehmens und erhalten weitreichende Informations-, Kontroll- und Mitspracherechte (Pape, 2018, S. 84). Die finanziellen Mittel erhalten sie von unterschiedlichen Investoren. Ziel der VCG ist es, eine möglichst hohe Rendite aus der zukünftigen Veräußerung der Unternehmensanteile für die Investoren zu erwirtschaften. Abb. 2 zeigt, in welcher Unternehmensphase welche Finanzierungsform typischerweise zum Einsatz kommt. Es wird deutlich, dass die eigenen Mittel der Gründer in der Regel nur den Kapitalbedarf in der frühen Gründungsphase decken können, wohingegen die Fremdkapitalfinanzierung aufgrund fehlender Sicherheiten erst ab Ende der Wachstumsphase eine Rolle spielt. Für die Wachstumsfinanzierung steht dementsprechend die Finanzierung durch die Crowd, über Business Angels oder durch VCG zur Verfügung. Aufgrund der geringen Investitionssummen von Business Angels und der Crowd können diese i. d. R. nicht den kompletten Kapitalbedarf eines Start-Ups decken. Die VCG stellen schlussfolgernd die wichtigste Kapitalquelle für wachstumsorientierte Start-Ups dar.
4 Controllingspezifische Besonderheiten innerhalb eines Start-Ups In den ersten beiden Kapiteln wurden die für Start-Ups charakteristischen Merkmale dargestellt. Aus diesen Merkmalen lassen sich Besonderheiten ableiten, die das Controlling in einem Start-Up beeinflussen. Aufgrund der kurzen Unternehmenshistorie stehen dem Controlling in der Gründungsphase keine Vergangenheitsdaten zur Verfügung, die es für Vergleiche oder
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Trendentwicklungen heranziehen kann. Es liegen nur geringe Erfahrungswerte vor (Achleitner & Bassen, 2002, S. 5). Im Laufe der Unternehmensentwicklung nimmt der Bestand an Vergangenheitsdaten zu, so dass bereits in der Wachstumsphase auf eine (wenn auch kurze) Unternehmenshistorie zurückgeblickt werden kann. Das Controlling muss diesen Prozess begleiten und sich entsprechend anpassen. Aufgrund der innovativen Geschäftsidee agieren Start-Ups in wettbewerbsintensiven Märkten, die es notwendig machen, die Innovation stets weiter voranzutreiben. Hierfür investiert das Start-Up meist in F&E-Bereiche und baut dadurch ein hohes Maß an immateriellen Vermögensgegenständen auf, die wertmäßig nur schwer erfasst werden können (Stoi, 2003, S. 175 ff.). Die finanzielle Ressourcenknappheit resultiert aus den hohen Aufbauinvestitionen in die Organisationsstruktur und F&E-Tätigkeiten, gepaart mit noch fehlenden Umsätzen. Dementsprechend werden keine Gewinne erwirtschaftet und der Cashflow ist negativ. Zusätzlich steigt der Bedarf an VC, welches dazu führt, dass VCG oftmals spezifische Anforderungen an das Controllingsystem in Start-Ups geltend machen. Die personelle Ressourcenknappheit begründet, dass ein Großteil der anfallenden Aufgaben von den Gründern selbst erledigt wird. Daraus resultiert, dass die Entscheidungsprozesse in einem Start-Up deutlich durch die Gründerpersönlichkeiten geprägt sind. Sofern die Gründer keine betriebswirtschaftliche Ausbildung erfahren haben, können Defizite im kaufmännischen Bereich bestehen, die sich auf die Gestaltung von Controllingsystemen auswirken können (Achleitner & Bassen, 2002, S. 5 f.). Die Wachstumsorientierung, die ein skalierbares Start-Up aufweist, birgt ein hohes Wachstumspotenzial sowie ein hohes Risiko, welches bewertet und gesteuert werden muss. Das Start-Up agiert in einer extrem unsicheren Unternehmensumwelt, da der Markt zum Teil noch nicht erforscht ist und neue Konkurrenten in den Markt drängen. Dies erfordert eine schnelle Reaktion auf äußere Einflüsse (Blank & Dorf, 2014, S. XXI; Ries, 2017, S. 27). Zusammenfassend lassen sich folgende controllingrelevante Besonderheiten aus den Merkmalen ableiten (Tab. 2):
Tab. 2 Controllingrelevante Besonderheiten von Start-Ups (in Anlehnung an Achleitner & Bassen, 2002, S. 9)
Controllingrelevante Besonderheiten von Start-Ups – Keine Vergangenheitsdaten – Immaterielle Vermögensgegenstände – Keine Gewinne/negative Cashflows – VC-Finanzierung – Gründergeprägte Unternehmensstruktur – Kaufmännische Defizite der Gründer – Hohes Wachstumspotential/hohes Risiko – Unsichere Unternehmensumwelt
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5 Besonderheiten aufgrund der Finanzierung durch Venture Capital-Gesellschaften Bei der Finanzierung durch VCG handelt es sich um eine spezielle Form der Beteiligungsfinanzierung an nicht-börsennotierten Unternehmen (Achleitner & Nathusius, 2004, S. 8). Vorrangiges Ziel der VCG ist es, eine hohe Gesamtrendite an die Investoren auszuschütten. Um dies zu erreichen, müssen VCG eine kritische Unternehmensbewertung potenzieller Portfoliounternehmen durchführen und diese gemäß ihres Wachstumspotenzials einschätzen. Eine Investition lohnt sich aus der Perspektive der VCG meist nur in Start-Ups mit hohem Wachstumspotenzial, da hier i. d. R. hohe Kapitalgewinne durch den Verkauf der Unternehmensanteile bei einem Exit realisiert werden können. Grundlage für die Unternehmensbewertung ist oftmals der Businessplan des Start-Ups, welcher alle unternehmensrelevanten Eckpunkte sowie Informationen zur Zukunftsplanung des Unternehmens enthält. Im Vorfeld der Finanzierung findet die vertragliche Ausgestaltung der Beteiligung statt. Die Konditionen umfassen einerseits die Beteiligungshöhe sowie die Informations-, Mitsprache- und Kontrollrechte (Volkmann & Tokarski, 2006, S. 333 f.). Andererseits wird festgelegt, in welchen Bereichen und in welcher Form VCG das jeweilige Start-Up mit ihrer fachlichen Kompetenz unterstützen soll. Durch eine umfassende Unterstützungstätigkeit kann für das Start-Up ein Value Added entstehen, welcher den Erfolg des Start-Ups beeinflussen kann (Neubecker, 2006, S. 235 ff.). Aufgrund des hohen Verlustrisikos und der bestehenden Informationsasymmetrien lassen sich VCG weitreichende Informations-, Kontroll- und Mitspracherechte einräumen (Achleitner & Nathusius, 2004, S. 9). Informationsasymmetrien entstehen gemäß des Prinzipal-Agenten-Ansatzes dadurch, dass die Gründer des StartUps (Agenten) einen Informationsvorsprung bzgl. des eigenen Unternehmens und des eigenen Verhaltens gegenüber den Kapitalgebern (Prinzipale) haben. Dieser Wissensvorsprung kann sich durch das opportunistische Ausnutzen von Vertragslücken bzw. durch gezielt schädigende Handlungen der Gründer negativ auf das Ziel der VCG (Unternehmenswertsteigerung) auswirken. VCG können z. B. bei Auftreten eines Problems nicht genau beurteilen, ob dieses durch das Verhalten der Gründer oder durch äußere Einflüsse ausgelöst wurde. Die Informationsasymmetrien können durch ein definiertes Monitoring und Berichtswesen sowie der Verknüpfung weiterer Finanzierungssummen an das Erreichen bestimmter Ereignisse, sog. Meilensteine, abgebaut werden (Lycko & Mahlendorf, 2017, S. 27 ff.). Darüber hinaus handeln VCG als Finanzintermediäre und muss die Bedürfnisse der Investoren befriedigen. Diese sind vor allem an einer möglichst hohen Rendite ihrer Investition interessiert und erwarten eine informative und transparente Aufbereitung des aktuellen und zukünftigen Werts ihrer Investments. Es ist die Aufgabe von VCG diese Daten zu erheben, aufzubereiten und den Investoren zur Verfügung zu stellen. Die Datengrundlage hierfür liefern wiederum die einzelnen Portfoliounternehmen (Achleitner & Bassen, 2003, S. 7). Somit muss ein Start-Up in der Lage sein,
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Tab. 3 Controllingrelevante Besonderheiten von Venture Capital-Gesellschaften. (Eigene Darstellung) Controllingrelevante Besonderheiten von Venture Capital-Gesellschaften
Beschreibung
Unternehmenswertorientierung
Das oberste Ziel der VCG ist die Unternehmenswertsteigerung bis zum Exit, um eine möglichst hohe Kapitalrendite zu erzielen
Informationsasymmetrien
Es besteht ein Informationsungleichgewicht zwischen Gründern und VCG. Um dies zu minimieren, fordern VCG umfangreiche Informations- und Kontrollmaßnahmen
Festlegung von Meilensteinen
Weitere Auszahlungen in der Zukunft werden an das Erreichen von Meilensteinen geknüpft, um das Verlustrisiko zu minimieren
Schnittstellenübergreifendes Reporting
VCG agieren als Intermediär zwischen Start-Ups und Investoren und berichtet an die Investoren. Aus Effektivitäts- und Effizienzgründen sollte das Controlling der Start-Ups auf die nachgelagerten Akteure abgestimmt sein
Unterstützungsfunktion
VCG können Start-Ups weitreichende fachliche Kompetenz bieten, die positiven Einfluss auf den Erfolg haben kann
die Informationsanforderungen von VCG zu decken. Weiterhin sollte eine effektive und effiziente Datenübermittlung z. B. in Form von Schnittstellen realisiert werden (Stahl, 2003, S. 424 ff.; Hipp, 2004, S. 620 f.). Anhand der vorangestellten Erläuterungen lassen sich folgende controllingrelevante Besonderheiten von VCG ableiten (Tab. 3):
6 Anforderungsprofil an das Controllingsystem in durch Venture Capital-Gesellschaften finanzierte Start-Ups Aufgrund der kurzen Existenz eines Start-Ups liegen keine Vergangenheitswerte zu Planungs-, Steuerungs- und Kontrollzwecken vor. Ein neues Controllingsystem, ohne historische Daten, muss entwickelt werden. Zusätzlich werden die Gründer, welche häufig unzureichende kaufmännische Fähigkeiten vorweisen, das Controllingsystem selbst betreiben (müssen). Daher ist ein einfaches und verständliches System zweckmäßig. Mit fortschreitendem Entwicklungsstand des Start-Ups und einem umfangreicheren Datenbestand kann das Controllingsystem auch komplexere Formen annehmen (Wittenberg, 2006, S. 101).
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Der innovative Charakter eines Start-Ups bergründet ein hohes Wachstumspotenzial. Mit dem Eintreten in die Wachstumsphase ergeben sich normalerweise deutliche Änderungen in der Unternehmensstruktur. Prozesse verändern sich, Personal wird aufgebaut, Organisationstrukturen werden angepasst etc. Zusätzlich wirken aufgrund der unsicheren Umwelt externe Einflüsse, unter der Prämisse sich erst formierender Branchen, auf das Unternehmen ein. Um diesen Veränderungsprozessen im Zeitablauf gerecht zu werden, ist ein anpassungsfähiges und flexibles Controllingsystem notwendig. (Achleitner & Bassen, 2002, S. 10; Kemper & Schäffer, 2013, S. 47; Lycko & Mahlendorf, 2017; S. 25; Littkemann, 2005, S. 28 ff.). Die immateriellen Vermögensgegenstände bilden mehrheitlich das Herzstück eines Start-Ups. Sie beinhalten die innovative Idee und das produktspezifische Know-How und spiegeln den eigentlichen Wert des Unternehmens wider. Immaterielle Vermögensgegenstände sind nicht rein quantitativ messbar und somit schwer bilanzierbar. Um den realistischen Wert des Start-Ups ermitteln zu können, bedarf es der qualitativen Auswertung der immateriellen Vermögensgegenstände und deren Übertrag in messbare Erfolgsgrößen (Diehm, 2017, S. 22). Negative Cashflows und fehlende Gewinne verzerren den realistischen Wert des Unternehmens. Um den Erfolg des Start-Ups trotzdem bewerten zu können, sollte das Controllingsystem modifizierte Erfolgsgrößen, wie z. B. Kundenzufriedenheit, WebSite-Besuche, etc. darstellen können (Achleitner & Bassen, 2003, S. 11). Eine häufige Folge aus negativen Cashflows sind Liquiditätsengpässe, die die Existenz des Start-Ups gefährden. Um die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens stets gewährleisten und notfalls rechtzeitige Finanzierungsrunden einleiten zu können, ist die Abbildung und Kontrolle der Liquidität des Unternehmens zwingend erforderlich (Wittenberg, 2006, S. 103). Grundsätzlich wird von einem Controllingsystem gefordert, dass es auf die Bedürfnisse der Empfänger zugeschnitten ist (Littkemann, 2018, S. 40 ff.). Da ein Start-Up stark gründerorientiert agiert, sollte auch das Controllingsystem dem Informationsbedarf und Kenntnisstand der Gründer angepasst sein. Zusätzlich sollte das Controllingsystem bei durch VCG finanzierte Start-Ups auch auf die Bedürfnisse der Kapitalgeber zugeschnitten sein. Die Unternehmenswertorientierung der VCG fordert die Abbildung unternehmenswertorientierter Erfolgsgrößen. Um die bestehenden Informationsasymmetrien abzubauen, bedarf es einem kontinuierlichen Reporting, welches standardisierte Kennzahlen erfasst und in regelmäßigen Zeitabständen aufbereitet wird. Dieses standardisierte Berichtswesen sollte aus Effizienzgründen direkt an das Controlling der VCG übermittelt werden. Somit besteht die Anforderung an eine Integrierbarkeit des Controllingsystems des Start-Ups in das Controlling der Gesellschaft (Achleitner & Bassen, 2002, S. 11). Weiterhin muss das Controllingsystem in der Lage sein, die im Beteiligungsvertrag definierten Meilensteine abzubilden, um Folgefinanzierungen gewährleisten zu können und den Unternehmensfortschritt zu dokumentieren.
Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung
111
Tab. 4 Anforderungsprofil an ein Controllingsystem in durch VCG finanzierte Start-Ups. (Eigene Darstellung) Institution
Anforderungen
Start-Up
– Einfaches, verständliches System – Anpassungsfähiges, flexibles System – Abbildung immaterieller Vermögensgegenstände – Darstellung modifizierter, qualitativer Erfolgsgrößen – Abbildung der Liquidität
Venture Capital-Gesellschaft
– Abbildung unternehmenswertorientierter Erfolgsgrößen – Regelmäßiges Standardreporting – Darstellung des Unternehmensfortschritts – Integrierbares System
Zusammenfassend lässt sich aus den controllingrelevanten Besonderheiten das folgende Anforderungsprofil ableiten (Tab. 4):
7 Das Controlling-Cockpit als externes Reporting für Venture Capital-Gesellschaften Im vorherigen Kapitel wurde herausgearbeitet, dass die VC-Geber ein kontinuierliches und regelmäßiges Reporting mit standardisierten Kennzahlen fordern, welches in das Controllingsystem der VCG integriert werden kann. Um dieser Anforderung gerecht zu werden, wird mit einem Controlling-Cockpit ein betriebswirtschaftliches Steuerungselement erarbeitet, welches als externer Report an die VCG übermittelt werden kann. Ziel ist es, alle für die VCG relevanten Daten strukturiert aufzubereiten und diese den VCG so zur Verfügung zu stellen, dass eine automatische Weiterverarbeitung der Daten innerhalb des Controllingsystems der VCG möglich ist. Das Reporting dient somit dem Abbau der bestehenden Informationsasymmetrien zwischen Gründern und VCG und der Senkung der Kontrollkosten der VCG durch ein schnittstellenübergreifendes, automatisiertes Controlling (Stahl, 2003, S. 427 ff.). Zusätzlich soll durch das ControllingCockpit ein einfacher Standardbericht angelegt werden, der sich im Laufe der Unternehmensentwicklung ohne großen Aufwand phasengerecht anpassen lässt. Der Inhalt des Cockpits richtet sich an die Bedürfnisse der VCG und ist zwingend mit dieser abzustimmen. Um einen Gesamtüberblick über den Entwicklungsstand des Unternehmens liefern zu können, empfiehlt sich folgender Aufbau eines Reportings (siehe Abb. 3): Es bietet sich an, zunächst eine zusammenfassende Übersicht des Reports zu erstellen (hier Cockpit genannt), bevor in weiteren Bestandteilen des Reportings genauer auf bestimmte Sachverhalte eingegangen wird. Ein Cockpit ist eine einfache Form, um
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J. Littkemann et al.
Abb. 3 Reporting-Cockpit (in Anlehnung an Nietzer, 2003, S. 450)
Messwerte oder Ist-Werte von Kennzahlen oder berechnete und aggregierte Kennzahlen auf einer Seite darzustellen und sollte einen Überblick über die aktuelle Unternehmenssituation liefern. Hierfür sollten Key Performance Indicators (KPIs) u. a. für die Bereiche Kunden/Markt, Liquidität, Erfolgsgrößen, F&E und Meilensteine abgebildet werden (Nietzer, 2003, S. 448). KPIs sind unternehmensindividuelle Kennzahlen, die zwischen dem Start-Up und der VCG definiert werden müssen und zur globalen Steuerung des Start-Ups geeignet sind. Wichtig ist eine Auswahl weniger, aber aussagekräftiger KPIs, die in der jeweiligen Unternehmensphase für das Start-Up relevant sind (Vietor & Wagemann, 2017, S. 11; Lüdtke, 2017, S. 35). Im Bereich Kunden/Markt bieten sich kundenrelevante KPIs an, die das Kundeninteresse und somit das Marktpotenzial darstellen. Ein Beispiel für ein SaaS-Start-Up („Software as a Service“) ist die Anzahl der Downloads einer App oder die Churn-Rate (Abwanderungsquote), die angibt, wie viele Kunden eines Unternehmens über einen bestimmten Zeitraum im Vergleich zum bestehenden Kundenstamm abgesprungen sind (Grummer & Brorhilker, 2014). Auch die Messung eines Net Promoter Scores, welcher als Maßstab der realisierten Kundenzufriedenheit dient, erscheint sinnvoll. Beim Übergang in die Wachstumsphase können diese durch eher quantitative Größen ergänzt oder ersetzt werden. Der Bereich Liquidität bildet die Zahlungsfähigkeit des Start-Ups ab. Geeignete Indikatoren sind z. B. die Cash-BurnRate, welche angibt, wie lange dem Start-Up noch finanzielle Mittel bereitstehen (Binder
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& Högsdal, 2016, S. 48 f.). Obwohl die klassischen Erfolgsgrößen für sich genommen wenig über den tatsächlichen Erfolg des Start-Ups aussagen, geben sie im Kontext wichtige Informationen zum aktuellen Stand des Unternehmens. Für die Ebene der Erfolgsgrößen bieten sich klassische KPIs wie EBIT bzw. EBITDA, Umsatzrentabilität etc. an (Nietzer, 2003, S. 449). Im Bereich F&E können Angaben zum aktuellen Forschungsstand gemacht werden. Auch eine Darstellung immaterieller Vermögensgegenstände des Innovation Capitals (Software, Patente, ungeschützte Rezepturen) liegt nahe (Eierle et al., 2018, S. 387). Im letzten Bereich des Cockpits ist es sinnvoll, die finanzierungsrelevanten, vertraglich vereinbarten Meilensteine mit dem wahrscheinlichen Erfüllungszeitpunkt aufzulisten (Heinemann & Schäffer, 2017, S. 18). Additiv sollte zu jedem der aufgeführten Bereiche ein Soll-Ist-Abgleich dargestellt werden, dem über eine Kommentarfunktion manuelle Bemerkungen hinzugefügt werden können. An dieser Stelle sei erwähnt, dass es sich bei den genannten Bereichen des Cockpits um einen Vorschlag handelt, welcher gemäß den zuvor erarbeiteten Kontextfaktoren den Gesamtentwicklungsstand eines Start-Up-Unternehmens bestmöglich abbildet. In der Praxis wird es jedoch erforderlich werden, die einzelnen Bereiche unternehmensindividuell anzupassen. Um die Entstehung der ausgewiesenen Werte nachvollziehen zu können, benötigen die VCG tiefergehende Informationen aus dem Start-Up. Es ist sinnvoll, die zu den Bereichen des Cockpits passenden Teilreports dem Gesamtreport hinzuzufügen. Die Teilreports sollten entsprechende Angaben zu Kunden und Markt, eine rollierende Liquiditätsrechnung, eine GuV, eine Bilanz, ein F&E-Factsheet und die Meilensteinanalyse enthalten. Dieses Standardreporting sollte monatlich aufbereitet werden. Dies ist konform mit der in der Praxis durch die VCG geforderte Häufigkeit der Informationsübertragung (Grummer & Brorhilker, 2014). Durch die Einbindung der VCG bei der Implementierung des Controllingsystems sowie des Standardreports können die Anforderungen der VCG bestmöglich berücksichtigt werden. Ebenfalls ist eine Abstimmung der IT-Systeme erforderlich, damit eine automatisierte Datenaufbereitung und -übermittlung gewährleistet wird.
8 Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde herausgearbeitet, dass VCG einen bemerkenswerten Einfluss auf das Controllingsystem in Start-Ups haben. VCG lassen sich im Gegenzug für das hohe Verlustrisiko, welches sie mit ihrer Investition eingehen, weitreichende Informations-, Kontroll- und Mitspracherechte rechtlich zusichern, um eine erfolgreiche Unternehmenssteuerung zu gewährleisten. Das Hauptziel der VCG ist die Unternehmenswertsteigerung des Start-Ups. Diese Zielsetzung macht es erforderlich das Start-Up entsprechend erfolgsorientiert zu steuern und die dafür notwendigen Planungs-, Kontroll- und Informationswerkzeuge zu implementieren. Als konkrete Anforderungen
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der VCG an das Controlling eines Start-Ups konnten die Abbildung unternehmenswertorientierter Erfolgsgrößen, die Darstellung des Unternehmensfortschritts, ein regelmäßiges Standardreporting und die Integrationsmöglichkeit des Controllingsystems in das System der VCG ermittelt werden. Unter Berücksichtigung der Einflussnahme von VCG und den controllingspezifischen Anforderungen eines Start-Ups wurde eine mögliche Gestaltung eines Controllingsystems vorgestellt. Dabei konnten folgende Besonderheiten in Bezug auf den Einfluss von VCG herausgearbeitet werden: Start-Ups, die sich durch externe Kapitalgeber finanzieren möchten, müssen sich im Gegensatz zu anderen jungen Unternehmen, bereits frühzeitig, in Form eines Businessplans, mit der betriebswirtschaftlichen Disziplin des Controllings auseinandersetzen. Weiterhin muss die von den VCG geforderte Unternehmenswertsteigerung abgebildet, nachvollzogen und gesteuert werden können. Dies bedarf einer Implementierung geeigneter Controllinginstrumente zur zielorientierten Unternehmenssteuerung. Aufgrund der Anforderung an ein aussagekräftiges Reporting an die VCG müssen steuerungsrelevante, auf das Start-Up zugeschnittene KPIs definiert werden. Abgebildet werden können diese Instrumente bspw. durch ein ControllingCockpit. Die Integrierbarkeit der Systeme erfordert die frühzeitige Installation ITgestützter Systeme. Subsummierend konnte festgestellt werden, dass aufgrund der Anforderungen der VCG an das Controlling eines Start-Ups und der fachbezogenen Unterstützung durch die VCG ein effektives und bedarfsgerechtes Controllingsystem in Start-Ups aufgebaut werden kann, welches ohne den Einfluss der VCG u. a. aufgrund von mangelndem Know-How der Gründer, Personalmangel oder Finanzmittelknappheit zumeist nicht errichtet wird.
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Jörn Littkemann Prof. Dr. ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung und Controlling, FernUniversität in Hagen.
Christian Geyer, M.Sc. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Littkemann, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung und Controlling, FernUniversität in Hagen. Sabrina Jung ist SCM Professional bei der SMA Solar Technology AG, Kassel.
Innovationen im Bildungssektor
11 Thesen zum Lernen der Zukunft Markus Dohm
Eine in den 90er-Jahren erstmals formulierte Vermutung ging davon aus, dass die Hälfte des in der Schule erworbenen Wissens nach zwei Jahrzehnten, die Hälfte des nutzbaren technologischen Wissens bereits nach zwei bis drei Jahren verfällt. IT-Wissen wird angesichts der rasanten technologischen Entwicklung sogar nur eine Halbwertszeit von weniger als zwei Jahren zugestanden. Grund dafür ist die Tatsache, dass wir in immer kürzeren Abständen immer mehr neue Erkenntnisse gewinnen. Geschätzt verdoppelt sich das Wissen der Welt heute alle fünf bis zwölf Jahre, Tendenz steigend. Noch schneller summieren sich die technischen Kapazitäten zur Speicherung, Verarbeitung und Übertragung. Laut einer Studie aus dem Jahr 2003 stieg die gespeicherte Datenmenge zwischen 1999 und 2002 jährlich um 30 %, auf 5 Exabyte, zu 92 % auf magnetischen Datenträgern.1 Doch wird dadurch bereits erworbenes Wissen tatsächlich infrage gestellt? Oder gar obsolet? „Nein“, findet Soziologe Prof. Dr. Robert Helmrich, der dieser Frage anhand theoretischer Annahmen und empirischer Befunde auf den Grund gegangen ist. Sein
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(2016). I. Das Informationsproblem. In Bibliothekarisches Grundwissen (S. 355–361). Berlin, Boston: De Gruyter Saur. https://doi.org/10.1515/9783110321500-021; https://de.wikipedia.org/wiki/ Informationsexplosion;
M. Dohm (*) TÜV Rheinland Academy & Life Care, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_7
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Fazit: „Tatsächlich besitzt die These der Halbwertszeit keinerlei empirische Grundlage.“2 Seiner Ansicht nach verliert Wissen keinesfalls an Bedeutung, sondern wird weiterentwickelt und verändert. Und selbst Wissen, das kein Mensch mehr abfragt, bleibt letztlich Wissen – „und niemand kann sagen, ob es nicht eines Tages doch wieder benötigt wird“, sagt der Soziologe der Universität Bonn. Trotzdem steht natürlich außer Frage, dass sich unser Wissen einerseits rasant vermehrt und andererseits gewonnene Erkenntnisse schneller veralten – vorwiegend im Bereich Technologie und Informationstechnik. Beim Lernen und der beruflichen Weiterbildung geht es heute auch nicht mehr darum, möglichst viel Wissen anzuhäufen. Konnten Universalgelehrte im 16. und 17. Jahrhundert noch die gesamte Welt erklären, geht der Trend beim lebenslangen Lernen in Richtung Spezialisierung und zum Erwerb von problem- oder lösungsspezifischen Kompetenzen. Doch das sind nur zwei von mehreren Aspekten, die die betriebliche Weiterbildung beeinflussen werden. Im Nachfolgenden elf Thesen zum Lernen der Zukunft.
These 1: Lernen wird sich weiter individualisieren Der Zeithorizont von Senecas Sinnspruch „Non scholae, sed vitae“ hat sich in der Wissensgesellschaft dramatisch verkürzt. Bildung ist nie „zu Ende“, Lernen ist ein lebenslanges, permanentes Ziel und zum Megatrend geworden, der viele Bereiche unseres Lebens beeinflusst. Die Frequenz, in der sich Wissen und Qualifikation erneuern müssen, wird immer kürzer. Wir lernen nicht mehr fürs Leben, sondern für den Augenblick, in der Regel für die individuelle augenblickliche berufliche Situation. Das bedeutet, auch das Lernen wird sich weiter individualisieren. Der Einzelne kann heute entscheiden, wann er lernt (24/7, während der Arbeit oder in der Freizeit), wie er lernt (digital oder analog, in der Theorie oder praktisch), wo er lernt (am Arbeitsplatz oder im Home-Office) und was er lernt. Möglich wird dies primär durch die Digitalisierung. Und: Wer heute als berufserfahrene Kraft eine neue Beschäftigung antritt, will keine langwierigen Lehrgänge mehr durchlaufen, mit Inhalten, die unter Umständen gar nicht mehr à jour sind. Eine Fachkraft will immer häufiger genau das Delta dessen lernen, was sie im neuen Job ggf. noch zusätzlich benötigt. Die Voraussetzung ist, dass ihr klar ist, welches Know-how und welche Kompetenzen gerade gefragt sind und wo sie noch nachbessern darf. Beides sollte Gegenstand eines professionellen Kompetenzmanagements in Unternehmen sein und gehört zum Portfolio jeder externen Kompetenzbegleitung.
