Individuum und Geist: G.W.F. Hegels Aufbruch in die Moderne 3428190114, 9783428190119

Im 19. und 20. Jahrhundert kritisierten namhafte Denker an Hegels philosophischem System, dass das menschliche Individuu

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Table of contents :
Vorbemerkung
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kritik an Hegels Philosophie
(A) Das Subjekt als rein Allgemeines
(B) Die Instrumentalisierung des Individuums durch den Weltgeist
Fortführung der Kritik
Fragestellung
Textgrundlage
I. Die Konstituierung menschlicher Individualität
1. Die Theorie des subjektiven Geistes
1.1 Der Geist und seine integralen Bestandteile
1.2 Die Individuationsprinzipien: Seele, Selbstbewusstsein und Geist
2. Hegels Auffassung der Seele
2.1 Kritik an der empirischen und rationalen Psychologie
2.2 Das expressive Verhältnis zwischen Seele und organischem Körper
2.2.1 Unwillkürliche Expressionen
2.2.2 Willkürliche Expressionen
2.2.3 Die Seele als wahrnehmbares Phänomen
2.3 Die Vermeidung eines Leib-Seele-Dualismus
3. Die Seele als Individuationsprinzip
3.1 Die qualitativen Bestimmungen der Seele
3.1.1 Die natürlichen Qualitäten
3.1.2 Die Gewohnheit
3.1.3 Die Natur des Individuums
3.2 Die immanenten Bestimmungen der Seele
3.2.1 Die Erfahrungen
3.2.2 Die Idealität der Seele
3.2.3 Hegels Anknüpfung an Leibniz' Individualitätskonzeption
3.3 Der Genius: das Selbst oder der Charakter des Individuums?
3.3.1 Der Genius in der Bedeutung des Selbst
3.3.2 Der Genius in der Bedeutung des Charakters
3.3.3 Der Ursprung des Genius-Begriffs
4. Das Selbstbewusstsein als weiteres Individuationsprinzip
4.1 Kritik an Spinozas Substanzbegriff
4.2 Das Selbstbewusstsein als doppelte Negation
4.3 Die Bedeutung des anderen für die Bildung personaler Identität
5. Determinismus und Willensfreiheit
5.1 Die negierende Tätigkeit des Geistes
5.2 Die Selbstkonstituierung des Individuums
5.3 Der freie Wille als Voraussetzung des objektiven Geistes
6. Die Unfassbarkeit des Individuums
6.1 Die unverfügbare Innenwelt des Individuums
6.2 Die exklusive Ich-Perspektive
6.3 Individualität als Prozess
7. Zusammenfassung: Die Einzigartigkeit und Unfassbarkeit des Individuums
II. Das Verhältnis von Individuum und Geist
1. Das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit
1.1 Die Zurückweisung einer Trennung von Endlichkeit und Unendlichkeit
1.2 Das Individuum als Endliches und Unendliches
1.2.1 Die Endlichkeit des Individuums
1.2.2 Die Unendlichkeit des Individuums
1.3 Das Wissen des Menschen von seiner Endlichkeit
2. Das Verhältnis von Geist und Dasein
2.1 Das Dasein des Geistes
2.2 Ist das Individuum „Träger“ des Geistes?
2.3 Die Bedeutung der Materialität für den Geist
3. Die Freiheit des Individuums qua Selbstbestimmung
3.1 Die willkürliche Selbstbestimmung
3.2 Die vernünftige Selbstbestimmung
4. Zusammenfassung: Die Unendlichkeit und Freiheit des Individuums
Resümee
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Sachwortverzeichnis
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Individuum und Geist: G.W.F. Hegels Aufbruch in die Moderne
 3428190114, 9783428190119

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Hegel-Jahrbuch Sonderband 17 Individuum und Geist: G. W. F. Hegels Aufbruch in die Moderne Von Eva von Grafenstein

Duncker & Humblot

Individuum und Geist: G.W.F. Hegels Aufbruch in die Moderne

HEGEL-JAHRBUCH Herausgegeben von Brady Bowman, Myriam Gerhard, Jure Zovko Begründet von Wilhelm Raimund Beyer (†)

Sonderband 17

Individuum und Geist: G. W. F. Hegels Aufbruch in die Moderne

Von Eva von Grafenstein

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Die Fakultät I Geistes- und Bildungswissenschaften der Technischen Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahr 2022 unter dem Titel „Partikularität und Universalität: G.W.F. Hegels Aufbruch in die Moderne“ als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2024 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany

ISSN 2199-8167 ISBN 978-3-428-19011-9 (Print) ISBN 978-3-428-59011-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation im Sommersemester 2022 an der Fakultät I der Technischen Universität Berlin angenommen. Mein besonderer Dank gilt meinen Betreuern Herrn Prof. Dr. Christoph Asmuth und Frau Prof. Dr. Birgit Beck. Ausdrücklich möchte ich mich auch bei Frau Prof. Dr. Dina Emundts bedanken, die mir stets unterstützend zur Seite stand. Karen Koch, Michael Zibell, Roland Willareth, Jenny-Mai Nuyen und Julian Kiefer danke ich für zahlreiche Diskussionen über Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im wöchentlichen Lesekreis. Prof. Dr. Jakub KlocKonkołowicz sei für die Chance gedankt, Kapitel aus meiner Dissertation in seinem Kolloquium in Warschau vorzustellen und zu diskutieren; ebenso Ansgar Baumann für die Einladung, einen Workshop zu Hegels Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes im Rahmen der „Jungen Philosophie“ der Karl-Jaspers-Gesellschaft in Oldenburg abzuhalten. Für viele ertragreiche Gespräche und Denkanstöße danke ich zudem den Teilnehmenden des Kolloquiums Klassische Deutsche Philosophie an der TU Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Christoph Asmuth, den Teilnehmenden des Kolloquiums Geschichte der Philosophie an der FU Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Dina Emundts sowie den Beiträgern der Tagung Anthropologie in der Klassischen Deutschen Philosophie, die Herr Prof. Dr. Christoph Asmuth und ich vom 22.–23. Februar 2018 an der TU Berlin veranstaltet haben. Ermöglicht wurde die vorliegende Arbeit durch ein dreijähriges Elsa-NeumannStipendium des Landes Berlin, für das ich außerordentlich dankbar bin. Auch meiner Familie möchte ich herzlichst danken, insbesondere meinem Mann Max von Grafenstein für seinen Glauben an mich, seine Begeisterung für mein Dissertationsthema, die unzähligen inspirierenden Gespräche und den unermüdlichen Einsatz, wenn es darum ging, die Betreuung unseres Sohnes zu übernehmen, damit ich tagsüber schreiben konnte. Ihm ist diese Arbeit gewidmet. Berlin, 23. Juli 2023

Eva von Grafenstein

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Kritik an Hegels Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Fortführung der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Die Konstituierung menschlicher Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Die Theorie des subjektiven Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.1 Der Geist und seine integralen Bestandteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.2 Die Individuationsprinzipien: Seele, Selbstbewusstsein und Geist . . . . . . . . . . 31 2. Hegels Auffassung der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.1 Kritik an der empirischen und rationalen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2 Das expressive Verhältnis zwischen Seele und organischem Körper . . . . . . . . . 37 2.2.1 Unwillkürliche Expressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2.2 Willkürliche Expressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.2.3 Die Seele als wahrnehmbares Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.3 Die Vermeidung eines Leib-Seele-Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Die Seele als Individuationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.1 Die qualitativen Bestimmungen der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.1.1 Die natürlichen Qualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.1.2 Die Gewohnheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.1.3 Die Natur des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.2 Die immanenten Bestimmungen der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.2.1 Die Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.2.2 Die Idealität der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.2.3 Hegels Anknüpfung an Leibniz’ Individualitätskonzeption . . . . . . . . . . . 74 3.3 Der Genius: das Selbst oder der Charakter des Individuums? . . . . . . . . . . . . . . 77 3.3.1 Der Genius in der Bedeutung des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.3.2 Der Genius in der Bedeutung des Charakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.3.3 Der Ursprung des Genius-Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

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Inhaltsverzeichnis 4. Das Selbstbewusstsein als weiteres Individuationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.1 Kritik an Spinozas Substanzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.2 Das Selbstbewusstsein als doppelte Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4.3 Die Bedeutung des anderen für die Bildung personaler Identität . . . . . . . . . . . . 93 5. Determinismus und Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5.1 Die negierende Tätigkeit des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5.2 Die Selbstkonstituierung des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5.3 Der freie Wille als Voraussetzung des objektiven Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 6. Die Unfassbarkeit des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6.1 Die unverfügbare Innenwelt des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 6.2 Die exklusive Ich-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6.3 Individualität als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 7. Zusammenfassung: Die Einzigartigkeit und Unfassbarkeit des Individuums . . . . . 120

II. Das Verhältnis von Individuum und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1.1 Die Zurückweisung einer Trennung von Endlichkeit und Unendlichkeit . . . . . 127 1.2 Das Individuum als Endliches und Unendliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1.2.1 Die Endlichkeit des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1.2.2 Die Unendlichkeit des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1.3 Das Wissen des Menschen von seiner Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Das Verhältnis von Geist und Dasein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2.1 Das Dasein des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2.2 Ist das Individuum „Träger“ des Geistes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.3 Die Bedeutung der Materialität für den Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Die Freiheit des Individuums qua Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.1 Die willkürliche Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3.2 Die vernünftige Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4. Zusammenfassung: Die Unendlichkeit und Freiheit des Individuums . . . . . . . . . . . 149 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

„Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muß ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.“1

1 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 2019, S. 45.

Einleitung Im 19. und 20. Jahrhundert kritisierten namhafte Denker das philosophische System von Georg Wilhelm Friedrich Hegel dafür, dass es dem menschlichen Individuum aus verschiedenen Gründen nicht gerecht werde. Zu diesen namhaften Denkern gehörten etwa Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, JeanPaul Sartre, Emmanuel Lévinas, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Gilles Deleuze und Jacques Derrida.1 Beim Versuch einer Zuordnung dieser Namen zu philosophischen Strömungen ist festzustellen, dass diese Kritik überwiegend von Vorläufern und Vertretern der Existenzphilosophie, der Kritischen Theorie sowie der französischen Gegenwartsphilosophie vorgebracht wurde.2 Diesen drei der Moderne zuzurechnenden philosophischen Strömungen ist gemeinsam, das menschliche Individuum in den Mittelpunkt ihres Denkens zu stellen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Während die existenzorientierten Denker – so kann man vielleicht zusammenfassen – es mit einem Individuum zu tun haben, das mit der Zufälligkeit und Sinnlosigkeit seiner Existenz konfrontiert ist und nach Orientierung 1 Den Vorwurf der „Individualitätsvergessenheit“ gegen Hegels philosophisches System äußerten die genannten Philosophen implizit oder explizit unter anderem in folgenden Werken: Feuerbach, Ludwig: Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. Berlin 1955; Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum. Göttingen 2020; Kierkegaard, Søren: „Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken.“ In: Ders.: Gesammelte Werke, 16.1. München 1994; ders.: Entweder – Oder. München 2009; ders.: Der Begriff Angst. Stuttgart 1992; Nietzsche, Friedrich: „Unzeitgemäße Betrachtungen.“ In: Ders.: Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe 1. München u. a. 2003; Heidegger, Martin: Identität und Differenz. Pfullingen 1990; Horkheimer, Max: „Hegel und das Problem der Metaphysik (1932).“ In: Ders.: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Hegel und das Problem der Metaphysik. Montaigne und die Funktion der Skepsis. Frankfurt a. M. 1971; Adorno, Theodor W.: Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M. 1994; ders.: „Negative Dialektik.“ In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1996; Sartre, Jean Paul: Der Ekel. La nausée. Berlin 1985; Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Totalité et Infini. Freiburg i. Br. 1993; ders.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg i. Br. 1992; Arendt, Hannah: Was ist Existenz-Philosophie? Frankfurt a. M. 1990; de Beauvoir, Simone: In den besten Jahren. Reinbek 1998; Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München 2007a; ders.: Anti-Ödipus. L’ Anti-Ödipe. Frankfurt a. M. 1997; ders.: Nietzsche und die Philosophie. Nietzsche et la philosophie. Hamburg 2007b; Derrida, Jacques: Die différance: ausgewählte Texte. Stuttgart 2004; ders.: Positionen: Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scrapetta. Wien 1986. 2 Unter dem Ausdruck „französische Gegenwartsphilosophie“ fasse ich verschiedene philosophische Strömungen in Frankreich zusammen wie insbesondere den Poststrukturalismus bzw. die Dekonstruktion und die Phänomenologie.

Einleitung

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sucht, nehmen es die Vertreter der Kritischen Theorie aus der Warte in den Blick, aus der es mit den bestehenden gesellschaftlich-politischen Verhältnissen unzufrieden ist und an ihnen Kritik übt. Die französischen Philosophen der Gegenwart wiederum schauen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf das menschliche Individuum: Während sich einige von ihnen durch Aufkommen der Psychoanalytik mit dem Unbewussten und am Menschen Unkontrollierbaren befassen, versuchen andere das Verhältnis von Individuum und Anderem auszuloten; wieder andere widmen sich aus phänomenologischer Sicht solchen Aspekten wie der Wahrnehmung und Leiblichkeit. Dieser Anspruch, das Individuum ins Zentrum philosophischer Überlegungen zu stellen, hat sich bis in unsere heutige Zeit hineingehalten. Er ist uns sogar selbstverständlich geworden, auch wenn sich aufgrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zum Teil andere Fragen stellen als im 19. und 20. Jahrhundert. Möglicherweise lässt sich sagen, dass im Zentrum unseres heutigen Nachdenkens ein Individuum steht, das mit zahlreichen Problemen konfrontiert ist, die aus einer zunehmend vernetzten, technisierten und digitalisierten Lebenswelt erwachsen. Die Kritik der genannten Denker an Hegels philosophischem System war so wirkmächtig, dass sie das Hegel-Bild bis heute prägt. Sowohl in Laien- als auch in Fachkreisen dominiert nach wie vor die Meinung, dass das menschliche Individuum in seiner Philosophie entscheidend zu kurz komme. Zwar gab es seit Anbeginn der Kritik auch Gegenstimmen; zu nennen wären hier exemplarisch für das 19. Jahrhundert der Philosoph Carl Ludwig Michelet und für das 20. Jahrhundert der russisch-französische Hegel-Interpret Alexandre Kojève, die sich um eine Rehabilitierung des Individuums in Hegels Philosophie bemühten.3 Diese Gegenstimmen waren aber so vereinzelt, dass sie letztlich nichts an der Wirkmacht des Topos von der Individualitätsvergessenheit Hegels ändern konnten. Diese Arbeit nimmt also Ausgang bei der Kritik an Hegels Philosophie, sie werde dem menschlichen Individuum nicht gerecht. Wie noch zu zeigen sein wird, hat sie sich zum einen an der Phänomenologie des Geistes von 1807 erregt und zum anderen an Hegels Ausführungen über die Philosophie der Geschichte. Letztere hat er an verschiedenen Stellen seines Systems schriftlich niedergelegt: in der Phänomenologie des Geistes (1807), der „Philosophie des objektiven Geistes“ der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817, 1827 und 1830) und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Zudem sind etliche Nachschriften von Hegels Studenten zu dessen Geschichtsphilosophievorlesungen erhalten, die bereits kurz nach seinem Tod ediert wurden. Ziel dieser Untersuchung ist es, die erwähnten Vorwürfe gegen Hegels Philosophie gerade nicht im Hinblick auf die seinen Kritikern vorgelegenen Schriften bzw. Systemteile zu prüfen, sondern im Hinblick auf einen in der Vergangenheit kaum beachteten Systemteil: die „Philosophie des subjektiven Geistes“. Es soll untersucht werden, ob sich dort ein anderes Bild bezüglich 3 Vgl. Michelet, Carl Ludwig: Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph. Eine Jubelschrift. Aalen 1983 [erstmals ersch. 1870], S. 40; Kojève, Alexandre: Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens: Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. 1988.

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Einleitung

des Status’ des menschlichen Individuums in Hegels Philosophie auftut als dasjenige, das die „große“ Phänomenologie des Geistes und seine Ausführungen über die Philosophie der Geschichte provoziert haben.

Kritik an Hegels Philosophie Die oben aufgeführten Denker äußern ihre Kritik an Hegels Philosophie an ganz verschiedenen Stellen in ihren jeweiligen Werken. In den meisten Fällen besteht sie in kurzen, polarisierenden Bemerkungen, die so gut wie nie durch Verweise auf Hegels Schriften belegt sind. Manche von ihnen tragen ihre Vorwürfe explizit und unüberhörbar vor; manche formulieren sie eher implizit, vielleicht weil sie einen mit Hegels philosophischen Thesen mehr oder weniger vertrauten Leser voraussetzen. Egal aber wie laut oder leise sie ihre Kritik gegen Hegel vorbringen, gemeinsam ist ihnen allen, ihre eigenen philosophischen Überlegungen als einen Gegenentwurf zu Hegels in ihren Augen längst morsch gewordenem philosophischem Gedankengebäude zu präsentieren. Schaut man sich ihre Vorwürfe genauer an, stechen zwei Kritikpunkte hervor, die besonders häufig geäußert werden. Jeder der genannten Autoren macht mindestens einen dieser beiden Punkte gegen Hegel geltend, wenn nicht sogar beide. Bevor auf sie zu sprechen zu kommen und durch Originalzitate zu belegen sein wird, soll eine kurze Bemerkung zu den Hegelschen Schriften bzw. Systemteilen vorangeschickt werden, an denen sie sich entfacht haben. Wie bereits angesprochen, erregte sich der erste Kritikpunkt hauptsächlich an der Phänomenologie des Geistes von 1807, der zweite wiederum an Hegels an verschiedenen Stellen seines Werkes getätigten Aussagen über die Philosophie der Geschichte. Die Phänomenologie und Geschichtsphilosophie gehören neben den Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821 zu den im 19. und 20. Jahrhundert am meisten gelesenen Schriften Hegels.4 Die große Aufmerksamkeit, die der Phänomenologie des Geistes zuteilwurde, hat vor allem politische Gründe. Das in ihr dargelegte Herrschaft-Knechtschaft-Verhältnis übte eine große Anziehungskraft auf die in der Tradition von Karl Marx stehenden Denker der industriellen Revolution aus.5 Noch aus einem weiteren Grund war sie damals eine der bevorzugten Schriften: Sie nimmt in Hegels philosophischem System eine Sonderstellung ein insofern, als sie sich nicht in die lineare Systementwicklung integrieren lässt, sondern relativ 4 Für einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte von Hegels Philosophie im 19. Jahrhundert siehe Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts. Hamburg 1995. 5 Vgl. Siep, Ludwig: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt a. M. 2000, S. 259. Marx interpretierte das Verhältnis zwischen Herr und Knecht sozialphilosophisch als das Verhältnis zwischen Fabrikbesitzern und Arbeitern.

Kritik an Hegels Philosophie

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eigenständig dasteht. Deswegen wurde in ihr eine eigene Systemgestalt neben dem enzyklopädischen System gesehen, das aufgrund seines formalistischen Stils auf viele abstoßend wirkte. Die Phänomenologie des Geistes fanden viele lesbarer und genialer als den enzyklopädischen Text.6 Hegels Ausführungen zur Geschichtsphilosophie waren wiederum deswegen von besonderem Interesse, weil er zu seiner Zeit einer der Ersten gewesen war, der Vorlesungen über diese Thematik angeboten hatte.7 Sie hatten also einen besonderen Neuheitswert. Hinzu kommt, dass Hegel über kein anderes Thema – abgesehen von seinen Vorlesungen über Logik und Metaphysik – so regelmäßig und ausführlich gelesen hatte wie über die Geschichtsphilosophie, zumindest wenn man die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie dazuzählt. Das war ein weiterer Grund dafür, dass man sein Schaffen vor allem mit seiner Geschichtsphilosophie verband. Auffällig an dem Vorwurf einer Depotenzierung des Individuums in Hegels Philosophie ist, dass sie scheinbar auf die Phänomenologie des Geistes und seine Geschichtsphilosophie reduziert wird. Ruft man sich Hegels umfangreiches philosophisches Werk vor Augen – angefangen bei den Jenaer Schriften über die mehrbändige Wissenschaft der Logik und die Grundlinien der Philosophie des Rechts hin zu der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften –, von dem die genannten Schriften nur einen Bruchteil ausmachen, ist zu konstatieren, dass es sich hierbei um eine einseitige Betrachtungsweise seiner Philosophie handelt, die ihr im Ganzen nicht gerecht wird. Bedenkt man zudem die enorme Wirkmacht, die diese Vorwürfe hatten, kann zudem gefolgert werden, dass sie den Blick auf andere Systemteile – wie etwa die „Philosophie des subjektiven Geistes“ – versperrt haben. Kommen wir nun auf die zwei von mir erwähnten Kritikpunkte zu sprechen. Inwiefern kommt das Individuum in Hegels Philosophie angeblich nicht zu seinem Recht?

(A) Das Subjekt als rein Allgemeines Der erste Kritikpunkt, der sich vorranging an der Phänomenologie des Geistes evozierte, lautet, dass Hegel das menschliche Individuum ausschließlich als Allgemeines thematisiere: Er nehme es lediglich als Subjekt in den Blick, wobei Subjektivität ihm zufolge in einer selbstbezüglichen Struktur bestehe, dem Wissenvon-sich-selbst. Darin, von sich selbst als selbstbewusste Wesen zu wissen, seien alle Menschen grundsätzlich identisch. Indem sich Hegel mit dem menschlichen Individuum nur als Allgemeines befasse, übergehe er den einzelnen Menschen, den 6 Vgl. Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch: Leben – Werk – Schule. Stuttgart u. a. 2010, S. 175 f. 7 Vgl. Jaeschke, Walter: „Einleitung.“ In: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 1: Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Orientalische Philosophie. Hamburg 1993, S. VII – XL, hier S. VII.

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Einleitung

Menschen in seiner Individualität und Unverwechselbarkeit. Auch die Sinnlichkeit, überhaupt das leibliche Dasein des Menschen spiele bei ihm nur eine pejorative Rolle. Indem Hegel das Individuum auf das Allgemeine bzw. die selbstbezügliche Struktur von Subjektivität reduziere, sei seine Philosophie eine Philosophie der Identität. Als Gegenbegriff dazu führen einige seiner Kritiker die philosophische Kategorie der Differenz oder in Französisch der Différance ein, der Nichtidentität von Einzelnem und Allgemeinem (Heidegger, Adorno, Lévinas, Deleuze, Derrida). Dass der philosophische Terminus technicus der Différance ein Gegenbegriff zur Identität bei Hegel ist, bringt Jaques Derrida mit den Worten zum Ausdruck: „Könnte man die différance definieren, so müßte man sagen, daß sie sich der Hegelschen Aufhebung überall, wo sie wirkt, als Grenze, Unterbrechung und Zerstörung entgegenstellt.“8 Aus der Annahme, dass Hegel das Individuum auf das Allgemeine bzw. die selbstbezügliche Struktur von Subjektivität reduziere, leiten einige seiner Kritiker ab, dass er zugleich beanspruche, das Individuum begrifflich vollständig bestimmen zu können. Dies sei ihnen zufolge nicht möglich: Zwischen Individuum und Begriff bestehe eine uneinholbare Differenz (Kierkegaard, Sartre, de Beauvoir). So sei der Mensch in seiner ganzen zufälligen Existenz und Einzigartigkeit ein für das Denken unfassbares Rätsel. In diesem Sinne formuliert Kierkegaard gegen Hegel gerichtet: „Ein System des Daseins kann nicht gegeben werden. […] System und Abgeschlossenheit entsprechen einander; Dasein aber ist gerade das Entgegengesetzte. Abstrakt lassen sich daher System und Dasein nicht zusammendenken.“9 Mit der Auffassung von einem in seiner Gänze unbegreiflichen Individuum stehen die Denker der Moderne in einer weit zurückreichenden philosophischen Tradition, die bis auf die Antike zurückgeht und unter das bekannte Schlagwort „individuum est ineffabile“ fällt, auf Deutsch: „Das Individuum ist unfassbar“. Bereits Aristoteles hatte erkannt, dass uns die phänomenale Welt, die aus Einzeldingen besteht, als Objekt rationaler Erkenntnis nur in Allgemeinbegriffen zugänglich ist.10 Wenn ich ein konkretes Individuum bezeichnen möchte, dann stehen mir nur allgemeine Begriffe zur Verfügung, Begriffe wie „Baum“, „Löwe“ oder indexikalische Ausdrücke wie „dieser“. Ich habe keinen Begriff für dieses bestimmte Individuum. Aristoteles fährt fort, dass, wenn ich eine Aussage über ein bestimmtes Individuum machen möchte, ich nur mehrere Prädikate verbindend verwenden kann wie etwa „das Individuum, das die und die Eigenschaften hat“. Eine Aussage als Verbindung 8

Derrida 1986, S. 91. Kierkegaard 1994, S. 111. 10 Vgl. Met. 1039 b 20 – 1040 b 4. Vgl. ferner Breden, Torsten M.: Individuation und Kombinatorik. Eine Studie zur philosophischen Entwicklung des jungen Leibniz. Stuttgart-Bad Cannstatt 2009, S. 1; Asmuth, Christoph: „Das paradoxe Individuum. Reflexionen über die Probleme des methodischen Individualismus.“ In: Grüneberg, Patrick (Hg.): Das modellierte Individuum. Biologische Modelle und ihre ethischen Implikationen. Bielefeld 2012a, S. 193 – 204, hier S. 196. 9

Kritik an Hegels Philosophie

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mehrerer Prädikate – so Aristoteles – bleibt aber immer hinter der ursprünglichen Einheit des Individuums zurück. Die ganzheitliche Einheit des Individuums erfasse ich damit nicht.11 Sie ist in keinen Begriff zu fassen; sie ist unsagbar. Auch wenn die Auffassung von der Ineffabilität des Individuums der Sache nach bis auf die Antike zurückreicht, ist die Bezeichnung „individuum est ineffabile“ selbst erstmals bei Goethe in einem Brief aus dem Jahr 1780 an den berühmten Physiognomen Johann Caspar Lavater dokumentiert.12 Goethe bringt darin zum Ausdruck, dass sich das Individuum unserem erkennenden Zugriff grundsätzlich entzieht. Obwohl sich die modernen Denker mit der Auffassung eines in seiner Gänze unfassbaren Individuums in eine Traditionslinie mit Aristoteles und Goethe stellen, beantworten sie die Frage, warum es sich unserer Erkenntnis entzieht, jeweils anders. Hierauf braucht an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Für unseren Zusammenhang ist lediglich die Feststellung relevant, dass sie sich darin einig sind, das Individuum sei durch keinen Begriff einzufangen.

(B) Die Instrumentalisierung des Individuums durch den Weltgeist Der zweite Kritikpunkt, der durch Hegels Ausführungen über die Philosophie der Geschichte hervorgerufen wurde, nimmt Ausgang an dessen teleologischem Geschichtsverständnis: Hegel legt dar, dass sich in der Weltgeschichte der sogenannte Weltgeist entwickle; die Weltgeschichte sei „der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes“.13 „Substanz“ bzw. „Wesen“ des Geistes sei wiederum die Freiheit.14 Den „Endzweck“ der Weltgeschichte sieht er nun darin, dass der Geist von sich selbst als die sich in der Geschichte realisierende Freiheit wisse: „Es ist also […] als Endzweck der Welt das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit und ebendamit die Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt angegeben worden.“15 Was das Verhältnis des 11

Vgl. Met. 140 a 7 – 1040 b 4. Vgl. ferner Pieper, Annemarie: „Individuum est ineffabile.“ In: Krings, Hermann u. a. (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 3. München 1973, S. 728 – 737, hier S. 729 f. 12 Goethe teilt mit dem Pfarrer und berühmten Physiognomen Johann Caspar Lavater die Annahme, dass man aus den Gesichtszügen eines Menschen auf dessen Charakter schließen könne, wobei Goethe darauf insistiert, dass der Charakter eines Menschen im Ganzen letztlich doch unfassbar bleibe. So schreibt er an Lavater in einem Brief aus dem Jahr 1780: „Im Physiognomischen sind mir einige Hauptpunkte deutlich geworden, die dir wohl längst nichts neues sind, mir aber von Wichtigkeit wegen der Folgen. Hab ich dir das Wort / Individuum est ineffabile / Woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?“ (Heinrich Hirzel (Hg.): Briefe von Goethe an Lavater: aus den Jahren 1774 – 1783; nebst einem Anhange und zwei Facsimile. Leipzig 1833, S. 104). 13 Werke 12, 22. 14 Ebd., S. 30. 15 Ebd., S. 32.

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Weltgeistes zum Menschen anbetrifft, geht Hegel von dem Gedanken aus, dass der Mensch in seinem Leben bestimmte Interessen und Zwecke verfolge: „Ich verstehe hier nämlich überhaupt die Tätigkeit des Menschen aus partikulären Interessen, aus speziellen Zwecken oder, wenn man will, selbstsüchtigen Absichten, und zwar so, daß sie in diese Zwecke die ganze Energie ihres Wollens und Charakters legen, ihnen anderes, das auch Zweck sein kann, oder vielmehr alles andere aufopfern.“16 Entscheidend ist nun seine Aussage, dass, auch wenn der Mensch meine, seine eigenen, partikularen Zwecke zu verfolgen, er ohne es zu wissen die Zwecke des allgemeinen Weltgeistes realisiere. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte ist in diesem Sinne zu lesen: „Diese unermeßliche Masse von Wollen, Interessen und Tätigkeiten sind die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen, ihn zum Bewußtsein zu erheben und zu verwirklichen […]. Daß aber jene Lebendigkeiten der Individuen und der Völker, indem sie das Ihrige suchen und befriedigen zugleich die Mittel und Werkzeuge eines Höheren und Weiteren sind, von dem sie nichts wissen, das sie bewußtlos vollbringen.“17

Die Kritik, die Hegels Ausführungen über das menschliche Individuum als „Mittel und Werkzeuge“ des Weltgeistes hervorrief, lautet schließlich, dass er es ausschließlich in der Rolle sehe, unwissentlich dessen Zwecke in der Geschichte auszuführen. Das Individuum sei bloßes Instrument. Seine einzelne Existenz, sein Schicksal zähle nichts. Aus diesem Grund bezeichnet der russische Existenzphilosoph Wissarion Grigorjewitsch Belinski (1811 – 1848) Hegels Weltgeist ostentativ als „Moloch“, das heißt als eine grausame göttliche Macht, die die einzelnen Menschen verschlinge: „Das Subjekt ist bei ihm [Hegel; EvG] kein Selbstzweck, sondern nur Mittel für einen momentanen Ausdruck des Allgemeinen, und das Allgemeine ist für ihn ein Moloch, denn es stolziert in ihm [im Subjekt; EvG] und wirft es dann weg wie eine alte Hose.“18 Dass der Einzelne bei Hegel nur insofern von Bedeutung sei, als er zur Realisierung der Zwecke des Weltgeistes in der Geschichte beitrage, kritisiert Horkheimer mit den Worten: „Das Individuum als Motiv und Ziel, der höchste Wert im gesamten Emanzipationskampf der Aufklärung, hat in Hegels Philosophie nur noch eine relative Wirklichkeit mit einem sehr gewichtigen Insofern.“19 An dem Umstand, dass die Individuen unwissentlich die Zwecke des Weltgeistes ausführen, wurde zudem deren völlige Fremdbestimmung kritisiert. Das Individuum werde bei Hegel entmündigt und zur Marionette herabgewürdigt. Als solches sei es in 16

Ebd., S. 38. Ebd., S. 40. 18 Zitiert nach Löwith 1995, S. 160. 19 Horkheimer, Max: „Vorlesung über die Geschichte der deutschen idealistischen Philosophie.“ In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 10: Nachgelassene Schriften 1914 – 1931. Hg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt a. M. 1990, S. 22. In der Aufklärung (1720 – 1800) rückte der Fokus auf das Individuum, für das neue Bürger- und Menschenrechte eingefordert wurden, wie zum Beispiel die Rechte auf persönliche Handlungsfreiheit, Bildung und Presse- und Meinungsfreiheit. 17

Kritik an Hegels Philosophie

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seinem Verhalten weder frei noch könne es für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden. So bemerkt Nietzsche kritisch gegen Hegel gerichtet: „Jede Vergötterung der abgezogenen Allgemeinbegriffe, Staat, Volk, Menschheit, Weltprozess hat den Nachteil, die Bürde des Individuums kleiner zu machen und seine Verantwortung zu erleichtern.“20 Dass dem Menschen jede Würde und Freiheit genommen werde, wenn er lediglich aus der Perspektive des geschichtsbeherrschenden Weltgeistes aus betrachtet werde, stellt Simone de Beauvoir fest. Sie berichtet über ihre Leseerfahrung von Hegels Geschichtsphilosophie: „Ja, es war verlockend, sich überwachsen zu lassen vom Universellen, sein eigenes Leben unter der Perspektive des Ziels der Geschichte zu betrachten, mit jener Unpersönlichkeit, die auch den Aspekt des Todes einbezieht. Wie lächerlich erschien dann dieser winzige Augenblick in der Weltzeit, ein Individuum, ich! Warum mich sorgen um das, was mir zustieß, was mich umgab, hier und jetzt?“21 Auch wenn de Beauvoir im ersten Moment fasziniert ist von dem Gedanken, das Leben unter der Perspektive eines feststehenden Ziels zu betrachten, kommt sie schließlich zu dem Ergebnis, dass der Mensch in einer solchen Geschichtsauffassung nur ein Rädchen in einem größeren Getriebe sei bzw. – in de Beauvoirs eigenen Worten – eine „Ameise in einem Ameisenhaufen“.22 Er sei nur einer unter vielen; seine einzelne Existenz sei dabei kaum von Wert. Für meine späteren Ausführungen – wenn es um die Skizzierung meiner Fragestellung gehen wird – sei darauf hingewiesen, dass das Verständnis, nach dem das Individuum vom Weltgeist für seine Zwecke instrumentalisiert wird, die Annahme einer grundsätzlichen Trennung dieser beiden präsupponiert. Denn derjenige, der instrumentalisiert – das ist meine Überlegung –, kann niemals derselbe sein wie derjenige, der instrumentalisiert wird. Oder um das Bild von Hegels Kritikern zu gebrauchen: Die Marionette kann niemals auch der Marionettenspieler sein. Wenn der Weltgeist die Individuen für seine Zwecke instrumentalisiert, dann scheint er eine von ihnen getrennte, irgendwie geartete Realität zu haben und sich ihrer – überspitzt formuliert – nach Lust und Laune zu bedienen. Damit soll nicht gesagt sein, dass Hegel selbst von einer Trennung von Individuum und Weltgeist ausgeht, sondern ausschließlich, dass seinen Kritikern ein solches Verständnis seiner Geschichtsphilosophie zugrunde liegt. Zwischen ihnen besteht zumindest in ihren Augen in gewisser Weise eine Polarität. Dass Hegel dieses Verständnis durch solche Formulierungen wie derjenigen vom Individuum als „Mittel“ des Weltgeistes selbst provoziert hat, ist – das sei seinen Kritikern zugestanden – kaum zu leugnen. Schauen wir uns beide Kritikpunkte (A) und (B) an und fragen nach einem Überschneidungspunkt, dann ist zu bemerken, dass in beiden eine Vereinnahmung des Individuums durch das Allgemeine behauptet wird. Im Falle des ersten Kritik20

Nietzsche, Friedrich: „Sämtliche Briefe.“ In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 7. München 1986, S. 662. 21 de Beauvoir 1998, S. 402. 22 Ebd., S. 403. Vgl. ferner Prinz, Alois: Das Leben der Simone de Beauvoir. Berlin 2021, S. 120 f.

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punkts wird das Individuum auf die allgemeine Struktur von Subjektivität reduziert. Im zweiten Fall wiederum dient es dem allgemeinen Weltgeist als Instrument. Statt von einer Vereinnahmung des Individuums durch das Allgemeine zu sprechen, könnte man auch sagen, dass Hegel es zugunsten des Allgemeinen abwertet. Im ersten Fall wertet Hegel das Individuum in seiner Einmaligkeit zugunsten der allgemeinen Struktur von Subjektivität ab, so zumindest der Vorwurf. Im zweiten Fall wertet er es zugunsten des geschichtsbeherrschenden Weltgeistes insofern ab, als es lediglich Mittel zur Realisierung seiner Zwecke ist. In dem vermeinten Umstand, dass in Hegels Philosophie das Individuum vom Allgemeinen vereinnahmt bzw. zugunsten des Allgemeinen abgewertet werde, sehen seine Kritiker – in Hannah Arendts Worten – „das letzte Wort der gesamten abendländischen Tradition“.23 Die modernen Denker hingegen fühlen sich als die Kinder einer neuen Zeit, in der dem Einzelnen endlich zu seinem Recht verholfen werde. So definiert Adorno die Aufgabe der Philosophie im Anschluss an Hegel wie folgt: „Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begrifflosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte.“24 Dass sich die modernen Denker so vehement gegen eine Vereinnahmung des Individuums durch das Allgemeine wehren, ist sicherlich zum Großteil auf die gesellschaftlichen und politischen Umstände ihrer Zeit zurückzuführen. Auch wenn hierauf nicht im Detail eingegangen werden kann, seien die gesellschaftspolitischen Umstände im 19. und 20. Jahrhundert wenigstens kurz erwähnt, um die Motivlage von Hegels Kritikern besser zu verstehen: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Industrialisierung in vollem Gange und brachte gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen mit sich wie etwa die Urbanisierung, die Elektrifizierung sowie den Übergang von der manuellen, handwerklichen Fertigung zur Massenproduktion durch Maschinen und damit einhergehend der Fließbandarbeit. Es war die Zeit des beginnenden Kapitalismus, in welcher der Einzelne in Gefahr geriet, an Bedeutung zu verlieren und auf seine Funktion als Arbeiter reduziert zu werden. Im 20. Jahrhundert war das Schicksal des Einzelnen indessen durch den Faschismus und Nationalsozialismus bedroht: Alles und jeder hatte sich den politischen Zielen des nationalsozialistischen Regimes unterzuordnen. Pluralismus und Demokratie wurden beseitigt und Menschen in den Konzentrationslagern massenweise „vernichtet“. Vor diesem gesellschaftlich-politischen Hintergrund ist nachzuvollziehen, wie so viele Denker im endenden 19. und 20. Jahrhundert die vermeintliche Vereinnahmung des Individuums durch das Allgemeine, die sie bei Hegel zu lesen meinten, als eine solche Provokation empfinden konnten. Sie fühlten sich dazu aufgefordert, lauthals Stellung zu beziehen und die Bedeutung eines jeden Einzelnen hervorzuheben. 23 24

Arendt 1990, S. 6. Adorno 1996, S. 19 – 20.

Fortführung der Kritik

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Fortführung der Kritik Die Kritik, Hegel werde dem Individuum in seiner Philosophie nicht gerecht, ist sehr wirkmächtig gewesen. Sie wird sowohl von den einschlägigen philosophischen Wörterbüchern als auch von Überblickswerken über die Philosophiegeschichte unreflektiert aufgegriffen und weitergetragen. Auch in der Sekundärliteratur zur Moderne dominiert die Auffassung, er habe dem Individuum in seiner Philosophie keinen angemessenen Platz eingeräumt. In der gegenwärtigen Forschung wird die Ansicht, Hegel interessiere sich wenn überhaupt dann nur am Rande für das menschliche Individuum, insbesondere von Vertretern der älteren Hegel-Schule vertreten. Den ersten Kritikpunkt, demzufolge er das Individuum lediglich als Allgemeines bzw. Subjekt unter Ausklammerung seiner Individualität thematisiere und zudem versuche, das Individuum begrifflich durchgängig zu bestimmen, äußern heutzutage – um nur einige Namen zu nennen – in der ein oder anderen Weise Hermann Schmitz, Jürgen Habermas, Herbert Schnädelbach, Burkhard Tuschling, Volker Gerhardt, Manfred Frank, Christa Hackenesch und Frederick Neuhouser.25 Den zweiten Kritikpunkt, demzufolge Hegel das Individuum nur in der Funktion behandle, zur geschichtlichen Entwicklung des Weltgeistes beizutragen, haben in den 30er und 50er Jahren etwa Hermann Glockner und Theodor Litt in ihren großen Gesamtdarstellungen seiner Philosophie vertreten. Glockner fällt in seinem Werk Hegel von 1931 das Urteil, dass es ein „Grundgebrechen“ der Hegelschen Philosophie sei, „das Moment der Individualität (= Einmaligkeit und unverwechselbare Einzigkeit) jeder Entwicklungsstufe, jedes persönlichen Trägers, jedes geschichtlichen Augenblicks“ nicht von vornherein in seinen philosophischen Ansatz mitaufgenommen zu haben.26 Litt konstatiert in seiner Gesamtdarstellung Hegel: Versuch einer kritischen Erneuerung von 1953, dass Hegel durch die Einführung des geschichtsbeherrschenden Weltgeistes „zu einer Überbetonung des Allgemeinen und Übergreifenden“ gelange, „die für das Besondere nur den Schein von Einsicht und Selbstbestimmung übrig läßt“. Es komme, so Litt, „zu jener Entmündigung des 25

Vgl. Schmitz, Hermann: Hegel als Denker der Individualität. Meisenheim am Glan 1957, S. 166; Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1988; Schnädelbach, Herbert: Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung. Hamburg 2013, S. 44; Tuschling, Burkhard: „Die Idee in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes.“ In: Hespe, Franz – Tuschling, Burkhard (Hg.): Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes: Beiträge zu einer Hegel-Tagung in Marburg 1989. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 522 – 575, hier S. 546 u. 549; Gerhardt, Volker: Individualität: Das Element der Welt. München 2000, S. 138; Frank, Manfred: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Frankfurt a. M. 1986, S. 18; Hackenesch, Christa: „Der subjektive Geist. Hegels Begriff des Menschen.“ In: Arndt, Andreas u. a. (Hg.): Phänomenologie des Geistes, Teil 2. Berlin 2002, S. 40 – 44, hier S. 42; Neuhouser, Frederick: Foundations of Hegel’s social theory: actualizing freedom. Cambridge 2000; ders.: „Die Idee einer Hegelschen ,Wissenschaft‘ der Gesellschaft.“ In: Analyse & Kritik 30 (2008), S. 355 – 378. 26 Zitiert nach Schmitz 1957, S. 15.

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persönlichen Lebens, die den Menschen zur Marionette in der Hand des Weltgeistes herabwürdigt“.27 Im Historischen Wörterbuch für Philosophie – dem Standardnachschlagewerk in der Philosophie – heißt es darüber hinaus in dem Eintrag über „das Einzelne“, dass sich in der Zeit nach Hegel „eine positivere Sicht des Einzelnen“ durchgesetzt habe.28 Diese Aussage impliziert, dass bei ihm eine negative Sicht auf das Einzelne vorherrscht. Auch Odo Marquard, Annemarie Pieper, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Gerald Hartung, Roland Bothner und Bertrand Russell sprechen über Hegels Philosophie das Verdikt aus, dass der Einzelne in ihr nur zähle, insofern er zum Fortschritt der Geschichte beitrage. In seiner einzelnen Existenz hingegen sei er unbedeutend.29 Die Interpretation, nach der Individuum und Geist bei Hegel in gewisser Weise getrennt voneinander bestehen, scheinen unter anderem Nicolai Hartmann, Norbert Elias, Iring Fetscher, Charles Taylor und Burkhart Tuschling zu vertreten.30 Des Weiteren fällt auf, dass Hegels Schriften zu den gegenwärtigen philosophischen Debatten zum Thema Individualität nicht hinzugezogen werden. Es scheint allgemeiner Konsens zu sein, dass zu diesem Thema nichts bei ihm zu holen sei. So wird er zum Beispiel weder in der Monographie von Volker Gerhardt noch in derjenigen von Manfred Frank zum Thema der Individualität des Menschen erwähnt, obwohl sich bei beiden zahlreiche Bezüge zur Philosophiegeschichte, insbesondere zur Klassischen Deutschen Philosophie finden lassen.31 Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass der Topos von der Individualitätsvergessenheit Hegels seit circa vierzig Jahren zunehmend in Frage gestellt wird. Immer häufiger werden Stimmen laut, die meinen, er habe dem menschlichen In27

Litt, Theodor: Hegel: Versuch einer kritischen Erneuerung. Heidelberg 1953, S. 146. Theissmann, Udo: „Einzelne (der)“. In: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2. Basel u. a. 1972, S. 425 – 427, hier S. 426. 29 Vgl. Marquard, Odo: Der Einzelne: Vorlesungen zur Existenzphilosophie. Stuttgart 2013, S. 106; Pieper 1973, S. 731; Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Geschichte wissen: Eine Philosophie der Kontingenz im Anschluss an Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2014, S. 137 ff.; Hartung, Gerald: Philosophische Anthropologie. Stuttgart 2008, S. 71 f.; Bothner, Roland: Unlust des Denkens: Zur Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Heidelberg 2020, S. 18 f.; Russell, Bertrand: Philosophie des Abendlandes: Ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung. Köln 2012, S. 738 f. Russel vertritt in seinem Buch Philosophie des Abendlandes die Ansicht, dass das Individuum für Hegel lediglich eine Illusion sei: „Von seinem einstigen Interesse für das Mystische blieb ihm der Glaube an die Unwirklichkeit alles Einzelseins; nach seiner Auffassung ist die Welt keine Anhäufung von festen Einheiten, Atomen oder Seelen, deren jede vollkommen selbständig ist. Die scheinbare Selbständigkeit endlicher Dinge hielt er für Täuschung; nichts, meinte er, sei letzten Endes völlig real außer dem Ganzen.“ (Russel 2012, S. 738 f.). 30 Vgl. Hartmann, Nicolai: Die Philosophie des deutschen Idealismus. II. Teil: Hegel. Berlin u. a. 1960, S. 300 – 308; Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen. Amsterdam 2015, S. 19; Fetscher, Iring: Hegels Lehre vom Menschen. Kommentar zu den §§ 387 bis 482 der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1970; Taylor, Charles: Hegel. Frankfurt a. M. 2014, S. 111, 130 – 34 u. 143; Tuschling 1991, S. 559. 31 Vgl. Gerhardt 2000; Frank 1986. 28

Fortführung der Kritik

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dividuum in seinem System eine größere Bedeutung beigemessen, als gemeinhin angenommen. Zu erwähnen ist hier allen voran die Studie von Henning Ottmann Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, in der er sich mit einigen der weit verbreitetsten Etikettierungen Hegels auseinandersetzt (Hegel als „Emanzipationsphilosoph“, als „Atheist“, als „Vordenker des totalitären Staats“, als „antiindividualistischer Systemdenker“ usw.) und ihre Einseitigkeit unter Hinzuziehung seiner praktischen Philosophie aufzuzeigen bemüht ist.32 Zudem ist eine stetige Zunahme der Forschungsliteratur zu verzeichnen, in der es um das Individuum in Hegels Philosophie aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln und unter Berücksichtigung verschiedener Systemteile geht. Zu nennen sind hier unter anderem die Arbeiten von Erzsébet Rósza, Paul Cobben, Sally Sedgwick und Andreas Arndt sowie die Dissertationen von Tatjana Sheplyakova und Vasiliki Karavakou, welche die Bedeutung des Individuums für seine Rechtsphilosophie untersuchen.33 Kurt Appel bemüht sich, die Kontingenz, Verletzbarkeit und Dignität des einzelnen Menschen in der Phänomenologie des Geistes von 1807 sichtbar zu machen.34 Hermann Schmitz, Franz Ungler und Thomas Sören Hoffmann wiederum argumentieren in ihren Monographien mit je anderer Stoßrichtung, dass die dreibändige Wissenschaft der Logik als die begriffliche Entfaltung des Individuellen zu lesen sei.35 Eine systematische Analyse der „Philosophie des subjektiven Geistes“ hinsichtlich des Individuellen bei Hegel, wie sie hier vorgenommen werden soll, steht hingegen noch aus.

32 Vgl. Ottmann, Henning: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. Bd. 1: Hegel im Spiegel der Interpretationen. Berlin u. a. 1977, S. 1. 33 Vgl. Rósza, Erzsébet: Modern individuality in Hegel’s practical philosophy. Leiden u. a. 2012a; dies.: Hegels Konzeption praktischer Individualität: Von der „Phänomenologie des Geistes“ zum enzyklopädischen System. Paderborn 2017; Cobben, Paul: Das endliche Selbst: Identität (und Differenz) zwischen Hegels „Phänomenologie des Geistes“ und Heideggers „Sein und Zeit“. Würzburg 1999; Sedgwick, Sally: „Maintaining Individuality in Hegelian Ethical Life.“ In: Koch, Oliver – Schülein, Johannes-Georg (Hg.): Subjekt und Person: Beiträge zu einem Schlüsselproblem der klassischen deutschen Philosophie. Hamburg 2019, S. 213 – 224; Arndt, Andreas: „Individualität bei Hegel und Marx.“ In: Koch, Oliver – Schülein, Johannes-Georg (Hg.): Subjekt und Person: Beiträge zu einem Schlüsselproblem der klassischen deutschen Philosophie. Hamburg 2019, S. 225 – 240; Sheplyakova, Tatjana: Öffentliche Freiheit und Individualität. Hegels Kritik des moralisch-juridischen Modells politischer Kultur. Berlin 2017; Karavakou, Vasiliki: Hegel’s theory of individual freedom. Athen 2002. 34 Vgl. Appel, Kurt: „Individuum est effabile. Hegels Versuch einer Weiterführung Kants in Sicht des Menschlichen.“ In: Josifovic, Sasa – Kok, Arthur (Hg.): Der „innere“ Gerichtshof der Vernunft. Normativität, Rationalität und Gewissen in der Philosophie Immanuel Kants und im Deutschen Idealismus. Leiden u. a. 2016, S. 219 – 243. 35 Vgl. Schmitz 1957; Ungler, Franz: Individuelles und Individuationsprinzip in Hegels „Wissenschaft der Logik“. Hg. v. Max Gottschlich u. Thomas Sören Hoffmann. Freiburg u. a. 2017; Hoffman, Thomas Sören: Die absolute Form: Modalität, Individualität und das Prinzip der Philosophie nach Kant und Hegel. Berlin u. a. 1991.

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Fragestellung In dieser Arbeit soll die weit verbreitete Ansicht einer Depotenzierung des menschlichen Individuums in Hegels Philosophie hinterfragt werden. Dafür werde ich mich nicht – wie vielleicht zu erwarten wäre – mit Hegels Phänomenologie des Geistes von 1807 und seinen an verschiedenen Stellen seines Werkes getätigten Aussagen über die Philosophie der Geschichte befassen, welche die Kritik an seiner Philosophie zuallererst entfacht haben. Es soll folglich auch keine Rolle spielen, ob seine Phänomenologie und Geschichtsphilosophie in der Vergangenheit richtig verstanden wurden, ob entscheidende Stellen überlesen wurden oder ob Hegel immer wortwörtlich zu nehmen ist. Stattdessen soll die Blickrichtung geändert und gezeigt werden, in welch anderem Systemteil er sich intensiv mit dem menschlichen Individuum befasst, und zwar – wie oben schon einmal angekündigt – in der „Philosophie des subjektiven Geistes“. Sie ist der erste von drei Teilen von Hegels Geistphilosophie. In ihr geht es, wie der Titel bereits besagt, um den subjektiven, das heißt menschlichen Geist. Die „Philosophie des subjektiven Geistes“ wurde lange Zeit unterschätzt und infolgedessen kaum beachtet. Von ihrer Geringschätzung im 19. und 20. Jahrhundert zeugen etwa die Ausführungen von Rudolf Haym und Nicolai Hartmann in ihrer jeweiligen Gesamtdarstellung der Hegelschen Philosophie. So schreibt Haym in seinem Monumentalwerk von 1857 Hegel und seine Zeit, dass die subjektive Geistphilosophie der „mindest originelle Teil seines Systems“ sei.36 Ähnlich urteilt Hartmann im zweiten Teils seines Werkes Philosophie des deutschen Idealismus von 1929: „Seine Anthropologie und Psychologie sind nicht von gleicher Intuitionskraft [wie die objektive Geistphilosophie; EvG]; und wenn in der Anordnung der Enzyklopädie die ,Phänomenologie des Geistes‘ zwischen die beiden letzteren eingeschoben ist, so wirkt das thematisch nicht richtig, denn ihr Gegenstand reicht weiter über das Gebiet des ,subjektiven Geistes‘ hinaus; man empfindet es fast wie eine Ungerechtigkeit Hegels gegen sein eigenes erstes Hauptwerk [die Phänomenologie des Geistes von 1807; EvG].“37 Auch wenn es einzelne Denker gab, die anderer Auffassung als Haym und Hartmann waren und sich mit der subjektiven Geistphilosophie produktiv auseinandersetzten – wie etwa Johann Eduard Erdmann, Carl Ludwig Michelet, Karl Rosenkranz und der junge Ludwig Feuerbach –, überwog letztlich die Ansicht, nach der die subjektive Geistphilosophie den anderen Systemteilen nachstehe und deswegen nicht beachtenswert sei.38 36

Haym, Rudolf: Hegel und seine Zeit. Darmstadt 1962 [1857], S. 337. Hartmann 1960 [1929], S. 282 f. 38 Vgl. Erdmann, Johann Eduard: Grundriß der Psychologie: fünf Vorlesungen. Leipzig 1873 [1847]; Michelet, Carl Ludwig: Anthropologie und Psychologie oder die Philosophie des subjectiven Geistes. Berlin 1840; Rosenkranz, Karl: Psychologie oder die Wissenschaft vom sucjectiven Geist. Königsberg 1843; Feuerbach, Ludwig: Über die eine, allgemeine, unendliche Vernunft. Erlangen 1828. Feuerbach befasst sich in seiner Inaugural-Dissertation mit dem Titel Über die eine, allgemeine, unendliche Vernunft aus dem Jahr 1828 intensiv mit 37

Fragestellung

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Erst seit den neunziger Jahren unterliegt die subjektive Geistphilosophie einer Rezeptionskonjunktur. Es werden Fachtagungen zu diesem lange vernachlässigten Systemteil veranstaltet und es erscheinen Monographien und wissenschaftliche Artikel. Auch wird die Meinung zunehmend in Frage gestellt, nach welcher der objektiven und der absoluten Geistphilosophie eine höhere Dignität als der subjektiven Geistphilosophie innerhalb von Hegels System zukomme. Unter Hinzuziehung der „Philosophie des subjektiven Geistes“ möchte ich in der folgenden Untersuchung zeigen, dass das Bild Hegels als demjenigen, der dem Individuum nicht gerecht wird, unvollständig ist und insgesamt ein falsches Verständnis seines philosophischen Systems bewirkt. Meine Untersuchung gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil soll dem ersten Kritikpunkt an Hegel begegnet werden, er thematisiere das menschliche Individuum lediglich als Allgemeines. Im zweiten Teil wiederum soll die Trennung von Individuum und Geist hinterfragt werden, die dem zweiten Kritikpunkt, der Instrumentalisierung des Individuums durch den Weltgeist, zugrunde liegt. Im ersten Teil meiner Arbeit werde ich dafür argumentieren, dass Hegel das menschliche Individuum in der subjektiven Geistphilosophie nicht nur der allgemeinen Struktur von Subjektivität nach thematisiert, sondern auch seiner Individualität bzw. Einzigartigkeit nach.39 Dabei leitet mich die Frage, was es Hegel zufolge in seiner Individualität auszeichnet.40 Im Zuge der Beantwortung dieser Frage erörtert er wichtige philosophische Themen wie das bis heute relevante Leib-SeeleProblem, die in der Philosophiegeschichte bis auf die Antike zurückreichende Frage nach dem Individuationsprinzip, das Verhältnis von Individualität und Sozialität sowie das Problem der Vereinbarkeit von Determinismus und Willensfreiheit. Er entwickelt eine basale Theorie des Unbewussten, befasst sich eingehend mit dem Phänomen menschlichen Ausdrucks und fragt nach der Entstehung personaler Identität. Alle diese Themen spielen im ersten Teil meiner Untersuchung eine Hegels „Philosophie des subjektiven Geistes“ und nimmt durchweg positiv Bezug auf sie. Er schreibt: „Der Gegenstand, der mich in jener Zeit besonders beschäftigte, den ich auch zum Gegenstand meiner Doktordissertation gemacht hatte, war das Verhältnis der Vernunft zum Menschen, des Allgemeinen zum Einzelnen, des Denkens zum Individuum, des Geistes zum Leibe.“ (Schuffenhauer, Werner: „,Verhältnis zu Hegel‘ – ein Nachlassfragment von Ludwig Feuerbach.“ In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 30 (1982), 4, S. 507 – 515, hier S. 513.) Erst später wendet sich Feuerbach von Hegel ab. 39 In der Forschung ist bisher völlig übersehen worden, dass sich Hegel ausführlich mit der Frage befasst, was jeden von uns einmalig und unverwechselbar macht. So meint etwa Shachar Freddy Kislev fälschlicherweise, dass Hegel an keiner Stelle seines Werkes definiere, worin die Individualität des Individuums bestehe. (Vgl. Chachar Freddy Kislev: „Hegel, Spinoza, and the Principle of Individuality.“ In: International Journal of Philosophical Studies 26 (2018), 4, S. 499 – 522, hier S. 499). 40 Sicherlich wäre in diesem Zusammenhang auch die Frage interessant, inwiefern sich die Individualität des Menschen Hegel zufolge von derjenigen des Tieres unterscheidet. Dieser Frage soll im Rahmen meiner Untersuchung allerdings nicht nachgegangen werden. Meines Wissens liegt dazu noch keine Untersuchung vor.

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zentrale Rolle. Neben der Frage, was die Individualität des menschlichen Individuums konstituiert, werde ich darüber hinaus Argumente für die begriffliche Unzugänglichkeit des Individuums in Hegels subjektiver Geistphilosophie vorbringen. Auch er stimmt dem bis auf die Antike zurückgehenden Diktum „individuum est ineffabile“ zu, wobei herauszuarbeiten sein wird, worin ihm zufolge die Unfassbarkeit des Individuums besteht. Im zweiten Teil meiner Untersuchung soll es nicht um die Frage gehen, wie das von Hegel in seiner Geschichtsphilosophie dargelegte Verhältnis von Individuum und Weltgeist konkret zu verstehen ist.41 Dafür wäre eine Untersuchung seiner Geschichtsphilosophie erforderlich, die in dieser Arbeit aber, wie gesagt, ausgespart werden soll. Stattdessen soll das Verhältnis von Individuum und Geist in der subjektiven Geistphilosophie strukturell erhellt werden. Ich werde dafür streiten, dass ihr zufolge Individuum und Geist nicht getrennt voneinander bestehen können, sondern in eins gedacht werden müssen in der Weise, dass das menschliche Individuum selbst Geist ist. Als Geist ist das Individuum – wie darüber hinaus zu belegen sein wird – absolut frei und erhaben. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Hegel in der subjektiven Geistphilosophie Formulierungen gebraucht, die mit meiner Leseweise, nach der Individuum und Geist nicht getrennt voneinander bestehen können, im Widerspruch zu stehen scheinen. Ich denke dabei an Formulierungen wie von der „Offenbarung“ oder auch „Manifestation“ des Geistes, die nicht nur so klingen, als hätte der Geist bereits vor seiner Manifestation bestanden, was bedeuten würde, dass er eine von den Individuen unabhängige Realität hat, sondern auch als sei der Geist ein Akteur, der sich zu seiner Manifestation entschlossen hätte.42 Ich werde die Position einnehmen, dass Hegels Formulierungen eines sich selbst offenbarenden oder auch manifestierenden Geistes nicht wortwörtlich zu nehmen sind. Hegel macht an vielen Stellen in der subjektiven Geistphilosophie deutlich, dass er den Geist nicht als ein transzendentes Subjekt, sondern als einen Begriff auffasst. Was genau Hegel unter dem Begriff des Geistes versteht und in welchem Verhältnis er zu den geistigen Individuen steht, soll neben einer genaueren Explikation von Hegels Freiheitsbegriff im zweiten Teil meiner Arbeit beleuchtet werden. Übergeordnet über beide Teile meiner Untersuchung verfolge ich darüber hinaus das Ziel, aufzuzeigen, dass Hegel nicht – wie von Hannah Arendt und anderen behauptet – der letzte Denker des Abendlandes ist, sondern am Übergang von der 41 Mit der Frage, was in Hegels Geschichtsphilosophie unter dem Weltgeist überhaupt zu verstehen ist und welchen Wert die Individuen in der geschichtlichen Entwicklung einnehmen, befassen sich in der gegenwärtigen Forschung Rosen, Micheal: „Freedom in History.“ In: Hindrichs, Gunnar (Hg.): Freiheit: Stuttgarter Hegel-Kongress 2011. Frankfurt a. M. 2013, S. 535 – 552; Pinkard, Terry: Does History make Sense? Hegel on the Historical Shapes of Justice. Cambridge 2017; Ng, Karen: „Hegel and Adorno on Negative Universal History: The Dialectic of Species-Life.“ In: Monahan, Micheal (Hg.): Creolizing Hegel. London u. a. 2017, S. 113 – 133; Novakovic, Andreja: „Human Beings as Ends-in-Themselves in Hegel’s Philosophy of History.“ In: The Review of Metaphysics 73 (2019), 2, S. 227 – 254. 42 Enz3 § 441.

Textgrundlage

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abendländischen Philosophie zur Moderne steht.43 Wie am Thema des menschlichen Individuums gezeigt werden kann, verweist er vielfach auf die abendländische Tradition, insbesondere auf Aristoteles, Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz. Auf der anderen Seite hat er viele moderne Gedanken und kann als Vorläufer des Existentialismus, des Poststrukturalismus, der Phänomenologie, der Kritischen Theorie sowie der Philosophischen Anthropologie angesehen werden. Zugleich soll nicht geleugnet werden, dass wir mit einigen von Hegels Gedanken heutzutage nur noch wenig anfangen können. Sie sind schlichtweg unmodern. Er markiert hinsichtlich einiger Gedanken somit auch einen Abschluss. Inwiefern er in unserem Kontext einerseits als einer der letzten Denker des Abendlandes und andererseits als einer der ersten Denker der Moderne gelten kann, führe ich aufbauend auf den beiden Teilen meiner Untersuchung im Schlussteil aus.

Textgrundlage Hegel hat die subjektive Geistphilosophie zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Formen ausgeführt, die uns heute als Textquellen zur Verfügung stehen und die ich in meiner Analyse berücksichtigen werde. Als Textquelle ziehe ich an erster Stelle die „Philosophie des subjektiven Geistes“ aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse heran. Die Enzyklopädie, in der Hegel sein philosophisches System darlegt, ist in drei Auflagen erschienen. Die erste Auflage stammt von 1817, die zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage von 1827 und die dritte, ebenfalls überarbeitete und noch einmal erweiterte Auflage von 1830. Zum Stellenwert der Enzyklopädien ist anzumerken, dass sie Vorlesungskompendien waren, die den Studenten als „Leitfaden“ für die Vorlesungen dienten. Hegel verfolgte mit ihnen also didaktische Zwecke.44 Deswegen sind die Paragraphen kurz und inhaltlich stark verdichtet. Sie waren von Anfang an darauf ausgelegt, von Hegel mündlich in seinen Vorlesungen erläutert zu werden. Meine Untersuchung beschränkt sich auf die Enzyklopädie in der Fassung von 1830, da sie am besten

43 Den Versuch, Hegel als einen Denker der Moderne auszuweisen, haben bereits verschiedene Autoren unternommen. Siehe etwa Asmuth, Christoph: Wissen im Aufbruch. Die Philosophie der deutschen Klassik am Beginn der Moderne. Würzburg 2018, hier insb. S. 178 – 185; Rózsa, Erzsébet: „Über Hegels Konzeption der modernen Individualität: Zehn Thesen.“ In: Arndt, Andreas (Hg.): Hegel und die Moderne. Berlin 2012b, S. 68 – 76; Hoffmann, Thomas Sören (Hg.): Hegel als Schlüsseldenker der modernen Welt: Beiträge zur Deutung der „Phänomenologie des Geistes“ aus Anlaß ihres 200-Jahr-Jubiläums. Hamburg 2009; Habermas 1988; Siep, Ludwig: Hegels praktische Philosophie und das „Projekt der Moderne“: Vortrag gehalten am 24. November 2010. Baden-Baden 2011; Peperzak, Adriaan: Modern freedom: Hegel’s legal, moral, and political philosophy. Dordrecht u. a. 2001; Rundell, John F.: Origins of modernity: the origins of modern social theory from Kant to Hegel to Marx. Cambridge u. a. 1989. 44 Vgl. Enz3, Vorrede zur ersten Ausgabe.