2 Helmrich,
R. & Leppelmeier, I. (2021). Sinkt die Halbwertzeit von Wissen? Theoretische Annahmen und Befunde. BIBB-Publikationen. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www. bibb.de/dienst/veroeffentlichungen/de/publication/show/16571
11 Thesen zum Lernen der Zukunft
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Diese Entwicklung wird Auswirkungen haben, sowohl auf die Angebote von Lernanbietern als auch auf das Angebot betrieblicher Weiterbildung in Unternehmen. Wissen wird in kleine Happen unterteilt werden müssen, damit die Einzelne noch zielgerichteter wählen kann, was sie lernen will und muss. Diese „Lern-Nuggets“ werden aufgrund der Individualisierung der Inhalte noch häufiger sowohl in Präsenz als auch digital angeboten werden, die Zahl von Kombinationsmöglichkeiten für den Einzelnen wird – analog zur Losgröße 1 in der Smart Factory – noch steigen. Wirtschaftlichkeit und Effizienz von Lernanbietern und HR-Kapazitäten von Unternehmen wird das auf die Probe stellen.
hese 2: Gekommen um zu bleiben – Digital Learning wird T elementarer Bestandteil der betrieblichen Weiterbildung Ob Universität oder betriebliche Weiterbildung in Unternehmen: Lange war Präsenz die beliebteste Form des Lernens in Deutschland. Teilnehmende zeigten bis 2020 kaum Interesse an Virtual Classrooms oder E-Learnings. Spätestens seit der Pandemie ist Digital Learning neuester Stand der Technik. Digitale Lern-Formate haben es deutlich leichter als in der Vergangenheit. Zumindest in Deutschland hat uns die Pandemie in der Marktakzeptanz digitalen Lernens mindestens fünf Jahre nach vorn katapultiert. Wir dürfen allerdings davon ausgehen, dass das Pendel auch wieder zugunsten der Präsenz-Trainings zurückschwingen wird. Die Menschen werden einiges nachzuholen haben: Teilnehmende brauchen den Austausch untereinander und Trainer oder Trainerinnen erhalten über die Resonanz der Teilnehmenden eine Erfolgskontrolle, ob das Vermittelte auch wirklich bei den Rezipierenden ankommt. Fazit: Hybride Lernformate wie das Blended Learning werden sich weiterverbreiten, weil es unser natürliches Lernverhalten sehr gut unterstützt. Die Inhalte werden dabei in einer Kombination aus Präsenz- und Onlinephasen vermittelt. Das ermöglicht einerseits eine flexiblere und ortsunabhängigere Teilnahme am Unterricht im Virtual Classroom, befriedigt andererseits aber auch den Bedarf nach sozialem Austausch. Und optimal gestaltet, ebnet Blended Learning auch den Weg zu niedrigeren Kosten im Unternehmen und höheren Lernerfolgen bei den Mitarbeitenden. Ein weiterer großer Vorteil des Blended Learning besteht darin, dass sich Weiterbildungsangebote gezielt an den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Mitarbeitenden ausrichten lassen. Statt überflüssige Informationen per Gießkannenprinzip zu konsumieren, lernt jede und jeder nur das, was für den konkreten Job auch wirklich benötigt wird. Wichtig: Integrierte Lernkonzepte wie Blended Learning vermitteln Wissen durch eine logische Verknüpfung unterschiedlicher Lernformen. Damit das gelingt, müssen spielerische Simulationen, virtuelle Exkursionen und soziale Zusammenarbeit nahtlos ineinandergreifen. Anders gesagt: Blended Learning ist ein Prozess. Es reicht nicht,
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die Angebote verfügbar zu machen. Sie müssen auch kontinuierlich betreut und weiterentwickelt werden. Präsenzveranstaltungen sind bestens geeignet, um online erworbene Kenntnisse durch Rollenspiele oder Diskussionen zu vertiefen. Innovative Technologien wie Augmented und Virtual Reality ermöglichen zudem „Learning by Doing“ in risikofreien Umgebungen. Und: Der Prozess des Blended Learning ist ein kontinuierlicher. Dementsprechend wichtig ist es, nach Abschluss entsprechender Programme den Lernerfolg der Mitarbeitenden zu überprüfen – am besten wieder in Form einer unabhängigen Kompetenzmessung (siehe These 7).
hese 3: Nicht das Wissen selbst, sondern die Anwendung von T Wissen wird künftig im Mittelpunkt der Vermittlung stehen Die Wissensgesellschaft beinhaltet einen Wechsel der Paradigmen. Exaktes Wissen3 ist heute ubiquitär und oft auch kostenlos im Netz verfügbar. Aber reines Fach- und Methodenwissen reichen nicht mehr aus, um die Herausforderungen in der Zukunft zu bewältigen. Wichtiger ist, was Menschen aus ihren Fähigkeiten machen, wie sie Problemstellungen in der Praxis angehen. Empirisches Wissen4 – Wie setze ich die Dinge um, wie wende ich das Wissen an? Wie kann ich es in meinem Beruf integrieren? Wie kann ich es implementieren? – wird immer wertvoller und zum Wettbewerbsvorteil für den Einzelnen wie auch für die Organisation. Vor allem in komplexen Situationen, in denen die bekannten Regeln, die herkömmlichen Kenntnisse und Fertigkeiten nicht mehr zur Problembewältigung ausreichen, müssen Mitarbeitende selbstorganisiert die unbekannte Herausforderung lösen können. Und genau dafür brauchen sie die entsprechende Kompetenz und das gleich in mehreren Handlungsfeldern. Deshalb wird projektbezogenes Lernen und Lernen anhand von Fallbeispielen und konkreten Unternehmenssituationen in der betrieblichen Weiterbildung weiter an Bedeutung gewinnen. Qualitäts- oder Arbeitsschutz-Managerinnen etwa wollen mit den Dozenten nicht die ISO-Normen in der Theorie besprechen, die sie vorher bereits im Netz studiert haben, sondern anhand einer bestimmten Simulation in Bezug auf Unternehmen, Branche und Unternehmensgröße begreifen, wie ein solches Managementsystem konkret zu entwickeln und implementieren ist, welche Hürden dabei zu bewältigen sind und wie eine Implementierung trotzdem gelingen kann. Das Erfassen der Norm geschieht so nahezu
3 Vgl.
Schlageter, W. (2013). Wissen im Sinne der Wissenschaften: Exaktes Wissen, Empirisches Wissen, Grenzen des Wissens.: Bd. 1. Edition [E-Book]. Frankfurter Literaturverlag. Abschn. 5.1 4 Vgl. Schlageter, W. (2013). Wissen im Sinne der Wissenschaften: Exaktes Wissen, Empirisches Wissen, Grenzen des Wissens.: Bd. 1. Edition [E-Book]. Frankfurter Literaturverlag. Abschn. 5.2
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„spielerisch“ und fast nebenbei. Um diesen Lernpfad zu beschreiten, bedarf es modularer und hybrider Lern-Pakete. Denn ein Großteil des Lernens findet heute nach wie vor am Arbeitsplatz oder durch soziale Interaktion statt. Berufsbegleitende Trainings sind ein wichtiger Schlüssel zur Maximierung der Lernergebnisse aus den anderen beiden Lernquellen.
hese 4: Die Learning Journey muss neu definiert und T zielgruppenorientierter werden Künftig wird es noch wichtiger werden, sich differenzierter und agiler mit den Belangen inhomogener Zielgruppen auseinanderzusetzen, um überzeugende Lernerlebnisse zu schaffen und die Teams zu befähigen, im dynamischen digitalen Wandel nicht nur mitzuhalten, sondern ihn aktiv zu gestalten.5 In den Reihen der Best Ager gibt es nach wie vor Menschen, die lieber mit Papier und in Präsenz lernen und neben der visuellen und akustischen eine haptische Erfahrung benötigen. Andere, durchaus technisch orientiertere Zielgruppen, gilt es künftig noch dosierter abzuholen und ihnen die Scheu vor digitalen Formaten auf spielerische Weise zu nehmen. Auch hier bietet Blended Learning ideale Lösungsmöglichkeiten. Der Einstieg in eine Trainingsmaßnahme kann etwa homöopathisch über eine Smartphone-App erfolgen. Der Umgang mit dem Smartphone ist gelernt, noch dazu ist es ein digitales Medium, das stets zur Hand ist. Im Anschluss daran könnten Videotrainings weitere fachliche Grundlagen legen, bevor es etwa im Virtual Classroom gemeinsam mit den Trainerinnen an die Praxis geht (siehe beispielsweise die Anwendungsfälle der TÜV Rheinland Akademie). Unternehmen, die verstärkt auf digitale betriebliche Weiterbildung setzen und ein Interesse an der Weiterentwicklung ihrer Mitarbeitenden haben, müssen sich künftig noch stärker fragen: Haben unsere Mitarbeitenden die erforderlichen Fähigkeiten oder müssen wir in der Learning Journey anders und früher ansetzen, um die gewünschten Ergebnisse zu erreichen? Früher hatten sich die Teilnehmenden örtlich und zeitlich dem Seminarangebot anzupassen, heute steht den Menschen eine Learning Journey offen, bei der der Weg das Ziel ist und die kein echtes Ende kennt. Teilnehmende können künftig noch dosierter an ein Thema herangeführt werden und zwar unabhängig von Zeit und Ort. Wie diese Reise verläuft, welche Medien zum Einsatz kommen, ist in der VUCA-Gesellschaft (VUCA = Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) vor allem der Kreativität
5 Friedrichs,
C. (2021). Deutschland hinkt bei digitaler Weiterbildung hinterher. Human Resources Manager. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.humanresourcesmanager.de/news/ haufe-studie-wert-der-weiterbildung-deutschland-hinkt-bei-digitaler-weiterbildung-hinterher.html
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und dem pädagogischen Know-how des Lernanbieters überlassen. Die Digitalisierung ermöglicht es, nicht nur unterschiedlichste Lernformate miteinander zu verknüpfen, sondern auch von einem Thema zum nächsten zu leiten und die Lernreise deutlich länger aufrechtzuerhalten als dies bei Präsenz-Seminaren jemals der Fall war.
hese 5: Weiterbildung ist der Schlüssel zum Erhalt der T Beschäftigungsfähigkeit von Einfacharbeitenden Handwerk, Handel, Dienstleistung und Industrie klagen über fehlende Auszubildende. Alleine 60.000 Lehrstellen blieben 2020 unbesetzt. Durch die demografische Entwicklung verschärft sich der Fachkräftemangel, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen (KMU) werden deshalb immer öfter keine Bewerbungen auf ihre Stellenausschreibungen erhalten. Eine mögliche Auffangstrategie ist die Weiterbildung von Einfacharbeitenden. Gerade im Bereich Basic Work6 gibt es großes Potenzial, die Kompetenzen dieser Arbeitskräfte durch qualifiziertere Weiterbildung für betriebliche Wertschöpfung zu erschließen. Die in Deutschland über sechs Millionen Einfacharbeitenden könnten durch qualifizierende Weiterbildung künftig Fachkräfte noch stärker entlasten oder selbst zu Fachkräften aufqualifiziert werden. Für dieses Ziel müssen Unternehmen eine aktive Lernkultur entwickeln und pflegen. Jeder Betrieb ist idealerweise vom Verständnis geprägt, dass er nur zukunftssicher ist, wenn sich seine Mitarbeitenden weiterentwickeln. Damit sie technologische Veränderungen erfolgreich bewältigen und Kompetenzdefizite im Team durch Weiterbildung individuell kompensieren können, ermitteln vorausschauende Arbeitgeber mit dem Kompetenzmodell präzise, welche aktuelle Tätigkeit ihre Mitarbeitenden ausüben und was diese genau beinhalten. Erst auf dieser Basis können sie sicher entscheiden, welche Weiterbildungsangebote im Interesse der Mitarbeitenden und des Unternehmens sinnvoll sein könnten. Je spezifischer also die Anforderung im Betrieb, desto fokussierter sollten die Weiterbildungsangebote sein. Zu den Herausforderungen wird es gehören, Einfacharbeitende zur Weiterbildung zu motivieren. Als Erwachsene verstehen sie Arbeit als Mittel zum Gelderwerb und nicht als lebenslanges Lernen, das dem Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit dient. Eine Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten für die individuelle und berufliche Entwicklung findet nur selten statt. Eine zentrale Aufgabe nach der Ermittlung von Qualifizierungsbedarfen ist daher die Qualifizierungsberatung.
6 Vgl. Mährle, J. (2021). Basic Work. DGB Köln. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https:// koeln-bonn.dgb.de/im-fokus/++co++1b2c3fac-9c13-11e9-b5c3-52540088cada
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hese 6: Die Infrastruktur in Unternehmen ist der bislang T unterschätzte X-Faktor in der betrieblichen Weiterbildung Digitales Lernen bedeutet, Teilnehmenden für die Aus- und Weiterbildung andere Medien zur Verfügung zu stellen als in Präsenz-Trainings. Digitales Lernen sollte auch bedeuten: Im Sinne der betrieblichen Teilhabe hat jede Mitarbeitende Zugang zu digitaler Hardware. Nur ist das in der Realität noch zu selten flächendeckend der Fall.7 Das Ergebnis: Die Beteiligung an der betrieblichen Weiterbildung könnte künftig deutlich höher sein – würden bestimmte einschränkende Faktoren in der Planung des Wissens- und Lernmanagements deutlich vorausschauender berücksichtigt. Noch treten längst nicht alle Mitarbeitenden im Unternehmen die digitale Learning Journey an. Das hat unterschiedliche Gründe. Scheitern kann es zum Beispiel an der mangelnden Verfügbarkeit geeigneter Endgeräte. Das Display eines Smartphones etwa ist in der Regel schlicht zu klein, um darauf eine Gamification-Anwendung abzuspielen. Die Stärke von Virtual Reality-Anwendungen, die Immersion, ist nicht an Laptop oder Desktop erlebbar, sondern erfordert Datenbrillen, die in den wenigsten Unternehmen überhaupt ausreichend verfügbar sind. Und Menschen in Blue-Collar-Jobs haben weder im Betrieb noch zu Hause zwingend einen Laptop, einen Desktop-Rechner oder ein Tablet zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen, für die nächste Karrierestufe zu lernen. Auch der Standort des Unternehmens oder die Nutzung von Weiterbildungsangeboten im Home-Office kann durch eine eingeschränkte Bandbreite deutlich limitiert sein. Bevor Unternehmen also ein umfassendes Angebot digitaler Lernformate ausrollen, sollten sich die Organisatoren mehrere für den Lernerfolg ganz zentrale Fragen stellen: Verfügen wir über die technischen und organisatorischen Bedingungen zur wirtschaftlichen Bereitstellung und den Betrieb einer lernförderlichen und alltagstauglichen ITInfrastruktur? Verfügen unsere Mitarbeitenden über die Endgeräte, die sie für die digitale Lernerfahrung benötigen? Sind unsere Lernangebote unserer Infrastruktur angepasst oder haben wir hier Nachholbedarf? Sollten wir als Unternehmen z. B. Leih-Geräte wie Tablets bereitstellen oder eher auf eine mobilfähige Unterweisungsplattform wechseln, die jede:r Mitarbeitende auch mit seinem Smartphone nutzen kann? Bewegen wir uns rechtlich und in Abstimmung mit dem Betriebsrat auf sicherem Boden? Verfügen die Mitarbeitenden überhaupt über die Skills, um digitale Lernangebote in vollem Umfang wie gewünscht wahrzunehmen?
7 Vgl.
Hilker, C. (2021). Digitalisierung: Bain Studie zur digitalen Transformation, Digitalisierungsgrad des Unternehmens. Hilker Consulting. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www. hilker-consulting.de/digitalisierung/digitalisierung-bain-studie-zur-digitalen-transformation
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Für Lernanbieter, die solche Anwendungen entwickeln und damit langfristig erfolgreich sein wollen, gilt: Wer eine überzeugende Learning Experience anbieten und diese flächendeckend durchsetzen will, wird sich mit der Einrichtung von Infrastrukturen und Technologien auseinandersetzen oder entsprechende Partnerschaften aufbauen müssen. Mit One Stopp-Solutions, die sowohl Content als auch Technologie berücksichtigen, wird es am ehesten gelingen, digitale Weiterbildung wirklich nachhaltig zu gestalten und alle Ebenen in der Organisation zu durchdringen. Mit der Vermischung von Mensch und Technik, privat und geschäftlich, flexiblen und starren Arbeitszeiten verschwimmen aber auch die Grenzen. Arbeitsschutz, Informationssicherheit und Datenschutz werden Unternehmen zunehmend noch ganzheitlicher betrachten müssen – eine Erkenntnis, die sich seit der flächendeckenden Verbreitung von Home und Flex Office in der Pandemie ohnehin zunehmend durchsetzt.8 Auch hier gilt es, die Kompetenzen der Mitarbeitenden sowie insbesondere auch deren Sensibilität für diese Themenfelder stetig weiter zu schulen und auszubauen. Einhergehen muss dies selbstredend mit der Einführung entsprechender Informationsmanagementsysteme und gesetzeskonformen Datenschutzmanagementsystemen.
hese 7: Die Überprüfung erworbenen Wissens und der T fälschungssichere Nachweis gewinnen weiter an Bedeutung Immer weniger Menschen sind heute noch in der Lage, die aktuellen Schlüsselkompetenzen innerhalb einer Branche oder gar branchenübergreifend zu überschauen. Umso wichtiger ist es, dass Experten einen unabhängigen Nachweis über den Erwerb ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten liefern können. Einen solchen Nachweis bieten Personenzertifizierungen.9 Ihre Bedeutung in der Personalentwicklung wie in der Qualitätssicherung von Unternehmen und öffentlicher Hand wird künftig noch steigen. Denn Personenzertifizierungen unterstützen die Einführung unternehmensweit einheitlicher Standards, denn die Zertifikate sind global nachvollziehbar und vergleichbar. Geschäftspartnerinnen und Kund:innen gegenüber lässt sich so verdeutlichen, dass die eigenen Mitarbeitenden in puncto Kompetenzen bestens geschult sind. Die Abschlusszertifikate einer Personenzertifizierung, die je nach Anbieter
8 Vgl.
Quell, S. (2021). infodas Umfrage zur Bewertung von IT Sicherheit & Digitalisierung nach Covid-19. infodas GmbH. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.infodas.de/aktuelles/ pressemitteilungen/covid-19-umfrage-it-sicherheit. 9 Wer braucht Personenzertifizierung als Weiterentwicklung? (2020). TÜV Rheinland PersCert. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.tuv.com/germany/de/lp/tuv-rheinland-academy/ main-navigation/personnel-certification/content-pages/wer-braucht-personenzertifizierung.html.
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inzwischen auch digital erfolgt, haben zudem eine begrenzte Laufzeit. Voraussetzung für die Rezertifizierung nach Ablauf der Gültigkeit ist, dass die Zertifizierte die entsprechenden Kenntnisse aktuell hält. Der digital logische nächste Schritt, der sich in der nächsten Zeit noch stärker durchsetzen wird, ist die fälschungssichere Hinterlegung von Zeugnissen und Personenzertifikaten in der Blockchain10, so wie es beispielsweise Certif-ID11 oder andere Anbieter heute schon ermöglichen. Jede Bescheinigung verfügt dabei über einen einzigartigen Hashcode und damit über eine Art einzigartigen Fingerabdruck. Das Personenzertifikat ist somit sicher und transparent rückverfolgbar – und unmöglich zu manipulieren. Die Authentizität und Gültigkeit der erlangten Qualifikation kann somit jederzeit verlässlich nachgewiesen werden. Nachträgliche Beglaubigungen von Zertifikaten gehören mit dieser Technologie der Vergangenheit an. Der Einsatz der Blockchain nutzt gleich mehreren Interessengruppen: Schulungsanbieter können ihren Zertifizierungsprozess optimieren und digitale Zertifikate ausstellen. Unternehmen und/oder Personalvermittlern wird die Suche nach spezifischen Qualifikation erleichtert und das Ausfallrisiko reduziert. Die Trägerinnen der Zertifikate können ihre Kompetenzen und Kenntnisse digital verwalten, aktualisieren und ihren Lern- und Karriereweg effizienter nachhalten, gestalten oder via social media teilen.
hese 8: Künstliche Intelligenz wird Weiterbildung ausbauen, T aber den Menschen nicht ersetzen Künstliche Intelligenz (KI) in der betrieblichen Weiterbildung befindet sich in Deutschland derzeit noch in den Kinderschuhen. Eine Wachstumsbremse ist vor allem das mangelnde Know-how und der erhebliche Schulungsbedarf in vielen Unternehmen rund um Artificial Intelligence (AI). Unbestritten wertvoll ist der Einsatz von KI bei kostenintensiven, repetitiven bzw. nicht originär schöpferischen Prozessen, etwa bei der AI-gestützten Auswertung von Kursdaten oder im Bereich Kostenersparnis etwa bei der Internationalisierung des Contents. Der als stets verfügbare „persönliche“ Ansprechpartner empfundene Chatbot stößt in der Praxis semantisch doch noch früh seine Grenzen. Interessant ist der Einsatz von KI aber im Bereich individueller Lernempfehlungen, beim Performance Support oder in der Lernprozessanalyse.
10 Baumann, D. C. (2018). Personenzertifikate per Blockchain organisieren. Teletrust. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.teletrust.de/fileadmin/docs/veranstaltungen/Blockchain/ Blockchain-2018/04_TeleTrusT-Informationstag_Blockchain_Baumann-AustriaPro-WKO.pdf. 11 https://certif-id.com/
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Bis eine KI die vollwertige Rolle von Trainerinnen und Tutoren übernehmen kann, dürfte es noch dauern. Noch ist es niemand gelungen, eine KI zu programmieren, die die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen auch nur annähernd simulieren kann. Eine starke KI müsste in der Lage sein, logisch zu denken, Entscheidungen auch tatsächlich wie ein Mensch zu fällen, also abzuwägen beispielsweise zwischen zwei gleich schlechten Alternativen. Sie müsste sich planvoll neue Wissensgebiete erschließen und sich systematisch selbst anlernen. Vor allem aber müsste sie in natürlicher Sprache selbstständig Ideen formulieren können und alle ihre Kompetenzen auch in ein Wertesystem einordnen und einem höheren oder ferneren Ziel unterordnen können. Kurzum: Sie müsste nach ethischen, moralischen und sozialen Kategorien ihr Verhalten und ihre Entscheidungen verantwortungsvoll selbst steuern. Das bedeutet: Ohne den Faktor Mensch wird es bei aller Dynamik auch in Sachen KI in der betrieblichen Bildung auf absehbare Zeit nicht gehen. „Der Schlüssel zu guter Arbeit im KI-Zeitalter liegt in der Qualifizierung. Ziel ist zum einen, die Beschäftigten in die Lage zu versetzen, neue und eventuell höherwertige Aufgaben zu übernehmen. Zum anderen sollen die Menschen kompetent mit den KISystemen umgehen können. Nicht alle Beschäftigten müssen sich zu KI-Expertinnen und -Experten weiterentwickeln, aber ein Grundverständnis der Technologie, ihrer Grenzen und Möglichkeiten ist auch außerhalb der IT-Abteilungen notwendig“, sagt Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und Leiter der Arbeitsgruppe „Arbeit, Qualifikation und Mensch-Maschine-Interaktion“.12
These 9: IIoT muss als Mensch-Maschine-System geplant werden Ob Smart-Manufacturing-Konzepte, Smart-Maintenance-Beratung oder Smart-TestingService – die Nachfrage nach IIoT (Industrial Internet of Things) Lösungen steigt. Erfolgreiche IIoT-Projekte entstehen aber nicht allein dadurch, dass IT-Expertinnen Maschinen, Produktionsplanungs- oder Manufacturing Executions Systeme (PPS/MES) mit einer IIoT-Lösung vernetzen. Anders als in der industriellen Massenproduktion,
12 Bauer,
W. (2021), Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und Leiter der Arbeitsgruppe „Arbeit, Qualifikation und Mensch-Maschine-Interaktion“. Fit für Künstliche Intelligenz (KI). Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung: Das Fachportal | QZ-online. de. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.qz-online.de/a/news/fit-fuer-kuenstlicheintelligenz-ki-348262
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in der immer die gleichen Handgriffe für die Fertigung hoher Stückzahlen identischer Produkte nötig sind, brauchen Mitarbeitende in einer IIoT-Fertigung die Bereitschaft zu ständiger Veränderung und dem Erwerb neuer Fähigkeiten. Managerinnen und Fachkräfte müssen ihre Aufgaben eigenverantwortlicher und in ständiger Veränderung schneller und flexibler wahrnehmen. In Routinearbeiten werden sie durch Algorithmen, Soft- und Hardware sowie immer häufiger durch Roboter und Bots entlastet. Vor allem diese Kooperation und Interaktion mit maschinellen Kollegen erfordern Kompetenzen, die Industriefacharbeitende in ihrer Ausbildung kaum erwerben. Ausbildungskonzepte in Mittelstand und Konzernen müssen sich diesen neuen Kompetenzanforderungen anpassen und Facharbeiter noch besser auf die Industrie 4.0 vorbereiten. Weil es noch unüberschaubar ist, welche Kompetenzprofile für die Industrie 4.0 gefragt sind, ist es von zentraler Bedeutung, mit der Einführung von IIoT neue Aus- und Weiterbildungsstrategien und -Module zu entwickeln, mit maßgeschneiderten kleinen Lerneinheiten und hohem Praxisbezug, die „on the Job“ neue Fähigkeiten und Kenntnisse vermitteln. Damit sie wirksam werden, sind diese Bildungskurven in den Arbeitsprozess zu integrieren und mit der Umstellung auf eine IIoT-Fertigung einzuplanen. Noch schwieriger als der Aufbau Produktions-notwendiger Fähigkeiten ist die Entwicklung persönlicher Kompetenzen. Kommunikationsfähigkeit, der proaktive Umgang mit Wissen, Offenheit für permanente Veränderungen und eine neue Führungskultur bedeuten eine Verhaltensentwicklung und sind abhängig von der Motivation der Führungskräfte. Unternehmen haben die Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Führungskräfte ihr Know-how und sich persönlich weiterentwickeln. Mit dem Verlagern von Verantwortung und einer stärkeren Spezialisierung einzelner Mitarbeitender überholen sich alte Führungskonzepte. Klassische Führungsaufgaben wie Arbeitsanweisungen und Kontrolle reduzieren sich. Projektarbeit mit gemischten Teams ersetzt klassische Abteilungsstrukturen. Führungskräfte managen künftig auf Zeit zusammengestellte Projektteams, die sich ihre Arbeiten selbstorganisiert aufteilen. Manager und Managerinnen agieren in solchen Arbeitsstrukturen eher als Moderatoren, Mentorinnen oder Coaches, die Ressourcen koordinieren und die Gruppendynamik begleiten. Angesichts dieser neuen Anforderungen an Fach- und Führungskräfte kommen Unternehmen künftig nicht umhin, für jede Ebene fachspezifische Qualifizierungsangebote anzubieten, und zwar im richtigen Timing. Sie sind gefordert, eine Kultur zu entwickeln, in der Lern- und Veränderungsbereitschaft ein zentraler Teil der Unternehmensleitlinien sind. Parallel zu einer IIoT-Einführung muss deshalb eine Qualifizierungsinitiative für einen rollenspezifischen Kompetenzaufbau der Mitarbeitenden sorgen. Idealerweise wird der Veränderungs-Prozess einer IIoTEinführung durch ein Schulungssystem begleitet, das die Mitarbeitenden zeitgerecht mit Virtual Classrooms und hybriden Lernformen auf die neue Welt vorbereitet. In sicherheitsrelevanten Bereichen sind neben Schulungen und Weiterbildungsmaßnahmen auch Personenzertifizierungen sinnvoll, um die Befähigung der Mitarbeitenden zu prüfen und
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einen Nachweis zu führen. Das Ziel: Mit dem Start des Live-Betriebs verfügen alle Mitarbeitenden über ein ihrer Rolle angepasstes und dennoch einheitliches Verständnis der Prozesse.
hese 10: Lebenslanges Lernen wird zum entscheidenden T Erfolgsfaktor für Innovation im Unternehmen Eine Lehre aus der Corona-Pandemie lautet: Innovative Organisationen bewältigen Krisen besser. Aber was machen sie anders? Und wie können Unternehmen der Notwendigkeit zur Innovation entsprechen? Innovation leitet sich aus dem lateinischen „innovare“ ab und heißt erneuern. Im heutigen Sprachgebrauch bedeutet es die geplante und kontrollierte Steuerung von Veränderungsprozessen. Ziel ist es, auf plötzliche Ereignisse und geänderte Marktbedingungen vorbereitet zu sein, statt daran zu scheitern. Die Pandemie war und ist so ein plötzliches Ereignis mit geänderten Marktbedingungen. Sie hat gezeigt: Nur Organisationen, die fähig sind, voneinander zu lernen, sich intern und extern zu vernetzen, neue Lösungen schnell zu identifizieren und zu adaptieren, werden weiterhin erfolgreich sein. Innovationsmanagement ist harte Arbeit und stellt große Anforderungen an Organisationen und ihre Beschäftigten. Menschen, die in Innovationsprojekten erfolgreich mitarbeiten wollen, brauchen neben ihrer fachlichen Expertise dafür vor allem ein agiles Mindset. Sie müssen aufgeschlossen sein für Veränderungen. Sie müssen mit internen und externen Partnern kooperieren. Sie brauchen eine Portion Neugier und die Bereitschaft für agile und inkrementelle Entwicklungsschritte, sie sollten Teamplayer sein. Dem lebenslangen Lernen kommt in diesem Kontext eine Schlüsselrolle zu, denn nur wer bereit ist, seinen Horizont zu erweitern, verfügt im entscheidenden Moment über das Wissen und die Ressourcen, um Veränderungen zu gestalten statt sie zu erleiden. Allerdings: In Zukunft wird es eine Herausforderung sein, das digitale Lernen und das private digitale Leben vom digitalen Arbeiten zu trennen. Schon heute sind Mitarbeitende und ihr privates Smartphone eine kaum zu trennende Einheit- sowohl zu Hause als auch am Arbeitsplatz. Mit steigender Technologisierung wie Smart Watches oder digitalen Brillen wird es auch immer schwieriger, Menschen und Devices per Konzernbetriebsvereinbarung oder sonstiger Regelung zu trennen. Technische Symbiosen, die Risiken für die individuelle Gesundheit bergen. Hier muss die Arbeitsmedizin über begleitende Psychologinnen in die Entwicklung geeigneter Konzepte eingreifen oder sie noch besser selbst gestalten und bei der Implementierung unterstützen, um frühen Anzeichen für Überreizungen gezielt entgegenzuwirken. Digitale Weiterbildung wird in Zukunft noch viel stärker Hand in Hand gehen müssen mit Arbeitsmedizin, geeigneten Arbeitsumgebungen und frühzeitiger Prävention im Sinne von Mental Health und hier auch geeignete Angebote unterbreiten dürfen.
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hese 11: Fehlerkultur ist ein unerlässlicher Bestandteil des T lebenslangen betrieblichen Lernens Zunehmende Komplexität globaler Märkte und beschleunigte Prozesse befeuern den Druck, immer schneller zu agieren. Damit steigt die Fehlergefahr – erst recht in Digitalisierungsprojekten. Aber: Fehler sind wertvoll, wenn Verursacher und ihre Organisationen aus ihnen lernen. Dafür brauchen Unternehmen allerdings eine konstruktive Fehlerkultur. Denn erst dadurch lassen sich Wiederholungen verhindern, finanzielle und Reputationsschäden minimieren. Eine konstruktive Fehlerkultur wird zum kritischen Erfolgsfaktor für die lernende Organisation. Eine gute Orientierung bieten dabei agile Entwicklungskonzepte: Sie sind anfangs relativ fehlertolerant und organisieren nach jedem Entwicklungsabschnitt, sogenannten Sprints, schnelle Feedback-Schleifen. Statt in die Fehlervermeidung zu investieren, sind in agilen Methoden Evaluation und schnelles Testmanagement in inkrementellen Prozessen integriert. Das führt zu einem entspannten Umgang in Projektteams mit Fehlern. Ein Schwarzer-Peter-Spiel, um einzelnen Teammitgliedern Versagen nachzuweisen, wird überflüssig. Durch die Einbindung der Auftraggeber in das Testmanagement erhöht sich die Transparenz. Und mit dieser Fehlerkultur entsteht ein offener Umgang und eine schnelle Korrektur, was im Ergebnis das Entwicklungstempo erhöht. Auch auf dieser Ebene sollten sich Unternehmen als lernende Organisation definieren, die mit Fehlern offen umgeht, intern auf allen Hierarchieebenen konstruktive Kritik fördert und eine transparente Kommunikation im Umgang für Fehlern anstrebt. Strukturell sollte ein einfaches System gegenseitig-kollegialer Evaluation dafür sorgen, dass Fehler rechtzeitig identifiziert und besprochen werden können. Wichtig ist, dass alle Beteiligten den Mehrwert erkennen, den ein strukturelles Fehlermanagement bietet. Denn mit der Erfahrung, dass sich positive Entwicklungen ergeben und alle davon profitieren, steigt auch die Bereitschaft und Motivation zu Veränderungen. Die vielleicht schwierigste Herausforderung ist, eine Fehlerkultur auch im Management auf allen Führungsebenen zu etablieren. Denn mit reinen Selbstverpflichtungen und Sonntagsreden auf Betriebsversammlungen ist es nicht getan. Als Vorbilder ist ihr Verhalten und ihr Umgang mit Fehlern entscheidend, wie sich eine Fehlerkultur tatsächlich in einem Unternehmen in die Praxis umsetzen lässt. Um Manager:innen zu einer offenen Fehlerkultur zu bewegen, haben sich Schulungs- und Coachingangebote sowie arbeits-, betriebs- und organisationspsychologische (ABO-psychologische) Analysen bewährt. Hierbei begleiten Arbeitspsychologen auf verschiedenen Ebenen Führungskräfte und ihre Teams. Mit ihrer Expertise, individuellen oder Gruppenberatungen können sie den Prozess positiv befördern, damit sich ein Fehlermanagement erfolgreich etabliert. Übrigens: Zur einem transparenten Umgang mit Fehlern gehört auch eine transparente Kommunikation der Unternehmensstrategie und der damit verbundenen Unternehmensziele. Die Belegschaft muss erkennen können, wie sich das Umfeld verändert, der Wandel voranschreitet und warum es notwendig ist, auch im Rahmen der Sicherung der Arbeitsplätze einen kontinuierlichen Wandel zu vollziehen.
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raxisbeispiele: Neue Learning Journey bei der TÜV Rheinland P Akademie Ein Beispiel für eine neu definierte Learning Journey ist unter anderem das Training im Bereich Umwelt- und Energiemanagement der TÜV Rheinland Akademie. Der oder die Teilnehmende absolviert zunächst selbstbestimmt in einem fest definierten Zeitraum seine erste Lern-Einheiten (Nuggets) auf der Lernplattform myCompetence. Haben die Teilnehmenden die Einheiten rund um das Managementsystem durchgearbeitet, werden die automatisiert freigeschaltet für den Praxis-Teil. Dieser findet wahlweise in einem der bundesweiten Seminar-Zentren oder in einem Virtual Classroom statt. Der Praxis-Teil beinhaltet unter anderem eine weitere interaktive digitale Komponente, und zwar die Vorstellung der Unterweisungsplattform von TÜV Rheinland (https://unterweisung.tuv.com), die die Teilnehmenden darin unterstützt, bestimmte Themen im eigenen Unternehmen zu implementieren – und die auch verdeutlicht, wie flexibel und zeitunabhängig Wissen im Betrieb heute vermittelt werden kann. Außerdem werden die Teilnehmenden fachlich engmaschig per Smartphone begleitet. Mit der „Fit-for-Test“-App, die ab dem ersten Tag freigeschaltet ist und den Teilnehmenden bis zur Prüfung mit Fragen und Antworten begleitet, kann er seine Lernfortschritte 24/7 selbst überprüfen und feststellen, wann der beste Zeitpunkt für die abschließende Prüfung ist. Sie findet nicht vor Ende des Moduls statt. Die App simuliert die Prüfung und reduziert so die Angst vor der Prüfung und vor dem Scheitern. Ein weiteres Beispiel für einen fortgeschrittenen interaktiven Lernpfad ist die Integration von Virtual Reality. Brandschutzkonzepte etwa vermittelt die TÜV Rheinland Akademie inzwischen nicht mehr allein in der Theorie und indem sie anschließend die Teilnehmenden durchs Gebäude schleust und in Übungssituationen bringt. Der praktische Teil findet inzwischen auch über die Datenbrille statt. Der Teilnehmende erlebt per VR die Simulation eines Brandes im Gebäude. Das Erlernte verankert sich deutlich besser im Gehirn, außerdem ist Interaktion möglich, ohne den laufenden Betrieb zu stören: Wie ist der Rettungs- und Fluchtplan zu lesen? Wo ist der Feuerlöscher, wie setze ich ihn am besten ein? Was muss ich bei der Evakuierung beachten? Weiterhin experimentiert die TÜV Rheinland Akademie derzeit auch mit SocializingTools wie www.gathertown.de und überprüft sie auf ihre Eignung für den betrieblichen Einsatz, darunter mit 3D-Chatrooms, bei dem sich die Teilnehmenden im Rahmen von Workshops oder Teamevents einen persönlichen Avatar geben und über diese Charaktere in den sozialen Austausch gehen und sich in unterschiedlichen Projekträumen treffen können. In Zeiten von Corona trafen sich die Mitarbeitenden als Avatare am Lagerfeuer. Über Spiele wurde der soziale Zusammenhalt gestärkt, der Austausch war deutlich persönlicher als über Videos. Diese Formate eignen sich bei Seminaren mit einer längeren oder modularen Dauer als hervorragendes Bildungselement, ohne lange Reisen in Kauf nehmen zu müssen.
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Über Markus Dohm und TÜV Rheinland Academy & Life Care Markus Dohm ist Leiter des Geschäftsbereichs Academy & Life Care bei TÜV Rheinland. In Deutschland ist die TÜV Rheinland Akademie der führende technisch orientierte Lerndienstleister und verknüpft analoge und digitale Lernlösungen (u. a. E-Learnings & Gamification) mit maßgeschneiderten Plattformangeboten für das systematische betriebliche Weiterbildungsmanagement. Mit umfassenden Angeboten zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement und der Qualifizierung von Menschen leistet TÜV Rheinland einen wichtigen Beitrag dazu, dass der Einzelne ebenso wie Organisationen die digitale Transformation meistern und ihre Chancen nutzen können. Als Business Angel und Gründer engagiert sich Markus Dohm zudem seit vielen Jahren für eine stärkere Digitalisierung und Nutzung moderner Technologien, insbesondere im Gesundheitsschutz und der Aus- und Weiterbildung.
Literatur Bauer, W. (2021). Fit für Künstliche Intelligenz (KI). Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung: Das Fachportal | QZ-online.de. https://www.qz-online.de/a/news/fit-fuerkuenstliche-intelligenz-ki-348262. Zugegriffen: 18. Okt. 2021. Baumann, D. C. (2018). Personenzertifikate per Blockchain organisieren. Teletrust. https://www. teletrust.de/fileadmin/docs/veranstaltungen/Blockchain/Blockchain-2018/04_TeleTrusTInformationstag_Blockchain_Baumann-AustriaPro-WKO.pdf. Zugegriffen: 18. Okt. 2021. Friedrichs, C. (2021). Deutschland hinkt bei digitaler Weiterbildung hinterher. Human Resources Manager. https://www.humanresourcesmanager.de/news/haufe-studie-wert-der-weiterbildungdeutschland-hinkt-bei-digitaler-weiterbildung-hinterher.html. Zugegriffen: 18. Okt. 2021. Gruyter Saur, D. (2016). Bibliothekarisches Grundwissen. https://doi.org/10.1515/9783110321500021. Zugegriffen: 18. Okt. 2021. Helmrich, R., & Leppelmeier, I. (2021). Sinkt die Halbwertzeit von Wissen? Theoretische Annahmen und Befunde. BIBB-Publikationen. https://www.bibb.de/dienst/veroeffentlichungen/ de/publication/show/16571. Zugegriffen: 18. Okt. 2021. Hilker, C. (2021). Digitalisierung: Bain Studie zur digitalen Transformation, Digitalisierungsgrad des Unternehmens. Hilker Consulting. https://www.hilker-consulting.de/digitalisierung/ digitalisierung-bain-studie-zur-digitalen-transformation. Zugegriffen: 18. Okt. 2021. Mährle, J. (2021). Basic Work. DGB Köln. https://koeln-bonn.dgb.de/im-fokus/++co++1b2c3fac9c13-11e9-b5c3-52540088cada. Zugegriffen: 18. Okt. 2021. Quell, S. (2021). infodas Umfrage zur Bewertung von IT Sicherheit & Digitalisierung nach Covid19. infodas GmbH. https://www.infodas.de/aktuelles/pressemitteilungen/covid-19-umfrage-itsicherheit. Zugegriffen: 18. Okt. 2021. Schlageter, W. (2013). Wissen im Sinne der Wissenschaften: Exaktes Wissen, Empirisches Wissen, Grenzen des Wissens.: Bd. 1. Edition [E-Book]. Frankfurter Literaturverlag. Wer braucht Personenzertifizierung als Weiterentwicklung? (2020). TÜV Rheinland PersCert. https://www.tuv.com/germany/de/lp/tuv-rheinland-academy/main-navigation/personnelcertification/content-pages/wer-braucht-personenzertifizierung.html. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
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M. Dohm Markus Dohm ist Leiter des Geschäftsbereichs Academy & Life Care bei TÜV Rheinland. In Deutschland ist die TÜV Rheinland Akademie der führende technisch orientierte Lerndienstleister und verknüpft analoge und digitale Lernlösungen (u. a. E-Learnings & Gamification) mit maßgeschneiderten Plattformangeboten für das systematische betriebliche Weiterbildungsmanagement. Mit umfassenden Angeboten zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement und der Qualifizierung von Menschen leistet TÜV Rheinland einen wichtigen Beitrag dazu, dass der Einzelne ebenso wie Organisationen die digitale Transformation meistern und ihre Chancen nutzen können. Als Business Angel und Gründer engagiert sich Markus Dohm zudem seit vielen Jahren für eine stärkere Digitalisierung und Nutzung moderner Technologien, insbesondere im Gesundheitsschutz und der Aus- und Weiterbildung.
Disruptive Innovationen in der Bildung Claus Wilke und Stefan Medinger
1 Einleitung Das Bildungswesen ist seit jeher geprägt von einer systemimmanenten Kontinuität, die einerseits Verlässlichkeit für die am Bildungswesen beteiligten Akteure auf allen Ebenen bedeutet, jedoch gleichzeitig innovationshemmend wirkt. Es fehlen Anreize zur Schaffung von Ideen, deren Umsetzung sowie Etablierung. Letztlich sind es häufig externe Effekte, die zu der Durchsetzung innovativer Konzepte sowie Technologien führen. Dies wird aktuell umso mehr deutlich durch die Corona-Pandemie und die dadurch notwendig gewordenen Maßnahmen der Online-Lehre in allen Schulformen. Prinzipien der traditionellen Wissensvermittlung werden aufgebrochen. Während die Online-Lehre bislang nur wenigen spezialisierten Anbieternim Bereich Hochschule und Weiterbildung vorbehalten war, findet die Technologie nun auch in weiterführenden Schulen sowie in der Primarstufe Einzug. Derartige Innovationen wurden schon vielfach als disruptiv benannt1 und für den Bereich des Bildungswesens diskutiert und vereinzelt eingesetzt. Die Breite indes konnte jedoch nie erreicht werden.
1 Siehe
hierzu Christensen et al., (2006) sowie Jacoby (2014).
C. Wilke (*) Prorektor Forschung und Transfer, SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Medinger Kaufmännischer Leiter, SRH Schulen GmbH, Neckargemünd, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_8
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Die aktuelle Entwicklung, die die Möglichkeit des Aufbrechens bestehender Strukturen und Konzepten aufgezeigt hat, ermutigt zur weiteren Betrachtung gerade disruptiver, also marktverändernder, Innovationen im Bildungssektor. Speziell für private Bildungsanbieter sind disruptive Innovationsansätze von besonderem Interesse, da diese gleichzeitig bestehende Geschäftsmodelle betreffen können.2 Der Spagat zwischen der Bewahrung von Bestehendem und dem Antrieb bzw. Anspruch Marktreiber3 zu sein, stellt dabei eine große Herausforderung für die Zukunft dar. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit einem definitorischen Bezugsrahmen gerade im Hinblick auf Bildung und will mithilfe einer qualitativen Studie mögliche künftige Entwicklungen identifizieren und diskutieren. Dabei sollte ein Fokus nicht allein auf technologische Innovationen gelegt werden, was herkömmlich bei dem Begriff der Innovation vermutet wird, und auch soziale Aspekte mit einbeziehen.
2 Der Bildungsmarkt Der Bildungsmarkt in Deutschland beschäftigte 2017 rund 2,5 Mio. Menschen. Damit waren 5,6 % der Erwerbstätigen im Bildungsmarkt beschäftigt – oder jeder 18. Erwerbstätige in Deutschland. Die Bruttowertschöpfung betrug dabei 133,3 Mrd. € oder 4,6 % der gesamten Bruttowertschöpfung in Deutschland. 81 % der Wertschöpfung oder 108,4 Mrd. € entfallen auf den Kernbereich des Bildungsmarktes und somit auf die formale Bildung. Unter Kernbereich und formaler Bildung wird hier die Bruttowertschöpfung im Elementar-, Primar-, Sekundarbereich I und II sowie im Tertiärbereich verstanden. Die restlichen 19 % entfallen auf den erweiterten Bereich der Bildungswirtschaft, unter dem non-formale Bildungsleistungen, bildungsunterstützende Waren und Dienstleistungen sowie die Bereitstellung bildungsrelevanter Infrastruktur verstanden wird (Legler et al., 2018). Während der erweiterte Bereich des Bildungsmarktes von privaten Unternehmen geprägt ist, wird der Kernbereich von staatlichen Akteuren dominiert. Der Staat prägt, reguliert und reglementiert den Kernbereich der Bildung in Deutschland. Diese starke staatliche Durchdringung des Bildungswesens ist Ergebnis der historischen Entwicklung seit der Entstehung von Nationalstaaten im 18. Und 19. Jahrhundert. Trotz der bis zur Reichsgründung 1870 starken staatlichen Zersplitterung Deutschlands kommt es im
2 „To
manage disruption requires leaders to balance the tension between exploiting a core business that generates reliable, short-term results, and exploring into new areas where results are uncertain, even if the long-term payoff may prove to be attractive.“ (O'Reilly & Bins, 2019). 3 Der Begriff des Markttreibers zielt auf das Strategiekonzept ‚market driving‘ vs. ‚market driven‘ ab. Unternehmen werden als „market driving“ bezeichnet, wenn diese proaktiv Bedürfnisse aus dem Markt aufnehmen und dadurch Märke formen können (Jaworski et al., 2000).
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Vergleich zu anderen europäischen Staaten früh zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Mit dem Generalschulreglement wird unter Friedrich II in Preußen 1772 die Grundlage für das Volksschulwesen gelegt und damit eine Vorstufe zur allgemeinen Schulpflicht für alle Untertanen des Staates etabliert. Andere deutsche Staaten folgen und führen ebenfalls eine Volksschule ein, so beispielsweise Österreich 1774. Bis ca. 1850 wird die Schulpflicht in allen deutschen Ländern durchgesetzt. Die Reichseinheit 1871 führte zwar zur Gründung eines deutschen Nationalstaates, die föderale Gliederung des Staates mit den jeweiligen Einzelstaaten blieb aber erhalten. Den Bundesländern des deutschen Reiches blieb als Länderhoheit auch die Zuständigkeit für das staatliche Schulwesen. Diese förderale Gliederung wird auch in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik Deutschland beibehalten. Gemäß Artikel 7 Abs. 1 des Grundgesetzes steht das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Dabei haben die Bundesländer die primäre Zuständigkeit für die Gesetzgebung und Verwaltung für das Schul- und Hochschulwesen. Diese Kulturhoheit wird dabei als Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder verstanden und schlägt sich bereits darin nieder, dass 86 % aller Bildungsausgaben durch Länder und Kommunen getätigt werden. Durch die eigenverantwortliche Gestaltung des Schulwesens durch die einzelnen Bundesländer soll es zu einem föderalen Wettbewerb um die innovativsten Ideen und Konzepte kommen. Tatsächlich haben die unterschiedliche Prioritätensetzung in den Bundesländern über die Jahrzehnte eine sehr ausdifferenzierte Bildungslandschaft entstehen lassen, die aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit erhebliche Unterschiede in der Qualitäts- Gerechtigkeits- und Leistungsstandards aufweist (Hepp, 2013).
3 Disruptive Innovationen Der Begriff der ‚disruptiven Innovation‘ geht zurück auf Clayton Christensen und seinem Buch „The Innovators Dilemma“ (1997)4. Um disruptive Innovationen handelt es sich demnach, wenn durch diese Märkte verändert werden können, d. h. bestehende Produkte ersetzt werden oder Technologien dadurch veralten. Eine disruptive Innovation besitzt also einen ablösenden Charakter, sie definiert neue Entwicklungsprozesse bzw. durchbricht diese (Christensten & Bower, 1996). Ein inkrementeller Ansatz, dem bei Innovationen einen eher optimierenden Charakter haben, wird dabei außer Acht gelassen. Diese wird auch Sustaining Innovation genannt und beinhaltet keine Veränderung des Marktes.
4 Christensen (1997), siehe auch: Christensen et al., (2015); Christensen und McDonald (2018); Christensen und Raynor (2003).
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Mit disruptiven Innovationen werden in der Regel Technologien verknüpft. Die in der Literatur genannten Beispiele sind zumeist auf Produktinnovationen bezogen, die ein neues technologisches Zeitalter beschreiben (CDs, Digitalfotografie, LEDs, OnlineInformationsdienste, Mobiltelefon, Smartphone). Allerdings werden auch soziale Faktoren in die Betrachtung von disruptiven Innovationen aufgenommen (Christensen et al., 2006), was gerade vor dem Hintergrund des Bildungsmarktes von Bedeutung ist.
4 Identifikationen von Potenzialen disruptiver Innovation und Herausforderungen im Bildungsmarkt Methodik Für die Identifikation innovativer Tendenzen sowie Herausforderungen im Bildungsmarkt wurden sowohl Primärdaten als auch Sekundärdaten erhoben. Der Fokus der Datensammlung lag dabei auf der Durchführung qualitativer explorativer Experteninterviews, da diese sowohl konkrete Nachfragen als auch eine zielgerichtete Ausrichtung auf den Untersuchungsgegenstand ermöglichen. Der Experte verfügt dabei über Wissen, welches für ein bestimmtes Gebiet bedeutsam ist. Er besitzt einen Überblick über einen Sonderwissensbestand und kann innerhalb dessen Problemlösungen anbieten bzw. auf Einzelfragen anwenden. Methodisch wird dabei auf eine offene Interviewform zurückgegriffen. Ein offenes Interview wird als neutral verstanden und anhand von geschlossenen bzw. und standardisierten Frageformen unterschieden. Im offenen Interview ist der Anteil an offenen Fragen höher, wodurch die Befragten auch aktiver in das Geschehen eingebunden sind. Mithilfe eines halbstandardisierten Interviewleitfadens wurden die Experten zunächst durch die Frage nach dem eigenen Bezug zum Thema Bildung mit der Thematik der Untersuchung vertraut gemacht. Dadurch ist es möglich, etwas über das Vorwissen des Befragten herauszufinden sowie schon erste fundierte Informationen zu bekommen. Die weiteren Fragen bezogen sich auf die Bereiche „Barrieren und Lösungen für den Bildungssektor“ im Allgemeinen, „Online-Lehre“, „Konkretisierung von Lösungen“ und der Beschreibung einer Zukunftsvision. An den Interviews nahmen sieben Experten mit unterschiedlichem Bezug zur Bildung und Lehre sowie Bildungsmanagement teil. Die Interviews wurden alle Online mittels MS Teams durchgeführt und haben zwischen 30 min und einer Stunde in Anspruch genommen. Die Analyse erfolgte zunächst über eine Datenaggregation der jeweiligen Interviews. Die Antworten wurden geclustert und zu Mustern gefügt, um für das jeweilige inhaltliche Thema Kernaussagen zu erreichen. Analyse Im Kern lassen sich vier Bereiche identifizieren, welche für die Befragten einen disruptiven Charakter in der Bildung aufweisen. Hierzu gehört das Verhältnis von Online und Präsenzlehre. Während in der Vergangenheit der Fokus auf „oder“ lag, werden
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zunehmend gemeinsame Modelle in Betracht gezogen. Der beschleunigte digitale Wandel führt zudem auch zu weiteren Konzepten der Kompetenzvermittlung. Ein viel diskutierter Ansatz bieten dabei die Micro Degrees. Auch wurden auch die Lernorte thematisiert. Sind Hörsäle und Lehranstalten noch zeitgemäß? Letztlich ist die Künstliche Intelligenz als Querschnittsaufgabe zu den vorher genannten ein wichtiges Standbein künftiger Innovationsbemühungen. Der persönliche Austausch erhält nach wie vor oder gerade seit den Erfahrungen aus Corona einen immens hohen Stellenwert. Einerseits liegt die Erkenntnis vor, dass beispielsweise Online-Lehre technisch möglich ist und auch durch immer fortschreitende Technik und Innovation ein realitätsnahes Umfeld geschaffen werden kann. Allerding ist der persönliche Austausch ohne Zwischenmedium ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Erreichung bildungsbezogener Ziele und spezifischen Kompetenzerwerb.5 Anforderungen spezifischer Studien- und Ausbildungsgänge wie zum Beispiel der Medizin oder Physiotherapie lassen sich nur bedingt online erfüllen. Beispielsweise gibt es im Kontext der Arbeit mit Menschen mit körperlichen Einschränkungen körpertherapeutische Anwendungen, für die der Präsenzcharakter unabdingbar ist. Auch liegt der Teilnahme an Online-Lehre ein gewisser Grad an Freiwilligkeit zugrunde. Schüler und Studierende können sich einfach entziehen. Die Motivation zur aktiven Teilnahme an Lehre hat demnach einen erhöhten Schwierigkeitsgrad gegenüber der Präsenzlehre, bei der derzeit die Anwendung motivierender Methodiken gängiger ist. Auch die Zusammenarbeit von Studierenden kann nicht allein durch Online-Kollaborationstools ersetzt werden.6 Generell werden die Online-Lehre und die damit einher gehenden Möglichkeiten der Kompetenzvermittlung als positiv angesehen. Der Königsweg liegt in der Mitte, in der geeigneten Anwendung von virtuellen Angeboten in Verbindung mit Präsenzelementen zum individuellen Austausch. Die Findungsphase diesbezüglich hat bereits begonnen und wird viele Konzepte hervorbringen. Ein Erfolg wird allerdings nur den Konzepten zugeschrieben, welche auch didaktische Grundprinzipien zur Basis haben. Online-Elemente, in welcher Form auch immer, dienen letztlich nur einem zuvor definierten Zweck. Ein weiterer disruptiven Charakter wird der Beobachtung zugeschrieben, dass erworbenen „Einzel-Kompetenzen“ ein immer höherer Stellenwert zugeschrieben wird, gerade im Verhältnis zu Abschlussgraden, welche letztlich ein formaler Beleg für den
5 Experte/in:
„Die soziale Nähe fehlt. Dies ist umso schwieriger, je weniger sich die Teilnehmer kennen; insbesondere in kreativen Prozessen zeigen sich Schwächen von Online-Formaten; Online Meetings sind i. d. R. auf Effizienz ausgerichtet, es fehlt der gesamte Bereich der sozialen Interaktion (Flurgespräche etc.). 6 Experte/in: „Studierende müssen sich ‚riechen‘ können, d. h. sie lernen mehr von- und miteinander als durch den Professor; Studierende müssen auch Konflikte austragen mit denen, die sie nicht ‚riechen‘ können“.