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Einleitung

ausgearbeitet und zeitlich das Letzte ist, was Hegel zum subjektiven Geist schriftlich niedergelegt hat. Darüber hinaus ziehe ich das Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes heran, das Hegel vermutlich im Jahr 1822 verfasst hat. Zu seiner Entstehungsgeschichte ist anzumerken, dass er zu dieser Zeit den Plan verfolgt hatte, die „Philosophie des subjektiven Geistes“ in einem Kompendium darzustellen.45 Beim Fragment handelt es sich vermutlich um Vorarbeiten zu diesem Kompendium. Er hat an seinem Plan, ein Kompendium zum subjektiven Geist zu verfassen, nicht festgehalten, vermutlich aus Zeitgründen. Abgesehen davon, dass er durch seine aufwändigen Vorlesungsverpflichtungen an der Berliner Universität voll eingenommen war, arbeitete er auch an einer neuen Fassung der Enzyklopädie und an den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Diesen Arbeiten hat er wohl den Vorrang gegeben. Im Winter 1825/26 hat er seine Absicht, ein Kompendium zur „Philosophie des subjektiven Geistes“ zu verfassen, wohl endgültig aufgegeben.46 Das Fragment ist erst in den neunziger Jahren ediert und in den Gesammelten Werken veröffentlicht worden. Neben dem Fragment stellen auch die überlieferten, gut erhaltenen Nachschriften von Hegels Vorlesungen zur Philosophie des subjektiven Geistes eine große Hilfe bei der Auslegung der stark verdichteten und zum Teil schwer verständlichen enzyklopädischen Paragraphen dar. Die Nachschriften stammen von seinen Studenten; erhalten sind Nachschriften aus den Jahren 1822, 1825 und 1827/28.47 Sie spielen in meiner Untersuchung eine relativ große Rolle, was damit zu erklären ist, dass die Nachschriften zu der Frage nach der Konstituierung menschlicher Individualität – dem ersten Teil meiner Untersuchung – sehr viel Material liefern. Aufgrund der Kürze der Paragraphen werden Hegels Gedanken zum Thema menschlicher Individualität im enzyklopädischen Text häufig nur angedeutet, während sie in den Vorlesungsnachschriften detailliert ausgeführt sind. Dass seine intensive Beschäftigung mit der Frage nach der Konstituierung menschlicher Individualität in der Forschung bisher völlig übersehen wurde, mag damit zusammenhängen, dass die Vorlesungsnachschriften eher selten zur Lektüre der „Philosophie des subjektiven Geistes“ hinzugezogen werden. Dafür gibt es sicherlich drei Gründe: Erstens wurden die Vorlesungsnachschriften zum subjektiven Geist erst vor kurzem, zwischen 2008 und 2016, in den Gesammelten Werken ediert und so einem größeren Publikum 45

GW 15, 301 f. Vgl. den editorischen Bericht zum Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes in GW 15, 299 – 304. 47 Die Nachschrift aus dem Jahr 1822 stammt von Heinrich Gustav Hotho. Aus dem Jahr 1825 sind die Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler und Moritz Pinder erhalten. Von 1827/28 liegen uns die Nachschriften von Stolzenberg, Johann Eduard Erdmann und Ferdinand Walter vor. Die Vorlesungsnachschriften sind in Gesammelten Werken nicht alle einzeln abgedruckt, sondern zu jeder der drei Vorlesungen gibt es eine Vorlesungsnachschrift als Leittext mit Varianten aus den anderen Nachschriften. 46

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zugänglich gemacht. Zweitens sind die Nachschriften aufgrund stellenweiser starker Redundanzen sehr mühsam zu lesen. Es verwundert also nicht, dass sie bei der Beschäftigung mit Hegels subjektiver Geistphilosophie gerne ausgespart werden. Drittens liegt die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1830 in der Suhrkamp-Ausgabe mit Zusätzen vor. Diese Zusätze wurden nach Hegels Tod von Ludwig Boumann kompiliert und herausgegeben. Er stellte sie aus ganz unterschiedlichen, zu verschiedenen Zeiten entstandenen Quellen zusammen, die nur schwer zurückzuverfolgen sind.48 Häufig werden die Zusätze aus Gründen der Praktikabilität und Leserlichkeit den Vorlesungsnachschriften vorgezogen. Sie sind leicht zugänglich, folgen in der Suhrkamp-Aussage direkt auf die jeweiligen Paragraphen der Enzyklopädie und sind kürzer als die zum Teil recht ausführlichen Erläuterungen in den Vorlesungsnachschriften. Obwohl den Zusätzen in der Rezeptionsgeschichte eine fast ebenbürtige Dignität wie dem Haupttext beigemessen wurde, sind in den letzten Jahrzehnten zunehmende Zweifel an der Authentizität und Glaubwürdigkeit der Zusätze laut geworden.49 Aufgrund der zweifelhaften Quellenlage der Zusätze und aufgrund des Umstandes, dass die Vorlesungsnachschriften viel unbearbeitetes Material zur Frage nach der Konstituierung menschlicher Individualität liefern, klammere ich die Zusätze aus meiner Untersuchung aus und fokussiere mich stattdessen auf die Vorlesungsnachschriften. Ergänzend ist anzumerken, dass Hegel nie eine Vorlesung unter dem Titel „Philosophie des subjektiven Geistes“ angekündigt hat. Seine Studenten hätten sich unter ihm womöglich nichts vorstellen können.50 Stattdessen hielt er seine Vorlesungen über die subjektive Geistphilosophie unter dem Titel Anthropologie und Psychologie.51 Das erste Mal im Jahr 1817 in Heidelberg. In Berlin hat er weitere fünf Vorlesungen zu diesem Thema gehalten: in den Sommersemestern 1820, 1822 und 1825 (auf der Basis der Enzyklopädie von 1817) sowie in den Wintersemestern 1827/ 28 und 1829/30 (auf der Basis der Enzyklopädie von 1827).52 Alle drei erhaltenen Nachschriften wurden von seinen Studenten nach den einzelnen Vorlesungen Zuhause ausgearbeitet. Um den Stellenwert der Vorlesungsnachschriften richtig einzuordnen, ist darauf hinzuweisen, dass sie von Hegel nicht autorisiert wurden, weshalb ich sie lediglich ergänzend zum enzyklopädischen Text hinzuziehen werde. 48

Vgl. Stederoth, Dirk: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Berlin 2001, S. 9 f. Für eine breite Diskussion der Quellenlage von Hegels „Philosophie des subjektiven Geistes“ siehe Dirk Stederoth 2001, S. 9 – 13; Rometsch, Jens: Hegels Theorie des erkennenden Subjekts: Systematische Untersuchungen zur enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes. Würzburg 2007, S. 12 – 14; Stern, David S.: „Editor’s Introduction.“ In: Ders. (Hg.): Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit. New York 2013, S. IX – XI, hier insb. S. X. Während Stederoth und Rometsch die Zusätze aufgrund ihrer zweifelhaften Quellenlage in ihren jeweiligen Untersuchungen außen vor lassen, hält David Stern die Zusätze für das Verständnis der Enzyklopädie für unerlässlich. 50 Vgl. GW 25.3, 1136. 51 Siehe den editorischen Bericht in GW 25.3, 1136 – 1209. 52 Vgl. GW 25.3, 1138 f. 49

I. Die Konstituierung menschlicher Individualität In der „Philosophie des subjektiven Geistes“ thematisiert Hegel, darauf hatte ich bereits hingewiesen, den menschlichen Geist.1 Ohne bereits an dieser Stelle beantworten zu wollen, was Hegel unter dem Geist konkret verstanden wissen will, sei lediglich gesagt, dass er ihm zufolge etwas ist, das alle Menschen miteinander teilen. Darin sind sie alle miteinander gleich bzw. identisch.2 Das meint Hegel an vorderster Stelle, wenn er sagt, dass der Geist etwas Allgemeines sei.3 Folgt man seinen Ausführungen, ist er aber nicht nur etwas Allgemeines, sondern – das wird gern und häufig übersehen – auch etwas Einzelnes, und zwar insofern, als sich alle Menschen auch voneinander unterscheiden.4 Doch wodurch unterscheiden sie sich? Was macht sie einmalig und unverwechselbar? Um diese Frage beantworten zu können, ist es erforderlich, näher auf Hegels Theorie des subjektiven Geistes einzugehen.

1. Die Theorie des subjektiven Geistes 1.1 Der Geist und seine integralen Bestandteile Hegel geht in seinen Überlegungen von der Selbstbezüglichkeit des Geistes aus: Er ist sich seiner – wie Christoph Asmuth schreibt – „in höchster Form gegenwärtig“.5 In dieser Selbstbezüglichkeit besteht Subjektivität. Indem er sich auf sich selbst bezieht, ist er zudem zur Selbstdifferenzierung fähig: Er unterscheidet sich in sich selbst. Integrale Bestandteile bzw. Instanzen, die er an sich selbst unterscheidet, sind die Seele, das Bewusstsein und der Geist.6 Dabei sind die Seele und das Bewusstsein – wie Hegel zu zeigen versucht – als Vorstufen des Geistes zu werten. Als Seele und als Bewusstsein ist der Geist nicht das, was er „an sich“ ist.7 Das ist er erst als Geist. 1 Hegel selbst spricht an verschiedenen Stellen in der Enzyklopädie vom „menschlichen Geiste“, zum Beispiel in Enz3 § 1. 2 Vgl. Enz3 §§ 2, 12 und 23. 3 Etwa in Enz3 § 377. 4 So spricht Hegel an verschiedenen Stellen vom „individuellen Geiste“. (Vgl. etwa GW 25.1, 87). 5 Asmuth, Christoph: „,Die Seele ist dasselbe als ihre Leiblichkeit in sie eingebildet.‘ Leib und Seele bei Hegel.“ In: Revista Portuguesa de Filosofia 72 (2016), 2 – 3, S. 281 – 298, hier S. 295. 6 Vgl. Asmuth 2018, S. 150; ders. 2016, S. 286. 7 Enz3 § 387. Hegel bezeichnet die Seele als „Grundlage“ des Geistes in Enz3 § 389.

1. Die Theorie des subjektiven Geistes

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Die verschiedenen integralen Bestandteile des Geistes thematisiert Hegel nacheinander in den drei Teilen der „Philosophie des subjektiven Geistes“: die Seele in der Anthropologie, das Bewusstsein in der Phänomenologie und den Geist in der Psychologie, wobei die Titel dieser drei Teile nicht wortwörtlich zu nehmen sind.8 Dass der subjektive Geist verschiedene Bestandteile an sich unterscheidet, ist wiederum nicht so zu verstehen, als wäre er ein aus Teilen zusammengesetztes Ding.9 Wäre er ein solches, wäre er in seine Teile zu zerlegen. Der Geist aber ist nicht teilbar. Stattdessen fasst Hegel den Geist als eine unteilbare Einheit auf, die – das hatte ich bereits erwähnt – sich in sich selbst differenziert. Hegel hat demzufolge eine holistische Auffassung des Geistes. Die unterschiedlichen Bestandteile, die der Geist an sich selbst unterscheidet, erfüllen verschiedene Funktionen. Diese ergeben sich aus dem unterschiedlichen Verhältnis, das jeder Bestandteil zu seinen Inhalten hat.10 Die unterschiedlichen Funktionen von Seele, Bewusstsein und Geist sollen für das spätere Verständnis in aller Kürze erläutert werden: Funktion der Seele ist allem voran das Empfinden. Sie ist vorreflexiv und bildet mit ihren Inhalten, den Empfindungen, eine unmittelbare Einheit.11 Das bedeutet, dass sie nicht zwischen sich und ihren Empfindungen unterscheidet. So wie die Seele nicht zwischen sich und ihren Empfindungen unter8 Wortwörtlich bedeutet Anthropologie die Lehre vom Menschen, die Phänomenologie die Lehre des Sichtbaren oder der Erscheinung und die Psychologie die Lehre der Seele. Diese Bedeutungen treffen inhaltlich nicht auf dasjenige zu, was Hegel in den drei Teilen der „Philosophie des subjektiven Geistes“ thematisiert. Hegel wählt für den ersten Teil seiner subjektiven Geistphilosophie den Titel „Anthropologie“, weil er in ihr die Naturanlagen des Geistes behandelt. Damit bezieht er sich auf diejenige anthropologische Definition des Menschen, deren Bezugspunkt seit Descartes die Natürlichkeit des Menschen ist (zum Beispiel sein Leib, Geschlecht, Alter, Temperament und seine Ethnie). (Vgl. Marquard, Odo: „Anthropologie.“ In: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Basel u. a. 1971, S. 362 – 374, hier S. 363 f.) Für den zweiten Teil seiner subjektiven Geistphilosophie wählt Hegel den Titel „Phänomenologie“ wohl in Bezug auf J. H. Lambert. Letzterer verstand unter ihr „eine Theorie des Scheins und seines Einflusses in die Richtigkeit und Unrichtigkeit der menschlichen Erkenntnis“. (Zitiert nach Janssen, P.: „Phänomenologie.“ In: Ritter, Joachim u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Basel 1989, S. 486 – 505, hier S. 486.) Auch wenn diese Definition nicht auf Hegels Phänomenologie zutrifft, so besteht der Anknüpfungspunkt doch darin, dass es in ihr um das Ich im Verhältnis zu einem externen Gegenstand geht sowie die Frage, was das Ich über diesen Gegenstand wissen kann. Der Titel des dritten Teils seiner subjektiven Geistphilosophie „Psychologie“ ist vermutlich ein Rekurs auf die Psychologia empirica von Christian Wolff, in der er das Vorstellungs- und Begehrungsvermögen, die Empfindung, den Verstand, das sinnliches Begehren und den Willen behandelt. (Vgl. Scheerer, Eckart: „Psychologie.“ In: Ritter, Joachim u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Basel 1989, S. 1599 – 1653, hier S. 1604.) Auch wenn Hegel in der Psychologie ein anderes Programm fährt, so bezieht er sich doch insofern auf die empirische Psychologie der Aufklärung, als es in ihr um die Vorstellung, das Denken und den Willen geht. 9 Vgl. Asmuth 2018, S. 150. 10 Vgl. Asmuth 2016, S. 293 u. 295. 11 Enz3 § 387; vgl. Enz3 § 400.

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

scheidet, unterscheidet sie auch nicht zwischen dem Gegenstand, der die Empfindung hervorruft (wie etwa den Wärmestrahlen der Sonne), und sich selbst (der Wärmeempfindung auf der Haut). Stattdessen ist es das Bewusstsein, das diese Unterscheidung vornimmt. Funktionen, die durch das Bewusstsein erfüllt werden, sind etwa das Wahrnehmen, der Verstand und die Begierde. Dies alles sind Funktionen, bei denen sich das Bewusstsein auf einen externen Gegenstand richtet, so zum Beispiel in der Wahrnehmung auf einen wahrgenommenen Gegenstand oder in der Begierde auf ein begehrtes Objekt. Den Geist wiederum zeichnet aus, dass er sich rein auf sich selbst, nämlich auf seine eigenen Inhalte bezieht. Grundlegende Funktionen des Geistes sind etwa das Vorstellen, Erinnern, Denken und Wollen. In der Erinnerung beispielsweise richtet sich der Geist auf seine eigenen erinnerten inneren Bilder und beim Denken hat er es mit seinen eigenen Denkinhalten zu tun. Auf der einen Seite sind die verschiedenen Bestandteile des Geistes je für sich unselbständig: Sie bauen aufeinander auf und durchdringen sich gegenseitig. Auf der anderen Seite bilden sie selbständige Perspektiven.12 Inwiefern die verschiedenen Bestandteile, die der Geist an sich selbst unterscheidet, auf komplexe Weise aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig bedingen, versucht Hegel in der subjektiven Geistphilosophie aufzuzeigen. Hierauf soll im weiteren Verlauf nicht näher eingegangen werden. Für unseren Zusammenhang genügt es, auf einige der vielen Einzeluntersuchungen zu verweisen, die sich diesen Fragen widmen, und stattdessen danach zu fragen, auf welche Weise Hegel Individualität in seine Theorie des in sich differenzierten Geistes integriert.13

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Vgl. Asmuth 2016, S. 296; GW 12, 183 – 184. Mit der Frage, wie die Funktionen der drei integralen Bestandteile des subjektiven Geistes – Seele, Bewusstsein und Geist – aufeinander angewiesen sind, befassen sich aktuell etwa van der Meulen, Jan: „Hegels Lehre von Leib, Seele und Geist.“ In: Hegel-Studien 2 (1963), S. 251 – 274; Hespe, Franz: „System und Funktion der Philosophie des subjektiven Geistes.“ In: Hespe, Franz – Tuschling, Burkhard (Hg.): Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes: Beiträge zu einer Hegel-Tagung in Marburg 1989. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 490 – 521; Fulda, Hans Friedrich: „Idee und vereinzeltes Subjekt in Hegels ,Enzyklopädie‘.“ In: Eley, Lothar (Hg.): Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 59 – 83; ders.: „Anthropologie und Psychologie in Hegels ,Philosophie des subjektiven Geistes‘.“ In: Schumacher, Ralph (Hg.): Idealismus als Theorie der Repräsentation. Paderborn 2001, S. 101 – 125; Arndt, Andreas: „Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes.“ In: Arndt, Andreas – Zovko, Jure (Hg.): Hegels Anthropologie. Berlin u. a. 2017a, S. 75 – 87; Nuzzo, Angelica: „Hegel’s Psychology and the Systematic Structure of Spirit.“ In: Herrmann-Sinai, Susanne – Ziglioli, Lucia (Hg.): Hegel’s Philosophical Psychology. New York 2016, S. 20 – 36. 13

1. Die Theorie des subjektiven Geistes

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1.2 Die Individuationsprinzipien: Seele, Selbstbewusstsein und Geist Wie anfangs dargelegt, ist der Geist etwas Allgemeines, und zwar insofern, als jeder Mensch Geist ist. Individuell hingegen ist er an erster Stelle – wie zu zeigen sein wird – aufgrund individueller Bestimmungen der Seele. Ihrer Seele nach unterscheiden sich alle Menschen voneinander. Sie kann als das erste Individuationsprinzip bei Hegel gelten, durch das er die Vielheit und Verschiedenheit der Individuen zu erklären versucht. Hegel wendet sich damit von einer langen Tradition ab: In der Scholastik (man denke zum Beispiel an Avicenna, Averroes, Albertus Magnus und Thomas von Aquin) gilt meist die Materie als das individuierende Prinzip.14 Der Einzelne unterscheidet sich von anderen zu derselben Art gehörigen Einzelnen durch seine bestimmte, messbare und durch Raum und Zeit konstituierte Materie.15 Sie reicht Hegel zufolge aus bestimmten, noch darzulegen Gründen nicht aus, um Individualität zu erklären. Allerdings genügt es ihm zufolge auch nicht, die Individualität ausschließlich in der Seele begründet zu sehen. Das menschliche Individuum zeichnet gerade aus, nicht nur individuell bestimmt zu sein, sondern auch sich seiner selbst bewusst zu sein und sich dabei selbst von allen anderen zu unterscheiden. Diese Leistung des Individuums schreibt Hegel dem Selbstbewusstsein zu, das wiederum eine höhere Form des Bewusstseins ist. Im Selbstbewusstsein eignet sich das Individuum sich selbst an.16 Es wird sich seiner selbst inne und grenzt sich dabei von allen anderen ab. Letztlich besteht es – dies gilt es aufzuzeigen – in einer Ersten-PersonPerspektive, die durch keinen Dritten eingenommen werden kann. Nun ist zu konstatieren, dass in der aktuellen Forschungsliteratur zu Hegel an keiner Stelle von der Seele als Individuationsprinzip die Rede ist, sondern nur vom Selbstbewusstsein.17 14

Vgl. etwa von Aquin, Thomas: De ente et essentia/Das Seiende und das Wesen. Stuttgart 1987, S. 15, 19 u. 59 ff. Auch Arthur Schopenhauer steht noch in dieser Tradition. (Vgl. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurt a. M. 1986, S. 380 ff.) Für einen Überblick über das Problem der Individuation in der peripatetisch-scholastischen Denktradition siehe Assenmacher 1926, S. 13, sowie Breden 2009. Für einen allgemeineren Überblick siehe Pieper 1973 sowie Fuchs, Micheal: Prinzipien der Individuation: Über das relationale Einzelsein der Lebewesen. Münster 2015. 15 Vgl. Pieper 1973, S. 729. 16 Dass sich das Individuum seine Individualität aneignet, ist nicht zeitlich zu verstehen. Zwar stellt Hegel durchaus die Überlegung an, dass Kinder im Kleinkindalter erst allmählich ihrer selbst bewusst werden. In seinen Vorlesungen über den subjektiven Geist trägt er in diesem Zusammenhang die Anekdote vor, dass Johann Gottlieb Fichte ein großes Fest veranstaltet haben soll, als sein Sohn Immanuel Hermann das erste Mal „Ich“ sagte. (Vgl. GW 25.2, 777.) Wenn von der Selbstaneignung des Individuums die Rede ist, dann ist dies ein Rekurs auf die Selbstbewegung des Begriffs, die Hegel in der „Philosophie des subjektiven Geistes“ nachzeichnet und der zufolge das Selbstbewusstsein begrifflich aus dem Bewusstsein und das Bewusstsein wiederum aus der Seele hervorgeht. 17 Eine Ausnahme bilden hier in gewisser Weise Franz Hespe, Birgit Sandkaulen, Andreja Novakovic und Catherine Malabou. Sie weisen darauf hin, dass es in der Anthropologie um die

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Das Selbstbewusstsein als Principium individuationis identifizieren bei Hegel etwa Ludwig Siep, Michael Quante und Walter Jaeschke.18 Tatsächlich gibt es textuelle Belege für ihren Befund, dass ausschließlich oder zumindest vorrangig das Selbstbewusstsein das Individuationsprinzip bei Hegel sei. Denn erstens bezeichnet er das Selbstbewusstsein – anders als die Seele – expressis verbis als solches, und zwar in der Phänomenologie des Geistes von 1807. Dort ist über das Selbstbewusstsein zu lesen: „Diese negative Einheit des Denkens ist für sich selbst, oder vielmehr sie ist das Fürsichselbstsein, das Prinzip der Individualität“.19 Zweitens führt Hegel den Gedanken, dass das Selbstbewusstsein individuierendes Prinzip sei, an ganz verschiedenen Stellen seines Systems aus: neben der Phänomenologie des Geistes in der Begriffslogik und den Grundlinien der Philosophie des Rechts.20 Davon, dass die Seele individuell sei, spricht er hingegen nur in der „Philosophie des subjektiven Geistes“. Für die Deutung, dass für Hegel auch die Seele Individuationsprinzip ist, spricht auf der anderen Seite, dass er – um es mit den Worten von Birgit Sandkaulen auszudrücken – „[n]irgend sonst in seinem ganzen Werk […] so extensiv wie intensiv über Individualität“ spricht wie in der Anthropologie.21 So ist in ihr an etlichen Stellen von der „als Individuum“ bestimmten Seele die Rede, von „Individualität“, vom „individuellen Geiste“, vom „fühlende[n] Individuum“, der „innerliche[n] Individualität“ usw.22 Zudem führt Hegel in der Anthropologie genauestens aus, aufgrund welcher Bestimmungen die Seele individuell ist. Dass Ludwig Siep und Michael Quante ausschließlich das Selbstbewusstsein als Individuationsprinzip bei Hegel identifizieren, scheint daran zu liegen, dass sie Hegels Thematisierung menschlicher Individualität in der Anthropologie, in der es um die Seele geht, völlig übersehen. Dort führt Hegel nämlich aus, aufgrund welcher Individualität des selbstbewussten Individuums gehe, ohne allerdings näher darauf einzugehen, worin seine Individualität besteht, oder gar die Seele expressis verbis als Individuationsprinzip zu bezeichnen. (Vgl. Hespe 1991, S. 493; Novakovic, Andreja: „Hegel’s Anthropology.“ In: Moyar, Dean (Hg.): The Oxford Handbook of Hegel. New York 2017b, S. 407 – 42, hier S. 407; Sandkaulen, Birgit: „,Die Seele ist der existierende Begriff‘. Herausforderungen philosophischer Anthropologie.“ In: Hegel-Studien 45 (2011), S. 35 – 50, hier insb. S. 42 u. 46; Malabou, Catherine: The Future of Hegel: Plasticity, Temporality and Dialectic. London u. a. 2005, S. 30 f.). 18 Vgl. Siep, Ludwig: „Leiblichkeit, Selbstgefühl und Personalität in Hegels Philosophie des Geistes.“ In: Eley, Lothar (Hg.): Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 203 – 226, hier S. 221; Quante, Michael: Die Wirklichkeit des Geistes: Studien zu Hegel. Berlin 2011, S. 159 – 175; Jaeschke, Walter: „Die Unendlichkeit der Subjektivität.“ In: Menegoni, Francesca – Illeterati, Luca (Hg.): Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken. Stuttgart 2004, S. 103 – 116, hier S. 105. 19 GW 9, 167 – 168. 20 Siehe GPhR § 35; GW 12, 17 – 18; GW 9, 167 – 168. 21 Sandkaulen 2011, S. 46. 22 Enz3 §§ 396, 398, 400, 401, 403.

1. Die Theorie des subjektiven Geistes

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Bestimmungen der Seele das Individuum individuell ist. Sie scheinen stattdessen davon auszugehen, dass Hegel dasjenige, was er über die Individualität des Individuums zu sagen hat, ausschließlich in den Grundlinien der Philosophie des Rechts und der Begriffslogik entwickelt. Davon, dass zumindest Michael Quante Hegels Thematisierung menschlicher Individualität in der Anthropologie übersieht, zeugt eine seiner Bemerkungen. Er bemerkt, dass der Mensch an erster Stelle raumzeitlich individuiert sei; er habe eine raumzeitliche Existenz. Quante führt nicht weiter aus, was er unter der raumzeitlichen Individuiertheit des Menschen versteht. Wahrscheinlich meint er, dass der Mensch ein körperliches Wesen und als ein solches raumzeitlich zu verorten sei. Er ist anschaulich gegeben und ich kann auf ihn zeigen. Quante zufolge sei die raumzeitliche Existenz des Individuums ein nicht von der Hand zu weisender Fakt. Er wirft Hegel vor, die raum-zeitliche Individuation nicht aus der Struktur des Selbstbewusstseins entwickelt zu haben. Hierin sieht er einen Mangel an dessen Individuationsprinzip, dem Selbstbewusstsein. Quante formuliert: „Zum einen ist die Annahme, dass erst die raum-zeitliche Existenz das principium individuationis ist, sehr plausibel. Schwierigkeiten mit abstrakten Gegenständen (z. B. Zahlen) einmal beiseite gelassen, ist dies auch für mentale Ereignisse und damit auch für Selbstbewusstsein einschlägig. ,Ich‘ impliziert immer ein ,hier‘ und ,jetzt‘ – und ein ,dieser‘ zu sein impliziert ebenfalls, raum-zeitlich individuiert zu sein. […] Diese raum-zeitliche Individuation hat Hegel nicht aus der Struktur des ,reinen Selbstbewusstseins‘ entwickelt. […] Hegel nimmt das Faktum der raum-zeitlichen Individuiertheit von Menschen in seine Theorie auf, ohne es aus der […] Struktur der Subjektivität heraus als notwendiges Moment sichtbar machen zu können.“23

Quantes Aussage, dass Hegel das „Faktum der raum-zeitlichen Individuiertheit von Menschen“ nicht „aus der Struktur der Subjektivität heraus als notwendiges Moment sichtbar machen“ kann, ist nur so zu erklären, dass er dessen Ausführungen über die Individualität der Seele in der Anthropologie nicht vor Augen hatte, sonst wüsste er, dass er die raumzeitliche Existenz des Individuums in der Anthropologie thematisiert. Hegel führt darin unter anderem aus, dass die Seele – wie ich an späterer Stelle noch rekonstruieren werde – eine untrennbare Einheit mit ihrem Leib bildet. Als seelisch-leibliche Einheit nimmt das Individuum eine Raum-Zeitstelle ein. Auf Quantes Feststellung, dass das Selbstbewusstsein nicht auch die raum-zeitliche Existenz des Individuums beinhaltet, wäre also zu erwidern, dass es sich hierbei nicht um ein Ungenügen von Hegels Individuationsprinzips, dem Selbstbewusstsein, handelt, sondern dass dessen erstes Individuationsprinzip, die Seele, die raumzeitliche Existenz des Individuums mit begreift. In meiner Untersuchung wird sich des Weiteren herausstellen, dass neben der Seele und dem Selbstbewusstsein in gewisser Weise auch der Geist (als Denken und Wollen) als Individuationsprinzip anzusehen ist. Während die Seele individuell bestimmt ist, besteht der Geist – wie zu zeigen sein wird – in der freien Selbstbestimmung: Das geistige Individuum ist im oder durchs Denken in der Lage, zu seinen 23

Quante 2011, S. 173 ff.

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

individuellen Bestimmungen, die ihn zu einem bestimmten Verhalten disponieren, auf Distanz zu gehen und sich einen neuen Willensinhalt zu geben. Auf diese Weise konstituiert es sich unentwegt selbst. Dass sowohl die Seele als auch das Selbstbewusstsein als auch der Geist als Individuationsprinzipien bei Hegel anzusehen sind, bedeutet, dass sie sich durch alle Instanzen des Geistes hindurchziehen. Seine Absicht ist es folglich ganz und gar nicht, die Verschiedenheit der Individuen untereinander zu nivellieren, sondern – ganz im Gegenteil – sie hervorzuheben, auch wenn er sie letztlich innerhalb der Einheit des Geistes denkt. Meine Untersuchung ist wie folgt gegliedert: Zuerst soll, in Kapitel Zwei, danach gefragt werden, was sich Hegel unter der Seele vorstellt. Diese Frage lässt sich aus bestimmten Gründen nur zusammen mit der Frage beantworten, in welchem Verhältnis sie zum organischen Körper steht. Darauf aufbauend soll im dritten Kapitel der Frage nachgegangen werden, welche konkreten Bestimmungen die Seele an sich hat, aufgrund derer sie individuell ist. Im Laufe der Untersuchung wird auch auf den Charakter des Individuums zu sprechen zu kommen sein: Hegel zufolge setzt er sich im weitesten Sinne aus der Totalität aller Bestimmungen der Seele zusammen. Im vierten Kapitel soll dargelegt werden, dass er bei der Seele als Individuationsprinzip nicht stehen bleibt, sondern auch das Selbstbewusstsein zum Prinzip der Individuation erklärt. In diesem Zusammenhang gilt es insbesondere zu klären, worin das Selbstbewusstsein Hegel zufolge seiner Struktur nach besteht. Da viele seiner Ausführungen zum Charakter so klingen, als würde dieser über das Verhalten des Individuums in bestimmten Situationen entscheiden, gilt es im fünften Kapitel darzulegen, dass das Individuum durch seinen Charakter nicht alternativlos in seinem Verhalten determiniert ist, sondern sich seinen Willen frei, das heißt auch entgegen seinem Charakter bilden kann. Aufbauend auf die vorangehende Untersuchung wird dann im sechsten Kapitel zu zeigen sein, dass sich das menschliche Individuum in Hegels Philosophie einer vollständigen Beschreibung entzieht. Ich werde drei Argumente vorbringen, weshalb es in seiner Gänze als begrifflich unzugänglich gelten muss. Sie beziehen sich jeweils auf eines der drei Individuationsprinzipen: Seele, Selbstbewusstsein und Geist.

2. Hegels Auffassung der Seele 2.1 Kritik an der empirischen und rationalen Psychologie Hegel entwickelt seine Auffassung der Seele in Abgrenzung von zwei vorangegangenen philosophischen Positionen: der empirischen und der rationalen Psychologie.24 Bei der empirischen Psychologie denkt er an die Vertreter des klassischen Empirismus wie zum Beispiel Francis Bacon, John Locke, George Berkeley und 24

Vgl. GW 15, 210 – 213.

2. Hegels Auffassung der Seele

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David Hume. Bei der rationalen Psychologie wiederum hat er wohl die Vertreter der traditionellen Metaphysik im Kopf, wie zum Beispiel René Descartes, Nicolas Malebranche und Gottfried Wilhelm Leibniz. Dabei stellt Hegel die empirische und rationale Psychologie einander kontrastiv gegenüber. Seine Kritik an der empirischen Psychologie lautet, dass sie sich nur mit dem befasse, was von der Seele ausgehend beobachtbar bzw. wahrnehmbar sei, ohne aber nach dem Begriff der Seele zu fragen, also danach, was die Seele ist und wie die beobachtbaren seelischen Phänomene miteinander zusammenhängen.25 Er meint vermutlich, dass sich die klassischen Empiristen mit den Vermögen des Menschen wie den Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen etc. – ausgehend von der Beobachtung – befassen und zu erklären versuchen, ohne aber ihren inneren Zusammenhang zu erklären. Seine Kritik an der rationalen Psychologie auf der anderen Seite lautet, dass sie sich nur mit dem Begriff der Seele befasse, nicht aber damit, was von der Seele ausgehend beobachtbar bzw. wahrnehmbar sei.26 Mit dem Begriff der Seele befassen sich Letztere ihm zufolge insofern, als sie die Seele als Substanz mit bestimmten Eigenschaften auffassen, wie zum Beispiel immateriell, selbständig und undurchdringlich zu sein. Als Substanz ist die Seele vom Körper, den die Rationalisten ebenfalls als eine Substanz auffassen, getrennt. Denn auch der Körper sei wie die Seele selbstständig und undurchdringlich, wenn auch – anders als die Seele – materiell und extensiv. Als zwei selbständige Substanzen können Seele und Körper kausal nicht aufeinander einwirken. Diese Annahme von Seele und Körper als zwei selbständige Substanzen führe nun – darauf weist Hegel hin – zu zwei Problemen: Erstens sei die Seele aufgrund ihrer Immaterialität nichts, was man beobachten bzw. wahrnehmen könne. Sie sei etwas jenseits der sinnlich wahrnehmbaren Welt, wodurch sie sich unserem erkennenden Zugriff entziehe. Zweitens entstehe in der rationalen Psychologie zwangsläufig die Frage, wie Seele und Körper als zwei heterogene, völlig selbständige Substanzen kausal aufeinander einwirken können, obwohl sie füreinander undurchdringlich sind.27 Das ist das in der Philosophie prominente Problem eines Dualismus von Seele und Körper, das Hegel zufolge aufgrund falscher Voraussetzungen nicht aufzulösen ist. Er fasst seine Kritik an der empirischen und rationalen Psychologie im Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes wie folgt zusammen: „Die empirische Betrachtungsweise des Geistes bleibt bey der Kenntniß der Erscheinung des Geistes stehen, ohne den Begriff desselben; die metaphysische Betrachtungsweise will es nur mit dem Begriffe zu thun haben, ohne seine Erscheinung, der Begriff wird so nur ein Abstractum, und die Bestimmungen desselben ein todter Begriff.“28

25

Vgl. ebd., 210 ff. Vgl. ebd., 212; Enz3 § 34. 27 Vgl. GW 15, 212 f. 28 Ebd., 218. Für eine genaue Darstellung von Hegels Kritik an der empirischen und rationalen Psychologie siehe de Vries, Willem A.: Hegel’s Theory of Mental Activity. Ithaca u. a. 1988, S. 19 – 23. 26

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Wie Hegels Kritik an der empirischen und rationalen Psychologie genau gemeint ist und ob sie zutreffend ist oder nicht, sei hier dahingestellt, zumal Hegels vordergründiges Ziel wahrscheinlich nicht einmal ist, den beiden besprochenen Positionen historisch gerecht zu werden. Stattdessen möchte er mit ihr auf zwei Probleme aufmerksam machen:29 zum einen auf das Problem, dass weder der Begriff noch die Erfahrung allein ausreicht, um die zentrale philosophische Frage nach der Seele zufriedenstellend zu beantworten; zum anderen auf das Problem, dass die Auffassung von der Seele als einer selbständigen und undurchdringlichen Substanz zwangsläufig in einem Dualismus von Seele und Körper endet. Hegel stellt es so dar, als seien die empirische und rationale Psychologie jeweils einseitige Antworten auf die zentrale philosophische Frage nach der Seele. Dass er sie für einseitig hält, ist allerdings nicht so zu verstehen, als wären sie in seinen Augen völlig falsch. Er stuft sie als wertvolle Beiträge zu der Frage nach der Seele ein, denen auch etwas abzugewinnen ist.30 So beabsichtigt er, die vermeinte Einseitigkeit sowohl der empirischen als auch der rationalen Psychologie zu umgehen oder besser ausgedrückt: ihre beiden einseitigen Standpunkte in einer höheren Einheit zu vereinen. Dies meint ihm mit einem Seelenbegriff zu gelingen, der sinnlich wahrnehmbar bzw. erfahrbar ist.31 Wie noch auszuführen sein wird, versteht er unter einem Seelenbegriff, der erfahrbar ist, eine Seele, die in einem expressiven Verhältnis zu ihrem organischen Körper steht.32 Die Seele oder genauer ihre Empfindungen werden im körperlichen Ausdruck sichtbar. Damit die Seele im körperlichen Ausdruck sichtbar werden kann, muss Hegel eine Auffassung von der Materie zurückweisen, nach der sie – wie in der rationalen Psychologie – selbständig und undurchdringlich ist. Stattdessen geht er von einer Materie aus, die unselbständig und formbar ist, und einem Begriff der Seele, der sich in die vorhandene Materie einbildet. Damit knüpft er an Aristoteles’ Hylemorphismus an, nach dem die Seele ein aktives Prinzip ist, das den passiven, widerstandslosen Körper formt.33 Er intendiert 29

Vgl. Asmuth 2018, S. 149. Vgl. ebd. 31 Vgl. GW 25.1, 98. 32 Derselben Ansicht ist Testa, Italo: „Hegel’s Naturalism or Soul and Body in the Encyclopedia.“ In: Stern, David (Hg.): Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit. New York 2013, S. 19 – 35, hier insb. S. 29. 33 Der Auffassung, dass Hegel Hylemorphist sei, sind auch Düsing, Klaus: „Die Idee des Lebens in Hegels Logik.“ In: Horstmann, Rolf-Peter – Petry, Michael John (Hg.): Hegels Philosophie der Natur. Beziehungen zwischen empirischer und spekulativer Naturerkenntnis. Stuttgart 1986, S. 276 – 289, hier insb. S. 276 – 284; Wolff, Michael: Das Körper-Seele-Problem: Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389. Frankfurt a. M. 1992, S. 14, 36; Hespe 1991, S. 497 f.; Ferrarin, Alfredo: Hegel and Aristotle. Cambridge 2001, S. 254 f.; Merker, Barbara: „Jenseits des Hirns. Zu Hegels Philosophie des subjektiven Geistes.“ In: Dies. u. a. (Hg.): Subjektivität und Anerkennung. Beiträge zu Hegels Philosophie des Geistes. Paderborn 2013, S. 141 – 165, hier S. 148; Nuzzo, Angelica: „Anthropology, Geist, and the Soul-Body-Relation. The Systematic Beginning of Hegel’s Philosophy of Spirit.“ In: Stern, David (Hg.): Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit. New York 2013, S. 1 – 17, hier S. 11 u. 13. 30

2. Hegels Auffassung der Seele

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damit, den in der rationalen Psychologie auftretenden Dualismus von Seele und Körper zu umgehen.34 Es wird noch zu zeigen sein, dass Hegel am körperlichen Ausdruck unwillkürliche und willkürliche Ausdrucksformen voneinander unterscheidet, wobei sich das Verhältnis von Seele und organischem Körper jeweils unterschiedlich gestaltet. Bevor ich nacheinander zuerst auf die unwillkürlichen und dann auf die willkürlichen Ausdrucksformen zu sprechen komme, soll vorweg gefragt werden, was Hegel unter der Seele versteht.

2.2 Das expressive Verhältnis zwischen Seele und organischem Körper 2.2.1 Unwillkürliche Expressionen Um zu bestimmen, was Hegel unter der Seele versteht, ist eine seiner Bemerkungen über die Seele in der Logik des Begriffs im Kapitel „Das Leben“ besonders aufschlussreich. Er bezeichnet die Seele dort als „Begriff“ bzw. „Prinzip“, wobei er dieses Prinzip des Näheren als das „sich selbst bewegende Prinzip“ beschreibt.35 Als „Begriff“ bzw. „Prinzip“ ist die Seele – das macht er an verschiedenen Stellen deutlich – etwas Einfaches, Unteilbares und Immaterielles, wobei sie etwas Immaterielles, wie sich später herausstellen wird, nur in einem vorläufigen Sinne ist.36 Von der Seele unterscheidet Hegel zudem auf rein begrifflicher Ebene den organischen Körper. Er sei entgegen der Seele materiell, zusammengesetzt und somit prinzipiell unendlich teilbar.37 Auch wenn er Seele und organischen Körper begrifflich voneinander unterscheidet, sind sie einander nicht ontologisch entgegengesetzt. Hegel sagt ausdrücklich, dass die immaterielle Seele nicht als „ein Anderes gegen das Materielle“ gesetzt werden dürfe.38 Stattdessen seien Seele und organischer Körper faktisch als eine Einheit aufzufassen in dem Sinne, dass die Seele das 34

Bereits Aristoteles wandte sich mit seiner Auffassung von der Seele als Form des organischen Körpers gegen dualistische Theorien, wie sie etwa von den Pythagoreern, Empedokles und am bekanntesten wohl von Platon im Phaidon vertreten wurden. (Siehe dazu Gloy, Karen: „Aristoteles’ Konzeption der Seele in ,De anima‘“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 38 (1984), S. 381 – 411, hier insb. S. 393 – 98; Höffe, Otfried: Aristoteles. München 1996, S. 137 f.). 35 GW 12, 183 f.; vgl. auch Enz3 § 403. 36 Vgl. GW 12, 183 f.; vgl. GW 25.1, 25. 37 Vgl. Enz3 § 389; GW 12, 183 f. Wortwörtlich bedeutet „Individuum“ auf lateinisch „das Ungeteilte“. Dass Hegel die Seele, die als Begriff etwas Einheitliches und Unteilbares ist, zum Individuationsprinzip erklärt, macht also auch im Hinblick auf die wortwörtliche Bedeutung des Ausdrucks „Individuum“ Sinn. Der Körper hingegen ist Hegel zufolge materiell und teilbar. Als Individuationsprinzip kommt er für ihn schon aufgrund seiner unendlichen Teilbarkeit nicht infrage. 38 GW 25.1, 25.

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begriffliche bzw. einheitsstiftende Prinzip des organischen Körpers ist.39 Was es bedeutet, dass sie das einheitsstiftende Prinzip des organischen Körpers ist, führt Hegel ebenfalls in der Begriffslogik aus. Dort ist zu erfahren, dass die Seele dem Körper seine äußerliche Begrenzung sowie seinen inneren Zusammenhalt gibt. So stehe der organische Körper die ganze Zeit im Austausch mit der Umwelt, etwa beim Atmen und bei der Nahrungsaufnahme. Dieser Austausch mit der Umwelt bedeutet eine materielle Veränderung des organischen Körpers. Trotzdem behauptet er dabei stets – aufgrund der Seele – seine einheitliche Organisationsform. Er bleibt auf sich zurückbezogen und grenzt sich von der Umwelt ab.40 In der Anthropologie nennt Hegel einen weiteren Aspekt, inwiefern die Seele Einheitsprinzip des Körpers ist. Als etwas Einheitliches sei die Seele überall im Körper gegenwärtig.41 Es sei daran erinnert, dass für ihn die zentrale Funktion der Seele im Empfinden besteht. Indem die Seele als etwas Einheitliches überall im Körper gegenwärtig ist, kann er erklären, dass auch der ganze Körper eine Empfindungseinheit darstellt. Das soll heißen, dass die Empfindungen, die das Individuum hat, egal ob am großen Zeh oder am Ohr, auf eine innere Einheit hin zurückbezogen sind.42 Es ist immer das Individuum als ganzheitliche Einheit, das die Empfindung hat.43 Bis hierher habe ich darlegt, was es bedeutet, dass die Seele „Begriff“ bzw. „Prinzip“ ist. Was bedeutet es aber, dass sie das „sich selbst bewegende Prinzip“ ist? Dass die Seele das „sich selbst bewegende Prinzip“ sei, ist so zu verstehen, dass sie das aktive, tätige Prinzip ist. Der organische Körper hingegen ist passiv und überhaupt erst durch die Seele lebendig. Erst durch die Seele, die das begriffliche bzw. einheitsstiftende Prinzip des Körpers ist, verfügt er über verschiedene Lebensfunktionen, die Hegel in der Organik unter den Überschriften „Sensibilität“, „Irritabilität“ und „Reproduktion“ abhandelt. Sie umfassen solche organischen Prozesse wie das Wachstum, Energie- und Stoffwechselprozesse, die Fortpflanzung sowie die Fähigkeit zur Ortsveränderung, Wahrnehmung und Empfindung.44 39

Vgl. GW 12, 180 f. Vgl. GW 12, 186 – 189; vgl. Khurana 2017, S. 344. 41 Vgl. Enz3 § 403. 42 Vgl. GW 12, 184. Hegel schreibt: „Ein Begriff kommt zu einem Fürsichsein, das substantiell ist; so habe ich an meinem Körper an vielen 1000 Stellen Empfindung, doch bin ich allein der, welcher empfindet.“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826. Hg. v. Annemarie Gethmann-Siefert u. a. Frankfurt a. M. 2005, S. 75). 43 Dass es immer das Individuum als ganzheitliche Einheit ist, das die Empfindung hat, zeigt sich etwa im Falle einer Erkrankung des Individuums: Wenn ein Körperteil des Individuums krank oder geschädigt ist, ist das ganze Individuum davon betroffen. Das ist bei der Pflanze, die Hegel zufolge keine Empfindungseinheit darstellt, anders. Es können etwa einige Äste eines Baumes von einer Krankheit befallen sein, andere Äste wiederum sind gesund, blühen und tragen Früchte. (Vgl. Gerhardt, Volker: Selbstbestimmung: Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 2018, S. 172). 44 Vgl. Enz3 § 351. 40

2. Hegels Auffassung der Seele

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Indem die Seele als das einheitsstiftende Prinzip des Körpers anzusehen ist, stellen Seele und organischer Körper Hegel zufolge eine untrennbare Einheit dar. Für sich gesehen sind sie unselbständig. Sie können nicht isoliert voneinander bestehen, sondern sind aufeinander angewiesen: Die Seele benötigt als etwas rein Begriffliches eine materielle Grundlage, um überhaupt da zu sein, das heißt ein raumzeitliches Dasein zu haben. Der Körper auf der anderen Seite – an sich eine tote, starre Masse – ist überhaupt erst durch die Seele lebendig, das heißt, erst durch sie vollzieht er bestimmte organische Prozesse, die wiederum auf eine innere Einheit hin bezogen sind. Hegel knüpft mit seiner Auffassung von der Seele als das begriffliche bzw. einheitsstiftende Prinzip des organischen Körpers in mindestens zwei zusammenhängenden Aspekten an Aristoteles an: Erstens führt Aristoteles in seiner Schrift De anima den Gedanken aus, dass Seele und organischer Körper ein besonderer Fall einer Form-Materie-Relation sind. Die Seele ist dabei die immanente Form des organischen Körpers, wobei Seele und Körper für sich gesehen unselbständig sind.45 Nur zusammen bilden sie ein konkretes Lebewesen. Als die immanente Form hält die Seele den Körper zusammen und verleiht ihm seine Einheit. Zweitens sieht Aristoteles in der Seele das Aktualitätsprinzip des Körpers, der nur der Möglichkeit nach Leben habt.46 In aristotelischer Terminologie ist sie die Entelechie des Körpers. Sie ist, wie sich Otfried Höffe ausdrückt, dasjenige, was „das Lebendigsein des Lebendigen ausmacht“.47 Zu Hegels Anknüpfung an Aristoteles’ Auffassung von der Seele als immanente Form und Aktualitätsprinzip des Körpers – kurz gesagt: an dessen Hylemorphismus – sei angemerkt, dass er sich mit Aristoteles’ Schrift De anima zeitlebens immer wieder ausführlich befasst hat und sie folglich sehr gut kannte. So fertigte er während seiner Zeit in Jena eine Übersetzung der Schrift an und behandelte in seinen insgesamt neun Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie jedes Mal ausführlich Aristoteles’ De anima.48 Außerdem bezieht er sich in seinem Werk auf keinen anderen Philosophen so positiv wie auf den Stagiriten. Er betont an verschiedenen Stellen, dass er ihn für einen der größten philosophischen Denker halte.49 Bei allen Parallelen zwischen Aristoteles’ und Hegels Seelenbegriff darf allerdings nicht übersehen werden, dass zwischen ihnen auch große Unterschiede bestehen.50 Die zwei größten Unterschiede bestehen vielleicht darin, dass Aristoteles’ Seelenkonzeption ihrer Gesamtkonzeption nach am ehesten wohl mit Hegels sub45

Vgl. An. II 414a. An. II 412 a 9 f. 47 Höffe 1996, S. 139. 48 Vgl. Ferrarin 2001, S. 246; Dangel, Tobias: Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles. Berlin u. a. 2013, S. 157. 49 Vgl. etwa Werke 19, 132 u. 168. 50 Alfredo Ferrarin hat in seiner ausführlichen und äußerst informativen Studie Hegels „Philosophie des subjektiven Geistes“ mit Aristoteles’ De anima verglichen. (Siehe Ferrarin 2001). 46

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

jektivem Geist zu vergleichen ist. Denn nach Aristoteles’ Konzeption besteht die Seele aus dem vegetativen, dem sensiblen und dem intellektuellen Seelenvermögen, während nach Hegels Konzeption die Seele lediglich eine von drei Instanzen des Geistes ist. Darüber hinaus gehört die Seelenlehre bei Aristoteles in die Naturphilosophie, bei Hegel hingegen in die Geistphilosophie. Aber kommen wir noch einmal auf Hegels Anknüpfung an Aristoteles’ Hylemorphismus zurück: In De anima und in der Nikomachischen Ethik veranschaulicht Aristoteles das hylemorphistische Verhältnis von Seele und organischem Körper an den Empfindungen. So nennt er als Beispiel für körperlich-seelische Zustände verschiedene Emotionen wie etwa Zorn, Furcht, Mitleid, Zuversicht, Neid, Freude, Hass, Sehnsucht, Ehrgeiz, Mitleid, Lust und Scham, die sich körperlich äußern.51 Genau wie Aristoteles schließt auch Hegel aus der Feststellung einer untrennbaren Einheit von Seele und Körper, dass die Empfindungen etwas Seelisches und Körperliches zugleich sind.52 Dass die Empfindungen körperlich-seelische Zustände sind, zeigt er an diversen Beispielen auf. So stellt er fest, dass Zorn mit Herzrasen einhergeht, Scham mit Rotwerden und Traurigkeit mit Weinen.53 Ein Indiz dafür, dass er in seiner Auffassung von den Empfindungen als körperlich-seelische Zustände an Aristoteles anknüpft, stellt nicht zuletzt eine seiner Bemerkung im Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes dar, wo er feststellt: „die Aristotelischen Speculationen aber über Empfindungen und überhaupt über die besondern Wirksamkeiten des Geistes, sind für die Psychologie [hier wortwörtlich zu verstehen als die Lehre der Seele; EvG] ganz unbeachtet geblieben.“54 Der Umstand, dass eine Empfindung der Seele mit einem unmittelbaren körperlichen Ausdruck einhergeht, ist bei Hegel nicht so aufzufassen, als würde die Seele kausal auf den Körper einwirken.55 Denn die Kausalität ist die Beziehung zwischen einer Ursache und einer Wirkung; sie betriff die Abfolge von Ereignissen. Eine Abfolge läge dann vor, wenn die Seele zuerst eine bestimmte Empfindung hätte, die dann zu einer bestimmten körperlichen Reaktion führen würde. Das Verhältnis von seelischer Empfindung und körperlichem Ausdruck ist nach ihm aber nicht als ein Kausalzusammenhang aufzufassen, sondern als ein unmittelbarer Zusammenhang.56 Das Individuum empfindet etwas (zum Beispiel fürchtet es sich), was sich unwillkürlich körperlich ausdrückt (es zittert). Hegel erhebt nicht den Anspruch zu erklären, warum eine bestimmte Empfindung mit einem bestimmten körperlichen Ausdruck unmittelbar einhergeht; warum also jemand, der sich schämt, rot wird und nicht etwa zu zittern beginnt. Er verfolgt lediglich die Absicht aufzuzeigen, dass 51 Vgl. An. I 403 a 16 – 19; EN II 1105 b 20 – 29; Rapp, Christof – Corcilius, Klaus: Aristoteles-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. a. 2011, S. 210 f. 52 Vgl. GW 15, 238. 53 Vgl. Enz1 § 318; GW 25.1, 59. 54 GW 15, 217. 55 Vgl. Wolff 1992, S. 191. 56 Vgl. Enz3 § 400.

2. Hegels Auffassung der Seele

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Seele und Körper eine untrennbare Einheit darstellen, weshalb auch die Empfindungen körperlich-seelische Zustände sind. Dies aufzuzeigen gelingt ihm durch Rekurs auf Aristoteles’ Auffassung von Seele und organischem Körper als einem besonderen Fall einer Form-Materie-Relation. Den unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer bestimmten Empfindung und einem bestimmten körperlichen Ausdruck aufzuklären, sieht er hingegen als die Aufgabe der von ihm sogenannten Psychophysiologie an. Er schreibt: „Das System des innern Empfindens in seiner sich verleiblichenden Besonderung wäre würdig, in einer eigentümlichen Wissenschaft, – einer psychischen Physiologie, ausgeführt und abgehandelt zu werden. […] Aber es würde die interessanteste Seite einer psychischen Physiologie sein, nicht die bloße Sympathie, sondern bestimmter die Verleiblichung zu betrachten, welche sich geistige Bestimmungen insbesondere als Affekte geben. Es wäre der Zusammenhang zu begreifen, durch welchen der Zorn und Mut in der Brust, im Blute, im irritablen Systeme, wie Nachdenken, geistige Beschäftigung im Kopfe, dem Zentrum des sensiblen Systemes, empfunden wird.“57

Es ist nicht ganz klar, wie die psychische Physiologie nach Hegel verfahren soll, um den unmittelbaren Zusammenhang zwischen einem Affekt und seiner Verleiblichung aufzuklären. Bloße Korrelationen soll sie jedenfalls nicht aufzeigen. Er lässt den Leser hier im Unbestimmten. Indem Hegel davon ausgeht, dass eine bestimmte Empfindung unmittelbar mit einer bestimmten körperlichen Reaktion einhergeht, hat es den Anschein, als seien die unwillkürlichen Ausdrucksformen ihm zufolge weitestgehend menschen- und kulturübergreifend.58 Menschen, die Scham empfinden, werden in den meisten Fällen, egal welchen kulturellen Hintergrund sie haben, rot. Für diese Deutung spricht zumindest, dass alle Beispiele, die er für unmittelbar sich äußernde Affekte nennt, so klingen, als ginge eine bestimmte Empfindung immer und zwangsläufig und das heißt auch bei jedem Menschen mit einer bestimmten körperlichen Erscheinung einher. Zumindest nimmt er keine Unterscheidung hinsichtlich der Individuen oder Kulturen vor. In seiner Vorlesung zum subjektiven Geist von 1825 führt er die folgenden Beispiele für unmittelbar sich äußernde Affekte an: „Melancholie und Hypocondrie haben ihren Sitz im Unterleibe, d. h. er ist der Sitz ihrer Verleiblichung. Fröhlichkeit macht daß die Reproduction freier, ungehinderter von Statten geht. Zorn und Muth haben in der Brust ihren Sitz und auch im Herzen. Zorn wird durch Erzeugung der Galle verleiblicht, die sich in’s Herz gießt. Das ist der Mittelpunkt der Irritabilität. Das Blut wird als ein heißeres empfunden; daher sagt man Hitze vor Zorn. Die Galle gehört der Reproduction an; der Zorn wendet sich feindlich gegen die Speisen, und gießt die Galle in’s Herz, die auf die Speisen feurig einwirkt, sie verzehren soll, denn das ist die Function der Galle. […] Die Scham ist mit dem Zorn nahe verwandt und sein Beginnen. 57

Enz3 § 401. Anderer Meinung ist Michael Wolff: Für ihn handelt es sich zwischen einer Empfindung und dem mit ihr korrelierenden körperlichen Ausdruck um einen „erlern- und habitualisierten“ Funktionszusammenhang, wobei er keinen genaueren Hinweis darauf gibt, wie er zu dieser Annahme kommt. (Wolff 1992, S. 191). 58

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität Es ist Unangemessenheit dessen was ich bin und der Vorstellung von mir. […] Die Furcht äußert sich durch Blaßwerden, Zittern der Kniee. Das Blut, die Spannung der Nerven geht nicht mehr nach Außen, sondern sammelt sich in sich. […] Ueber das Lachen, Weinen, Ächzen Schluchzen und Gähnen ist man physiologisch noch wenig aufgeklärt; es ist physiologisch aber dann auch psychisch.“59

Dass Hegel der Ansicht zu sein scheint, dass die unwillkürlichen Ausdrucksformen weitestgehend menschen- und kulturübergreifend sind, muss nicht zwangsläufig auch heißen, dass kulturübergreifend sei, wann jemand eine bestimmte Empfindung hat, das heißt wann sich jemand schämt und errötet. Hegels Ausführungen lassen durchaus die Möglichkeit kultureller Unterschiede offen, was Scham, Zorn etc. hervorruft. Dass die unwillkürlichen Ausdrucksformen ihm zufolge weitestgehend menschen- und kulturübergreifend zu sein scheinen, erwähne ich eigens, weil hierin ein Unterschied zu den willkürlichen Ausdrucksformen besteht. Wie im nächsten Kapitel unter anderem gezeigt werden soll, sind manche von Hegels Aussagen so zu deuten, dass die willkürlichen Ausdrucksformen – anders als die unwillkürlichen – kulturell gewachsen sind, das heißt, dass kulturell unterschiedlich ist, auf welche Weise bestimmte Emotionen ausgedrückt werden. 2.2.2 Willkürliche Expressionen Während sich die unwillkürlichen Ausdrucksformen dadurch auszeichnen, dass sich eine Empfindung unmittelbar körperlich ausdrückt, unterliegen die willkürlichen Ausdrucksformen der Kontrolle des Individuums. Es kann mit ihnen Empfindungen, aber auch Stimmungen, Einstellungen, Intentionen und Gedanken mehr oder weniger gezielt zum Ausdruck bringen.60 Ich spreche hier absichtlich von „mehr oder weniger gezielt“, weil das Individuum dasjenige, was in ihm vorgeht, sowohl eher beiläufig als auch ganz bewusst ausdrücken kann. Zu den Ausdrucksformen, durch die das Individuum seine Empfindungen, Stimmungen usw. mehr oder weniger gezielt zum Ausdruck bringen kann, zählt Hegel die Körper- und Kopfhaltung, den Gang, die Gebärden, die Mimik, die Laute (wie zum Beispiel das Seufzen, Schreien, Weinen und Lachen) sowie das gesprochene Wort. Dabei kann es sich nicht nur durch den Inhalt der Worte ausdrücken, sondern auch durch Klang und Intonation der Stimme.61 Bei dieser Aufzählung gilt zu beachten, dass Hegel durchaus einräumt, dass es auch Mimik, Gesten und Laute gibt, die unwillkürlich sind. Als Beispiel für eine Empfindung, die sowohl unwillkürlich als auch willkürlich ausgedrückt werden kann, nennt er den Zorn.62 Bedauerlicherweise führt er nicht aus, wie sich der unwillkürliche Ausdruck von Zorn von seinem willkürlichen Ausdruck unterscheidet. Wir können es uns aber selbst 59

GW 25.1, 59. Vgl. Enz3 § 411. 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. GW 25.1, 98. 60

2. Hegels Auffassung der Seele

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denken: Unwillkürlich drückt sich Zorn etwa durch eine Zornesfalte auf der Stirn aus; willkürlich hingegen durch eine zornige Gesichtsmimik, die das Individuum macht, um seinem Zorn – bewusst oder unbewusst – körperlich Ausdruck zu verleihen. Das Verhältnis von Seele und Körper gestaltet sich bei den willkürlichen anders als bei den unwillkürlichen Ausdrucksformen. Das ist darauf zurückzuführen, dass Hegel zufolge eine gewisse Geschicklichkeit des Individuums im Umgang mit seinem Körper vorausgesetzt ist, um etwas mehr oder weniger gezielt körperlich zum Ausdruck bringen zu können. So zumindest deute ich den Umstand, dass er die Geschicklichkeit systematisch gesehen direkt vor den willkürlichen Ausdrucksformen als eine Form der Gewohnheit thematisiert. Die Geschicklichkeit ist bei ihm in einem besonderen Sinne zu verstehen: Er versteht unter der Geschicklichkeit sowohl solche basalen Tätigkeiten wie das aufrechte Stehen, Sehen, Gehen, Sprechen und Denken als auch solche körperlichen Fertigkeiten wie das Schreiben und Klavierspielen.63 Es stellt sich als Erstes die Frage, warum Hegel in der Geschicklichkeit eine Form der Gewohnheit sieht. Diese Frage ist leicht zu beantworten, wenn man sich vor Augen führt, wie ihm zufolge Gewohnheiten entstehen. Im weitesten Sinne entstehen sie durch die Wiederholung bestimmter Tätigkeiten.64 Auch im Falle der Geschicklichkeit eignet sich das Individuum eine bestimmte Tätigkeit wie zum Beispiel das Gehen oder Schreiben an, indem es sie so häufig wiederholt, bis es sie internalisiert hat. Während es sich die ersten Male auf jeden einzelnen Schritt der Tätigkeit konzentriert, ist sie ihm nach mehrmaliger Wiederholung geläufig geworden. Das Individuum führt die Tätigkeit dann „mechanisch“ aus, das heißt, ohne seine Aufmerksamkeit auf die einzelnen Schritte zu richten, die für die Ausübung dieser Tätigkeit vonnöten sind.65 Der Nachschreiber der Vorlesung zum subjektiven Geist von 1822 hält fest: „Zu allem was wir thun gehört Geschicklichkeit z. B. zum Schreiben. Wer etwas lernt muß erst eine Menge Betrachtungen und Thätigkeiten durchmachen, bis diese ihm Gewohnheit geworden sind, und er dieser Mittelglieder nicht mehr bedarf. Beim Schreiben z. B., wenn ich es kann, denke ich nicht an die einzelnen Buchstaben. So lernen wir die körperliche Geschicklichkeit, sind der Seele gleichsam bekannt, und den körperlichen Gliedern sind diese Richtungen gegeben. Diese sind der Seele schon eigen, ihr nicht mehr neu, und bei weiterer Wiederholung wird die Seele immer bekannter damit.“66

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Vgl. etwa GW 25.1, 404. Vgl. Enz3 § 410. 65 Zum Mechanismus in der Gewohnheit siehe Peters, Julia: „On Naturalism in Hegel’s Philosophy of Spirit.“ In: British Journal for the History of Philosophy 24 (2016), S. 111 – 131. 66 GW 25.1, 96. 64

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Hegel führt als ein Beispiel für die Geschicklichkeit das Spielen eines Musikstücks an.67 Wenn ich ein Musikstück auf dem Klavier spielen möchte, dann lese ich nacheinander jede einzelne Note und spiele sie auf dem Klavier. Dabei konzentriere ich mich anfangs auf jede einzelne Handbewegung. Wenn ich das Musikstück häufig wiederholt habe, kann ich es auf dem Klavier spielen, ohne meine Aufmerksamkeit auf jede einzelne Handbewegung zu richten. Ich spiele, ohne darüber nachdenken zu müssen, was ich gerade tue und welcher Schritt als nächstes kommt. Letztlich geht es bei der Geschicklichkeit um das Einüben gewisser motorischer und sensorischer Fähigkeiten. Dieses beschreibt Hegel auch als das „Einbilden“ der Seele in den Körper.68 Die Seele eignet sich den Körper durch die häufige Wiederholung bestimmter Tätigkeiten an; sie übt sich in ihn ein. Wenn Hegel vom Einbilden der Seele in den Körper spricht, fasst er die Seele als das aktive Prinzip auf, das den passiven, widerstandslosen Körper formt. So ist auch seine Formulierung zu verstehen, die er in der Vorlesung zum subjektiven Geist von 1825 gebraucht haben soll, dass sich die Seele „zum Herrn in ihrem Körper“ setze.69 In dieser Formulierung vergleicht er das Verhältnis von Seele und Körper mit demjenigen von Herrn und Knecht. Die Seele ist der Herr, der sich den Körper unterwirft und ihn für seine Zwecke gebraucht. Auch in diesem Vergleich ist die Seele das aktive, tätige Prinzip, wohingegen der Körper passiv und widerstandslos ist. Es ist die Seele, die den Leib unter Kontrolle bringt, sich seiner bemächtigt.70 Hegel beschreibt die Einbildung der Seele in den Körper zudem als einen zielgerichteten Prozess, bei dem sie den Körper „in Besitz“ nimmt.71 Hat sie ihn „in Besitz“ genommen, ist er zum Mittel bzw. „Instrument“ der Seele geworden. Der Ausdruck „Instrument“ ist ein terminologischer Bezug auf Aristoteles, der in De anima schreibt, dass sich die Seele den Körper zum „Instrument“ (technän) ihrer verschiedenen Lebensfunktionen mache.72 Ganz ähnlich heißt es bei Hegel: „Als dieß von ihr durchgebildete Instrument beherrscht sie [die Seele; EvG] den Körper.“73 Die Seele hat sich ihren Körper zu eigen gemacht; er führt nun ihre Zwecke

67

Vgl. Enz3 § 410. Enz3 § 410; vgl. Enz1 § 327. 69 GW 25.1, 315 f. 70 Lucia Ziglioli ist im Zusammenhang der Einbildung der Seele in den Leib der Meinung, dass die Seele „gegen ihre Leiblichkeit kämpfen“ muss, „um sich als Geist zu affirmieren.“ (Ziglioli, Lucia: „Von der Verleiblichung zur Sprache. Selbstmanifestation in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes.“ In: Arndt, Andreas – Zovko, Jure (Hg.): Hegels Anthropologie. Berlin u. a. 2017, S. 35 – 57, hier S. 37 u. 39.) Das sehe ich nicht so: Ein Kampf zwischen Seele und Leib würde dann bestehen, wenn der Leib der Seele Widerstand leisten oder sich ihrer zu widersetzen versuchen würde, doch der Leib ist – wie Hegel wortwörtlich in Enz3 § 412 schreibt – der Seele gegenüber widerstandslos. 71 Vgl. GW 25.1, 315 f.; Enz2 § 409. 72 An. 407 b 25 f. 73 Enz1 § 325. 68

2. Hegels Auffassung der Seele

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aus. Hegel liegt an dieser Stelle ganz offensichtlich eine instrumentelle Auffassung vom Leib zugrunde.74 Das Einbilden der Seele in den Körper bezeichnet Hegel auch als ein Idealisieren des Körpers, wobei durch die Idealisierung eine Veränderung des Körpers stattfindet.75 Die Seele eignet sich den äußerlichen Körper an und verwandelt ihn in etwas Inneres.76 Er stellt dann nicht mehr sich, sondern die Seele bzw. dasjenige dar, was in ihr vorgeht. Der von der Seele assimilierte Körper ist dann genaugenommen nicht mehr Körper, sondern Leib. In ihm drückt sich Seelisches bzw. Geistiges aus.77 In der Anthropologie gebraucht Hegel die ungewöhnliche Formulierung, dass der Leib in der Seele „enthalten“ sei.78 Christoph Asmuth weist darauf hin, dass Hegel mit dieser Aussage – der Körper sei in der Seele enthalten – das Verhältnis von Seele und Leib neu ordne. Wenn nach dem Sitz der Seele gefragt wurde, wurde in der scholastischen Tradition – so Asmuth – die Antwort gegeben, dass die Seele im Körper enthalten sei, so als sei der Körper das Gefäß oder der Sitz der Seele.79 Bei Hegel ist es andersherum. Ihm zufolge ist der Leib in der Seele enthalten, und zwar insofern, als er von ihr idealisiert ist bzw. Geistiges ausdrückt. Hegel räumt ein, dass die Seele den Leib allerdings niemals ganz „in Besitz“ nehmen könne. Sie könne zwar viele Organe bilden, nicht aber alle. Er führt aus: „Meine Hand kann ich zu den und den Geschicklichkeiten bilden, indem die Seele aber Macht über ihre Leiblichkeit hat, verhält sie sich zu ihr in verschiedener Weise, denn andre Organe zum Beispiel die der Reproduction kann ich nicht bilden. Also nur eine Seite der Leiblichkeit kann ich bilden.“80 Immer bleibt ein der Seele unverfügbarer Rest bestehen, den sie nicht kontrollieren kann, derer sie nicht mächtig ist, so zum Beispiel alle inneren Organe sowie einige äußere Organe wie die Geschlechtsorgane oder das Ohr. Auch wenn ich mich stark bemühe, schaffe ich es zum 74

Vgl. Siep 1990, S. 203. Vgl. Enz3 § 409. 76 Vgl. Asmuth 2016, S. 293. 77 Vgl. ebd. 78 Enz3 § 403. Dass der Leib in der Seele enthalten ist, ist eine Leibnizsche Idee, auf die Hegel hier zurückzugreifen scheint. Nach Leibniz ist der Körper nämlich ein Akzidens der Monade und in seiner ontologischen Bedeutung gleichzusetzen mit deren Perzeptionen. Leibniz schreibt: „Man kann sogar beweisen, dass der Begriff der Größe, der Gestalt und der Bewegung nicht so deutlich ist, wie man sich vorstellt und etwas Imaginäres und auf unsere Perzeptionen Bezogenes enthält, wie es auch (obwohl viel mehr) bei der Farbe, der Wärme, und anderen ähnlichen Eigenschaften der Fall ist, bei denen man zweifeln kann, ob sie sich wahrhaft in der Natur der Dinge außer uns befinden.“ (Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Metaphysische Abhandlung.“ In: Ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. v. Hans Heinz Holz. Frankfurt a. M. 2000a, S. 49 – 172, hier S. 85). 79 Vgl. Asmuth 2016, S. 295 f. 80 Vgl. GW 25.1, 100. Siehe dazu auch Merker, Barbara: „Über Gewohnheit.“ In: Eley, Lothar (Hg.): Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse.“ Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 227 – 243, hier insb. S. 233. 75

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Beispiel nicht, mein Ohr zu bewegen. Mit meiner Hand hingegen kann ich alle möglichen Bewegungen ausführen. Der menschliche Leib ist so immer beides: Zwar ist er idealisiert, vergeistigt, aber stets bleibt etwas Animalisches zurück. Das Individuum, das seinen Leib durch die Geschicklichkeit zu beherrschen gelernt hat, also basale motorische Fähigkeiten eingeübt hat, wie etwa das Stehen, Gehen, Laufen und Greifen, kann sich durch ihn – durch Gestik, Mimik, Laute etc. – ausdrücken. Fähigkeiten wie das Sprechen, Schreiben und Klavierspielen erweitern die Ausdrucksmöglichkeiten des Individuums. Der Zusammenhang zwischen bestimmten motorischen Fähigkeiten und den willkürlichen Ausdrucksformen lässt sich am Säugling veranschaulichen, wobei zu erwähnen ist, dass Hegel selbst diesen Zusammenhang nicht explizit zieht. Ich glaube aber, dass er etwas in der Art im Sinn hatte, als er die Geschicklichkeit in der Anthropologie systematisch gesehen vor die willkürlichen Ausdrucksformen stellte, was wie gesagt die Interpretation erlaubt, dass die willkürlichen Ausdrucksformen eine gewisse körperliche Geschicklichkeit des Individuums voraussetzen. Ein Säugling verfügt in den ersten Lebenswochen nur über wenige motorische Fähigkeiten. Zugleich sind seine Ausdrucksmöglichkeiten sehr eingeschränkt. Erst mit der Zeit lernt er, mit seinen Händen gezielte Tätigkeiten durchzuführen, wie etwa das Greifen und Festhalten von Gegenständen sowie das Zeigen auf etwas. Erst ein Baby, das seinen Körper so weit beherrscht, dass es seinen Zeigefinger benutzen kann, um auf etwas zu zeigen, kann etwa zum Ausdruck bringen, dass es dort, wo es hinzeigt, etwas Interessantes sieht. Mit dem Heranwachsen kommen immer weitere motorische Fähigkeiten hinzu: das Krabbeln, Stehen, später das Gehen usf. Über je mehr motorische Fähigkeiten der Mensch verfügt, desto besser und vielfältiger kann er sich ausdrücken. Am Beispiel eines Säuglings lässt sich zudem veranschaulichen, dass für die unwillkürlichen Ausdrucksformen – anders als für die willkürlichen Ausdrucksformen – keine besondere Geschicklichkeit vonnöten ist. Von Geburt an verfügt er über unwillkürliche Ausdrucksformen: Wenn er hungrig ist, äußert sich sein Hunger in unwillkürlichen körperlichen Anzeichen, wie etwa Zungenbewegungen, Schmatzen oder Schreien. Wenn er Schmerzen hat, verzieht er sein Gesicht, und wenn er müde ist, gähnt er. Über alle diese unwillkürlichen Ausdrucksformen verfügt der Säugling von Geburt an, ohne dass er seinen Körper bereits in besonderer Weise zu beherrschen braucht. Während die unwillkürlichen Ausdrucksformen nach Hegel weitestgehend menschen- und kulturübergreifend zu sein scheinen, kann er hinsichtlich der willkürlichen Ausdrucksformen so verstanden werden, dass sie sozial erlernt sind. Hegel macht dies zwar an keiner Stelle explizit, doch er bezeichnet die willkürlichen Ausdrucksformen in der Anthropologie als „Zeichen“.81 Ein Zeichen definiert er in der Psychologie wiederum als die willkürliche Verbindung eines Zeichens, das heißt

81

Enz3 § 411; GW 25.1, 412.

2. Hegels Auffassung der Seele

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einer Anschauung, und dessen, was es bezeichnet.82 Nach dieser Definition kann ein bestimmter Gesichtsausdruck, eine bestimmte Geste oder ein bestimmter Laut nicht aus sich heraus verstanden werden, da die Verbindung zu dem, was sie ausdrücken, weitestgehend willkürlich ist. So ist in der Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist von 1825 zu lesen: „[…] in der Geberde gebraucht die Seele Organe, Glieder zu Zeichen, zur Darstellung ihrer innerlichen Bewegung […] Geberden sind willkührliche Manifestationen als Zeichen gesetzt von der Seele.“83 Um Gebärden zu gebrauchen und zu verstehen, scheint ein gewisses Vorwissen vorausgesetzt zu sein; ein Vorwissen, was eine bestimmte Gebärde bedeutet. Nehmen wir etwa das Nicken: Das Nicken ist nicht aus sich selbst heraus zu verstehen, was daran veranschaulicht werden kann, dass es in unterschiedlichen Kulturen Unterschiedliches bedeutet. Während wir durch Nicken eine Bejahung zum Ausdruck bringen, ist es in anderen Kulturen Ausdruck einer Verneinung, also genau des Gegenteils. Ich muss irgendwann einmal gelernt haben, dass das Nicken eine Bejahung oder auch eine Verneinung bedeutet. Entweder indem ich in einer Kultur aufgewachsen bin, in der dieses Zeichen verwendet wird und ich dieses internalisiert habe, oder indem ich in einer mir fremden Kultur bin und das Wissen, was dort ein bestimmtes Zeichen bedeutet, erworben habe. Obwohl Hegel die willkürlichen Ausdrucksformen als Zeichen deutet, gesteht er durchaus ein, dass das Verstehen mancher Gebärden kein Vorwissen voraussetzt, und zwar wenn sie eine Handlung andeuten. Er denkt dabei zum Beispiel an die geballte Faust, die die angedrohte Handlung, das Zuschlagen, anzeigt. In der Vorlesung zum subjektiven Geist von 1825 führt er aus: „Es ist nicht leicht den Zusammenhang der Gebehrden und dessen was sie ausdrücken anzugeben. Manche Gebehrde ist der Anfang der Handlung, diese erkennen wir leicht zum Beispiel die geballte Faust, das Nicken und Schütteln ist schon schwerer zu erklären, Nicken ist ein Unterwerfen, ein Zustimmen, das Schütteln ist das Gegentheil, Wegwenden, Unruhe die sich nicht unterwirft.“84 Zeigt mir jemand aufgebracht seine Faust, kann ich mir – auch wenn ich dieses Zeichen bisher nicht kannte – denken, dass mir hier gerade jemand einen Schlag androht. Charakteristisch für die willkürlichen Ausdrucksformen ist außerdem, dass sie zwar momentan sind, das heißt, dass eine Mimik, eine Geste oder ein Laut zwar immer nur einen Moment lang dauern, dass sie sich aber bei wiederholtem Vorkommen dauerhaft in den Leib einprägen können.85 Hat ein Individuum häufig ein bestimmtes Gefühl und drückt es körperlich aus, zum Beispiel durch eine bestimmte Mimik oder eine bestimmte Körperhaltung, wird sich dieses Gefühl in seinem Gesicht bleibend ausdrücken. Bemerkenswert ist diese Feststellung Hegels vor allem deswegen, weil sie die Formbarkeit bzw. Plastizität des Leibes unterstreicht. Wir kommen zwar mit einem bestimmten Körper, das heißt mit einer bestimmten Statur, 82

Vgl. Enz3 § 458. GW 25.1, 296. 84 Ebd., 409. 85 Vgl. ebd., 411. 83

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

einer bestimmten Physiognomie etc. zur Welt, aber er unterliegt einer gewissen Formbarkeit bzw. Transformation durch unseren Charakter und durchs Leben. Je nachdem, was wir in unserem Leben erfahren und welche Einstellung wir zum Leben haben, wird sich dies an unserem Körper niederschlagen. 2.2.3 Die Seele als wahrnehmbares Phänomen Indem sich die Seele im Leib ausdrückt – sei es unwillkürlich oder willkürlich – ist sie etwas Inneres und Äußeres zugleich. Etwas Inneres ist sie natürlich nicht im wortwörtlichen, sondern übertragenen Sinne. Funktion der Seele ist das Empfinden. Die Empfindungen und Stimmungen sind etwas Innerliches, nur introspektiv Zugängliches. Sie werden durch den Leib anschaulich und dadurch zu etwas Äußerlichem. Die Seele ist – wie Michael Wolff betont – das Innere, das zugleich zum wahrnehmbaren Phänomen wird.86 Inneres und Äußeres entsprechen einander, wobei am Leib, das gilt es zu beachten, immer ein der Seele unverfügbarer Rest bestehen bleibt. Man denke hierbei etwa, um ein plakatives Beispiel zu wählen, an das Ohr, durch das Empfindungen und Stimmungen kaum zum Ausdruck gebracht werden können. In der Vorlesung zum subjektiven Geist von 1822 soll Hegel die Leiblichkeit als ein „Zeigen der Seele“ bezeichnet haben.87 Der Leib zeigt größtenteils nicht sich, sondern die Seele bzw. dasjenige, was momentan in ihr vorgeht. Mit derselben Stoßrichtung formuliert er an anderer Stelle, dass der Leib „Ebenbild des Begriffs“, das heißt der Seele sei.88 Indem der Leib Ebenbild der Seele ist, macht es genaugenommen keinen Sinn, von ihr als etwas Immateriellem zu sprechen.89 Sie ist weder rein immateriell noch macht es Sinn, sie als materiell zu bezeichnen. Rein immateriell kann sie nicht sein, da sie durch den materiellen Körper anschaulich wird. Als materiell kann sie nicht bezeichnet werden insofern, als sie als ein begriffliches Prinzip nicht (wie der Körper) extensiv ist. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass Hegel seinen gegen die empirische und rationale Psychologie geltend gemachten Anspruch eingelöst hat, das In-Erscheinung-Treten des Begriffs aufzuzeigen: Das seelische Befinden des Individuums wird für andere sowohl durch die unwillkürlichen als auch die willkürlichen Ausdrucksformen wahrnehmbar. Er zeigt damit zugleich auf, dass das Individuum durch seinen Leib immer schon nach außen hin geöffnet bzw. auf andere hin ausgerichtet

86

Vgl. Wolff 1992, S. 35. GW 25.1, 98. 88 GW 23.2, 797. 89 Vgl. Wolff 1992, S. 124.

87

2. Hegels Auffassung der Seele

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ist.90 Es hat das genuine Bedürfnis sich mitzuteilen und tritt durch seine körperlichen Expressionen immer schon in den Austausch mit anderen. In einer seiner Vorlesungen bezeichnet Hegel den Leib auch als das „Kunstwerk der Seele“, das heißt als das von der Seele geschaffene Werk.91 Durch den Vergleich des Leibes mit einem Kunstwerk bringt er zweierlei zum Ausdruck: Zum einen zeichnet ein Kunstwerk aus, materiell verfasst zu sein. Es besteht etwa aus auf Leinwand aufgetragenen Farben und Formen. Zugleich schaut man immer mehr als die pure Materialität – die aufgetragenen Farben und Formen – an, nämlich dasjenige, was sie darstellen. Durch die Materialität tritt ein geistiger Gehalt hindurch. Zum anderen unterliegt ein Kunstwerk der Deutung des Gegenübers. Man kann es betrachten und interpretieren. Was in ihm ausgedrückt wird, ist nicht immer eindeutig zu bestimmen. So ist es auch mit den unwillkürlichen und willkürlichen Ausdrucksformen der Seele. Auch sie unterliegen der Deutung eines Gegenübers und können fehlgedeutet werden. Fehlgedeutet in dem Sinne, dass in ihnen etwas anderes gelesen wird, als durch sie zum Ausdruck gebracht wird. An diese Überlegungen kann die Frage angeschlossen werden, ob Hegel eine Hierarchisierung der Ausdrucksformen vornimmt: Ist er etwa der Ansicht, dass sich das Individuum durch die Sprache in jedem Fall besser ausdrücken kann als durch Gestik und Mimik, so dass sie Letztere sogar überflüssig macht?92 Hegel gibt auf diese Frage meines Wissens keine Antwort. Er führt zwar an verschiedenen Stellen aus, dass der Gebildete Gebärden und Mimik sparsamer gebrauche als der Ungebildete und sein bevorzugtes Ausdrucksmittel die Sprache sei, was aber nicht heißen muss, dass er sich durch die Sprache in jedem Fall besser ausdrücken kann als durch Gestik und Mimik. Die entsprechende Stelle lautet bei ihm: „ein gebildeter Mensch hat eine weniger lebhafte Gebehrde und Mienenspiel, denn dieß ist mehr komisch, der gebildete Mensch verschließt sich mehr ist unaufrichtiger als der ungebildete, daher dru¨ ckt dieser das lebhafter aus was er innerlich hat. Beim gebildeten Menschen ist die Sprache der wu¨ rdige Ausdruck dessen was er denkt, so hatten bei den Alten die Akteurs Masken vor dem Gesicht, wodurch natu¨ rlich das Mienenspiel worauf wir so viel achten verloren geht, aber im Drama ist die Sprache das Wesentliche wodurch sich das Geistige ausdru¨ ckt.“93

Hegel ist hier meines Erachtens so zu verstehen, dass der Gebildete seine Emotionen besser unter Kontrolle hat als der Ungebildete und er diese deswegen auch besser verbergen kann. Er spricht an keiner Stelle davon, dass die Sprache Gestik und Mimik überflüssig mache. Ganz im Gegenteil kann vermutet werden, dass alles seinen geeigneten Ausdruck hat: So lassen sich Emotionen und Gefühle am 90

Hegel nimmt hier den Gedanken von Maurice Merleau-Ponty in dessen Schrift Phänomenologie der Wahrnehmung vorweg, dass der Leib das Mittel des Menschen zur Welt sei. (Vgl. Bermes, Christian: Maurice Merleau-Ponty zur Einführung. Hamburg 1998, S. 62). 91 Vgl. GW 25.1, 407. 92 Dieser Ansicht ist etwa Ziglioli 2017, S. 47. 93 GW 25.1, 409.

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

besten durch Haltung, Gestik und Mimik ausdrücken, Gedanken hingegen durch die Sprache. Wie ließe sich beispielsweise das Gefühl echter Zuneigung zweier Menschen zueinander besser ausdrücken als durch eine innige Umarmung? Oder wie könnte ein Moslem – um auf ein Beispiel von Hegel zurückzugreifen – seine Demut Gott gegenüber besser bekunden als durchs Hinknien und Senken seines Kopfes?94 Emotionen und Bekundungen wie solche lassen sich durch Worte niemals mit derselben unmittelbaren Kraft zum Ausdruck bringen wie durch Mimik, Gestik und Körperhaltung. Davon, dass Hegel dieser Ansicht ist, zeugen viele seiner Bemerkungen zur Kunst. Zwar hält er die Poesie, das heißt das geschriebene Wort und die gesprochene Sprache, für die „vollkommenste Kunst“, aber zugleich notiert Hegel über die höchste ihrer Formen, die dramatische Poesie, dass sie durch einen Schauspieler – durch Gesang, Gebärde, Miene etc. – vorgetragen werden müsse.95 Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Sprache andere Ausdrucksweisen nicht ersetzen kann, sondern durch diese im besten Fall ergänzt wird. Dadurch wird der Ausdruck im Ganzen elaborierter und differenzierter. Die Frage, ob Hegel eine Hierarchisierung der Ausdrucksformen vornimmt, möchte ich an dieser Stelle nicht abschließend beantworten. Dafür wäre eine umfassendere Untersuchung erforderlich als hier geleistet werden kann, zumal sie von meinem eigentlichen Untersuchungsgegenstand – dem Verhältnis von Seele und Körper – zu weit wegführen würde. Stattdessen soll auf eine Konsequenz des von ihm angenommenen expressiven Verhältnisses von Seele und Körper eingegangen werden.

2.3 Die Vermeidung eines Leib-Seele-Dualismus Hegel sieht den großen Vorteil seiner Auffassung des Verhältnisses von Seele und Körper darin, dass sie von vorneherein einen Dualismus unterläuft, wie er in der traditionellen Metaphysik ausgehend von Descartes vorherrscht.96 Der Dualismus von Seele und Körper ist für ihn ein Scheinproblem, das auf falschen Voraussetzungen beruht. Der Voraussetzung nämlich, dass sowohl die Seele als auch der Körper selbstständige, undurchdringliche Substanzen sind. Allerdings ist er nicht der Ansicht, dass der Dualismus durchweg falsch ist, sondern dass er sich zwangsläufig von einer bestimmten Betrachtungswarte aus ergibt: der Warte des Bewusstseins.97 Während Seele und Körper faktisch eine Einheit bilden, unterscheidet sich das Bewusstsein von seinem eigenen Körper. Er erscheint ihm als etwas Ausgedehntes und ihm Äußerliches. Hegel führt in einem mündlichen Zitat den Gedanken aus: 94

Vgl. GW 25.1, 99. Hegel, Philosophie der Kunst, S. 222 u. S. 231. Hegel unterscheidet zwischen epischer, lyrischer und dramatischer Poesie. 96 Vgl. GW 15, 212 f. 97 Vgl. Asmuth 2016, S. 294 f. 95

3. Die Seele als Individuationsprinzip

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„Wir wissen, aus unserm gewöhnlichen Bewußtsein, daß die Natur außer uns ist; eben so wissen wir auch, daß wir eine Natur an uns selbst haben, unser Körperliches, organisches Leben; allein auch diese ist außer uns, d. h. außer dem Ich. Die Natur ist also das Andere als wir. Wir unterscheiden so unsern Körper von uns selbst.“98 Indem sich das Bewusstsein von seinem Körper unterscheidet, unterscheidet es sich letztlich von sich selbst; es ist zur Selbstdifferenzierung fähig. Denn genauso wie es von seinem Körper unterschieden ist, ist es mit ihm identisch.99 Da dem Bewusstsein der Körper als etwas ihm Äußerliches und Reelles entgegentritt, entsteht ihm ganz von selbst die Frage, wie Seele und Körper aufeinander einwirken können. Für Hegel ist der Unterschied zwischen Seele und Körper somit keine ontologische Entgegensetzung wie in der traditionellen Metaphysik, sondern eine Unterscheidung, die das Bewusstsein selbst trifft.100

3. Die Seele als Individuationsprinzip Nachdem im vorhergehenden Kapitel gezeigt wurde, was Hegel unter der Seele versteht und in welchem Verhältnis sie zum organischen Körper steht, ist das Ziel des folgenden Kapitels zu eruieren, inwiefern sie bei ihm als Individuationsprinzip gelten kann. Sowohl in der Anthropologie als auch im Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes legt Hegel an verschieden Stellen dar, dass die Individualität der Seele auf ihren Bestimmungen beruht.101 Durch ihre Bestimmungen ist sie von allen anderen unterschieden. So schreibt er etwa im Fragment: „Die Seele ist erstens bestimmt […] aber zweytens ist sie zur Individualität bestimmt“.102

98

GW 24.1, 209. Hegel antizipiert an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen dem Körperhaben und Körpersein, die sowohl Helmuth Plessner als auch Karl Jaspers vornehmen. Plessner schreibt: „Ein Mensch ist immer zugleich Leib […] und hat diesen Leib als diesen Körper.“ (Plessner, Helmuth: „Lachen und Weinen.“ In: Ders.: Philosophische Anthropologie. Frankfurt a. M. 1970, S. 11 – 171, hier S. 43.) Jaspers formuliert: „Ich bin mit meinem Körper eins, und doch bin ich nicht identisch mit ihm. ,Wäre ich mein Körperich, so wäre es sonderbar, daß doch kein Körperteil wesentlich zu mir gehört. Ich kann Glieder, einzelne Organe, selbst Hirnteile verlieren; ich bleibe ich.‘“ (Jaspers, Karl: Philosophie II: Existenzerhellung. Berlin 1956, S. 28.) Zu dem Verhältnis von Körpersein und Körperhaben bzw. Selbstsein und Selbsthaben siehe auch Asmuth, Christoph: „Selbsthabe und Selbstsein: Possessivität und Performanz des Körperlichen.“ In: Balsemao Pires, Edmundo u. a. (Hg.): Bezüge des Selbst. Coimbra 2010, S. 15 – 33. 100 Vgl. Asmuth 2016, S. 288. 101 In reallogischen Termini kann gesagt werden, dass die Einzelheit (das Individuum) totale Bestimmtheit ist. 102 GW 15, 233. 99

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Der Ausdruck der „Bestimmung“ bzw. „Bestimmtheit“ ist ein Schlüsselbegriff in Hegels Philosophie. Er bezieht sich mit ihm auf Spinoza, der in dem Diktum „omnis determinatio est negatio“ die Bestimmung über die Negation definiert: Alle Bestimmung sei Negation. Diesen Gedanken greift er von Spinoza auf, wobei ihm – so muss man letztlich sagen – in Hegels Philosophie eine weitaus größere Bedeutung zukommt als bei Spinoza. Hegels Spinoza-Bezug wird an späterer Stelle (in Kapitel I. 4.1) noch thematisch sein. Zuerst soll es um Hegels Verständnis und Gebrauch des Satzes „determinatio est negatio“ gehen. Nach Hegel ist die Bestimmtheit insofern eine Negation, als bestimmt zu sein bedeutet, etwas anderes zugleich nicht zu sein. Übertragen auf die Seele heißt das: Indem die Seele etwas Bestimmtes ist, ist sie etwas anderes zugleich nicht. Denn wie er im Fragment formuliert, ist alle Bestimmtheit „Bestimmtheit nur gegen eine andere Bestimmtheit“.103 Die Seele ist somit sowohl positiv als auch negativ bestimmt: Sie ist etwas Bestimmtes, etwas anderes wiederum nicht. Indem sie als etwas Bestimmtes andere Bestimmungen von sich ausschließt, ist sie durch ihre Bestimmungen begrenzt. So ist Hegels Bemerkung in der Anthropologie zu verstehen: „Als individuell ist die Seele ausschließend überhaupt.“104 Die Seele ist somit durch negative Referenz auf alles andere bestimmt.105 Auf der anderen Seite lässt sich sagen, dass in jeder Bestimmung, in allem, was die Seele ist, ex negativo zugleich all das enthalten ist, was sie nicht ist. Sie ist somit in abgrenzender Weise alles. Alles, was sie nicht ist, ist in negativer Weise ihr eigenes Moment. Die Seele steht somit in konstitutiver Beziehung zu allem, was sie nicht ist, wovon sie abgegrenzt ist. Alles, was die Seele von sich ausschließt, gehört konstitutiv zu ihr. Zudem ist die Seele durch ihre Bestimmungen per se auf anderes bezogen. Die Seele ist folglich nicht ohne anderes zu denken, das heißt ohne dasjenige, das sie nicht ist und auf das sie durch ihre Bestimmungen immer schon bezogen ist. Sie geht über sich hinaus, indem sie nur zusammen mit anderem zu denken ist, mit demjenigen, das sie nicht ist. In der Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist von 1822 hält der Nachschreiber fest, dass die Negation, von der hier die Rede ist, eine „bloß relative“ Negation sei.106 Relativ ist sie deswegen, weil die Seele durch ihre Bestimmungen immer zugleich in Relation zu anderem steht, zu dem, was sie nicht ist bzw. was sie von sich ausschließt. Aus dieser Überlegung Hegels ist zu schließen, dass sich die Individualität der Seele nicht allein aus sich heraus denken lässt. Vorausgesetzt ist immer schon anderes, von dem sie unterschieden ist. Das andere ist ihre konstitutive Bedingung.

103

Ebd., 218. Enz3 § 404. 105 Vgl. Ingram, David: „Hegel on Leibniz and Individuation.“ In: Kant-Studien 76 (1985), S. 420 – 435, hier S. 425. 106 GW 25.1, 109. 104

3. Die Seele als Individuationsprinzip

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Es stellt sich die Frage, was Hegel konkret unter den Bestimmungen der Seele versteht. Eine Antwort erhalten wir in der Anthropologie. Dort unterscheidet er zwischen den sogenannten qualitativen und immanenten Bestimmungen der Seele. Gemeinsam konstituieren sie die Individualität der Seele. Wenden wir uns zuerst den qualitativen und anschließend den immanenten Bestimmungen der Seele zu und versuchen aufzuklären, was sich Hegel unter ihnen vorstellt.

3.1 Die qualitativen Bestimmungen der Seele Auf einer ersten, basalen Ebene sieht Hegel die Individualität der Seele durch ihre qualitativen Bestimmungen konstituiert. Unter den qualitativen Bestimmungen der Seele versteht er sowohl a) die sogenannten natürlichen Qualitäten, die die Seele an sich hat, als auch b) die Gewohnheiten des Individuums. Dass er die natürlichen Qualitäten zu den qualitativen Bestimmungen der Seele zählt, ist allein der Bezeichnung zu entnehmen. Dass er aber auch die Gewohnheiten zu den qualitativen Bestimmungen der Seele zählt, ist wiederum nicht offensichtlich, sondern unter anderem aus einer seiner Bemerkungen in der Vorlesung über die Philosophie des subjektiven Geistes von 1827 abzuleiten. Dort ist zu lesen, dass neben den natürlichen Qualitäten auch die „Gewohnheit […] eine Qualität meiner selbst“ sei.107 Es fragt sich als Erstes, was Hegel unter den qualitativen Bestimmungen der Seele versteht. Mit der Qualität befasst er sich in der Seinslogik. Dort ist über die Qualität zu erfahren, dass sie „sowohl die Bedeutung von Bestimmung als Beschaffenheit in sich vereinigt. Die Qualität als diese Vereinigung ist die bestimmte Natur von Etwas“.108 Versucht man Hegels Ausführungen in der Seinslogik auf die Anthropologie zu übertragen, heißt dies erstens, dass die Seele durch ihre qualitativen Bestimmungen auf eine bestimmte Weise beschaffen ist, und zweitens, dass die qualitativen Bestimmungen ihre „bestimmte Natur“ ausmachen. Dass die Seele durch ihre qualitativen Bestimmungen auf eine bestimmte Weise beschaffen ist, bedeutet zugleich, dass sie aufgrund ihrer von allen anderen unterschieden ist. Sie ist anders als alle anderen, die anders beschaffen sind als sie. So deute ich zumindest Hegels Aussage in der Vorlesung über Logik und Metaphysik aus dem Jahr 1828: „Qualitaet und Anderssein sind so unterschieden von einader und zugleich bezogen. Das Anderssein ist zugleich das eigene Moment der Qualitaet, und das unterschiedene von ihr, das ist die Beziehung.“109 Entscheidend für uns ist in diesem Zitat das In-Verbindung-Bringen von Qualität und Anderssein: Was qualitativ bestimmt ist, ist von anderem unterschieden und steht mit diesem anderen, von dem es unterschieden ist, per se in Beziehung.

107

GW 25.2, 726 f. GW 11, 71 – 71. 109 Vgl. GW 23.2, 147 – 150. 108

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Doch was versteht Hegel eigentlich unter den natürlichen Qualitäten sowie der Gewohnheit des Individuums? 3.1.1 Die natürlichen Qualitäten Für die Thematisierung der natürlichen Qualitäten der Seele wählt Hegel ein eigentümliches Vorgehen: Anstatt direkt auf die natürlichen Qualitäten des Individuums zu sprechen zu kommen, beginnt er seine Ausführungen bei den Sternkonstellationen und den auf die Stellung von Sonne und Erde zurückzuführenden wechselnden Jahreszeiten und dem Tag-Nacht-Wechsel auf der Erde. Von dort aus thematisiert er die unterschiedlichen Erdteile mit ihren unterschiedlichen klimatischen Bedingungen, Bodenbeschaffenheiten, Vegetationen, Ethnien und – weiter partikularisiert – Nationen und dann erst das einzelne Individuum. Diesem Vorgehen liegt der Gedanke zugrunde, dass das Individuum als Bewohner der Erde deren Bestimmungen als natürliche Qualitäten an sich hat. Hegel knüpft damit an die antike Vorstellung des Menschen als Mikrokosmos an, der verkleinertes Abbild des Makrokosmos ist. Er weist an erster Stelle darauf hin, dass mit den wechselnden Jahreszeiten und dem Tag-Nacht-Wechsel bestimmte Empfindungen und Stimmungen in der Seele einhergehen. Er denkt dabei an unterschiedliche Stimmungen des Menschen am Morgen und am Abend oder auch im Sommer und Winter und meint vermutlich so etwas wie den Biorhythmus des Menschen. Dafür bringt er das folgende Beispiel: „so sind auch die Stimmungen des Menschen in den Tageszeiten sehr verschieden. der Geist ist morgens noch eingehu¨ llt und man ist erst zu ruhig gewohnten Arbeiten geneigt – der Tag gehört den Geschäften – abends ist die Phantasie geschäftig, der Mensch stellt Spiel an etc. Mitternacht ist der Geist am liebsten einsam bei sich.“110 Einmal abgesehen davon, ob wir Hegel in seinem pauschalen Urteil zustimmen würden, dass wir morgens mehr zu ruhigen Arbeiten geneigt sind als tagsüber und uns bevorzugt abends mit Dingen beschäftigen, bei denen unsere Phantasie gefragt ist etc., ist sicherlich richtig, dass unser Befinden in einem Zusammenhang mit den wechselnden Tages- und Jahreszeiten steht, wobei dies häufig nur vermittelt mit den unterschiedlichen Jahres- und Tageszeiten zusammenhängt, wie an den Hormonen veranschaulicht werden kann: Melatonin beispielsweise wirkt schlaffördernd und wird ausschließlich nachts produziert. Weil es im Winter länger dunkel ist, ist der Melatoninspiegel auch tagsüber erhöht und wir sind schläfriger.111 Oder nehmen wir das Sexualhormon Testosteron, das zum Wohlbefinden beiträgt und im Frühling und Sommer beim Mann mehr produziert wird als zu den anderen Jahreszeiten.112 110

GW 25.2, 601. Vgl. N.N.: „Biologe: Frühling lässt Hormone verrückt spielen.“ In: proplanta.de vom 27. 03. 2010. URL: https://www.proplanta.de/agrar-nachrichten/umwelt/biologe-fruehling-la esst-hormone-verrueckt-spielen_article1269652750.html (zuletzt aufgerufen 03. 03. 2022). 112 Vgl. ebd. 111

3. Die Seele als Individuationsprinzip

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Hegel weist im Anschluss an seine Überlegungen zu den Jahres- und Tageszeiten darauf hin, dass die Seele ethnische Bestimmungen an sich habe. Er spricht von „Rassenunterschieden“ und meint damit die damals gängige Aufteilung in fünf Rassen: die Äthiopier, die Mongolen, die Kaukasen, die Malaien und die Amerikaner.113 Weiter spezifiziert habe die Seele nationale Bestimmungen an sich. Unter ihnen fasst Hegel Eigentümlichkeiten, die eine Nation, wie zum Beispiel die Italiener, die Griechen usf., auszeichnen.114 Er versteht unter den ethnischen und – weiter spezifiziert – nationalen Bestimmungen der Seele sowohl a) körperliche als auch b) geistig-kulturelle Bestimmungen. Zu diesen a) körperlichen Bestimmungen zählt Hegel das für eine Ethnie bzw. – weiter spezifiziert – für eine Nation charakteristische Äußere, wie eine bestimmte Hautfarbe, eine bestimmte Statur und andere äußerliche Merkmale. Die b) geistig-kulturellen Bestimmungen, die die Seele aufgrund ihrer Ethnie sowie weiter partikularisiert ihres nationalen Ursprungs an sich hat, umfassen nach Hegel bestimmte Verhaltensweisen, Bräuche, gesellschaftliche Konventionen, eine bestimmte Glaubensausrichtung, Muttersprache etc. Dass die Seele geistig-kulturelle Bestimmungen als natürliche Qualitäten an sich hat, ist gleichbedeutend damit, dass das Individuum immer schon sozial verfasst ist. Hegel lehnt ganz offensichtlich die Vorstellung ab, nach der das Individuum jenseits der Gesellschaft als eine feststehende Entität existiert. Stattdessen steht es immer schon in einem bestimmten sozialen Gefüge mit bestimmten Verhaltensnormen, sozialen Praktiken und Institutionen.115 Wer das Individuum ist, ist vermittelt durch die Gemeinschaft, in der es lebt. Nur aus diesen Zusammenhängen heraus ist es zu begreifen. Es kommt immer als Teil einer Gemeinschaft zur Welt: einer Familie, einer Nation, einer Ethnie. Bei alledem ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass Hegels umfangreichen Ausführungen über die verschiedenen Ethnien und Nationen, auf die hier nicht eingegangen werden soll, auf Vorurteilen beruhen, die argumentativ nicht nur unhaltbar, sondern auch als rassistisch zu bezeichnen sind, versteht man unter Rassismus ganz allgemein die Ansicht, die eigene Rasse anderen gegenüber für überlegen zu halten. So redet er etwa von der „kindlichen Interessenlosigkeit“, „Wildheit“ und „Grausamkeit“ der Afrikaner, der Zurückgebliebenheit der Amerikaner und der „Rachsucht“ der Mohammedaner.116 Er schreibt ihnen negative Attribute zu und pauschalisiert. Daran, dass Hegels Ausführungen als rassistisch zu bezeichnen sind, ändert auch nichts, dass er aus den Unterschieden zwischen den Rassen keine Unterschiede in den Rechten abgeleitet wissen möchte. Er betont, dass alle Menschen darin gleich seien, denkende Wesen zu sein, weshalb ihnen dieselben Rechte zukommen. In der Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist von 1822 ist diesbe113

GW 25.1, 232; vgl. Enz3 § 393. Vgl. GW 25.2, 614 ff. 115 Vgl. Bykova, Marina F.: „The ,Struggle for Recognition and the Thematization of Intersubjectivity.“ In: Stern, David S. (Hg.): Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit. New York 2013, S. 139 – 153, hier S. 151. 116 GW 25.1, 34 f. u. 37. 114

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

züglich ausgeführt: „Der Mensch ist Mensch, für seinen Begriff ist die Abstammung gleich. Man glaubte nun aber ein Unterschied der Vernünftigkeit habe von jeher stattgefunden und daher ein Unterschied von Rechten. […] Aber der Mensch ist denkend, und somit gleich.“117 Seine Ausführungen über die ethnischen und nationalen Bestimmungen der Seele sind ganz klar von einem eurozentrischen Weltbild geleitet: Er hält die kaukasische Rasse, speziell die Europäer, in allen Bereichen für allen anderen Rassen überlegen. So ist zu lesen: „In die kaukasische Race fällt die Schönheit der Menschengestalt das Prinzip alles Edlen, Großen, Gedachten.“118 Die Europäer verfügen Hegel zufolge über das schönste und edelste Äußere und die am weitesten entwickelte Kultur, was er unter anderem auf die geographischen, klimatischen und vegetativen Bedingungen des europäischen Kontinents zurückführt. Das Bild, das Hegel in der Anthropologie von den verschiedenen Rassen zeichnet, ist zwar nicht als eine vereinzelte Verirrung des Urteils zu bewerten. Es handelt sich vielmehr um ein zu seiner Zeit weit verbreitetes europäisches Bild von der Inferiorität anderer Rassen.119 Diese Tatsache kann Hegels latenten Rassismus allerdings in keiner Weise relativieren. Ebenso wenig wie die Feststellung, dass er seine Rassentheorie sozial begründet – und nicht biologisch wie die Rassentheorien des 20. Jahrhunderts, die im Nationalsozialismus ihre stärkste Radikalisierung fanden. 117

Ebd., 33 f. Ebd., 37. 119 Vgl. Meissner, Jochen: „Merkur und Minerva helfen Cuauhtémoc auf die Beine.“ In: Lohse, Gerhard (Hg.): Aktualisierung von Antike und Epochenbewusstsein. München u. a. 2003, S. 199 – 246, hier insb. S. 228. Ähnliche Äußerungen wie bei Hegel, in denen bestimmte Rassen aufgrund äußerlicher Merkmale herabgesetzt werden, sind auch bei Kant zu finden. Dies hat vor kurzem die heftige Diskussion ausgelöst, ob Kant Rassist gewesen sei und welche Auswirkungen diese Feststellung für die Bewertung seines philosophischen Werkes habe. Dieselbe Diskussion wird neuerdings auch zu Hegels rassentheoretischen Ausführungen geführt. Siehe etwa Zeuske, Micheal: „Die Denker und ihr Kaffee: Warum den großen Menschheitsphilosophen die Sklaverei egal war.“ In: DER TAGESSPIEGEL vom 28. 06. 2020. URL: https://www.tagesspiegel.de/poli tik/die-denker-und-ihr-kaffee-warum-den-grossen-menschheitsphilosophen-die-sklaverei-egalwar/25953892.html (zuletzt aufgerufen 05.03.22); Bahners, Patrick: „Kant und die Stammtischwahrheiten.“ In: FAZ vom 20. 06. 2020. URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debat ten/denkmalsturz-debatte-rassismusvorwuerfe-gegen-immanuel-kant-16821689.html (zuletzt aufgerufen 05.03.22); Gerhardt, Volker: „Kant ein Rassist? Lest ihn bitte genau.“ In: WELT vom 17. 06. 2020. URL: https://www.welt.de/kultur/plus209662617/Beruehmter-KantforscherKant-ein-Rassist-Lest-ihn-bitte-genau.html (zuletzt aufgerufen 05.03.222); Willaschek, Marcus: „Kants Rassismus. Ein Kind seiner Zeit.“ In: FAZ vom 24. 06. 2020. URL: https://www. faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-man-kants-rassismus-bewerten-muss-16827398.html (zuletzt aufgerufen 05.03.222); Zorn, Daniel-Pascal: „Tagung Immanuel Kant: War der große Philosoph doch ein Rassist?“ In: FAZ vom 26. 02. 2021. URL: https://www.faz.net/aktuell/wis sen/geist-soziales/rassismus-bei-kant-war-der-grosse-philosoph-doch-ein-rassist-17153249. html (zuletzt aufgerufen 05.03.222); James, Daniel – Knappik, Franz: „Rassismus bei Hegel? Eine Last der Vernunft.“ In: FAZ vom 08.10.21. URL: https://www.faz.net/aktuell/wissen/ geist-soziales/rassismus-bei-hegel-wie-soll-die-philosophie-damit-umgehen-17569653.html (zuletzt aufgerufen 05.03.222). Vgl. Enz3 § 395. 118

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Kommen wir nun auf die individuellen Bestimmungen der Seele zu sprechen: Während die Seele die ethnischen und nationalen Bestimmungen mit anderen Individuen in dem Sinne teilt, dass auch andere derselben Ethnie und manche von ihnen wiederum derselben Nation angehören, hat sie auch ganz individuelle Bestimmungen an sich. In ihnen gleicht sie keiner anderen.120 Die Seele verfügt Hegel zufolge über ein bestimmtes Temperament und Naturell, über bestimmte Anlagen und Talente, über einen bestimmten Charakter sowie ein individuelles äußeres Erscheinungsbild. Zum individuellen äußeren Erscheinungsbild gehört ein bestimmt geschnittenes Gesicht, eine bestimmte Haar- und Hautfarbe (im Sinne einer individuellen Pigmentierung), eine bestimmte Statur usw. Außerdem verfügt die Seele über sogenannte „Idiosynkrasien“, womit Hegel meint, dass jedes Individuum andere Vorlieben und Abneigungen hat sowie andere Eigenheiten, worunter auch die individuelle Entwicklung eines jeden Kindes fällt: „Das Particulärste nun sind die Idiodyncrasien der Individuen. Dahin gehört zum Beispiel die frühe Entwicklung. Ein Individuum entwickelt sich nehmlich schon sehr früh, ohne doch deshalb weiter zu kommen, als ein Andres, dessen Entwicklung erst allmählich vor sich geht.“121 Es sei darauf hingewiesen, dass Hegel den Ausdruck des Charakters in der Anthropologie, zumindest wenn man die Vorlesungsnachschriften hinzuzieht, in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Im Kontext der natürlichen Qualitäten der Seele haben wir es mit dem Charakter im engeren Sinne zu tun. An einer späteren Stelle meiner Untersuchung wird der Charakter im weiteren Sinne noch eine große Rolle spielen. Das ist der Charakter als die Gesamtheit aller Bestimmungen der Seele. Unter dem Charakter im engeren Sinne hingegen versteht Hegel dasjenige, was im alltäglichen Wortgebrauch unter einem „festen Charakter“ verstanden wird. Es verfügt derjenige über einen festen Charakter, der an seinen Überzeugungen unerschütterlich festhält und seine Interessen unbeirrt verfolgt. Hotho zitiert Hegel in seiner Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist: „Der Character des Menschen überhaupt ist nun wieder verschiedener Art, und bezieht sich auf die Art des Willens, auf den Zweck, die Grundsätze, die den Willen bestimmen. Der Mensch hat Character, wenn er gewissen Ansichten, Grundsätzen, Zwecken treu bleibt, und sie fest verfolgt. Dem Character gegenüber steht die Unbestimmtheit des Entschlusses und der Ansicht. Wer einen großen Character hat, der führt mit der Energie und Festigkeit des Willens auch große Dinge aus, und wird für andere minder Starke, der Leuchtthurm, dem sie folgen. Ist aber die Festigkeit des Willens nicht mit Verstand und Vernunft verbunden, so wird der Wille, der sich dann auf Einzelnes, Unbedeutendes wirft, zum Eigensinn. Eigensinn ist das formelle Extrem des Characters. Der Charactervolle muß immer einen festen besondern Zweck und zu diesem eine innere Berechtigung haben.“122

Fragen wir nach der Gemeinsamkeit aller natürlichen Qualitäten der Seele, dann besteht sie darin, dass sie alle angeboren sind (man denke hierbei etwa an ein be120

Vgl. ebd. Enz3 § 395; vgl. GW 25.1, 41. 122 GW 25.1, 40 f. 121

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stimmtes Äußeres, ein bestimmtes Temperament, Naturell etc.) bzw. sie das Individuum von Geburt an hat (wie zum Beispiel, dass das Individuum von Geburt an in einem bestimmten sozialen Kontext steht, der es nachhaltig prägt). Diese Interpretation ist einem Zitat aus der Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist von 1825 zu entnehmen: „Diese Individualität ist aber so von Natur ein Besondertes, jeder wird mit einem anderen Temperament, anderen Anlangen, Hang pp geboren, als Individuum ist er besonderes und wird so geboren, er ist es von Natur. Diese Verschiedenheiten sind zunächst mannigfaltig, jeder hat Eigenthümlichkeiten […] die er auf die Welt mitbrachte und darüber herrscht die größte Zufälligkeit und Mannigfaltigkeit.“123

Dass die natürlichen Qualitäten größtenteils angeboren sind, bedeutet zugleich, dass das Individuum Hegel zufolge bereits von Geburt an über eine individuelle Konstitution verfügt. Das soeben aufgeführte Zitat ist noch in einer anderen Hinsicht ausschlussreich. Es heißt in ihm, dass zufällig sei, mit welchen natürlichen Qualitäten das Individuum geboren wird. Dass die natürlichen Qualitäten zufällig sind, soll heißen, dass die Seele zwar diese und jene natürlichen Qualitäten an sich hat, genauso aber auch andere hätte an sich haben können. In der Wesenslogik der Enzyklopädie von 1830 definiert Hegel das Zufällige in folgender Weise: „In diesem Werte einer bloßen Möglichkeit ist das Wirkliche ein Zufälliges“.124 Er ist hier so zu verstehen, dass dasjenige zufällig ist, was möglich ist, das heißt, was eintreffen konnte und was auch eingetroffen ist, aber nicht mit naturgesetzlicher Notwendigkeit eintreten musste. Etwa dass ich blond bin, obwohl mein Vater braunhaarig ist; genau so wäre es auch denkbar gewesen, dass ich mit braunen Haaren zur Welt komme. Die Zufälligkeit in dem hier verstandenen Sinne ist für Hegel somit ebenfalls ein konstitutives Moment von Individualität.125 Aus seinen Ausführungen zu den natürlichen Qualitäten ist zudem zu schließen, dass das Individuum ein völlig anderes wäre, hätte es andere Qualitäten: Wäre ich zu einer anderen Zeit geboren, in einer anderen Region, hätte ich andere Eltern etc. – ich wäre ein ganz anderer.126

123

Ebd., 242. Enz3 § 144. 125 Dieter Henrich definiert die Zufälligkeit bei Hegel in der folgenden Weise: „Zufälligkeit ist die Weise, in der Möglichkeit als realisierte gesetzt ist. Etwas, das nur möglicherweise existiert, ist, wenn es wirklich ins Dasein tritt, mit Rücksicht auf diese bloße Möglichkeit zufälligerweise wirklich geworden. Also ist das wirklich gewordene Mögliche insofern zufällig, als der Bereich des Möglichen den des Realisierten umgreift.“ (Henrich, Dieter: „Hegels Theorie über den Zufall.“ In: Ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1967, S. 157 – 186, hier S. 162). 126 Vgl. Waage 2014, S. 48. 124

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3.1.2 Die Gewohnheit Neben den natürlichen Qualitäten sieht Hegel auch die einzelnen Gewohnheiten als qualitative Bestimmungen der Seele an. Sie entstehen im weitesten Sinne durch die Wiederholung bestimmter Tätigkeiten. Dabei unterscheidet er drei Formen der Gewohnheit: die Abhärtung, die Befriedigung und die Geschicklichkeit.127 Bevor darauf eingegangen werden kann, inwiefern die Gewohnheit für die Individualität des Individuums konstitutiv ist, muss zuerst geklärt werden, was Hegel unter der Gewohnheit versteht. Denn wie zu zeigen sein wird, weicht sein Verständnis von Gewohnheit zumindest teilweise von unserem Alltagsverständnis ab. Der erste Unterschied liegt bereits darin, dass wir meist im Plural von Gewohnheiten sprechen, Hegel hingegen verwendet den Ausdruck ausschließlich im Singular. Zu den Unterschieden gleich mehr. Wenden wir uns zuerst den drei von ihm aufgezählten Formen der Gewohnheit zu: Die Abhärtung eines Individuums gegen bestimmte Empfindungen, wie zum Beispiel eine Kälteempfindung, einen körperlichen Schmerz oder Müdigkeit, beschreibt Hegel auch als eine Art Distanzierung von diesen Empfindungen. Die Distanzierung erfolgt dadurch, dass das Individuum eine bestimmte Empfindung so häufig hat, dass es – so zumindest seine Überlegung – gegen sie abstumpft. Er denkt dabei vermutlich an so etwas wie: In einem besonders kalten Winter, in dem ich viel draußen bin, gewöhne ich mich langsam an die Kälte. Während ich anfangs sehr gefroren habe, friere ich mit der Zeit immer weniger. Mein Körper ist gegen die Kälte abgehärtet. Die Befriedigung besteht nach Hegel in einer Art Befreiung von dem ständigen Drängen bestimmter körperlicher Bedürfnisse, wie zum Beispiel Hunger und Durst, dem Sexualverlangen und dem Bedürfnis nach Schlaf. Dem Individuum gelingt es, sich von diesen Bedürfnissen zumindest ein Stück weit zu befreien, indem es sie gewohnheitsmäßig permanent befriedigt. Auf diese Weise kommt es seinen Bedürfnissen zuvor und wird von ihnen nicht mehr belästigt. Er führt das Beispiel zu bestimmten Uhrzeiten stattfindender Mahlzeiten an: Man esse, weil Essenszeit sei, und nicht, weil man Hunger habe.128 Um seine Bedürfnisse permanent zu befriedigen, integriert das Individuum Routinen in seinen Alltag. Unter der Geschicklichkeit wiederum versteht Hegel die Aneignung einer bestimmten Tätigkeit wie zum Beispiel das Schreiben, das Klavierspielen etc. durch deren häufige Wiederholung. Während sich das Individuum zu Beginn der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit sehr auf die einzelnen Schritte konzentrieren muss, hat es sie nach mehrmaliger Wiederholung internalisiert. Sie sind dem Körper geläufig geworden. Das Individuum übt die Tätigkeit dann aus, ohne noch über die einzelnen Schritte nachdenken zu müssen. Dabei umfasst die Geschicklichkeit nicht nur solche komplexen Handfertigkeiten wie das Schreiben und Klavierspielen, sondern auch 127 128

Vgl. Enz3 § 410. Vgl. GW 25.2, 732.

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ganz basale Tätigkeiten wie das aufrechte Stehen, Gehen und Sehen.129 Auch diese Tätigkeiten müssen, wie bereits in einem vorherigen Kapitel dargelegt, eingeübt werden. Das Gehen etwa ist ein komplexer Vorgang, den das Individuum im Kindesalter erst lernen muss. Gewohnheiten scheinen nach Hegel sowohl unabsichtlich als auch absichtlich zu entstehen. Gegen Kälte etwa härte ich von ganz allein ab, wenn ich mich viel in der Kälte aufhalte. Klavierspielen hingegen lerne ich ganz bewusst. Denn ich lerne es nur, wenn ich viel übe.130 Das Üben wiederum setzt eine Intention voraus. Hegels Ausführungen über die Abhärtung, Befriedigung und Geschicklichkeit nach zu urteilen, erfüllt die Gewohnheit mindestens zwei Funktionen: Während die Abhärtung und die Befriedigung dem Individuum dazu dienen, sich von bestimmten Empfindungen und Bedürfnissen zu distanzieren, dient die Geschicklichkeit vorrangig der Komplexitätsreduktion. Anstatt sich auf jeden einzelnen Schritt bei der Ausführung einer bestimmten Tätigkeit richten zu müssen, übt das Individuum die Tätigkeit fast wie von alleine aus. Im weiteren Sinne, kann man sagen, handelt es sich bei der Gewohnheit um Strategien des Geistes, seinen Leib zu bemeistern. Hat das Individuum etwa einen körperlichen Schmerz, stumpft es durch Abhärtung gegen ihn ab. Wird es ständig von körperlichen Bedürfnissen geplagt, befreit es sich von ihnen durch permanente Befriedigung. Und bestimmte körperliche Bewegungsabläufe werden dem Individuum durch häufige Wiederholung so geläufig, dass es sie fortan ausführt, ohne noch seine Aufmerksamkeit darauf richten zu müssen. Auch wenn es den Anschein macht, Hegel verstehe unter der Gewohnheit letztlich nur die Abhärtung, Befriedigung und Geschicklichkeit, zeugen viele seiner Beispiele davon, dass er unter der Gewohnheit letztlich mehr fasst als diese drei Gewohnheitsformen. So meint er etwa, dass sich das Individuum auch das Denken zur Gewohnheit mache.131 Das Denken sei anstrengend und das Individuum müsse sich – durch häufige Wiederholung – erst daran gewöhnen, lange zu denken. Sonst bekomme es Kopfschmerzen. Auch bestimmte sittliche Verhaltensweisen mache es sich zur Gewohnheit.132 Während sich das Individuum in einer bestimmten Situation nach reiflicher Überlegung zu einem bestimmten sittlichen Handeln entscheide, verhalte es sich in einer ähnlichen Situation wieder sittlich, ohne allerdings abermals darüber nachgedacht haben zu müssen. Es hat sich das sittliche Handeln zur Gewohnheit gemacht. In der Internalisierung bestimmter Verhaltensweisen sieht Hegel eine Entlastung für das Individuum. Indem er unter der Gewohnheit insbesondere solche Mechanismen wie die Abhärtung, Befriedigung und Geschicklichkeit versteht, liegt ihm ganz offenbar ein 129

Vgl. GW 25.1, 402 f. Vgl. GW 25.2, 727. 131 Vgl. Enz3 § 410. 132 Vgl. GPhR § 4. 130

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anderer Begriff von Gewohnheiten zugrunde als uns. Wir meinen damit in der Regel – anders als Hegel – bestimmte eingeübte Routinen, die nicht wie bei ihm der Bedürfnisbefriedigung dienen müssen. Routinen wie zum Beispiel, dass ich es mir zur Gewohnheit gemacht habe, jeden Morgen gegen 06:00 Uhr aufzustehen oder gleich nach dem Aufstehen einen Kaffee zu trinken. Solche Routinen dienen letztlich der Entlastung: Einmal beschlossen und daran gewöhnt, stehe ich jeden Morgen gegen 06:00 Uhr auf. Ich brauche nicht jeden Abend darüber nachdenken, wann ich denn am nächsten Tag aufstehe. Ich habe meine festen Routinen, die mir helfen, meinen Tag zu strukturieren. Indem das Individuum bestimmte Routinen in seinen Alltag integriert, vollführt es sie, ohne groß über sie nachdenken zu müssen. Sie erleichtern ihm den Alltag. Dass Hegel einen anderen oder zumindest weiteren Begriff von Gewohnheit hat als wir, wird besonders dann deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sie für ihn fast alle Tätigkeiten und Einstellungen des Individuums umfasst: basale Fähigkeiten, Fertigkeiten, Verhaltensweisen und Einstellungen. Anders als er würden wir beispielsweise nicht behaupten, dass wir uns das Gehen zur Gewohnheit gemacht hätten oder das Klavierspielen. Stattdessen würden wir sagen, dass wir es uns zur Gewohnheit gemacht haben, jeden Nachmittag Klavier zu spielen etwa mit der Intention, darin stetig besser zu werden, oder einfach aus Freude. Daran, dass die Gewohnheit fast alle Tätigkeiten des Individuums umfasst, schließt Hegel die subtile Überlegung an, dass sie wesentlicher Bestandteil seiner Individualität sei.133 Diese Überlegungen finden sich vor allem in den diversen Nachschriften zu seinen Vorlesungen zur Philosophie des subjektiven Geistes. So heißt es etwa an einer Stelle, dass das Individuum „die Totalität seiner Gewohnheit“ sei.134 Er bringt damit zum Ausdruck, dass wir uns das Individuum nicht als eine feststehende Entität vorstellen dürfen, das gewisse Gewohnheiten hat, so als gäbe es das Individuum auch abzüglich all dieser Gewohnheiten. Stattdessen besteht es ganz wesentlich aus diesen; sie gehen in dessen ganzes Sein ein. Sie umfassen sowohl einfache körperliche Bewegungsabläufe als auch religiöse und sittliche Einstellungen, Routinen, Fertigkeiten usw. In diesem Sinne ist in der Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist von 1827/28 zu lesen, dass die Gewohnheit „meine Weise, meine allgemeine Art zu sein“ ist.135 Wir können davon ausgehen, dass sich Gewohnheiten nach Hegel auch ändern können, alte Gewohnheiten verloren gehen und neue hinzukommen können. Ich kann etwa ein neues Musikinstrument spielen lernen, mir neue sittliche Verhaltensweisen 133 Simon Lumsden ist meines Wissens der Erste, der die Verbindung von Gewohnheit und Individualität bei Hegel bemerkt und ihr Beachtung geschenkt hat. Er stellt mit Blick auf die Gewohnheit bei Hegel fest: „Habits are part of who we are and how we relate to the world“. (Lumsden, Simon: „Between Nature and Spirit. Hegel’s Account of Habit.“ In: Stern, David S. (Hg.): Essays in Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit. New York 2013, S. 128) Neben Lumsden findet sich ansonsten nur bei Andreja Novakovic eine kurze Bemerkung zum Verhältnis von Gewohnheit und Individualität bei Hegel. (Vgl. Novakovic 2017b, S. 216). 134 GW 25.2, 735. 135 Ebd., 726 f.