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Erwerb curricular verankerter Kompetenzen über einen langen Zeitraum darstellt.7 Treffen die Abschlussgrade die Anforderungen der Nachfrage im Arbeitsmarkt? Oder sind diese nur der Ausdruck tradierter Überzeugungen, dass die Vorbereitung auf das Berufsleben nur abgeschlossen sein kann, wenn ein damit erworbener Titel einher geht. Die Möglichkeit des Erwerbs von Micro-Degrees stellt bereits ein Schritt in diese Richtung dar. Laut Position der Hochschulrektorenkonferenz vom 24.11.20208 liegen unterschiedliche Begriffsverständnisse zu Micro-Degrees vor. Grundlegend für die Definition ist dabei die Möglichkeit der Modularisierung und Wiederzusammenführung von Lehrinhalten. Als Voraussetzung für die Durchführung bzw. Erteilung von Micro Degrees wird dabei ein digitale Lehrangebot genannt, welche in der Regel die Integration von Online-Plattformen notwendig machen. Ein dritter diskutierter Punkt sind die möglichen Konsequenzen für Lernräume. Während das gemeinsame zentrale Lernen in dafür vorgesehenen Gebäuden und Hörsälen und Seminarräumen üblich ist, würde eine künftige weitere Digitalisierung das zur Verfügung stellen von dezentralen Lernräumen ermöglichen, in denen hybrides Lernen mit den Möglichkeiten des persönlichen Austauschs verbunden werden kann. Gerade für Bildungsbereiche, in denen auch eine intensive Betreuung der Schüler notwendig ist, kann Bildung in gewohnten Sozialräumen stattfinden9. Ein Einfluss wird auch auf das „Vorhalten“ von Lernräumen angemerkt. So wird von einer Universität berichtet, die Investitionen in neue Hörsäle in einem erheblich geringeren Umfang plant wie ursprünglich, d. h. der Vor-Corona-Zeit, angedacht. Die Künstliche Intelligenz (KI; englisch Artificial Intelligence; AI) ist ein Gebiet der Informatik, das sich „mit dem menschlichen Denk-, Entscheidungs- und Problemlösungsverhalten beschäftigt, um dieses durch computergestützte Verfahren ab- und nachbilden zu können“ (Görz et al., 2013). KI wird allgemein als eine der disruptiven Technologien betrachtet, die Gesellschaft, Wirtschaft und das Bildungswesen nachhaltig verändern wird. Trotz dieses Befundes ist der derzeitige Einsatz in den Hochschulen
7 Experte/in:
Personalisiertes Lernen ist notwendig; die Messung der Wirkung von Bildungsmaßnahmen wichtig zur Optimierung der Lernwege; in dem Zusammenhang sollte es eine Abkehr von formalisierten Ausbildungswegen mit Fokus auf Abschlüssen geben. Allerdings ist hier ein Umdenken der Industrie dafür notwendig. Was dafür so spricht: Arbeitgeber bzw. Industrie benötigen schon heute Arbeitnehmer, die es auf dem Markt nicht gibt; d. h., man wird weggehen vom Abschlussgedanken, hin zu Kompetenz/Skills-Gedanken. Es wird künftig ein personalisiertes Berufsbild geben, das lösungsbezogen ist. 8 https://www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/micro-degrees-und-badges-als-formate-digitalerzusatzqualifikation (Abruf am 06.09.2021); siehe auch die darin genannte Literatur. 9 Experte/in: „Es ließen sich Leistungen der Betreuung und Pflege dezentral erbringen und die Lehre erfolgt dann zentral.“
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gering, obwohl KI ein Werkzeug sein könnte, die großen sozialen Herausforderungen und politischen Anforderungen, die an Sie gestellt werden, gerecht zu werden. Beispielhaft seien hier die weiter steigenden Zahlen von Studierenden, die heterogener werdenden Studierenden und die Etablierung von Lebenslangem Lernen genannt. Einige Anwendungsgebiete sollen nachfolgend aufgezeigt werden. Unter Learning Analytics wird die Erhebung, Analyse, Aggregation und Auswertung von Daten über Lernende und ihren Lernkontext verstanden. Durch KI gestützte und visualisierte Aufarbeitung von Daten können Handlungsoptionen aufgezeigt werden, die den Lehr- und Lernprozess unterstützen. Für den Lernenden besteht die Möglichkeit, frühzeitig eine systemgestützte Rückmeldung zu seinem Wissensstand zu erhalten und seine Lernstrategie anzupassen. Der Lehrende nutzt den Wissenstand seines Kurses für die Anpassung der weiteren Vorlesungen und vermindert damit auch Abbruchs- und Durchfallquoten. Das derzeit standardisierte Studiengangportfolio kann durch KI Unterstützung durch Studiengänge und Module ersetzt werden, die den individuellen Bedürfnissen und Interessen des Studierenden stärker entsprechen und mehr auf seine Fähigkeiten und Motivation eingehen. Der Aufbau der Kompetenzen und des notwendigen Wissens wird durch wissensbasierte Systeme des maschinellen Lernens unterstützt und automatisch kuratiert. Dabei sollte der/die Studierende die Steuerung der Nutzung der KI-gestützten Dienstleistung selbst in der Hand haben und die Auswahlmöglichkeit behalten. Die Rolle der Lehrenden verändert sich vom Gatekeeper des Wissens zu Begleitern und Gestaltern des Lernprozesses des Lernenden, mit dem die Inhalte als auch die Zugänge zu Methoden und Medien abgestimmt werden.
5 Fazit Disruptive Innovationen sind selten anzutreffen im Bildungsmarkt. Neben einem innovationshemmenden System mit Barrieren auf unterschiedlichen Ebenen gefährden marktverändernde Innovationen Geschäftsmodelle von Bildungsanbietern. Innovative Disruption, sei es in technischer oder sozialer Hinsicht, geht in der Regel von Unternehmen aus, die zunächst Nischen besetzen. In dem vorliegenden Beitrag wird der Bildungsmarkt im Hinblick auf disruptive Innovationen und deren Konsequenzen untersucht. Ansätze zur Disruption werden auf Basis von qualitativen Interviews identifiziert und beschrieben. Neben der bereits existierenden Durchdringung und extern bedingter disruptiven Einzug der Nutzung von Online-Technologien, welche letztlich die Frage nach dem geeigneten Austarieren von Präsenz- und Onlinelehre mit sich bringt, werden auch weitere Konzepte vorgestellt, welche Potential zur Disruption besitzen. Die mögliche Abkehr von einem Abschlussgedanken hin zum reinen nachfragebedingten Kompetenzerwerb würde gesellschaftlich und im gesamten Bildungsmarkt zu enormen
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Änderungen führen. Ein Abschlussgrad, welcher eine Signaling-Funktion10 für den Arbeitsmarkt entfalten soll, wird substituiert durch individuell und nachfrageorientiert erworbene Kompetenzen. Disruptive Entwicklungen in der Bildungslandschaft treffen in Deutschland auf gewachsene Strukturen, Konventionen und eine Vielzahl von Akteuren, die im demokratisch verfassten, föderalistischen Staat, Mitsprache- und Mitgestaltungsrecht einfordern können. Dadurch besteht die Gefahr, dass Innovationen langsam und unvollständig umgesetzt und mitunter verzögert oder sogar verhindert werden. Andererseits besteht die Möglichkeit, vielfältige Akteure, Meinungen und Perspektiven in die demokratischen Entscheidungsprozesse einzubinden, Konsens in einem der zentralen politischen Gestaltungsfelder herzustellen und mitunter schädliche und unerwünschte Begleiterscheinungen von Innovationen zu erkennen und zu vermindern. Lernen und Bildung geschieht auf vielen Ebenen und hat mehr Ziele als die reine Befähigung sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden – dies ist die Erkenntnis nach mehr als einem Jahr Bildung unter Corona Bedingungen: Menschen brauchen andere Menschen und Entfaltungsraum. Es benötigt eine Ausgewogenheit zwischen Lernen mit und ohne Technologie, physischem und sozialem Lernen.
Literatur Christensen, C. M. (1997). The innovator’s Dilemma: When new technologies cause great firms to fail. Harvard Business School Press. Christensen, C. M., & Raynor, M. (2003). The innovator’s solution: Creatind and sustaining successful growth. Harvard Business School Press. Christensen, C. M., Baumann, H., Ruggles, R., & Sadtler, T. M. (2006). Disruptive innovation for social change. Harvard Business Review, 84(12), 8. Christensen, C. M., McDonald, R., Altman, E. J., & Palmer, J. E. (2018). Disruptive innovation: An intellectual history and directions for future research. Journal of Management Studies, 55(7), 1–36. Christensen, C. M., Raynor, M., & McDonald, R. (2015). What is disruptive innovation? Harvard Business Reveiw, 93(12), 44–53. Christensten, C. M., & Bower, J. L. (1996). Customer power, strategic investment, and the failure of leading firms. Strategic Management Journal, 17(3), 197–218. Görz, G., Schneeberger, J., & Schmid, U. (2013). Handbuch der Künstlichen Intelligenz. De Gruyter Oldenbourg. Hepp, G. (2013). Wie der Staat das Bildungswesen prägt. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/145238/staat-als-akteur?p=all.
10 Der
Begriff Signaling entstammt dem Forschungsbereich der Informationsökonomie. Bei Vorliegen von Informationsasysmmetrien versucht der Marktteilnehmer mit Informationsvorsprung über bestimmte Signale Unsicherheiten auf der anderen Vertragsseite zu reduzieren.
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Jacoby, J. (2014). The disruptive potential of the massive open online course: A literature review. Journal of Open, Flexible, and Distance Learning, 18(1), 73–81. Jaworski, B., Kohli, A., & Sahay, A. (2000). Market-driven versus driving markets. Journal of the Academy of Marketing Science, 28(1), 45–54. Legler, B., Hofmann, S., Seibert, D., & Laukhuf, A. (2018). Analyse der deutschen Bildungswirtschaft im Zeichen der Digitalisierung - Wirtschaftliche Bedeutung, Potentiale und Handlungsbedarf. WifOR GmbH. https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/ Studien/analyse-der-deutschen-bildungswirtschaft-im-zeichen-der-digitalisierung.pdf?__ blob=publicationFile&v=12. Zugegriffen: 8 16. Okt. 2021. O’Reilly, C., & Bins, A. J. (2019). The three stages of disruptive innovation: Idea generation, incubation, and scaling. Carlifornia Management Review, 6(13), 49–71.
Prof. Dr. Wilke ist Prorektor für Forschung und Transfer an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Im Rahmen seiner Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre lehrt er Grundlagenfächer sowie Vertiefungsfächer im Bereich der Marktforschung, Marketing und Praxismodule. Er unterrichtet in deutsch- und englischsprachigen Bachelor- und Masterstudiengängen. Vor seiner Tätigkeit im Hochschulbereich verbrachte Prof. Wilke mehrere Jahre in der Industrie, vornehmlich mit vertrieblichen und IT-Schwerpunkten. Das Thema Innovation beschäftigt Prof. Wilke in seiner Funktion als Prorektor sowie auch als Mitglied des Gutachtergremiums des Gründerstipendiums NRW.
Herr Stefan Medinger hat Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth studiert. Nach mehrjähriger kaufmännischer Tätigkeit für einen großen Dienstleister der Altenpflege ist Herr Medinger seit 2016 bei der SRH Schulen GmbH beschäftigt, zuletzt in der Funktion als kaufmännischer Leiter und Prokurist.
Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen Arno Lammerts und Julia Ingwald
1 Einleitung Bildungswesen, innovativ, Kundenbindung: Drei Begrifflichkeiten, die sich auf den ersten Blick gefühlt ausschließen. Was hat das Bildungswesen mit Kunden und noch dazu mit deren Bindung zu tun? Was daran ist innovativ? Wie passen die Begriffe inhaltlich überhaupt zueinander? Diesen Fragen gehen wir im Folgenden auf dem Grund. Die Bindung von Kunden erscheint auch im Bildungswesen sinnvoll, aber oftmals werden Studierende an Hochschulen oder Auszubildende in Bildungswerken nicht als (zahlende) Kunden angesehen, sondern eher als Anspruchsgruppe. Dementsprechend könnte allein die Anwendung von Methoden aus dem Kundenbindungsmanagement schon als innovativ bewertet werden. Denn die Neuartigkeit einer Innovation ist häufig eine subjektive Betrachtung und Frage der Perspektive. Eine Innovation kann für eine Branche wie das Bildungswesen als neu gelten – die Anwendung einer in anderen Branchen längst etablierten Methode wie das Kundenbindungsmanagement in einer solchen Branche also durchaus auch als innovativ. Im vorliegenden Beitrag fokussieren wir auf das private Bildungswesen (z. B. private Schulen und Hochschulen, private Fachschulen oder Bildungswerke). Hier ist der Gedanke an den (zahlenden) Kunden schon wesentlich weiter verbreitet als in öffentlichen Bereichen, obgleich der Grundgedanke des Marketings auch für letzteren Bereich seit langem Gültigkeit hätte (Kotler & Levy, 1969). Denn auch im öffentlichen Bildungswesen können über positive word-of-mouth-Kommunikation und Weiterempfehlung neue Kunden generiert werden. Auch kann eine hohe Kundenzufriedenheit A. Lammerts (*) · J. Ingwald SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_9
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die Realisierung von Cross-Selling Potenziale unterstützen. Wo also liegt die Innovation? Im Bildungswesen ist es aufgrund der oben genannten Unterschiede wichtig, die Methoden zur Kundenbindung anders einzusetzen als es in anderen Branchen üblich ist. Die Maßnahmen sollten anders verknüpft und umgesetzt werde. Im Folgenden gehen wir zunächst auf die vier klassischen Kundenbindungsansätze ein und zeigen auf, dass die bestehenden Kundenbindungsmaßnahmen im privaten Bildungswesen nur in Kombination zum Erfolg führen können. Anhand von zwei Fallbeispielen beschreiben wir dann, wie mithilfe der Digitalisierung Kundenbindungsmaßnahmen genutzt werden können. Das erste Fallbeispiel handelt von einer App, die McDonalds einsetzt, um seine Kunden an das Unternehmen zu binden. Das zweite Fallbeispiel ist ebenfalls einer App gewidmet und zeigt, wie Kundenbindungsmaßnahmen nahtlos miteinander verknüpft und so Kundenbindungssysteme im Bildungswesen erfolgreich umgesetzt werden können. Ein Fazit schließt den Beitrag ab.
2 Klassische Kundenbindung Das Konzept der Kundenbindung ist so alt wie der Handel mit Waren selbst. Hersteller von Leistungen arbeiten seit jeher an der Optimierung des Austauschprozesses. So kommt Strong bereits 1925 zu der Erkenntnis, “that the objective of selling is not a single sale but a customer” (Strong, 1925, S. 79). In Zeiten des Nachfrageüberhangs, bspw. in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, richteten sich diese Bemühungen allerdings eher auf die Produktions- und Produktoptimierung (Musiol & Kühling, 2009). Die Marktlage entwickelte sich dann relativ zügig von einem Nachfrageüberhang hin zu einem Angebotsüberschuss. Mit zunehmender Sättigung der Märkte enstand ein Wachstumsproblem. Neue Kunden zu werben, wurde zur neuen Herausforderung – die Bedürfnisse der Kunden zum neuen Mittelpunkt des Agierens (Krafft, 2007). Das Konzept der Kundenorientierung trat in den Vordergrund und der Wandel vom Massenzum Beziehungsmarketing fand statt (Pferdekämper & Lammerts, 2006). Mit ihm vollzog sich ein Paradigmenwechsel im Marketing vom 4P-orientierten Marketing-Mix hin zu einem Beziehungsmarketing mit dem Ziel der Kundenbindung (Grönroos, 1994). Im privaten Bildungssektor zeigt sich ein ähnliches Marktbild. Zwar steigt die Zahl der Studienanfänger sowie Studierenden. bspw. bei privaten Hochschulen, seit 1995 kontinuierlich an. Gleichzeitig intensiviert sich aber der Wettbewerb, z. B. in Form neuer privaten Hochschulen oder dem Studium im Ausland. Zudem konkurriert in Deutschland das private Bildungswesen mit öffentlichen und damit oftmals kostenlosen Angeboten (z. B. öffentliche Fachhochschule vs. private Fachhochschule). Der sich für private Bildung Interessierende wird zum potenziellen Kunden. Den Kunden zu werben und zu binden, wird ebenfalls zu einer neuen Herausforderung. Entsprechend sollte aufgrund der angeführten Marktveränderungen im privaten Bildungswesen ebenfalls ein Paradigmenwechsel vom 4P-orientierten Marketing-Mix hin zu einem Beziehungsmarketing
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mit dem Ziel der Kundenbindung vollzogen werden. Die Vorteile der Kundenbindung sind vielfach analysiert worden und würden auch im privaten Bildungssektor greifen. Insbesondere die nachstehenden drei Vorteile seien hier genannt (Bliemel & Eggert, 1998): • Die Bindung von bestehenden Kunden ist weniger aufwendig als die Gewinnung neuer Kunden. Man spricht von fünfmal höheren Kosten der Neukundengewinnung im Vergleich zu Maßnahmen der Kundenbindung. Entsprechend sind bestehende, “wiederkaufende” Kunden profitabler. Im Bildungswesen leuchtet dies schnell ein. Betrachtet man einen Bachelorabsolventen der eigenen Hochschule, so betrachtet man gleichzeitig einen potenziellen Kunden für einen Masterstudiengang. Allerdings ist der Zugang zu diesem wesentlich einfacher als zu einem externen potenziellen Kunden. Des Weiteren lässt sich durch frühzeitige bindende Maßnahmen ein Fundament für die Aufnahme eines weiteren Studiums bauen. • Abhängig von der Form der Bindung gelten gebundene Kunden als weniger preissensibel. Preisanpassungen lassen sich besser durchsetzen. • Die Gefahr der Abwanderung zum Wettbewerb wird verringert. Das Konzept der Kundenbindung sollte somit auch im privaten Bildungswesen eingesetzt werden. Aber wie können private Hochschulen oder Bildungswerke Kundenbindung gestalten und leben? Grundsätzlich lassen sich vier Kundenbindungsansätze unterscheiden (Hoffmann, 2008): • • • •
formal-juristische Kundenbindungsansätze technisch-funktionale Kundenbindungsansätze ökonomische Kundenbindungsansätze psychologische Kundenbindungsansätze.
Die drei erstgenannten Ansätze fokussieren insbesondere auf den Aufbau von Wechselbarrieren (Homburg & Krohmer, 2017). Diese werden zwar einerseits kritisch gesehen, andererseits sind sie weit verbreitet und durchaus erfolgreich. Zu nennen wären hier bspw. günstige Tintenstrahldrucker, die jedoch nur mit relativ teurer Tinte des Herstellers drucken. Oder Nassrasierer, deren Erstbeschaffung äußerst günstig ausfällt, deren im Laufe der Nutzung neu zu beschaffenden Klingen jedoch hochpreisig sind. Gleiches findet sich bei Pad-betriebenen Kaffeemaschinen sowie elektrischen Zahnbürsten und den notwendigen Aufsatzbürsten als auch bei Staubsaugern und deren Beuteln (Irle & Litz, 2009). In der Regel beruhen diese Kundenbindungssysteme auf einem sogenannten lock-in-Effekt. Der Konsument kauft sich durch das vermeintlich günstige Basisgerät in ein System ein und begibt sich damit gleichzeitig in eine gewisse Abhängigkeit. Ein Wechsel zu einem anderen System ist mit zusätzlichen Kosten verbunden und wird aus diesem Grund häufig vermieden.
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Formal-juristisch findet eine Kundenbindung häufig in Form eines längerfristigen Vertrages statt. Diese finden sich bspw. in Form von Abonnements bei Zeitschriften wie auch bei Mobilfunkverträgen mit einer bestimmten Mindestlaufzeit. Auch im privaten Bildungswesen ist eine solche Form der Kundenbindung vorhanden: so schließen private Hochschulen mit ihren Studierenden Verträge ab, welche die Zahlungs- und Ausbildungsmodalitäten regeln. Zwar ist eine Kündigung eines solchen Vertrages in der Regel immer möglich, jedoch häufig aus Sicht des Konsumenten wenig sinnvoll (z. B. da die Anerkennung der bisherigen Leistung durch andere Hochschulen im Falle eines Wechsels nicht eindeutig geregelt ist). Um von den positiven Effekten der Kundenbindung zu profitieren, ist jedoch mehr als der Aufbau von Wechselbarrieren notwendig. Dies zeigt ein Blick auf eine grundsätzliche Definition von Kundenbindung: “Kundenbindung umfasst sämtliche Maßnahmen eines Unternehmens, die darauf abzielen, sowohl die bisherigen Verhaltensweisen als auch die zukünftigen Verhaltensabsichten eines Kunden gegenüber einem Anbieter oder dessen Leistungen positiv zu gestalten, um die Beziehung zu diesem Kunden für die Zukunft zu stabilisieren bzw. auszubauen” (Homburg & Bruhn, 2017, S. 8). Um nun derzeitige Verhaltensweisen wie auch zukünftige Verhaltensabsichten positiv zu beeinflussen und zu gestalten, spielt die Zufriedenheit des Kunden eine zentrale Rolle. Denn es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit eines Kunden und dem Wiederkauf (Homburg et al., 1998). Die Nutzung eines Produktes oder einer Leistung gilt im Allgemeinen auch als “moment of truth”. Es ist der Moment, in dem ein Abgleich stattfindet zwischen dem werblichen Versprechen und der Realität. Vereinfacht gesagt findet quasi ein Soll-Ist-Vergleich zwischen der erwarteten und der erhaltenen Leistung statt. Diese kann bestätigt oder gar überfüllt werden und führt so zu Zufriedenheit. Oder die Erwartungen werden enttäuscht und der Kunde entwickelt eine Unzufriedenheit. Zufriedene wie auch unzufriedene Kunden gehen unterschiedlich mit ihrer Erfahrung um (siehe Abb. 1). Ist ein Kunde zufrieden, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich dieser positiv über das Produkt äußert (positive word-of-mouth) und das Produkt oder die Leistung zukünftig nochmals in Anspruch nimmt, sprich das Produkt nochmals kauft und der Marke somit treu bleibt. Ein unzufriedener Kunde dagegen würde sich tendenziell eher negativ über das Produkt äußern. Er ist “wechselgefährdet” und häufig können Unternehmen diese Kunden nur halten, wenn sie die Beschwerde des Kunden zu seiner Zufriedenheit lösen können. Dafür muss sich der Kunde aber erstmal beschweren. Auch ein unzufriedener Kunde kann also zum Wiederkäufer werden, wenn man als Unternehmen in Interaktion mit dem Kunden steht und dieser dem Unternehmen die Chance bietet, auf eine Beschwerde zu reagieren. Vielfach besteht diese Interaktion nicht und der Kunde wechselt stillschweigend und unzufrieden. Einen Wiederkauf allein sollte man allerdings nicht als Garant für erfolgreich durchgeführte Kundenbindung verstehen. Ein wiederkaufender Kunde muss nicht zwingend eine positive Einstellung gegenüber dem Unternehmen haben. Und er muss auch kein loyaler Kunde sein. Die Bindung kann wie oben bereits beschrieben auf einem
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Abb. 1 Wirkungsweisen von Zufriedenheit und Unzufriedenheit (Homburg et al., 1998)
lock-in-Effekt beruhen. Der Wiederkauf findet also unter einem gewissen Zwang statt. Notwendig ist demnach auch eine positive Einstellung des Kunden gegenüber dem Unternehmen. Diese positive Einstellung schlägt sich dann ebenfalls positiv auf die Bereitschaft zu Folgetransaktionen nieder (Diller, 1996). Erreicht man diese positive Einstellung beim Kunden durch entsprechende Kundenbindungsmaßnahmen, dann ist auch ein lock-in-Effekt nicht unbedingt als negativ zu bewerten. Hiermit erklärt sich auch der Erfolg bereits genannter Systeme bei beliebten Marken wie zum Beispiel Gillette, Nespresso oder Vorwerk. Auf das private Bildungswesen bezogen zeigt dies, dass eine rein formal-juristische Bindung, bspw. von Studierenden an private Hochschulen, nicht ausreichend ist. Ein Vertrag ist zwar allein schon zur gegenseitigen Absicherung notwendig, beeinflusst aber nicht auf Dauer die positive Einstellung des Studierenden gegenüber seiner Hochschule. Für die Hochschule jedoch ist insbesondere die positive Mund-zu-Mund Propaganda für die Vermarktung ihrer Leistungen wichtig, da sich Interessierte in der Regel zum Beispiel mithilfe digitaler Bewertungsportale über die Qualität einer Hochschule informieren. Positive Mund-zu-Mund-Propaganda zufriedener Studierender stellt also einen relevanten Faktor in der Akquise zukünftiger Studierender, sprich Kunden, dar. Aus Sicht der Hochschule macht es nun Sinn, zum einen die Studierenden im oben beschriebenen Soll/Ist-Abgleich nicht zu enttäuschen. Wenn also beispielsweise mit kleinen Studierendengruppen in modernen Studienräumen und einer hohen Betreuungsquote geworben wird, dann sollte sich dies für den Studierenden in seinem Studium auch so darstellen. Zum anderen sollten Maßnahmen getroffen werden, die das Erwartete übererfüllen und damit Begeisterung bei den Studierenden auslösen. Der zufriedene oder gar begeisterte Studierende wird sich aktiv positiv über die Hochschule äußern und so zu einem Botschafter des Hochschulangebots wandeln. Zusätzlich ergeben sich im Sinne
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des Wiederkaufs bei diesen Studierenden weitere Potenziale im Sinne eines Wiederkaufs (z. B. Verkauf eines Anschlussstudiums oder von Zertifizierungskursen). Es stellt sich also die Frage, mit welchen Kundenbindungsmaßnahmen ein Bildungsunternehmen die Zufriedenheit seiner Kunden bis zur Begeisterung forcieren kann.