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zur Gewohnheit machen etc. Für die Konstituierung von Individualität bedeutet das: Das Individuum ist die Totalität seiner Gewohnheit nicht in dem Sinne, dass sie ein für alle Mal feststeht, sondern Individualität ist veränderbar, dynamisch. Hegel macht auf einen entscheidenden Unterschied zwischen den natürlichen Qualitäten und der Gewohnheit aufmerksam. Die natürlichen Qualitäten sind dem Individuum größtenteils angeboren, das heißt, sie sind ihm einfach zugefallen, anstatt dass es sie selbst gewählt oder hervorgebracht hätte. Die Gewohnheiten hingegen eignet sich das Individuum selbst an – zum Teil unbewusst, zum Teil bewusst. Es entwickelt sie selbst durch die Wiederholung bzw. Einübung bestimmter Tätigkeiten. Auf diese Weise entwickelt es Routinen, stumpft sich gegen bestimmte Empfindungen ab und befriedigt bestimmte körperliche Bedürfnisse fast von allein. Oder wie Hegel in der Vorlesung zum subjektiven Geist von 1822 gesagt haben soll: „Das Sein als worin ich mich setze, macht eine von mir gesetzte Natur, und diß ist die Gewohnheit.“136 Bezüglich der Individualität des Individuums kann daraus geschlossen werden, dass das Individuum nicht nur von Geburt an über eine individuelle Konstitution verfügt, sondern auch dass es sich in der Praxis der Gewohnheiten selbst herstellt.137 3.1.3 Die Natur des Individuums Hegel bringt die natürlichen Qualitäten und die Gewohnheit mit der Natur des menschlichen Individuums in Verbindung. So bezeichnet er die natürlichen Qualitäten auch als „Naturbestimmtheiten“ und als das „natürliche Daseyn“ der Seele.138 Die Gewohnheit wiederum beschreibt er als „Zweite Natur“ bzw. als die zum „Natürlichseienden“ gemachte Bestimmung der Seele.139 Die entsprechende Stelle aus der Anthropologie, in der er die natürlichen Qualitäten als „natürlich“ und die Gewohnheit als „zweite Natur“ bezeichnet, lautet in voller Länge: „Die natürlichen Qualitäten und Veränderungen des Alters, des Schlafens und Wachens sind unmittelbar natürlich; die Gewohnheit ist die zu einem Natürlichseienden, Mechanischen gemachte Bestimmtheit des Gefühls, auch der Intelligenz, des Willens usf., insofern sie zum Selbstgefühl gehören. Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der 136

GW 25.1, 89. Auch John Dewey ist der Überzeugung, dass unsere Gewohnheiten weitestgehend ausmachen, wer wir sind. Er schreibt: „[Habit] overrides our formal resolutions, our conscious decisions. When we are honest with ourselves the acknowledge that a habit has this power because it is intimately a part of ourselves. It has a hold upon us because we are the habit.“ (Dewey, John: Human Nature and Conduct: An Introduction to Social Psychology. New York 1922, S. 24. Zitiert nach Lumsden 2013, S. 128) Dewey stand bekanntermaßen unter dem Einfluss von Hegel. Vielleicht wurde er in diesem Gedanken von Hegels Ausführungen zur Gewohnheit in der Anthropologie inspiriert. 138 Enz3 § 391. 139 Ebd. § 410; GW 15, 227. 137

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Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs-Willens-Bestimmtheiten als verleiblichten […] zukommt.“140

Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, welcher Naturbegriff Hegel in seiner Rede von den „natürlichen Qualitäten“ bzw. dem „natürlichen Dasein“ der Seele sowie von der Gewohnheit als der „zweiten Natur“ der Seele zugrunde liegt. Was versteht er zum einen unter der Natur und zum anderen unter der zweiten Natur der Seele? Diese Frage stellt sich insbesondere deswegen, weil die Anthropologie in der Forschung zu Recht als der Ort angesehen wird, an dem Hegel das virulente Verhältnis des Geistes zur Natur thematisiert. Er fasst an diversen Stellen selbst zusammen, dass es in ihr um die „konkrete Natur des Geistes“ bzw. den „Naturgeist“ gehe, was systematisch gesehen so zu erklären ist, dass die Anthropologie am Übergang von der Natur- zur Geistphilosophie steht.141 Nun ist zu konstatieren, dass sein in der Anthropologie verwendeter Naturbegriff, wie er auch im Ausdruck der zweiten Natur vorkommt, in vielen Untersuchungen, in denen seine Auffassung des Verhältnisses des Geistes zur Natur aufgeklärt werden soll, nicht reflektiert wird, so als sei völlig klar, was unter der Natur in diesem Zusammenhang zu verstehen sei.142 Indem sein Naturbegriff nicht reflektiert wird, bleibt allerdings vage, was eigentlich verhandelt wird, wenn nach dem Verhältnis des Geistes zur Natur gefragt wird. Wenden wir uns zuerst der Herkunft des Ausdrucks der zweiten Natur zu: Mit dem Ausdruck der zweiten Natur bezieht sich Hegel implizit auf Aristoteles. Dieser selbst gebraucht zwar den Ausdruck der zweiten Natur nicht, spricht aber in der Nikomachischen Ethik, in der er seine Tugendethik ausführt, davon, dass ethische Tugenden dadurch hervorgebracht werden würden, dass sie sich das Individuum zu seiner Gewohnheit macht. Indem sich das Individuum immer wieder tugendhaft

140

Enz3 § 410. Vgl. Enz3 §§ 380, 387. 142 Der zweiten Natur bei Hegel wird in der gegenwärtigen Forschung eine eminente Bedeutung beigemessen. Davon zeugen unzählige Beiträge und Diskussionen. Siehe etwa Khurana 2017; Magrì, Elisa: „Zweite Natur und Sittlichkeit. Über Hegels Auffassung von Inhabitanz.“ In: Oehl, Thomas – Kok, Arthur (Hg.): Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Leiden 2018, S. 213 – 232; Ranchio, Filippo: Dimensionen der zweiten Natur: Hegels praktische Philosophie. Hamburg 2016; Peters 2016; Menke Christoph: Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel. Berlin 2018, insb. S. 36 – 47; Novakovic, Andreja: Hegel on Second Nature in Ethical Life. Cambridge 2017a; Forman, David: „Second Nature and Spirit: Hegel on the Role of Habit in the Appearance of Perceptional Consciousness.“ In: The Southern Journal of Philosophy 12 (2010), 48 (4), S. 325 – 352. Welcher Naturbegriff Hegel in seiner Rede von der Zweiten Natur zugrunde liegt, bleibt bei vielen von ihnen unreflektiert. Eine Ausnahme bildet Dina Emundts; sie geht Hegels Natur-Begriff in der Rede von der zweiten Natur auf den Grund. (Siehe Emundts, Dina: „Gewohnheit als zweite Natur.“ In: Christ, Julia – Honneth, Axel (Hg.): Zweite Natur: Stuttgarter Hegel-Kongress 2017. Frankfurt a. M. 2022, S. 55 – 74 (am Ersch.)). 141

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

verhalte, mache es sich die Tugenden zu seiner Natur.143 Die Natur, von der Aristoteles in diesem Zusammenhang spricht, wurde später von Cicero als „zweite Natur“ bezeichnet.144 Auch Cicero führt aus, dass Gewohnheiten Bestandteil unserer Natur werden können. In seinem Werk De finibus bonorum de malorum lässt er einen Vertreter der aristotelischen Lehre sagen, dass „durch die Gewöhnung gewissermaßen eine zweite Natur entsteht, die die Menschen zu vielen Handlungen veranlasse, die nichts mit der Lust zu tun hätten.“145 Was nun Hegels implizite Bezugnahme auf Aristoteles durch den Gebrauch des Ausdrucks „zweite Natur“ betrifft, so ist ihm nicht daran gelegen, Aristoteles’ Tugendethik zu übernehmen, sondern lediglich einen bestimmten Aspekt davon, und zwar denjenigen, dass dem Menschen bestimmte Tätigkeiten durch häufige Wiederholung selbstverständlich werden. Er führt sie bald aus, ohne groß über sie nachdenken zu müssen.146 Was haben wir schließlich unter der Natur der Seele in der Rede vom natürlichen Dasein der Seele und deren zweiter Natur zu verstehen? Einen Hinweis darauf, was Hegel unter der Natur der Seele versteht, erhalten wir in dem oben angeführten Zitat. Darin sagt er, dass die natürlichen Qualitäten in der Form der Unmittelbarkeit seien, die Gewohnheit hingegen in der Form der gesetzten Unmittelbarkeit. Was er damit meint, können wir nach unserer Exploration des Ursprungs der natürlichen Qualitäten und der Gewohnheit in den zwei vorherigen Kapiteln sagen. Wir haben über die natürlichen Qualitäten erfahren, dass sie solche Bestimmungen umfassen wie, dass das menschliche Individuum einer bestimmten Ethnie angehört, in einem bestimmten Land geboren wird, in einer sozialen Gemeinschaft mit bestimmten Bräuchen und Traditionen aufwächst, ein bestimmtes äußeres Erscheinungsbild hat, mit einem bestimmten Temperament zur Welt kommt usw. Charakteristisch für diese Bestimmungen ist, dass sie sich das Individuum nicht selbst ausgesucht oder gesetzt hat. Es war dabei nicht aktiv. Stattdessen sind sie ihm von Geburt an gegeben; es findet sich durch sie bestimmt vor. Das meint Hegel damit, dass die natürlichen Qualitäten unmittelbar sind bzw. das Individuum sie von Natur aus hat. Über die Gewohnheit war je nachdem, ob es sich um die Abhärtung, Befriedigung oder Geschicklichkeit handelte, etwas anderes zu erfahren. In der Abhärtung macht sich das Individuum gegen bestimmte Empfindungen unempfindlich, indem es sich ihnen immer wieder aussetzt. In der Befriedigung distanziert es sich von bestimmten Empfindungen, indem es sie routiniert permanent befriedigt. In der Geschicklichkeit 143

Vgl. EN II 1103 a 13 – 25. Cicero: Über die Ziele des menschlichen Handelns/De finibus bonorum et malorum (lat./dt.). Hg. v. Olof Gigon. München u. a. 1988, S. 382 f.; ders.: Vom Wesen der Götter/De natura deorum. Hg. v. Wolfgang Gerlach u. Karl Bayer. München u. a. 1990, S. 325 – 327. 145 Ebd. 146 Den Ausdruck der zweiten Natur gebraucht Hegel nicht nur in der Anthropologie, sondern auch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Er führt dort aus, dass dem selbstbewussten Individuum das rechtliche und sittliche Verhalten zur „Zweiten Natur“, das heißt selbstverständlich geworden ist. (Vgl. GPhR § 4). 144

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wiederholt das Individuum bestimmte Tätigkeiten so häufig, bis sie ihm geläufig sind. Es kann diese dann ausführen, ohne über jeden ihrer einzelnen Schritte nachzudenken. Gemeinsam ist allen drei Formen der Gewohnheit, dass das Individuum in ihnen (mehr oder weniger bewusst) aktiv wird. Es bringt die Gewohnheit selbst hervor: Es setzt sich bestimmten Empfindungen immer wieder aus, so dass es gegen diese abstumpft. Es bildet Strukturen aus, die ihm erlauben, bestimmte Bedürfnisse nebenbei zu befriedigen. Und es wiederholt bestimmte Tätigkeiten so lange, bis sie ihm geläufig werden. Wenn Hegel sagt, dass das Individuum diese Tätigkeiten zu seiner zweiten Natur mache, dann meint er damit, dass es sie selbst an sich hervorbringt. Dass sich die natürlichen Qualitäten und die Gewohnheiten dadurch voneinander unterscheiden, dass die ersten dem Individuum zufallen und die zweiten von ihm selbst gesetzt sind, bringt Hegel – laut seinem Nachschreiber – in einer seiner Vorlesungen zum subjektiven Geist zum Ausdruck: „Die Gewohnheit habe ich aber nicht von Hause aus, sondern ich habe sie mir erst durch mich angeeignet; sie ist durch mich gesetzt; eine Qualität meiner selbst; dadurch unterscheidet sie sich von den natürlichen Qualitäten: daß ich ein Europäer bin, so durch sich constituirt, daß ich dies und jenes Temperament habe etc. daß ich schlafe und wache etc. das ist eine natürliche Qualität. die Gewohnheit ist eine allgemeine Weise meines Thuns, meines Empfindens, die ich selbst in mir hervorgebracht habe.“147

Zusammengefasst besteht die Natur der Seele in ihrer Unmittelbarkeit, die zweite Natur wiederum in ihrer gesetzten Unmittelbarkeit. Wir können daraus schließen, dass – wenn Hegel die natürlichen Qualitäten als das natürliche Dasein der Seele und die Gewohnheiten als die zweite Natur des Individuums bezeichnet – er damit nicht Bezug auf seinen eigenen philosophischen Naturbegriff nimmt.148 Hegels eigener philosophischer Naturbegriff besteht darin, dass die Natur sui generis in der Form der Äußerlichkeit, des räumlich-zeitlichen sowie materiellen Auseinanderseins und der Vereinzelung ist.149 Als Auseinanderseiend sieht Hegel die Natur insofern an, als sie raum-zeitlich verfasst ist und alle Dinge in ihr nach- und nebeneinander angeordnet sind; sie ist extensiv. In sich selbst äußerlich ist die Natur wiederum insofern, als ihr ein einheitliches synthetisierendes Prinzip fehlt.150 Vereinzelt ist sie schließlich insofern, als sie sinnlich und das Sinnliche immer einzeln ist.

147

GW 25.2, 726 f. Vgl. Emundts 2022, S. 72. 149 Vgl. Enz3 § 20. 150 Vgl. Schnädelbach 2013, S. 108. Hegel zufolge ist der Begriff in der Natur zwar überall anzufinden, aber genauso gibt es auch unzählig viele Abweichungen von ihm. Hegel schreibt: „Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besondern äußerer Bestimmbarkeit auszusetzen.“ (Enz3 § 259) Nehmen wir den Begriff des Tigers, der unter anderem darin besteht, vier Beine zu haben, einen Schwanz, ein charakteristisches dunkles Streifenmuster usw. Nach Hegel sind alle einzelnen Tiger Instantiierungen des allgemeinen Tiger-Begriffs. Nun gibt es allerdings Tiger, die einen Gen148

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Auch versteht Hegel unter der Natur in seiner Rede von dem natürlichen Dasein der Seele und der zweiten Natur des Individuums nicht so etwas wie eine ursprüngliche Natur des Menschen, die allen seinen geistigen bzw. kulturellen Errungenschaften entgegengesetzt wäre. Denn sowohl die natürlichen Qualitäten als auch auf die Gewohnheiten begreifen soziokulturelle Bestimmungen des Individuums mit. Denken wir zum Beispiel an die natürlichen Qualitäten, so zählt er zu ihnen etwa das kulturelle Umfeld, in welches das Individuum hineingeboren wird und das es nachhaltig prägt. Es wächst in dessen religiösem Glauben, mit dessen Sprache und Sitten auf. Auch die Talente, über die ein Individuum von Geburt an verfügt, sind soziokulturell verfasst. Wenn ich etwa musikalisch besonders talentiert bin, dann handelt es sich dabei um ein Talent zu einer bestimmten kulturellen Praxis, dem Musikspiel. Aber auch die Gewohnheit umfasst soziokulturelle Bestimmungen; sie beruhen auf sozialen Normen und Praktiken. Hier ließen sich etliche Beispiele finden sowohl für die Befriedigung, die Abhärtung als auch die Geschicklichkeit. Ein Beispiel für die Befriedigung ist das Speisen zu festen Tageszeiten; ein Beispiel für die Geschicklichkeit ist das Schreiben, das ganz offensichtlich eine kulturelle Praxis ist. Wenn Hegel davon spricht, dass das Individuum die natürlichen Qualitäten von Natur aus habe und es sich die Gewohnheit zu seiner Natur mache, liegt ihm ein Naturbegriff zugrunde, der unspezifisch und weit ist. Es handelt sich um einen Naturbegriff, wie wir ihn auch im Alltag verwenden. Es ist durchaus üblich davon zu reden, dass jemand von Natur aus ein bestimmtes Temperament hat oder sich bestimmte Verhaltensweisen zur Natur gemacht hat, ohne dass uns hier ein klar umrissener Naturbegriff zugrunde läge. Wir wollen damit lediglich sagen, dass jemand seit Geburt oder von Kindesbeinen an dieses bestimmte Temperament hat bzw. dass jemand bestimmte Verhaltensweisen so internalisiert hat, dass er diese ausführt, ohne darüber nachzudenken. Für das Verhältnis des Geistes zur Natur bedeuten die hier getätigten Überlegungen, dass es Hegel in der Anthropologie weder um den Geist im Verhältnis zu seinem eigenen philosophischen Naturbegriff geht noch um den Geist im Verhältnis zu einer Art ursprünglicher Natur, sondern um den Geist im Verhältnis zu seiner Unmittelbarkeit. Diese bezeichnet er auch als das „Andere“ des Geistes. Sie ist dem Geist also in einer bestimmten Weise tatsächlich entgegengesetzt.151 Inwiefern die Unmittelbarkeit dem Geist entgegengesetzt ist und welche Bedeutung sie für den Geist hat, gilt es an späterer Stelle zu beleuchten, wenn es um den Geist im Verhältnis zu seinem unmittelbar gegebenen Charakter gehen wird (in Kapitel I. 5.).

defekt haben und aufgrund dessen weiß statt orange sind. Hierin kann eine Abweichung vom Begriff angesehen werden. 151 GW 25.1, 12.

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3.2 Die immanenten Bestimmungen der Seele Folgt man Hegels Ausführungen in der Anthropologie, ist die Seele nicht nur qualitativ bestimmt, sondern sie verfügt über weitere Bestimmungen, die ihre Individualität konstituieren. Diese Bestimmungen bezeichnet er als „immanente“ oder auch „ideelle“ Bestimmungen der Seele.152 Die ideellen Bestimmungen sind – dies traf größtenteils bereits auf die qualitativen Bestimmungen zu – bei keinem Individuum dieselben. Durch sie unterscheidet sich das Individuum von allen anderen. Dass die ideellen Bestimmungen der Seele von den qualitativen Bestimmungen zu unterscheiden sind, macht Hegel im Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes deutlich, wo er über die ideellen Bestimmungen schreibt: Die Bestimmtheit ist „als ideell in der Seele gesetzt, nicht eine Qualität derselben“.153 Mit den ideellen Bestimmungen führt er einen ganz neuen Aspekt ein hinsichtlich dessen, was das Individuum in seiner Individualität auszeichnet. Welche Bestimmungen fallen Hegel zufolge unter die immanenten bzw. ideellen Bestimmungen der Seele? Und was meint er eigentlich damit, dass sie ideell bzw. der Seele immanent sind? 3.2.1 Die Erfahrungen Einen ersten Hinweis, welche Bestimmungen unter die immanenten bzw. ideellen Bestimmungen der Seele fallen, gibt Hegel im Paragraphen 403 der Anthropologie. Dort schreibt er, dass jedes Individuum „ein unendlicher Reichtum von Empfindungsbestimmungen, Vorstellungen, Kenntnissen, Gedanken usf.“ sei.154 Er scheint mit den immanenten Bestimmungen folglich weitestgehend die Empfindungen, Vorstellungen, Kenntnisse und Gedanken des Individuums zu meinen. Nun gibt es gute Gründe anzunehmen, dass er unter den immanenten Bestimmungen letztlich alle Erfahrungen fasst, die das Individuum im Laufe seines Lebens macht. Denn jede Erfahrung ruft in ihm bestimmte Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken hervor. Darunter, dass jedes Individuum „ein unendlicher Reichtum von […] Kenntnissen“ sei, versteht Hegel womöglich so etwas wie das Erfahrungswissen eines Individuums, also das Wissen, welches es aus den Erfahrungen schöpft, die es in seinem Leben macht.155 Dass er mit den immanenten Bestimmungen letztlich die Erfahrungen meint, legt unter anderem eine Aussage in der Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist von 1825 nahe. Dort heißt es: „Was der konkrete Mensch ist, wahrgenommen hat, die Welt seiner Erfahrungen, dieß alles bewahrt sich in ihm auf; 152

Enz3 § 406. GW 15, 234. 154 Enz3 § 403. 155 Hegel scheint davon auszugehen, dass Erfahrungen ein gewisses (Erfahrungs-)Wissen vermitteln. (Vgl. Emundts, Dina: Erfahrungen und Erkennen: Hegels Theorie der Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 2012, S. 29). 153

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zu was er sich gebildet hat, ist er als einfaches Subjekt.“156 Auch in der Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist von 1822 werden die immanenten Bestimmungen mit den Erfahrungen eines Individuums in Verbindung gebracht. Es ist zu lesen: „Diese meine Bestimmung ist nicht nur das Allgemeine sondern in mir particularisirt, ich habe diese Eltern, diese Freunde, diese Frau, und ebenso im weitern Zusammenhang der Welt bin ich individuell bestimmt. Alles das macht meine Wirklichkeit aus. […] Alle diese Verhältnisse, alles was ich erlebt habe gehört zu meiner wirklichen Welt; ich bin eine erfüllte Welt.“157 Dieses zuletzt aufgeführte Zitat gibt einen weiteren Hinweis, was Hegel – neben den Empfindungen, Vorstellungen, Kenntnissen und Gedanken – zu den immanenten Bestimmungen gezählt haben möchte: das Umfeld und überhaupt alle Verhältnisse, in denen das Individuum steht. Auch sie sind seine eigenen Bestimmungen und fallen unter einen weit gefassten Erfahrungsbegriff in dem Sinne, dass auch sie von ihm erfahren werden. Indem die Erfahrungen inklusive des Umfeldes und überhaupt aller Verhältnisse, in denen das Individuum steht, seine eigenen Bestimmungen sind, verschwimmt zudem die Grenze zwischen ihm und seiner Umwelt, zwischen Innen und Außen. Die Erfahrung, von der Hegel in diesem Kontext spricht, ist mit einem gewissen Erlebnisgehalt verbunden und hat nur wenig mit seinem philosophischem Erfahrungsbegriff zu tun, wie er ihn in der Phänomenologie, dem zweiten Teil der „Philosophie des subjektiven Geistes“, gebraucht. Seinen philosophischen Erfahrungsbegriff verwendet er in einem erkenntnistheoretischen Zusammenhang.158 Er fragt in der Phänomenologie danach, was passiert, wenn wir uns auf einen Gegenstand in der Wahrnehmung richten. Indem wir Erfahrungen über ihn machen, weisen wir das Allgemeine des Gegenstandes auf, wie etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – bestimmte den Gegenstand betreffende Ursache-Wirkungsverhältnisse. Anders als sein philosophischer Erfahrungsbegriff, der ein bestimmtes Moment im allgemeinen Erkenntnisprozess des Subjekts bezeichnet, ist der Erfahrungsbegriff, der uns hier beschäftigt, einer, den wir auch im Alltag verwenden. Ein Aspekt, den Hegel in der Anthropologie mit Nachdruck hervorhebt, ist, dass das Erleben höchst subjektiv ist.159 So kann ein und dasselbe Ereignis von dem einen ganz anders empfunden werden als von einem anderen. In der Vorlesung zum subjektiven Geist von 1825 soll er gesagt haben: „Es liegt darin der Trieb des Menschen, man kann viel gehört, gelesen haben, aber man will es selbst sehen, dabei sein, in der Welt leben, es soll in diese seine Individualität gesetzt sein.“160 Hegel scheint hier sagen zu wollen, dass das Erleben des Individuums gerade darin besteht,

156

GW 25.1, 306 f. Ebd., 70 f. 158 Zu Hegels philosophischem Erfahrungsbegriff siehe die ausführliche Analyse von Dina Emundts (Emundts 2012). 159 Vgl. Enz3 § 403. 160 GW 25.1, 282. 157

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etwas sinnlich, das heißt am eigenen Leib zu erfahren. Der leibliche Zugang zu etwas ist viel unmittelbarer, direkter als der rein intellektuelle. Indem das Individuum Erfahrungen in der Welt und im Umgang mit anderen Menschen macht, ist es nur aus diesem Kontext heraus zu begreifen. Seine Erfahrungen zeichnen ihn wesentlich aus. So schreibt Hegel: „Zum konkreten Sein eines Individuums gehört die Gesamtheit seiner Grundinteressen, der wesentlichen und partikulären, empirischen Verhältnisse, in denen es zu andern Menschen und mit der Welt überhaupt steht. Diese Totalität macht seine Wirklichkeit so aus, daß sie ihm immanent […] ist.“161 Das Individuum steht niemals für sich allein da. Immer ist es eingebunden in einen größeren Kreis, in ein Geflecht aus Beziehungen, Umständen und Begebenheiten, die es ausmachen. Hegel denkt das Individuum immer im Kontext der Sozialität.162 Auch wenn er sich dazu nicht äußert, ist nur plausibel zu sagen, dass größtenteils kontingent ist, welche Lebenserfahrungen das Individuum macht. So liegt es nicht in seiner Hand, was ihm im Einzelnen widerfährt: welchen Menschen es im Leben begegnet, welche Schicksalsschläge ihn ereilen oder welche Chancen sich ihm bieten, auch wenn es durchausbei bei ihm liegen mag, wie es sich diesen gegenüber verhält. Es kann festgehalten werden, dass die Erfahrungen, die das Individuum im Laufe seines Lebens macht, maßgeblich dazu beitragen, wer es ist. Die Erfahrung ist somit von größter Relevanz für Hegels Konzeption von Individualität. Wer wir sind, ist zu einem beträchtlichen Teil durch das Leben geformt. Kommen wir anschließend zu der Frage, warum Hegel die Erfahrungen, die das Individuum im Laufe seines Lebens macht, als immanente oder auch ideelle Bestimmungen der Seele bezeichnet. 3.2.2 Die Idealität der Seele Als der Seele immanent bezeichnet Hegel die genannten Bestimmungen – die Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken, Kenntnisse und Verhältnisse, in denen es steht, kurz: die Erfahrungen – weil sie im „Inneren“ der Seele ideell „aufbewahrt“ werden.163 Wie genau er sich vorstellt, dass die Bestimmungen in ihrem Inneren ideell aufbewahrt werden, ist erläuterungsbedürftig. Ausgangspunkt von Hegels diesbezüglichen Überlegungen bildet der Gedanke, dass die Tätigkeit der Seele im Idealisieren besteht.164 Sie idealisiert die Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken usf., kurz: die Erfahrungen, indem sie sie ihrer 161

Enz3 § 406. Vgl. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1994, S. 16. 163 GW 15, 233. 164 Vgl. Enz3 § 403. 162

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Zeitlichkeit entbindet und in ihrem Inneren aufbewahrt. Was soll das heißen? Hegel geht davon aus, dass die Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken usf., kurz: die Erfahrungen der Zeitlichkeit unterliegen in der Weise, dass das Individuum eine Empfindung nach der anderen hat. Ich sitze in diesem Moment auf einer Wiese und spüre das weiche und leicht feuchte Gras unter meinen Händen. Als nächstes beginnt es zu regnen und ich nehme die Regentropfen auf meiner Haut wahr. Eine Empfindung löst in der Zeit die andere ab. Das Idealisieren oder auch Ideell-Setzen der Seele besteht Hegel zufolge darin, dass sie die Empfindungen, die vorübergegangen sind, das heißt die sie aktuell nicht mehr empfindet, in sich aufbewahrt. Ähnliche Beispiele ließen sich für Vorstellungen, Gedanken, Ereignisse und Ähnliches finden. Das Idealisieren beschreibt Hegel des Näheren als ein „Negativsetzen“ bzw. eine „Negation des Reellen“.165 Negiert werden die Zeitlichkeit und Sinnlichkeit der Empfindungen. Sie bestehen in der Seele fortan auf ideelle Weise bzw. sind sie – wie er sich auch ausgedrückt – in ihr „virtualiter erhalten“, ihr „zueigen gemacht“.166 Der entsprechende Passus im Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes lautet: „Die Empfindungen […] sind bestimmte, und zunächst als der formellen Individualität, dem Empfindenden überhaupt angehörig schließen sie sich gegenseitig aus, verdrängen einander und sind so in der Zeit spurlos verschwindende äussere Begebenheiten an dem Subject. Die Seele aber ist nicht seyende, unmittelbare, sondern allgemeine Substanz, somit ist sie in sich das Bestehen des Mannichfaltigen, und nicht ein bloßes Durchlauffen von seyenden Empfindungen, sondern das Aufbewahren von ideell gesetzten. Denn die blosse, abstracte Negation des Seyenden wird in der Seele zu einem Aufgehobenen als aufbewahrten; – ein Übergang, der im Begriffe und zeitlos ist, und bey welchem es ideell ist, als eines Vergangenen und Gewesenen nicht das Wesentliche, sondern vielmehr das erst in der weitern Form des äusserlichen Sinnlichen Hinzukommende ist. Die Seele ist als diese insichseyende Allgemeinheit des Bestimmten der unendliche Raum, in welchem der Inhalt unmittelbar als aufbewahrter ist.“167

Dass die Empfindungen in der Seele ideell enthalten sind, bedeutet nach Hegel, dass sie „bewußtlos“ in ihr aufbewahrt sind.168 Sie sind nicht im Bewusstsein des Individuums, „sie gehören nicht seiner Wirklichkeit, nicht seiner Subjektivität als solcher, sondern nur seinem an sich seienden Sein an.“169 Zu Hegels adjektivischem Ausdruck „bewußtlos“ ist anzumerken, dass er darunter etwas völlig anderes versteht als wir. Während wir in unserem Alltagsgebrauch das Bewusstlose bzw. die Bewusstlosigkeit (als Adjektiv „bewusstlos“) in der Regel mit Ohnmacht oder Koma gleichsetzen, ein Zustand, in dem ein Mensch sein Bewusstsein verliert, versteht er darunter so etwas wie das Unbewusste, das er auch als

165

GW 25.1, 12; Enz3 § 403. Enz3 §§ 401, 403. 167 GW 15, 241 f. 168 Enz3 § 453. 169 Ebd. § 403.

166

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„die Allgemeinheit des Ich“ bezeichnet.170 Hegels Theorie des Unbewussten ist ganz basal und noch nicht mit Freuds weiterentwickeltem Konzept des Unbewussten zu vergleichen, auf dem aufbauend Letzterer die Psychoanalyse begründete. Die Unterscheidung zwischen dem bewussten und unbewussten Leben des Individuums war seit der frühen Neuzeit durchaus üblich, auch wenn es noch keine etablierte, einheitliche Terminologie für den Bereich des Unbewussten gab, wovon auch Hegels Ausdruck des Bewusstlosen zeugt. Durch seine Unterscheidung zwischen dem Bewussten und Bewusstlosen kann Hegel erklären, wie es möglich ist, dass dem Individuum nicht alles, was es jemals erlebt hat, gleich präsent ist. Schauen wir uns das Bewusstlose bei ihm näher an, stellen wir fest, dass es sich um einen hypothetischen Bereich im „Inneren“ des Individuums handelt, in dem alle seine Erfahrungen aufbewahrt werden, „ohne daß sie im Bewußtsein wären“.171 Mit der Formulierung, dass sie nicht im Bewusstsein des Individuums sind, meint er, dass es sich ihrer nicht bewusst ist, sich aktuell nicht auf sie bezieht.172 Das Bewusstlose enthält alles, was das Individuum je empfunden, wahrgenommen, sich vorgestellt und gedacht hat, alle seine Kenntnisse, Erfahrungen und überhaupt alle Verhältnisse, in denen es zur Welt und zu anderen steht. Es mag sie vergessen haben oder momentan nicht an sie denken; sie liegen in seinem Inneren, wo sie alle gesammelt werden. Das Bewusstlose als diesen hypothetischen Bereich im Inneren des Individuums bezeichnet Hegel metaphorisch auch als einen „tiefen Schacht“, um auszudrücken, dass das Bewusstlose unbegrenzt viele Inhalte in sich 170 Vgl. Fröhlich, Werner D.: Wörterbuch Psychologie. München 2015, S. 104; Enz3 § 452. Dieter Sturma und Aldo Masullo lesen die Anthropologie als „eine Theorie des Unbewussten“. (Sturma, Dieter: „Logik der Subjektivität und Natur der Vernunft. Die Seelenkonzeptionen der klassischen deutschen Philosophie.“ In: Jüttemann, Gerd u. a. (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Göttingen 2005, S. 236 – 257; vgl. Masullo, Aldo: „Das Unbewußte in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes.“ In: Henrich, Dieter (Hg.): Hegel-Studien, Beiheft 19: Hegels philosophische Psychologie. Bonn 1973, S. 27 – 64) Zwar ist Sturma darin Recht zu geben, dass Hegel in der Anthropologie eine Theorie des Unbewussten entwickelt, die Anthropologie aber auf eine Theorie des Unbewussten zu reduzieren, halte ich für eine zu starke These. Anderer Auffassung als Dieter Sturma ist Birgit Sandkaulen. Sie erwidert: „Im Widerspruch zu verbreiteten Interpretationen, die in Hegels Anthropologie eine Exploration des Unbewußten vermuten […] scheint es mir bedeutend angemessener zu sagen, daß es Hegel vor dem erörterten Hintergrund um die lebensweltlich verankerte Genese menschlicher Subjektivität geht. Angefangen von natürlichen Dispositionen der Umwelt, des Alters und Geschlechts, über die Modalitäten der Empfindung bis hin zum Selbstgefühl handelt es sich um diejenigen basalen Formen und Tätigkeiten, in denen Selbstbezüglichkeit in der individuellen Aneignung leiblich-mundaner Beziehungen gewonnen und aus dem Modus des Gefühls schließlich in den Modus sprachlich artikulierten Ich-Bewusstseins übersetzt wird.“ (Sandkaulen, Birgit: „Kant und Hegel über die Seele.“ In: Hegel-Jahrbuch (2016), S. 15 – 23, hier S. 22) Ich halte ihre Auffassung, nach der es in der Anthropologie um die „lebensweltlich verankerte Genese von Subjektivität“ gehe, für genauso einseitig wie diejenige von Dieter Sturma. Meinem Verständnis nach zeichnet Hegel in der Anthropologie die Genese von Subjektivität nach, in die er eine Theorie des Unbewussten integriert. Die Anthropologie besticht gerade durch ihre Komplexität und die Vielfalt ihrer Themen. 171 Enz3 § 453. 172 Ebd.

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aufnehmen kann.173 Die Inhalte, die im Unbewussten aufbewahrt sind, sind umfangreicher als dasjenige, was dem Individuum bewusst ist. Erst wenn es sich etwa an eine Empfindung erinnert, bringt es sie aus dem Inneren „vor das Bewußtsein“.174 Hegel unterscheidet zwischen Inhalten, an die sich das Individuum jederzeit, und solchen, an die es sich nicht jederzeit erinnern kann. Handelt es sich um Inhalte, an die es sich jederzeit erinnern kann, braucht es bloß seine Aufmerksamkeit auf sie zu richten und es hat sie wieder vor Bewusstsein stehen.175 Handelt es sich um Inhalte, an die es sich nicht jederzeit erinnern kann, dann sind es häufig Zufälle, durch die solche Inhalte wieder in Erinnerung gerufen werden. So wird etwa durch eine bestimmte Situation, einen Gegenstand oder Ähnliches eine Erinnerung wachgerufen, die man jahrelang vergessen hatte, wobei wir uns – das sei für das Verständnis des folgenden Zitats angemerkt – Hegel zufolge in Bildern erinnern. Ein Bild zeichnet aus, aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen zu sein.176 Er führt mündlich aus: „Wir haben so Bilder in uns und können sie nicht reproduziren, sie können in uns schlafen Jahre lang, ich bin dieser Schacht aus dem ich sie oft nicht wieder hervorbringen kann, ich habe die Bilder aber ich kann sie nicht hervorrufen. Es weiß keiner was für Bilder der Vergangenheit in ihm schlafen, zufälligerweise aber treten sie dann oft hervor, man kann sich nicht darauf besinnen sagt man.“177

Auch wenn sich das Individuum an bestimmte Inhalte nicht erinnern kann, gehen sie nicht verloren, sondern schlummern in dessen Innerem. Deswegen kann der Mensch nach Hegel auch „nie wissen, wie viele Kenntnisse er in der Tat in sich hat, ob er sie gleich vergessen habe“.178 Was die „Größe“ dieses hypothetischen Bereichs im Inneren des Individuums anbetrifft, in dem alle Erfahrungen, die es jemals macht, aufbewahrt werden, ist in der Vorlesung über den subjektiven Geist von 1825 zu erfahren: „Ich bin […] das Unendliche, vollkommen Grenzenlose, da ist nichts Anderes, kein Ende, keine Grenze, ich bin der unendliche Raum, ich höre darin nicht auf, bin absolute Kontinuität, ohne Unterbrechung.“179 Es ist augenscheinlich, dass Hegels Theorie des Unbewussten weniger ausdifferenziert ist als diejenige Freuds. Zwei miteinander zusammenhängende Annahmen seien hier exemplarisch aufgeführt, die in Freuds, nicht aber in Hegels Theorie des Unbewussten entwickelt sind und die für die Frage nach der Konstituierung von 173

Ebd.; GW 25.1, 306 f. Enz3 § 403. 175 Vgl. ebd. § 448. 176 Vgl. ebd. § 452. 177 GW 25.1, 505 f. 178 Enz3 § 403. 179 GW 25.1, 169. Schon der Vorsokratiker Heraklit attestierte der Seele eine unendliche Tiefe: „Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, und ob du jegliche Straße abschrittest, so tiefen Grund hat sie.“ (Diels, Hermann – Kranz, Walther (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 1903, S. 45). 174

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Individualität aus heutiger Sicht eine wichtige Rolle spielen. Zum einen nimmt Freud eine Abstufung hinsichtlich der unbewusst aufbewahrten Inhalte vor. Manche Erlebnisse machen auf das Individuum einen größeren Eindruck als andere; manche sind sogar traumatisch und werden verdrängt.180 Hegel hingegen führt an keiner Stelle aus, dass manche Erlebnisse für das Individuum eindrucksvoller sind als andere und dadurch eine größere Bedeutung dafür haben, wer es ist und wie es sich entwickelt. Auch wenn einzuräumen ist, dass ihm zufolge die Empfindungen unterschiedlicher Qualität und Intensität sind. Zum anderen hat Freud bezüglich der Entwicklung des individuellen menschlichen Charakters zu zeigen versucht, dass Erfahrungen im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit grundlegende Bedeutung für die Persönlichkeit des Erwachsenen haben.181 Da Hegel sowieso schon keine dezidierte Abstufung hinsichtlich der Bedeutung der unbewusst aufbewahrten Inhalte für das Individuum vornimmt, liegt ihm erst Recht der Gedanke fern, dass Erfahrungen in einer bestimmten Entwicklungsphase des Menschen eine größere Bedeutung für dessen Persönlichkeitsentwicklung haben als in einer anderen Phase seines Lebens. Wir haben bis hierher erfahren, dass die Individualität des Individuums Hegel zufolge neben den qualitativen Bestimmungen vor allem auf inneren bzw. immanenten Bestimmungen der Seele beruhen. Wir können daraus schließen, dass er nicht wie etwa John Locke, David Hume oder Arthur Schopenhauer der Auffassung ist, dass Raum- und Zeitkoordinaten ausreichende Konstituenten von Individualität sind.182 Ihnen zufolge unterscheidet sich ein Individuum bereits dadurch von allen anderen, dass es sich im Raum an einer bestimmten Stelle zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet. Denn an derselben Stelle kann sich zu derselben Zeit – so ihre Überlegung – nicht noch ein anderes Individuum befinden.183 Hegel würde zwar der Aussage zustimmen, dass in Raum und Zeit nichts zur selben Zeit denselben Raum einnehmen kann, aber die Raum- und Zeitvariablen reichen für ihn höchstens für eine

180

Vgl. Mayer, Andreas: Sigmund Freud zur Einführung. Hamburg 2016, S. 36 f. Zur Entwicklungsgeschichte des Unbewussten siehe Lütkehaus, Ludger: Tiefenphilosophie: Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Hamburg 1995, S. 13; Ellenberger, Henri F.: Die Entdeckung des Unbewußten: Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Zürich 2005; Schöpf, Alfred: Philosophische Grundlagen der Psychoanalyse: Eine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Analyse. Stuttgart 2014, S. 44 f. Für einen Vergleich zwischen Hegel und Freud siehe die französischsprachige Studie von Pagès, Claire: Hegel & Freud: les intermittences du sens. Paris 2015. 182 Vgl. Stevenson, Leslie – Haberman, David L.: Zehn Theorien zur Natur des Menschen: Konfuzianismus, Hinduismus, Bibel, Platon, Aristoteles, Kant, Marx, Freud, Sartre, Evolutionstheorien. Stuttgart u. a. 2008, S. 190; Locke, John: An essay concerning human understanding. New York 2008, II, 27, n. 3; Schopenhauer, Arthur: Über die Grundlage der Moral. Hamburg 2007, § 22. 183 Vgl. T.B.: „Individuation.“ In: Rehfus, Wulff D. (Hg.): Handwörterbuch Philosophie. Göttingen 2003, S. 406. 181

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

numerische Unterschiedenheit von Individuen aus.184 Eine numerische Unterschiedenheit aber ist für Hegel keine „wirkliche“ Unterschiedenheit, weil sie bloß auf äußeren Faktoren beruht, nämlich der unterschiedlichen Raum-Zeit-Stelle, die jedes Individuum einnimmt. Er möchte stattdessen auf Einzigartigkeit hinaus. Sie beruht neben den qualitativen Bestimmungen auf „inneren“ Bestimmungen, die bei keinem Individuum dieselben sind. 3.2.3 Hegels Anknüpfung an Leibniz’ Individualitätskonzeption In dem Gedanken, dass die Individualität des Individuums auf inneren Bestimmungen beruht, steht Hegel in der philosophischen Tradition von Gottfried Wilhelm Leibniz. Er hat wie kein Denker zuvor die unverwechselbare Einzigartigkeit des Individuums betont und mit seiner Monadenlehre auf ganz neue Weise zu erklären versucht.185 Die Monade (griechisch „monas“ für „Einheit“ oder „Eines“) ist die kleinste unteilbare Einheit und Leibniz’ Bezeichnung für das Individuum. Auch Hegel sieht in Leibniz vorrangig einen Denker der Individualität. Davon zeugt etwa die Äußerung in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, dass das „Wichtige bei Leibniz“ „in den Grundsätzen, in dem Prinzip der Individualität und dem Satze der Ununterscheidbarkeit“ liege.186 Auch wenn es so klingen mag, als meine er mit dem „Prinzip der Individualität und dem Satze der Ununterscheidbarkeit“ zwei Prinzipien, handelt es sich um ein und dasselbe Prinzip, und zwar um das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren, wie Leibniz es nennt. Dieses Prinzip besagt, dass es in der Natur nicht zwei Dinge gibt, die einander völlig gleich sind, und dass dieser Grund in ihnen selbst liegt. Leibniz schreibt in der Monadologie über die Monade: „Jede Monade muß […] von jeder anderen verschieden sein. Denn es gibt niemals in der Natur zwei Seiende, die einander vollkommen gleich wären und bei denen es nicht möglich wäre, einen inneren oder auf einer inneren Bestimmung (denominatio intrinseca) beruhenden Unterschied zu finden.“187 Leibniz bestimmt Individualität – und das ist es, woran Hegel anknüpft – intrinsisch. Hegel führt über die Individualität von Leibniz’ Monaden aus: „Der nähere Sinn ist jedoch, daß jedes an ihm selbst ein Bestimmtes, sich von Anderem an ihm selbst Unterscheidendes sei. Ob zwei Dinge gleich oder ungleich sind, ist nur eine 184

Hegel formuliert selbst: „Was im Raum ist, ist neben einander; keines nimmt die Stelle des andern ein; ebenso in der Zeit ist alles nacheinander, beide sind das Außereinandersein; ihr begriff ist, daß beide schlechthin diskret, unterschieden, ganz auseinander sind.“ (GW 25.2, 818). 185 Vgl. Poser, Hans: Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung. Hamburg 2005, S. 66. 186 Werke 20, 255. 187 Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie.“ In: Ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. v. Hans Heinz Holz. Frankfurt a. M. 1966a, S. 439 – 483, § 9.

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Vergleichung, die wir machen, die in uns fällt. Das Nähere aber ist der bestimmte Unterschied an ihnen selbst. Der Unterschied muß Unterschied an ihm selbst sein, nicht für unsere Vergleichung, sondern das Subjekt muß an ihm selbst diese eigene Bestimmung haben; die Bestimmung muß dem Individuum immanent sein.“188

Von Leibniz übernimmt Hegel den Gedanken, dass Individualität auf inneren Bestimmungen beruht. Wie für Leibniz so ist auch für ihn das Individuum eine Einheit, die eine Vielheit verschiedener Bestimmungen enthält. In der Anthropologie legt er seinen Leibniz-Bezug offen, indem er die Seele als „Monade“ bezeichnet.189 Die Seele sei, so Hegel, „die gesetzte Totalität ihrer besondern Welt“, wobei er mit der „besondern Welt“ die unzählig vielen Bestimmungen meint, die der Seele immanent sind.190 Er teilt mit Leibniz die Annahme, dass die Grundlage von Individualität in der zur Einheit gebrachten Verschiedenheit innerer Momente besteht. Es wurde vorhin dargelegt, dass das Individuum Hegel zufolge nicht alle seine immanenten Bestimmungen gleich vor Bewusstsein stehen hat, sondern in seinem Bewusstlosen aufbewahrt. Auch diesen Gedanken finden wir bereits bei Leibniz; hierin besteht also eine weitere Bezugnahme Hegels auf Leibniz. Letzterer unterscheidet neben anderen Erkenntnisgraden, die für unseren Zusammenhang aber nicht von Bedeutung sind, zwischen verworrenen und deutlichen Perzeptionen, womit er die inneren Zustände der Monade meint. Die Monade, die die Einheit unendlich vieler Perzeptionen ist, hat von den meisten Perzeptionen nur eine verworrene Erkenntnis, das heißt sie sind ihr nicht bewusst. So gibt es Leibniz zufolge in jeder Monade in jedem Augenblick „eine unendliche Menge von Perzeptionen ohne bewußte Wahrnehmung und Reflexion“.191 Die Perzeptionen, welche die Monade hingegen bewusst wahrnimmt, nennt er „deutliche“ Perzeptionen.192 Er hebt hervor, dass die Monade nur von einigen Perzeptionen eine deutliche Erkenntnis hat, und zwar wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf sie richtet. Dann ist für sie ein Zustand aus anderen Zuständen herausgehoben. Die berühmte Stelle bei ihm lautet: „Eine Seele kann aber in sich nur das lesen, was auf deutliche Weise in ihr dargestellt ist, sie kann nicht alle ihre Falten mit einem Schlage auseinanderwickeln, denn sie gehen bis ins Unendliche.“193 Zwar gebraucht Hegel eine andere Terminologie als Leibniz. Er spricht nicht von verworrenen oder deutlichen Perzeptionen, sondern von „be188

Werke 20, 241. Etwa in Enz3 § 406. 190 Enz3 § 403; vgl. GW 15, 233. 191 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand I. Frankfurt a. M. 2000b, S. XXI. 192 Leibniz kritisiert Descartes und seine Anhänger dafür, dass sie nicht zwischen den unbewussten und bewussten Perzeptionen unterscheiden: „Und weil sie diese Unterscheidung nicht machten, taucht bei den Cartesianern ein Mangel auf, indem sie die Perzeptionen, deren man nicht bewußt wird, für nichts halten, so wie das einfache Volk die nicht wahrnehmbaren Körper für nichts zählt.“ (Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Principes de la nature et de la grace, fondés en raison.“ In: Ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. v. Hans Heinz Holz. Frankfurt a. M. 1966b, S. 414 – 437, § 4). 193 Monadologie, § 61. 189

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wusstlosen“ Bestimmungen und solchen, die das Individuum „vor Bewußtsein“ stehen hat, doch dem Inhalt nach handelt es sich hierbei um dieselbe Unterscheidung, nämlich zwischen „nicht bewusst“ und „bewusst“, wobei die nicht bewussten Bestimmungen des Individuums die bewussten zahlenmäßig übertreffen. Hegel weicht allerdings in einem entscheidenden Punkt von Leibniz’ Auffassung des Individuums als die Einheit einer Vielheit ab, und zwar darin, dass bei Leibniz die Monade in sich geschlossen ist. Nichts dringt in sie ein noch aus ihr heraus. Leibniz verwendet für diesen Sachverhalt die Metapher von der Fensterlosigkeit der Monade, mit der er zum Ausdruck bringt, dass zwischen Individuum und Welt keine SubjektObjekt-Relation im eigentlichen Sinne besteht. Der Grund dafür liegt in seiner metaphysischen Gesamtkonzeption der Monade. Ihm zufolge hat Gott dem Individuum bei dessen Erschaffung einen vollständigen Individualbegriff gegeben, durch den es sich von allen anderen Monaden unterscheidet. Dieser Individualbegriff enthält virtuell unendlich viele, genau definierte Prädikate, den die Monade von ganz allein – aufgrund eines inneren Strebens, dem Appetitus – durchläuft. Vollständig ist er insofern, als nachträglich keine weiteren Prädikate hinzukommen können. Der Individualbegriff beinhaltet alles, was der Monade jemals widerfährt sowie alle Beziehungen und Konstellationen, in denen sie zu anderen Monaden steht. Er enthält ihren ganzen Lebenslauf.194 Das heißt, dass die Monade weder etwas von außen erleiden noch dass sie anderen etwas zufügen kann. Alle scheinbar äußerlichen Geschehnisse und Beziehungen sind intrinsische Zustände der Monade. Auch wenn sie fensterlos ist, ist sie trotzdem nicht solipsistisch. Denn Leibniz zufolge hat Gott die Individualbegriffe aller Monaden und das heißt auch alle ihre Lebensläufe bei deren Erschaffung aufeinander abgestimmt. Das Phänomen, dass jede Monade mit jeder anderen zusammenstimmt, bezeichnet Leibniz als prästabilierte Harmonie. Hegel, der Leibniz’ metaphysische Gesamtkonzeption grundsätzlich ablehnt, liegt hingegen die Annahme zugrunde, dass zwischen Individuum und Welt eine Subjekt-Objekt-Relation besteht. Das Individuum ist in die Welt eingebunden, es macht in ihr Erfahrungen und steht im Austausch mit anderen. Seine immanenten Bestimmungen sind somit maßgeblich von außen induziert. Zwar steht auch Leibniz’ Monade in gewisser Weise in Beziehung zu anderen Monaden, doch diese Beziehungen repräsentiert sie lediglich. Sie sind Momente ihres eigenen Begriffes. In der Wesenslogik gibt es einen längeren Passus, in dem sich Hegel mit Leibniz’ Individuationsprinzip auseinandersetzt. Als dieses identifiziert er den Individualbegriff, den jedes Individuum bei dessen Erschaffung von Gott erhält. Hegel kritisiert an diesem Prinzip, dass es auf Gott zurückzuführen ist. Individuell ist jeder aufgrund der Mitwirkung Gottes, worin er letztlich eine Verlegenheitslösung sieht. Er resümiert: „So erhält das Prinzip der Individuation seine tiefere Ausführung nicht; die Begriffe über die Unterscheidungen der verschiedenen endlichen Monaden und über ihr Verhältnis zu ihrem Absoluten entspringen nicht aus diesem Wesen selbst oder nicht auf absolute Weise, sondern gehören der räsonierenden, dogmatischen Re194

Vgl. Poser 2005.

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flexion an und sind daher zu keiner inneren Kohärenz gediehen.“195 Hegel fordert, die Individualität des Individuums – anders als bei Leibniz – allein aus dessen Wesen und Verhältnis zur Welt heraus zu erklären. Diese Forderung löst er mit seiner eignen Individualitätskonzeption ein. Indem für Hegel zwischen Individuum und Welt eine Subjekt-Objekt-Relation besteht, ist zudem erst bei ihm im eigentlichen Sinne – anders als bei Leibniz – die Sozialdimension von Individualität berücksichtigt. Das Individuum steht bei ihm in einem sozialen Gefüge mit bestimmten Verhaltensnormen, sozialen Praktiken und Institutionen. Nur aus diesen Zusammenhängen heraus ist es zu begreifen. Niklas Luhmann zufolge handelt es sich bei dieser Sozialdimension um eine erst im 18. Jahrhundert neu hinzugewonnene Dimension von Individualität: „Auch Leibniz bestimmt bereits Individualität durch Weltkorrespondenz, die Korrespondenz wird aber auf Repräsentativität in der Sachdimension bezogen (Metapher: Spiegel). Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts kommen […] Zeitdimensionen und vor allem Sozialdimensionen hinzu. […] jedenfalls füllt sich allmählich das, was als Welt Individualität konstituiert und als Individualität Welt, mit historischen und sozialpraktischen Bezügen, und erst diese Trias von Verweisungsdimensionen bringt die personale Individualität in ihrer welthaften Einzigartigkeit heraus.“196

Was den Unterschied zwischen Leibniz’ und Hegels Auffassung von Individualität anbetrifft, ist des Weiteren zu bemerken: Während der Individualbegriff der Monade von Anfang an feststeht, sind wir Hegel zufolge ständig im Werden. Wir machen im Leben immerfort Erfahrungen und stehen im Austausch mit der Welt und anderen. Dabei ist völlig offen und kontingent, was uns widerfahren wird, und somit auch, wer wir sind und in welche Richtung wir uns entwickeln werden.197 Wir haben es bei ihm mit einer Dynamisierung des Individuationsgeschehens zu tun.

3.3 Der Genius: das Selbst oder der Charakter des Individuums? Nachdem Hegel in der Anthropologie dargelegt hat, wodurch das Individuum einzigartig ist, nämlich aufgrund seiner qualitativen und immanenten Bestimmungen, führt er den Begriff des „Genius“ ein. Der Genius spielt eine wichtige Rolle hinsichtlich der Frage, wodurch die Individualität des Individuums konstituiert wird. Seine Ausführungen über den Genius sowohl in der Anthropologie der Enzyklopädie 195

GW 11, 379 – 380. Luhmann 1994, S. 169. 197 Dass Individualität bei Hegel mit Kontingenz verbunden ist, streicht auch Ingram heraus. Er schreibt: „Hegel’s analysis of contingency is relevant to the question of individuation because the content which constitutes a thing’s identity only unfolds in the course of its interaction with an environment, a process which Leibniz’s system of monads cannot comprehend.“ (Ingram 1985, S. 434). 196

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von 1830 als auch in seinen Vorlesungen zum subjektiven Geist sind schwer verständlich, weil er den Begriff des Genius dort – wie noch gezeigt werden soll – nicht einheitlich verwendet. Er verwendet ihn, ohne es kenntlich zu machen, in mindestens zwei voneinander abweichenden Bedeutungen.198 Dem von Hegel in der Anthropologie thematisierten Genius ist in der Forschung bisher wenig Beachtung geschenkt worden. Es gibt keine systematischen Untersuchungen zu ihm. Die wenigen Autoren, die sich mit dem Genius bei Hegel befassen, tun dies häufig nur im Vorbeigehen und in aller Kürze. Viele von ihnen reflektieren seine Verwendungsweise des Genius-Begriffs zudem nicht, sondern begnügen sich mit einer Paraphrasierung der von ihm an verschiedenen Stellen getätigten Aussagen.199 Das in der Forschung zu beobachtende geringe Interesse am Genius erweckt den Anschein, als sei er in Hegels Philosophie eher unbedeutend. Dabei ist der Genius ein Begriff von zentraler Bedeutung, um seine Konzeption von Individualität zu verstehen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, verwendet Hegel den Begriff des Genius zum einen in der Bedeutung des Selbst des Individuums und zum anderen in der Bedeutung des Charakters des Individuums, wobei sowohl zu fragen wäre, was er unter dem Selbst, als auch, was er unter dem Charakter des Individuums versteht. Zuerst soll auf den Genius in der Bedeutung des Selbst eingegangen werden und anschließend auf den Genius in der Bedeutung des Charakters. 3.3.1 Der Genius in der Bedeutung des Selbst Dass Hegel den Genius-Begriff in der Bedeutung des Selbst des Individuums gebraucht, ist unter anderem aus einer Formulierung im Paragraphen 405 der Anthropologie zu schließen. Dort heißt es, dass der Genius „die selbstische Totalität des Geistes“ sei, „insofern sie für sich existiere“. Weiterhin heißt es, dass der Genius die „selbstische Individualität“ sei.200 198

Dass Hegel den Begriff des Genius in mindestens zwei voneinander abweichenden Bedeutungen verwendet, hat meines Wissens bisher nur Hermann Drüe herausgestellt. (Vgl. Drüe, Hermann: „Die Philosophie des Geistes (§§ 377 – 577)“ In: Drüe, Hermann u. a. (Hg.): Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wsissenchaften“ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß. Frankfurt a. M. 2000, S. 206 – 288, hier S. 233.) Drüe allerdings erwähnt die zwei Bedeutungen des Genius nur im Vorbeigehen. Außerdem beruhen seine Ausführungen lediglich auf einer Paraphrasierung der Zusätze, die in der Suhrkamp-Ausgabe auf die Hegelschen Paragraphen folgen. 199 Siehe etwa Drüe 2000, S. 233; Stederoth 2001, S. 192 – 217; van der Meulen 1963, S. 260; Feloj, Serena: „Mental Illness in Hegel’s Anthropology. The Contradiction between Soul and Spirit.“ In: Hegel-Jahrbuch (2014), S. 122 – 128, hier S. 126 f.; Magee, Grenn Alexander: „The Dark Side ob Subjective Spirit. Hegel on Mesmerism, Madness, and Ganglia.“ In: Stern, David (Hg.): Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit. New York 2013, S. 55 – 69, hier S. 56; Siep 1990, S. 210; Fetscher 1970, S. 71 – 73. 200 Enz3 § 405.

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Wenn Hegel vom Genius in der Bedeutung des Selbst spricht, hat er in der Regel die Konstellation vor Augen stehen, nach der ein Individuum der Genius bzw. das Selbst eines anderen Individuums ist, das noch nicht über ein Selbst verfügt. Das Individuum, das der Genius bzw. das Selbst eines anderen Individuums ist, bestimmt dieses. Hegel schreibt in der Anthropologie über das Verhältnis zweier Individuen zueinander, von denen eines der Genius des anderen ist: „Die fühlende Individualität zunächst ist […] als unmittelbar noch nicht als Es selbst, nicht in sich reflektiertes Subjekt und darum passiv. Somit ist dessen selbstische Individualität ein von ihm verschiedenes Subjekt, das auch als anderes Individuum sein kann, von dessen Selbstischkeit es als eine Substanz, welche nur unselbständiges Prädikat ist, durchzittert und auf eine durchgängig widerstandslose Weise bestimmt wird; dies Subjekt kann so dessen Genius genannt werden.“201

Wir erfahren in diesem Zitat, dass das Individuum, das von einem anderen Individuum bestimmt wird, ganz aus seinen Empfindungen besteht. Es ist noch nicht in sich reflektiert, das heißt, es verfügt noch nicht über ein Ich-Bewusstsein. Es weiß noch nicht von sich selbst; es grenzt sich selbst noch nicht von anderen ab. Das IchBewusstsein thematisiert Hegel in der Phänomenologie, dem zweiten Teil der „Philosophie des subjektiven Geistes“, unter dem Ausdruck des „Selbstbewusstseins“, auf das an späterer Stelle noch ausführlich zu sprechen zu kommen sein wird. Bei dem Individuum, das noch ganz aus seinen Empfindungen besteht und von einem anderen Individuum „auf eine durchgängig widerstandslose Weise bestimmt wird“, denkt Hegel an einen Fötus im Bauch der Mutter. Er weiß noch nicht, dass er ein Individuum mit eigenen Empfindungen ist, sondern bildet eine Gefühlseinheit mit seiner Mutter. So legt Hegel in seinen Vorlesungen über die subjektive Geistphilosophie an zahlreichen Beispielen dar, dass ein heftiger Gefühlszustand der Mutter wie etwa ein Schreck unmittelbar auch derjenige des ungeborenen Kindes sei.202 Hegel resümiert: „Das Kind aber im Mutterleibe ist noch nicht eine selbstständige Person, ist noch nicht es selbst. […] Es lebt an sich geistig, aber seine Seele lebt noch in der Mutter, kann noch nicht für sich sein.“203 Anders als der Fötus, der eine Empfindungseinheit mit seiner Mutter bildet, verfügt die Mutter über ein entwickeltes Ich-Bewusstsein. Sie weiß von sich als eine selbständige Person, die eigene Empfindungen, Ansichten und Gedanken hat. Das Kind entwickelt erst allmählich im Heranwachsen ein eigenes Ich-Bewusstsein. Es begreift, dass es mit seiner Mutter nicht identisch, sondern ein eigenständiger Mensch mit ganz eigenen Empfindungen und Vorstellungen ist. Hegels Ausführungen über die Verbindung von Mutter und Fötus insbesondere in den Vorlesungsnachschriften zeugen davon, dass er ein Befürworter der sogenannten „Versehenstheorie“ war, die noch bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts als eine 201

Ebd. Vgl. GW 25.1, 66 u. 311. 203 GW 25.1, 65; vgl. auch Enz3 § 405. 202

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unumstrittene naturwissenschaftliche Tatsache gegolten hatte.204 Die Theorie besagte, dass die werdende Mutter in dem Moment, in dem sie eine plötzliche und heftige Gemütsbewegung hatte, aus Versehen auf den Fötus einwirkte. Weil die Gemütsbewegung plötzlich und heftig sein musste, um aus Versehen wirken zu können, stand sie häufig im Zusammenhang mit einem frappierenden Vorfall. Diese Einwirkung machte sich am Körper des Fötus in Form von Muttermalen bemerkbar.205 Die Gemütsbewegungen bewirkten am Körper des Fötus Gestaltveränderungen, weil er anders als der Körper der Mutter noch besonders verletzlich und bildsam war. Dabei gab es Muttermale im engeren und weiteren Sinn. Im engeren Sinn waren mit den Muttermalen Leberflecke gemeint. Sie wiesen eine ähnliche Gestalt wie der Gegenstand auf, der die Mutter in einen heftigen Gefühlszustand versetzt hatte. Hatte die werdende Mutter beispielsweise hat großes Verlangen nach Kirschen, kam das Kind – so die Theorie – mit einem kirschförmigen Leberfleck zur Welt. Im weiteren Sinn wurden auch Fehlbildungen oder Anomalien des Neugeborenen als Muttermale bezeichnet, sofern sie auf den Einfluss der Mutter zurückgeführt werden konnten. Ein Beispiel hierfür ist: Die Schwangere sieht, wie sich jemand anderes den Arm bricht, und erschrickt dabei so sehr, dass das Kind mit einem Armbruch zur Welt kommt. Hegels zahlreichen Beispiele in den Vorlesungsnachschriften zeugen nicht nur von seiner breiten Kenntnis der damaligen Diskussion, sondern auch davon, dass er an die darin geschilderten Zusammenhänge glaubte. Seine Ausführungen über den Genius in der Bedeutung des Selbst sind als Versuch zu werten, für die vermeintlichen Zusammenhänge zwischen einer heftigen Gemütsbewegung der Mutter und einer körperlichen Auffälligkeit am Fötus eine vernünftige Erklärung zu finden. Wenn Hegel vom Genius in der Bedeutung des Selbst spricht, dann hat er aber nicht nur die Konstellation vor Augen stehen, nach der die Mutter der Genius bzw. das Selbst des Fötus ist, sondern auch die Konstellation zweier sich nahestehender Menschen, von denen einer der Genius des anderen ist. Die entsprechende Stelle bei ihm lautet: „Von diesem magischen Verhältnis kommen anderwärts im Kreise des bewußten, besonnenen Lebens sporadische Beispiele und Spuren, etwa zwischen Freunden, insb. nervenschwachen Freundinnen […], Eheleuten, Familienmitgliedern vor.“206 Anders als ein Fötus verfügen die Individuen der hier aufgezählten Personengruppen – Freunde, Eheleute und Familienmitglieder – alle über ein entwickeltes Ich-Bewusstsein (ausgenommen es handelt es sich um ein sehr junges Familienmitglied). Hegel scheint hier also teilweise etwas anderes zu meinen als im Falle von Fötus und Mutter. Er führt nicht weiter aus, was genau er sich darunter vorstellt, dass etwa zwischen Freunden einer der Genius des anderen ist und diesen bestimmt. Wahrscheinlich meint er aber, dass einer von beiden nicht in sich gefestigt 204

Vgl. dazu ausführlich Bennholdt-Thomson, Anke – Guzzoni, Alfredo: „Zur Theorie des Versehens im 18. Jahrhundert: Ansätze einer pränatalen Psychologie.“ In: Kornbichler, Thomas (Hg.): Klio und Psyche. Pfaffenweiler 1988, S. 112 – 125, hier S. 112. 205 Vgl. dazu ausführlich Bennholdt-Thomsen – Guzzoni 1988, S. 113. 206 Enz3 § 405.

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ist und sich schnell die Empfindungen, vielleicht aber auch Ansichten und Wünsche des anderen zu eigen macht. Diese Deutung wird durch eine Stelle im Zusatz zum Paragraphen 405, der hier ausnahmsweise hinzugezogen werden soll, gestützt. Dort wird das „magische“ Verhältnis zweier „Geister“ zueinander wie folgt umschrieben: „Zum Verständniß dieser Entwicklungsstufe der Seele wird es nicht u¨ berflu¨ ssig seyn, hier den Begriff der Magie näher zu erläutern. […] Unter den Erwachsenen u¨ bt ein u¨ berlegener Geist eine magische Gewalt u¨ ber den schwächeren aus; so, zum Beispiel, Lear u¨ ber Kent, der sich zu dem unglu¨ cklichen Könige unwiderstehlich hingezogen fu¨ hlt, weil dieser ihm in seinem Gesicht Etwas zu haben scheint, das er, wie er sich ausdru¨ ckt, ,gern Herr nennen möchte.‘ So antwortete auch eine Königin von Frankreich, als sie an ihrem Gemahl Zauberei veru¨ bt zu haben angeklagt wurde, sie habe gegen denselben keine andere magische Gewalt gebraucht, als diejenige, welche dem stärkeren Geiste u¨ ber den schwächeren von Natur verliehen sey.“207

Diesem Zitat nach zu urteilen ist dasjenige Individuum der Genius eines anderen, das in sich gefestigt ist und weiß, was es will. Der andere fühlt sich davon angezogen und lässt sich von ihm leiten. Egal, ob Hegel von Mutter und Fötus, von Freunden oder Eheleuten spricht, entscheidend ist bei alledem, dass einer der Genius des anderen ist, und zwar derjenige, der den anderen beeinflusst. Hierin liegt, wie sich herausstellen wird, die Parallele zum Genius in der Bedeutung des Charakters. 3.3.2 Der Genius in der Bedeutung des Charakters Hegel gebraucht den Ausdruck des Genius nicht nur in der Bedeutung des Selbst, sondern auch in der Bedeutung des Charakters des Individuums. Unter dem Charakter versteht er im weitesten Sinne die Totalität aller qualitativen sowie immanenten Bestimmungen des Individuums, also die natürlichen Qualitäten (ein bestimmtes Temperament, Naturell etc.), die Gewohnheiten des Individuums sowie die Erfahrungen, die es im Laufe seines Lebens macht und die es – wie Hegel sich ausdrückt – „bewußtlos“ in sich aufbewahrt.208 Dass Hegel unter dem Charakter weitestgehend die Totalität aller qualitativen sowie immanenten Bestimmungen des Individuums versteht, ist zwei seiner Aussagen in der Anthropologie zu entnehmen. Die erste Aussage findet sich in Paragraph 405. Sie lautet, dass das „substantielle Material“ des Genius „das für sich bewußtlose Naturell, Temperament usf., […] auch (in der Gewohnheit, s. nachher) alle weitern Bande und wesentlichen Verhältnisse, Schicksale, Grundsätze, – überhaupt alles, was zum Charakter gehört“ enthält.209 207

Ebd., Zusatz. Dass Hegel den Charakter in der Bedeutung der Totalität aller qualitativen und immanenten Bestimmungen des Individuums thematisiert, übersieht Peter Heuser in seiner Studie über den Charakter bei Hegel völlig. Er thematisiert den Charakter lediglich in der Bedeutung eines „festen“ Charakters, den Hegel im Kontext der natürlichen Qualitäten einführt. (Vgl. Heuser, Peter: „Hegels Konzept des Charakters.“ In: Neuser, Wolfgang – Lenski, Wolfgang (Hg.): Bewusstsein zwischen Natur und Geist. Würzburg 2010, S. 75 – 91). 209 Enz3 § 405. 208

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Hier ist zu erfahren, dass das „substantielle Material“ des Genius erstens die qualitativen Bestimmungen, das heißt die natürlichen Qualitäten und die Gewohnheiten bilden und zweitens die immanenten Bestimmungen. Denn wie an anderer Stelle bereits dargelegt worden ist, umfassen die immanenten Bestimmungen auch die Verhältnisse, in denen das Individuum steht, sowie alles, was ihm im Leben widerfährt. Die zweite Aussage findet sich in Paragraph 406 der Anthropologie. Dort ist zu lesen: „Zum konkreten Sein eines Individuums gehört die Gesamtheit seiner Grundinteressen, der wesentlichen und partikulären, empirischen Verhältnisse, in denen es zu andern Menschen und mit der Welt überhaupt steht. Diese Totalität macht seine Wirklichkeit so aus, daß sie ihm immanent und vorhin sein Genius genannt worden ist.“210 In diesem Zitat setzt Hegel den Genius mit den immanenten Bestimmungen des Individuums gleich. Dies tut er auch, wenn er an anderer Stelle schreibt, dass der Genius das „gesamte innere Leben“ des Individuums sei.211 Den Genius als die Totalität aller qualitativen und immanenten Bestimmungen des Individuums bezeichnet Hegel einmal als die „ganze Individualität auf einfache Weise“ und einmal als den „Charakter“ des Individuums.212 Er versteht hier unter Charakter etwas anderes als unter dem Charakter als natürliche Qualität. Der Charakter als natürliche Qualität ist – um daran zu erinnern – Ausdruck für die innere Stärke des Menschen. Hier ist mit dem Charakter etwas Umfassenderes gemeint, nämlich die Totalität aller qualitativen und immanenten Bestimmungen des Individuums, die bei jedem anders sind. Das sind zwei Verwendungsweisen des Ausdrucks „Charakter“, die wir im Alltagsgebrauch auch haben. Wir sprechen zum einen von einem festen Charakter, wenn jemand unbeirrt an seinen Grundsätzen festhält, zum anderen sagen wir, dass jeder Mensch einen einzigartigen Charakter hat. Insofern die qualitativen und immanenten Bestimmungen bei keinem Menschen dieselben sind, ist auch der Genius als die Totalität dieser Bestimmungen bei keinem derselbe. Dass es nicht zwei Menschen gibt, die denselben Charakter haben, prononciert Hegel in einer seiner Vorlesungen über den subjektiven Geist: „Der Mensch ist so bestimmt, ist ein Besonderes, jedes Individuum ist ein besonderes, eben weil es ein besonderes Einzelnes ist, und es giebt kein Einzelnes das allgemeinen Charakter hätte, sondern jedes ist auf irgend eine Weise ein besonderes.“213 Darüber hinaus ist festzustellen, dass der Charakter als die Totalität aller qualitativen und immanenten Bestimmungen des Individuums nicht etwas Feststehendes und Unveränderliches ist, sondern einer gewissen Varianz unterliegt. So kommt das Individuum zwar mit bestimmten natürlichen Qualitäten zur Welt, wie einem bestimmten Temperament, Naturell, bestimmten Talenten usf. Doch erstens können sich diese im Laufe des Lebens ändern, so wie ein Mensch mit zunehmendem Alter etwa ruhiger und gelassener wird oder sich manche seiner Talente erst durch ent210

Ebd. 406. GW 25.1, 312. 212 Enz3 § 405, GW 25.1, 66 u. 306. 213 GW 25.1, 245. 211

3. Die Seele als Individuationsprinzip

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sprechende Umstände im Leben haben herausbilden können. Zweitens ändern sich im Laufe des Lebens zum Teil auch die Gewohnheiten. Manche legt das Individuum wie gesagt ab oder es entwickelt neue. Und drittens macht das Individuum im Laufe seines Lebens immer neue Erfahrungen. Folglich unterliegt auch der Charakter – als die Totalität dieser Bestimmungen – einer stetigen graduellen Veränderung. In seinen diversen Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes führt Hegel aus, dass der Genius in der Bedeutung des Charakters von innen heraus das Leben des Menschen bestimme. Er bestimme, wie er sich in bestimmten Situationen verhalte und entschließe.214 Der Genius ist ihm zufolge „instinktartig“, „auf bewußtlose Weise“ tätig.215 Unbewusste Motive determinieren das Verhalten des Individuums. Weil jeder einen anderen Genius hat, verhalten sich „in denselben Verhältnissen“ „20 auf 20igerlei verschiedene Weise“.216 So schreibt er, dass der Genius „das Determinirende überhaupt im Menschen über die Partikularität seines Lebens“ sei.217 In der Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist von 1822 ist zu lesen, dass der Genius in der Bedeutung des Charakters entscheide, „wie ich mich in den Umständen benehme, was aus mir wird; sie bestimmt mein particuläres Verhängniß. Es ist diß ein Zweifaches in mir: einmal wie ich mich weiß, nach meinem äußerlichen Leben, meine Verhältnisse wie sie gelten nach der allgemeinen Vorstellung überhaupt. Das zweite ist mein determinirtes Inneres. Dieses Innere findet man den Umständen entsprechend oder widerstreitend. Umstände sind Veranlassung für mich zu diesem und jenem. Es ist dieses dann das was man Verhängniß überhaupt nennt, Vermischung von Umständen, von denen andere anders angesprochen werden. Daß diese Umstände für mich wichtig werden, liegt in der Particularität meiner Natur. Es ist diß mein objectiver Character. Bewußtlos werden die Umstände nach den Particularitäten des Innern ergriffen, oder nach Gründen, die ich entscheide. Diese Gründe sind vielleicht nicht die wahren. Mein wachendes Verhältniß wird vom Genius bestimmt […]. Die oberflächliche Ansicht meiner Lage wird dadurch wahrhaft bestimmt. Die Umstände sind oft so, daß ein Andrer dadurch nicht herausgetrieben wurde, mein Loos aber entschieden.“218

Hegel beschreibt den Charakter bzw. Genius des Menschen in diesem Zitat als eine Macht, die Einfluss auf seine Entscheidungen und sein Verhalten nimmt. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass der Charakter bzw. Genius eines Menschen dessen weiteres Schicksal bestimme, indem er sich in bestimmte Situationen auf eine bestimmte Weise entscheide und sein Leben dadurch in bestimmte Bahnen gelenkt werde. Damit drängt sich die Frage auf, ob Hegel der Ansicht ist, dass der Mensch durch seinen Charakter in seinen Entschlüssen und Handlungen alternativlos determiniert ist oder nicht. Viele seiner oben aufgeführten Aussagen legen diese Deutung nahe. 214

Vgl. GW 25.1, 66. Ebd., 360. 216 Ebd., 312 f. 217 Ebd. 218 Ebd., 66. 215

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Diese für das gesamte Verständnis seiner subjektiven Geistphilosophie relevante Frage wird uns später noch beschäftigen. Vorerst soll nach dem Ursprung des GeniusBegriffes gefragt werden. Denn wie erklärt es sich, dass Hegel den Ausdruck des Genius einmal in der Bedeutung des Selbst und einmal in der Bedeutung des Charakters verwendet? Gibt es einen gemeinsamen Ursprung beider Verwendungsweisen? 3.3.3 Der Ursprung des Genius-Begriffs Um Missverständnissen vorzubeugen, sei vorweggesagt, dass der Genius, von dem Hegel in der Anthropologie spricht, nicht mit dem modernen Genie-Begriff zu verwechseln ist, der das künstlerische Ausnahmetalent meint.219 Der Genie-Begriff entstand in der ausgehenden Renaissance und geht auf das lateinische Wort ingenium zurück, das die „angeborene Art“ bedeutet. Das Ingenium ist angeboren und nicht etwa erlernbar. Der Ursprung des Genius-Begriffs hingegen liegt im antiken Rom und geht auf das lateinische Wort „gignere“ zurück, das „erzeugen“ bedeutet.220 Der Begriff des Genius unterlag im klassischen Altertum mehreren Bedeutungswandlungen: Ursprünglich war er die Bezeichnung für den Gott, der die Zeugungskraft des Mannes verkörperte. Sein weibliches Pendant war die Göttin Juno. Sie repräsentierte die Gebärkraft der Frau. Der Gott Genius hatte keine Gestalt, sondern war ein Wirkungs- bzw. Lebensprinzip.221 Später war der Genius auch die Bezeichnung für den Charakter des Mannes.222 Einige Zeit später erhielt er eine dritte Bedeutung: Nun war er auch der persönliche Schutzgeist des Mannes, auf den dieser zum Beispiel vor einem Wettkampf schwor. Edgar Zilsel weist darauf hin, dass der Genius in dieser dritten Bedeutung ein Vetter des griechischen Daimonions des Sokrates war.223 Platon lässt Sokrates in der Apologie berichten, dass ihm seit seiner 219 Jennifer Ann Bates, Mario Wenning und Rerena Feloj bringen Hegels Genius-Begriff fälschlicherweise mit dem modernen Genie-Begriff in Verbindung, der das künstlerische Ausnahmetalent meint. (Vgl. Bates 2004, S. 139; Wenning 2013, S. 114; Feloj 2014, S. 127) Der Ansicht, dass Hegel an dieser Stelle auf den römischen Genius-Begriff rekurriert, sind hingegen Eric O. Clarke, Michael Inwood und Dirk Stederoth. (Vgl. Clarke, Eric O.: „Fetal Attraction: Hegel’s Anaesthetics of Gener.“ In: Jagentowicz Mills, Patricia (Hg.): Feminist Interpretations of G.W.F. Hegel. Pennsylvania 1996, S. 149 – 176, hier S. 159; Inwood, Michael: A Commentary on Hegel’s Philosophy of Mind. Oxford 2010, S. 372; Stederoth 2001, S. 192). 220 Vgl. Ritter, Joachim: „Genie.“ In: Ders. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3. Basel u. a. 1974, S. 279 – 309, hier S. 279. 221 Vgl. W.E.: „Genius“. In: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, Bd. 2: Dicta Catonis – Iuno. München 1979, S. 741 f. 222 Vgl. Zilsel, Edgar: Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus. Hildesheim u. a. 1972, S. 10. 223 Vgl. Zilsel 1972, S. 12. Auf die Verwandtschaft zwischen dem Genius und dem Daimonion rekurriert auch Kant, wenn er in der Metaphysik der Sitten den „Genius des Sokrates“ erwähnt und damit das Daimonion meint. (Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Hamburg 2018, S. 387).

4. Das Selbstbewusstsein als weiteres Individuationsprinzip

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Jugend ein Daimonion göttlichen Ursprungs in Form einer inneren Stimme widerfahren sei. Diese innere Stimme meldete sich immer dann zu Wort, wenn Sokrates im Begriff war, einen falschen Entschluss zu fassen, vor dem ihn das Daimonion bewahrte.224 Während allerdings nur Sokrates eines Daimonions teilhaftig wurde, hatte im antiken Rom jeder Mann einen Genius als Schutzgeist.225 Im 18. Jahrhundert lebte das Interesse an der Antike neu auf und auch dem Genius-Begriff wurde erneut Aufmerksamkeit geschenkt.226 Im Universal-Lexikon des Leipziger Verlegers Johann Heinrich Zedlers, welches das bedeutendste und größte Lexikon vom 18. bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war und vielleicht sogar Hegel vorgelegen hat, wird der Genius definiert als „das Vermögen, welches einer hat über andere zu herrschen, und selbige nach seinem Willen zu neigen“.227 Im Lexikon wird bedauerlicherweise nicht auf den Ursprung dieser Bedeutung des Genius-Begriffes eingegangen. Es hat den Anschein, als sei diese Bedeutung an die dritte und letzte Bedeutung des Genius im antiken Rom angelehnt: an den Genius als den persönlichen Schutzgeist des Mannes. Der Genius meldete sich in Form einer inneren göttlichen Stimme zu Wort, die dem Menschen Geheimes offenbarte und dadurch Einfluss auf dessen Entscheidungen nahm. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass der Genius laut dem Universal-Lexikon ein Vermögen bezeichnet, über einen anderen zu herrschen. Auch bei Hegel bezeichnet der Genius – sowohl in der Bedeutung des Selbst als auch in der Bedeutung des Charakters – den Sachverhalt, dass einer einen anderen bestimmt. Bei Hegel ist es entweder die Mutter, die den Fötus in der Weise (unabsichtlich) bestimmt, dass ihre Empfindungen auch diejenigen des Fötus sind, oder der Charakter eines Individuums, der dessen Verhalten in bestimmten Situationen bestimmt. Hegel weist in einer seiner Vorlesungen zum subjektiven Geist in einer kurzen Bemerkung auf die Parallele zwischen dem Genius in der Bedeutung Selbst und dem Genius in der Bedeutung des Charakters hin. Er notiert: „Mein wachendes Verhältnis wird vom Genius bestimmt, wie das Kind im Leib der Mutter.“228

4. Das Selbstbewusstsein als weiteres Individuationsprinzip In den vorangegangenen Kapiteln habe ich dafür argumentiert, dass die Seele Individuationsprinzip bei Hegel ist. Das Individuum ist einzigartig aufgrund individueller Bestimmungen der Seele. Als diese individuellen Bestimmungen habe ich 224

Vgl. Apologie 31 d und 40 a. Vgl. Zilsel 1972, S. 12. 226 Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: „genie.“ In: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 5. Leipzig 1862, Sp. 3396 – 3450. 227 Zedler, Johann Heinrich: „Ascendent, Genius.“ In: Ders.: Grosses Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste (1731 – 1754). Bd. 2 (An-Az), Sp. 1799. 228 GW 25.1, 66. 225

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

die qualitativen und immanenten Bestimmungen der Seele ausgemacht. Aufgrund dieser unterscheiden sich alle Individuen voneinander. Die Totalität aller qualitativen sowie immanenten Bestimmungen der Seele macht darüber hinaus im weitesten Sinne den Charakter des Individuums aus.229 Des Weiteren habe ich dargelegt, dass sich Hegel mit dem Begriff der Bestimmung affirmativ auf Spinoza bezieht, der die Bestimmung über die Negation definiert: alle Bestimmung sei Negation („omnis determinatio est negatio“). Diesen Ausspruch Spinozas interpretiert Hegel in der Weise, dass bestimmt zu sein zugleich bedeutet, anderes nicht zu sein. Übertragen auf die Seele heißt das: Indem die Seele etwas Bestimmtes ist, ist sie etwas anderes zugleich nicht; sie ist davon unterschieden. Hegel nennt die Negation, von der hier die Rede ist, eine „einfache Negation“. Im Folgenden möchte ich Gründe dafür vorbringen, dass nicht nur die Seele, sondern auch das Selbstbewusstsein als Individuationsprinzip bei Hegel zu gelten hat. Dabei versteht er unter dem Selbstbewusstsein dasjenige, was wir als Ich-Bewusstsein bezeichnen: Das Individuum ist sich seiner selbst bewusst. Es denkt sich selbst bzw. weiß von sich als Selbstbewusstsein bzw. Ich.230 Es sei erwähnt, dass Hegel in der Phänomenologie des Geistes von 1807 das Selbstbewusstsein sogar wortwörtlich zum „Prinzip der Individualität“ erklärt.231 Diesem Gedanken bleibt er in der „Philosophie des subjektiven Geistes“ (in allen drei Versionen der Enzyklopädie von 1817, 1827 und 1830) treu, auch wenn er dem Selbstbewusstsein dort ein weiteres Individuationsprinzip, die Seele, voranstellt. Während er die Seele mit einer einfachen Negation in Verbindung bringt, besteht das Selbstbewusstsein ihm zufolge aus noch zu erläuternden Gründen seiner Struktur nach in einer „doppelten Negation“. Sein erstes Individuationsprinzip, die Seele, entwickelt er dabei in affirmativer Bezugnahme auf Spinoza, eben durch Bezugnahme auf das ihm zugeschriebene Diktum „determinatio est negatio“. Das Selbstbewusstsein als zweites Individuationsprinzip ist hingegen als eine dezidierte Kritik an Spinoza zu verstehen.

229

Ich schreibe „im weitesten Sinne“, weil zum Beispiel die angeborene Physiognomie oder Haarfarbe – beides natürliche Qualitäten – schwerlich zum Charakter zu zählen sind. 230 Wenn Hegel vom Selbstbewusstsein spricht, versteht er darunter etwas anderes, als was wir landläufig darunter verstehen. Laut Duden ist das Selbstbewusstsein „[d]as Überzeugtsein von seiner Fähigkeit, von seinem Wert als Person, das sich besonders in selbstsicherem Auftreten ausdrückt.“ (Duden: „Selbstbewußtsein, das“. URL: https://www.duden.de/rechtschrei bung/Selbstbewusstsein (zuletzt aufgerufen 06. 03. 2022)) Meist gebrauchen wir den Ausdruck in adjektivischer Form. Wir sagen etwa, jemand sei selbstbewusst, wenn er ein sicheres Auftreten hat. 231 GW 9, 167 – 168.

4. Das Selbstbewusstsein als weiteres Individuationsprinzip

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4.1 Kritik an Spinozas Substanzbegriff Dass Hegel sowohl die Seele als auch das Selbstbewusstsein zum Individuationsprinzip erklärt, ist zwei seiner Bemerkungen zu entnehmen, die er einmal im Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes und einmal in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie äußert. Im Fragment heißt es erstens, dass Spinozas Standpunkt – von Hegel als einfache Negation bezeichnet – nur den Anfang hinsichtlich der „speculative[n] Betrachtung und Erkenntniß der Natur und Thätigkeit des Geistes“ bilde.232 Über diesen Standpunkt müsse ihm zufolge hinausgegangen werden, weil Spinoza keine Selbstbezüglichkeit bzw. Subjektivität – von Hegel aus bestimmten Gründen als doppelte Negation bezeichnet – in seinen Ansatz integriert habe, die den Geist aber wesentlich auszeichne. Anstatt Selbstbezüglichkeit in seinen Ansatz zu integrieren, gehe Spinoza lediglich von der Substanz aus, die ein Ding mit Eigenschaften sei. Sie sei ausgedehnt, unendlich usf. und als solche – in Hegelschem Terminus – lediglich in der Form des „an sich“, das heißt ihr fehle jegliche Selbstreflexion, das „Fürsichsein“.233 In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bemängelt Hegel zweitens, dass sich in Spinozas Philosophie „[d]as Prinzip der Subjektivität, Individualität, Persönlichkeit“ nicht finde, weil die Negation nur einseitig aufgefasst werde. „Dieser Punkt fehlt dem Spinoza, und das ist sein Mangel.“234 Weil die Seele, die Hegel in der Anthropologie thematisiert, nicht selbstreflexiv ist, bezeichnet er sie in Anlehnung an Spinoza auch als „Substanz“.235 Er möchte laut eigenem Programm Substanz und Subjektivität zusammendenken, indem er aufzeigt, dass die Substanz zugleich auch Subjekt bzw. das Subjekt zugleich auch Substanz ist. Das Individuum ist beides: Es ist Seele bzw. Substanz und Selbstbewusstsein bzw. Subjekt. Hegel meint also zum einen Spinozas Ansatz in seine eigene Philosophie zu integrieren, indem er die Seele als Substanz auffasst, und zum anderen über ihn hinauszugehen, indem er aufzeigt, dass der Geist Subjekt ist. Doch warum genügt Hegel die einfache Negation nicht, um Individualität angemessen zu denken, bzw. warum ist die Seele aufgefasst als einfache Negation ein, wie Hegel sich ausdrückt, „Beschränktes“?236 Seine Antwort lautet, dass die Seele als etwas Bestimmtes vieles andere nicht ist. Durch dieses andere, das sie nicht ist, ist sie 232

GW 15, 217. Vgl. Enz3 § 95. 234 Werke 20, 164. Shachar Freddy Kislev versteht Hegel so, dass Spinoza Individualität gar nicht in seinen Ansatz hat integrieren können. (Vgl. Kislev 2018) Zu dieser Interpretation gelangt man meines Erachtens nur, wenn man, wie Kislev, ausschließlich Hegels Aussagen über Spinoza in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie heranzieht. Befasst man sich darüber hinaus aber mit Hegels Spinoza-Rezeption in der subjektiven Geistphilosophie, stellt man fest, dass Hegel Spinoza durchaus zugesteht, Individualität auf einer ersten, basalen Ebene gedacht zu haben – durch sein Diktum „determinatio est negatio“. 235 Enz3 § 389. 236 GW 11, 76 ff.; vgl. auch Enz3 § 92 sowie GW 15, 220 f. 233

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beschränkt bzw. begrenzt. Die Seele hat an all dem, das sie nicht ist, ihre Grenze. Hegel möchte deutlich erkennbar auf einen höherwertigen Begriff von Individualität hinaus – eine Individualität, die dadurch höherwertig ist, dass sie durch nichts anderes begrenzt wird, wobei ihm, das wird auch deutlich, eine ganz eigene Auffassung von Beschränkung bzw. Begrenzung und somit auch vom Unbegrenzten bzw. Unbeschränkten zugrunde liegt. Bevor wir uns als Nächstes der Frage zuwenden, inwiefern das Selbstbewusstsein diese Grenze hinter sich lässt und als unbegrenzt bzw. unbeschränkt gelten kann, sollen zuvor die zwei wichtigsten Gründe genannt werden, warum Hegels SpinozaBezug problematisch ist. Erstens stammt der Ausdruck „omnis determinatio est negatio“ wenn auch nicht seinem Wortlaut, so aber doch seinem Inhalt nach tatsächlich von Spinoza. Doch während es bei Hegel so klingt, als handle es sich um einen zentralen philosophischen Grundsatz von Spinozas Philosophie, ist er bei Hegel eher als eine Randbemerkung mit weniger wichtiger Bedeutung zu werten.237 So ist der Ausdruck in der Ethik, Spinozas metaphysischem Hauptwerk, lediglich an einigen wenigen Stellen vorzufinden. Am deutlichsten formuliert Spinoza ihn wohl in einem Brief aus dem Jahr 1674 an einen heute nicht mehr ermittelbaren Adressaten, in dem er die Gestalt thematisiert.238 In Letzterem schreibt Spinoza: „Da also Gestalt nichts anderes ist als Bestimmung und Bestimmung Verneinung, so wird sie nichts anderes sein können als eine Verneinung.“239 Für unsere Zusammenhänge ist nicht wichtig zu überlegen, wie Spinozas Aussage über die Gestalt zu verstehen ist, entscheidend ist lediglich die Feststellung, dass der Negativismus, der in dem Satz „determinatio est negatio“ zum Ausdruck gebracht wird, in dessen Philosophie bei weitem keine so bedeutende Rolle spielt, wie Hegel es darstellt.240 Hegel verfolgt hier wohl weniger das Ziel, der Philosophie Spinozas gerecht zu werden, als vielmehr auf der Grundlage der Philosophie Spinozas seinen eigenen Standpunkt zu artikulieren. Seine Auseinandersetzung mit Spinoza gilt somit primär dem Verständnis seiner eigenen Philosophie.

237 Vgl. Moder, Gregor: Hegel und Spinoza: Negativität in der gegenwärtigen Philosophie. Wien 2013, S. 23. 238 Etwa in Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hamburg 2007, Teil 1, Lehrsatz 8: „Weil endlich sein der Sache nach eine partielle Verneinung ist und unendlich sein die unbedingte Bejahung der Existenz irgendeiner Natur […]“. Spinoza, Baruch de: „50. Brief: An einen Unbekannten (2. Juni 1674).“ In: Ders.: Briefwechsel. Leipzig 1914, S. 210. 239 Ebd. 240 Zu demselben Resultat kommt Sandkaulen, Birgit: „Die Ontologie der Substanz, der Begriff der Subjektivität und die Faktizität des Einzelnen. Hegels reflexionslogische ,Widerlegung‘ der Spinozanischen Metaphysik.“ In: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 5 (2007), S. 235 – 275, hier S. 259. Inwiefern Hegels Auffassung des Ausspruchs „determinatio est negatio“ von Spinoza abweicht, hat Robert Stern genauestens untersucht. (Siehe Stern, Robert: „,Determination is Negation‘: The Adventures of a Doctrine from Spinoza to Hegel to the British Idealists.“ In: Hegel Bulletin 37 (2016), 1, S. 29 – 52).

4. Das Selbstbewusstsein als weiteres Individuationsprinzip

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Diese Feststellung trifft auch auf den zweiten Grund zu, warum Hegels SpinozaBezug problematisch ist. Er betrifft seine Gleichsetzung der Seele mit Spinozas Substanz, die höchst irreführend ist. Hegel meint in seinen Ausführungen über die Seele als Substanz die Seele selbstbewusster Individuen. Für Spinoza hingegen gibt es nur eine Substanz und das ist Gott, außerhalb ihrer ist nichts. Individuen sind bei Spinoza Modi der einen Substanz, wobei Modi Daseinsformen der Substanz sind, nicht aber die Substanz selbst.241 Hegels Adaption von Spinozas Substanzbegriff gerät dadurch in eine gewisse Schieflage. Trotzdem trifft er in seiner Kritik an Spinoza einen wahren Kern: Spinoza holt in seiner Ethik weder die Innenperspektive Gottes noch die der menschlichen Individuen ein. Auch wenn bei Spinoza anfängliche Überlegungen dazu vorhanden sein mögen, stellt er Gott und die Individuen letztlich aus der Außenperspektive dar.242 Von außen schaut er auf die eine göttliche Substanz, ihre Attribute und Modi, anstatt danach zu fragen, wie es für Gott oder für die Modi selbst ist, sie zu sein. Hegel würde diesen Umstand wohl so ausdrücken, dass Spinoza das Moment des Fürsichseins völlig außen vor lässt.

4.2 Das Selbstbewusstsein als doppelte Negation Kommen wir noch einmal auf den Aspekt zu sprechen, dass die Seele bestimmt ist. Jede Bestimmung ist nach Hegel zugleich eine einfache Negation. Indem die Seele etwas Bestimmtes ist, ist sie etwas anderes nicht. Die zweite bzw. doppelte Negation besteht für ihn nun darin, dass das Selbstbewusstsein seine Bestimmungen – in denen die erste Negation besteht – im wissenden Selbstbezug negiert. Es handelt sich dabei also um eine zweite, abermalige Negation, eine Negation der Negation. Darauf gilt es näher einzugehen. Hegel geht davon aus, dass das Ich bzw. Selbstbewusstsein in einem reinen Bezug auf sich selbst besteht. Es ist, wie er formuliert, reines „Bei-sich-sein“, die „abstracte, bestimmungslose Beziehung auf sich selbst“.243 Es verhält sich nur zu sich selbst bzw. ist sich selbst Gegenstand. In einer Vorlesungsnachschrift steht dementsprechend über das Selbstbewusstsein: „ich bin nur bei mir im Äther meiner Selbst, in meinem Selbstbewußtsein bin ich mir bewußt, nur meiner bewußt.“244 Insofern das Selbstbewusstsein bzw. die zweite Negation in einem reinen Selbstbezug besteht, ist sie eine positive Beziehung auf sich. Sie ist identisch mit einer Affirmation.

241

Vgl. Seidel, Helmut: Baruch de Spinoza zur Einführung. Hamburg 1994, S. 44. Etwa in Spinoza, Ethik V, Lehrsatz 30: „Mithin hat unser Geist, insofern er sich und den Körper unter einem Aspekt von Ewigkeit begreift, notwendigerweise Erkenntnis von Gott und weiß usw. W. z. b. w.“ 243 Enz3 § 23; GW 15, 244. 244 GW 25.1, 167 f. 242

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Konstitutiv für diesen reinen Selbstbezug ist darüber hinaus, dass das Selbstbewusstsein alle seine Bestimmungen negiert. Dieses Negieren beschreibt Hegel des Näheren als ein Abstrahieren. So besteht das Selbstbewusstsein für ihn in einer Abstraktionsleistung von den eigenen Bestimmungen, wie zum Beispiel der Herkunft, dem Naturell, dem Temperament, den Empfindungen, Gedanken, Erfahrungen, Eigenschaften, Zuständen und sogar der eigenen Körperlichkeit. In der Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist von 1822 wird das Ich des Näheren als „das Losgerissensein von dem Leiblichen“ bestimmt.245 Hegel charakterisiert das Selbstbewusstsein wie folgt: „Ich aber abstrakt als solches ist die reine Beziehung auf sich selbst, in der vom Vorstellen, Empfinden, von jedem Zustand wie von jeder Partikularität der Natur, des Talents, der Erfahrung usf. abstrahiert ist.“246 Die Abstraktion ist dabei nichts, was das Subjekt bewusst vollzieht oder erst herstellt, sondern es ist per se auf sich selbst bezogen.247 Hegel fasst das Selbstbewusstsein bzw. Ich folglich als die strukturelle Einheit von einfacher Selbstbeziehung und Negativität auf. Diese Struktur geht allen weiteren Akten des Subjekts – dem Vorstellen, Denken, Sprechen etc. – voraus. Den Gedanken, dass das Ich die strukturelle Einheit von einfacher Selbstbeziehung und Negativität sei, versucht Hegel zu plausibilisieren: Wenn ich „Ich“ denke oder von mir selbst „Ich“ sage, referiere ich auf mich als auf ein Abstraktes, das heißt, dass ich dabei von allen meinen Bestimmungen absehe. Das Ich ist ihm zufolge eine einfache Vorstellung, die keine Unterschiede in sich hat. Es ist „das vollkommen leere, einfache, das ganz bestimmungslose“.248 Charakteristisch für das Ich als eine einfache Vorstellung ist zudem, dass es sich immer selbst gleich und mit sich übereinstimmend bleibt, es bleibt – wie Hegel scheibt – „Ein und Dasselbe“, so dass es die Kontinuität des Erlebens des Individuums gewährt.249 Nach diesen Ausführungen über die allgemeine selbstbezügliche Struktur des Selbstbewusstseins drängt sich die Frage auf, inwiefern das Selbstbewusstsein dennoch als Individuationsprinzip gelten kann. Hegel führt aus, dass das Ich – in logischen Termini ausgedrückt – sowohl ein Allgemeines als auch ein Einzelnes ist. Das „an und für sich Allgemeine“ ist das Ich insofern, als es eine allgemeine Struktur bezeichnet: Das Ich besteht in einem wissenden Selbstbezug; es hat ein Wissen von sich selbst als Ich. Es bezieht sich also auf sich als Allgemeines. In diesem wissenden Selbstbezug abstrahiert es von allen seinen Bestimmungen.250 Zudem ist diese Struktur des wissenden Selbstbezugs in allen Menschen realisiert; darin sind sie alle miteinander identisch. Auf der anderen Seite – und das ist für unsere Frage nach dem Individuationsprinzip bedeutsam – ist das Selbstbewusstsein auch etwas Einzelnes, 245

Ebd., 23. Enz3 § 20; vgl. auch GW 12, 17 und GW 15, 244. 247 Vgl. Jaeschke 2004, S. 108. 248 GW 25.2, 747; vgl. auch Enz3 § 96. 249 Enz3 § 47. 250 Ebd. § 20.

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4. Das Selbstbewusstsein als weiteres Individuationsprinzip

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und zwar insofern, als es im wissenden Selbstbezug alle anderen von sich ausschließt. Es stellt sich ihnen gegenüber.251 Denn indem ich von mir als Ich weiß, weiß ich zugleich, dass ich nicht der andere bin. Das Ich nimmt eine Differenzierung seiner von allen anderen vor: „Ich bin ich und nicht du.“ Für dieses Verhältnis wählt Hegel in der Begriffslogik den Ausdruck „individuelle Persönlichkeit“.252 Das Ich besteht somit in einer einzigartigen, unvertretbaren Perspektive, aus der heraus es sich von allen anderen außer sich unterscheidet. Dass das Ich sowohl eine unvertretbare Perspektive eines Individuums als auch jedes selbstbewusste Individuum Ich ist, zeigt Hegel an der Sprache auf: „Ebenso wenn ich sage: ,Ich‘, meine ich Mich als diesen alle Andern Ausschließenden; aber was ich sage, Ich, ist eben jeder; Ich, der alle Andern von sich ausschließt.“253 Wenn ich von mir selbst „Ich“ sage, dann mag ich zwar nur mich, mich als Individuum meinen, was ich aber eigentlich sage, ist jeder. Denn jedes Ich sagt von sich selbst „Ich“ und meint damit nur sich, sich als Individuum. Das Ich ist folglich ein höchst paradoxer Begriff: Wenn ich „Ich“ sage, möchte ich etwas über mich als Einzelnen sagen, sage aber etwas ganz Allgemeines, etwas, das auf alle Ichs zutrifft.254 Hegel versteht seine Selbstbewusstseinstheorie als eine Kritik an Immanuel Kant, genaugenommen an dessen transzendentalem Ich, wie einer seiner Bemerkungen in der Enzyklopädie von 1830 zu entnehmen ist. Das transzendentale Ich ist für Kant eine einfache Vorstellung, unter der alle anderen Vorstellungen miteinander verbunden werden, wobei das Ich in dieser Mannigfaltigkeit der Vorstellungen mit sich identisch bleibt. Alle Vorstellungen werden von der Vorstellung begleitet, dass ich es bin, der diese Vorstellungen hat.255 Den Rückbezug aller Vorstellungen auf das Ich bezeichnet Kant als die „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption“. Dabei handelt es sich um eine a priori gegebene Einheit des Ich, das heißt, diese Einheit des Bewusstseins ist vor aller Erfahrung gegeben. Hegels Kritik an Kants transzendentalem Ich lautet, dass das Ich nicht etwa darin bestehe, alle Bestimmungen zu begleiten, wie Kant meint, sondern seiner Struktur nach bestehe es gerade in einer Abstraktionsleistung von allen Bestimmungen, das heißt in einem reinen Selbstbezug. Dies habe Kant übersehen. Hegel drückt seine Kritik wie folgt aus: „Kant hat sich des ungeschickten Ausdrucks bedient, daß Ich alle meine Vorstellungen, auch Empfindungen, Begierden, Handlungen usf. begleite. Ich ist das an und für sich Allgemeine […] Alle andern Menschen haben es mit mir gemeinsam, Ich zu sein, wie es allen meinen 251

Bereits Fichte äußerte den Gedanken, dass Individualität ein Gegenüber voraussetzt, von dem sich das Individuum unterscheidet. Er schreibt: „Ein Individuum ist nur dadurch möglich, daß es von einem andern Individuum unterschieden wird […] Ich kann mich nicht als Individuum denken, ohne ein anderes Individuum mir entgegenzusetzen.“ (Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Jena u. a. 1796, S. 130). 252 GW 12, 17 f. 253 Enz3 § 20. 254 Vgl. Asmuth 2012a, S. 193 – 204. 255 Vgl. KrV B 132.

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität Empfindungen, Vorstellungen, usf. gemeinsam ist, die Meinigen zu sein. Ich aber abstrakt als solches ist die reine Beziehung auf sich selbst, in der vom Vorstellen, Empfinden, von jedem Zustand wie von jeder Partikularität der Natur, des Talents, der Erfahrung abstrahiert ist. Ich ist insofern die Existenz der ganz abstrakten Allgemeinheit, das abstrakt Freie.“256

Hegel macht mit seiner Kritik ein entscheidendes Defizit an Kants transzendentalem Ich sichtbar: Das Ich, auf das alle Vorstellungen zurückbezogen werden, ist ein überindividuelles Ich, ein Ich, von dem nicht klar ist, wodurch es individuiert ist. Das Defizit an Kants transzendentalem Ich besteht in anderen Worten darin, dass es die Individualität des Ich nicht einholt. Anders bei Hegel: Bei ihm konstituiert sich das Ich zuallererst durch Negation seiner Bestimmungen, was zugleich bedeutet, dass es von jeher individuell bestimmt ist. Dass wir es bei Kant – anders als bei Hegel – mit einem überindividuellen Ich zu tun haben, führt Birgit Sandkaulen auf die „Logik“ seines Ansatzes zurück. Kants Philosophie sei Transzendentalphilosophie, das heißt, er frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von objektiv gültiger Erkenntnis. In der „Logik dieses Ansatzes“ liege, dass Kant „über der Begründung solcher Erkenntnis im transzendentalen Subjekt auch die individuelle Differenz des Fürmichseins aus den Augen verliert.“257 Anders als bei Kant ist das Ich bzw. Selbstbewusstsein bei Hegel aufs Engste mit dessen Individualität verknüpft: Das Ich ist ein leiblich existierendes, individuelles Ich, auch wenn es seiner internen Verfassung nach letztlich darin besteht, von allen seinen leiblichen, individuellen Bestimmungen zu abstrahieren und rein bei sich zu sein. Hegels Anliegen ist es gerade, die individuelle Differenz im Selbstbewusstsein sichtbar zu machen. Während er in der Phänomenologie des Geistes von 1807 das Selbstbewusstsein noch zum einzigen Individuationsprinzip erklärt, stellt er ihm zehn Jahre später in der Enzyklopädie von 1817 die Seele mit ihren individuellen Bestimmungen voran. Auch wenn bereits in der Phänomenologie das Selbstbewusstsein seiner allgemeinen Struktur nach darin besteht, von seinen Bestimmungen zu abstrahieren und rein bei sich zu sein, führt Hegel erst in der Enzyklopädie den Gedanken aus, dass es die Seele ist, die individuell bestimmt ist. Vor allem aber konkretisiert er, worin diese individuellen Bestimmungen bestehen. Erst dadurch holt er die individuelle Differenz im Selbstbewusstsein im strikten Sinne ein.258 256

Enz3 § 20. Sandkaulen, Birgit: „,Individuum est ineffabile.‘ Zum Problem der Konzeptualisierung von Individualität im Ausgang von Leibniz.“ In: Gräb, Wilhelm u. a. (Hg.): Individualität: Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung. Berlin 2012, S. 153 – 179, hier S. 173. Christoph Asmuth weist darauf hin, dass bei Kant das transzendentale Subjekt nicht mit dem empirischen Subjekt zu verwechseln sei: „Jeder Erkenntnisakt setzt die verbindende Funktion des Bewusstseins voraus, die alle Vorstellungen auf ein Subjekt bezieht, eine Funktion, die kein ontologisches Substrat ist.“ (Asmuth 2018, S. 30.) Ihm zufolge möchte Kant also gar nicht auf ein empirisches und d. h. auch individuelles Subjekt hinaus. 258 Deswegen wird Hegel auch Unrecht getan, wenn er als Identitätsphilosoph im strikten Sinne bezeichnet wird. Es wird dabei übersehen, welch große Rolle sowohl der Differenz als auch der Negativität in seiner Philosophie zukommt. Zu demselben Verdikt gelangt Asmuth. (Vgl. Asmuth 2014, S. 25). 257

4. Das Selbstbewusstsein als weiteres Individuationsprinzip

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4.3 Die Bedeutung des anderen für die Bildung personaler Identität Bei Hegel sind anfängliche Überlegungen zur personalen Identität eines Individuums vorhanden, auch wenn er selbst diesen Ausdruck nicht verwendet.259 Für die Bildung der eigenen Identität spielt ihm zufolge das Verhältnis des Individuums zu seinem Gegenüber eine große Rolle: Wie es sich selbst sieht, kann durch sein Gegenüber erzeugt, verändert, abgeschwächt oder gesteigert werden. Diesen Gedanken entwickelt Hegel in Auseinandersetzung mit der geschlechtlichen bzw. erotischen Liebe. Mit der erotischen Liebe hat er sich während seines philosophischen Schaffens immer wieder befasst, wobei ich mich in diesem Zusammenhang insbesondere auf seine Entwürfe über Religion und Liebe aus den Jahren 1797/1798 und auf seine Vorlesungen über die Ästhetik beziehe, die er zwischen 1817 und 1829 gehalten hat. Hegel führt in seinen Vorlesungen über die Ästhetik aus, dass die Liebe ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis sei, das auf dem Bedürfnis des Individuums beruhe, nicht nur abstrakt anerkannt zu werden, zum Beispiel als Bürger einer Gesellschaft, sondern seiner ganzen Persönlichkeit nach.260 Er trägt vor, dass die Liebe das Bedürfnis sei,

259 In der bisherigen Untersuchung habe ich den Ausdruck der Identität in zwei miteinander verwandten Bedeutungen verwendet: In der Einleitung habe ich erstens darauf hingewiesen, dass Hegels Philosophie von vielen seiner Kritiker als Identitätsphilosophie tituliert wird. Es bestehe in ihr eine Identität von Individuum und Allgemeinem, womit sie sagen möchten, dass Hegel sie aufeinander reduziere und jegliche Differenz zwischen ihnen tilge. An anderer Stelle habe ich zweitens von Leibniz’ Prinzip der „Identität des Ununterscheidbaren“ gesprochen. Die Identität ununterscheidbarer Dinge besagt, dass, wenn Dinge identisch sind, sie ununterscheidbar sind. Sind sie hingegen different, müssen sie voneinander unterscheidbar sein. Der Grund, warum Dinge voneinander unterscheidbar sind, liegt Leibniz zufolge in ihnen selbst. Diese beiden Verwendungsweisen des Identitätsbegriffes sind insofern miteinander verwandt oder sogar miteinander übereinstimmend, als es in beiden Fällen um die Gleichheit von Zweien im Gegensatz zu deren Unterschiedenheit geht. Ich möchte den Ausdruck der Identität nun um eine weitere Bedeutung erweitern: das Selbstbild, welches das selbstbewusste Individuum von sich hat. Dieses wird heutzutage als personale Identität bezeichnet, wobei es keine einheitliche Erklärung gibt, wie diese zustande kommt und welche Faktoren dabei von Bedeutung sind. 260 Dass Hegel die erotische Liebe unter dem Aspekt der Individualität der sich Liebenden thematisiert, ist in nicht zu unterschätzendem Maße auf die Umstände seiner Zeit zurückzuführen. Niklas Luhmann weist in seinem Buch Liebe als Passion darauf hin, dass noch im 17. Jahrhundert die Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der sich liebenden Personen in der Liebe keine große Rolle spielte. Es war zum Beispiel unüblich, dass sich ein Mann in eine Frau aus einer anderen sozialen Schicht verliebte. Die Liebesbeziehungen waren – so Luhmann – noch nicht individualisiert und personalisiert. (Vgl. Luhmann 1994, S. 124 – 36) Erst im 18. Jahrhundert setzte sich allmählich der Gedanke durch, man liebe jemanden seiner ganzen individuellen Persönlichkeit nach. Seine stärkste Ausprägung fand dieser Gedanke bei den deutschen Frühromantikern (1795/98 – 1804), also bei Hegels Zeitgenossen: August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Friedrich von Hardenberg, der sich als Dichter Novalis

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität „sich anerkannt, die Unendlichkeit der Person aufgenommen zu sehen in einer anderen Person. Diese Anerkennung ist erst wahrhaft und total, wenn nicht nur meine Persönlichkeit in abstracto oder in einem konkreten vereinzelten und dadurch beschränkten Fall von anderen respektiert wird, sondern wenn ich meiner ganzen Subjektivität nach, mit allen, was dieselbe ist und in sich enthält, als dieses Individuum, wie es war und ist und sein wird, das Bewußtsein eines anderen durchdringe, sein eigentliches Wollen und Wissen, sein Streben und Besitzen ausmache.“261

Anerkennung bedeutet im Fall der Liebe, dass das Individuum in seiner ganzen individuellen Persönlichkeit vom Geliebten anerkannt und das heißt wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Hegel scheint in seinen Ausführungen von der Exklusivität bzw. Ausschließlichkeit der erotischen Liebe auszugehen. Ihre Ausschließlichkeit besteht darin, dass sie nur einem einzigen, bestimmten Menschen gilt: „Ich liebe dich und keinen anderen.“ Diesen Aspekt der Ausschließlichkeit hebt er in den Grundlinien der Philosophie des Rechts hervor, wenn er schreibt, dass es „die Persönlichkeit“, „die unmittelbare ausschließende Einzelnheit“ sei, „welche sich in dies Verhältnis legt und hingibt. […] dessen Wahrheit und Innigkeit […] nur aus der gegenseitigen ungeteilten Hingebung dieser Persönlichkeit hervorgeht“.262 Für Hegel ist die erotische Liebe nur als eine Beziehung zwischen Zweien zu denken; sie schließt jeden anderen aus. Dabei richtet sich die Liebe gerade auf dasjenige an einem Menschen, worin er sich von allen anderen Menschen unterscheidet, also worin er einzigartig ist: „Ich liebe dich, weil du eben du bist und kein anderer.“ Die Exklusivität der Liebe steht im Gegensatz zur gegenseitigen Anerkennung selbstbewusster Individuen im Staat. Sie beruht gerade nicht auf der Individualität der Individuen, sondern auf deren Allgemeinheit. Die Individuen erkennen sich wechselseitig aufgrund dessen an, was sie gemeinsam haben. Sie alle sind selbstbewusste Individuen: „Es ist also ein allgemeines Wesen: frei zu sein; ich bin es nicht in meiner besonderheit; ich weiß auch von andren, daß sie frei sind; ich schaue mich in ihnen an.“263 Die Anerkennung im Staat ist – anders als in der Liebe – inklusiv. Hegel legt dar, dass charakteristisches Merkmal der erotischen Liebe das Streben nach körperlicher und geistiger Einheit sei. Er greift damit auf einen Gedanken Platons zurück, der im Symposion, dem Dialog über das Wesen der Liebe, dargelegt hatte, dass die Liebe das Trachten nach dem Ganzen sei: die Geliebten wollen miteinander verschmelzen. Sie wollen aus Zweien Eins werden.264 Hegel führt aus, dass sich die Liebenden nacheinander sehnen. Sie haben das starke Verlangen, sich sowohl körperlich als auch geistig miteinander zu vereinigen, also die Distanz nannte, Ludwig Tieck und Friedrich Schleiermacher. Sie leiteten einen neuen Liebesdiskurs ein, auf den Hegel implizit Bezug nimmt. 261 Werke 14, 182. 262 GPhR § 167. 263 GW 25.2, 796. 264 Vgl. Symposion 193 a.

4. Das Selbstbewusstsein als weiteres Individuationsprinzip

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zwischen sich aufzuheben und miteinander intim und vertraut zu sein. Die körperliche Vereinigung erreicht im Sexualakt ihren Höhepunkt, während die geistige Vereinigung in Form eines emotionalen und geistigen Austauschs stattfindet. Die Liebespartner möchten jeweils wissen, was der andere fühlt und denkt. So besteht zwischen den Liebespartnern ein – wie Hegel sich ausdrückt – „geistiges Band“.265 Beide Liebenden sind Hegel zufolge bereit, sich voll und ganz in ihrer je vereinzelten Persönlichkeit dem anderen hinzugeben.266 So sei die Liebe die höchste Form gegenseitiger Hingabe eines Individuums an ein anderes Individuum. Hegel weist nun auf den entscheidenden Umstand hin, dass sich die Liebenden in der Hingabe an den jeweils anderen zwar in gewisser Weise selbst aufgeben, indem sie mit ihm verschmelzen wollen, sich schlussendlich aber selbst gewinnen. In der Hingabe an den jeweils anderen bestätigen sie sich nämlich gegenseitig. Sie spiegeln sich gegenseitig wider, wer sie für den jeweils anderen sind und welchen Wert sie füreinander haben. Man könnte auch sagen, so wie der andere mich sieht, sehe ich mich auch. Ich sehe mich durch die Augen des anderen. Hegel drückt dies in den Worten aus: „Das Individuum hat die Gewissheit, sich selbst im Anderen zu gewinnen. Beide wissen sich in dieser ihrer Liebe.“267 Axel Honneth spricht in diesem Zusammenhang von einer „wechselseitigen Aufrechterhaltung einer Spannung zwischen symbiotischer Selbstpreisgabe und individueller Selbstbehauptung“ und Jakub Kloc-Konkolowcz davon, dass die Liebe „von dem Standpunkt Hegels“ ein Spiel der „Selbstaufgabe und Selbstbestätigung“ sei.268 In den Entwürfen über Religion und Liebe legt Hegel dar, dass die Liebe ein gegenseitiges Geben und Empfangen sei und dass die Liebespartner im Liebesaustausch nur reicher, nicht aber ärmer werden können. Die Parallele zu dem bisher Gesagten ist hier: Obwohl sich die Liebenden in der Liebe jeweils in ihrer Persönlichkeit aufgeben, verlieren sie sich nicht, sondern gewinnen sich, steigern ihre jeweilige Identität. Die Liebe ist Hegel zufolge eine unerschöpfliche Ressource. Sie sei „ein gegenseitiges Nehmen und Geben […] dasjenige, das nimmt, wird dadurch nicht reicher als das andere; es bereichert [sich] zwar, aber um ebensoviel das andere; ebenso dasjenige, das gibt, macht sich nicht ärmer; indem es dem anderen gibt, hat es um ebensoviel seine eigenen Schätze vermehrt; Julia und Romeo: je mehr ich gebe, desto mehr habe ich usw. Diesen Reichtum des Lebens erwirbt die Liebe in der Auswechslung aller Gedanken, aller Mannigfaltigkeiten der Seele, indem sie unendliche Unterschiede sucht und unendliche Vereinigungen sich ausfindet“.269 265

GPhR § 163. Vgl. GW 25.2, 630. 267 Werke 14, 182; vgl. auch Werke 1, 246. 268 Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M. 2003, S. 154; Kloc-Konkolowicz, Jakub: Anerkennung als Verpflichtung: Klassische Konzepte der Anerkennung und ihre Bedeutung für die aktuelle Debatte. Würzburg 2015, S. 71. 269 Werke 1, 247 f. 266

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Das selbstbewusste Individuum verfügt zwar auch ohne die erotische Liebe über eine einheitliche Identität, doch durch die Liebe erfährt diese eine Stabilisierung bzw. Steigerung. Aus Hegels Überlegungen zur Bedeutung der erotischen Liebe für die Bildung der eigenen Identität können weitere Schlüsse gezogen werden: Je wichtiger mir der andere ist und je näher er mir steht, desto größeren Einfluss scheint er auf meine Identitätsbildung zu nehmen. Je nachdem, wie er mich sieht, hat dies Auswirkungen auf mein Selbstbild. Es kann durch den anderen stabilisiert, gesteigert oder auch ins Wanken gebracht werden. Es ließen sich hierzu etliche weitere Gedanken anstellen. Auch wäre zu u¨ berlegen, ob sich noch an anderen Stellen in Hegels System Gedanken zur Identitätsbildung des Individuums finden ließen.270 Ich möchte es hierbei bewenden lassen und lediglich festhalten, dass der Einzelne Hegel zufolge in verschiedenen Beziehungen zu anderen steht, in dessen Rahmen sich sein Selbstbild herausbildet.

5. Determinismus und Willensfreiheit Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück und wenden einen erneuten Blick auf den Genius in der Bedeutung des Charakters. Wie ich dargelegt hatte, formuliert Hegel, dass der Charakter bestimme, wie sich der Mensch in bestimmten Situationen verhalte und entschließe. Diese Formulierung klingt so, als sei der Mensch in seinen Entschlüssen und in seinem Verhalten unausweichlich durch seinen Charakter determiniert. Die Lesart, nach welcher der Mensch durch seinen Genius bzw. Charakter in seinem Verhalten unausweichlich determiniert ist, vertritt etwa Hermann Drüe in seinem Kommentar zur „Philosophie des subjektiven Geistes“. Er schreibt, dass Hegels Auffassung des Genius „auf der Folie seines Geistoptimismus eher düster“ wirke. Er verstehe „den Genius nicht als eine Höchstbegabung, sondern als eine Motivation, der man nicht ausweichen kann, auch wenn sie zum Verhängnis wird“. Er schließt mit den Worten: „Als Menschendeuter ist Hegel also, wie ausnahmslos alle großen Denker, kein Optimist.“271 Diese Deutung vertritt auch Mario Wenning. Mit drastischen Worten bringt er zum Ausdruck, dass der Genius bei Hegel „a form of coercive motivation“ sei, „that cannot be avoided even if it leads to doom and disaster.“272 Hermann Drües und Mario Wennings Deutung, nach der der Genius eine 270 Hegel scheint etwa der Ansicht zu sein, dass das Selbstverständnis des Individuums von seiner Stellung in der Gesellschaft abhängt. Es macht ein Unterschied für das Selbstbild des Individuums, ob es ein Sklave oder eine anerkannte Person mit Rechten ist. Je nachdem erlebt sich das Individuum als unfrei oder frei. 271 Drüe 2000, S. 242. 272 Wenning 2013, S. 113. Neben Hermann Drüe und Mario Wenning ist auch Dieter Sturma dieser Ansicht. (Vgl. Sturma 1990, S. 200).

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„Motivation“ sei, der man nicht ausweichen kann, ist aufgrund Hegels Bemerkungen über den Genius zwar durchaus nachvollziehbar. Prima facie scheint das Individuum tatsächlich in seinem Verhalten unausweichlich durch seinen Genius bestimmt zu werden. Doch sowohl Drüe als auch Wenning übersehen Hegels Bemerkung in der Anthropologie, in der er den Genius bzw. Charakter vom Geist unterschieden wissen will. So bemerkt er, dass der Genius „nicht der wollende und denkende freie Geist“ sei.273 Mit dieser Bemerkung verweist Hegel auf die Psychologie, den dritten Teil der subjektiven Geistphilosophie, in der er das Denken und den Willen thematisiert. Er führt dort den Gedanken aus, dass sich das Individuum selbst bestimmen bzw. seinen Willen frei bilden kann.274 Es fragt sich, wie Hegels Aussagen in der Anthropologie mit denjenigen in der Psychologie vereinbar sind. Der Anthropologie nach zu urteilen wird das Individuum von dessen Genius bzw. Charakter in seinem Verhalten und in seinen Entschlüssen determiniert. In der Psychologie wiederum erfahren wir, dass sich das Individuum seinen Willen frei bilden kann. Eine schnelle Lösung des hier genannten Problems von Determinismus und Willensfreiheit könnte darin vermutet werden, dass die Selbstbestimmung bzw. freie Willensbildung des Individuums bereits darin besteht, nicht von äußeren Umständen, sondern lediglich vom eigenen Charakter bestimmt zu werden. Das Individuum ist schließlich in gewisser Weise mit seinem Charakter gleichzusetzen; es ist sein Charakter. Auch wenn das Individuum in seinem Verhalten von seinem Charakter bestimmt wird, ist es – insofern es mit seinem Charakter gleichzusetzen ist – selbstbestimmt. Wie zu zeigen sein wird, möchte Hegel dies gerade nicht sagen. Die Willensfreiheit des Menschen zeigt sich für ihn gerade darin, sich anders verhalten zu können, als er charakterlich disponiert ist.

5.1 Die negierende Tätigkeit des Geistes Der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, ob das Individuum durch seinen Charakter in seinem Verhalten und seinen Entscheidungen unausweichlich determiniert ist oder sich seinen Willen frei bilden kann, liegt in der Tätigkeit des Geistes, die Hegel in der Psychologie beschreibt. Die Tätigkeit des Geistes sei – so bringt er es auf ein einziges Wort – „das Negative“.275 Um zu spezifizieren, was Hegel unter der negierenden Tätigkeit des Geistes versteht, ist ein Rekurs auf den Anfang der Enzyklopädie von 1830 hilfreich. Dort schreibt er, dass „das Prinzip“ bzw. die „unvermischte Selbstheit“ des Geistes „das Denken“ sei und das Denken wiederum wesentlich in der „Negation eines unmittelbar Vorhandenen“ bestehe.276 Abgesehen 273

Enz3 § 406. Vgl. Enz3 §§ 444, 468. 275 Enz3 § 442. 276 Ebd. §§ 11, 12; vgl. auch GW 25.1, 12. 274

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davon, dass wir in diesem Zitat erfahren, dass der Geist im Denken besteht und das Denken wiederum im Negieren, erfahren wir vor allem, was der Geist beim Denken negiert. Seine Tätigkeit besteht im Negieren „eines unmittelbar Vorhandenen“.277 Für uns ist an dieser Stelle nicht wichtig, was für Hegel alles unter das unmittelbar Vorhandene fällt. Relevant ist lediglich die Feststellung, dass auch der Charakter des Individuums etwas Unmittelbares ist.278 Die negierende Tätigkeit des Geistes richtet sich folglich unter anderem auf den eigenen Charakter. Dass der Charakter des Individuums etwas Unmittelbares ist, kann in zweifacher Hinsicht verstanden werden: Zum einen ist der Charakter dem Individuum unmittelbar gegeben. Das soll heißen, dass es einen bestimmten Charakter hat, den es sich nicht ausgesucht hat. So hat jeder von uns bestimmte Charakterzüge, die er auf die Welt mitbringt oder die sich im Laufe des Lebens durch bestimmte äußere Umstände entwickeln und für die er also nichts kann. Das Individuum ist in seinem Charakter bestimmt. Zum anderen scheint Hegel sagen zu wollen, dass das Individuum einen bestimmten Charakter hat und dieser unmittelbar, das heißt instantan mit bestimmten Verhaltensweisen einhergeht. Diese Deutung ist solchen Aussagen Hegels zu entnehmen wie, dass der Genius „instinktartig“ und „auf bewußtlose Weise“ tätig sei und entscheide, „wie ich mich in den Umständen benehme“.279 Charakteristisch für diese charakterlich bedingten Verhaltensweisen ist, dass sie affektiv bzw. spontan sind. Das Individuum verhält sich in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Weise, ohne darüber nachgedacht zu haben. Wenn wir Hegel richtig verstehen, dass der Charakter etwas unmittelbar Vorhandenes ist, ist das geistige Individuum folglich im oder durchs Denken in der Lage, seinen Charakter bzw. einzelne Aspekte davon zu negieren. Doch was soll das eigentlich heißen? Wie haben wir uns die negierende Tätigkeit des Geistes im oder durchs Denken des Näheren vorzustellen? Zuallererst ist zu konstatieren, dass die negierende Tätigkeit des Geistes im oder durchs Denken einen Bezug des Individuums auf sich selbst impliziert. Das Individuum bezieht sich auf bestimmte Aspekte seines eigenen Charakters, das heißt, es richtet seine Aufmerksamkeit auf sie und macht sie zu einem Gegenstand, über die es räsoniert. Es macht sich also die ihn determinierenden Faktoren bewusst und setzt sich mit ihnen auseinander. Dies bedeutet zugleich, dass das Individuum seine charakterlich bedingten Impulse nicht unmittelbar in einen Entschluss oder in ein Verhalten umsetzt, sondern innehält und seine Motive und deren Berechtigung prüft oder über mögliche Folgen oder Ähnliches nachdenkt.280

277

Ebd. Dass der Genius in der Bedeutung des Charakters etwas Unmittelbares ist, sagt Hegel in GW 25.2, 674. 279 GW 25.1, 66 u. 360. 280 In einer Vorlesungsnachschrift zum subjektiven Geist wird das Nachdenken wie folgt charakterisiert: „Beim Nachdenken sucht man den Grund, die Ursache, Folgen, Gattungen, 278

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Das Individuum ist also nicht einfach nur mit seinem Charakter gleichzusetzen. Es unterscheidet sich auch von ihm und das heißt, es unterscheidet sich in sich selbst. Es kann zu seinem Charakter bzw. zu sich selbst auf Distanz gehen und über sich nachdenken. Diese reflexive Selbstbezüglichkeit ist es, die den Geist ausmacht.281 Indem das Individuum etwa über seine Motive und deren Berechtigung für ein bestimmtes Verhalten in bestimmten Situationen nachdenkt oder auch über mögliche Folgen, ist es in der Lage, seine charakterlich bedingten Impulse zu negieren, das heißt nicht handlungswirksam werden zu lassen. Die negierende Tätigkeit des Geistes richtet sich somit auf sich selbst. Das Individuum kann etwa zu dem Schluss kommen, dass seine Motive für ein bestimmtes Verhalten nicht die richtigen sind oder dass es die Folgen, die sein Verhalten möglicherweise nach sich ziehen, nicht tragen möchte. Ist das Individuum von seinem Temperament her beispielsweise leicht erregbar, kann es sich dies bewusst machen, darüber reflektieren und zu der Einsicht gelangen, dass es aus welchen Gründen auch immer erstrebenswert wäre, zukünftig weniger aufbrausend zu sein. Hegel zufolge ist das Individuum grundsätzlich imstande, ein Verhalten, zu dem es charakterlich disponiert ist, zu unterlassen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es sich auf seine bestimmte charakterliche Disposition bezieht, sie sich bewusst macht und zum Gegenstand seines Nachdenkens macht. Auf diese Weise schafft es das Individuum, seinen „naturgegebenen“ Charakter zu bemeistern und sich zum Herrn seiner selbst zu machen. Es kann sich daraufhin neu bestimmen.282 Der Willensinhalt, den sich das Individuum gibt, kann sogar im Gegensatz zu seinem Charakter stehen. Die bisherigen Ausführungen erlauben den Schluss, dass das Individuum durch seinen Charakter in seinen Entscheidungen und in seinem Verhalten nicht unausweichlich determiniert ist. Sein Charakter setzt sich nicht mit naturkausaler Notwendigkeit in ein bestimmtes Verhalten um.283 Das Individuum ist durch seinen Charakter lediglich zu bestimmten Entscheidungen und Verhaltensweisen geneigt. Doch auch wenn es zu bestimmten Verhaltensweisen geneigt ist, ist es – und hierin besteht die Leistung des Geistes – grundsätzlich imstande, über seine charakterlichen Dispositionen nachzudenken und sie infolgedessen zu negieren. Gesetze des Gegenstandes, diese Formen des Denkens bringt man erst durch das Nachdenken hervor, dadurch hat man erst Gedanken.“ (GW 25.1, 528). 281 Vgl. Asmuth 2016, S. 286. 282 Dass der Genius bewusstlos tätig ist, während der freie Wille des Menschen mit bewussten Zwecksetzungen einhergeht, macht Hegel in seiner Vorlesung zum subjektiven Geist von 1827/28 deutlich. So sei der Mensch zum einen zwar mit seinem Genius identisch, zum anderen aber unterscheide er sich von ihm, nämlich durch seine bewussten Zwecke und Vorsätze: „diese empfindende Totalität ist zugleich unmittelbar: Wir können dies den Genius eines Menschen nennen, der seine bewußtlos präsente Totalität in sich hat; er selbst ist sein Genius aber er unterscheidet sich auch von diesem durch seine bewußten Zwecke und Vorsätze; […].“ (GW 25.2, 674). 283 Zu dem Unterschied zwischen einer Disposition und Determination vgl. Keil, Geert: Willensfreiheit und Determinismus. Stuttgart 2009, S. 113.