3 Kundenbindungsmaßnahmen Die Palette an Kundenbindungsinstrumenten ist groß, zumal sich innerhalb des Marketingmix zahlreiche Ansatzpunkte finden lassen, mit derer Hilfe sich die Beziehung zum Kunden positiv beeinflussen lässt. Hier wären zu nennen: • Newsletter-Marketing • Kundenmagazin • Kundenintegration in Produktentwicklung • Events • Kundencenter als Service-Anlaufstelle oder Beschwerdemanagement • Coupons, Sammel- oder Rabattkarten • Vorteilsprogramme • etc. An dieser Stelle sollen jedoch weniger einzelne Maßnahmen als integrative Konzepte im Fokus stehen, deren Hauptanliegen es ist, einen quasi emotionalen lock-in Effekt zu erzeugen. Der Kunde soll also nicht durch Systeme in eine künstliche Abhängigkeit gebracht werden, sondern durch seine positive Einstellung an das Unternehmen gebunden werden. Erste Ansätze solch integrativer Loyalitätssysteme waren bereits früh am Markt vertreten. Der Fokus lag hier häufig auf Interaktion und Belohnung (Homburg & Krohmer, 2017, S. 780). Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts führten amerikanische Airlines als erste Unternehmen Treueprogramme ein. 1981 lud American Airlines seine Kunden ein, virtuelle Flugmeilen zu sammeln, die später gegen Freiflüge eingelöst werden konnten. Der Einzelhandel folgte diesem Beispiel, später dann das Hotelgewerbe und der Finanzsektor (Szczepánska & Gawron, 2011, 89 ff.). Kunden wird in diesen Fällen für ihr loyales Verhalten eine Belohnung zugesprochen. In Kombination mit Interaktion, bei der die Kunden zum Beispiel auf mögliche Reiseziele oder besonders günstige Flugreisen hingewiesen werden, wird aus einem Treueprogramm auch schnell ein Kundenclub. Und eine Kundenkarte das Identifikationsmerkmal, einem Club zugehörig zu sein. Als integratives Kundenbindungskonzept erfreuten sich Kundenclubs vor allem rund um die Jahrtausendwende großer Beliebtheit. Aus Sicht der Unternehmen bot der Kundenclub viele Vorteile: aus zum Teil anonymen Kunden wurden Mitglieder, mit denen eine dialogorientierte Kommunikation forciert werden konnte; der Kunde wurde transparenter
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und das Unternehmen erhielt Erkenntnisse über Eigenschaften und Präferenzen des Kunden. Nicht zuletzt erzielt ein Club eine stärkere Identifikation mit dem Unternehmen, welches auf diese Weise sein Image verbesserte (Tomczak et al., 2017). Ein solcher Club wurde in Deutschland bereits 1950 mit dem Bertelsmann Lesering etabliert. Der Club zählte bis zu sieben Millionen Mitglieder und erreichte mit über 300 Filialen rund 700 Mio. Euro Umsatz. Die Mitglieder – und eine Mitgliedschaft war eine zwingende Voraussetzung – erhielten Bücher (trotz Buchpreisbindung) zu einem um 10 % bis 20 % vergünstigten Preis. Ein klarer Vorteil also für Vielleser. Allerdings bestand auf der anderen Seite auch der Zwang, pro Quartal ein Buch zu erwerben. Diese Form der Bindung entsprach jedoch nicht dem Wunsch der Mitglieder. Im Laufe der Jahre schrumpfte die Zahl der Mitglieder immer mehr. 2015 zählte der Club nur noch eine Million Mitglieder und generierte einen Umsatz von “nur noch” 100 Mio. Euro. Zu wenig für die Begründer des Bertelsmann Lesering. Der Club wurde 2015 geschlossen. Ein weiteres prominentes Beispiel für ein Loyalitätsprogramm in Deutschland ist sicherlich das Miles-and-More-Programm der deutschen Lufthansa. Die Funktionsweise ist denkbar einfach: Für jede mit der Lufthansa oder deren Partner geflogene Flugmeile erhält der Flugreisende Meilen auf sein Miles-and-More-Konto gutgeschrieben. Die Meilen lassen sich dann bei weiteren Flugreisen oder für den Bezug von Prämien aus einem umfangreichen Onlineshop einsetzen. In einem Jahr geflogene Meilen dienen auch zur Erlangung eines Status. So unterscheidet das Programm zwischen Teilnehmern, Frequent Travellern, Senator oder HON Circle Member. Ab dem Status Frequent Traveller erhält der Miles-and-More Kunde exklusive Privilegien wie beispielweise den Zugang zu Lounges an Flughäfen, eine höhere Freigepäckmenge oder die Nutzung einer exklusiven Servicehotline. Im Zuge der Digitalisierung setzen sich immer mehr smarte Kundenclubs durch. Für diese werden keine Kundenkarten mehr benötigt. Stattdessen installiert der Kunde eine App auf dem Smartphone. Statt einer Mitgliedschaft erfolgt eine Registrierung. Auf diese Weise ist ein Unternehmen nun sehr nah an seinem Kunden, kann mit ihnen interagieren, sie informieren, ihre Loyalität belohnen sowie weitere Mehrwerte durch Funktionalitäten der App schaffen. Es besteht also die Möglichkeit, verschiedene Maßnahmen der Kundenbindung miteinander in einer App zu verknüpfen. Das Fallbeispiel McDonald’s zeigt die Funktionsweise einer solchen App auf. Das zweite Fallbeispiel mitradoX beschreibt dann die Anwendbarkeit eines Kundenbindungssystems per App für private Bildungsunternehmen.
4 Kundenbindung – das Fallbeispiel McDonald’s McDonald’s hat bereits jahrelange Erfahrungen mit Bonusheften und Rabattmarken. So wurden in der Vergangenheit oftmals Rabattmarken als Beilage in Zeitschriften oder Zeitungen beigelegt. Diese konnten dann bei Kauf eines Produktes eingesetzt werden.
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Zur Anregung von Käufen und Wiederkäufen waren diese Aktivitäten sicherlich erfolgreich. Eine Bindung des Kunden fand jedoch weniger statt und auch blieb der Kunde stets ein anonymer Kunde gegenüber dem Anbieter. Neuerdings führt McDonald’s diese Aktivitäten in einer eigenen App zusammen, was zu völlig neuen Möglichkeiten führt. So beschreibt das Unternehmen das neue Programm “MyMcDonald’s Rewards” auch selbst als “next level Punkte sammeln” (o.V., 2021). (Abb. 2) Im Mittelpunkt des neuen Programms steht die McDonald’s App, welche der Nutzer in den üblichen App-Shops zum Download erhält. Nach der Registrierung erhält der Nutzer den Zugriff auf eine Vielzahl von Funktionen: • mithilfe der “Bestellen”-Funktion kann der Nutzer in einem dem Standort oder Zielort nahegelegenen Restaurant eine Bestellung auslösen. Ist der App-Nutzer unterwegs, so wird die Bestellung erst dann ausgelöst, wenn sich der Nutzer in der Nähe des Restaurants befindet. Auf diese Weise kann frühzeitig bestellt und trotzdem die Ware pünktlich zur Abholung frisch zubereitet werden. • durch Hinterlegung einer Zahlungsmöglichkeit kann die Bestellung direkt berührungslos bezahlt werden. • ein Newsfeed macht einerseits auf Neuigkeiten (z. B. saisonale Produkte) und andererseits auf spezielle Aktionen (z. B. zwei Produkte für 2 €) oder auch laufende Gewinnspiele (z. B. “becherweise Feierpreise”) aufmerksam. Die Informationen gelangen direkt auf das Handy der Kunden. Diese können an den Aktionen ohne Verzögerung per Klick ganz ohne Medienbruch teilnehmen.
Abb. 2 Eindrücke der offiziellen McDonald’s App
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• Einen spielerischen Kaufanreiz schafft McDonald’s durch das Reward System, dessen Funktionsweise schlicht und simpel gehalten ist: Für jeden bei McDonald’s ausgegebenen Euro erhält man in der zugehörigen App 10 Punkte. Die angesammelten Punkte wiederum kann man in Prämien – bislang allesamt McDonald’s Produkte – umwandeln. Der Wert der Punkte ist transparent gestaltet. Zum Beispiel erhält man für 200 gesammelte Punkte eine kleine Portion Pommes, einen kleinen Kaffee oder einen Cookie. 800 Punkte lassen sich direkt in einen Big Mac eintauschen. Ein regelmäßiger McDonald’s Kunde wird also immer wieder ein Produkt seiner Bestellung kostenlos in Form einer Prämie erhalten oder animiert sein, sich zu seiner Bestellung, bspw. einen kostenlosen Kaffee, dazu zu bestellen. McDonald’s schafft sich mithilfe der App die Möglichkeit, direkt mit dem Kunden zu kommunizieren und ihn auf mögliche Angebote aufmerksam zu machen. Auf spielerisch emotionaler Weise schafft das Unternehmen Anreize, das präsentierte Angebot wahrzunehmen. Sei es durch Lesen der News, bestellen von Produkten oder Teilnahme am Gewinnspiel: der Nutzer beschäftigt sich ausgiebig mit der Marke McDonald’s. Mehrwerte erhält der Nutzer durch die vereinfachte Bestell- und Zahlungsmöglichkeit, Informationen über bestehende Aktionen mit direkter Möglichkeit, an diesen teilzunehmen sowie dem Belohnungssystem des Bonusprogrammes. Gleichzeitig hebt McDonald’s die Anonymität seiner Kunden auf und profitiert so von Informationen über ihre Kunden, die ohne App bisher nicht zugänglich waren. Nutzer, die am Bonusprogramm teilnehmen, stimmen auch der Nutzung vieler ihrer Daten zu. So darf McDonald’s laut Datenschutzrichtlinie das Nutzungsverhalten innerhalb der App sowie das Einlösen von Coupons auswerten. Die Daten werden verarbeitet, um nutzergerechte Angebote zu schaffen sowie eigene als auch Produktempfehlungen von Drittanbietern zu geben. Die McDonald's-App schafft Mehrwerte – sowohl für den Kunden als auch für das Unternehmen. Inwiefern eine solche win–win-Situation auch im Bildungssystem geschaffen werden kann bzw. ein integratives Bindungssystem auch dort möglich erscheint, soll im Folgenden diskutiert werden.
5 Eine App zur Kundenbindung – das Fallbeispiel mitradoX an der Hochschule SRH Wie das Fallbeispiel McDonald’s zeigt, können Unternehmen über Gamification und Belohnung ihre Kunden zu wiederholten Käufen eines Produktes animieren. Was aber, wenn der Kauf einmalig ist, es sich nicht um ein Produkt, sondern eine Dienstleistung handelt und die Nutzung sich nicht auf wenige Minuten, sondern auf mehrere Jahre bezieht? Wie bindet man solche Kunden an das Unternehmen? Das Fallbeispiel mitradoX an der Hochschule SRH soll verdeutlichen, wie man mithilfe einer App die Kundenbindung erhöht (Ingwald & Lammerts, 2021).
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Die SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen (im Weiteren kurz: SRH in NRW oder SRH) ist eine private, staatlich anerkannte Fachhochschule. Über 800 Studierende aus aller Welt studieren an den Standorten Hamm, Münster und Leverkusen. Die SRH möchte den Kontakt zu ihren Studenten auch außerhalb der Lehrveranstaltungen pflegen. Sie möchte, dass die Studierenden nicht nur mit dem Studium zufrieden sind, sondern auch mit dem Campusleben. Sie sollen sich in der Gemeinschaft wohlfühlen, gezielt informiert werden und miteinander kommunizieren und interagieren. Die Hochschule geht dabei davon aus, dass über die Bildung einer Community eine Identifikation und Bindung der Studierenden an die Hochschule gelingen kann. Dies geht auch über das Studium hinaus wie zum Beispiel als Alumni-Netzwerk. Um die Ziele zu erreichen, gründete die Hochschule eine Taskforce und beauftragte sie, Ansätze zu finden, um eine interaktive, digitale Community aufzubauen. Zunächst ermittelte die Taskforce die Anforderungen, die eine digitale Lösung erfüllen muss. Insgesamt sollte die Lösung sowohl informieren und zur Interaktion anregen als auch bestehende Prozesse im Hochschulalltag erleichtern. Dazu gehörte u. a. • • • • •
eine berührungslose Erfassung, zum Beispiel bei Gebäudeeintritt, die Ankündigung von Events und Anmeldung per Klick, ein interner Social-Media-Kanal als Newsfeed, eine Chat-Funktion für den Studierendenservice sowie ein Ansatz zur Motivation der Nutzer, aktiv an der Lösung teilzunehmen.
Bei der Suche nach einer passenden digitalen Lösung stieß die SRH in NRW auf die App mitradoX. mitradoX wurde von der ivaya GmbH entwickelt, um Kunden erfolgreich an Unternehmen zu binden und die Customer Experience zu erhöhen. Zielgruppe der App sind eigentlich B2B-Unternehmen. Da die Mechanismen der App aber auf andere Branchen übertragbar sind, die von der SRH festgelegten Anforderungen erfüllt sind und die App darüber hinaus weitere Funktionen anbietet, entschied die SRH in NRW sich für mitradoX. Heute trägt die App den Namen SRH ALLSTAY App und erscheint im SRH-Design. Dies war für den Wiedererkennungseffekt und den Aufbau der digitalen Community wichtig. Studierende gezielt ansprechen Um Studierende gezielt anzusprechen, entschied sich die SRH für die Funktionen Newsfeed und FAQ. Mit dem Newsfeed kommuniziert sie über einen Kanal direkt auf das Smartphone ihrer Studierenden. Sie kündigt Vorträge oder Exkursionen an, informiert über Änderungen an der Hochschule und veröffentlicht den wöchentlichen Mensaplan. Die Studierenden sind dank des Newsfeeds immer auf dem neuesten Stand. (Abb. 3). “Wir posten jede Woche mindestens eine Neuigkeit. Das einfache Anlegen und Planen der Mitteilungen im Backend erleichtert uns die Arbeit immens”, sagt Prof. Dr. Claus Wilke. Die Posts bereiten die Mitarbeiter in deutscher und englischer Sprache vor und versenden sie zielgruppengenau mithilfe der Segmentierung. “Wir können Nach-
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Abb. 3 Der Newsfeed bei mitradoX
richten an alle, an eine ausgewählte Gruppe oder gezielt an einzelne Personen schicken. So sprechen wir unserer Studierenden abgestimmt auf ihre Präferenzen an und sie fühlen sich abgeholt”, so Prof. Dr. Claus Wilke weiter. Ein zweiter Informationskanal ist der FAQ-Bereich. Hier stellt die SRH ihren Studierenden Informationen zu besonders häufig gestellten Fragen oder auftretenden Problemen zusammen. Das entlastet nicht nur ihre Mitarbeiter, sondern freut auch die Studenten, denn diese können die meisten Fragen durch einen Blick in die FAQ von allein beantworten. Da die FAQ umfangreich und 24/7 abrufbar sind, ist die Gefahr von langen Antwortzeiten und damit das Potenzial für Unzufriedenheit minimiert worden. Interaktionen zwischen Studenten und Hochschule erhöhen Ein Interaktionskanal ist der Chat. Dieser ist ähnlich dem Messengerdienst WhatsApp aufgebaut, bietet aber den wesentlichen Vorteil, dass die Nachrichten end-to-end verschlüsselt sind. Fragen von Studierenden können in Echtzeit beantwortet werden, Probleme werden im Dialog schnell und einfach gelöst. So werden auch Beschwerden von unzufriedenen Studenten direkt beantwortet, und zwar, bevor sie zum Problem werden können. Die SRH möchte aber nicht nur auf Fragen reagieren, sondern aktiv mit ihrer Community in Kontakt treten. Dafür sendet sie über Broadcast-Listen Nachrichten an viele Kontakte, ohne vorher eine Gruppe anzulegen. Und wenn Sie doch Gruppen eröffnen möchte, legt sie diese einfach als öffentliche oder private Gruppen an, zum Beispiel für die Kommunikation in Projektseminaren. Darüber hinaus kann die Hochschule mit Studierenden interagieren. Die Studierenden können Neuigkeiten nicht nur lesen, sondern auch liken, teilen und kommentieren. Mit den Buttons reagieren sie auf die News und treten so in einen Dialog. Da diese Aktionen aus den Social-Media-Kanälen bekannt sind, findet die Nutzung intuitiv statt. Durch die
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Interaktionsmöglichkeiten haben die Studierenden das Gefühl, aktiv am Campusleben teilzunehmen, was wiederum das Wir-Gefühl stärkt. Per Klick können sich Studierende zudem bei Veranstaltungen anmelden. Kommt doch mal etwas dazwischen, melden sie sich genauso mühelos per Klick wieder ab. Eine Mail schreiben, Telefonat führen oder vor Ort Bescheid geben, entfällt auf diese Art und Weise. Im Backend wird automatisch eine Liste aller Teilnehmer erstellt, was die Planung des Events vereinfacht. Den Hochschul-Alltag erfolgreich vereinfachen Die App erleichtert auch die Prozesse an der Hochschule. So ist zum Beispiel ein digitaler Studentenausweis hinterlegt, der wie ein individueller Fingerabdruck agiert. Hier werden alle wichtigen Daten in einem QR-Code gespeichert. Der Ausweis wird in der App in einem extra Tab abgebildet und ist jederzeit abrufbar. So sehen die Studierenden nicht nur den QR-Code, der sich regelmäßig verändert, sondern auch auf einen Blick, auf welchem Platz im Ranking sie sind und wie viele Bonuspunkte es pro Aktion gibt. (Abb. 4). Mit dem QR-Code können die Studierenden die SRH-Gebäude kontaktlos betreten, ihre Teilnahme an Events bestätigen oder Punkte erhalten. Dafür halten sie einfach ihr Smartphone mit dem QR-Code unter den externen Scanner oder ein anderes Smartphone und schon sind alle relevanten Daten, bspw. ID-Nummer, Datum und Uhrzeit des Eintritts, gesichert. Die Daten sind im Backend gespeichert und können bei Bedarf heruntergeladen werden. Die Nutzung der App spielerisch sichern Die Funktionen der App sind vielfältig, aber wenn die Studierenden und Mitarbeiter der SRH sie nicht aktiv nutzen, können selbst die besten Maßnahmen in der App nicht zur Kundenbindung beitragen. Aber jeder von uns kennt das Phänomen: Wir laden schnell
Abb. 4 Der digitale Studentenausweis bei mitradoX
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eine App herunter, melden uns an und nutzen sie direkt. Doch nach dem ersten Gebrauch bleiben viele von uns inaktiv, denn wir fühlen uns bald gelangweilt. Damit die Studierenden die App auch motiviert und begeistert nutzen, bietet sie verschiedene Elemente aus der Gamification und der Belohnung an. Viele Menschen haben eine hohe Affinität zu Spielen und den positiven Emotionen, die spielerische Elemente auslösen. Zudem werden wir gerne direkt belohnt. Die SRH entschied sich für Ranglisten, dem so genannten Highscore, und ein Bonussystem. Sie definierte Aktionen innerhalb der App, die Bonuspunkte erhalten. So führen liken, teilen und kommentieren automatisch zu Punkten. Aber auch eine manuelle Punktevergabe durch Dozenten ist möglich, bspw. für ein besonderes Engagement. Diese gesammelten Punkte werden in einem Highscore angezeigt. Jeder Student sieht zu jeder Zeit, auf welchem Platz er gerade ist und wie viele Punkte ihn vom nächsten Platz trennen. Das motiviert, in der App aktiv zu sein und weitere Punkte zu sammeln. Die Punkte können Studierende aber auch gegen attraktive SRH-Prämien einlösen. Jedes Semester findet zusätzlich ein Wettbewerb um einen Hauptpreis statt. Es gewinnt der Nutzer mit den meisten Punkten im jeweiligen Semester. Das stärkt die Bindung zwischen Studierenden und Hochschule. Die Campus-Community geht online Pünktlich zum Wintersemester 2020 führte die SRH in NRW die App ein. Zuvor wurden für die über 800 Studierenden und Mitarbeiter Accounts angelegt und die Zugänge per E-Mail verschickt. Um die Registrierung datenschutzkonform abzuwickeln, wurde jeder Benutzer darauf aufmerksam gemacht, ein neues Passwort anzulegen. Diese Aktion aktivierte die App. Die Taskforce, die nun für die App zuständig ist, verzeichnete in den ersten paar Tagen eine hohe Registrierungsquote. Innerhalb von einem Jahr verdoppelte sich die Nutzerzahl. Dies liegt nicht nur daran, dass sich neue Studierende anmelden. Absolventen, die die Fachhochschule erfolgreich verlassen, bleiben der SRH ALLSTAY App treu und treten der Gruppe “Alumni” bei. Der Aufbau eines Netzwerks hat damit begonnen. Die SRH postet zweimal in der Wochen News und kündigt Events an. Bis zum Wintersemester 2021 erreichten diese über 5700 Likes und wurden mehr als 1400-mal geteilt. Die News erhielten im Durchschnitt rund 20 Kommentare, die von Emojis bis zu kurzen Texten reichten. Zum Beispiel wurde in einer Newsmeldung der erste internationale Studierende in einem neuen Fachbereich vorgestellt. Die Studierenden hießen ihn über die App herzlich willkommen und wünschten ihm viel Erfolg. Auch die ChatFunktion und der FAQ-Bereich werden zahlreich genutzt. Auf Seiten der Taskforce war bei Einführung die Sorge groß, dass mit der App ein weiterer Kanal geschaffen wurde, der befüllt werden musste. Mehraufwand drohte. Nach vier Wochen stellte sich jedoch heraus, dass die App die Kommunikation sogar vereinfachte. Zum einen wurden Gruppen in diversen Social-Media-Kanälen mit dem Hinweis auf die App geschlossen. Darüber hinaus verringerten sich Anfragen per Telefon oder
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Mail im Studentensekretariat. Diese wurden nun automatisch im FAQ beantwortet oder im Chat gestellt. Dank der App tauschen sich die Studierenden untereinander und mit den SRHMitarbeitern häufiger aus. Sie werden zeitnah über Events und Neuigkeiten informiert und gestalten über das Liken, Teilen und Kommentieren das Campusleben aktiv mit. Die spielerischen Elemente der App motivieren die Nutzer, aktiv zu bleiben. Die Interaktionen und auch die Fragen im Chat sind wiederum für die SRH in NRW wertvoll, denn sie geben ein direktes Feedback. Dieses wertet die Hochschule aus und nutzt es für etwaige Anpassungen.
6 Fazit Kundenbindung ist ein relevantes Tool, auch für den privaten Bildungssektor. Empfehlenswert ist an dieser Stelle sicherlich statt einzelner Maßnahmen ein integratives System, welches mehrere Kundenbindungsinstrumente beinhaltet und diese intelligent miteinander verknüpft. Naheliegend ist in heutigen Zeiten die Nutzung einer – möglichst eigenen – App. Als geschlossenes System bietet diese dann privaten Bildungsanbietern die Möglichkeit, eine Community mit und unter seinen Kunden bzw. Nutzern aufzubauen bzw. zu stärken. Damit eine solche App auch langfristig genutzt wird, ist es wichtig, dem Nutzer besondere Mehrwerte zu bieten. Im besten Fall wird die App ein notwendiger Begleiter im Studium oder in der Ausbildung und es erfolgt ein lockin Effekt aufgrund des Mehrwertes. Mit Blick auf andere Branchen und bestehender Lösungen sind die Möglichkeiten vielfältig: • Digitaler Studierendenausweis, z. B. bei einer möglichen Eingangskontrolle • Vereinfachung von Prozessen, z. B. Anmeldung und Abmeldung zu Events per Klick • Einbindung des individuellen Stundenplans • Mensaplan • Praktikumsbörse • Newsfeed und FAQ-Bereich für umfassende Informationen • Chat-Funktion, der direkte Kontakt zu Dozenten oder anderen Studierenden • u. v. m. Die Begrenzung möglicher Funktionen liegt dabei in der Regel eher in der Wirtschaftlichkeit sowie der Anknüpfungsmöglichkeiten an bestehenden Systemen begründet als in der technischen Machbarkeit. Neben rein funktionellen Mehrwerten sollte ein solches System gleichzeitig emotionale Mehrwerte vermitteln. Ein integriertes Bonussystem mit einem Gamification-Ansatz kann einen solchen emotionalen Mehrwert bieten. Natürlich müssen als Boni dann auch entsprechende Anreize bereitstehen. Ein weiterer zentraler Punkt, und auch Unterschied zu anderen Branchen, ist die Relevanz der Interaktion. Da ein Wiederkauf nicht laufend stattfinden kann, geht es viel stärker um eine Identifikation und eine lang-
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fristige Bindung. Hier spielt die Interaktion zwischen Bildungsanbieter und Kunde eine wesentliche Rolle. Dem (anonymen) Kunden sollte das Gefühl vermittelt werden, Teil einer Community zu sein. Dies kann vor allem über viele und möglichst einfache Interaktionsmöglichkeiten geschehen. Interaktionen wie liken, teilen und kommentieren sind dabei die gängigsten Methoden, da sie von der Zielgruppe aus den sozialen Medien gelernt wurden. Einen Schritt weiter kann man gehen, wenn man eine direkte Chat-Möglichkeit – bspw. mit dem Studierendensekretariat oder den Dozenten – schafft. Verbindet man diese Interaktionsmöglichkeiten nun noch mit einem Bonussystem schafft man Anreize für die Interaktion und verstärkt darüber die Bildung einer Community sowie die Nutzung der App. Mithilfe einer durchdachten App können somit funktionale und emotionale Mehrwerte vermittelt werden sowie ein entscheidender Beitrag zur Bildung einer Community geleistet werden. Mehrwert wird aber nicht nur für den Nutzer generiert, sondern auch für den Anbieter. Eine App kann die Kommunikation und Prozesse durch Digitalisierung und Automatisierung vereinfachen, zum Beispiel: • Wenn die Kommunikation an die Kundengruppe vollständig über die App erfolgt, fallen manuell erstellte Aushänge oder schwierig zu pflegende E-Mail-Verteiler weg. Auch können Gruppen in Social-Media-Kanälen, z. B. Facebook-Gruppen, die schwierig zu kontrollieren sind, geschlossen werden. • Wenn sich Teilnehmer über eine App zu Events anmelden, erfolgt die Hinterlegung einer Teilnehmerliste im Backend automatisch. Auch jegliche Änderung, zum Beispiel ein Abmelden von der Veranstaltung, wird automatisch verzeichnet. Von Hand geschriebene Anmeldelisten für ein Event entfallen. • Die Analyse der Interaktionen, z. B. welche News am meisten geteilt oder geliked wurde, erzielt wichtige Erkenntnisse über die Präferenzen der Zielgruppe. Diese können ausgewertet werden und in zukünftige Marketingmaßnahmen einfließen. • Analysiert man den Chat-Bereich, so lassen sich immer wiederkehrende Fragen entweder durch eine verbesserte Kommunikation oder eine Prozessverbesserung zukünftig ausschließen. So kann man beispielsweise den FAQ-Bereich mit Fragen und Antworten erweitern, die für die Zielgruppe eine hohe Relevanz haben. Ein integratives Kundenbindungssystem in Form einer App, wie sie hier vorgestellt wurde, wirkt sich somit doppelt positiv aus: sie steigert die Zufriedenheit und Loyalität der Kunden und gleichzeitig die Effizienz des Bildungsunternehmens, welches die App betreibt.
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Prof. Dr. Arno Lammerts ist Professor für Unternehmensführung und Marketing an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Im Anschluss an seine Promotion an der TU Dortmund im Fachbereich Marketing arbeitete er viele Jahre in Führungspositionen verschiedener globaler Unternehmen. Prof. Lammerts ist Gründer zweier Unternehmen, die sich mit Market Intelligence sowie Digital Marketing & E-Commerce befassen.
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Dr. Julia Ingwald ist Senior Consultant der ivaya GmbH. Nach ihrer Promotion im Marketing-Management arbeitete sie in verschiedenen Management- und Führungspositionen in Unternehmen der Baustoff- und Maschinenbranche sowie in Agenturen. Bei ivaya ist sie für Projekte rund um Digital [Sales] Excellence und für die Kundenbindungs-App mitradoX zuständig. Als Leiterin des Projekts mitradoX@SRH war sie die Schnittstelle zwischen der Task Force und den Entwicklern.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung gewinnendes Modell unter kritisch-distanzierter Beobachtung der Disziplin Johannes Emmerich und Janine Linßer
1 Einleitung In Praxis und Wissenschaft wird das duale Studium Soziale Arbeit als ein zentrales Instrument zur Fachkräftegewinnung und -sicherung diskutiert und erfährt enormen Zuwachs. Gab es im Wintersemester 2008/2009 erst ein duales Angebot für ein Bachelorstudium Soziale Arbeit, sind für das Wintersemester 2017/2018 entsprechende Angebote an elf Hochschulen zu verzeichnen (Meyer, 2018). Insgesamt erfreut sich das duale Modell zunehmender Beliebtheit auf Träger- und Studierendenseite (Belz & Hinssen, 2020; Hoffmeyer, 2020). Gleichzeitig wird die Zunahme der dualen Angebote vor allem in der Disziplin Sozialer Arbeit mit Sorge betrachtet (beispielhaft: Otto, 2018). Vor dem Hintergrund dessen, dass Studieninhalte teilweise funktional und einseitig auf die spezialisierten Bedarfe einzelner Handlungsfelder oder gar Arbeitgeber zugeschnitten wurden bzw. werden, ist eine kritische Beobachtung auch verständlich. Die von Otto (2018, S. 298) jedoch grundlegend geäußerte Kritik an dualen Studienmodellen, die zu „einem Ende der wissenschaftlich-systematischen Grundlegung einer modernen Sozialen Arbeit“ führten, ist zu pauschal. Einer curricularen und organisationalen Einflussnahme von Trägern über die Hochschulgremien wird zum einen bei vielen Anbietern dualer Studienangeboten J. Emmerich (*) FliednerFachhochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Linßer Fakultät für Angewandte Geistes- und Naturwissenschaften Hochschule Augsburg, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_10
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explizit vorgebeugt. Zum anderen geht das duale Studienmodell nicht automatisch mit einer Absenkung der wissenschaftlichen Standards einher. Inwiefern das duale Studium Soziale Arbeit dazu beitragen kann, dem Fachkräftebedarf in der Praxis zu begegnen, wird im vorliegenden Aufsatz erörtert. Auf eine einsteigende Begriffsklärung und Gegenstandsbestimmung des Studiums folgt eine Darstellung des in der Disziplin Sozialer Arbeit geführten Diskurses um dieses Studienformat. Im Anschluss daran erfolgt eine Fokussierung der besonderen Möglichkeiten der Theorie-Praxis-Relationierung im dualen Studium Soziale Arbeit. Daran Anknüpfend werden ausgewählte Erkenntnisse einer im Wintersemester 2020/2021 durchgeführten Befragung von Studierenden und Alumni an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen (nachfolgend: SRH in NRW) im Hinblick auf ihre Kompetenzentwicklung präsentiert. Befragt wurden Studierende aus allen Studienformaten des Fachbereichs, was eine Kontrastierung der Antworten der Dualstudierenden mit Studierenden aus dem regulären Vollzeitstudiengang und dem berufsintegrierenden Studiengang ermöglicht.