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Hegel ist sich darüber im Klaren, dass das Individuum nicht als eine unbeschriebene Tafel zur Welt kommt, sondern bestimmte naturgegebene Dispositionen hat. Die Freiheit des Individuums besteht für ihn darin, wie es sich zu diesen Dispositionen – zu seinen Naturanlagen, Vorlieben, Einstellungen und Charakterzügen – verhält und was es aus ihnen macht.284 So hält Hegel im Fragment über den subjektiven Geist fest: „Die Frage, was der Geist ist, schließt […] die zwey Fragen in sich, wo der Geist herkommt, und wo der Geist hingeht! […] Wo er herkommt, – es ist von der Natur; wo er hingeht, – es ist zu seiner Freyheit. Was er ist, ist eben diese Bewegung selbst von der Natur sich zu befreyen.“285 Christoph Asmuth weist darauf hin, dass der Geist zum einen als absolute Voraussetzung und zum anderen als Resultat begriffen werden kann.286 Als Voraussetzung kann der Geist in unserem Kontext insofern begriffen werden, als sich das Individuum nur aufgrund dessen, dass es Geist ist, von seiner Unmittelbarkeit befreien kann. Es ist als Geist in der Lage, seine unmittelbaren Bestimmungen im Denken zu negieren. Als Resultat wiederum kann der Geist insofern begriffen werden, als er sich erst dadurch erzeugt bzw. als frei erweist, dass er sich von seiner Unmittelbarkeit befreit. Er lässt sich nicht von seinen Trieben und Empfindungen treiben, sondern widersetzt sich ihnen und bestimmt sich selbst. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Freiheit des Menschen etwas ist, das er selbst erfährt: Er macht in konkreten Situationen die Erfahrung, dass er innehalten und sich anders bestimmen kann, als er charakterlich geneigt ist.287 Zu der Möglichkeit des geistigen Individuums, sich auf seinen eigenen Charakter zu beziehen und über ihn nachzudenken, möchte ich eine weitere Überlegung anschließen. Wie an vorheriger Stelle dargelegt, besteht der Charakter nach Hegel weitestgehend aus den qualitativen und immanenten Bestimmungen des Individuums, wobei die immanenten Bestimmungen solche sind, die es in seinem Unbewussten aufbewahrt. Dieter Sturma, der Hegels Theorie der Seele als eine Theorie des Unbewussten auffasst, deutet das Unbewusste als „de[n] Ort genereller Verhaltensdeterminierungen“.288 Er schreibt: „Und es ist Hegel zufolge nicht möglich, in wie auch immer gearteten Selbstfindungsprozessen unbewußte Formierungen analytisch aufzuklären; hierin unterscheidet er sich grundsätzlich von Freud und dessen Schülern. Therapeutische Selbstfindungsprozesse beruhen immer auf Rationalisierungsstrategien, weil aber Rationalität allenfalls ein Teilbereich menschlicher Existenz ist, muß das Unbewußte notwendigerweise in seiner internen Struktur unaufgeklärt bleiben.“289

284

Vgl. ebd. GW 15, 249. 286 Vgl. Asmuth 2016, S. 290. 287 Vgl. Emundts 2012, S. 102. 288 Sturma 1990, S. 200. 289 Ebd. 285

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Nach der Deutung von Dieter Sturma entzieht sich das Unbewusste bei Hegel jeglichen Rationalisierungsstrategien. Abgesehen davon, dass ihm darin zu widersprechen ist, dass das Unbewusste bei Hegel ein Ort genereller Verhaltensdeterminierungen ist, wie im vorherigen Kapitel gezeigt worden ist, ist auch anzuzweifeln, ob das Unbewusste bei Hegel rational generell nicht aufgeklärt werden kann. Wie dargelegt, ist das Individuum nach Hegel grundsätzlich imstande, sich auf bestimmte Aspekte seines Charakters zu beziehen und über sie nachzudenken. Für mich ist diese Aussage gleichbedeutet damit, dass sich das Individuum bestimmte unbewusste Formierungen bewusst machen und sie rational aufklären kann. Um diesen Gedanken zu plausibilisieren, sei noch einmal an den Zusammenhang zwischen dem Unbewussten und dem Charakter erinnert: Das Unbewusste umfasst Hegel zufolge die immanenten Bestimmungen des Individuums; das sind im weitesten Sinne alle Erfahrungen, die das Individuum im Laufe seines Lebens macht. Sie tragen zu einem wesentlichen Teil zum Charakter des Menschen bei. Dass sich das Individuum bestimmte unbewusste Formierungen bewusst machen und sie rational aufklären kann, sei an einem Beispiel dargelegt: Das Individuum XY ist von seinem Charakter her besonders ängstlich, und zwar aufgrund bestimmter Erfahrungen in der Kindheit. Stellen wir uns darüber hinaus vor, dass es aufgrund seiner Ängstlichkeit zu bestimmten Verhaltensweisen neigt, wie zum Beispiel in bestimmten Situationen zurückhaltend zu sein, nichts Neues zu wagen oder sich schnell zurückzuziehen. Das Individuum kann sich nach dem zuvor Gesagten seine Ängstlichkeit, die in bestimmten Situationen auftritt, bewusst machen und sich mit ihr auseinandersetzen. So ist durchaus vorstellbar, dass es etwa über die Gründe für seine Ängste nachdenkt und erkennt, dass sie auf bestimmten Erfahrungen in seiner Kindheit beruhen. Indem es dies erkannt hat, kann es sich des Weiteren zum Beispiel klar machen, dass seine Ängste in gegenwärtigen Situationen unberechtigt sind, und sich dazu ermutigen, forscher zu sein und durchaus mal etwas Neues zu wagen. Auch wenn Hegels Theorie des Unbewussten nicht so ausdifferenziert ist wie bei Freud und seinen Schülern, so sind doch bereits bei ihm Ansätze vorhanden, nach denen das Individuum auf Teile seines Unbewussten zugreifen und sie rational aufklären kann. In einer Hinsicht ist Dieter Sturma allerdings Recht zu geben: Das Unbewusste als Ganzes bleibt in seiner internen Struktur bei Hegel tatsächlich unaufgeklärt. Das Individuum kann immer nur auf Teilbereiche seines Unbewussten zugreifen und sie rational aufklären; niemals auf das Ganze. Denn erstens sind die Inhalte des Unbewussten zu umfangreich, als dass das Individuum sie sich alle ins Bewusstsein rufen könnte. Zweitens kann das Individuum auf manche Inhalte des Unbewussten zwar jederzeit zugreifen, indem es seine Aufmerksamkeit auf sie richtet, manche Inhalte aber hat es vergessen und erinnert sich nur durch zufällige Umstände an sie. Diese letztgenannten Inhalte entziehen sich dem gewollten Zugriff des Individuums. Drittens ist das Unbewusste bei Hegel – hierin besteht eine Parallele zu Freud – nur durch einen Akt der Anstrengung aufzuklären.290 Das Indivi290

Dass das Nachdenken Anstrengung kostet, sagt Hegel wortwörtlich in GW 25.2, 775.

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duum muss sich die Mühe machen, sich bestimmte Inhalte, die es in seinem Unbewussten aufbewahrt, ins Bewusstsein zu rufen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Diese Anstrengung wäre niemals für das Ganze zu leisten. Ein Unterschied zwischen Hegel und Freud besteht allerdings darin, dass bei Hegel das Individuum diese Anstrengung allein leisten kann. Bei Freud benötigt das Individuum zumindest für die Aufarbeitung verdrängter Inhalte der Hilfe eines Therapeuten.291 In dem Umstand, dass sich das Individuum bestimmte unbewusste Formierungen bewusst machen und sie rational aufklären kann, liegt meines Erachtens der Punkt, an dem Hegel über Leibniz’ Theorie des Unbewussten hinausgeht. Wie ich an früherer Stelle dargelegt habe, knüpft Hegel mit den immanenten Bestimmungen des Individuums, die in seinem Unbewussten aufbewahrt sind, an Leibniz an. Ihm zufolge hat die Monade, welche die Einheit unendlich vieler Perzeptionen ist, von den meisten Perzeptionen nur eine verworrene Erkenntnis, das heißt, sie sind ihr nicht bewusst. Zwar bedenkt Leibniz durchaus den Fall, dass die Monade ihre Aufmerksamkeit auf die ihr nicht bewussten Perzeptionen richten kann, wodurch sie sich in eine Apperzeption verwandeln, das heißt, die Monade hat dann ein Bewusstsein von ihnen.292 Aber er stellt keine Überlegungen dazu an, wie die Monade bestimmte Perzeptionen analytisch aufklären kann. Das liegt meines Erachtens daran, dass er die Monade – und hierin ist er in eine Traditionslinie mit Spinoza einzuordnen – nicht als Subjekt auffasst, er deren Selbstbezüglichkeit begrifflich also nicht einzuholen vermag. Dieser denkende Selbstbezug des Individuums, den Hegel unter dem Schlagwort „Subjektivität“ verhandelt, ist die Voraussetzung für die analytische Aufklärung unbewusster Formierungen. Er ist bei Leibniz zwar in seinen Anfängen in Form der Selbstaufmerksamkeit der Monade gedacht, aber letztlich erst bei Hegel expliziert.

5.2 Die Selbstkonstituierung des Individuums Es wurde dargelegt, dass das geistige Individuum zwar einen bestimmten Charakter hat, den es sich nicht ausgesucht hat, es aber – und hierin besteht die Tätigkeit des Geistes – grundsätzlich in der Lage ist, sich auf ihn zu beziehen und zu negieren, indem es über ihn nachdenkt. Diese Feststellung hat Konsequenzen für die Frage nach der Konstituierung von Individualität: Das Individuum ist in seinem Charakter nicht nur auf eine bestimmte Weise konstituiert, sondern es konstituiert sich selbst. Es bringt sich unentwegt selbst hervor, indem es sich bewusst gegen bestimmte auf seinen Charakter zurückzuführende Verhaltensweisen entscheidet und sich frei be-

291 Verdrängte Inhalte sind nach Freud seelische Vorstellungen im Unbewussten, die dort gewaltsam festgehalten werden. (Vgl. Stevenson – Haberman 2008, S. 199). 292 Vgl. dazu die zwar ältere, aber erstaunlich aktuelle und klare Studie zum Unbewussten bei Leibniz von Herbertz, Richard: Die Lehre vom Unbewussten im System des Leibniz. Halle 1905, S. 66.

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stimmt. Insofern kann der Geist als ein weiteres Individuationsprinzip bei Hegel angesehen werden.293 Indem sich das Individuum letzten Endes in der freien Selbstbestimmung selbst entwirft, deutet Hegel Individualität als Aufgabe. Das Individuum bestimmt selbst, wer es – trotz seiner Anlagen und der Widerfahrnissen des Lebens – ist. Es ist immer aufgefordert, auf sich und seine Motive in bestimmten Situationen zu reflektieren. Individualität besteht für Hegel somit schlussendlich in einem selbstbestimmten Gestaltungsprozess. In der Ansicht, dass sich das Individuum selbst hervorbringt, steht Hegel Johann Gottlieb Fichte nahe. Auch Fichte sieht in seinem System der Sittenlehre von 1798 die Individualität des Individuums – wie Hegel – in einem Akt der Selbstsetzung begründet. Fichte schreibt: „Wer bin denn ich eigentlich, d. i. was für ein Individuum? Und welches ist der Grund, daß ich der bin? Ich antworte: ich bin von dem Augenblicke an, da ich zum Bewußtsein gekommen, derjenige, zu welchem ich mich mit Freiheit mache, und bin es darum, weil ich mich dazu mache. Mein Sein, in jedem Momente meiner Existenz ist, wenn auch nicht seinen Bedingungen nach, doch seiner letzten Bestimmung nach, durch Freiheit. Durch dieses Sein ist hinwiederum die Möglichkeit meines Seins im künftigen Momente beschränkt, (weil ich im gegenwärtigen das bin, so kann ich im künftigen Momente einiges nicht sein;) aber welches unter allem noch möglichen im künftigen Momente ich wählen kann, hängt abermals ab von der Freiheit. Durch dieses alles aber wird meine Individualität bestimmt; durch dieses alles werde ich materialiter der, der ich bin.“294

Fichte und Hegel stimmen darin überein, dass sich das Individuum letztlich selbst konstituiert und diese Selbstkonstituierung ein Aktiv- bzw. Tätigwerden des Individuums voraussetzt.295 Allerdings tritt in dem aufgeführten Zitat zugleich ein entscheidender Unterschied zwischen Fichte und Hegel zutage. Für Fichte besteht die 293 Hegel bezeichnet sowohl die Seele als auch das Selbstbewusstsein als auch den Geist als „Begriff“. (GW 12, 12; GW 19, 91) Insofern kann in gewisser Weise der „Begriff“ als Individuationsprinzip bei Hegel angesehen werden. Diese Diagnose stimmt mit den Ergebnissen von Franz Ungler und Thomas Sören Hoffmann überein, die nach dem Individuationsprinzip in Hegels Wissenschaft der Logik fragen und schließlich den Begriff als das Individuelle bei Hegel ausmachen. (Vgl. Ungler 2017; Hoffman 1991) Hier wäre allerdings zu fragen, was Seele, Selbstbewusstsein und Geist als Begriff – vor allem auch im Unterschied zu anderen Begriffen wie etwa dem Gattungsbegriff – auszeichnen. Ein, wenn nicht der entscheidende Unterschied zu anderen Begriffen ist sicherlich, dass Seele, Selbstbewusstsein und Geist (in unterschiedlichen Graden) selbstbezüglich sind. Siehe für einen Überblick über den Begriff bei Hegel etwa Asmuth, Christoph: „Der Begriff des Begriffs.“ In: Archiv für Begriffsgeschichte (2014), S. 21 – 24. 294 Fichte, Johann Gottlieb: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Jena u. a. 1798, S. 295. 295 Vgl. Metz, Wilhelm: „Freiheit und Reflexion in Fichtes Sittenlehre von 1798.“ In: Asmuth, Christoph – Metz, Wilhelm (Hg.): Die Sittenlehre J.G. Fichtes 1798 – 1812. Amsterdam u. a. 2006, S. 23 – 35, hier S. 31. Zur Freiheit als Selbstbestimmung bei Fichte siehe auch Asmuth, Christoph: „Die Unfreiheit einer Stahlfeder. Fichtes Sittenlehre von 1798.“ In: Fichte-Studien 40 (2012b), S. 201 – 225.

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Selbstsetzung des Individuums darin, sich allein durch einen Entschluss von allem Vergangenen frei machen und einen schlechtweg neuen Anfang setzen zu können.296 In dieser Annahme steht Fichte in der Tradition Kants, für den transzendentale Freiheit darin besteht, eine Kausalreihe von selbst zu beginnen. Zwar kann das Individuum nach Fichte bedingt durch das Vergangene einiges nicht sein, doch es kann zwischen einer ganzen Reihe von Optionen wählen. Zu dem, was es gewählt hat, kann es sich allein durch einen Vorsatz oder Willensentschluss bestimmen. Ist es seinem Charakter nach etwa ängstlich – um bei unserem Beispiel von oben zu bleiben – reicht der Entschluss aus, um in einer zukünftigen Situation weniger ängstlich zu sein. Anders als für Fichte besteht für Hegel die Selbstsetzung des Individuums gerade nicht in einer kausalen Kraft bzw. darin, einen schlechtweg neuen Anfang zu setzen.297 Damit sich das Individuum anders verhalten kann, als es charakterlich disponiert ist, genügt kein Entschluss, sondern nur eine konkrete verneinende Bezugnahme auf sich bzw. seinen Charakter. Das Individuum ist nun mal bestimmt. Es hat eine Vergangenheit, die es nicht von sich abschütteln kann. Nur wenn es sich auf seine Bestimmungen bezieht, und das bedeutet auch, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen und seine Voraussetzungen einzuholen, kann es sich von ihnen befreien und in einem weiteren Schritt frei bestimmen. Während Hermann Drüe und in gewisser Weise auch Mario Wenning in Hegel als Menschendeuter keinen großen Optimisten sehen, weil er durch seinen Genius bzw. Charakter unausweichlich in seinem Verhalten determiniert sei, ist Hegel nach meiner Lesart ganz im Gegenteil ein großer Optimist und vor allem ein großer Verteidiger menschlicher Freiheit. Denn obwohl der Mensch einen bestimmten Charakter hat, der ihn zu bestimmten Verhaltensweisen disponiert, ist er auf ihn letztlich nicht festgelegt. Er kann sich durch negierende Bezugnahme auf seinen Charakter grundsätzlich von ihm befreien und sich zu einem anderen Verhalten entschließen, als er charakterlich geneigt war. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich der Mensch in jeder Situation erneut auf Aspekte seines Charakters bezieht, erneut innehält und über sie nachdenkt. Die Befreiung von bestimmten Aspekten des Charakters besteht nicht in einem einmaligen Akt, sondern in einem fortwährenden Aktivwerden des Individuums. Es muss sich seine Freiheit qua Selbstbestimmung in jeder Situation neu erarbeiten. Immer wieder muss es die Anstrengung auf sich nehmen, sich auf seine charakterlich bedingten Impulse zu beziehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um sie gegebenenfalls zu negieren. Kennzeichnend für Hegels Freiheitsbegriff qua Selbstbestimmung ist, dass sich die Freiheit des Individuums erst darin erweist, unmittelbar bestimmt zu sein, sich von diesen Bestimmungen – wie etwa dem „naturgegebenen“ Charakter – aber durch 296

Vgl. dazu Senigaglia, Cristiana: „Kausalität und Wirksamkeit in Fichtes Sittenlehre.“ In: Asmuth, Christoph – Metz, Wilhelm (Hg.): Die Sittenlehre J.G. Fichtes 1798 – 1812. Amsterdam u. a. 2006, S. 189 – 203, hier S. 195. 297 Vgl. Khurana 2017, S. 283.

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eine konkrete verneinende Bezugnahme frei machen zu können. Die Unmittelbarkeit bildet somit die Kontrastfolie des Geistes, auf der er sich überhaupt erst seine Freiheit beweist. Der Geist affirmiert sich als sich selbst, indem er sich negierend auf seine unmittelbaren Bestimmungen bezieht. Die „Philosophie des subjektiven Geistes“ ist in diesem Sinne als die Verwirklichung des Geistes zu lesen: Während es in der Anthropologie um die Bestimmungen der Seele geht, die dem Individuum von Natur aus mitgegeben sind oder die ihm im Laufe seines Lebens zufallen und somit weitestgehend kontingent sind, zeigt Hegel in der Psychologie auf, wie der Geist seine Kontingenz letztlich in den Griff bekommt und sich frei bestimmt. An die Feststellung, dass das Individuum in seinem Charakter nicht festgelegt ist, sondern sich in der freien Selbstbestimmung selbst hervorbringt, schließt Hegel einen weiteren Gedanken an. Er legt in der Anthropologie dar, dass der Mensch nur nach Maßgabe seiner Taten und Handlungen zu beurteilen sei.298 Nur von ihnen lasse sich auf den Charakter des Menschen zurückschließen; darauf, wer jemand wirklich sei.299 Es ist zu lesen: „wodurch sich der Mensch zu erkennen gibt, das sind seine Handlungen, er ist nicht inwendig ein andrer, als seine Thaten. Was seine Thaten sind, das ist er wirklich.“300 Den Gedanken, dass der Mensch nur nach Maßgabe seiner Taten zu beurteilen sei, entwickelt Hegel in kritischer Auseinandersetzung mit der Physiognomik von Johann Caspar Lavater, die zu seinen Lebzeiten ein enormes Interesse erfuhr.301 Lavater war der Überzeugung, dass von der äußeren Erscheinung eines Menschen, insbesondere seinen Gesichtszügen, auf seine moralische Gesinnung zurückgeschlossen werden könne. Hegel kritisiert an der Physiognomik scharf, dass über den Menschen allein aufgrund seines Äußeren geurteilt werde – und eben nicht aufgrund seiner Handlungen, die allein zählen. Sein Hauptargument gegen den Anspruch der Physiognomik lautet, dass – sogar wenn ein Mensch bestimmte äußere Merkmale hätte, die auf einen schlechten Charakter zurückschließen ließen – dieser Mensch grundsätzlich in der Lage wäre, sich anders zu bestimmen, als er charakterlich bestimmt ist. In einer seiner Vorlesungen zum subjektiven Geist trägt Hegel diesbezüglich vor: „Das Geistige ist unabhängig für sich und auch von seiner Naturanlage und deren natürlichen Ausdruck, der Geist kann sie überwinden, die Ausdrücke, Züge können bleiben und der Geist ein anderer werden als der den sie 298

aus. 299

Den Unterschied zwischen einer Tat und einer Handlung führt Hegel u. a. in Enz3 § 405

Vgl. GW 25.2, 743. Ebd., 743. 301 Siehe dazu Labouvie, Eva: „Individuelle Körper: Zur Selbstwahrnehmung ,mit Haut und Haar‘.“ In: von Dülmen, Richard (Hg.): Entdeckung des Ich: Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln u. a. 2001, S. 163 – 195, hier S. 172. Lavater legt seine Physiognomik in seinem Hauptwerk Physiognomische Fragmente zur Förderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (Leipzig 1775 – 1778) dar. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der Physiognomik Lavaters in der Enzyklopädie und Phänomenologie des Geistes von 1817 siehe u. a. Inwood, Michael: „Hegel’s Critique of Physiognomy and Phrenology.“ In: Herrmann-Sinai, Susanne – Ziglioli, Lucia (Hg.): Hegel’s Philosophical Psychology. New York u. a. 2016, S. 3 – 20. 300

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bezeichnen.“302 Anders als Hegel ist Lavater der Überzeugung, dass der Mensch zwar einen gewissen Spielraum habe, sich von seinem Charakter zu distanzieren, gänzlich ändern könne er ihn aber nicht. Er stellt in seinem Hauptwerk, den Physiognomischen Fragmenten fest: „Jedes Menschen Physiognomie und Charakter kann sich erstaunlich verändern; aber doch nur auf eine so und so bestimmte Weise. […] Aber er kann nur den Samen säen, den er empfing, und nur den Boden bauen, auf den er hingestellt ist.“303 Der große Unterschied zwischen Lavaters und Hegels Menschenbild besteht darin, dass der Mensch Lavater zufolge bestimmte Naturanlagen hat, die sein Verhalten gegenwärtig und zukünftig bestimmen. Er hat kaum eine Möglichkeit, sich von ihnen zu befreien. Nach Hegel ist der Mensch hingegen – aufgrund dessen, dass er Geist ist – grundsätzlich in der Lage, sich von seinem Charakter zu distanzieren. Den Gedanken, dass der Mensch ausschließlich aufgrund seiner Handlungen zu beurteilen sei, führt Hegel nicht nur in der Anthropologie in Auseinandersetzung mit der Physiognomik Lavaters aus, sondern auch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, wenn er schreibt, dass das Individuum „die Reihe seiner Handlungen“ sei. Er fährt fort: „Sind diese eine Reihe wertloser Produktionen, so ist die Subjektivität des Wollens eben so eine wertlose; ist dagegen die Reihe seiner Taten substantieller Natur, so ist es auch der innere Wille des Individuums.“304 Er unterscheidet in diesem Zitat zwischen wertlosen und wertvollen Handlungen des Individuums, wobei sich fragt, wonach sich bestimmt, was als eine wertlose und was als eine wertvolle Handlung gelten kann. Der Bezugsrahmen, in dem sich dies bestimmt, ist für Hegel der Staat, in dem sittliche und rechtliche Verhältnisse und Wertmaßstäbe herrschen. In der vorangegangenen Untersuchung wurde immer wieder betont, dass das Individuum nach Hegel niemals isoliert betrachtet werden kann, sondern immer nur innerhalb der objektiven, das heißt sittlichen und rechtlichen Verhältnisse, in die es eingebettet ist. Nach diesen sittlichen und rechtlichen Wertmaßstäben wird entschieden, ob eine Handlung rechtmäßig oder unrechtmäßig, moralisch oder unmoralisch, gut oder böse usf. ist. Rechtmäßig und gut sind dabei – ganz pauschal formuliert – diejenigen Handlungen, durch die das Individuum nicht versucht, seine rein subjektiven, privaten Zwecke zu verwirklichen, sondern die sowohl ihm als auch der Allgemeinheit dienen. Hegel geht davon aus, dass in einem vernünftig eingerichteten Staat Allgemein- und Individualwohl auf eine bestimmte Weise miteinander vermittelt sind. Das Individuum sieht ein, dass das, was dem Allgemeinwohl dient, letztlich auch ihm dient.305 Es hält die objektiven Verhältnisse für gut und findet Befriedigung darin, ihnen angemessen zu handeln.306 Auf die von Hegel angenommene Vermittlung von Individual- und Allgemeinwohl im Staat werde ich später 302

GW 25.1, 411. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Eine Auswahl. Stuttgart 2004, S. 311. 304 GPhR § 124. 305 Vgl. GPhR § 134. 306 Vgl. ebd. § 124. 303

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genauer eingehen (in Kapitel II. 3.2). Festzuhalten ist für uns an dieser Stelle vor allem die sittliche Relevanz von Individualität: Für Hegel ist das Individuum letztlich nach Maßgabe seiner Handlungen zu bewerten, die im Rahmen sittlicher und rechtlicher Verhältnisse als gut oder schlecht, moralisch oder unmoralisch, als rechtmäßig oder unrechtmäßig etc. eingestuft werden.

5.3 Der freie Wille als Voraussetzung des objektiven Geistes Die Frage, ob das Individuum durch seinen Charakter alternativlos in seinem Verhalten und seinen Entscheidungen determiniert ist oder ob es sich selbst in seinem Willen bestimmen kann, berührt das klassische Problem von Determinismus und Willensfreiheit. Obwohl gezeigt wurde, dass Hegel dieses Problem in der „Philosophie des subjektiven Geistes“ thematisiert, und zwar hinsichtlich des den Menschen scheinbar in seinem Verhalten determinierenden Charakters, wird von Michael Quante die Ansicht vertreten, dass er diese klassische Fragestellung völlig ignoriere.307 Diese Ansicht ist nur so zu erklären, dass er Hegels Ausführungen zu dem Problem von Determinismus und Willensfreiheit in der subjektiven Geistphilosophie übersieht. Dabei deutet Hegel in der Einleitung seiner Geistphilosophie an, dass er dieses Problem in der subjektiven Geistphilosophie zu beantworten versucht: „Noch mehr aber führen die Gegensätze, die sich sogleich darbieten, von der Freiheit des Geistes und von dem Determiniertwerden desselben […] auf das Bedürfnis, hier zu begreifen.“308 Es wurde gezeigt, dass Hegel bezüglich der Frage, ob das Individuum durch seinen Charakter unausweichlich in seinem Verhalten determiniert wird oder sich seinen Willen frei bilden kann, Kompatibilist ist. Er ist der Überzeugung, dass Determiniertheit und Willensfreiheit miteinander vereinbar sind. Zwar hat jeder Mensch einen bestimmten Charakter, der ihn zu einem bestimmten Verhalten disponiert, doch er ist grundsätzlich in der Lage, sich auf seinen Charakter zu beziehen, über ihn nachzudenken und zu dem Ergebnis zu kommen, dass es aus welchen Gründen auch immer besser wäre, sich anders zu bestimmen, als er durch seinen Charakter bestimmt ist. Dass sich Hegel nicht für das klassische Problem von Determinismus und Willensfreiheit interessiere, begründet Quante damit, dass ihm ein ganz anderer Freiheitsbegriff zugrunde liege, als er klassischerweise in der Philosophie auftritt. Quante 307 Vgl. Quante 2011, S. 27; vgl. auch ders.: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Individuelle Freiheit und sittliche Gemeinschaft.“ In: Beckermann, Ansgar (Hg.): Klassiker der Philosophie heute. Stuttgart 2004, S. 437 – 456, hier S. 442. Anderer Auffassung ist Caspers, Britta: „Schuld“ im Kontext der Handlungslehre Hegels. Hamburg 2012, S. 25. Sie schreibt, dass Hegel nach einer „Möglichkeit der Vermittlung zwischen Freiheit und Determination als der wahren Auffassung der Freiheit des menschlichen Willens“ suche. 308 Enz3 § 379.

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

sieht „das entscheidende Moment“ der Freiheit bei Hegel darin, „dass der Wille seinen vernünftigen Inhalt in der Form von sozialen Institutionen und darin anerkannten Ansprüchen von Subjekten, das heißt als eine normativ strukturierte soziale Welt hervorbringt“.309 Quante ist darin zuzustimmen, dass – um es in eigene Worte zu fassen – die Freiheit des Individuums Hegel zufolge nur in einem vernünftig eingerichteten Staat, das heißt in sittlichen und rechtlichen Verhältnissen realisiert ist. Denn nur in ihnen ist die Freiheit aller gleichermaßen gewährleistet, und zwar dadurch, dass die Freiheit des Einzelnen soweit eingeschränkt wird, als sie nicht die Freiheit aller anderen beschränkt. Das Individuum, das einsieht, dass seine Freiheit nur in solchen Verhältnissen realisiert ist, und nach dieser Einsicht handelt, ist frei. (Michael Quante betont in dem oben aufgeführten Zitat richtig, dass die selbstbewussten Individuen die objektiven Strukturen selbst hervorbringen. Dieser Aspekt spielt für meine Argumentation aber keine Rolle, weshalb ich nicht weiter darauf eingehen werde.) Diesen Freiheitsbegriff entfaltet Hegel vor allem in der „Philosophie des objektiven Geistes“, die systematisch gesehen auf die subjektive Geistphilosophie folgt. Zwar führt Quante an verschiedenen Stellen aus, dass Hegel den freien Willen des selbstbewussten Individuums in der „Philosophie des subjektiven Geistes“ thematisiere und dieser „Prinzip“ seines eigentlichen Freiheitsbegriff sei. Aber ihm zufolge erörtert Hegel den freien Willen nicht – wie er es selbst ausdrückt – im theoretischen Rahmen des Problems von Determinismus und Willensfreiheit.310 Zu diesem Ergebnis kommt Quante meines Erachtens aus folgendem Grund: Er scheint implizit der Ansicht zu sein, dass sich das selbstbewusste Individuum seinen Willen in jeder Situation frei bilden kann, und zwar unabhängig von allen seinen Naturdispositionen. Das ist bei Hegel aber gerade nicht der Fall. Das Individuum hat bestimmte Dispositionen, wie zum Beispiel bestimmte Empfindungen, Triebe, Neigungen und einen bestimmten „naturgegebenen“ Charakter. Diese disponieren es zu bestimmten Entscheidungen und Verhaltensweisen. Frei ist es nur, wenn es sich in seinem Verhalten nicht blind von seinen Dispositionen lenken lässt, sondern innehält und sie reflektiert. Nur auf diese Weise kann es sich von ihnen befreien und sich letztlich selbst bestimmen, und das heißt, sich einen freien Willensinhalt geben. Das Individuum muss für seine Freiheit folglich in jeder Situation erneut etwas tun. Jedes Mal wieder muss es die Anstrengung auf sich nehmen, sich seine verschiedenen Dispositionen bewusst zu machen, über sie nachzudenken und ggf. zu negieren. Erst durch diese konkrete verneinende Bezugnahme auf die eigenen Dispositionen stellt sich der Geist überhaupt als das her, was er ist, nämlich als frei. Das Problem von Determinismus und Willensfreiheit bildet also gerade den Rahmen, in dem Hegel den freien Willen des selbstbewussten Individuums thematisiert. 309

Quante 2011, S. 28. „Das Prinzip von Hegels praktischer Philosophie ist der ,freie Wille‘, der sich am Ende des Systemteils ,Subjektiver Geist‘ als ,Einheit des theoretischen und praktischen Geistes‘ herausgestellt hat und damit eine regionale Gestalt des Grundprinzips absoluter Subjektivität ist“. (Quante 2004, S. 448). 310

5. Determinismus und Willensfreiheit

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Hegel hat erkannt, dass die Willensfreiheit der Individuen eine unabdingbare Voraussetzung seines eigentlichen Freiheitsbegriffes ist und ihn in seiner subjektiven Geistphilosophie berücksichtigt. Ein Staat mit konstitutionellem Recht setzt Individuen voraus, deren Dispositionen sich nicht mit naturkausaler Notwendigkeit in Verhalten umsetzen, sondern die sich ihren Willen frei bilden können. Nur von ihnen kann erwartet werden, zu erkennen, was „rechtlich oder unrechtlich, gut oder böse, gesetzlich oder ungesetzlich“, kurz: was vernünftig oder unvernünftig ist, und nach dieser Erkenntnis zu handeln, auch wenn sie von „Natur“ aus zu einem völlig anderen Verhalten tendieren.311 Eine notwendige Vorbedingung von Gesetzen und Regeln ist, dass sich die Individuen, für die sie gelten, grundsätzlich anders verhalten können, als sie im Moment der Tat aufgrund natürlicher Dispositionen geneigt sind. Sie müssen sich beherrschen können, sei es aus Angst vor gesellschaftlicher Sanktion oder Strafe oder idealerweise aus Einsicht in Recht und Unrecht. Dabei mag es durchaus so sein, dass es dem einen schwerer fällt, sich rechtstreu zu verhalten als dem anderen.312 Einem Menschen etwa, der aufgrund seines Charakters zu gewalttätigem Verhalten neigt, fällt es schwerer auf eine Provokation gelassen zu reagieren als einem sanftmütigen Menschen. Handlungen und Unterlassungen fallen jedem unterschiedlich schwer – je nach charakterlicher Disposition. Nichtsdestotrotz wird im Staat grundsätzlich von jedem erwartet, sich an Recht und Gesetz zu halten, unabhängig seiner charakterlichen oder weiter gefasst natürlichen Dispositionen. Hält er sich nicht an Recht und Gesetz, wird er durch den Staat für seine ihm zugerechneten Handlungen und Unterlassungen zur rechtlichen Verantwortung gezogen.313 Wäre der Mensch hingegen unausweichlich in seinem Verhalten durch seinen Charakter festgelegt, das heißt, hätte er ein bestimmtes Verhalten nicht unterlassen können, weil er nun mal einen solchen Charakter hat, wäre er gar nicht erst schuldfähig. Es würde keinen Sinn machen, ihn für sein Verhalten rechtlich zu belangen. Jegliches Fehlverhalten wäre entschuldigt. Man müsste dann sagen: Er kann nichts dafür, er hat nun mal einen solchen Charakter. Dass der Mensch aufgrund seines freien Willens für sein Verhalten in vollem Umfange verantwortlich ist, erwähnt Hegel in seiner Vorlesung zum subjektiven Geist von 1827/28: „Die Schuld des Menschen wird also nicht von ihm abgewälzt, wenn er sagt, ich habe diesen Trieb, diese Leidenschaft einmal – ich kann nicht anders; er ist Denkendes, Intelligenz, er hätte ja anders wählen können.“314 Hegel zufolge ist die Schuldfähigkeit etwas, das dem Menschen zur Ehre gereicht: „Ein höherer Standpunkt dagegen ist: den Menschen für schuldig zu machen, wie die alten Tragiker […] Es ist eben das Hohe, daß dem Menschen 311

GPhR § 132; vgl. Keil 2009, S. 94. Auch Jakub Kloc-Konkolovic betont, dass die Freiheit des Selbstbewusstseins – Hegel zufolge – das Prinzip der modernen Welt sei. (Vgl. Kloc-Konkolovic, Jakub: „Holismus und Perspektivismus in Hegels Auffassung der Willensfreiheit.“ In: Contrastes 19 (2014), 3, S. 75 – 94, hier S. 80). 312 Vgl. Keil 2009, S. 105. 313 Hegel unterscheidet zwischen Vorsatz und Absicht. Dem Individuum kann nur das zugeschrieben werden, was in seiner Absicht, nicht aber was in anderen Umständen lag. (Vgl. GPhR §§ 117, 118). 314 GW 25.2, 908.

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

etwas zugerechnet werden kann.“315 Schuldfähig ist der Mensch eben aufgrund dessen, dass er denken und sich seinen Willen frei bilden kann. Anders die Tiere: Was sie tun, tun sie instinktiv. Sie können nicht auf ihr instinktives Tun reflektieren und sich anders bestimmen. Deswegen sind sie auch nicht wie die Menschen schuldfähig. Hegel bedenkt den Fall, dass Kinder sowie Menschen mit starken geistigen Beeinträchtigungen oder Geisteskrankheiten nicht voll schuldfähig sind, da von ihnen aufgrund der fehlenden „Ehre“, „ein Denkendes und ein Wille zu sein“, nicht erwartet werden könne, zu erkennen, was recht und was unrecht ist.316 Hegel ist hier erstens so zu verstehen, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass Kinder und Menschen mit starker geistiger Beeinträchtigung ihr Tun nach Maßgabe der gesellschaftlichen Regeln beurteilen können, das heißt, ob es vernünftig (sprich gut oder böse, rechtmäßig oder unrechtmäßig) ist, und zweitens, dass sie nicht einschätzen können, welche Folgen ihre Taten haben werden.317 Was ihnen letztlich fehlt, ist eine geistige Fähigkeit. Sie ist die Bedingung dafür, dass jemand nicht blind seinen Dispositionen folgt. Weil ihnen diese Fähigkeit fehlt, können sie für ihr Tun auch nicht in vollem Umfang zur Rechenschaft gezogen werden. Auf die vernünftige Selbstbestimmung des geistigen Individuums werde ich später (in Kapitel II. 3.2) näher eingehen. Für unsere Zusammenhänge gilt soweit festzuhalten: Die Freiheit selbstbewusster Individuen besteht auf einer ersten Stufe darin, dass sie bestimmte Dispositionen haben, die sie zu bestimmten Entscheidungen und Verhaltensweisen veranlassen, sich von diesen durch konkrete negierende Bezugnahme aber befreien können. Diese Dispositionen sind also unabdingbare Voraussetzung von Hegels Geist- und somit auch Freiheitsbegriff. Der Geist benötigt etwas, an dem er sich reibt. Er benötigt ein Hindernis, das er überwinden muss, um sich als frei zu erweisen. Ohne seine natürlichen Dispositionen könnte sich der Geist gar nicht erst herstellen.

6. Die Unfassbarkeit des Individuums In der gegenwärtigen Forschung ist schließlich die Annahme prävalent, Hegel versuche das Individuum gänzlich aus dem Begriff abzuleiten.318 Diese Ansicht 315

Ebd. GPhR § 120. 317 Vgl. Caspers 2012, S. 241. 318 Anderer Auffassung ist Dieter Henrich. Ihm zufolge beanspruche Hegel nicht, alles Individuelle deduzieren zu können. Henrich führt die Unfassbarkeit des Individuums auf Hegels Begriff des absoluten Zufalls zurück, den dieser in der Wissenschaft der Logik entwickle. Hegels Begriff des absoluten Zufalls besage „die Zufälligkeit von bestimmtem, innerweltlich Seienden“. (Henrich 1967, S. 159) Das innerweltlich Seiende unterliege bei Hegel durchaus der Zufälligkeit, auch wenn er „die Notwendigkeit des Ganzen des Seienden“ aufzuzeigen versuche. (Ebd.). 316

6. Die Unfassbarkeit des Individuums

111

vertreten – um nur einige Namen zu nennen – Manfred Frank, Christa Hackenesch, Hermann Schmitz, Burkhard Tuschling, Jürgen Habermas und Birgit Sandkaulen. Manfred Frank zufolge verfolgt Hegel das Ziel, das Individuum vollständig aus dem Allgemeinen zu deduzieren.319 Hermann Schmitz versucht zwar im Hinblick auf die dreibändige Wissenschaft der Logik auf der einen Seite zu zeigen, dass Hegels Denken durch das Ringen um Anerkennung und Bewahrung der Individualität entscheidend bestimmt sei. Auf der anderen Seite aber sieht er bei Hegel den Versuch, das Individuelle als solches durch das logische Denken vollständig zu erfassen und auszudrücken. Er bezeichnet Hegels Philosophie deswegen als einen groß angelegten Versuch der Widerlegung des Satzes „individuum est ineffabile“.320 Jürgen Habermas kommt zu dem Pauschalurteil, dass bei Hegel der Begriff der Subjektivität durchweg rational bestimmt sei und erst die Nachhegelianer den Aspekt der Kontingenz und Existenz eingeklagt hätten.321 Auf die subjektive Geistphilosophie beziehen sich Christa Hackenesch, Burkhard Tuschling und Birgit Sandkaulen. Christa Hackenesch spricht bei Hegel von einer „absoluten Identität von Individuum und Allgemeinem“.322 Sie fährt fort, dass Hegel keine Individualität anerkenne, die sich außerhalb des kategorialen Raumes zu behaupten sucht. Burkhard Tuschling schreibt: „Hegel teilt die folgenden […] Annahmen einer Philosophie der absoluten Subjektivität. […] Durchgängige Bestimmtheit des Begriffs und durch den Begriff ist für alle bestimmte Individualität und Wirklichkeit konstitutiv: alles, was existiert, ist durchgängig bestimmter Begriff oder als Bestimmung zu einem solchen Begriff gehörig.“323 Auch Birgit Sandkaulen konstatiert, dass das Individuum bei Hegel letzten Endes begrifflich fassbar sei. Sie resümiert: „Im Ausgangs- und Fluchtpunkt seines Unternehmens sorgt Hegel so dafür, daß das Individuum […] faßlich wird.“324 Entgegen dieser in der Forschung prävalenten Annahme einer absoluten Identität von Individuum und Begriff möchte ich im Folgenden drei Argumente anführen, die zeigen, dass sich – zumindest der subjektiven Geistphilosophie nach – das Individuum bei Hegel einer vollständigen begrifflichen Bestimmung entzieht. Individuum und Begriff sind nicht vollständig miteinander vermittelt, sondern es bleibt – und das hat Hegel intendiert – immer ein dem begrifflichen Erkennen unverfügbarer Rest bestehen. Diese drei Argumente ergeben sich aus der vorhergehenden Untersuchung über die Konstituierung menschlicher Individualität. Das erste Argument bezieht sich auf das Unbewusste des Individuums, auf das ein Außenstehender nicht zugreifen kann. Sogar dem Individuum selbst entzieht es sich in seinem vollen Umfange. Das zweite Argument verweist auf die unvertretbare Ich-Perspektive des 319

Vgl. Frank 1986, S. 18. Schmitz 1957, S. 166. 321 Vgl. Habermas 1988, S. 13, 27. 322 Hackenesch 2002, S. 42. 323 Tuschling 1991, S. 546, 549. 324 Sandkaulen 2012, S. 177 f. 320

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Individuums. Sie ist von keinem Dritten einzunehmen und versperrt sich jeglichem diskursiven Zugang. Das dritte Argument schließlich unterstreicht die Prozesshaftigkeit von Individualität. Das Individuum ist nach Hegel immer im Werden, so dass niemals endgültig gesagt werden kann, wer es ist. Es entzieht sich schon auf diese Weise jeglicher Fixierung durch den Begriff.

6.1 Die unverfügbare Innenwelt des Individuums Fassen wir noch einmal zusammen, worin die Einzigartigkeit des menschlichen Individuums Hegel zufolge auf einer ersten Ebene besteht: Wie gezeigt beruht sie auf den qualitativen sowie immanenten Bestimmungen der Seele. Während unter die qualitativen Bestimmungen der Seele die sogenannten natürlichen Qualitäten und die Gewohnheiten fallen, versteht Hegel unter den immanenten Bestimmungen letztlich alle Empfindungen, Vorstellungen, Kenntnisse und Gedanken, generell die Erfahrungen und überhaupt alle Verhältnisse, in denen das Individuum steht. Diese immanenten Bestimmungen werden in der Seele aufbewahrt, ohne dass sie dem Individuum jederzeit präsent sind, etwa weil es momentan nicht an sie denkt oder sie vergessen hat. Wir können davon ausgehen, dass zwar viele dieser qualitativen sowie immanenten Bestimmungen des Individuums von einem Beobachter und mehr noch ihm selbst erkannt werden können, viele aber auch nicht. So kann ein Außenstehender etwa das Äußere eines Menschen inklusive seiner Körperhaltung und seines Ganges aufmerksam betrachten und zu beschreiben versuchen. Er kann dessen Verhalten beobachten und davon wiederum auf dessen Temperament, Naturell, bestimmte Charaktereigenschaften, auf dessen Talente und Gewohnheiten schließen. Er kann ihn im Leben begleitet haben und dadurch mehr oder weniger wissen, woher er kommt, was er im Leben erfahren hat und welche Schicksalsschläge ihn ereilt haben. Auch kann er mit ihm sprechen und von ihm erfahren, was aktuell in ihm vorgeht. Doch Hegel geht davon aus, dass es sich dabei immer nur um einzelne Ausschnitte dessen handelt, was ihn in seiner Einzigartigkeit auszeichnet. Unzählig viele andere Bestimmungen, die ihn in seiner Einzigartigkeit konstituieren, entziehen sich ihm, vor allem diejenigen Bestimmungen, die in dessen Seele „bewußtlos“ aufbewahrt sind und an die es sich selbst nicht erinnern kann. So betont Hegel in einer seiner Vorlesungen zum subjektiven Geist: „Wenn von einem Menschen eine Charakterschilderung gemacht wird, so drückt man sich in allgemeinen Praedikaten aus, man samlet die empirischen Einzelnheiten seiner Handlungen, seiner Denk, Betrachtungsweise pp seiner Art zu sein, in allgemeinen Bestimmungen, diese allgemeinen Bestimmungen sind nun bei den menschlichen Individuen nicht nur äusserlich, Aggregate. Hier ist das einfache Produkt nicht ein Aggregat, sondern die Seele

6. Die Unfassbarkeit des Individuums

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selbst ist das Einfache und enthält die Bestimmungen […] auf diese einfache, allgemeine Weise.“325

Das Individuum ist als die Einheit unzählig vieler qualitativer, vor allem aber immanenter Bestimmungen eine Welt in sich. Wollte ein Außenstehender das Individuum in Gänze erfassen, müsste er eine ganze Welt kognitiv erfassen können, was ihm aber nicht möglich ist.326 Weil viele der Bestimmungen „bewußtlos“ in der Seele aufbewahrt sind, ist sich das Individuum zudem selbst nicht transparent, wie einer Bemerkung Hegels zu entnehmen ist: „Ich bin dieß und auf einfache substantielle Weise, so zu sagen bewußtlos, im Bewußtsein kommen immer nur einzelne Seiten vor.“327 Zwar kann das Individuum grundsätzlich schon auf sein Unbewusstes zugreifen – dafür habe ich zumindest an vorheriger Stelle im Zusammenhang des Charakters argumentiert. Es kann sich bestimmte charakterliche Eigenheiten, die auf unbewussten Formierungen beruhen, bewusst machen, doch in seiner Gänze entzieht sich das Unbewusste dem Individuum. So betont Hegel, dass dem Individuum selbst immer nur einzelne Aspekte seines Charakters bekannt seien, und zwar diejenigen, die in bestimmten Situationen im Leben zutage treten. Erst mit der Zeit lerne sich das Individuum in den verschiedenen Situationen besser kennen: „Der Mensch täuscht sich tausend mal über das was er wahrhaft ist, er traut sich besondere Anlagen zu und wenn ihm endlich dafür Gelegenheit geboten wird so findet er sich anders, 325

GW 25.1, 312. Hegel würde der heutigen empirisch verfahrenden Persönlichkeitspsychologie vermutlich skeptisch gegenüberstehen. Sie befasst sich mit der Frage, was die Persönlichkeit des Menschen ausmacht. Dafür erfragt sie die Charaktereigenschaften eines Individuums auf empirischem Wege: Das infrage stehende Individuum, dessen Angehörige und Freunde werden in Fragebögen und Interviews gebeten, es hinsichtlich vorgegebener Persönlichkeitsmerkmale (wie zum Beispiel Gewissenhaftigkeit, Offenheit, subjektivem Wohlbefinden, Intelligenz, Originalität, Kreativität etc.) einzuschätzen, wobei sie zwischen 1 (sehr wenig) und 6 (sehr stark) wählen können. Wird ein Individuum also zum Beispiel als sehr offen wahrgenommen, wäre 6 auszuwählen. (Siehe etwa Specht, Jule: Charakterfrage: Wer wir sind und wie wir uns verändern. Reinbek bei Hamburg 2018; Montag, Christian: Persönlichkeit: Auf der Suche nach unserer Individualität. Heidelberg 2016) Hegels Kritik an dem Verfahren, die Persönlichkeit eines Individuums zu quantifizieren, würde wahrscheinlich lauten, dass die individuellen Differenzen zwischen den Individuen dadurch, dass sie in eine sechsstufige Bewertungsskala eingeordnet werden sollen, gerade nicht erfasst, sondern eingeebnet würden. Die Persönlichkeit verlöre dabei gerade ihre individuellen Nuancen. Siehe dazu etwa Hegels Überlegungen zum beweglichen freien Denken gegenüber der Verwendung von Zahlen, durch die individuelle Bestimmungen im Zuge der Formalisierung gerade verloren gehen: „[…] ehe das Denken selbst als dieses Element faßt und für seine Darstellung den rein geistigen Ausdruck gewinnt, die Zahl, diese innerliche, abstrakte Äußerlichkeit zu wählen. […] Die Gedanken, das Lebendigste, Beweglichste, nur im Beziehen Begriffene, werden in diesem Elemente des Außersichseins zu toten, bewegungslosen Bestimmungen. Je reicher an Bestimmtheit und Beziehung die Gedanken werden, desto verworrener einerseits und desto willkürlicher und sinnleerer andererseits wird ihre Darstellung in Zahlen.“ (GW 11, 129 – 130). 327 GW 25.1, 306 f. 326

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

insofern sein Inneres ein bestimmtes ist und also die Bestimmtheit seiner Individualität ihn leitet und er sich so kennt, vielleicht auch nicht kennt. Erst die Erfahrung des Lebens giebt ihm eine wahre Ansicht über seine frühere Meinung von sich selbst, über das was er in der That ist.“328

Insofern die meisten Bestimmungen, die das Individuum in seiner Einzigartigkeit auszeichnen, bewusstlos in der Seele aufbewahrt sind, können sie folglich weder von einem Außenstehenden noch vom Individuum selbst kognitiv erfasst oder diskursiv expliziert werden. Statt in einem Wissen scheint Individualität für Hegel vielmehr in einem praktischen Vollzug zu bestehen: Das Individuum wird in ein bestimmtes Setting hineingeboren, das es nachhaltig prägt, es entwickelt Gewohnheiten und macht Erfahrungen, die es auszeichnen, es begegnet anderen Menschen und trifft selbstbestimmte Entscheidungen – kurz: es lebt. In diesem Vollzug lernt sich das Individuum selbst immer besser kennen, auch wenn es sich selbst niemals vollständig einzuschätzen oder zu erfassen vermag. Es bleibt sich in seiner Gänze selbst unbegreiflich.

6.2 Die exklusive Ich-Perspektive Ein weiteres Argument, warum das Individuum bei Hegel als begrifflich unzugänglich gelten kann, hat Birgit Sandkaulen herausgearbeitet. Dieses Argument bezieht sich auf das Selbstgefühl des Individuums, das Hegel der Seele zuschreibt und folglich in der Anthropologie thematisiert. Dort zeigt er auf, dass die Seele ein ganzheitliches Gefühl von sich selbst hat, wobei dieses Gefühl in der Weise näher zu beschreiben ist, dass es sich für sie auf eine bestimmte Weise anfühlt, sie selbst zu sein. Das Selbstgefühl besteht somit in einer inneren Erfahrung, dem Gefühl von mir als Ich. Die Seele steht im Selbstgefühl in einem Selbstverhältnis. Sie bezieht sich fühlend auf sich und eignet sich dabei sich selber an. Sehr eindrücklich bringt Hegel die Verbindung von Selbstgefühl und Individualität in seiner Vorlesung zum subjektiven Geist zum Ausdruck. Er formuliert: „Es wird empfunden, daß ich dieser bin, meine unmittelbare Einzelheit wird empfunden. Ich mache mich darin zu einem Bestimmten, mein Fu¨ r sich sein wird dadurch fu¨ r mich. Ich bin Individuum, das ist aber noch sehr wenig; denn auch jeder Stein ist Individuum; das Lebendige aber setzt sich auch als Individuum. Es macht sich zum Unmittelbaren, und diese Unmittelbarkeit ist vom Individuum selbst gesetzt, und ist auch das Innerlichste. Das Innerlichste ist innerste Einheit mit mir selbst.“329

Nach Hegel befindet sich das Individuum im Selbstgefühl in der „innersten Einheit“ mit sich selbst. Sich selbst zu fühlen, ist etwas Innerliches, ja das Innerlichste überhaupt. In diesem Sinne schreibt Hegel in der Anthropologie, dass die

328 329

Ebd., 312 f. GW 25.1, 88.

6. Die Unfassbarkeit des Individuums

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Seele im Selbstgefühl „innerliche Individualität“ sei.330 Niemand anderes kann fühlen oder wissen, wie es sich anfühlt, man selbst zu sein. Sandkaulen betont dementsprechend mit Recht, dass das Selbstgefühl in einer exklusiven Perspektive des Individuums besteht, einer Innenperspektive, die von keinem Beobachterstandpunkt aus eingenommen werden kann.331 Jeder anderen Perspektive bleibt das Gefühl, wie es ist, man selbst zu sein, verborgen. Obwohl Birgit Sandkaulen betont, dass das Selbstgefühl für Hegel in einer exklusiven, das heißt durch niemand anderen einnehmbaren Perspektive des Individuums besteht, kommt sie mit Rekurs auf die Gesamtentwicklung der „Philosophie des subjektiven Geistes“ zu dem Ergebnis, dass das Individuum bei ihm letztlich doch fassbar werde. Und zwar dadurch, dass er die Seele als „de[n] existirende[n] Begriff, die Existenz des Spekulativen“ bezeichne, wodurch er seine Verhandlung der Seele vor den Hintergrund der Wissenschaft der Logik rücke.332 Sein Anspruch ziele darauf, dass der spekulative Begriff – so Sandkaulen weiter – Allgemeines nicht im Gegensatz zu Einzelnem als vielmehr deren Einheit sei und „als Totalität ihrer Selbstvermittlung mit dem Resultat der Einzelheit als ,konkrete Allgemeinheit‘ […] auf […] die Struktur absoluter Subjektivität“ verweise.333 Sandkaulen deutet die Unfassbarkeit des Individuums, die sie in der „innerlichen Individualität“ des Selbstgefühls ausmacht, folglich nur als ein „passageres Moment“, „ein Moment auf dem Weg zum Geist, der den Modus der Selbstvergewisserung im Gefühl in die explizite Form des Denkens übersetzt und so den spekulativen Begriff wirklich realisiert.“334 Sie resümiert, dass das Individuum auf diese Weise letztlich fasslich werde. Anschließend weist sie auf eine Konsequenz der von ihr bei Hegel ausgemachten „spekulativ durchgeführte[n] Faßlichkeit von Individualität in der Figur des Subjekts als ,konkreter Allgemeinheit‘“ hin: Ihr zufolge verschwinde „im selben Augenblick auch […] das einzelne Individuum selber in seiner […] unverwechselbaren Einzigartigkeit als sogenannte schlechte Einzelheit aus dem Blick der Vernunft“.335 In eigene Worte gefasst führt Birgit Sandkaulen die Fasslichkeit des Individuums auf die Begriffsentwicklung in der subjektiven Geistphilosophie zurück, die sich von der Seele über das Bewusstsein hin zum Geist vollzieht. Auch wenn das Selbstgefühl, das Hegel zu Beginn dieser Begriffsentwicklung thematisiert, in einer unvertretbaren Perspektive des Individuums besteht, wird dieses Gefühl zum Ende der Begriffsentwicklung hin in die Form des Denkens bzw. in die Form konkreter Allgemeinheit übersetzt und dadurch letztlich fassbar. Bedauerlicherweise erläutert Birgit Sandkaulen weder, was es bedeuten soll, dass das Selbstgefühl in die Form des Denkens 330

Enz3 § 403. Sandkaulen 2012, S. 177; vgl. auch dies. 2011, S. 42 f. 332 Vgl. Sandkaulen 2012, 177. 333 Ebd. 334 Ebd., S. 178. 335 Ebd., S. 177 f.

331

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

übersetzt wird, noch, inwiefern Individualität durch diese Übersetzungsleistung ihrer Auffassung nach fassbar wird. Ihre diesbezüglichen Ausführungen bleiben vage. Zudem bringt sie das Individuum in seiner unverwechselbaren Einzigartigkeit in Verbindung mit dem von Hegel gebrauchten Ausdruck der „schlechten Einzelheit“, wobei sie auch diesen Ausdruck nicht näher erläutert. Deutlich wird lediglich, dass das Individuum in seiner unverwechselbaren Einzigartigkeit – ihrer Deutung nach – bei Hegel eine Abwertung erfährt. Auch wenn Birgit Sandkaulen zuzustimmen ist, dass das Gefühl im Laufe der Selbstbewegung des Begriffs in der subjektiven Geistphilosophie in die Form des Denkens bzw. in die Form konkreter Allgemeinheit übersetzt wird (was auch immer das konkret heißen mag), so möchte ich ihr entgegenhalten, dass nicht nur das Selbstgefühl, sondern auch das Denken in einer bestimmten, noch zu erläuternden Weise in einer unvertretbaren Perspektive des Individuums besteht. Insofern ist seine Unfassbarkeit, die Sandkaulen zufolge in der „innerlichen Individualität“ des Selbstgefühls besteht, nicht nur ein „passageres Moment“, „ein Moment auf dem Weg zum Geist“, sondern sie bleibt – dafür möchte ich argumentieren – bis zum Ende der Begriffsentwicklung hin bestehen. Das Individuum ist auch als Denkendes bzw. konkret Allgemeines unfassbar. Ausgangspunkt meiner Überlegung bildet dabei Hegels etwas umständliche Formulierung, dass das „Denken als Subjekt“ Selbstbewusstsein sei. Diese Formulierung bedeutet so viel, als dass das Subjekt, dem die Tätigkeit des Denkens zugeschrieben werden kann, Selbstbewusstsein bzw. Ich ist.336 Das Selbstbewusstsein bzw. Ich ist Denkendes, so wie die Seele Fühlendes ist. Während nun das Selbstgefühl der Seele darin besteht, sich selbst zu fühlen, besteht das Selbstbewusstsein darin, sich selbst zu denken. Beim Selbstbewusstsein handelt es sich somit um eine weitere Stufe der Selbstaneignung des Individuums: Anstatt sich nur fühlend auf sich zu beziehen, bezieht es sich wissend auf sich selbst. Birgit Sandkaulens Aussage, nach der das Selbstgefühl in die Form des Denkens übersetzt werde, ist also dahingehend zu konkretisieren, dass das Selbstgefühl bei Hegel genaugenommen in die Form des Selbstdenkens übersetzt wird. Das sich selbst denkende Selbstbewusstsein bezeichnet Hegel des Weiteren als „konkret Allgemeines“.337 Das konkret Allgemeine zeichnet aus, darauf weist auch Birgit Sandkaulen hin, nicht nur Allgemeines, sondern Allgemeines und Einzelnes zugleich zu sein. Es vereint beide Momente – das Allgemeine und Einzelne – in sich. Es ist, um es noch einmal anders zu formulieren, ein Allgemeines, das allein dadurch konkret ist, dass es zugleich ein Einzelnes ist. (Der Gegenbegriff zum konkret Allgemeinen ist bei Hegel das „abstrakt Allgemeine“.338 Das abstrakt Allgemeine ist ein Allgemeines, das durch Abstraktion, das heißt durch Weglassen einzelner Bestimmungen zustande kommt.) Inwiefern das Selbstbewusstsein ein konkret Allgemeines ist, das 336

Enz3 § 20. GW 12, 36; vgl. auch Enz3 § 439. 338 GW 12, 39 – 40. 337

6. Die Unfassbarkeit des Individuums

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heißt eines, das allgemein und einzeln zugleich ist, wurde bereits an früherer Stelle ausgeführt, als ich die Struktur des Selbstbewusstseins expliziert habe. Ich habe gezeigt, dass das Selbstbewusstsein bzw. Ich insofern allgemein ist, als es in einem wissenden Selbstbezug besteht, bei dem es von allen seinen einzelnen Bestimmungen – wie der Herkunft, dem Temperament, den Empfindungen, Gedanken, Erfahrungen, der eigenen Körperlichkeit etc. – abstrahiert. Diese Struktur des wissenden Selbstbezugs trifft zudem auf jedes Selbstbewusstsein zu, das heißt auf alle Menschen. Darin sind sie alle miteinander identisch. Etwas Einzelnes ist das Selbstbewusstsein auf der anderen Seite insofern, als es sich im Wissen von sich zugleich von allen anderen abgrenzt, sich von allen außer sich unterscheidet. Diesen Gedanken führt Hegel unter anderem in der Seinslogik aus, wo er über die das Selbstbewusstsein kennzeichnende Form des Fürsichseins schreibt: „Das Fürsichsein als Beziehung auf sich selbst ist […] als Beziehung des Negativen auf sich selbst […] Fürsichseiendes, das Eins, – das in sich selbst Unterschiedslose, damit das Andere aus sich Ausschließende.“339 Indem sich das Selbstbewusstsein bzw. Ich von allen anderen außer sich unterscheidet, besteht auch das Selbstbewusstsein schlussendlich – wie bereits das Selbstgefühl – in einer unvertretbaren Perspektive, nämlich der Perspektive, aus der heraus es von sich selbst Ich sagt. Diese Perspektive der ersten Person ist weder mitteilbar noch durch einen Dritten einzunehmen. Nur ich als Einzelnes beziehe mich wissend auf mich selbst und trete aus dieser Perspektive heraus in ein Verhältnis zur Welt. Insofern das Selbstbewusstsein in einer unvertretbaren Perspektive besteht, bleibt es – wie bereits das Selbstgefühl – unfassbar. Was nun Hegels Ausdruck der „schlechten Einzelheit“ anbetrifft, auf den Birgit Sandkaulen zu sprechen kommt, so gebraucht er ihn – soweit mir bekannt – in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie im Hinblick auf die Philosophie Spinozas. Die „schlechte Einzelheit“ ist eine Einzelheit, die zwar im Allgemeinen enthalten, aber nicht an sich selbst allgemein ist. Um zu verstehen, was Hegel unter einer Einzelheit versteht, die zwar im Allgemeinen enthalten, aber nicht selbst allgemein ist, ist ein kurzer Exkurs vonnöten, und zwar zu Hegels eigentümlicher Interpretation von Spinozas Philosophie. Hegel fasst das Verhältnis von göttlicher Substanz (Allgemeinem) und Individuum (Einzelnem) bei Spinoza in der Weise auf, dass das Individuum in der Substanz als dessen Modus enthalten ist. Zugleich ist das Individuum, das Hegel in Anlehnung an Spinoza auch als Endliches bezeichnet, seinem Verständnis nach nicht selbst unendlich, sondern davon elementar unterschieden. Es sei eben endlich. Hegel formuliert: „Der Modus ist das Einzelne, das Endliche als solches, welches in den äußerlichen Zusammenhang mit Anderem tritt. Spinoza hat so ein Herabsteigen; der Modus ist das Verkümmerte. Der Mangel des Spinoza ist, daß er das Dritte nur als Modus faßt, als schlechte Einzelheit.“340 „Schlecht“ ist diese Einzelheit in Hegels Augen, weil sie in einer Derivation vom Allgemeinen bzw. Unendlichen besteht. 339 340

Enz3 § 96. Werke 20, 170.

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

Gregor Moder, der sich in seiner Dissertation eingehend mit Hegels Spinoza-Rezeption befasst, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Hegel „das System der Substanz, der Attribute und Modi als ein typisches Emanationssystem gelesen hatte“, bei dem von einer vollkommenen Substanz ausgegangen werde, deren Vollkommenheit allerdings in Richtung der Attribute und Modi laufend abnehme.341 Moder zufolge habe Hegel Spinoza falsch gelesen. Bei Letzterem herrsche kein Emanations-, sondern ein Immanenzsystem vor, was zugleich bedeute, dass die Modi nicht mangelhaft seien, sondern „eine ihr eigentümliche Vollkommenheit“ besitzen.342 Eine ihr eigentümliche Vollkommenheit besitzen sie in der Weise, dass das „Eine in das Dasein der Vielheit eingeschlossen“ sei; „wenn es in der Vielheit zum Ausdruck gekommen ist, dann ist die Vielheit ,in ihm‘ geblieben.“343 Wir halten also fest: Hegel versteht Spinozas System fälschlicherweise als ein Emanationssystem. Das Einzelne besteht bei Spinoza nicht – wie Hegel behauptet – in einer Derivation vom Allgemeinen, sondern es ist selbst in gewisser Weise allgemein und vollkommen. Interessant für uns ist nun, dass Hegel der (von ihm missverstanden) „schlechten Einzelheit“ bei Spinoza die „wahrhafte Einzelheit, Individualität“ entgegensetzt. Damit verweist er auf seine eigene Philosophie. In ihr sei diese „wahrhafte Individualität“ anders als bei Spinoza entwickelt. Sie besteht in einem Einzelnen, das einzeln und allgemein zugleich ist.344 Allgemein ist es insofern, als es im wissenden Selbstbezug alle seine einzelnen Bestimmungen negiert, und einzeln insofern, als es sich in diesem wissenden Selbstbezug von allen anderen außer sich unterscheidet. „Wahrhafte Individualität“ besteht für ihn somit in der Ich-Perspektive eines Individuums, die – wie dargelegt werden konnte – weder zu explizieren noch durch einen Dritten einzunehmen und somit letztlich unfassbar ist.

6.3 Individualität als Prozess Ein weiterer Grund, warum das Individuum bei Hegel begrifflich nicht einzufangen ist, besteht darin, dass es ständig im Werden ist. Niemals kann es vollständig gewusst werden. Was von ihm gewusst werden kann, ist veränderbares Wissen. Jemand ist in zehn Jahren nicht mehr derselbe, der er heute ist. Erinnern wir uns daran, dass das Individuum Hegel zufolge von Geburt an über eine individuelle Konstitution verfügt: über ein bestimmtes angeborenes äußeres Erscheinungsbild wie ein bestimmt geschnittenes Gesicht, eine bestimmte Haut- und Haarfarbe etc., ein bestimmtes Temperament, Naturell und Eigentümlichkeiten wie etwa gewisse Vorlieben und Abneigungen etc. Alle diese Bestimmungen sind nichts 341

Moder 2013, S. 23 f. Ebd., S. 87 f. 343 Ebd., S. 88 f. 344 Werke 20, 170.

342

6. Die Unfassbarkeit des Individuums

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Feststehendes, sondern unterliegen einer gewissen Varianz. Unser Gesicht, unsere Haarfarbe, unser Temperament, auch unsere Vorlieben und Abneigungen verändern sich im Laufe des Lebens aufgrund unseres Körperwachstums und des Älterwerdens, aufgrund von Umwelteinflüssen und aufgrund bestimmter Erfahrungen, die wir im Leben machen. Auch unsere Gewohnheiten sind nicht immer dieselben: Wir legen alte Gewohnheiten ab, ändern bestehende Gewohnheiten und entwickeln neue. Auch macht das Individuum in seinem Leben unentwegt Erfahrungen; damit hört es niemals auf. Das Individuum ist noch aus einem weiteren Grund ständig im Werden und kann dadurch letztgültig nicht gewusst werden. Wie dargelegt worden ist, hat jedes Individuum zwar einen bestimmten Charakter, den es nicht selbst gewählt hat und durch den es in seinem Verhalten disponiert ist. Aber es verfügt als Geist grundsätzlich über die Möglichkeit, sich durch konkrete negierende Bezugnahme auf seinen Charakter im oder durchs Denken anders zu bestimmen, als es durch ihn ursprünglich bestimmt war. Diese Feststellung hat, das wurde gezeigt, Konsequenzen für die Frage nach der Konstituierung von Individualität: Das Individuum ist in seinem Charakter nicht festgelegt, sondern es bringt sich unentwegt selbst hervor. Dadurch ist völlig offen und unvorhersehbar, wie sich das Individuum in künftigen Situationen entscheiden und verhalten wird. Unfassbar ist das Individuum also insbesondere aufgrund seiner freien Selbstbestimmung. Hegel, der sich in seiner Philosophie intensiv mit der Geschichte auseinandersetzt, begreift auch das Individuum als geschichtliches Wesen. Zum einen ist das Individuum nur aus dem sozial-historischen Kontext heraus zu begreifen, in dem es von Geburt an steht. Es gehört einer Nation bzw. des Näheren einem Volk mit bestimmten Sitten, kulturellen Eigenheiten und einer religiösen Ausrichtung an, die dessen ganzes Sein durchdringen. Zum anderen ist das Leben des Individuums selbst als eine individuelle Geschichte aufzufassen.345 Es ist sogar mit seiner individuellen Lebensgeschichte in gewisser Weise gleichzusetzen. Nichts, was darin vorkommt, kann ausradiert werden. Alles davon geht ein in das, was es in seiner Individualität auszeichnet, auch wenn manche Umstände und Begebenheiten von größerer Bedeutung sein mögen als andere. Dabei wird die individuelle Geschichte des Individuums sowohl vom Leben als auch von ihm selbst geschrieben. Vom Leben wird sie geschrieben, indem dem Individuum bestimmte Ereignisse widerfahren, Schicksalsschläge oder generell Umstände, die nicht in seiner Hand liegen und die es nicht hat voraussehen können. Das Individuum selbst schreibt seine Geschichte, indem es frei bestimmt, wie es sich vorfindlichen Dispositionen gegenüber verhält und wie es mit unvorhersehbaren Ereignissen und Umständen umgeht. Bei Hegel ist das Individuum den Zufälligkeiten des Lebens letzten Endes nicht hilflos ausgesetzt, sondern es ist Gestalter seiner individuellen Geschichte. Es ist mächtig und trägt für 345 Dass der Mensch seine Geschichte sei, hebt später auch Dilthey hervor, wenn er schreibt: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte.“ (Dilthey, Wilhelm: „Traum.“ In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8. Leipzig u. a. 1931, S. 224).

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

sich und sein Leben Verantwortung. Es hält seine Geschichte schlussendlich in eigener Hand; es ist – trotz aller Zufälligkeiten des Lebens – Autor seiner eigenen Lebensgeschichte.

7. Zusammenfassung: Die Einzigartigkeit und Unfassbarkeit des Individuums Ausgangspunkt meiner bisherigen Untersuchung bildete der bis ins 19. und 20. Jahrhundert zurückreichende Vorwurf gegen Hegel, er thematisiere das menschliche Individuum ausschließlich als Allgemeines, das heißt, er nehme es lediglich als Subjekt in den Blick, wobei Subjektivität in einer selbstbezüglichen Struktur besteht, dem Wissen-von-sich-selbst. Unter Hinzuziehung der „Philosophie des subjektiven Geistes“ habe ich zu zeigen versucht, dass er das menschliche Individuum nicht nur der allgemeinen Struktur von Subjektivität nach thematisiert, sondern auch seiner Individualität bzw. Einzigartigkeit nach. Dabei leitete mich die Frage, was das menschliche Individuum Hegel zufolge in seiner Individualität auszeichnet. Diese Frage habe ich mit Verweis auf seine Individuationsprinzipien beantwortet: die Seele, das Selbstbewusstsein und den Geist. Die Seele ist aufgrund ihrer Bestimmungen individuell. Unter die Bestimmungen der Seele fallen sowohl a) qualitative Bestimmungen, worunter Hegel zum einen die sogenannten natürlichen Qualitäten und zum anderen die Gewohnheiten des Individuums fasst, als auch b) immanente Bestimmungen. Zu a) Die natürlichen Qualitäten umfassen das äußere Erscheinungsbild eines Individuums wie zum Beispiel dessen individuell geschnittenes Gesicht sowie dessen Haut- und Haarfarbe; dessen Temperament, Naturell, Anlagen und Eigentümlichkeiten wie etwa gewisse Vorlieben und Abneigungen; dessen Muttersprache, religiöse Prägung und Ähnliches. Die natürlichen Qualitäten sind ihm größtenteils gegeben. Mit welchen natürlichen Qualitäten das Individuum geboren wird, ist zufällig in dem Sinne, dass sie ihm ohne sein Zutun gegeben sind; es findet sie lediglich an sich vor. Es liegt nicht in seiner Macht, mit welchem Temperament es geboren oder in welches soziale Umfeld es hineingeboren wird, das es nachhaltig prägt. Die Gewohnheiten des Individuums wiederum umfassen fast alle Tätigkeiten und Einstellungen des Individuums: das aufrechte Stehen, Sprechen, jegliche Handfertigkeit, sittliche Verhaltensweisen, Routinen und vieles mehr. Sie gehen in das ganze Sein des Individuums ein. Anders als die natürlichen Qualitäten eignet sich das Individuum die Gewohnheiten selbst an, und zwar sowohl beiläufig als auch ganz bewusst. Zu b) Einzigartig ist die Seele darüber hinaus aufgrund immanenter Bestimmungen. Hegel fasst darunter letztlich alle Empfindungen, Vorstellungen, Kennt-

7. Zusammenfassung: Die Einzigartigkeit und Unfassbarkeit des Individuums

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nisse, Gedanken, alle Verhältnisse, in denen das Individuum zur Welt und zu anderen steht, sowie alle seine Handlungen, kurz: alle Erfahrungen, die das Individuum im Laufe seines Lebens macht. Sie alle werden im „Inneren“ der Seele „aufbewahrt“, „ohne daß sie im Bewußtsein wären“.346 Mit der Formulierung, dass sie nicht im Bewusstsein des Individuums sind, meint Hegel, dass es sich ihrer nicht bewusst ist, sich aktuell nicht auf sie bezieht.347 Alle diese Bestimmungen zusammen – die qualitativen und immanenten Bestimmungen – bilden den einzigartigen Charakter des Individuums, den Hegel unter der Bezeichnung des Genius thematisiert. Der Genius disponiert, wie sich das Individuum in bestimmten Situationen entscheidet und verhält. Neben der Seele ist auch das Selbstbewusstsein als Individualitätsprinzip bei Hegel anzusehen. Während die Seele aufgrund ihrer Bestimmungen individuell ist, ist sich das Selbstbewusstsein seiner selbst bewusst. Hegel geht davon aus, dass das Selbstbewusstsein in einem reinen Bezug auf sich selbst besteht. Konstitutiv für diesen reinen Selbstbezug ist, dass das Selbstbewusstsein dabei alle seine individuellen Bestimmungen negiert. Hegel führt aus, dass das Ich – in logischen Termini ausgedrückt – sowohl ein Allgemeines als auch ein Einzelnes ist. Ein Allgemeines ist das Ich zum einen insofern, als es eine allgemeine Struktur bezeichnet. Das Ich besteht in einem wissenden Selbstbezug; es hat ein Wissen von sich selbst als Ich. In diesem wissenden Selbstbezug abstrahiert es von allen seinen Bestimmungen. Diese Struktur des wissenden Selbstbezugs ist in allen Menschen realisiert, darin sind sie alle miteinander identisch. Zum anderen ist das Selbstbewusstsein etwas Einzelnes, denn es schließt im wissenden Selbstbezug alle anderen von sich aus, es stellt sich ihnen gegenüber. Aus dieser Perspektive heraus unterscheidet es sich von allen anderen außer sich. Was den Genius in der Bedeutung des Charakters anbetrifft, konnte außerdem gezeigt werden, dass das Individuum Hegel zufolge zwar einen bestimmten Charakter hat, den es sich nicht ausgesucht hat, es aber grundsätzlich in der Lage ist, sich durch negierende Bezugnahme von bestimmten Aspekten seines Charakters frei zu machen und sich daraufhin neu zu bestimmen. Diese Feststellung hat Konsequenzen für die Frage nach der Konstituierung von Individualität: Das Individuum ist auf seinen Charakter letztlich nicht festgelegt, sondern es entwirft bzw. konstituiert sich unentwegt selbst. Es sei daran erinnert, dass der Vorwurf gegen Hegel, er reduziere das Individuum auf das Allgemeine bzw. die selbstbezügliche Struktur von Subjektivität, zugleich mit dem Vorwurf verbunden war, er versuche das Individuum begrifflich vollständig zu bestimmen. Als Erwiderung auf diesen Vorwurf habe ich drei Argumente vorgebracht, inwiefern das Individuum bei ihm begrifflich unfassbar ist. Erstens sind viele der Bestimmungen, auf denen die Individualität des menschlichen Individuums 346 347

Enz3 § 453. Ebd.

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I. Die Konstituierung menschlicher Individualität

beruht, weder für einen Außenstehenden noch für das Individuum selbst zugänglich, weil sie „bewußtlos“ in dessen Seele aufbewahrt sind. Zweitens ist das Individuum bei Hegel auch deshalb unfassbar, weil sowohl das Selbstgefühl als auch dessen weiterentwickelte Form, das Selbstbewusstsein, in einer exklusiven Perspektive des Individuums bestehen. Es sagt von sich selbst Ich und unterscheidet sich damit von allen anderen. Jemand anderes kann weder wissen, wie es sich anfühlt, noch, wie es in einem umfassenderen Sinne ist, ich zu sein. Drittens entzieht sich das Individuum bei Hegel auch deswegen einer vollständigen begrifflichen Bestimmung, weil es ständig im Werden ist. Aufgrund von Umwelteinflüssen, des Alterns und selbstbestimmter Entscheidungen ist es ständig in Veränderung begriffen. Deshalb ist alles, was über ein Individuum gewusst werden kann, immer unvollständig und zu korrigieren. Statt in einem Wissen besteht Individualität für Hegel vielmehr in einem Vollzug, bei dem sich das Individuum selbst immer besser kennenlernt.

II. Das Verhältnis von Individuum und Geist Im zweiten Teil meiner Untersuchung soll der in der Einleitung genannte zweite Vorwurf gegen Hegel unter Hinzuziehung der „Philosophie des subjektiven Geistes“ geprüft werden. Er lautet, dass Hegel das menschliche Individuum ausschließlich in der Rolle sehe, unwissentlich die Zwecke des Weltgeistes in der Geschichte auszuführen. Es sei bloßes Instrument. Seine einzelne Existenz, sein Schicksal zähle nichts. An dem Umstand, dass die Individuen unwissentlich die Zwecke des Weltgeistes ausführen, wurde zudem die völlige Fremdbestimmung des Individuums durch den Weltgeist kritisiert. Das Individuum werde bei Hegel entmündigt und zur Marionette des Weltgeistes herabgewürdigt. Als solches sei es in seinem Verhalten nicht frei und könne für seine Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Das Verständnis, nach dem das Individuum vom Weltgeist für seine Zwecke instrumentalisiert wird, präsupponiert die Annahme einer grundsätzlichen Trennung von Individuum und Weltgeist. Letzterer scheint eine vom Individuum getrennte, irgendwie geartete Realität zu haben und sich der Individuen – überspitzt formuliert – nach Lust und Laune zu bedienen. Damit soll nicht gesagt sein, dass Hegel selbst von einer Trennung von Individuum und Weltgeist ausgeht, sondern ausschließlich, dass seinen Kritikern ein Verständnis seiner Geschichtsphilosophie zugrunde liegt, bei dem zwischen Individuum und Weltgeist in einer bestimmten Weise eine Polarität zu bestehen scheint. Im Folgenden soll es nicht darum gehen, wie das von Hegel in seiner Geschichtsphilosophie dargelegte Verhältnis von Individuum und Weltgeist konkret zu verstehen ist, sondern darum zu zeigen, dass zumindest der subjektiven Geistphilosophie nach zu urteilen Individuum und Geist aus bestimmten Gründen nicht getrennt voneinander bestehen können. Sie müssen in einer noch zu präzisierenden Weise in eins gedacht werden. Mit der Auslegung, dass der subjektiven Geistphilosophie nach zu urteilen Individuum und Geist nicht nebeneinander oder getrennt voneinander bestehen können, richte ich mich nicht nur gegen den soeben aufgeführten Vorwurf, der insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert gegen Hegel erhoben wurde, sondern auch gegen zwei Deutungen in der aktuellen Forschungsliteratur. Der ersten Deutung nach ist das Individuum bei Hegel lediglich „Träger“ oder „Organ“ des Geistes. Sie wird gegenwärtig zum Beispiel von Iring Fetscher, Charles Taylor, Gerald Hartung, Vittorio Hösle, Dieter Wandschneider und Hans Otto

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

Seitschek vertreten, wobei sie mindestens bis auf die 30er Jahre zurückgeht.1 Bereits Nicolai Hartmann und Hermann Glockner bezeichnen zu dieser Zeit das Hegelsche Individuum als „Träger“ des Geistes.2 Dass die Rede vom Träger eine Trennung von Träger und Getragenem impliziert, lässt sich an einem Beispiel aus der Alltagssprache verdeutlichen: Wir sprechen etwa davon, dass der Mensch Träger von Krankheitserregern sei. Der einzelne Mensch ist dabei nicht mit den Krankheitserregern gleichzusetzen, sondern er hat Krankheitserreger. Sie haben ein vom Menschen unabhängiges Sein. Schauen wir uns die Deutung, das Individuum sei Träger des Geistes, genauer an und fragen, welche Annahmen sie impliziert. Ist das Individuum lediglich Träger des Geistes, dann wird davon ausgegangen, dass zwischen Individuum und Geist eine Polarität besteht: Das Individuum ist partikular, endlich und vergänglich, wohingegen der Geist universal, unendlich und ewig ist.3 In seiner Universalität, Unendlichkeit und Ewigkeit übersteigt er das Individuum, so dass er sich nicht in ihm allein, sondern nur in vielen Individuen verkörpern kann. Er ist nur aus der Reihe der endlichen Individuen heraus zu begreifen.4 So meint etwa Charles Taylor: „Der Hegelsche Begriff des Unendlichen besteht daher in einem unendlichen Leben, das in einem Kreis endlicher Wesen verkörpert ist, die ihm alle unangemessen sind und daher untergehen müssen, aber in einer notwendigen Ordnung von anderen ersetzt werden, wobei es sich nicht um einen infiniten Progreß handelt, sondern um einen geschlossenen Kreis.“5 Taylor zufolge ist das Individuum in seiner Endlichkeit dem Geist unangemessen, weshalb sich dieser nur im Wechsel der Individuen erhalten kann.6 Derselben Auffassung wie Taylor ist auch Nicolai Hartmann, der über den Geist schreibt: „Die Individuen sind seine Träger. Aber seine Realität ist nicht die der Individuen – wie auch sein Leben und seine Dauer eine andere ist als deren Leben und Dauer. Es besteht fort im Wechsel der Individuen.“7 Nach Hartmann überdauert 1

Vgl. Fetscher 1970; Taylor 2014; Hartung 2008; Hösle, Vittorio: Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München 1997, S. 303 f.; Wandschneider, Dieter: „,Schmerz der Negativität‘ und Tod in Hegels Konzeption des Geistes.“ In: von Engelhardt, Dietrich u. a. (Hg.): Sterben und Tod bei Hegel. Würzburg 2015, S. 55 – 68; Seitschek, Hans Otto: „Hegel und die Kyoto-Schule.“ In: Open Access LMU vom 12. Dezember 2011. URL: https://epub.ub.uni-muenchen.de/12484/ (zuletzt aufgerufen 10.03.22). Dagegen z. B. Nonnenmacher, Burkhard: Hegels Philosophie des Absoluten. Eine Untersuchung zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ und reifem System. Würzburg 2013; Asmuth 2016; Lohmar, Achim: Anthropologie und Vernunftkritik: Hegels Philosophie der menschlichen Welt. Paderborn u. a. 1997, S. 198 – 205. 2 Hartmann 1969, S. 498. Zitiert nach Schmitz 1957, S. 15. 3 Vgl. etwa Taylor 2014, S. 316. 4 Vgl. ebd., S. 131. 5 Ebd., S. 316. 6 Die Frage, inwiefern es sich bei dem Wechsel der Individuen Taylors Auffassung nach um einen geschlossenen Kreis und nicht um einen unendlichen Progress handelt, soll uns an dieser Stelle nicht interessieren. Für uns ist lediglich relevant, dass sich der Geist ihm zufolge nicht in einem einzelnen Individuum, sondern nur im Wechsel der Individuen verkörpern kann. 7 Hartmann 1960, S. 498.

II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

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der Geist das einzelne Individuum, wobei er sich – wie schon bei Taylor – nicht unabhängig von den Individuen erhalten kann, sondern nur durch sie hindurch. Die zweite Deutung, gegen die ich mich richte, beruht auf einer missverständlichen Redeweise. Manche Autoren sind zwar nach eigenen Angaben der Auffassung, dass Individuum und Geist Hegel zufolge in eins gedacht werden müssen in der Weise, dass der Geist nur als ein bestimmtes endliches Individuum existiert. (Im Unterschied zur Deutung des Individuums als Träger des Geistes ist das Individuum dieser Auffassung nach mit dem Geist gleichzusetzen. Es ist selbst Geist.) Durch unreflektierte Formulierungen tragen sie allerdings die Interpretation weiter, nach welcher der Geist ein vom Individuum unabhängiges Sein hat. Sie reden etwa davon, dass er „sich zur Sache mache“, etwas „aus sich entlasse“, „sich selbst manifestiere“ oder „offenbare“.8 Ausdrucksweisen wie diese legen die Vorstellung nahe, der Geist sei eine von den Individuen unabhängige Entität, die sich zudem bewusst zu ihrer Verendlichung entschließe. Der Geist wird dabei zu einem Akteur, dem Absichten unterstellt werden und der – so klingt es zumindest – ein Sein zeitlich vor den Individuen gehabt hat. Durch die Verben „manifestieren“ und „offenbaren“ wird zudem die Assoziation geweckt, es handele sich beim Hegelschen Geist um einen persönlichen Schöpfergott. Nun ist anzumerken, dass sowohl der aktive Wortgebrauch in der Rede über den Geist („der Geist macht“, „der Geist offenbart“ etc.) als auch solche Ausdrücke wie „manifestieren“ und „offenbaren“ Hegel selbst entlehnt sind. Anstatt seinen aktiven Wortgebrauch sowie seine Verwendungsweise theologischer Termini in der Rede über den Geist zu hinterfragen, durch die Individuum und Geist in gewisser Weise gegeneinander fixiert werden, werden sie in vielen Fällen unreflektiert übernommen. Dadurch wird das Gegenteil von dem ausgesagt, wofür eigentlich argumentiert werden soll, nämlich dass der Geist eben kein von den Individuen unabhängiges Sein hat, eben kein Akteur ist, der Absichten verfolgt, eben nicht zeitlich vor den Individuen bestanden hat. Zwar wurde bereits im ersten Teil der Untersuchung das Verhältnis von Individuum und Geist unter Hinzuziehung der „Philosophie des subjektiven Geistes“ an verschiedenen Stellen angerissen, aber erst im nachfolgenden zweiten Teil soll diesem Verhältnis systematisch auf den Grund gegangen werden. Hegel thematisiert es in Anlehnung an Spinoza als das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem, wobei er diese beiden – das ist wie gesagt meine These – nicht in Frontstellung zueinander bringt, sondern in eins denkt. Das Endliche ist ihm zufolge selbst das Unendliche, wobei es nicht seine Absicht ist, den Unterschied zwischen dem End8

Diese missverständliche Redeweise liegt etwa bei Lucia Ziglioli, Nicholas Mowad und Rüdiger Bubner vor. (Vgl. Ziglioli 2017; Mowad, Nicholas: The Soul and the Body in Hegel’s Anthropology. Chicago 2010, S. 109, 119, 121 – 124; Bubner, Rüdiger: „Hegels Lösung eines Rätsels.“ In: Menegoni, Francesca – Illeterati, Luca (Hg.): Das Endliche und Unendliche in Hegels Denken. Stuttgart 2004, S. 17 – 34) So spricht Ziglioli etwa von der „Tätigkeit des Geistes, sich selbst in einem äußerlichen Dasein zu manifestieren.“ (Ziglioli 2017, S. 37) Und Bubner formuliert: „Aber das eine Unendliche verliert sich und sein Wesen nicht dadurch, daß es eine lange Sequenz von Verendlichungsschüben aus sich entläßt.“ (Bubner 2004, S. 30 f.).

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

lichen und Unendlichen zu nivellieren. Das Endliche ist vielmehr beides: es ist endlich und unendlich. Ich gehe wie folgt vor: Im ersten Kapitel soll den Fragen nachgegangen werden, erstens, welche Begründung Hegel dafür vorbringt, dass Endliches und Unendliches nicht getrennt voneinander bestehen können, zweitens, was er des Näheren unter der Endlichkeit und Unendlichkeit des Individuums versteht, und drittens, was wir uns darunter vorzustellen haben, dass das Individuum endlich und unendlich zugleich ist. Im zweiten Kapitel wird es schließlich darum gehen, wie Hegels Ausführungen, nach denen Endliches und Unendliches bzw. Individuum und Geist nicht getrennt voneinander bestehen können, mit seinen eigenen an verschiedenen Stellen der subjektiven Geistphilosophie geäußerten Aussagen zu vereinbaren sind, dass sich der Geist „manifestiere“ bzw. „offenbare“. Denn wie bereits erwähnt, legt die Rede vom sich manifestierenden bzw. offenbarenden Geist die Assoziation nahe, er habe bereits vor seiner materiellen Realisierung bestanden, was eine Trennung vom Individuum bedeuten würde. Diese Ungereimtheit im Hegelschen Sprachgebrauch wird uns zu den Fragen führen, was wir uns ihm zufolge unter dem Geist vorzustellen haben und in welchem Verhältnis er zu den einzelnen Individuen steht. Das dritte Kapitel schließt an die Feststellung an, dass das Individuum endlich und unendlich zugleich ist. Unendlich ist es als Geist und als solches wiederum, wie zu erfahren sein wird, absolut frei. Es wird zu fragen sein, was Hegel unter der Freiheit des Individuums eigentlich versteht. Vorweggenommen sei schon einmal: Instrumentalisierbar ist das Individuum nach diesem Freiheitsbegriff nicht.

1. Das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit Hegel legt im Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes dar, dass die Verhältnisbestimmung des Endlichen und Unendlichen „den schwersten Punkt, man könnte sagen, den einzigen Gegenstand der Philosophie“ ausmache.9 Die Schwierigkeit bestehe darin, die Einheit dieser beiden entgegengesetzten Bestimmungen aufzuzeigen. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie führt Hegel aus, dass Spinoza der Erste gewesen sei, der die Einheit von Endlichem und Unendlichem erkannt habe, anstatt sie als feste Gegensätze aufzufassen.10 Deswegen müsse alles Philosophieren Ausgang bei eben dieser Erkenntnis nehmen: „Im allgemeinen ist darüber zu bemerken, daß das Denken sich auf den Standpunkt des Spinozismus gestellt haben muß; das ist der wesentliche Anfang alles Philosophierens. Wenn man anfängt zu philosophieren, so muß man zuerst Spinozist sein.“11 Hegel lässt es bei 9

GW 15, 222. Vgl. Werke 20, 158. 11 Ebd., 165; vgl. auch ebd., 158. 10

1. Das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit

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seinem Lob an Spinoza nicht bewenden, sondern fügt hinzu, dass dieser zwar als Erster die Einheit von Endlichem und Unendlichem erfasst habe, sich bei dessen Lösung aber, wie sie in eins zu denken seien, unlösbare Probleme ergäben. Diese führt er auf Spinozas Vorgehen in der Ethik zurück, das Endliche aus dem Unendlichen zu deduzieren. Spinoza gehe in seinem Denken von der einen göttlichen Substanz aus und versuche aus ihr die endlichen Modi abzuleiten, was ihm aber nicht gelinge. Er nehme sie lediglich als Fakt an. So könne er den Zusammenhang zwischen dem Unendlichen und Endlichen letztlich nicht begreifbar machen. Hegel fasst seine Kritik wie folgt zusammen: „In die eine Substanz gehen alle Unterschiede und Bestimmungen der Dinge und des Bewußtseins zurück; so kann man sagen, wird im Spinozistischen System alles nur in den Abgrund der Vernichtung hineingeworfen. Aber es kommt nichts heraus; und das Besondere, wovon er spricht, wird nur vorgefunden, aufgenommen aus der Vorstellung, ohne daß es gerechtfertigt wäre. Sollte es gerechtfertigt sein, so müßte Spinoza es deduzieren, ableiten aus seiner Substanz […] Dies ist das Unbefriedigende bei Spinoza. Der Unterschied ist äußerlich vorhanden, bleibt äußerlich, man begreift es nicht.“12

Während Spinoza in seinem Denken vom Unendlichen ausgehe und aus diesem das Endliche abzuleiten versuche, was ihm schlussendlich nicht gelinge, wählt Hegel den umgekehrten Weg: Er nimmt Ausgang beim Endlichen, von dem aus er den Begriff des Unendlichen zu entwickeln versucht.13 Auf diese Weise meint er – anders als Spinoza – den Zusammenhang zwischen dem Endlichen und Unendlichen begreifbar machen zu können. Bevor darauf zu sprechen zu kommen sein soll, auf welche Weise Hegel das Unendliche aus dem Endlichen deduziert, soll vorweg auf die Gründe eingegangen werden, warum sie ihm zufolge nicht getrennt voneinander bestehen können.

1.1 Die Zurückweisung einer Trennung von Endlichkeit und Unendlichkeit Hegel zeigt auf, dass im Falle einer fixierten Opposition von Endlichem und Unendlichem das Unendliche, das per definitionem unbegrenzt ist, begrenzt wäre und das Endliche, das per definitionem begrenzt ist, unbegrenzt. Eine Opposition von Endlichem und Unendlichem würde Hegel zufolge also zu einem unauflösbaren Widerspruch führen. Hegels Gedankengang geht im Einzelnen wie folgt: Wäre das Unendliche vom Endlichen getrennt, würde es vom Endlichen begrenzt werden. Ein vom Endlichen begrenztes Unendliches würde dem Begriff des Unendlichen als Unbegrenztem aber

12 13

Vgl. ebd., 166 f. Vgl. Bubner 2004, S. 25.

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

widersprechen.14 Hegel schreibt im Fragment: „So hat denn das Endliche seine Beschränktheit an dem Unendlichen, das Beschränkte hat das Unbeschränkte zu seiner Schranke oder Grenze. Allein diesen beyden ist so die Schranke das Gemeinschaftliche, und in der That ist das Unbeschränkte, die Unendlichkeit, welchen das Beschänkte, die Endlichkeit das gegenüberstehende Andere ist, selbst nur endlich.“15 Hegel fasst das Endliche und Unendliche in diesem Zitat als zwei endliche Sphären auf, die einander entgegengesetzt sind. In der Seinslogik weist Hegel auf eine weitere Konsequenz einer Trennung dieser beiden hin. Wenn das Endliche und das Unendliche getrennt voneinander bestehen würden, dann würde nicht nur das Unendliche – wie soeben dargelegt – durch das ihm gegenüberstehende Endliche begrenzt und damit selbst zu etwas Endlichem, sondern auch das Endliche würde auf der anderen Seite verabsolutiert. Denn das Endliche, das per se unselbständig ist, stände selbständig neben dem Unendlichen, was ebenfalls widersprüchlich wäre. Hegel führt aus: „In solchem Verhältnisse, wo das Endliche hüben, das Unendliche drüben, das erste diesseits, das andere jenseits gestellt ist, wird dem Endlichen die gleiche Würde des Bestehens und der Selbständigkeit wie dem Unendlichen zugeschrieben; das Sein des Endlichen wird zu einem absoluten Sein gemacht; es steht in solchem Dualismus [von Endlichem und Unendlichem; EvG] fest für sich.“16

Bei der Vorstellung eines vom Endlichen getrennten Unendlichen handelt es sich für Hegel um den Standpunkt des trennenden Verstandes.17 Für den Verstand besteht zwischen dem Endlichen und Unendlichen ein nicht aufzuhebender Gegensatz: Das Endliche ist nicht das Unendliche bzw. das Unendliche nicht das Endliche. Erst die Vernunft ist nach Hegel in der Lage zu erkennen, dass sie keine starren Gegensätze sind, sondern in eins gedacht werden müssen in der Weise, dass das Endliche selbst das Unendliche ist.18 Dies dürfe allerdings nicht so aufgefasst werden, als sei das Endliche mit dem Unendlichen vollständig identisch. Das Endliche ist beides: Zum einen ist es – als Unendliches – mit dem Unendlichen identisch und zum anderen ist es – eben als Endliches – von ihm unterschieden.

14

GW 11, 79 – 80. GW 15, 222 f. In der Logik des Seins lautet dasselbe Argument: „Es ist aber gezeigt worden und es erhellt unmittelbar, daß das Unendliche, und zwar in dem Sinne, in dem es von jenem Reflektieren genommen wird – nämlich als dem Endlichen gegenüberstehend –, darum, weil es ihm gegenübersteht, an ihm sein Anderes hat, daher begrenzt und selbst endlich ist.“ (GW 11, 84 – 85). 16 Enz3 § 95. 17 Vgl. GW 15, 223; Enz3 § 80. 18 Vgl. Enz3 § 82. 15

1. Das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit

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1.2 Das Individuum als Endliches und Unendliches Hegel meint den Zusammenhang zwischen dem Endlichen und Unendlichen begreifbar machen zu können, indem er von der Endlichkeit des Individuums ausgeht und von ihr aus dessen Unendlichkeit aufzeigt. Das Individuum ist eben endlich und unendlich zugleich, wobei in der Unendlichkeit – ihm zufolge – seine wahre Bestimmung besteht. 1.2.1 Die Endlichkeit des Individuums Hegel liegt eine andere Auffassung vom Endlichen zugrunde als Spinoza. Für Spinoza ist das Individuum – im Gegensatz zu Gott – insofern endlich bzw. begrenzt, als es seine Ursache außer sich hat und räumlich und zeitlich gesehen begrenzt ist.19 Die räumliche Begrenzung meint die körperliche Begrenzung und die zeitliche Begrenzung wiederum die Vergänglichkeit des Individuums. Für Hegel hingegen ist das Endliche nicht dadurch endlich bzw. begrenzt, dass es eine Ursache außer sich hat und räumlich und zeitlich gesehen begrenzt ist. Dass ihm eine andere Auffassung des Endlichen zugrunde liegt als Spinoza, liegt daran, dass er in seinem Denken von einer ganz anderen Grundkonzeption als Spinoza ausgeht. Die Endlichkeit bzw. Begrenztheit des Individuums besteht für ihn in dessen unmittelbaren Bestimmungen.20 Dabei ist jede Bestimmung zugleich eine Negation – hierin knüpft Hegel an Spinoza an, und zwar an dessen Diktum „determinatio est negatio“. Indem das Individuum etwas Bestimmtes ist, ist es vieles andere wiederum nicht. Es hat seine Grenze somit an all dem, das es nicht ist. Hegel formuliert im Fragment: „Alle Bestimmtheit ist aber Bestimmtheit nur gegen eine andere Bestimmtheit“.21 Jede Bestimmtheit, die das Individuum aufweist, bedeutet zugleich den Ausschluss anderer Bestimmungen, die es nicht hat. So verfügt es zum Beispiel über ein bestimmtes Äußeres, ein bestimmtes Temperament und Naturell, über bestimmte Anlagen sowie bestimmte Gewohnheiten; es hat bestimmte Empfindungen, Vorstellungen, Kenntnisse und Gedanken; es macht im Leben bestimmte Erfahrungen und steht in einem bestimmten sozialen Kontext; es wird älter und stirbt (zumindest in diesem letzten Aspekt, der Vergänglichkeit des Individuums, stimmt Hegels Auffassung von der Endlichkeit des Individuums mit derjenigen Spinozas überein). Dass ich ein bestimmtes Temperament habe, setzt andere Temperamente voraus, die ich nicht habe. Ich habe bestimmte Kenntnisse, andere aber nicht. Hegels an verschiedenen Stellen getätigte Aussage, dass das Individuum durch seine Bestimmungen endlich bzw. begrenzt sei, kann zudem so verstanden werden, dass es durch seine Bestimmungen von anderem abhängt, durch das es via Negation 19

Vgl. Seidel 1994, S. 40 u. 44. Enz3 § 92; vgl. GW 11, 77 – 78 sowie GW 15, 220 f. In der Seinslogik unterscheidet Hegel die qualitative von der quantitativen Endlichkeit. Für uns ist an dieser Stelle nur die qualitative Endlichkeit von Interesse. 21 GW 15, 218. 20

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

bestimmt ist. Das Individuum ist nicht allein aus sich heraus ein bestimmtes Individuum, sondern durch negative Referenz auf alles andere. Für dessen Begriff bedarf es alles andere, was es zugleich nicht ist. Diese Deutung ist Hegels Aussage zu entnehmen: „Die Endlichkeit in ihrem Begriffe aber ist die Unangemessenheit des Begriffes und seiner Realität, so daß diese seine Realität an dem Begriffe ihre Bestimmtheit oder Schranke hat, und für den Begriff eines endlichen Gegenstandes bedarf es um dieser Unangemessenheit willen, weil der Begriff ganz und ungetrennt ist, noch anderer Gegenstände – wie für den Begriff der Sonne nicht bloß der Sonne, sondern auch der Planeten und so ferner.“22

Wie der Begriff der Sonne nicht allein aus sich heraus begreifbar gemacht werden kann, sondern nur durch Rekurs auf ihre Stellung im Sonnensystem, so ist auch ein bestimmtes menschliches Individuum nicht allein aus sich heraus zu verstehen, sondern nur im Zusammenhang dessen, was es von sich ausschließt. An einem Beispiel verdeutlicht: Mein bestimmtes Temperament setzt andere Temperamente voraus, von denen es unterschieden ist. In dieser Abhängigkeit von anderem besteht meine Begrenztheit. Auch wenn das Individuum aufgrund seiner Bestimmungen endlich bzw. begrenzt ist, bildet die Endlichkeit, wie Hegel betont, die Bedingung dafür, überhaupt als etwas Bestimmtes zu existieren.23 Denn wie er in der Seinslogik ausführt, ist alles, was ein raumzeitliches Dasein hat, bestimmt.24 (Denken wir etwa an eine auf ein Blatt Papier gezeichnete Drei. Sie hat ein raumzeitliches Dasein und ist dadurch zwangsläufig bestimmt. So befindet sie sich an einer bestimmten Stelle, ist blau, besteht aus einer dünnen, geschwungenen Linie und ist 1,5 cm groß.) Bezüglich der raumzeitlichen Bestimmtheit des Menschen heißt es in einem Zusatz: „Der Mensch, insofern er wirklich sein will, muß dasein, und zu dem Ende muß er sich begrenzen. Wer gegen das Endliche zu ekel ist, der kommt zu gar keiner Wirklichkeit, sondern er verbleibt im Abstrakten und verglimmt in sich selbst.“25 Den Bestimmungen des Individuums kommen auf diese Weise zwei Bedeutungen zu: Zum einen ist das Individuum durch seine Bestimmungen begrenzt. Zum anderen bilden sie für das Individuum die Bedingung, überhaupt ein raumzeitliches Dasein zu haben, das heißt zu existieren. 1.2.2 Die Unendlichkeit des Individuums Hegel streicht heraus, dass die Endlichkeit nicht eine „letzte“ Bestimmung des menschlichen Individuums sei, sondern es über seine Endlichkeit zur Unendlichkeit 22

GW 15, 221. Vgl. Hackenesch, Christa: „Die Wissenschaft der Logik (§§ 19 – 244).“ In: Drüe, Hermann u. a. (Hg.): Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1830): Ein Kommentar zur Systemgrundriß. Frankfurt a. M. 2000, S. 87 – 138, hier S. 102. 24 Vgl. GW 11, 77 – 78. 25 Enz3 § 92, Zusatz. 23

1. Das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit

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hinausgehe: „Es ist also überhaupt die Natur des Endlichen selbst, über sich hinauszugehen, die Negation zu negieren und unendlich zu werden.“26 Seinen Worten ist zu entnehmen, dass die Bewegung, sich zu transzendieren, vom Endlichen selbst ausgeht. Mit der Bemerkung, dass das menschliche Individuum über seine Endlichkeit zur Unendlichkeit hinausgehe, rekurriert Hegel auf die Begriffsentwicklung in der subjektiven Geistphilosophie, die von der Seele Richtung Selbstbewusstsein verläuft: Während die Seele aufgrund ihrer individuellen Bestimmungen endlich ist, ist das Selbstbewusstsein ihm zufolge aus bestimmten noch auszuführenden Gründen unendlich. Wenn er also schreibt, dass das Individuum über seine Endlichkeit zur Unendlichkeit hinausgehe, ist dies nicht so zu verstehen, als würde die Unendlichkeit erst vom Endlichen, dem Individuum, in der Zeit erworben. Als selbstbewusstes Individuum ist es immer schon unendlich. Die Unendlichkeit entspricht dabei seinem eigentlichen Wesen; seinem Wesen nach ist der Mensch unendlich.27 Das soll heißen, dass – auch wenn der Mensch endlich ist – er dem nach, was ihn eigentlich als Menschen auszeichnet, unendlich ist. Nun liegt Hegel – das ist naheliegend – nicht nur eine andere Auffassung vom Endlichen als Spinoza zugrunde, sondern auch vom Unendlichen. Für Spinoza ist Gott das absolut unendliche Wesen insofern, als er durch nichts anderes begrenzt ist. Er hat keine Ursache außer sich, sondern ist die Ursache seiner selbst (causa sui). Auch auf den Raum bezogen ist er unendlich – im Sinne von unendlich ausgedehnt – und auf die Zeit bezogen ewig.28 Der erste Unterschied zu Spinozas Auffassung vom Unendlichen besteht darin, dass Spinoza von der Unendlichkeit Gottes ausgeht, Hegel hingegen von der Unendlichkeit des menschlichen Individuums. Dessen Unendlichkeit besteht für ihn – und hierin besteht der zweite Unterschied zu Spinozas Auffassung vom Unendlichen – im reinen Selbstbezug des Ich bzw. Selbstbewusstseins. In diesem Selbstzug abstrahiert es von allen seinen Bestimmungen, durch die es – wie geschildert – endlich bzw. begrenzt ist. Hegel definiert das Abstrahieren in diesem Zusammenhang näher als ein Negieren: „Abstrahiren heißt überhaupt negiren, es wegschaffen, bei Seite liegen lassen.“29 Das Selbstbewusstsein, das alle seine Bestimmungen beiseite liegen lässt, ist in sich „unterschiedslos“.30 In der Grundstruktur des Selbstbewusstseins – dem reinen Selbstbezug bei gleichzeitiger Abstraktion von allen Bestimmungen – besteht für Hegel die Unendlichkeit.31 Er fasst

26

GW 11, 78 – 79. Vgl. GW 15, 208. 28 Eth. I, Def. 6. 29 GW 25.2, 567 f. 30 Enz3 § 96. 31 Jaeschke 2004, S. 104. 27

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

zusammen: „[…] diese Beziehung […] auf sich selbst ist die wahrhafte Unendlichkeit.“32 Die Negationsleistung des Selbstbewusstseins bezeichnet Hegel – wie bereits an anderer Stelle dargelegt – auch als zweite oder doppelte Negation: Die erste Negation besteht darin, dass die Seele unmittelbar bestimmt ist („determinatio est negatio“), die zweite Negation wiederum darin, dass das Selbstbewusstsein seine Bestimmungen negiert. Die Negation der Negation, das Selbstbewusstsein und die Unendlichkeit sind für Hegel somit letztlich synonyme Begriffe: „Wie sich also der Begriff des Unendlichen ergeben hat, so ist es das Anderssein des Andersseins, die Negation der Negation, die Beziehung auf sich durch Aufheben der Bestimmtheit.“33 Auch wenn das Individuum im wissenden Selbstbezug unendlich bzw. unbegrenzt ist, insofern es darin von allen seinen Bestimmungen absieht und rein bei sich ist, ist es zugleich endlich bestimmt. Es ist eben beides, endlich und unendlich. Beide Bestimmungen – die Endlichkeit und Unendlichkeit – sind im Individuum miteinander im Einklang, auch wenn die Unendlichkeit, wie wir erfahren haben, seine „wahre“ Bestimmung ausmacht.34 Hegel erläutert, dass, auch wenn sich das Ich bzw. Selbstbewusstsein einen bestimmten Inhalt gibt – etwa wenn es etwas sagt, empfindet, wahrnimmt oder tut – und sich dadurch beschränkt, es zugleich unbeschränkt bleibt. Zuerst dazu, dass das Ich durch einen bestimmten Inhalt beschränkt sei: Während das Ich im reinen Selbstbezug nur bei sich ist, verhält es sich, sobald es sich einen Inhalt gibt, zu etwas anderem als sich selbst, nämlich zu dem Inhalt, den es sich gibt.35 Dieser Inhalt ist insofern begrenzt, als jeder bestimmte Inhalt einen anderen Inhalt von sich ausschließt. Dennoch bleibt das Ich, auch wenn es sich einen bestimmten Inhalt gibt, unbeschränkt. Denn es weiß in jeder Bestimmung von sich selbst. In jeder Bestimmung, die es sich gibt, ist es zugleich bei sich selbst. Oder anders formuliert: Die Ichhaftigkeit bleibt in jeder Bestimmung, die sich das Ich gibt, bestehen. Hegel betont zu Beginn seiner Geistphilosophie ausdrücklich, dass die Aufgabe des Menschen darin bestehe, zu erkennen, dass das Unendliche nicht das andere seiner, sondern er seinem Wesen nach selbst unendlich bzw. Geist sei.36

32

Enz3 § 95. GW 11, 78 – 79. 34 Christa Hackenesch ist der Auffassung, dass der Mensch aufgrund seiner gegensätzlichen Bestimmungen – der Endlichkeit und Unendlichkeit – in sich zerrissen und eine Versöhnung nicht möglich sei. (Vgl. Hackenesch 2002, S. 42) Meines Erachtens gibt es bei Hegel keine textuellen Belege für diese Annahme. Hegel sagt an keiner Stelle, dass der Mensch zerrissen sei oder dass sich seine Endlichkeit und Unendlichkeit im Widerstreit miteinander befänden. Ganz im Gegenteil macht er an vielen Stellen deutlich, beide Bestimmungen in Einklang miteinander bringen zu wollen. 35 Vgl. GW 25.2, 747. 36 Vgl. Enz3 § 377. 33

1. Das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit

133

1.3 Das Wissen des Menschen von seiner Endlichkeit Hegel führt in der subjektiven Geistphilosophie ein weiteres Argument an, mit dem er zu zeigen versucht, dass der Mensch unendlich bzw. unbeschränkt sei. Er beruft sich darin auf ein Charakteristikum des Menschen, das ihn vom Tier unterscheidet. Während das Tier nichts von seiner Beschränkung wisse, wisse der Mensch von ihr.37 Im Fragment schreibt er entsprechend: „Die natürlichen Dinge sind eben insofern natürliche Dinge, als ihre Schranke nicht für sie selbst ist, sie ist es nur für den Geist.“38 Im Wissen von seiner Beschränkung sei der Mensch zugleich über sie hinaus, wie Hegel erläutert. Der Mensch sei also nicht einfach nur wie das Tier beschränkt, sondern er sei zugleich über seine Beschränkung hinaus. Im Fragment heißt es: Die Schranke ist „nicht das Letzte, sondern vielmehr indem und weil der bewußte Mensch von der Schranke weiß und spricht, ist sie Gegenstand für ihn und er hinaus über sie.“39 Wir erfahren hier, dass sich der Mensch auf seine eigene Endlichkeit bzw. Beschränktheit als auf einen Gegenstand bezieht: Er denkt über sie nach und spricht mit anderen über sie. Er thematisiert sie. In dem Bild, das Hegel vom Menschen und seiner Schranke zeichnet, nimmt der Mensch zwei Standpunkte ein: Zum einen hält er sich vor seiner eigenen Schranke auf und zum anderen nimmt er einen Standpunkt über ihr ein und schaut auf sie herunter. Diese zwei Standpunkte erklären sich daraus, dass er eben beides ist: endlich und unendlich. Wäre er ausschließlich endlich und würde sich, um bei diesem Bild zu bleiben, ausschließlich vor seiner Schranke aufhalten, würde er diese vielleicht nicht einmal als solche wahrnehmen, weil er nicht wissen würde, dass sich etwas hinter ihr verbirgt. Indem er aber zudem unendlich ist und von oben auf die Schranke herabschaut, weiß er von ihr als Schranke. Er weiß, dass er durch sie beschränkt ist und sich etwas hinter ihr befindet, von dem er getrennt ist. Es drängt sich die Frage auf, was Hegel konkret damit meint, dass der Mensch durch das Wissen von seiner Schranke bzw. Endlichkeit eo ipso über sie hinaus sei. Hat dieses Wissen des Menschen praktische Implikationen? Auch wenn sich Hegel dazu nicht explizit äußert, können wir schlussfolgern, welche praktischen Implikationen mit dem Wissen des Menschen von seiner Endlichkeit verbunden sind. Ich hatte erwähnt, dass die Beschränktheit des Menschen in dessen Bestimmungen besteht. Der Mensch verfügt beispielsweise über bestimmte naturgegebene Dispositionen wie eine bestimmte Körpergröße, ein bestimmtes Temperament, bestimmte Talente und bestimmte Vorlieben und Abneigungen. Er hat bestimmte Kenntnisse und macht im Laufe seines Lebens bestimmte Erfahrungen. Darüber hinaus wird der Mensch älter, seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit lässt nach und er stirbt. Wenn Hegel schreibt, dass der Mensch durch das Wissen von seiner Schranke zugleich über sie hinaus sei, meint er nicht, dass er sich faktisch von 37

Vgl. ebd. § 359; GW 25.1, 172; GW 15, 222. GW 15, 222. 39 Ebd.

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

ihr befreien kann. Er kann nichts daran ändern, dass er über bestimmte naturgegebene Dispositionen verfügt wie ein bestimmtes Temperament und bestimmte Talente, im Laufe seines Lebens bestimmte Erfahrungen macht, älter wird und irgendwann stirbt. Doch er kann sich zu seiner Schranke verhalten, Strategien der Bewältigung entwickeln und sogar versuchen, seine Endlichkeit zu kompensieren.40 Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Der Mensch weiß, dass er bestimmte Talente hat, andere wiederum nicht. Kann sich jemand etwa mündlich besonders gut ausdrücken, schriftlich aber weniger, kann er seine Schwäche im Schriftlichen durch viel Übung auszugleichen versuchen oder in entsprechenden Situationen so schnell wie möglich von seiner Schwäche auf seine Stärke im Mündlichen lenken. Nehmen wir als weiteres Beispiel die beschränkten Kenntnisse des Menschen: Indem er weiß, dass er zwar über bestimmte Kenntnisse verfügt, über andere wiederum nicht, die aber wichtig wären, um – sagen wir – eine wichtige Entscheidung zu treffen, kann er versuchen, sich die entsprechenden Kenntnisse zu erwerben oder die entsprechenden Informationen bei denjenigen einzuholen, die diese haben. Nehmen wir zuletzt das Wissen des Menschen von seiner Sterblichkeit: Der Mensch kann etwa erkennen, dass der Tod zum Leben dazugehört, dass es nur etwas Neues geben kann, wenn auch etwas vergeht. Er kann versuchen, Trost in der Religion zu finden (im Jenseitsgedanken) oder sein ihm zur Verfügung stehendes Leben mit Sinn zu füllen (etwa durch Freundschaften, die Familie, den Beruf oder dadurch, dass er an etwas mitschafft, das ihn überdauert; ich denke dabei an politische Errungenschaften oder kulturelle Hervorbringungen). So ist der Mensch nach Hegel durch das Wissen von seiner Endlichkeit nicht nur rein theoretisch über sie hinaus, sondern auch ganz praktisch in der Lage, einen Umgang mit ihr zu finden, ja, sie sogar ein Stück weit zu bewältigen bzw. zu überschreiten.

2. Das Verhältnis von Geist und Dasein Ziel des vorhergehenden Kapitels war es, zu zeigen, dass der „Philosophie des subjektiven Geistes“ nach zu urteilen Endliches und Unendliches nicht getrennt voneinander bestehen können, sondern in eins gedacht werden müssen. Das Endliche ist selbst das Unendliche bzw. das Individuum selbst Geist. Nun ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Hegel in der subjektiven Geistphilosophie Formulierungen gebraucht, die mit meiner Leseweise, nach der Endliches und Unendliches bzw. Individuum und Geist nicht getrennt voneinander bestehen können, sondern in eins gedacht werden müssen, im Widerspruch zu stehen scheinen. 40 Anderer Meinung ist Christa Hackenesch, die mit Rekurs auf die „Philosophie des subjektiven Geistes“ meint, dass der Einzelne wisse, in der Kontingenz seiner Existenz bedeutungslos zu sein angesichts der Wahrheit des Geistes. Außerdem hätte der Mensch die Kontingenz seiner Existenz hinzunehmen. (Vgl. Hackensch 2002, S. 42) Sie übersieht meines Erachtens, dass jeder einzelne Mensch selbst Geist ist, was ihn nach Hegel dazu befähigt, Strategien der Bewältigung seiner Kontingenz zu entwickeln.

2. Das Verhältnis von Geist und Dasein

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Ich denke dabei – wie zuvor erwähnt – an Formulierungen wie, der Geist „offenbart“ sich, „giebt sich ein Dasein“, „manifestiert sich“, „setzt sich eine Schranke“, „verendlicht sich“, „bestimme“ sich „in seiner Allgemeinheit“, bringe sich „zur Erscheinung“.41 Diese Formulierungen klingen erstens so, als hätte der Geist bereits vor seiner „Offenbarung“ bzw. „Manifestation“ bestanden, was bedeuten würde, dass er eine von den Individuen unabhängige Realität hat. Zweitens klingen sie so, als sei der Geist ein Akteur, der sich zu seiner „Offenbarung“ bzw. „Manifestation“ entschlossen hätte. Der Ausdruck der „Offenbarung“, der hauptsächlich im theologischen Bereich gebraucht wird, legt zudem die Assoziation nahe, Hegel meine mit dem Geist einen persönlichen Schöpfergott, der zum Menschen geworden sei. Hegels Formulierungen eines sich selbst offenbarenden bzw. manifestierenden Geistes sind jedoch als rein metaphorisches Sprechen zu deuten; sie sind nicht wortwörtlich zu nehmen. Ein erster Beleg dafür ist Hegels eigene Äußerung, der Geist dürfe nicht so aufgefasst werden, als hätte er eine von den Individuen unabhängige Realität oder als sei er gar ein (göttliches) Subjekt, das zeitlich vor seiner „Manifestation“ bestanden hätte. Im Fragment führt er aus: „Was er [der Geist; EvG] ist, ist eben diese Bewegung selbst von der Natur sich zu befreyen. Diß ist sosehr seine Substanz selbst, daß man von ihm nicht als einem so feststehenden Subjecte sprechen darf, welches diß oder jenes thue und wirke, als ob solche Thätigkeit eine Zufälligkeit, eine Art von Zustand wäre, ausser welchem es bestehe, sondern seine Thätigkeit ist seine Substantialität, die Actuosität ist sein Seyn.“42

Hegel macht in diesem Zitat deutlich, dass er den Geist nicht als eine Entität verstanden wissen möchte, die Entschlüsse fassen kann. Könnte er sich zu etwas entschließen, wäre sein Tun zufällig in dem Sinne, dass er sich zwar manifestiert, sich genauso aber auch gegen seine Manifestation hätte entscheiden können. Das Sein und das Tun des Geistes wären in diesem Fall verschieden. Hegel zufolge müssen sie aber als identisch angenommen werden. Warum, führt er nicht aus. Er erklärt nur, was der Geist – wenn er denn keine Entität ist, die Entschlüsse fassen kann – stattdessen ist: ein Allgemeinbegriff bzw. ein allgemeines begriffliches Prinzip.43 Dieses Prinzip fasst er wiederum nicht als etwas Starres, Statisches auf, sondern als eine bestimmte Tätigkeit. Diese Tätigkeit des Geistes beschreibt er in dem oben aufgeführten Zitat als die „Bewegung selbst von der Natur sich zu befreyen“.44 In dieser Tätigkeit bzw. Bewegung besteht Hegel zufolge die ganze Seinsweise des Geistes. Zur Befreiungsbewegung des Geistes von der Natur ist anzumerken, dass Hegel unter der Natur – dafür hatte ich weiter oben argumentiert – in diesem Zusammenhang weder seinen eigenen philosophischen Naturbegriff versteht noch so etwas wie eine Art ursprüngliche Natur, sondern die unmittelbaren Bestimmungen der 41

GW 25.1, 16 u. 182; Enz3 § 441; Enz3 § 383; GW 15, 218. GW 15, 249. 43 Vgl. ebd., 246. 44 Ebd., 249. 42

136

II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

Seele (siehe Kapitel I. 3.1.3). Sie umfassen die natürlichen Qualitäten, Empfindungen, Triebe, Neigungen und bestimmte charakterliche Dispositionen. Unmittelbar sind sie insofern, als die Seele sie einfach hat. Sie hat beispielsweise eine bestimmte Empfindung, ohne dass sie diese erzeugt oder sich ausgesucht hätte. Hegel bezeichnet die Unmittelbarkeit auch als das „Andere des Geistes“.45 Das andere des Geistes ist die Seele in ihrer Unmittelbarkeit insofern, als die Seele unmittelbar bestimmt ist. Der Geist hingegen – darauf bin ich bereits an anderer Stelle zu sprechen gekommen – bestimmt sich selbst. Was nun die Befreiungsbewegung des Geistes von seiner Unmittelbarkeit anbetrifft, so kann er sich von ihr befreien, indem er sich im Denken auf sie bezieht und ihre Form der Unmittelbarkeit negiert. Wenn ich zum Beispiel wütend bin, kann ich über den Grund für meine Wut nachdenken, anstatt mich von ihr treiben zu lassen. Dabei kann ich zu dem Schluss kommen, dass ich meine Wut nicht Überhand nehmen lassen möchte, weil sie mich von etwas anderem, das mir wichtiger ist, ablenkt. Anstatt meinem ersten Impuls, der Wut, zu folgen, konzentriere ich mich auf dasjenige, was mir eigentlich wichtig ist. Das heißt in anderen Worten: Anstatt mich von meiner Wut bestimmen zu lassen, bestimme ich mich selbst. Hegel zufolge handelt es sich bei der Bewegung des Geistes, sich von seiner Natur zu befreien, um eine im übertragenen Sinne kreisförmige Bewegung: Der Geist bezieht sich auf das andere seiner und kehrt in diesem anderen zu sich zurück. Was es bedeutet, dass er sich auf das andere seiner bezieht, habe ich bereits erläutert. Der Geist bezieht sich auf seine unmittelbaren Bestimmungen und denkt über sie nach. Doch was bedeutet es, dass er in diesem anderen zu sich zurückkehrt? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn wir uns zuvor klar machen, dass das „Prinzip“ bzw. die „unvermischte Selbstheit“ des Geistes Hegel zufolge „das Denken“ ist.46 Indem der Geist über seine unmittelbaren Bestimmungen nachdenkt, ist er in Gedanken. Er hat mit seinen eigenen Denkbestimmungen zu tun, ist also – obwohl er sich auf das andere seiner, das heißt seine Unmittelbarkeit bezieht – rein bei sich. In diesem reinen Selbstbezug besteht die Freiheit des Geistes. Bis hierher habe ich darzulegen versucht, was Hegel unter dem allgemeinen Begriff des Geistes versteht. Als Nächstes soll näher auf das Verhältnis des Geistes zu den einzelnen geistigen Individuen eingegangen werden.

2.1 Das Dasein des Geistes Der Schlüsselsatz in der „Philosophie des subjektiven Geistes“, mit dem sich Hegel zu dem Verhältnis des Geistes zu den einzelnen geistigen Individuen äußert, lautet: „Diese Allgemeinheit [des Geistes; EvG] ist auch sein Dasein.“47 Unter 45

GW 25.1, 12. Enz3 §§ 11, 12. 47 Enz3 § 383. 46

2. Das Verhältnis von Geist und Dasein

137

„Dasein“ versteht Hegel – wie wiederum seinen Ausführungen in der Seinslogik zu entnehmen ist – ein raumzeitliches, materielles und sinnliches Sein, wobei alles, was ein solches Sein hat, ihm zufolge bestimmt und durch seine Bestimmungen vereinzelt ist.48 Im Umkehrschluss heißt das, dass es nichts gibt, das ein raumzeitliches, materielles und sinnliches Sein hat, das nicht bestimmt und durch seine Bestimmungen vereinzelt ist. Diese Behauptung Hegels ist nachvollziehbar, insbesondere wenn er unter Bestimmungen nicht nur qualitative und innere Bestimmungen versteht, sondern auch die Raum-Zeit-Stelle, die eine Entität einnimmt. Entitäten sind etwa Steine, Bäume und Pferde. Sie alle haben ein raumzeitliches, materielles und sinnliches Sein und sind qualitativ bestimmt. Pferde haben sogar innere Bestimmungen, Empfindungen zum Beispiel. Durch diese qualitativen und ggf. sogar immanenten Bestimmungen sind alle diese Entitäten individuell. So gleicht kein Stein dem anderen. Jeder hat eine etwas andere Farbe, Form, materielle Zusammensetzung etc. Dass Hegels Behauptung nachvollziehbar ist, insofern er unter den Bestimmungen auch die Raum-Zeit-Stelle versteht, die eine Entität einnimmt, sage ich im Hinblick etwa auf Atome. Wasserstoffatome sind alle gleich aufgebaut, nehmen aber jeweils eine andere Raum-Zeit-Stelle ein und sind letztlich dadurch vereinzelt bzw. voneinander unterschieden. Hegels Satz, dass die Allgemeinheit des Geistes auch sein Dasein sei, ist nun so zu verstehen, dass der allgemeine Begriff des Geistes immer zugleich ein raumzeitliches, materielles, bestimmtes und vereinzeltes Sein hat. Die Einzelheit ist das eigene Moment des allgemeinen Begriffs des Geistes. Der Geist ist ihm zufolge also in sich selbst entgegengesetzt: Er hat ein raumzeitliches, materielles, sinnliches und bestimmtes Sein, ohne dabei seine Allgemeinheit aufzugeben. Er vereint beide Momente – die Allgemeinheit und Einzelheit – in sich. Was aber soll es heißen, dass der allgemeine Begriff des Geistes ein vereinzeltes, sinnliches Dasein hat, ohne seine Allgemeinheit aufzugeben? Hegel ist der Auffassung, dass der allgemeine Begriff des Geistes in allen selbstbewussten Individuen realisiert ist. Er hat in ihnen eine Realität, ein reales Sein.49 Oder von den selbstbewussten Individuen ausgehend dargelegt: Jedes selbstbewusste Individuum ist eine Realisierung, eine Instanz, ein Vorkommnis des Geistes. Darauf gilt es näher einzugehen. Wie oben dargelegt, besteht der allgemeine Begriff des Geistes in der „Bewegung von der Natur sich zu befreyen“. Nach Hegel ist jedes selbstbewusste Individuum eine Instanz des Geistes, insofern es grundsätzlich dazu imstande ist, diese Befreiungsbewegung von der Natur auszuführen. Ich spreche absichtlich davon, dass das Individuum grundsätzlich dazu imstande ist, diese Befreiungsbewegung auszuführen, weil meines Erachtens zwischen der Potentialität und der Aktualität des Geistes unterschieden werden muss. Das Individuum aktualisiert diese Bewegung, wenn es sie tatsächlich ausführt, das heißt sich in einer konkreten Situation im Denken auf 48 49

Vgl. GW 11, 77 – 78. Vgl. Emundts 2012, S. 382.