2 Das duale Studium – begriffliche Grundlagen Duale Studiengänge gelten als Studiengänge „mit besonderem Profilanspruch“ (Akkreditierungsrat, 2010). Unter dieser Kategorie werden im Grunde alle Studiengänge subsummiert, die vom regulären Vollzeit-Präsenz Modell abweichen, also zum Beispiel Fernstudiengänge, berufsbegleitende Programme, Teilzeitvarianten und nicht zuletzt duale Studiengänge. Eine klare Abgrenzung der einzelnen Profilansprüche wurde längere Zeit als „weder möglich noch geboten“ angesehen (Akkreditierungsrat, 2010, S. 3). In der Folge wurden daher lediglich Systematisierungsempfehlungen formuliert, wobei mit Blick auf das duale Studium die Empfehlungen des Wissenschaftsrates (2013) weite Verbreitung und Anwendung fanden. Der Wissenschaftsrat schlägt grob zusammengefasst vor, zwischen ausbildungsintegrierenden (Erstausbildung mit Berufsausbildung), praxisintegrierenden (Erstausbildung oder Weiterbildung mit Praxisanteilen) und berufsintegrierenden (Weiterbildung mit Berufstätigkeit) Programmen zu unterscheiden. Die Anzahl dualer Studiengänge ist disziplinübergreifend in Deutschland in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Die AusbildungPlus-Datenbank des Bundesinstituts für Berufsbildung (Hofmann et al., 2020) zählte 879 duale Studiengänge in der Erstausbildung im Jahr 2011 mit nahezu 60.000 eingeschriebenen Studierenden. Bis zum Jahr 2019 stieg die Zahl der dualen Studiengänge auf 1662 mit inzwischen über 108.000 Studierenden. Mit diesem Zuwachs stieg auch die Vielfalt der Ausgestaltung der dualen Studiengangprofile. Von Seiten des Akkreditierungsrates wurde auf diese Entwicklung mit einer neuen Rahmensetzung in der Musterrechtsverordnung reagiert, die vor allem den in den bildungspolitischen Debatten als zentrales Charakteristikum dualer Studiengänge identifizierten Begriff der „Verzahnung“ der Lernorte Hochschule und Praxis aufnimmt. In der Begründung zur Musterrechtsverordnung heißt es mit Bezug auf § 12 Abs. 6 MRVO: „Ein Studiengang darf als ‚dual‘ bezeichnet und beworben werden, wenn die Lernorte
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(mindestens Hochschule/Berufsakademie und Betrieb) systematisch sowohl inhaltlich als auch organisatorisch und vertraglich miteinander verzahnt sind“ (Kultusministerkonferenz, 2017, S. 21). Die Verwendung des Begriffs „duales Studium“ in diesem Beitrag folgt dem Systematisierungsvorschlag des Wissenschaftsrates und der Rahmensetzung der Musterrechtsverordnung. Das an der SRH in NRW ebenfalls angebotene berufsintegrierende Bachelorstudium Soziale Arbeit fällt hingegen nicht in die Kategorie „dual“, da die Praxismodule zwar inhaltlich mit den Studieninhalten verzahnt sind, jedoch keine vertraglichen Vereinbarungen mit Kooperationspartner existieren. Dieses Studienformat fordert zudem eine abgeschlossene Berufsausbildung als Zugangsvoraussetzung.
3 Das duale Studium Soziale Arbeit (B.A.) – Entwicklung und aktueller Stand Seit geraumer Zeit stehen Träger der Sozialen Arbeit, insbesondere die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD)1 der Kommunen, vor der Herausforderung, „Fachkräfte nicht nur gewinnen, sondern auch halten“ (Mühlmann, 2020, S. 11) zu müssen. Neben einem quantitativen Mangel an Fachkräften ist gleichzeitig festzustellen, dass frei werdende Stellen aufgrund unzureichender fachlicher oder persönlicher Qualifikationen häufig nicht nachbesetzt werden können. Vor dem Hintergrund des beginnenden Renteneintritts der geburtenstarken Jahrgänge wird sich die Situation noch weiter verschärfen (FuchsRechlin & Schilling, 2018). Als Gründe für die hohe Fluktuation und eine unzureichende Bewerbungslage führen Fachkräfte bspw. die mangelnde Wertschätzung der Tätigkeit in der Öffentlichkeit und eine zu geringe Vergütung an. Darüber hinaus zeigt sich in verschiedenen Untersuchungen der ASD, dass gestiegene Verwaltungsanforderungen und das Fallzahlaufkommen an sich zu hoher zeitlicher und auch psychischer Belastung der Fachkräfte führen (Kindler, 2018). Auch zeigt sich, dass die Einarbeitung neuer Mitarbeitender von den Fachkräften als unzureichend eingeschätzt wird (Beckmann et al., 2018). Die neuen Mitarbeitenden müssen zur Entlastung des Teams recht schnell in die Fallverantwortung. Dies erhöht wiederum das Belastungserleben und begünstigt Fluktuation. Organisationen der Sozialen Arbeit beschäftigt daher schon länger die Frage, wie neue Mitarbeitende gewonnen und auch gehalten werden können. In Praxis und Wissenschaft wird dabei das duale Studium als ein zentrales Instrument zur Fachkräftegewinnung und -sicherung diskutiert und erfreut sich zunehmender Beliebtheit auf Träger- und Studierendenseite (Belz & Hinssen, 2020, Hoffmeyer, 2020). Studierende schätzen diese Studienoption, da sie den Praxisbezug im dualen Modell gut verwirklicht sehen (Harmsen, 2014). Gab es im Wintersemester 2008/2009 erst ein duales Bachelor-
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vorliegenden Beitrag wird der Begriff „Allgemeiner Sozialer Dienst“ verwendet. Wenngleich die Begriffe Kommunaler oder Regionaler Sozialdienst teilweise synonym verwendet werden, hat sich der Begriff Allgemeiner Sozialdienst weitestgehend durchgesetzt.
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studium Soziale Arbeit der staatlichen Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) (826 Studierende), sind für das Wintersemester 2017/2018 entsprechende Angebote an elf Hochschulen zu verzeichnen (3678 Studierende) (Meyer, 2018). Aufgrund der skizzierten Entwicklung prognostiziert Meyer (2018, S. 301): „Das duale Studienmodell wird […] angesichts des starken Wachstums weiter an Bedeutung gewinnen“. Auch persönliche Gespräche der Autorin bzw. des Autors mit verschiedenen Verantwortlichen aus der Praxis, die bereits Erfahrungen mit dem dualen Studienmodell gesammelt haben, geben Anlass zur Annahme, dass sich der Aufwärtstrend fortsetzen wird. Duale Angebote werden vor allem in der Disziplin Sozialer Arbeit aber auch kritisch beäugt (beispielhaft Otto, 2018). Durchaus mit Recht, angesichts einiger Bestrebungen, Trägerinteressen, die der wissenschaftlichen Autonomie und Erfahrung widersprechen, durchzusetzen und die Studieninhalte funktional und einseitig auf die spezialisierten Bedarfe einzelner Handlungsfelder oder gar Arbeitgeber zuzuschneiden. Die von Otto (2018, S. 298) jedoch grundlegend geäußerte Kritik an dualen Studienmodellen, die zu „einem Ende der wissenschaftlich-systematischen Grundlegung einer modernen Sozialen Arbeit“ führten, ist zu pauschal. „Nicht die jeweilige Form, sondern die disziplinär verbindlichen Inhalte sind entscheidend“ (Böllert, 2020, S. 57) für eine professionalisierte Soziale Arbeit.
4 Das duale Studium Soziale Arbeit (B.A.) an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen Die SRH in NRW bietet seit dem Wintersemester 2015/16 ein Bachelorstudium der Sozialen Arbeit in drei Studienformaten an: regulär, dual, berufsintegrierend (jeweils 180 ECTS, 6 Semester). Im dualen Studium absolvieren die Studierenden vom ersten bis einschließlich fünften Semester im Blockmodell jeweils zunächst ein Theoriemodul (20 ECTS-Punkte), an welches sich ein inhaltlich darauf aufbauendes Praxismodul (10 ECTS-Punkte) anschließt. Innerhalb eines Theoriemoduls und zwischen Theorieund Praxismodulen sind Selbststudienzeiten vorgesehen. Im abschließenden sechsten Semester ersetzt die Bachelorarbeit das Praxismodul. Somit werden 50 von insgesamt 180 ECTS-Punkten in den Praxisphasen erbracht.2 Inhalt, Struktur und Organisation des Studiengangs wurden auf Grundlage der Empfehlungen des Wissenschaftsrats (2013) sowie des Positionspapiers der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) (2019) (weiter)entwickelt. Das Studium ist generalistisch angelegt, ausgerichtet am Kerncurriculum der DGSA (2016), sowie den vom Fachbereichstag Soziale Arbeit (FBTS) (2016) verabschiedeten Kompetenzzielen.
2 Im
berufsintegrierenden Studium umfassen die Praxismodule ebenfalls 50 ECTS-Punkte, das reguläre Studium sieht drei Praxismodule mit jeweils 10 ECTS-Punkten vor.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung …
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5 Theorie-Praxis-Relationierung im dualen Studium Anwendungsbezogenheit gilt gemeinhin als besonderes Spezifikum von Studiengängen an Fachhochschulen. Entsprechend sind die hier traditionell angebotenen Studiengänge durch einen hohen Praxisanteil in Form von Praktika gekennzeichnet. Für das Studium der Sozialen Arbeit gilt das noch einmal in besonderem Maße, da die für das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe zumeist unabdingbare staatliche Anerkennung in Nordrhein-Westfalen den Nachweis von mindestens 100 Vollzeittagen in angeleiteter Praxis verlangt (§ 2 Abs. 2 SobAG). Studierende der Sozialen Arbeit sind aufgrund dieser hohen Praxisnähe früh mit der Aufgabe der Verknüpfung der beiden eigenständigen, jedoch wechselseitig aufeinander bezogenen Bereiche Disziplin und Profession konfrontiert, was dann in Modulhandbüchern und Studiengangbeschreibungen oft als Theorie-Praxis-Transfer oder Theorie-Praxis-Vermittlung bezeichnet wird. Derartige „Vermittlungs- und Transfervorstellungen“ (Dewe, 2012, S. 111) verkennen die Eigenlogik und Komplexität der Wissensbestände der Disziplin wie auch der Profession. Soziale Arbeit ist keine angewandte Praxis, die wissenschaftliches Wissen anwendet i. S. v.: Wenn Problem X vorliegt, bringt Konzept Y beruhend auf Theorie Z mit hoher Wahrscheinlichkeit die erwünschte Lösung. Die Theorie-Praxis-Vermittlung in der Sozialen Arbeit wird angemessener mit dem Gedanken der Relationierung der Handlungssysteme Disziplin und Profession erfasst. Relationierung meint, dass diese Handlungssysteme gleichwertig zueinander in Bezug gesetzt werden (von Spiegel, 2013). Professionelles Handeln stützt sich demnach zwar auf wissenschaftliches Wissen, lässt sich aber nicht nach dem Muster wissenschaftlicher Forschungsprozesse ordnen. Ein reflexives Konzept der Ausbildung von Fachkräften der Sozialen Arbeit geht entsprechend davon aus, dass sozialarbeiterische Handlungskompetenz nicht allein an Hochschulen erworben werden kann. Wohl aber kann eine auf wissenschaftlichem Wissen beruhende „Beobachtungs- und Beurteilungskompetenz“ (Dewe, 2012, S. 115) vermittelt werden, die es Studierenden ermöglicht, neue und alternative Perspektiven und Beurteilungen auf Situationen und Probleme der Berufspraxis zu entwickeln, bspw. durch Rekonstruktion von Fallgeschichten und Methoden forschenden Lernens. Auf diese Weise entwickelt sich Professionswissen: Professionelles Wissen wird in dieser Konzeption als ein eigenständiger Bereich aufgefasst zwischen praktischem Handlungswissen, mit dem es den permanenten Entscheidungsdruck teilt, und dem systematischen Wissenschaftswissen, mit dem es einem gesteigerten Begründungszwang unterliegt. Im professionellen Handeln begegnen sich wissenschaftliches und praktisches Handlungswissen und machen die Professionalität zu einem Bezugspunkt …. Aus dieser Kennzeichnung professionalisierten Handelns ergibt sich zwingend, dass sich eine Realisierung nur außerhalb des Bereichs deduktiver Theorieanwendung und Technologisierung, aber auch nur jenseits bürokratischer Handlungsmaximen vollziehen kann (Dewe & Otto, 2015, S. 1253).
Für die curriculare Gestaltung eines dualen Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit folgt daraus, dass die Lernorte Hochschule und Praxis wechselseitig aufeinander bezogen werden müssen. Die Reflexion der Praxisphasen muss auf persönlicher Ebene und auf theoretischer
170
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Ebene erfolgen. Zudem müssen die sozialen Probleme, mit denen Studierende in der Praxis konfrontiert werden, kontextualisiert werden: Wo kann ich aktiv werden, wo liegen die Grenzen? An welchen Ebenen kann ich kurzfristig (bspw. in konkreter Interaktion in Beratungskontexten) ansetzen (Mikro-Ebene), an welchen Ebenen muss langfristig und präventiv angesetzt werden (Sozialraum, Gesellschaft – Meso- und Makro-Ebene)? Im dualen Studium an der SRH in NRW wird dies durch eine enge strukturelle und inhaltliche Verzahnung der Lernorte Hochschule und Praxis umgesetzt. Auf struktureller Ebene schließen Hochschule und Praxispartner Kooperationsverträge. Inhaltlich sichern die Praxispartner den Dualstudierenden eine fachlich qualifizierte Anleitung zu. Angelehnt an die Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Praxisreferate an (Fach-)Hochschulen für Soziale Arbeit zur Praxisanleitung (BAG, 2019) wurden hierzu vom Fachbereich entsprechende Richtlinien für die Einrichtungen entwickelt. Die Kooperationsverträge legen zudem fest, dass die Erstauswahl der Studierenden durch die Praxispartner erfolgt, die Hoheit über den gesamten Auswahlprozess der Studierenden aber bei der Hochschule liegt. Ein weiterer fester Bestandteil der Kooperation ist das regelmäßige Praxispartnertreffen als Forum für Austausch, Ideensammlung und kritische Reflexion. Am Lernort Hochschule wird die Theorie-Praxis-Relationierung im Rahmen von Lehrveranstaltungen mit Praxisbezug, Reflexionstagen an der Hochschule während der Praxisphasen und Portfolioarbeit vorgenommen. Das Portfolio beinhaltet zum einen selbstreflexive Elemente, bspw. in Form von Lerntagebüchern und Fallarbeiten, in denen Studierende ihre Praxiserlebnisse anhand gezielter Fragen versprachlichen und so persönliche Reflexionsprozesse in Gang bringen. Zum anderen umfasst das Portfolio einen nach Standards des wissenschaftlichen Arbeitens zu verfassenden Praxisbericht, in dem die Studierenden die in der Praxis gesammelten Erfahrungen in Bezug setzen zu dem in dem vorhergehenden Theoriemodul erworbenen wissenschaftlichen Wissen. Durch das Einbringen des wissenschaftlichen Wissens im Bericht erfolgt eine Perspektiverweiterung. Eine Untersuchung der DHBW deutet darauf hin, dass gerade die Praxiserfahrungen im dualen Studium Soziale Arbeit „die theoretisch-fachliche Auseinandersetzung an der Hochschule bereichern und ein vertieftes Verständnis der Theorien ermöglichen“ (Rahn & Meyer, 2019, S. 220). Vor dem Hintergrund, dass aktuelle Untersuchungen (Brielmaier, 2019; Ghanem et al., 2018; James et al., 2019) Ergebnisse aus den 1990er Jahren3 bestätigen und zeigen, dass die Handlungspraxis von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Regel kaum theorie- oder empirieinformiert ist, ein beachtenswerter Befund. Die seit dem Wintersemester 2015/2016 gesammelten Erfahrungen mit dem dualen Studium an der SRH in NRW haben auch Grund zur Annahme gegeben, dass die vorgenommene Verzahnung zwischen praktischem Hand-
3 Bereits
Ende der 1990er Jahre sind Ackermann & Seeck (1999) und Thole & Küster-Schapfl (1997) zu dem Ergebnis gekommen, dass Wissensbestände aus dem Studium der Sozialen Arbeit keine Handlungsmuster in der Praxis generieren.
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lungswissen und systematischem wissenschaftlichem Wissen in hohem Maße zur Aneignung bzw. Vertiefung des professionellen Wissens beiträgt. Auch gab es Grund zur Annahme, dass der befürchteten unreflektierten Übernahme von Handlungsroutinen und einer vorschnellen Fixierung auf die Praxis im dualen Studium (Voigtsberger, 2019) erfolgreich entgegengewirkt werden kann. Die sich semesterweise wiederholende Theorie-Praxis-Relationierung scheint Studierende in hohem Maße dazu zu befähigen, akademisches Wissen und berufspraktisches Handeln eng zu verzahnen und somit professionell mit komplexen und oft widersprüchlichen Erfahrungen der sozialarbeiterischen Praxis umgehen zu können. Die Studierenden selbst melden zurück, dass ihre frühe Einbindung in kollegialen Austausch, kollegiale Beratung und Supervision die reflexive Auseinandersetzung mit dem Tätigkeitsbereich und die Bindung an denselben unterstützt. Auch das Belastungserleben scheint gering ausgeprägt zu sein. Darüber hinaus weisen die Rückmeldungen der Praxispartner und Absolvierenden darauf hin, dass das duale Modell insbesondere zu einer gelingenden Berufseinmündung beiträgt. Zu den vorgenannten Aspekten fehlen jedoch bislang belastbare empirische Erkenntnisse. Um dem entgegenzuwirken, wurde eine Befragung von Studierenden und Absolvierenden aller Studienformate der Sozialen Arbeit an der SRH in NRW geplant und durchgeführt.
6 Methode An der im Wintersemester 2020/2021 durchgeführten Online-Befragung4 nahmen 825 Personen teil. Knapp 80 % sind weiblich. Das Alter der Befragten liegt zwischen 19 und 52 Jahren (wobei 67 % der Personen 19 bis 26 Jahre alt sind). Die Verteilung auf die verschiedenen Studienformate (43 % dual, 27 % berufsintegrierend, 30 % regulär) spiegelt annähernd die reale Verteilung der Studierenden an der SRH in NRW auf die Formate im Studiengang Soziale Arbeit wider. 19 der Teilnehmenden sind Alumni. Der Anteil Studierender mit Migrationsvorgeschichte ist unter den berufsintegrierend Studierenden deutlich höher im Vergleich zu den Studierenden der anderen Formate. 43 % der Väter und 38 % der Mütter wurden im Ausland geboren.6
4 Die
Befragung wurde mit EFS-Survey geplant und durchgeführt. Der Fragebogen umfasste 30 Seiten, die durchschnittliche Dauer der Bearbeitung lag bei 21 min. Alle Skalen sind, wenn nicht anders angegeben, fünfstufig Likert-skaliert, von 1 „trifft gar nicht zu“ bis 5 „trifft voll und ganz zu“. 5 Von insgesamt 321 angeschriebenen Personen haben 140 Personen die Einladung zur OnlineBefragung angenommen. Wiederum 30 Personen haben die Befragung direkt nach Durchlesen der Willkommensseite abgebrochen, weitere Abbrüche von 28 Personen erfolgten im Verlauf der Befragung. Insgesamt haben somit 82 Personen die Befragung vollständig abgeschlossen. Die Rücklaufquote lag bei 58,6 %. 6 Bei den regulär Studieren 17 % der Väter und 9 % der Mütter im Ausland geboren, bei den dual Studierenden 12 % der Väter und 6 % der Mütter.
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Im Rahmen der Befragung wurde ein besonderes Augenmerk auf folgende Aspekte gelegt: vermittelte/vertiefte Kompetenzen, Wissensbestände und Haltungen sowie Theorie-Praxis-Relationierung; Rahmenbedingungen der Arbeit; Bleibeperspektive/absicht und Identifikation mit dem Arbeitsfeld. In Anlehnung Böllert (2020, S. 37), die darauf hinweist, dass „nicht die jeweilige Form, sondern die disziplinär verbindlichen Inhalte entscheidend sind“ war die Annahme forschungsleitend, dass sich keine Unterschiede zwischen den Studierendengruppen der verschiedenen Formate in den untersuchten Skalenbereichen nachweisen lassen. Im nachfolgenden Kapitel folgt die Ergebnisdarstellung.
7 Ergebnisse Die geringe Gruppengröße in den einzelnen Formaten lässt inferenzstatistische Analysen zum gegebenen Zeitpunkt nicht zu, weswegen die folgende Darstellung auf deskriptiver Ebene bleibt. Es ist jedoch angedacht, den Datenkorpus stetig zu erweitern, um mit einem größeren Datensatz inferenzstatistische Auswertungen vornehmen zu können.
7.1 Motive der Studienwahl Die Studierenden wurden gefragt, welche Motive ihrer Studienwahl zugrunde liegen7. Hier zeigen sich keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Gruppen. Bei den Studierenden aller Formate dominieren intrinsische und soziale Motive wie „Die Berufstätigkeit in der Sozialen Arbeit entspricht meinen Begabungen“ (M = 4.47; SD = .62) und „Ich möchte Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungen nehmen“ (M = 4.19; SD = .74) vor extrinsischen Motiven wie „Ich möchte gute Verdienstchancen erreichen“ (M = 3.49; SD = 1.12).
7.2 Im Studium erlernte oder vertiefte Wissensbestände, Kompetenzen und Haltungen Die Befragten aller Formate wurden gebeten anzugeben, inwiefern bestimmte Kompetenzen, Wissensbestände, Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Haltungen im Studium vermittelt, erweitert oder vertieft wurden.8 Jede der sieben Skalen besteht aus drei Items.
7 Die
Items wurden an eine Befragung von Mühlmann (2010) angelehnt. Moch (2013). Die Items sind an den Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit angelehnt. Jede der sieben Skalen besteht aus drei Items.
8 Nach
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5,00
4,00
3,00
2,00
1,00
Wissen und Verstehen
Beschreibung, Analyse und Bewertung
Planung und Recherche und Organisaon, Professionelle Persönlichkeit Konzepon Forschung Evaluaon und Haltungen Durchführung regulär
dual
berufsintegrierend
Abb. 1 Im Studium erlernte/vertiefte Wissensbestände, Kompetenzen und Haltungen. (Darstellung der Mittelwerte in den drei Formaten)
Hierbei zeigt sich, dass die Selbsteinschätzung über alle Formate hinweg recht hoch ausfällt (Abb. 1). Die Mittelwerte über alle Gruppen hinweg liegen zwischen M = 3,52 (SD = .64) im Bereich Recherche und Forschung und M = 4,19 (SD = .72) im Bereich professionelle Haltungen. Optisch zeigen sich sehr geringe Unterschiede zwischen den Gruppen. Dieser Befund kann dahingehend gedeutet werden, dass der Kompetenzerwerb in den verschiedenen Formaten vergleichbar ist, weswegen die formulierte Skepsis gegenüber dem dualen Studiengangsprofil nicht angebracht erscheint.9
7.3 Vorbereitung auf die Praxis im Studium Auch die Antworten auf die Fragen danach, inwieweit das Studium auf eine Tätigkeit in der Praxis der Sozialen Arbeit vorbereitet10, weisen hohe Zustimmungswerte über die drei Formate hinweg auf (Abb. 2). Die Mittelwerte rangieren zwischen M = 3,55 (SD = .92) („Mein Studium bereitet mich gut auf die Verfahrensabläufe zur Sicherstellung des Kindeswohls vor bzw. hat mich gut darauf vorbereitet“) und M = 4,00 (SD = .86) („In meinem Studium findet/fand eine enge Relationierung von Theorie und
9 Dieser
Befund gilt vorbehaltlich der Annahme, dass sich auch in späteren inferenzstatistischen Prüfungen mit einer größeren Stichprobe die gefundenen Unterschiede als zufällig und nicht signifikant herausstellen werden. 10 Die Formulierung der unteren vier Items erfolgte in Anlehnung an Klomann (2014).
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Mein Studium bereitet mich gut auf die Verfahrensabläufe zur Sicherstellung des Kindeswohls vor bzw. hat mich gut darauf vorbereitet. Mein Studium bereitet mich gut auf den Umgang mit komplexen Problemlagen bei den Adressat*innen vor bzw. hat mich gut darauf vorbereitet. In meinem Studium findet/fand eine enge Relaonierung von Theorie und Praxis sta. In meinem Studium lerne/lernte ich Theorien der Sozialen Arbeit kennen, die mir als Grundlage für mein Handeln dienen. Die Gestaltung einer professionellen Helfer*innenAdressat*innen-Beziehung ist/war wesentlicher Bestandteil des Studiums. Im Studium habe/hae ich die Möglichkeit, mich intensiv mit verschiedenen Handlungsfeldern auseinanderzusetzen. Das im Studium Gelernte stellt eine gute Basis für die praksche Arbeit dar. Ich fühle/fühlte mich durch das Studium insgesamt sehr gut auf eine Tägkeit in der Praxis der Sozialen Arbeit vorbereitet. 1,00 berufsintegrierend
2,00 dual
3,00
4,00
5,00
regulär
Abb. 2 Vorbereitung auf eine Tätigkeit in der Praxis der Sozialen Arbeit durch das Studium. (Darstellung der Mittelwerte in den drei Formaten)
Praxis statt“). Die Unterschiede zwischen den Gruppen fallen auch hier gering aus und sprechen dafür, dass die drei Formate in vergleichbarer Weise auf die Handlungspraxis vorbereiten.
7.4 Verweildauer im Arbeitsfeld Die Fragen dieser Rubrik und die Fragen der Abschn. 5.6 bis einschließlich 5.7 wurden nur den dual und berufsintegrierend Studierenden sowie den Alumni gestellt. Die dual und berufsintegrierend Studierenden bzw. Alumni wurden danach gefragt, wie lange sie im aktuellen Handlungsfeld zu verbleiben gedenken. 52 % der befragten
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung …
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Wenn ich noch einmal von vorne anfangen würde, würde ich mich wahrscheinlich für einen anderen Beruf entscheiden. Ich fühle mich in meiner Einrichtung wohl. Ich suche gegenwärg nach einer anderen Beschäigung bei einem anderen Arbeitgeber/in einem anderen Handlungsfeld. Ich verspüre eine hohe Idenfikaon mit dem Aurag des Handlungsfeldes und den rechtlichen und fachlichen Grundlagen. Bei einem arakven Angebot (Gehalt, Tägkeit, etc.) in einem anderen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit häe ich kein Problem damit, zu wechseln. Ich habe mich bewusst für eine Tägkeit im aktuellen Handlungsfeld entschieden. 1,00 berufsintegrierend
2,00
3,00
4,00
5,00
dual
Abb. 3 Identifikation mit dem Handlungsfeld. (Darstellung der Mittelwerte in den Formaten dual und berufsintegrierend)
dual Studierenden und 62 % der berufsintegrierend Studierenden geben an, „so lange wie möglich/unbegrenzt“ im aktuellen Feld verbleiben zu wollen. Nur 15 % der dual und 29 % der berufsintegrierend Studierenden gaben an, „nicht länger als nötig“ im Feld verbleiben zu wollen. Die noch verbleibenden nahmen unter „Sonstiges“ Eintragungen konkreter Jahre vor, bspw. „2–4 Jahre“, „ca. 5 Jahre“ oder tätigten Eingaben wie „bis zur eigenen Familiengründung“ oder „zumindest über die Projektdauer von 3 Jahren“. Der Befund zeigt eindeutig, dass sich das duale Studium als Instrument zur Fachkräftegewinnung und -sicherung sehr gut eignet.
7.5 Identifikation mit dem Handlungsfeld Auch die Antworten auf die Identifikation mit dem Handlungsfeld11 fallen bei den Befragten sehr hoch aus (Abb. 3). Die Zustimmungswerte liegen gemittelt über beide Gruppen zwischen M = 3,91(SD = 1.25) („Ich habe mich bewusst für eine Tätigkeit im Handlungsfeld entschieden“) und M = 4,39 (SD = .86) („Ich fühle mich in meiner
11 Die
Formulierung der Items erfolgte in Anlehnung an Klomann (2014).
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Meine Arbeit wird von der Gesellscha anerkannt. Die Qualitätsstandards meines Arbeitsbereiches erachte ich als fachlich sinnvoll. Ich erlebe meine tägliche Arbeit als sinnvoll und bedeutsam. Veränderungen und neue Herausforderungen bei meiner Arbeit kann ich gut bewälgen. Ich bin für die Erledigung meiner täglichen Aufgaben gut qualifiziert. Ich kann bei meiner Arbeit mein Wissen und Können voll einsetzen. Meine Arbeit gibt mir die Möglichkeit, Aufgaben in Gänze durchzuführen. Ich kann den Ablauf meiner Arbeit selbständig planen und einteilen. Ich habe Einfluss darauf, welche Arbeit mir zugeteilt wird. 1,00 berufsintegrierend
2,00
3,00
4,00
5,00
dual
Abb. 4 Qualifikation, Sinnhaftigkeit und Handlungsspielräume. (Darstellung der Mittelwerte in den Formaten dual und berufsintegrierend)
Einrichtung wohl“), die Unterschiede zwischen den Gruppen fallen gering aus. Auch dieser Befund stärkt die Annahme, dass das duale Studium als Instrument der Fachkräftegewinnung und -sicherung greift.
7.6 Aussagen zu Handlungsspielräumen, Sinnhaftigkeit und Qualifikation für die eigene Tätigkeit Studierende beider Gruppen schätzen die Handlungsspielräume, die mit ihrer Tätigkeit verknüpft sind, die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit und ihre eigene Qualifikation für diese Tätigkeit hoch ein (Abb. 4)12. Über beide Gruppen gemittelt liegen die Zustimmungswerte zwischen M = 3,23 (SD = .95) („Meine Arbeit wird von der Gesellschaft anerkannt“) und M = 4,33 (SD = .93) („Ich erlebe meine tägliche Arbeit als sinnvoll
12 Die Formulierung der Items ist der Arbeitshilfe zur Erhebung psychischer Belastungen im Sozial- und Erziehungsdienst (ver.di 2010) entnommen.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung …
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und bedeutsam“). Auch die Zustimmung zu dem globalen Item „Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig – alles in allem – mit Ihrer Arbeit?“ fällt mit M = 3,91 (SD = .96) in der Gruppe dual und M = 4,10 (SD = 1.00) in der Gruppe berufsintegrierend sehr hoch aus. Insgesamt fällt hier auf, dass die Zustimmungswerte der berufsintegrierend Studierenden gegenüber den dual Studierenden erhöht sind.13 Dies könnte auf die längere Berufstätigkeit im Feld und den damit einhergehenden höheren Grad der Verantwortungsübernahme bei berufsintegrierend Studierenden zurückzuführen sein.
7.7 Aussagen zu inhaltlichen, zeitlichen und emotionalen Anforderungen der Tätigkeit sowie Störfaktoren Die Antworten auf die Fragen nach Anforderungen und Störfaktoren in der Arbeitstätigkeit14 fallen wenig besorgniserregend aus (Abb. 5). Die Aussage: „Das Arbeitsaufkommen ist insgesamt kaum noch zu bewältigen“ wird zum Beispiel von den Studierenden über beide Gruppen gemittelt eher abgelehnt (M = 2,28; SD = 1.00). Auch die Zustimmung zu Unterbrechungen auf der Arbeit fällt gering aus: „Ich werde bei meiner eigentlichen Arbeit immer wieder unterbrochen“ (M = 2,43; SD = 1.10). Nur wenigen Studierenden in beiden Gruppen fällt es schwer, nach der Arbeit abzuschalten (M = 2,07; SD = 1.01), wenngleich hier die Zustimmung bei den berufsintegrierend Studierenden gegenüber den dual Studierenden etwas höher ausfällt.
8 Ausblick Das duale Studium Soziale Arbeit (B.A.) hat sich im vergangenen Jahrzehnt auch für die Soziale Arbeit als eine innovative Möglichkeit der Gewinnung von Fachkräften etabliert, trotz Bedenken von Seiten der Disziplin. Die Diskussion über das duale Studium bewegt sich allerdings noch auf recht dünner empirischer Basis. An der SRH in NRW wurden daher im Wintersemester 2020/2021 Bachelorstudierende der Sozialen Arbeit zu ihrem sozialen Profil, ihren Fähigkeiten und Wissensbeständen sowie Berufsperspektiven und Herausforderungen der Praxis befragt. Die Analyse der Befragung zeigt unter anderem, dass duale Studiengänge tatsächlich zur Fachkräftegewinnung und insbesondere auch
13 Auch dieser Befund muss zukünftig anhand einer größeren Stichprobe inferenzstatistisch überprüft werden. 14 Die Formulierung der Items ist der Arbeitshilfe zur Erhebung psychischer Belastungen im Sozial- und Erziehungsdienst (ver.di 2010) entnommen.
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Personal fällt häufig aus, was zur Überlastung Einzelner führt. Ich werde bei meiner eigentlichen Arbeit immer wieder unterbrochen. O stehen mir die benö gten Informa onen, Materialien und Arbeitsmiel nicht zur Verfügung. Mir fällt es schwer, nach der Arbeit abzuschalten. Bei meiner Arbeit verspüre ich Druck, der durch die Öffentlichkeit und die Medien erzeugt wird. Bei meiner Arbeit kommt es o vor, dass ich belastende Situa onen aushalten muss. Durch meine viele Arbeit kommt es zu Einschränkungen in meinem Privatleben. Der Aufwand für Dokumenta on/Verwaltung ist zu hoch und steht nicht im Verhältnis zur direkten Arbeit mit den Klient*innen. Das Arbeitsauommen ist insgesamt kaum noch zu bewäl gen. Es gibt o Situa onen, bei denen ich eine hohe Verantwortung habe. Meine tägliche Arbeit erfordert ein hohes Maß an Stressregula on. Bei meiner Arbeit gibt es Dinge, die sehr schwierig und komplex sind. 1,00 berufsintegrierend
2,00
3,00
4,00
5,00
dual
Abb. 5 Inhaltliche, zeitliche, und emotionale Anforderungen und Störfaktoren. (Darstellung der Mittelwerte in den Formaten dual und berufsintegrierend)
zur Fachkräftebindung beitragen können. Zudem zeigt sich, dass das Belastungserleben dual Studierender gering ausfällt. Das sind erste Indizien dafür, dass sich mit dem dualen Studium Soziale Arbeit ein zukunftsträchtiges Studienmodell etabliert. Die geschilderten Befunde bewegen sich allerdings aktuell noch auf deskriptiver Ebene. Inferenzstatistische und Längsschnitt-Analysen bleiben erforderlich, um die Ergebnisse zu erhärten und zu vertiefen. Mit dem hier vorgestellten Erhebungsverfahren liegt ein bewährtes Instrument vor, das die Gewinnung von Befragungsdaten für entsprechende Analysen ermöglicht.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung …
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Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung …
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Prof. Dr. Johannes Emmerich, Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., ist seit Wintersemester 2021/22 Professor für Grundlagen und Handlungskonzepte der Sozialen Arbeit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Zuvor war er fünf Jahre Professor für Soziale Arbeit an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Vier Jahre verantwortete er als Dekan u. a. die Etablierung und Weiterentwicklung des dualen Bachelorstudiengangs am Fachbereich Sozialwissenschaft. [email protected]
Prof. Dr. Janine Linßer, Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., ist seit Wintersemester 2021/2022 Professorin für Wissenschaftliche Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Hochschule Augsburg. Von April 2018 bis Juni 2021 war die Autorin Professorin für Soziale Arbeit an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Sie war Studiengangleitung des berufsintegrierenden Studiengangs und hat die qualitative Weiterentwicklung des dualen Studiengangs mit verantwortet. [email protected]
Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit Bernd Benikowski und Johannes Emmerich
Eine moderne Gesellschaft ist ohne ständige Innovationen kaum vorstellbar. Die aktuellen großen Herausforderungen wie etwa der Klimawandel verlangen neue Ideen und Abkehr von altgewohnten Denkweisen. Innovation ist dabei nicht nur ein technischer Prozess, sondern bezieht die betroffenen Menschen als Gestalterinnen und Gestalter, Anwenderinnen und Anwender oder Nutzerinnen und Nutzer unmittelbar in den Entwicklungsprozess mit ein. Streng genommen ist Innovation selten ein rein technischer Prozess. In der Anwendung oder auch der Verweigerung zeigen sich die individuellen Interessen aus der subjektiven menschlichen Perspektive. Menschen früh an innovativen Entwicklungen zu beteiligen, ihre Kreativität und ihr Engagement einzubeziehen wird als soziale Innovation bezeichnet. Der Entwicklungsimpuls geht von Menschen aus und wird nicht von technischen Restriktionen vorbestimmt. „Wer an „Innovationen“ denkt, stellt sich meist technische Innovationen vor. Wenn es darum geht, wie unsere Mobilität umweltschonender, Krankheiten weniger bedrohlich oder die Energiewende erfolgreicher werden sollen, suchen die meisten nach technischen Lösungen, anstatt neue soziale Praktiken zu entwickeln und Lebensstile zu verändern. Ein einseitig nur auf Technologie ausgerichtetes Innovationsverständnis begrenzt jedoch das Lösungsspektrum. Ohnehin sind komplexe Probleme mit technischen Innovationen
B. Benikowski (*) SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Emmerich FliednerFachhochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_11
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allein nicht zu lösen. Bildung, gesellschaftliche Integration und gute Arbeit brauchen vor allem neue Denkweisen (Change of Mentalities) und verändert Praktiken“ (Howaldt, 2021). Im folgenden Artikel werden Forschungskonzepte vorgestellt, die Fragen sozialer Veränderung thematisieren und in unterschiedlicher Weise die jeweils betroffenen Menschen bzw. Personengruppen methodisch einbeziehen. Es ist notwendig, die Perspektive von Anwendern und Anwenderinnen, von Nutzern und Nutzern in die Entwicklung von Lösungen unmittelbar und stärker zu berücksichtigen. Im ersten Beispiel wird ein Forschungskonzept vorgestellt, das die Veränderung von Sozialräumen durch neue Mobilitätsbedarfe aufgreift. Das zweite Beispiel bezieht sich auf eine neue Perspektive der Entwicklung von Weiterbildungsarchitekturen in Betrieben. Abschließend wird das Konzept eines digitalen Innovationsworkshops im Handlungsfeld geriatrischer Versorgung vorgestellt. Digitale Transformation von Stadtteilzentren zur Verbesserung sozialer und kultureller Teilhabe – Beispiel 1 Mobilität ist ein zentrales Wesensmerkmal moderner Gesellschaften und führt dazu, dass der tradierte und der individuelle sozial vernetzte Sozialraum von vielen Menschen verlassen wird und neue soziale Bezüge geschaffen werden müssen. Menschen, die wandern, haben eine biographische und kulturelle Geschichte sowie soziale Bezüge, die sie aufgeben. Dies hat Auswirkungen auf die Lebensqualität in den verschiedenen Sozialräumen, unabhängig davon, ob sie aufgrund weltweiter Migrationsbewegungen oder durch Binnenmigration entstehen. Auf der einen Seite kann diese Mobilität zwar die Employability des Individuums erhöhen, auf der anderen Seite entstehen aber auch zunehmend Prozesse der Entwurzelung, Isolation und ein neues arbeits- und karriereorientiertes Nomadentum. Im Kontext der neuen digitalen Medien geht es im Verständnis von Sozialraum vermehrt auch um immaterielle globale Welten, den Cyberspace und das „globale Dorf“ als Raumerweiterungen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang daher auch ein breites Verständnis des öffentlichen Raums (z. B. dynamischer Raumbegriff nach Löw, 2000). Neben den Chancen einer mobilen Gesellschaft dürfen diese Probleme und Herausforderungen nicht übersehen werden, da Vereinzelungsbiographien auch in extremen Verhaltensweisen oder Orientierungen münden können. So gibt es in Japan eine wachsende Gruppe von jungen Menschen, die die eigene Wohnung nicht mehr verlässt (Hikikomori-Phänomen) und nur über das Internet nach außen kommuniziert. In einer zukünftigen Gesellschaft wird es daher zunehmend an Bedeutung gewinnen, die gewachsenen sozialen Traditionen und Beziehungsgefüge mit den Anforderungen nach Mobilität und Wohnortwechsel zu verbinden. Die Überlegungen gelten in gleicher Weise für Menschen in Stadt und Land, die aufgrund ihrer sozialen Verwurzelung ihren Sozialraum nicht verlassen möchten oder sich mit der Welt außerhalb des Herkunftsortes nicht verbunden und eher vernachlässigt fühlen. Zu berücksichtigen sind hierbei auch Aspekte, die einen Ort besonders lebenswert machen. Ein gutes Kulturangebot wird hierbei von
Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit
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knapp der Hälfte der Befragten als Aspekt für Lebensqualität genannt (Vgl. Horizont 2019). Menschen suchen Orte der Begegnung und soziale Kontakte. Ein als Begegnungsort und Anlaufstelle für Alle verstandenes Stadtteilzentrum (synonym: Gemeinde-, Nachbarschafts-, soziokulturelles Zentrum) kann es ermöglichen, verschiedene Kulturen, Religionen, Generationen und politische Überzeugungen zu verbinden, ohne unterschiedliche Traditionen und Prägungen aufzugeben. Ein Projekt als soziale Innovation sollte, hiervon ausgehend, dazu dienen, lebendige Treffpunkte für Menschen aller Generationen und Herkunft (weiter) zu entwickeln, in denen alle aus der Nachbarschaft willkommen sind und Raum finden, sich zu treffen. Diese Treffpunkte verstehen sich hierbei als Orte des Austausches zwischen Menschen aller Generationen, sozialen Schichten und biografischer Herkunft. Sie liefern damit einen sozial innovativen Handlungsansatz, wie – auch unterstützt durch den Einsatz digitaler Technologien – Zusammenhalt und soziale Teilhabe vor Ort chancengleich gestärkt werden können, um soziale Disparitäten zu reduzieren bzw. zu verhindern. Allerdings sind die Stadtteilzentren immer noch als physikalischer Ort im Sozialraum präsent: Begegnungen, Austausch, Kontakt und Gestaltungs- und Kulturangebote finden im Zentrum statt. Menschen in einer mobilen Gesellschaft nutzen zunehmend digitale Kommunikationskanäle. Der Sozialraum des einzelnen Menschen ist nicht mehr ausschließlich geographisch definiert, sondern spielt sich auch in einem digitalen Raum über digitale Medien ab. Durch eine digitale Transformation der Stadtteilzentren können mobile Menschen unabhängig von ihrem aktuellen Ort am Leben im Sozialraum teilhaben. Im Rahmen eines sozialinnovativen Projektes sollten folgende Bereiche erforscht, entwickelt und modellhaft erprobt werden: • Digitale Zugänge: Neue Formen der Kontaktaufnahme und Bildung von Interessensund Bedarfsgruppen (Avatare, virtuelle Führungen etc.). • Digitale Begegnungen: Neue Formen der Begegnung, der Interaktion und des Austausches (3-D-Szenarien, Gaming, Virtuell Reality, Simulations-Stammtisch etc.). • Digitale kulturelle Teilhabe: Entwicklung neuer Formen kultureller Veranstaltungen in hybriden Räumen (Hybride Theater und Videoangebote, Szenische Darstellungen mit Hologrammen, VR etc.). Die im Rahmen des Projekts zu entwickelnden sozialen Innovationen zielen darauf ab, die Chancen auf soziale und kulturelle Teilhabe in einem dynamisch-digitalen Sozialraum zu verbessern. Der Sozialraum wandelt sich in modernen Gesellschaften: Er wird dynamischer aufgrund zunehmender Mobilität und er wird digital erweitert. Mit digitaler Erweiterung des Sozialraums ist gemeint, dass soziale Beziehungen und soziale Verortungen parallel im virtuellen Raum stattfinden oder sogar gänzlich dorthin verlagert werden. Soziale Innovationen der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit müssen dieser Entwicklung Rechnung tragen. Zielgruppe des Projekts sind Mitglieder eines
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Sozialraums, deren Teilhabemöglichkeiten aufgrund vielfältiger Gründe erschwert werden: altersbedingte Mobilitätseinschränkungen, arbeitsplatzbedingte räumliche Mobilitätanforderungen, fehlende ökonomische Ressourcen, milieu- und herkunftsbedingte Kommunikationsmuster, die nicht immer den Mustern der Angebotsstrukturen entsprechen, u. v. m. Konkret verfolgt das Projekt die folgenden Ziele: Teilhabechancen für alle Mitglieder eines Sozialraums verbessern Sozialräume sind in unterschiedlichem Maße von Vielfalt und sozialer Ungleichheit geprägt. Der Erfolg sozialer Innovationen und damit auch das Ziel dieses Projekts bemessen sich daran, inwiefern es gelingt, gleiche Teilhabechancen zu ermöglichen. Die sozialen Innovationen müssen so gestaltet werden, dass die Nutzung nicht durch milieubedingte Unterschiede insbesondere in der Ressourcenausstattung und im Kommunikationsverhalten erschwert wird. Positiv gewendet: Ziel ist es, diversitätssensible Innovationen zu entwickeln, die stigmatisierungsfrei soziale und kulturelle Teilhabe ermöglichen. Identitätsstiftung und Zugehörigkeit: Der Sozialraum wirkt identitätsstiftend und entspricht dem Bedürfnis von Menschen nach Zugehörigkeit. Diese Funktionen kann potenziell auch ein dynamischer und digital erweiterter Sozialraum übernehmen. Ziel des Projekts ist es zu eruieren, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit diese zentrale Funktion des Sozialraums bewahrt werden kann. Digitale Transformation von Stadtteilzentren: neue Formen der Kontaktaufnahme und digitale Begegnungsräume: Gemeinde- und Stadtteilzentren bilden den institutionellen Kern einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit. Sie erfüllen eine elementare Integrations- und Bindungsfunktion in städtischen wie auch in ländlichen Sozialräumen. Ziel des Projekts ist es, Konzepte für die digitale Transformation der Stadtteilzentren zu entwickeln. Es werden innovative Ansätze erarbeitet und erprobt, mit denen die Stadtteilzentrumsarbeit auf die veränderten Rahmenbedingungen eines dynamisch-digitalen Sozialraums reagieren kann und die Teilhabe am Sozialraum auch für mobile Menschen ermöglicht, die aufgrund beruflicher Mobilität selten im physischen Sozialraum präsent sind. Dazu zählen neue digitale Formen der Kontaktaufnahme und neue digitale Räume der Begegnung und Interaktion. Neue digitale Formate der kulturellen Teilhabe: Die digitale Transformation des Sozialraums hat auch Auswirkungen auf klassische kulturelle Veranstaltungen im Sozialraum. Gefordert sind daher Innovationen zur kulturellen Teilhabe in einem dynamischdigitalen Sozialraum. Ziel eines Teilprojekts ist es daher, digitale und diversitätssensible Formate zu entwickeln, wie Kultur niedrigschwellig in den Sozialraum getragen werden kann.
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Einsatz diversitätssensibler partizipativer Verfahren bei der Innovationsentwicklung Die Entwicklung der sozialen Innovationen erfolgt partizipativ. Für die Mitglieder des Sozialraums sollen also nicht nur die Teilhabechancen verbessert werden, sondern sie werden auch bereits an den konkreten Entwicklungsprozessen beteiligt (Vgl. Thiersch 2015). Angesichts der Vielfalt von Sozialräumen müssen diese partizipativen Verfahren diversitätssensibel gestaltet werden, sodass herkunftsbedingte Unterschiede im Kommunikationsverhalten den Partizipationsprozess geringstmöglich verzerren und Menschen unabhängig ihrer Mobilitätsressourcen Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden. Wie können Stadtteilzentren durch digitalisierte Angebote, Leistungen und Unterstützungsformen auf neue Bedarfe und Anforderungen dynamischer (mobilisierter) Sozialräume reagieren und die Lebensqualität durch den Aufbau sozialer Vernetzungsund Teilhabeprozesse verbessert werden? Primäre Zielgruppe des Forschungsprojekts sind die Menschen eines Sozialraums, denen der Zugang zur Teilhabe an sozialen, kommunikativen und kulturellen Angeboten, Prozessen und Interaktionen des Sozialraums erschwert ist. Gründe ergeben sich aus zunehmenden individuellen Mobilitätsanforderungen, die Teilhabeprozesse beeinflussen und behindern können aber auch fehlende partizipative Kompetenzen der Bewohner*innen. Sekundäre Zielgruppe sind alle Personen und soziale Gruppen eines definierten Sozialraums. Folglich wird die Lebensqualität eines konkreten Sozialraums verbessert. Die Verfestigung sozialer Strukturen, sowie der Aufbau neuer und die Adaption alter Traditionen werden unterstützt, Partizipationsmöglichkeiten für benachteiligte Gruppen gefördert und Zugänge zur sozialen und kulturellen Teilhabe verbessert. Die wissenschaftliche Forschung hat die Organisation und Wirksamkeit von Stadteilzentren bzw. soziokulturellen Zentren als zentrale Interaktionsplattform in Sozialräumen bisher noch wenig in den Fokus gerückt. Dennoch finden sich einige interessante Ergebnisse bzw. Hinweise zu weiteren Forschungsaufgaben und Umsetzungsszenarien im Rahmen des Bund-Länder-Programms „Förderung von Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“ (BBSR 2019). Ziel des Programms ist es, neue Impulse für die sozialräumlich integrierte Stadtpolitik zu setzen (vgl. Häussermann, 2011, S. 275 f.). Eine integrierte Stadt- bzw. Quartierspolitik stellt sich der Herausforderung, die Komplexität der Probleme eines Stadtteils – z. B. Armut, soziale Entmischung, Isolation, Gewalt, baulicher Verfall – in den Fokus zu rücken. Sie greift dabei auf Prinzipien einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit zurück, die den Sozialraum als Ressource begreift und Menschen aktiviert, diesen partizipativ zu gestalten. Zudem zielt eine sozialraumorientierte Soziale Arbeit auf eine nachhaltige Vernetzung und Integration der verschiedenen sozialen Dienste im Sozialraum ab und schreibt Stadtteilzentren hier eine wichtige Funktion zu (vgl. Hinte 2017, S. 95). In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche innovative Projekte integrierter Stadtteilpolitik realisiert, wie zum Beispiel der „Aktionsplan Soziale Stadt“ der Stadt Dortmund (vgl. Certa, 2009) oder das integrierte Handlungskonzept „Heimat bleiben – Heimat werden“ in
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Hamm-Weststadt (vgl. Stadt Hamm 2016). Die Evaluation dieser und anderer Projekte unterstreicht, dass Partizipation ein entscheidendes Element erfolgreicher Stadtteilentwicklung darstellt (vgl. BBSR 2017, S. 111 f.). Nachgewiesen wird zudem, dass infrastrukturelle Verbesserungen zur Stabilisierung der sozialen Dienste im Sozialraum beitragen. Jedoch spielen Stadtteilzentren bei den meisten Konzepten eine eher untergeordnete Rolle. Zudem wird im Rahmen bestehender Projekte die Verbesserung der Infrastruktur in erster Linie „offline“ als städtebauliche Modernisierung und Vernetzungsoptimierung gedacht. Angesichts fortschreitender Digitalisierung muss moderne integrierte Stadtpolitik den Sozialraum erweitert als „digitalen“ Sozialraum begreifen, der neue und andere Integrations- und Vernetzungsformen und -möglichkeiten bereithält. Bei der Nutzung technischer digitaler Szenarien zur Transformation der beteiligten Stadtteilzentren wird die Robustheit der technischen Optionen ein zentrales Kriterium sein. Video-, Projektions- Präsentation- und Konferenztechnologien sind seit Jahren in der Anwendung. Darüber hinaus wird auch die wirtschaftliche Komponente von Relevanz sein. Im Rahmen der Nutzung verlässlicher und erprobter Technologien zur digitalen Transformation von Stadtteilzentren werden folgende neuere Techniken in Betracht gezogen und überprüft: Technologie
Beschreibung
Optionen Projekt
Virtual Reality
Bewegung in künstlichen Welten durch VR Brillen
Rundgänge, Begegnungsräume, virtuelle Theater, niederschwelliger Zugang
Augmented Reality
Reale Bilder werden durch virtuelle Rundgänge, Führungen, Motive ergänzt Simulations-Stammtisch, Zugangsform
Motion Capture
Übertragung von Bewegungsmustern realer auf virtuelle Figuren
Ansprechpartner, Begleitfiguren, Kontaktaufbau, Zugang
3D-Animation
Darstellung dreidimensionaler Räume und Figuren
Hologramme in Kulturangeboten, Präsentationen, Begegnungsräume
Sensorik
Ergänzung visueller und haptischer Erfahrungen
Spiel- und Bewegungsszenarien im virtuellen Raum
Gaming
Unterschiedlicher Computerbasierte Spiele
Gemeinsame spielerische Aktivitäten, Begegnung
Im Rahmen eines Projektes der sozialen Innovation werden auf der Grundlage eines partizipativen Prozesses mit Personen bzw. sozialen Gruppen eines dynamischen Sozialraums Szenarien für digitalisierte Angebote und Leistungen eines Stadtteilzentrums entwickelt, modellhaft erprobt und wissenschaftlich ausgewertet. Durch eine digitale Transformation der Stadtteilzentren können mobile Menschen unabhängig von ihrem aktuellen Ort am Leben im Sozialraum teilhaben. Im Rahmen des Projekts werden folgende Bereiche erforscht, entwickelt und modellhaft erprobt werden:
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Digitale Zugänge: Neue Formen der Kontaktaufnahme und Bildung von Interessensund Bedarfsgruppen (Avatare, virtuelle Führungen etc.). Digitale Begegnungen: Neue Formen der Begegnung, der Interaktion und des Austausches (3-D-Szenarien, Gaming, Virtuell Reality, Simulations-Stammtisch etc.). Digitale kulturelle Teilhabe: Entwicklung neuer Formen kultureller Veranstaltungsformen (Hybride Theater und Videoangebote, szenische Darstellungen mit Hologrammen, VR etc.). Forschungsaufgaben: 1. Theoretische Begründung der Erweiterung des Sozialraumbegriffs um eine dynamische Dimension aufgrund erhöhter Mobilitätsanforderungen einer Gesellschaft. Dabei werden insbesondere die Qualitäten einer digitalen Teilhabe untersucht. Instrumente hierzu sind Workshop mit Sozialraumbewohner*innen und Expert*inneninterviews. 2. Durchführung einer sozialräumlichen Interessens- und Bedürfnisanalyse. Dazu werden diversity-sensible und nicht-sprachlich orientierte partizipative Verfahren und Methoden ausgewählt, angepasst und entwickelt. 3. Auf der Grundlage dieser diversity-sensiblen Partizipationsverfahren werden Umsetzungsszenarien für digitalisierte Angebote, Leistungen, Optionen und Ressourcen erarbeitet. 4. Modellhafte Umsetzung: Die entwickelten Sozialraumszenarien werden in den drei Forschungsregionen mit den jeweiligen Schwerpunkten (digitaler Zugang, digitale Begegnung und kultur-digitale Teilhabe) umgesetzt und erprobt. Dazu sind vorbereitend technische Voraussetzungen zu überprüfen und aufzubauen. 5. Wissenschaftliche Auswertung, Bewertung unterschiedlicher Szenarien, Evaluation. Szenarien betrieblicher Weiterbildung und soziale Innovation – Beispiel 2 Lernen ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Das Leben ist durchdrungen von technischen und sozialen Entwicklungen, die immer wieder neue Kenntnisse und Kompetenzen verlangen. Das neue Smartphone, das Kassensystem im Einzelhandel oder der Scanner in der Logistikbranche können nur sinnvoll benutzt werden, wenn diejenigen, die die Geräte nutzen, die Bedienung erlernt haben. Auch in sozialen Bereichen sind Menschen gefordert, sich an neue Bedingungen anzupassen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, etwa im veränderten Umgang mit Kunden oder hinsichtlich der Bewältigung von psychischen Belastungen. Dies führt auch zu einer radikalen Veränderung der Organisation von Bildungsanbietern und ihrer Lernprozesse. Lernen ist ein permanenter Prozess, der nicht nur in Seminarräumen stattfindet. Eine notwendige Aufgabe der Zukunft wird es sein, alle Beschäftigten eines Unternehmens in kontinuierliche Weiterbildung einzubeziehen(vgl. Griese und Marburger 2011). Es werden neue innovative Lernformen jenseits des Formats „Seminar“ eine wichtige Rolle spielen, die das Lernen stärker an den Arbeitsplatz verlagern und mit dem beruflichen Handeln
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verbinden. Dabei wird es aus der Perspektive der sozialen Innovation von Bedeutung sein, die „Lernenden“ aktiv an Planungsprozessen zu beteiligen. Eine weitere zentrale Frage wird es sein, wie jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter in einen permanenten Lernprozess einbezogen werden kann. Dies betrifft besonders die gering qualifizierten Beschäftigten, deren Anteil an Weiterbildungsaktivitäten immer noch unter dem Durchschnitt liegt. Menschen, die einen Hauptschulabschluss besitzen, nehmen deutlich seltener an Weiterbildungsveranstaltungen teil (vgl. Ambos, 2005, S. 4 f.; Weber et al. 2012, S. 41 f.). Dieser Personenkreis ist außerdem vor eine besondere Hürde gestellt. Durch die geringeren Einkommen ist die Teilnahme an teuren Bildungsangeboten noch einmal erschwert. Es sind Bildungsangebote zu entwickeln, die jedem Menschen einen angemessenen Zugang zur permanenten Weiterbildung ermöglichen. Dies ist sowohl eine gesellschaftliche Aufgabe als auch eine Forderung an Unternehmen, in ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr zu investieren. Unternehmen müssen lernen, die Entwicklung ihrer Beschäftigten als Aufgabe der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit ihres Unternehmens zu begreifen. Dazu gehören, natürlich neben der finanziellen Investition, der Aufbau geeigneter Qualifizierungskonzepte, wie der regelmäßigen Weiterbildungsbedarfsplanung oder der zielgerichteten Personalentwicklung (vgl. Arnold et al. 2008). Auch hier wird die Rolle eines Bildungsträgers neu zu überdenken sein. Der Dienstleistungscharakter wird an Bedeutung gewinnen, da neue Formate naturgemäß weniger standardisiert sind und mehr Planung und Vorbereitung (und Kommunikation mit Lernenden oder Unternehmen) verlangen. Neben der Verbesserung dieser Rahmenbedingungen ist über die Mikro-Ebene der Weiterbildung intensiver nachzudenken. Wie können etwa geeignete methodische Ansätze aussehen, die die Attraktivität der Teilnahme an einem Lernangebot erhöhen? Betriebliche Weiterbildung ist nicht mehr an traditionelle Lernformen wie Schule oder Seminar gebunden (vgl. Benikowski 2014; Benikowski und Rauball 2011). Aber immer noch sind die Alternativen selten. Der Arbeitsplatz wird als ein Bereich gesehen, in dem unterschiedlichste informelle Lernprozesse stattfinden (vgl. Dybowski et al., 1999, S. 245 f., Egetenmeyer, 2008. S. 33 ff., Eraut, 2000, S. 12 ff., Livingstone, 1999, S. 68), aber mehrheitlich wird Weiterbildung mit Dozent und Seminarraum gleichgesetzt. Selbstgesteuertes Lernen, die Nutzung digitaler Medien – wie Blogs oder Online-LernCommunities – sind Gestaltungsvariablen, die möglicherweise in Zukunft Lernen und Bildung völlig anders aussehen lassen. Lernen wird aber immer ein sozialer Prozess sein, in dem Menschen voneinander lernen (vgl. Schiersmann, 2007, S. 110), für Motivation und Einsichten sorgen, Rückmeldungen geben und Neugierde wecken. Ein Projekt mit dem Ziel der sozialen Innovation könnte folgenden Aufbau vorweisen: In einem wissenschaftlichen Grundlagenteil wird das experimentelle Design entwickelt. Hieraus ergeben sich Vorgaben für eine prototypische Gestaltung von Lernsystemen mit spezifisch variierten Parametern. Die Inhalte sollen sich dabei auf sozialkommunikative Kompetenzen beziehen. Dies hat zum einen den Grund der Herstellung einer Übertragbarkeit: Sozial-kommunikative Kompetenzen sind weder branchen- noch
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berufsabhängig – Ergebnisse in diesem Bereich sind dabei prinzipiell auf alle beruflichen Bereiche übertragbar. Zum anderen geht es auch darum, nicht punktuell explizites Wissen zur Ausführung einer Arbeitshandlung zu vermitteln, sondern subjektives Handlungswissen, das in unterschiedlichen Kontexten des Arbeitsvollzuges, aber auch des Privatlebens eingesetzt werden kann. Ein Modell, das in der Lage ist, so berufliches Wissen zu vermitteln, das auch im Privatleben nutzbar ist, kann im besten Sinne als persönlichkeitsförderlich (z. B. Hacker, 1986) bezeichnet werden. Für die beteiligten Personengruppen und Inhaltsbereiche werden je ein Lernprogramm mit verschieden skalierbaren Variablen (z. B. mit unterschiedlichem Medieneinsatz, unterschiedlicher Dauer, Instruktionen etc.) entwickelt und in einem Experiment unter Realbedingungen erprobt. Die Umsetzung des experimentellen Designs ist dabei nicht trivial, da die Studie zwar experimentell angelegt ist, aber nicht unter vollständig kontrollierten (Labor-) Bedingungen ablaufen kann. Authentischer Realitätsbezug ist eine der Kernvoraussetzungen für die Parameter „Nutzen“ und „Handlung“ und kann nur in einem realen Kontext der Unternehmen erzeugt werden. Das soziale Experiment wird in fünf Durchgängen mit verschiedenen Parameterkombinationen durchgeführt. Auf Basis des Evaluationskonzeptes werden zu definierten Zeiten Befragungen und Messungen hinsichtlich verschiedener Kriterien des Lern- bzw. Bildungserfolgs durchgeführt. Diese werden multivariat ausgewertet, um Wirkungen der Gestaltungsvariablen zu isolieren und Wechselwirkungen zu bestimmen. Auf der Basis der Ergebnisse wird einerseits ein wissenschaftlich anschlussfähiges Modell offener Lernsysteme entwickelt, anderseits ein Handlungsleitfaden für Bildungsanbieter für den unmittelbaren Transfer in die Weiterbildungspraxis. Insgesamt ist es wichtig, dass durch partizipative Methoden die Perspektive der beteiligten Menschen aufgenommen und ihre subjektiven, individuellen Interessen berücksichtigt werden können. Soziale Innovation bedeutet, Menschen zum Gestalter ihrer Lebenswelten zu machen und sie dabei ausreichen (methodisch) zu unterstützen. Einsatz von Innovationsworkshops in Einrichtungen der geriatrischen Versorgung – Beispiel 3 Im Rahmen des Projektes „Zukunft Geriatrie“ werden neue Formen digitaler Kommunikation zwischen den verschiedenen Professionen und Mitarbeitergruppen, aber auch den Patienten und Klienten entwickelt. Der zentrale Ansatzpunkt in diesem Projekt ist die Berücksichtigung der Perspektive der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den unterschiedlichen Professionen der geriatrischen Gesundheitsversorgung in Krankenhäusern, Seniorenwohnheimen und ambulanten Einrichtungen der Altenhilfe. Die Umsetzung des Projektes wird durch den Europäischen Sozialfonds und Mittel des Landes NRW ermöglicht. Besonders der Einsatz digitaler Kommunikation ist auf eine hohe Akzeptanz der Nutzer*innen und Anwenderinnen und Anwender angewiesen. Es zeigen sich sehr oft in
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den von externen Planern entwickelten Kommunikationsszenarien skeptische Haltungen bei den späteren Anwendern. Daher soll in diesem Projekt konsequent die Perspektive der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Entwicklung, Umsetzung und Auswertung mit einbezogen werden. Es sind dazu geeignete Workshops zu entwickeln, die es ermöglichen, dass in einer kreativen Arbeitsatmosphäre Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Professionen gemeinsam an Visionen digitaler Kommunikation arbeiten können. Es sollen die Interessen von Pflegekräften, Medizinern, Therapeuten, aber auch von Patienten und Angehörigen in die digitalen Kommunikationsszenarien einfließen und sich sinnvoll ergänzen. Die digitale zukünftige Kommunikationswelt der beteiligten Einrichtungen wird von den betroffenen Personenkreisen selbst entwickelt und dadurch eine hohe Akzeptanz und Identifikation mit den Ergebnissen aufgebaut. Die Resultate sind das Ergebnis der unmittelbaren Perspektive der beteiligten Akteure – eine wichtige Grundlage der sozialen Innovation. Die Gestaltung wird nicht als fremdbestimmt hingenommen, sondern wird selbstbestimmt erarbeitet. Aufwendige Akzeptanzphasen nach der Entwicklung technischer oder betrieblicher Innovation sind nicht mehr erforderlich. Verfahren der sozialen Innovation sind oftmals aufwendig und benötigen einen größeren Zeitrahmen. Diese „soziale Investition“ wird aber durch ein direktes Nutzerverhalten und große Akzeptanz ausgeglichen. Das Ziel der insgesamt 15 durchzuführenden Innovationsworkshops ist die Entwicklung konkreter digitaler Kommunikationsszenarien. Diese werden zunächst nicht in eine technische Beschreibung überführt, sondern die Ideen und Vorstellungen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen werden in einer Illustration dargestellt. Die Reduktion auf eine technische Beschreibung kann zum Verlust von Ideen führen, die eher für die sozialen oder emotionalen Dimensionen relevant sein können. Es steht nicht ausschließlich die Technik im Vordergrund, sondern der soziale und technische Nutzen der Anwender. Dies wird in den Ergebnissen deutlich: In einem Szenario entwickelten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen eines Workshops einen „digitalen Ohrensessel“. Der Ansatzpunkt sind die im Rahmen der Corona-Pandemie eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten zwischen alten Menschen in einer Senioreneinrichtung und ihren Angehörigen. Es reiche nicht aus, nur Tablets mit Internetanschluss zu verteilen, um dann in Video-Meetings Kontakt halten zu können. Vielmehr geht es auch um die psychosoziale Gesamtsituation. Die Idee war also, einen Ohrensessel mit einem Gelenkarm auszustatten, an dem ein Tablet angebracht ist. Der Senior oder die Seniorin können in angenehmer Weise sitzen, einen Kaffee trinken und digital kommunizieren. Eine Innovationswerkstatt basiert auf der Kreativität und den Ideen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Der Moderator bzw. die Moderatorin hat dafür zu sorgen, dass der Denk- und Arbeitsprozess der Gruppenteilnehmer unterstützt und gefördert wird. In der digitalen Form sollte die Teilnehmerzahl zwischen 5 und 8 Personen liegen. Für die digitale Umsetzung ist eine Konferenzsoftware notwendig, die ein für alle sichtbares Whiteboard beinhalten sollte. Der Innovationsworkshop besteht aus der Vorbereitungsphase, der Bestandsaufnahme (Beschreibung der Ausgangssituation), der Utopiephase
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und der Realisierungs- und Visualisierungsphase. Diese Phase basieren auf dem Konzept der Zukunftswerkstätten (Jungk 1994) und sind in vielen Varianten weiterentwickelt und angewandt worden. • Moderationsaufgaben in der Vorbereitungsphase: Aufbau einer vertrauensvollen Atmosphäre, Bedeutung der partizipativen Methode, Erklärung der Ziele des Workshops, Nutzung der Ergebnisse. • Moderationsaufgaben der Bestandsaufnahme: Erklärung der Arbeitsschritte, Dokumentation der Ergebnisse auf einem Flipchart oder (online) Whiteboard, Lösungen erst im folgenden Arbeitsschritt, Schwierigkeiten oder Verbesserungspotenziale sichtbar machen. • Moderationsaufgaben Utopiephase: Auswahl von 1 bis 3 Themen (zeitabhängig) für die innovative (digitale) Szenarien entwickelt werden sollen, Schaffung einer vertrauensvollen Arbeitsatmosphäre, auf Einhalten der Regeln achten, jeder Teilnehmer soll aussprechen, motivieren. • Moderationsaufgaben Realisierung und Visualisierung: Übersetzung der „utopischen“ Ideen in realisierbare Projekte, Entwicklung konkreter Ansatzpunkte, Erarbeitung einer Informationsliste für die Visualisierung und Entwicklung einer Visualisierung. Innovations- oder Zukunftswerkstätten beziehen die betroffenen Menschen unmittelbar in die Entwicklung und Gestaltung ein. Der Mittelpunkt ist der Mensch und die technische Innovation dient seinen Interessen und Bedürfnissen. Die technischen Entwicklungen folgen der sozialen Idee. Soziale Innovation in der Sozialen Arbeit – ein Schlusswort In der Sozialen Arbeit geht es oftmals um die Gestaltung der Lebenswelten der Klienten. Es ist naheliegend, dass durch partizipative Prozesse die Perspektiven der betroffenen Menschen einbezogen werden und auch im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprojekten berücksichtigt werden müssen. Die Idee der sozialen Innovation ist aber nicht auf die Soziale Arbeit beschränkt. Vielmehr geht es darum, die Menschen stärker in Veränderungs- und Modernisierungsprozesse unmittelbar mit einzubeziehen. Noch sehr oft ist die Dominanz technischer oder wirtschaftlicher Interessen zu beobachten. Technologische Innovationen sind kein Selbstzweck, sondern dienen letztlich immer menschlichen Interessen. Und eben diese sollten in den Vordergrund rücken. In vielen modernen Arbeitsmethoden wie „Design-Thinking“ oder „Agile Führung“ zeigt sich zunehmend ein Verständnis, Kreativität und soziale Sensibilität stärker in innovativen Prozessen zu nutzen. Letztlich hängt der Erfolg von technischen Lösungen immer von der Akzeptanz der Nutzer und Nutzerinnen und ihre Bereitschaft zur Veränderung gewohnter menschlicher Verhaltensweisen ab – und nicht allein von der reibungslosen Funktionsfähigkeit einer Innovation.
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Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit
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Prof. Dr. Bernd Benikowski ist Professor für Soziale Arbeit an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen (seit 2015). Er ist u. a. geschäftsführender Gesellschafter des Forschungs- und Bildungsinstituts gaus gmbh (2001 bis 2020) und übernimmt Forschungsprojekte im Bereich von Bildung und Digitalisierung.
Prof. Dr. Johannes Emmerich, Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., ist seit Wintersemester 2021/22 Professor für Grundlagen und Handlungskonzepte der Sozialen Arbeit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Zuvor war er fünf Jahre Professor für Soziale Arbeit an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Vier Jahre verantwortete er als Dekan u. a. die Etablierung und Weiterentwicklung des dualen Bachelorstudiengangs am Fachbereich Sozialwissenschaft. [email protected]
Innovationen im Gesundheitssektor
Das zukünftige Open-InnovationKonzept im Gesundheitswesen erfordert die Unterstützung durch Patienten Julia Plugmann und Philipp Plugmann
1 Einleitung Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass eine globale Krise im Gesundheitswesen langfristig massive wirtschaftliche, soziale und psychologische Probleme verursachen kann. Angesichts der Folgen von Covid-19 mit zahlreichen Toten und langfristigen Gesundheitsproblemen auf der ganzen Welt ist uns eines bewusst geworden: Es ist eine Sache, eine hochleistungsfähige Life-Science-Industrie aufzubauen, die etablierten Unternehmen und Start-up-Firmen in dieser Branche bessere Bedingungen bietet – aber es gibt auch andere wichtige Faktoren. Beispielsweise die Geschwindigkeit der Datenerfassung, um aufzuzeigen, was passiert, sobald eine lokale, nationale oder globale Krise im Gesundheitswesen beginnt, sowie die Fähigkeit der Industrie, Produkte zu entwickeln und zu liefern, die die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten. Epidemiologische Forschungseinrichtungen, Zulassungsbehörden und Krankenhäuser, die klinische Studien durchführen, müssen darauf vorbereitet sein, sehr schnell zu reagieren. Dieses Mal hatten wir vielleicht Glück, weil die Sterblichkeitsrate gering war und das Virus sich relativ langsam in der Welt ausgebreitet hat. Aber beim nächsten Mal könnte das Virus sich unerwartet verhalten, sich schneller ausbreiten und aggressiver sein. Dieses Kapitel konzentriert sich darauf, dass die Unterstützung durch Patienten so schnell wie möglich erfolgen muss. Heutzutage hat jeder ein Smartphone, mit dem er personenbezogene
J. Plugmann SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland P. Plugmann (*) Studiengang Dental Hygienist, SRH Hochschule für Gesundheit, Leverkusen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_12
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Gesundheitsdaten zeitnah in eine Open-Innovation-Plattform einspeisen könnte. Diese Daten könnten dann von Life-Science-Unternehmen, staatlichen Einrichtungen und Forschungsgruppen in Theorien und Modellierungen verwendet werden, um in CoCreation mit KI die Forschung und Entwicklung innovativer Arzneimittel und Verfahren zur medizinischen Behandlung voranzutreiben. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um Patienten auf der ganzen Welt zu schnellem Handeln zu motivieren, weil jeder von dieser schnellen Datenerfassung profitiert, wenn eine lokale, nationale oder globale Krise im Gesundheitswesen auftritt. Zukünftige Worst-Case-Szenarien wie Krisen im Gesundheitswesen, die mit einem Stromausfall oder weltweiten Börsencrash zusammentreffen, würden noch mehr Probleme mit sich bringen. Die Industrie und politische Entscheidungsträger müssen Pläne für diese Szenarien erstellen, um massive Konflikte zu verhindern, die solche Situationen verursachen könnten. Die beiden folgenden Studien wurden auf zwei Konferenzen vorgestellt, und zwar auf der „2nd Annual World Open Innovation Conference (WOIC)“ im Jahr 2015, die vom Garwood Center for Corporate Innovation der renommierten Berkeley Haas School of Business an der University of California, Berkeley (USA), in Santa Clara/ Silicon Valley organisiert wurde, und im Oktober 2021 und Folgemonaten auf dem „AI-Clash“ der Technischen Hochschule Deggendorf (THD) bei Meetings und Workshops internationaler Expertenteams aus verschiedenen Disziplinen, die zum Bereich „Technologien im Gesundheitswesen“ unter der Leitung von Prof. Dr. Patrick Glauner, einem der jüngsten Professoren in Europa für Künstliche Intelligenz, Lösungsansätze und Prototypen entwickelten. In Verbindung mit weiteren Anregungen führen sie uns zu einer neuen Sichtweise, nämlich zu der Erkenntnis, dass es notwendig ist, dass sich die Bevölkerung freiwillig daran beteiligt, Daten an eine Open-Innovation-Plattform zu übermitteln, um in Krisensituationen im Gesundheitswesen eine schnelle Lösung für alle zu ermöglichen. Das erfordert als vorbeugende Investition eine Informationskampagne, um Menschen zu motivieren, diese Datenerfassungssysteme in Zukunft zu unterstützen. In diesem Fall sind also nicht innovative Verfahren oder Arzneimittel der begrenzende Faktor, sondern das Verhalten von Patienten oder Menschen im Kontext einer großen Gruppe. Unsere Forschungstätigkeit richtete sich zunächst in Form eines Angebots an Patienten, wobei sie entscheiden konnten, ob sie teilnehmen oder nicht:
2 Studie 1 Unsere erste Studie wurde im November 2015 auf der „2nd WOIC“ in den USA als erweiterte Zusammenfassung vorgestellt, die vor der Annahme zu dieser internationalen Konferenz nach Einreichung eines „Extended Abstracts“ überprüft worden war. Sie trug den Titel „Users (patients) willingness to transfer personal data to a future IT service of open innovation driven IT health care companies to receive an efficient service – a
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follow-up study“. Die Präsentation erfolgte in Form eines Posters, wobei Konferenzbesucher aus der Industrie und Wissenschaft anwesend waren und erkenntnisreiche Diskussionen ergaben, die motivierend wirkten auch in den Folgejahren in diesem Forschungsbereich aktiv zu sein. 1. Einleitung Forschungen haben gezeigt, dass Technologiefirmen, unter anderem im Gesundheitswesen, ein eingeschränktes Open-Innovation-Konzept anwenden (West, 2003), um Forschungs- und Entwicklungskosten zu reduzieren und auch um höhere Gewinne zu erzielen (Chesbrough, 2006). Die Einbindung der Öffentlichkeit in die Forschung und Entwicklung im Gesundheitswesen wird für den Innovationsfortschritt als unverzichtbar erachtet (Bullinger et al., 2012). Die einzige Möglichkeit, höhere Gewinne zu erzielen, sind neue Produkte und Dienstleistungen für den Markt, die gegenüber Wettbewerbern einen Vorsprung bieten und den Bedürfnissen der Nutzer gerecht werden. Heute ist das gleichbedeutend mit mobiler Gesundheit (mHealth – Estrin & Sim, 2010), weil durch das Erschließen einer mHealth-Architektur Zugangsbarrieren abgebaut werden und die Mitwirkung der Öffentlichkeit dazu beiträgt, neue Hilfsmittel und mHealth-Apps zu entwickeln. Diese IT- und Technologiefirmen beziehen Nutzer und Pionieranwender als Wegbereiter ein (Bogers et al., 2010), um neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Besonders die Rolle von Pionieranwendern kann dazu beitragen, sowohl neue Produkte und Dienstleistungen hervorzubringen, die sich nicht im Blickfeld von Marktforschern oder internen Innovationsteams befinden, als auch Durchbrüche zu erreichen (von Hippel et al., 1999). Um eine bessere medizinische Versorgung zu erhalten, sind nach unseren Erkenntnissen viele Nutzer (Patienten) bereit, alle ihre personenbezogenen Daten – medizinische und nichtmedizinische – an einen zukünftigen IT-Service zu übermitteln, der von einem Open-Innovation-orientierten, im Gesundheitswesen tätigen IT-Unternehmen angeboten wird. 2. Theoretischer Hintergrund In dieser Abhandlung analysieren wir die Bereitschaft von Nutzern (Patienten), zu einer radikalen Innovation beizutragen, indem sie alle ihre Daten an einen zukünftigen IT-Service übermitteln, der von einem Open-Innovation-orientierten, im Gesundheitswesen tätigen IT-Unternehmen angeboten wird (Lettl et al., 2006). Das OpenInnovation-Konzept mit Nutzern und Pionieranwendern war in der Vergangenheit unter bestimmten Bedingungen sehr erfolgreich (Reichwald & Piller, 2005; Baldwin & von Hippel, 2011; van de Vrande et al., 2009). Aber noch immer müssen die OpenInnovation-Architektur und -Prozesse neu aufgebaut werden, und es besteht Ungewissheit, ob Nutzer (Patienten) einen zukünftigen IT-Service unterstützen werden, der nicht nur medizinische, sondern auch nichtmedizinische Daten erfasst. Die Ergebnisse dieser Studie können Unternehmern aus der IT-Branche im Gesundheitswesen dabei helfen,
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auf der Grundlage eines Open-Innovation-Konzepts einen zukünftigen IT-Service aufzubauen und zu entscheiden, wie offen er werden kann (West, 2003). Sie tragen dazu bei, die Anforderungen der Nutzer zu verstehen, die sie an das Übermitteln medizinischer und nichtmedizinischer Daten im Rahmen eines gesamtheitlichen IT-Service-Konzepts im Gesundheitswesen stellen. 3. Aufbau der Studie Diese Anschlussstudie basiert auf der ersten Studie, die 2014 vorgestellt wurde. In der ersten Studie wurde die Bereitschaft von Nutzern (Patienten) untersucht, medizinische Daten in eine innovative Gesundheits-App einzugeben. Die vorliegende Studie untersucht die Bereitschaft, medizinische und nichtmedizinische Daten in eine OpenInnovation-App einzugeben, um eine bessere medizinische Versorgung zu erhalten. Erste Studie Die erste Studie wurde von uns auf der 12. Open and User Innovation (OUI) Conference vorgestellt, die vom 28. bis 30. Juli 2014 in Boston (USA) an der Harvard Business School (HBS) stattfand. Sie beschäftigte sich mit der Bereitschaft von Nutzern (Patienten), medizinische Daten in eine Gesundheits-App einzugeben. Diese Studie bekräftigt unsere Ansicht, dass es in Zukunft verschiedene Interaktionsszenarien zwischen Nutzern (Patienten) und IT-Unternehmen im Gesundheitswesen und ihrer Anwendungssoftware geben wird. Die zukünftigen Szenarien und Prototypen tragen dazu bei, die Nutzer zu verstehen und einzubeziehen sowie neue Produkte und Dienstleistungen hervorzubringen (Kanto et al., 2014; Parmentier & Mangematin, 2014; Steen et al., 2014): 1. Zukunftsszenario: Der Nutzer (Patient) entscheidet, ob der Arzt oder Zahnarzt zusätzlich zum Patienten selbst Informationen in diese App eingibt. Außerdem entscheidet er, wer sich – abhängig von der IT-Anwendungssoftware –die eingegebenen Daten und die Ergebnisse der Datenanalyse ansehen darf. 2. Zukunftsszenario: Die Krankenkasse (oder ein sonstiges Dienstleistungsunternehmen aus dem Gesundheitswesen) bietet dem Nutzer der App einen ermäßigten Monatsbeitrag an, wenn er die App des Unternehmens nutzt. 3. Zukunftsszenario: Das IT-Entwicklungsunternehmen bietet genau die Art von Gesundheitsdaten-App an, die die Nutzer möchten und in Auftrag geben, wobei die Nutzer Merkmale und Funktionen individuell festlegen können. Diese drei Zukunftsszenarien und die Forschungsergebnisse der Studie hinsichtlich der Bereitschaft der Nutzer (Patienten), ihre personenbezogenen Gesundheitsdaten in eine innovative App einzugeben, um eine bessere medizinische Versorgung zu erhalten, wurden im Juli 2014 vorgestellt. Dazu wurden von Januar bis Dezember 2013 in einer Multicenterstudie (4 Zahnkliniken) in Deutschland 528 Patienten, die an Parodontitis erkrankt waren, in zwei Gruppen befragt: In der ersten Gruppe (n = 244) hatte keiner
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der Nutzer eine bereits zuvor vorhandene Allgemeinerkrankung (z. B. Diabetes, koronare Herzerkrankung). Dagegen hatten die Patienten der zweiten Gruppe (n = 284) mindestens eine Allgemeinerkrankung. Wir stellten fest, dass 93 % der zweiten Gruppe bezeichnenderweise (p