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

seine unmittelbaren Bestimmungen bezieht und ihre Form der Unmittelbarkeit negiert. Wenn es sich hingegen ganz von seinen Impulsen und Trieben steuern lässt, aktualisiert es diese Bewegung nicht. Dennoch ist auch dieses selbstbewusste Individuum eine Realisierung des Geistes insofern, als es grundsätzlich dazu imstande wäre. Als eine Realisierung des Geistes ist das selbstbewusste Individuum etwas Allgemeines. In ihm ist der allgemeine Begriff des Geistes realisiert. Diesen hat er mit allen selbstbewussten Individuen gemeinsam. Zugleich ist das selbstbewusste Individuum aber auch etwas Einzelnes. Es hat individuelle Bestimmungen, durch die es von allen anderen unterschieden ist und sich als Selbstbewusstsein auch selbst von diesen unterscheidet. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Bestimmungen oszilliert es: Es ist sowohl mit allen anderen identisch als auch von ihnen unterschieden. Man kann sagen, dass das Individuum als eine Realisierung des allgemeinen Begriffs des Geistes mit dem Allgemeinen bzw. dem Geist identisch ist. Als Einzelnes hingegen ist es vom Allgemeinen bzw. vom Geist unterschieden.50 Es ist eben einzeln und allgemein. Es ist Geist und – durch seine unmittelbaren Bestimmungen – zugleich von ihm unterschieden. Diese Feststellung korreliert mit dem Ergebnis meiner vorhergehenden Untersuchung, dass das selbstbewusste Individuum (durch seine Bestimmungen) sowohl endlich als auch (als Selbstbewusstsein) unendlich ist. Bis hierher habe ich dargelegt, dass der allgemeine Begriff des Geistes Hegel zufolge immer zugleich vereinzelt ist. Doch wie begründet er diese Annahme? Hegel meint, dass der allgemeine Begriff des Geistes deswegen immer zugleich ein raumzeitliches, materielles, unmittelbar bestimmtes und vereinzeltes Sein haben muss, weil er sich allererst durch die negierende Tätigkeit, die sich auf seine Unmittelbarkeit richtet, konstituiert. Er kann also gar nicht ohne sie sein. Er ist an sie unabdingbar gebunden.51 Der Geist bringt sich überhaupt erst dadurch hervor, dass er seine Unmittelbarkeit negiert und in dieser Negationsleistung rein bei sich ist. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wäre der Geist nicht zugleich unmittelbar, hätte er nichts, das er negieren könnte, und folglich könnte er sich nicht selbst hervorbringen bzw. sich nicht als frei erweisen. Die Unmittelbarkeit und Heterogenität sind unmittelbare Bestandteile des Geistes. Sie gehören zu seinem Begriff dazu. Zugleich befreit sich der Geist von seiner unmittelbaren Bestimmtheit, indem er sie im denkenden Selbstbezug negiert. An die Feststellung, dass die Unmittelbarkeit integraler Bestandteil des Geistes ist, möchte ich eine Überlegung zum Verhältnisses des Geistes zur Kontingenz anschließen: An verschiedenen Stellen meiner Untersuchung habe ich gezeigt, dass die unmittelbaren Bestimmungen der Seele – die natürlichen Qualitäten, Empfindungen, Triebe, Neigungen und charakterlichen Dispositionen – kontingent sind in dem 50 51

Vgl. ebd., S. 368. Derselben Ansicht ist Khurana 2017, S. 338.

2. Das Verhältnis von Geist und Dasein

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Sinne, dass die Seele sie zwar hat, nicht aber mit naturgesetzlicher Notwendigkeit. Etwa dass ich einen bestimmten Charakter habe oder ein bestimmtes Naturell. Genau so hätte ich auch mit einem anderen Charakter und Naturell zur Welt kommen können. Anstatt zu sagen, dass die Unmittelbarkeit integraler Bestandteil des Geistes ist, ließe sich somit auch sagen, dass die Kontingenz integraler oder – sagen wir besser – notwendiger Bestandteil des Geistes ist. Notwendig ist die Kontingenz für den Geist, weil er sich erst dadurch als frei erweist, dass er seine kontingenten, unmittelbaren Bestimmungen durch konkrete Bezugnahme im Denken negiert. Anstatt sich durch sie bestimmen zu lassen, setzt er sie als unwesentlich und bestimmt sich letztlich selbst. Aus dem bisher Gesagten können wir schließen, dass der allgemeine Begriff des Geistes Hegel zufolge keine von den selbstbewussten Individuen unabhängige Realität hat, sondern nur in ihnen realisiert ist.52 Er vertritt also eine Art Begriffsrealismus: Den allgemeinen Begriff des Geistes gibt es für ihn wirklich. Er ist real in den geistigen Individuen.53

2.2 Ist das Individuum „Träger“ des Geistes? Vorhin hatte ich dargelegt, dass in der aktuellen Debatte einige die Position vertreten, dass das menschliche Individuum lediglich Träger des Geistes sei. Sie gehen davon aus, dass zwischen Individuum und Geist eine Polarität bestehe. Der Geist übersteige das Individuum dadurch, dass das Individuum partikular und endlich, der Geist hingegen universal und unendlich sei. Als etwas Unendliches und Allgemeines könne er sich nicht in einem endlichen Individuum allein realisieren, sondern nur in vielen. Nur aus der Reihe der endlichen Individuen heraus sei er zu begreifen. Dieser Position möchte ich entgegenhalten, dass die Auffassung, der zufolge sich der Begriff nicht als etwas Allgemeines in einem Individuum allein, sondern nur in vielen realisieren kann, Hegel zufolge auf das Verhältnis von Gattungsbegriff und Gattungsexemplar zutrifft, nicht aber auf dasjenige von Geist und selbstbewusstem Individuum. Gehen wir darauf näher ein. In der Organik, dem letzten Teil seiner Naturphilosophie, thematisiert Hegel das Verhältnis von Individuum und biologischer Gattung. Er geht davon aus, dass die Gattung – wie auch der Geist – ein Allgemeinbegriff bzw. ein allgemeines be52 Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Geist ist letztlich die jahrhundertealte Universalienfrage, also die Frage nach dem Verhältnis von Einzelding und Begriff. Für eine Darlegung des jahrhundertalten Universalienproblems siehe die zwar von 1926 stammende, aber nach wir vor aktuelle und äußerst klare Darstellung von Johannes Assenmacher. (Assenmacher, Johannes: Die Geschichte des Individuationsprinzips in der Scholastik. Leipzig 1926). 53 Ebenso Emundts 2012, S. 219 u. 382.

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

griffliches Prinzip ist. Dieses Prinzip ist im einzelnen Gattungsexemplar realisiert, in der Weise, dass es ihm seine Organisation gibt.54 Zugleich übersteigt es das einzelne Gattungsexemplar insofern, als es sich – wie Hegel betont – nur in einer Kette von Individuen realisieren kann. Durch Fortpflanzung zweier Gattungsexemplare entsteht ein weiteres Exemplar. So bleibt der Gattungsbegriff im Prozess von Fortpflanzung und Tod bestehen. Hegel räsoniert: „Die Gattung erhält sich nur durch Untergang der Individuen“.55 Die Gattung als etwas Allgemeines geht über das einzelne Exemplar hinaus. Letzteres ist je nur eine momentane Realisierung des Begriffs. Hegel drückt dies so aus, dass sich der Gattungsbegriff nur als Einzelnes im Individuum realisieren kann, das heißt als einzelnes Exemplar, nicht aber als Allgemeines, das heißt als Gattung: „Das Thier an sich ist Gattung, diese hat aber nicht als solche Existenz, nicht als Allgemeines.“56 Anders das Verhältnis von selbstbewusstem Individuum und Geist: Wie dargelegt, besteht der Begriff des Geistes in der Bewegung, sich im Denken auf seine unmittelbaren Bestimmungen zu beziehen und deren Form der Unmittelbarkeit zu negieren. Dieser Begriff ist im selbstbewussten Individuum vollständig realisiert, insofern jedes selbstbewusste Individuum grundsätzlich dazu imstande ist, diese Bewegung auszuführen.57 Während sich der Gattungsbegriff nur als Einzelnes im einzelnen Gattungsexemplar realisieren kann, ist der Begriff des Geistes – so Hegel – im selbstbewussten Individuum als Allgemeines verwirklicht. Oder in andere Worte gefasst: Während das einzelne Gattungsexemplar nur eine unvollständige Realisierung des Gattungsbegriffes ist, ist das selbstbewusste Individuum eine vollständige Realisierung des Geistes. Damit sollte klar geworden sein, dass das selbstbewusste Individuum nicht Träger des Geistes sein kann – sondern selbst Geist ist.

2.3 Die Bedeutung der Materialität für den Geist Einige Interpreten sind der Auffassung, dass der subjektive, d.i. menschliche Geist den anderen Geistformen bei Hegel – Staat, Geschichte, Kunst, Religion und Philosophie – gegenüber inferior sei.58 Sie begründen diese Auffassung damit, dass er in der subjektiven Geistphilosophie, genaugenommen in der Anthropologie, die 54

Vgl. ebd., S. 367. Enz3 § 370. 56 GW 25.1, 189 f. 57 Vgl. Iber, Christian: „Hegels Konzeption des Begriffs.“ In: Koch, Anton Friedrich u. a. (Hg.): G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Berlin 2002, S. 181 – 202, hier S. 199. 58 Diese Ansicht vertreten etwa Odo Marquard, Manfred Baum und Adriaan Peperzak. (Vgl. Marquard, Odo: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie: Aufsätze. Frankfurt a. M. 1992, S. 131; ders. 1971, S. 368; Baum, Manfred: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Geist und Seele in der Anthropologie.“ In: Decher, Friedhelm u. a. (Hg.): Anthropologie im 19. Jahrhundert. Würzburg 1992, S. 51 – 66, hier S. 65; Peperzak, Adriaan: „Double-faced Subjectivity.“ In: Merker, Barbara u. a. (Hg.): Subjektivität und Anerkennung. Beiträge zu Hegels Philosophie des Geistes. Paderborn 2003, S. 167 – 179, hier S. 170). 55

2. Das Verhältnis von Geist und Dasein

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Unmittelbarkeit bzw. Natürlichkeit des Geistes thematisiere, die dem Geist unangemessen sei. Bei der Natürlichkeit des Geistes scheinen sie insbesondere an dessen Körperlichkeit zu denken.59 Auch wenn sie nicht erläutern, was sie mit der Unangemessenheit der Unmittelbarkeit gegenüber dem Geist meinen, so scheint diese Auffassung doch mindestens zweierlei Annahmen zu implizieren: Zum einen scheinen sie sagen zu wollen, dass die Unmittelbarkeit im Verhältnis zum Geist pejorativ sei, und zum anderen, dass der Geist seine Unmittelbarkeit in seinen höheren Realisierungsformen hinter sich lasse. Ich möchte an dieser Stelle nicht die Frage diskutieren, welchen Status die subjektive Geistphilosophie innerhalb von Hegels Geistphilosophie einnimmt, sondern mich lediglich mit der Auffassung auseinandersetzen, die Unmittelbarkeit sei dem Geist unangemessen. Ich halte diese Auffassung aus mindestens zwei Gründen für unzutreffend. Wie ich erstens an einem Beispiel aus der „Philosophie des absoluten Geistes“ zeigen möchte, ist die Unmittelbarkeit des Geistes nichts, was er jemals hinter sich lässt. Auch in seinen höheren Realisierungsformen ist und bleibt er an sie gebunden. Zweitens wertet Hegel die Körperlichkeit nicht ab. Er ist kein Leibverächter, wie ihm dies am prominentesten wohl von Ludwig Feuerbach unterstellt wurde.60 Ganz im Gegenteil stellt er dem menschlichen Leib eine große Wertschätzung anheim, indem er ihm zufolge in einzigartiger Weise imstande ist, Geistiges auszudrücken. Kommen wir zuerst darauf zu sprechen, dass die Natürlichkeit nichts ist, was der Geist jemals hinter sich lässt, auch nicht in seinen höchsten Realisierungsformen. Ergebnis meiner vorhergehenden Untersuchung war, dass die Natürlichkeit bzw. Unmittelbarkeit integraler Bestandteil des Geist-Begriffes ist: Der allgemeine Begriff des Geistes hat immer zugleich ein raumzeitliches, materielles und sinnliches Sein, wobei alles, was ein solches Sein hat, unmittelbar bestimmt und das heißt zugleich vereinzelt ist. Er existiert niemals unabhängig von seiner Unmittelbarkeit, weil er sich zuallererst durch die negierende Tätigkeit, die sich auf seine Unmittelbarkeit richtet, konstituiert. Er kann also gar nicht ohne sie sein. Er bleibt immer an sie – als seine Grundlage – gebunden.61 Das Ergebnis, dass die Materialität, Unmittelbarkeit und Vereinzelung die Conditio sine qua non geistiger Phänomene ist, gilt für den Geist egal in welcher seiner Realisierungsformen, wie ich an der Kunst – 59 Zu der weit zurückreichenden Auffassung, nach der die subjektive Geistphilosophie den anderen Systemteilen Hegels nachstehe und deswegen nicht beachtenswert sei, siehe in dieser Untersuchung die Einleitung auf S. 22 f. 60 Ludwig Feuerbach kritisiert an Hegels spekulativer Philosophie, dass das Sinnliche in ihr negativ besetzt sei. In bewusster Abgrenzung zu Hegel macht er die Leiblichkeit des Menschen und überhaupt das Sinnliche zu einem zentralen Motiv seiner eigenen Philosophie. (Vgl. z. B. Feuerbach, Ludwig: „Zu Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist.“ In: Ders.: Gesammelte Werke 10: Kleinere Schriften III (1846 – 1850). Hg. v. Werner Schuffenhauer. Berlin 1990, S. 122 – 150, hier S. 145). 61 Hegel antizipiert damit zentrale Gedanken des Embodiment – ein Konzept der neueren Kognitionspsychologie, das davon ausgeht, dass psychische Prozesse immer auf eine materielle Basis angewiesen sind.

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

der ersten von drei Realisierungsformen des absoluten Geistes – veranschaulichen möchte. Im ersten Teil der „Philosophie des absoluten Geistes“ thematisiert Hegel neben anderen Kunstformen die Malerei. Er denkt dabei vor allem an Gemälde, auf denen christliche Motive dargestellt werden. Etwa Madonnendarstellungen von Raffael oder van Dyck, auf denen Maria mit dem Kinde zu sehen ist. Beide Figuren nehmen auf dem Gemälde eine bestimmte Position ein, haben eine individuelle Gestalt und Physiognomie, einen bestimmten Gesichtsausdruck und deuten vielleicht sogar eine Handlung an. Was deren Materialität anbetrifft, so bestehen beide Figuren, Maria und ihr Kind, wie auch der Hintergrund etc. aus auf Leinwand aufgetragenen Farbpigmenten. Hegel führt aus, dass beide Figuren einen geistigen Inhalt ausdrücken, und zwar die reine interessenlose Liebe Marias zu ihrem Kinde: „Die reine interessenlose Liebe, die Mutter mit ihrem Kinde, die nur von dieser Liebe beseelt ist, und das, was sie ist, ist die Liebe zu dem Kinde.“62 Dieser Inhalt wird mittels der zwei gemalten und das heißt sinnlich-materialisierten Figuren, Maria und dem Kind, ausgedrückt. Charakteristisch für das Verhältnis von geistigem Inhalt und Materialität ist, dass die Materialität hinter dem Inhalt zurücktritt. Der geistige Inhalt weist über die schiere Materialität – die in einer bestimmten Weise auf die Leinwand aufgetragene Farbe – hinaus. Wenn sich ein Betrachter die Mariendarstellung anschaut, dann nimmt er an erster Stelle weder die Leinwand noch die einzelnen Farbpigmente noch die Pinselstriche als solche wahr, sondern den geistigen Gehalt des Gemäldes, das ist die interessenlose Liebe Marias zu ihrem Kinde. Dieser Inhalt kann nicht ausgedrückt werden, ohne materialisiert zu sein – sei es in Form eines Gemäldes, einer Plastik, eines Musikstücks oder einer mündlichen oder schriftlichen Darstellung. Jeder geistige Gehalt benötigt eine materielle Basis, durch die er ausgedrückt und sinnlich wahrnehmbar gemacht wird. Als Nächstes möchte ich zeigen, dass Hegel den menschlichen Leib nicht abwertet. Ganz im Gegenteil ist er ihm zufolge in einzigartiger Weise imstande, den Geist auszudrücken.63 Oder um absichtlich die Begrifflichkeit derjenigen zu verwenden, die meinen, die Leiblichkeit sei dem Geist unangemessen: Der Leib ist das dem Geist angemessenste Ausdrucksorgan. Hegel schreibt in der „Philosophie des absoluten Geistes“ über die Darstellung der menschlichen Gestalt in der Kunst: „Unter den Gestaltungen ist die menschliche die höchste und wahrhafte, weil nur in ihr der Geist seine Leiblichkeit und hiemit anschaubaren Ausdruck haben kann.“64 Für Hegel ist der menschliche Leib das ideale Ausdrucksorgan des Geistes, weil er dessen Funktionen ausführen kann. Dabei nimmt er eine Abstufung hinsichtlich der Ausdrucksfähigkeit der verschiedenen Körperteile vor. Nicht jedes Körperteil kann den Geist gleich gut ausdrücken. Durch die Gestalt des Menschen, sein Gesicht und seine Hände werde geistiger Gehalt am besten ausgedrückt, durch Bauch und Ge62

Hegel 1826 [2005], S. 211. Siehe dazu Peters, Julia: Hegel on Beauty. New York 2017, S. 17 – 38. 64 Enz3 § 558. 63

3. Die Freiheit des Individuums qua Selbstbestimmung

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schlechtsorgane hingegen könne er wenig bis gar nicht ausgedrückt werden. Der menschliche Leib ist auf der einen Seite optimales Ausdrucksorgan des Geistes, auf der anderen Seite aber auch etwas Animalisches, dem Geist Unverfügbares. Hegel betont, dass der Mensch durch seinen aufrechten Gang die Hände frei habe. Mit ihnen kann er gestikulieren und dadurch verschiedene Empfindungen zum Ausdruck bringen. Er kann mit ihnen (aufgrund des beweglichen Daumens) etwas formen und schaffen, weshalb Hegel die Hand auch als das „absolute Werkzeug“ des Menschen bezeichnet.65 Darüber hinaus könne der Mensch seine Emotionen und Gedanken durch die Gesichtsmimik in ausgezeichneter Weise ausdrücken. Hegel stellt fest: „Der geistige Ausdruck fällt beim Menschen vorzüglich ins Gesicht und in die Haltung.“66 (So ist es im Übrigen auch in der Mariendarstellung: Maria drückt die Liebe zu ihrem Kinde durch ihren Gesichtsausdruck, ihre Körperhaltung und ggf. durch eine angedeutete Handlung aus.) Darüber hinaus zeugt die Sprache Hegel zufolge von der Geistigkeit des Menschen. So gebe der „über das Ganze ausgegossene geistige Ton“ „den Körper unmittelbar als Äußerlichkeit einer höhern Natur kund“.67 Der Mensch kann mittels der Sprache seine Gedanken ausdrücken sowie Wissen, das objektiv und allgemein ist, weitergeben und teilen. Hegel ist also kein Intellektualist, der die Materialität bzw. Leiblichkeit gegenüber dem Geist abwertet.68 Die Leiblichkeit ist auch nicht nur Mittel zum Zweck für den Geist, um in Erscheinung zu treten, sondern sie befähigt den Geist allererst zu bestimmten Funktionen.

3. Die Freiheit des Individuums qua Selbstbestimmung Kommen wir noch einmal darauf zu sprechen, worin der subjektiven Geistphilosophie nach zu urteilen der Geist besteht. Er besteht darin, sich von seinen unmittelbaren Bestimmungen – den natürlichen Qualitäten, Empfindungen, Trieben, Neigungen und charakterlichen Dispositionen – frei machen zu können. Diese Freiheit des geistigen Individuums, sich unbestimmt zu machen, ist eine Freiheit, die negativ ist. Sie ist nur ein partiales Ergebnis. Noch hat das Individuum seine Freiheit nicht realisiert. Seinen positiven oder auch – wenn man so will – praktischen Freiheitsbegriff entwickelt Hegel in der Psychologie im Übergang zum objektiven Geist. Hegel legt dort dar, dass sich das Individuum, das sich unbestimmt gemacht hat, jeglichen Willensinhalt geben kann. Es kann sich Zwecke setzen, die es versucht zu verwirklichen bzw. „in die Objektivität zu übersetzen“.69 65

GW 25.1, 407; vgl. GW 25.2, 740. GW 25.1, 98. 67 Enz3 § 411. 68 Als „intellektualistisch“ wird Hegel zum Beispiel von Herbert Schnädelbach bezeichnet. (Schnädelbach 2013, S. 117). 69 GPhR § 8. 66

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

Dabei unterscheidet Hegel zwischen willkürlichen auf der einen Seite und vernünftigen Zwecksetzungen bzw. Willensinhalten auf der anderen Seite, die sich das Individuum geben kann. Er versucht aufzuzeigen, dass die wahre Freiheit des Individuums gerade nicht darin besteht, sich jeglichen Willensinhalt geben zu können oder – wie er formuliert – „tun zu können, was man wolle“, sondern darin, sich vernünftig zu bestimmen.70 An meinen Ausführungen wird bereits deutlich, dass Hegel nicht von einer Bipolarität von Freiheit ausgeht, nach der man entweder unfrei oder frei ist, sondern von verschiedenen Freiheitsgraden.71 Auf einer ersten Stufe ist das geistige Individuum frei dadurch, dass es sich unbestimmt machen kann. Es ist daraufhin in der Lage, sich selbst zu bestimmen. Dabei kann es sich jeglichen Willensinhalt geben. Diese Möglichkeit bezeichnet Hegel als Willkür. Die Willkürfreiheit ist für ihn allerdings nur eine rudimentäre, noch unentwickelte Form der Freiheit. Wahrhaft frei ist das Individuum erst, wenn es sich vernünftige Willensbestimmungen gibt. Doch warum ist das Individuum nach Hegel nicht wahrlich frei, wenn es tun kann, was es will? Und worin besteht für ihn eine vernünftige Willens- bzw. Selbstbestimmung?

3.1 Die willkürliche Selbstbestimmung Die willkürliche Selbstbestimmung des Individuums besteht für Hegel darin, dass es bestimmte partikulare „Triebe“, „Neigungen“, „Interessen“ und „Leidenschaften“ hat, die es zu realisieren versucht.72 Sie umfassen alle denkbaren Inhalte, alles, was das Individuum realisieren möchte, wobei sie unterschiedlicher Qualität sind. Ohne auf den weiteren Unterschied zwischen ihnen einzugehen, ist den Trieben, Neigungen, Interessen und Leidenschaften Hegel zufolge gemeinsam, dass sie auf einem gefühlten Mangel beruhen. Das Individuum meint, dass ihm etwas fehlt, und verspürt den Drang, diesen Mangel zu beseitigen.73 Wenn Hegel im Zusammenhang der willkürlichen Selbstbestimmung des Individuums von Trieben spricht, dann ist das erst einmal irritierend. Zuvor war doch die Rede davon, dass sich das Individuum von allen seinen unmittelbaren Bestimmungen wie den Trieben frei gemacht hat. Diese Irritation ist meines Erachtens so aufzulösen, dass, wenn Hegel hier von Trieben spricht, diese zwar auch – wie die unmittelbaren Bestimmungen der Seele – unmittelbar sind. Das Individuum hat sie einfach; es hat

70

Ebd. § 15. Derselben Ansicht ist Stederoth, Dirk: „Practical Mind and Free Will: Hegel’s Gradual Development of Will.“ In: Hermann-Sinai, Susanne u. a. (Hg.): Hegel’s Philosophical Psychology. New York 2016, S. 153 – 169, hier S. 153. 72 Enz3 §§ 473 f. 73 Vgl. GW 25.2, 903 f. 71

3. Die Freiheit des Individuums qua Selbstbestimmung

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sie sich nicht ausgesucht. Aber anstatt sich blind von ihnen treiben zu lassen, entscheidet es sich bewusst dazu, ihnen nachzugehen. Es möchte sie realisieren. Hegel kritisiert die Ansicht, nach der in der Willkürfreiheit die Freiheit des Individuums schlechthin besteht. Aus mindestens zwei Gründen sei das Individuum gerade nicht frei, wenn es sich willkürliche Willensinhalte gebe: Ein erstes Problem an der willkürlichen Willensbestimmung sieht Hegel darin, dass sich die vielen Triebe, Neigungen, Interessen und Leidenschaften des Individuums gegenseitig ausschließen, und zwar bereits dadurch, dass es sie nicht alle realisieren kann. Es muss eine Entscheidung treffen, welchen es den Vorrang gibt, und auf die Realisierung mancher von ihnen zugunsten anderer verzichten.74 Zweitens kann in der Willkürfreiheit Hegel zufolge deswegen nicht die wahre Freiheit des Individuums bestehen, weil es in ihr niemals vollständig befriedigt ist. Es verspürt zwar einen „Genuss“, sobald es einen bestimmten Trieb befriedigt hat, doch schon bald meldet sich ein anderer Trieb. Die Befriedigung hält nie lange an. Das Individuum ist immer auf etwas gerichtet, das es noch nicht hat, aber begehrt. Immer ist es getrieben, ständig spürt es irgendeinen Mangel. Hegel bringt diesen Umstand mit den Worten zum Ausdruck: „Als der Widerspruch, sich in einer Besonderheit zu verwirklichen, welche zugleich für ihn eine Nichtigkeit ist, und eine Befriedigung in ihr zu haben, aus der er zugleich heraus ist, ist er zunächst der Prozeß der Zerstreuung und des Aufhebens einer Neigung oder Genusses durch eine andere und der Befriedigung, die dies ebensosehr nicht ist, durch eine andere ins Unendliche.“75 Anstatt darin frei zu sein, sich jeglichen Willensinhalt geben zu können, ist das Individuum vielmehr Sklave seiner vielen Triebe, Neigungen und Interessen. Die Willkürfreiheit entpuppt sich bei genauerem Hinsehen somit eher als eine Art Unfreiheit. Hegel meint, dass das Individuum in der Willkürfreiheit zwar der Form nach unendlich sei, insofern es sich unbestimmt machen könne, dem Willensinhalt nach aber endlich. Endlich ist es insofern, als es auf etwas anderes als es selbst gerichtet ist, auf das nämlich, was es begehrt. Hiervon sei es abhängig. Es sei frei und unfrei zugleich. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts schlussfolgert Hegel: „Wenn man sagen hört, die Freiheit überhaupt sei dies, daß man tun könne, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freie Wille, Recht, Sittlichkeit u.s.f. ist, noch keine Ahnung findet.“76 Der an und für sich freie Wille steht bei Hegel in Verbindung mit Recht und Sittlichkeit, das heißt den objektiven Verhältnissen.

74

Vgl. Enz3 § 474. Enz3 § 478. 76 GPhR § 15.

75

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

3.2 Die vernünftige Selbstbestimmung Für Hegel setzt die vernünftige Selbstbestimmung des Individuums einen Erkenntnisakt voraus: Es erkennt, dass es seine Freiheit nicht im Alleingang realisieren kann, sondern nur im Rahmen einer Ordnung, in der sittliche und rechtliche Verhältnisse herrschen.77 Diese Verhältnisse setzt Hegel ihrer Struktur nach als vernünftig voraus. Sie gewährleisten, dass allen selbstbewussten Individuen dieselben Rechte zukommen, wobei alle Rechte zugleich mit Pflichten und Freiheitseinschränkungen einhergehen. Man denke etwa an das Recht des Einzelnen auf Eigentum, das zugleich die Pflicht beinhaltet, das Eigentum anderer anzuerkennen. Im Rahmen einer solchen Ordnung sind alle gleichermaßen frei. Würde hingegen jeder versuchen, seine partikulären Zwecke zu realisieren, ohne Rücksicht auf den anderen, würde die Macht des Stärkeren regieren. Es käme zu einem „Kampf um Anerkennung“, bei dem der Schwächere unterlegen wäre und seine Zwecke nicht realisieren könnte. Das Individuum aber, das erkennt, dass es seine Freiheit nur im Rahmen solcher vernünftigen Verhältnisse realisieren kann, nimmt diese nicht als eine ihm fremde Gewalt oder gar als Zwang wahr, sondern bindet sich aus freien Stücken an sie. Es schränkt sich freiwillig in seinem Willen ein, aus Einsicht, dass nur so alle gleichermaßen frei sein können, und erklärt die rechtlichen und sittlichen Verhältnisse darüber hinaus für legitim.78 Freiheit besteht für Hegel folglich nicht in der Abwesenheit von allen Beschränkungen, sondern im Gegenteil in der Bereitschaft sich einzuschränken. Indem Hegel individuelle Freiheit an einen kognitiven Akt bindet, also daran, zu erkennen, unter welchen Bedingungen Freiheit überhaupt möglich ist, werden auch Individuen von deren Betätigung ausgeschlossen.79 Dieser Erkenntnisakt kann nämlich nicht von jedem gewährleistet werden, zum Beispiel von denjenigen nicht, die keine „Bildung“ erfahren haben. Sie ist ihm zufolge eine der Voraussetzungen dafür, „allgemeine Betrachtungsweisen im Individuum geltend zu machen“ und wird – der subjektiven Geistphilosophie nach zu urteilen – in der Schule vermittelt.80 Das Individuum lernt dort, sich in die bestehenden, allgemeinen Verhältnisse einzufügen und im Sinne des Gemeinwesens zu denken. Hegel führt aus, dass diejenigen, die sich nicht in die bestehenden Verhältnisse einordnen – man müsste wohl sagen: aus mangelnder Einsicht –, das Recht als 77 Zur Willensfreiheit als Voraussetzung von Hegels eigentlichem Freiheitsbegriff siehe Kapitel I. 5.3. 78 Vgl. Arndt, Andreas: „Anerkennung: Zur Tragweite eines Begriffs.“ In: Ebke, Thomas u.a: (Hg.): Mensch und Gesellschaft zwischen Natur und Geschichte. Zum Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie. Berlin u. a. 2017b, S. 227 – 242, hier S. 230; Sheplyakova 2017, S. 287; Sedgwick 2019, S. 215. 79 Vgl. Arndt 2019, S. 228. 80 GW 25.1, 39. Zu Hegels Bildungs-Begriff siehe des Näheren den Beitrag von Sandkaulen, Birgit: „Bildung bei Hegel – Entfremdung oder Versöhnung?“ In: Hegel-Jahrbuch (2014), 1, S. 430 – 438.

3. Die Freiheit des Individuums qua Selbstbestimmung

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fremde Gewalt wahrnehmen. Sie können sich den objektiven Verhältnissen nicht entziehen, sondern werden etwa durch Sanktionen und Strafen gezwungen, sich einzufügen. Widersetzt es sich, lebt es im ständigen Widerstreit mit ihnen. Partizipiert es aber freiwillig an den objektiven Strukturen, weil es sie für gut befindet, bringt es sie zugleich tätig hervor.81 So stehen ihm die Strukturen auf der einen Seite als etwas Objektives gegenüber und auf der anderen Seite konstituiert es sie mit. Es wird auf diese Weise zur rechtserzeugenden Instanz.82 Bei Hegel hat Freiheit also ganz viel damit zu tun, in welchem Verhältnis das Individuum zur Welt steht: ob es die bestehenden Verhältnisse will und in Einklang mit ihnen lebt oder sich ihnen widersetzt und im Widerstreit mit ihnen ist.83 Hegel hat keine individualistische Freiheitsauffassung, nach der sich das Individuum nur fern von allen Schranken entfalten kann, isoliert und unabhängig von anderen. Genau so wenig vertritt er einen Kollektivismus, in dem nur das zählt, was die Mehrheit will, und in dem sich das Individuum dem größeren Ganzen bedingungslos unterordnen muss. Stattdessen findet bei Hegel eine Vermittlung von Individuum und Staat statt: Im Staat mit seinem konstitutionellen Recht ist jeder Einzelne vom Recht geschützt. Jeder Einzelne kann sich – sofern er sich im allgemeinen sittlichen Rahmen bewegt – frei entfalten. Die freie Entfaltung des Individuums ist sogar nur unter solchen Bedingungen gewährleistet. Der Staat berücksichtigt die Interessen und Wünsche der Individuen, etwa den Wunsch nach Wohlstand, nach freier Berufs- und Gewerbewahl etc., und verlangt von ihnen im Gegenzug, sich nicht auf die Verwirklichung ihrer partikulären Interessen zu versteifen, sondern sich in die allgemeinen Verhältnisse einzufügen und mit Blick auf diese zu denken und zu handeln.84 Wie genau sich Hegel diese Vermittlung von Individuum und Staat vorstellt, lässt sich an der geschlechtlichen Liebe exemplifizieren, die ihm zufolge in der Ehe münden soll. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts thematisiert Hegel die geschlechtliche Liebe, die auf dem Bedürfnis der Individuen nach inniger Vertrautheit, Intimität und körperlicher Nähe mit einem anderen beruhe, kurz: darin, ihr persönliches Glück in der Liebe zu finden.85 Nach Hegel findet dieses Bedürfnis der Individuen durchaus seine Berechtigung im Staat, doch es dürfe nicht – wie bei seinen Zeitgenossen, den Frühromantikern – zum absoluten Prinzip erklärt, das heißt über alle anderen Interessen gestellt werden. Den Romantikern zufolge solle man sich von allen gesellschaftlichen Zwängen befreien und keine Kompromisse mit der bürgerlichen Welt eingehen.86 Das aufrichtige Gefühl, die eigene Autonomie und 81

Vgl. GPhR § 132; GW 25.1, 154. Vgl. Sedgwick 2019, S. 223. 83 Vgl. Khurana 2017, S. 287. 84 Vgl. Arndt 2019, S. 226. 85 Vgl. GPhR § 167. 86 Vgl. Wanning, Berbeli: Friedrich Schlegel zur Einführung. Hamburg 1999, S. 14 f.; von Dülmen, Richard: „Freundschaftskult und Kultivierung der Individualität um 1800.“ In: Ders. 82

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

Individualität stehe über allem, auch über den Anforderungen der bürgerlichen Welt. Anders bei Hegel: Für ihn darf die Liebe keine bloß subjektive Empfindung ohne Verbindlichkeit bleiben, keine reine Privatsache, sondern sie müsse sich mit den objektiven Interessen vereinigen. Diese Vereinigung dient sowohl dem Schutz des Einzelnen als auch dem Erhalt des Allgemeinen. Dem Schutz des Einzelnen dient sie insofern, als Gefühle wie die Liebe flüchtig seien. Sie können so schnell wieder gehen, wie sie gekommen sind. Es gibt für sie keine Garantie, ewig zu halten. In der Liebe ist man ständigen Hochs und Tiefs, großen Gefühlen und Gefühlsschwankungen ausgesetzt. Einer Empfindung fehle gerade die „an und für sich seiende Allgemeinheit“, der objektive Gehalt.87 Indem die Liebe aber in der Ehe mündet, erhält die Beziehung zweier Liebenden einen objektiven Wert, der über die subjektiven Gefühle hinausgeht. Diese Liebe wird durch die Eheschließung, bei der sich die Liebespartner ein offizielles, vertraglich festgehaltenes Versprechen geben, auf ein höheres, formales und rationales Niveau gehoben. Das in der Liebe bestehende emotionale und geistige Band zwischen den Liebenden wird auf diese Weise rechtlich verankert. In der Ehe werden die Liebenden ganz offiziell und nach außen hin eine vom Staat anerkannte, rechtliche Einheit. Durch die Eheschließung gewinnt die auf subjektiven Gefühlen beruhende Liebe zwischen zwei Individuen Folgendes dazu: Erstens wird dem Gefühl der Liebe, das, wie gesagt, vorübergehend sein kann, ein dauerhafter Wert verliehen. Während die Liebe etwas eher Passives ist, das einem zufällt, wird sie zweitens durch das offizielle Bekenntnis zweier Liebenden zueinander bei der Eheschließung zu einer aktiven, bewussten Entscheidung. Man entscheidet sich bewusst füreinander, dafür, sein Leben miteinander zu teilen. Statt einfach nur eine besondere Neigung füreinander zu verspüren, verpflichten sich die Liebenden in der Ehe, füreinander Verantwortung zu übernehmen und Sorge zu tragen. Die gegenseitige Fürsorge ist für Hegel „eines der absoluten Prinzipien, worauf die Sittlichkeit eines Gemeinwesens beruht“.88 Die Eheschließung ist Hegels Lösung dafür, wie die subjektive Empfindung der Liebe und die Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft miteinander versöhnt werden können. Durch die Eheschließung wird die Liebe in die bestehenden, nämlich sittlichen Verhältnisse integriert. Nur so finde der Mensch letztlich Erfüllung in der Liebe und gerade nicht, wie bei den Romantikern, dadurch, die gefühlsbetonte Liebe zur Maxime zu erheben und ihr alles andere – auch die Anforderungen der bürgerlichen Welt – unterzuordnen. Das Individuum, das einsieht, dass seine individuelle Freiheit nur im Rahmen einer sittlichen und rechtlichen Ordnung gewährleistet ist, ist nach Hegel nicht nur der Form nach, sondern auch dem Inhalt nach frei. Der Form nach frei ist das Individuum insofern, als es sich von seinen unmittelbaren Bestimmungen frei machen (Hg.): Entdeckung des Ich: Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln u. a. 2001, S. 265 – 286, hier S. 273. 87 Werke 14, 188 f. 88 GPhR § 167.

4. Zusammenfassung: Die Unendlichkeit und Freiheit des Individuums

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kann. Dem Inhalt nach frei wiederum ist es insofern, als es seine Freiheit will. Indem es der Form nach frei ist und dem Inhalt nach nichts als seine Freiheit will, bezieht es sich in dem, was es will, rein auf sich.89 In diesem reinen Selbstbezug, in dem es durch nichts anderes begrenzt ist, besteht für Hegel die wahre Freiheit und Unendlichkeit des Individuums.

4. Zusammenfassung: Die Unendlichkeit und Freiheit des Individuums Ausgangspunkt des zweiten Teils meiner Untersuchung bildete der bis ins 19. und 20. Jahrhundert zurückreichende Vorwurf gegen Hegels Geschichtsphilosophie, in ihr sei das menschliche Individuum lediglich Marionette des Weltgeistes. Letzterer bediene sich der Menschen, um durch sie seine Zwecke in der Geschichte zu realisieren. Ich bin in meiner Argumentation davon ausgegangen, dass das Verständnis, nach dem der Weltgeist das Individuum für seine Zwecke benutzt, die Annahme einer grundsätzlichen Trennung von Individuum und Weltgeist präsupponiert. Der Geist scheint nach diesem Verständnis eine von den Individuen getrennte Realität zu haben und sich dieser vorübergehend zu bedienen. Im zweiten Teil meiner Untersuchung ging es mir ausdrücklich nicht um eine Analyse des Verhältnisses von Individuum und Weltgeist in Hegels Geschichtsphilosophie. Es ging mir vielmehr darum zu zeigen, dass der subjektiven Geistphilosophie nach zu urteilen Individuum und Geist Hegel zufolge aus bestimmten Gründen nicht getrennt voneinander bestehen können, sondern in eins gedacht werden müssen. Das Verhältnis von menschlichem Individuum und Geist thematisiert Hegel in der „Philosophie des subjektiven Geistes“ als das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem. Endliches und Unendliches können nach Hegel nicht getrennt voneinander bestehen, weil das Unendliche, das per definitionem unbegrenzt ist, dann vom Endlichen begrenzt würde und dadurch selbst zum Endlichen werden würde. Stattdessen versucht Hegel aufzuzeigen, dass das Endliche und Unendliche in eins gedacht werden müssen in der Weise, dass das Endliche endlich und unendlich zugleich ist. Endlich bzw. begrenzt ist das Individuum nach Hegel insofern, als es unmittelbar bestimmt ist. Denn indem das Individuum etwas Bestimmtes ist, ist es vieles andere wiederum nicht. Es hat seine Grenze somit an all dem, das es nicht ist. Auch wenn es aufgrund seiner Bestimmungen endlich bzw. begrenzt ist, bildet die Endlichkeit, wie Hegel betont, die Bedingung dafür, überhaupt zu existieren. Denn alles, was existiert, das heißt ein raumzeitliches, materielles und sinnliches Dasein hat, ist bestimmt. Hegel deutet die Endlichkeit allerdings nicht als eine „letzte“ Bestimmung des menschlichen Individuums, sondern es gehe als Selbstbewusstsein über seine 89

Vgl. GPhR § 27.

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II. Das Verhältnis von Individuum und Geist

Endlichkeit zur Unendlichkeit hinaus. Das Selbstbewusstsein besteht in einem wissenden Bezug auf sich selbst, bei dem es von allen seinen Bestimmungen, durch die es begrenzt ist, abstrahiert. Durch diese Abstraktion ist es im Hegelschen Sinne unendlich. Im Anschluss daran bin ich auf den Begriff des Geistes eingegangen, unter dem Hegel ein allgemeines begriffliches Prinzip versteht. Dieses Prinzip fasst er wiederum nicht als etwas Starres bzw. Statisches, sondern als eine bestimmte Tätigkeit auf. Diese beschreibt Hegel als die „Bewegung selbst von der Natur sich zu befreyen“.90 Gemeint ist damit die Tätigkeit, sich auf seine unmittelbaren Bestimmungen zu beziehen und ihre Form der Unmittelbarkeit zu negieren. Hegel meint, dass der allgemeine Begriff des Geistes deswegen immer zugleich ein raumzeitliches, materielles und das heißt unmittelbar bestimmtes Sein haben muss, weil er sich allererst durch die negierende Tätigkeit, die sich auf seine Unmittelbarkeit richtet, konstituiert. Er kann also gar nicht ohne sie sein; er ist an sie unabdingbar gebunden. Der Geist bringt sich dadurch fortlaufend hervor, dass er seine Unmittelbarkeit negiert und in dieser Negationsleistung rein bei sich ist. Was zudem das Verhältnis des allgemeinen Begriffs des Geistes zu den Individuen anbetrifft, so konnte gezeigt werden, dass der Begriff des Geistes in allen selbstbewussten Individuen realisiert ist. Oder von den selbstbewussten Individuen ausgehend beschrieben: Jedes selbstbewusste Individuum ist eine vollständige Realisierung des Geistes. Vollständig insofern, als jedes einzelne selbstbewusste Individuum in der Lage ist, sich im Denken von seinen unmittelbaren Bestimmungen frei zu machen. Was den Vorwurf anbetrifft, dass das Individuum bloße Marionette des Weltgeistes und als solche unfrei sei, hat die Untersuchung ergeben, dass das Individuum als Geist absolut frei und selbstbestimmt ist. Es ist in der Lage, sich von allen seinen unmittelbaren Bestimmungen – wie seinen Empfindungen, Trieben, Neigungen und charakterlichen Dispositionen – frei zu machen und sich in einem weiteren Schritt jeglichen Willensinhalt zu geben. Dabei unterscheidet Hegel zwischen willkürlichen auf der einen Seite und vernünftigen Willensbestimmungen auf der anderen Seite, die sich das Individuum geben kann. Hegel ist der Auffassung, dass die wahre Freiheit des Individuums gerade nicht darin besteht, sich jeglichen Willensinhalt zu geben und tun und lassen zu können, was es will, sondern nur realisiert ist, wenn es sich vernünftig bestimmt. Vernünftige Selbstbestimmung setzt bei Hegel die Einsicht des Individuums voraus, dass Freiheit nur im Rahmen einer Ordnung möglich ist, in der vernünftige, das heißt sittliche und rechtliche Verhältnisse herrschen. Das Individuum, das dies erkennt und nach dieser Einsicht handelt, ist frei.

90

GW 15, 249.

Resümee Ergebnis meiner Untersuchung ist, dass beide Kritikpunkte, die im 19. und 20. Jahrhundert von Vertretern der Existenzphilosophie, der Kritischen Theorie sowie der französischen Gegenwartsphilosophie gegen Hegels Philosophie vorgebracht wurden, in ihrer Pauschalität zumindest im Hinblick auf die „Philosophie des subjektiven Geistes“ nicht zutreffen. Erstens konnte gezeigt werden, dass Hegel das menschliche Individuum zwar der allgemeinen selbstbezüglichen Struktur von Subjektivität nach thematisiert, in diese Struktur aber dessen Individualität integriert. Sie entzieht sich dem vollständigen begrifflichen Erkennen. Zweitens lehnt Hegel die Vorstellung ab, nach der zwischen Individuum und Geist eine Polarität besteht, wie sie – meiner Deutung nach – der Auffassung eines vom Weltgeist instrumentalisierten Individuums zugrunde liegt. Stattdessen geht er davon aus, dass der Geist ein allgemeines begriffliches Prinzip ist, das in jedem selbstbewussten Individuum realisiert ist und unabhängig von ihm nicht existieren kann. Wie zu Beginn der Untersuchung dargelegt wurde, markiert Hegel in den Augen seiner Kritiker – aufgrund der in ihr vermuteten Vereinnahmung des Individuums durch das Allgemeine – das Ende der abendländisch-philosophischen Tradition. Die modernen Denker hingegen fühlen sich als die Kinder einer neuen Zeit, in der dem Individuum endlich zu seinem Recht verholfen werde. Auch wenn ihre Kritik an Hegel zumindest im Hinblick auf die subjektive Geistphilosophie nicht zutrifft, ist zu konzedieren, dass er hinsichtlich einiger Gedanken zum menschlichen Individuum tatsächlich als der letzte Denker des Abendlandes gelten kann. In ihnen drückt sich ein Vernunftoptimismus aus, mit dem schon die Denker der Moderne nicht allzu viel anfangen konnten. Hegel geht von einem Menschen aus, der das tiefste Bedürfnis nach Versöhnung mit der Welt hat: Er sucht einen Platz, an dem er sich einrichten und wohlfühlen kann. Diese Versöhnung hält Hegel für möglich – durchs Denken bzw. vernünftige Erkennen. Der Versuch einer Versöhnung von Mensch und Welt zeigte sich in meiner Untersuchung an zwei Stellen: 1) Nach Hegel ist der Einzelne zwar mit der Kontingenz des Daseins konfrontiert: Er findet Bestimmungen an sich vor, die er sich nicht selbst ausgesucht hat, wie eine bestimmte Körpergröße, ein bestimmtes Temperament, bestimmte Talente und bestimmte Vorlieben und Abneigungen; er macht im Laufe seines Lebens bestimmte Erfahrungen; er wird älter, seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit lässt nach und er stirbt. Doch letztlich kann er im Denken einen Umgang mit seiner Kontingenz finden und Strategien der Bewältigung entwickeln.

152

Resümee

2) Der Einzelne ist bei Hegel mit den objektiven Strukturen versöhnt: Er sieht ein, dass er seine Freiheit nur in den bestehenden sittlichen und rechtlichen Verhältnissen realisieren kann. Diese hält er für gut und richtig und partizipiert freiwillig an ihnen. Für die Philosophen der Moderne ist die Versöhnung von Mensch und Welt grundsätzlich nicht möglich. Der Vernunft gegenüber sind sie skeptisch. 1) In den Augen der existenzorientierten Denker steht der Mensch allein und hilflos da. Er ist mit der Sinnlosigkeit, Zufälligkeit und Grundlosigkeit seiner Existenz und der Unüberwindbarkeit des Todes konfrontiert. Solche Gefühle wie Angst, Unbehagen, Verzweiflung, Sorge etc., die zu seiner Existenz gehören, kann er nicht auflösen. Er muss sie aushalten. 2) Insbesondere die Vertreter der Kritischen Theorie rufen zur Kritik am politischgesellschaftlichen System auf. Statt Gehorsam wollen sie Engagement, Einmischung und an der Veränderung der Realität mitwirken. Ein Staat ohne Kontroversen ist für sie undenkbar. Auch wenn Hegel hinsichtlich einiger Gedanken auf der einen Seite unmodern erscheinen mag, nimmt er den Denkern der Moderne auf der anderen Seite zentrale Gedanken zum menschlichen Individuum vorweg. Er ist also nicht nur einer der letzten Denker des Abendlandes, sondern vor allem auch Vorläufer der Moderne. In meiner Untersuchung sind mindestens vier solcher Gedanken thematisiert: a) Hegel befasst sich mit dem Unbewussten des Menschen. Er fasst es als eine Macht auf, die sich in weiten Teilen der begreifenden Vernunft entzieht und Auswirkungen auf das Verhalten des Menschen hat. In dieser Auffassung steht Hegel vielen Vertretern der französischen Gegenwartsphilosophie nahe, die vom Unbewussten fasziniert sind und nach dessen Wirkmacht fragen. Ihnen zufolge ist das Unbewusste etwas, das uns immer fremd bleibt. b) Hegel setzt sich in seinem Denken intensiv mit der Leiblichkeit und Expressivität des Menschen auseinander. Ein Gedanke, den er diesbezüglich vor allem den Vertretern der Phänomenologie und der Philosophischen Anthropologie vorwegnimmt, ist derjenige, dass der Mensch durch seinen Körper nach außen hin geöffnet ist und mit anderen per se im Austausch steht. Zudem antizipiert er den existentialistischen Gedanken, dass der Leib des Menschen immer schon sozial geformt ist. c) Hegel zufolge ist der Mensch nur aus einem größeren Rahmen heraus zu begreifen: Er steht je in kulturellen, sozialen und geschichtlichen Beziehungen. Diese Beziehungen spielen bei beinahe allen modernen Denkern eine Rolle.

Resümee

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d) Das zentrale Motiv von Hegels Philosophie ist die Freiheit des individuellen Menschen, die sich etwa darin äußert, dass er sich selbst zu dem macht, der er ist.1 Er ist autonom, wählend und verantwortlich. Die Selbstermächtigung des Menschen ist ein wesentlicher Anspruch der Moderne. Für viele existenzorientierte Denker besteht diese vor allem darin, dass der einzelne Mensch das ist, zu dem er sich frei entwirft. Damit komme ich auf das ganz zu Beginn dieser Arbeit aufgeführte Zitat von Michel Foucault zurück. Foucault ermahnt dazu, uns ins Bewusstsein zu rufen „was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt“. Er schreibt, dass man ermessen müsse, „inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.“2 Foucault bringt in seiner Sentenz treffend zum Ausdruck, dass die Denker der Moderne Hegels Philosophie auf der einen Seite zwar stark kritisieren, diese Kritik auf der anderen Seite aber übersehen lasse, dass in ihrem Denken viele Gedanken enthalten sind, die ursprünglich von Hegel stammen. Ich möchte meine Untersuchung mit dem Gedanken schließen, dass die modernen Denker nicht nur ein altes Kapitel in der Geschichte der Philosophie schließen und ein neues eröffnen, wie sie selbst meinen, sondern dass sie viele von Hegels Gedanken vielmehr durch ihre eigenen Werke und Argumente bis in die Gegenwart transportieren.

1

Klaus Vieweg bezeichnet Hegel in seiner Hegel-Biographie als den „bedeutendste[n] philosophische[n] Denker der Freiheit in der modernen Zeit“. (Vieweg, Klaus: Hegel: Der Philosoph der Freiheit. München 2019, S. 672). 2 Foucault 2019, S. 45.

Siglenverzeichnis Ich zitiere Hegels Schriften nach der historisch-kritischen Gesamtausgabe (GW) und nur in einigen wenigen Fällen nach der Werkausgabe (Werke). Da Hegel die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse und die Grundlinien der Philosophie des Rechts in Paragraphen gegliedert hat, gebe ich für diese lediglich die Siglen des Werks sowie die Nummer des Paragraphen an. (Enz1) (Enz2) (Enz3) (GPhR)

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) Grundlinien der Philosophie des Rechts

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Sachwortverzeichnis Abendland 18, 20, 24, 25, 71, 151 f., 163 Abhärtung 59 f., 64, 66 Absicht 16, 26, 34, 40, 109, 125 Absolute, das 21, 23, 63, 76, 108, 124, 141 ff. Abstraktion 90, 116, 131, 150 Aktualität 39, 137 Akzidens 45 Allgemeinbegriff 14, 17, 135, 139 Allgemeines 13, 19, 23, 28, 31, 90 f., 94, 115 ff., 120 f., 135, 138 ff., 150 f. Allgemeinheit 70 f., 92, 106, 115 f., 135 ff., 148 Anderes 37, 52, 58, 72, 80, 86, 88 f., 95, 122, 128, 131, 145, 149 Anerkennung 36, 93 f., 111, 140, 146, 155, 159 ff. Angst 10, 101, 104, 109, 152 Animalisch 46, 143 Anlage 29, 57, 100, 103, 105 f., 114, 120, 129 Anthropologie 19 f., 22, 25, 27, 29 ff., 38, 44 ff., 51 ff., 56 f., 62 ff., 66 ff., 71, 75, 77 ff., 81 f., 84, 87, 97, 105 f., 114 f., 124, 140, 146, 152 Antike 14 f., 23 f., 54, 56, 84 f. Apperzeption 91 Arbeiter 12, 18 Atom 20, 137 Attribut 55, 89, 118 Aufklärung 16, 29, 102 Aufmerksamkeit 12, 43 f., 60, 72, 75, 98, 101 Ausdruck 16, 23, 36 f., 40 ff., 46 ff., 105 f., 113, 142 f. Äußerlichkeit 65, 113, 143 Äußerung 56, 74, 135 Autonomie 63, 147 Befriedigung 59 f., 64 ff., 106, 145 Begierde 30, 91

Begriff 24, 31 f., 35 ff., 45, 48, 56, 61, 63, 65 f., 70, 74, 76 ff., 84 ff., 103, 110 ff., 115 f., 130, 137 ff., 150 Begriffsentwicklung 115 f., 131 Begriffslogik 32 f., 38, 91 Beschränkung 88, 133, 146 Besondere, das 18, 19, 82, 114, 127 Bestimmtheit 51 f., 62, 63, 67, 111, 113 f., 129 f., 132, 138 Bestimmungen 31 ff., 41, 51 ff., 59, 63 ff., 73 ff., 81 ff., 89 ff., 100 ff., 112 ff., 126 f., 129 ff., 135 ff., 148 ff. Bewusstlose, das 70 f., 75 Bewusstsein 28 ff., 50 f., 70 f., 75, 79 ff., 92, 101 f., 115, 121 Bild 30, 48, 72 Bildung 8, 16, 93, 96, 145 f. Charakter 15 f., 34, 48, 57, 66, 73, 77 f., 81 ff., 96 ff., 112 f., 119, 121, 136, 138 f., 143, 150 Daimonion 84 f. Dasein 14, 39, 58, 63 ff., 89, 118, 125, 130, 134 ff., 149, 151 Dekonstruktion 10 Demokratie 18 Denken 9 ff., 20, 23, 29 ff., 41, 43 f., 47, 52, 55 f., 59 ff., 64 ff., 71, 87, 90 f., 94, 97 ff., 107 ff., 119, 125 ff., 129 f., 136 ff., 146 f., 150 ff. Determination 83, 88, 98 f., 107 Determinismus 23, 96 f., 99, 107 ff. Differenz 10, 12, 14, 21, 91 ff., 113 Disposition 71, 99 f., 108, 119, 133 f., 136, 138, 143, 150 Dualismus 35 ff., 50, 128, 141

168

Sachwortverzeichnis

Eheschließung 148 Einheit 15, 20, 29, 32 ff., 36 ff., 50, 65, 71, 74 ff., 78, 79, 90 f., 93 f., 96, 102, 108, 113 ff., 116, 126 f., 148 Einmaligkeit 18 f. Einsicht 19, 99, 108 f., 146, 150 Einzelding 14, 139 Einzelnes 28, 57, 82, 90, 116 f., 121, 138, 140 Einzigartigkeit 14, 23, 74, 77, 93, 112, 114 ff., 120 Emanation 118 Emotionen 40, 42, 49 f., 143 Empfindung 29 f., 38, 40 ff., 59, 70 ff., 136, 148 Empirismus 34 Endliche, das 20 f., 32, 76, 117, 124 ff., 134, 139, 145, 149 Endzweck 15 Entelechie 39 Entscheidung 83, 85, 97, 99, 107 f., 110, 114, 122, 134, 145, 148 Entschluss 57, 83, 85, 96 ff., 104, 135 Enzyklopädie 11, 13, 20, 22, 25 ff., 28, 30, 32, 36, 45, 58, 77 f., 86, 91 f., 105, 130 Erfahrung 36, 67 f., 69 ff., 72 f., 76 f., 81, 83, 90 ff., 100 f., 112, 114, 117, 119, 121, 129, 133 f., 151 Erinnerung 30, 72, 82, 112 Erkenntnis 14 f., 29, 36, 68, 75, 89, 92, 102, 109, 126, 146 Erlebnis 68, 73 Erscheinung 29, 35, 41, 48, 105, 135, 143 Erscheinungsbild 57, 64, 118, 120 Ethnie 29, 54 f., 57, 64 Existentialismus 10, 20, 25, 151 Existenz 10, 14, 16 ff., 20, 33, 88, 92, 101, 103, 111, 115, 123, 134, 140, 152 Expressionen 37, 42, 49

Familie 55, 80, 134 Fortpflanzung 38, 140 Fötus 79 ff., 85 Freiheit 15, 17, 21, 24, 100, 103 f., 107 ff., 126, 136, 143 ff., 149 ff. Fremdbestimmung 16, 123 Fürsichsein 38, 87, 89, 117

Gattung 99, 103, 139, 140 Geburt 46, 58, 62, 64, 66, 118 f. Gedanken 42, 50, 67 ff., 79, 90, 99, 112 f., 117, 121, 129, 136, 143 Gegenstand 22 f., 29 f., 33, 46, 50, 68, 72, 80, 89, 98 f., 126, 130, 133 Gehorsam 152 Geist 15, 20, 22 ff., 28 ff., 40, 45, 49, 54 f., 60, 63, 66, 78 f., 81, 87, 94 f., 97 ff., 102 f., 105 ff., 110, 113, 115 f., 119 f., 123 ff., 132 ff., 148 ff. Geistphilosophie 22 ff., 27, 29, 40, 79, 84, 87, 97, 107 ff., 111, 115 f., 123, 126, 131 ff., 140 f., 143, 146, 149, 151 Gemeinschaft 21, 55, 64, 107, 128 Gemütsbewegung 80 Genius 77 ff., 96 ff., 104, 121 Genuss 145 Geschichte 11 ff., 15 ff., 20, 22, 26, 39, 74, 87, 117, 119 f., 123, 126, 140, 149, 153 Geschicklichkeit 43 ff., 59 f., 64, 66 Gesellschaft 11, 18, 55, 93, 96, 109 f., 147 f., 152 Gestalt 45, 56, 80, 84, 88, 103, 142 Gestik 46, 49 f., 143 Gewohnheit 43, 53 f., 59 ff., 81 ff., 112 f., 119 f., 129 Glück 147 Gott 16, 50 Grenze 14, 52, 68, 72, 88, 128 ff., 149 Handlung 47, 105 f., 142 f. Handlungsfreiheit 16 Harmonie, prästabilisierte 76 Hylemorphismus 36, 39 f. Ich-Bewusstsein 71, 79 f., 86 Idealität 45, 67, 69 f. Identität 14, 23, 74, 92 f., 95 f., 111 Immanenz 67, 69, 75, 82, 118 Immaterialität 35, 37, 48 Individualität 33, 51 ff., 58 f., 61 f., 67 ff., 73 ff., 77, 78 f., 82, 86 ff., 92 ff., 102 f., 107, 111 ff., 118 ff., 148, 151 Individuationsprinzip 85 ff., 90, 92, 103, 120, 139 Individuum est ineffabile 14 f., 24, 92, 111 Industrialisierung 18

Sachwortverzeichnis

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Ingenium 84 Inhalt 29 f., 42, 70 ff., 88, 101 f., 108, 132, 142, 148 f. Innenperspektive 89, 115 Instanz 28, 34, 40, 137, 147 Instrument 16, 18, 44, 123 Instrumentalisierung 15, 23 Interessen 16, 57, 144 f., 147 f. Irritabilität 38, 41

Nation 54 ff., 119 Natur 29, 45, 48, 51, 53 ff., 57 ff., 62 ff., 71, 74, 81 ff., 86 ff., 90, 99 f., 105 f., 108 ff., 112, 120, 131, 133 ff., 141, 143, 150 Naturell 57, 58, 81 f., 90, 112, 118, 120, 129, 139 Negation 52, 70, 86 ff., 92, 98, 129, 131 f., 138, 150 Neigung 108, 136, 138, 143 ff., 148, 150

Kampf 16, 44, 84, 95, 146 Kapitalismus 18 Kausalität 40, 104 Kenntnisse 67 ff., 71 f., 112, 121, 129, 133 f. Kind 18, 31, 55 ff., 60, 66, 73, 79 f., 85, 101, 110, 142 f., 151 Knecht 12, 44 Kontingenz 20 f., 77, 105, 111, 134, 138 f., 151 Körper 33 ff., 55, 59 ff., 90, 94 f., 112, 119, 133, 141 ff., 151 f. Kritik 10 ff., 22 f., 34 ff., 86 f., 89, 91 ff., 113, 123, 127, 151 ff. Kultur 41 f., 46 f., 55 f., 66, 119, 134, 152 Kunst 49 f., 84, 140 ff.

Objekt 14, 30, 76 f. Offenbarung 24, 135 Organisationsform 38 Organisch 34, 36 ff., 45, 47, 51, 123, 139 f., 142 f.

Leben 16 f., 20, 37 ff., 48, 51, 67, 69, 71, 73, 77 ff., 112 ff., 119 ff., 124, 134, 148, 151 Lebensfunktion 38, 44 Leib 11, 41, 44 ff., 60, 63, 69, 71, 74 ff., 79, 85, 90 ff., 141 ff., 152 Leidenschaft 109, 144 f. Liebe 93 ff., 142 f., 147 f. Makrokosmos 54 Mangel 33, 75, 87, 117 f., 144 ff. Manifestation 24, 47, 135 Materialität 31, 35 ff., 41, 48 f., 65, 126, 137 f., 141 f., 149 f. Mechanismus 43 Metaphysik 35, 50 f. Mimik 42 f., 46 ff., 143 Moderne 18 f., 25, 84, 109, 151 ff. Monade 45, 74 ff., 102 Mutter 79 ff., 81, 85, 142

Partikularität 83, 90, 92 Persönlichkeit 17, 73, 87, 91, 93 ff., 113 Perzeption 45, 75, 102 Pflanze 38 Phänomenologie 10 ff., 21 f., 25, 29, 32, 49, 68, 79, 86, 92, 152 Philosophiegeschichte 13, 19 f., 23, 39, 74, 87, 117, 126, 153 Physiognomie 48, 86, 105 f., 142 Physiologie 41 Plastizität 47 Pluralismus 18 Poesie 50 f. Poststrukturalismus 10, 25 Psychoanalyse 71 Psychologie 22, 27, 29 f., 34 ff., 40, 46, 48, 71, 97, 105, 113, 141, 143 Qualität 53 ff., 62 ff., 73 f., 77, 81 f., 86, 100, 112 f., 120 f., 129, 136 ff., 143 f. Rasse 55 f. Raum 31, 33, 39, 65, 70, 72 ff., 111, 129 ff., 137 f., 141, 149 f. Realität 17, 24, 123 f., 130, 135, 137, 139, 149, 152 Rechtsphilosophie 11 ff., 21, 26, 32 f., 64, 94, 106, 145, 147 Religion 134, 140 Renaissance 84 Reproduktion 38 Romantik 93, 147 f.

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Sachwortverzeichnis

Schicksal 16, 18, 69, 81, 83, 112, 119, 123 Schmerz 46, 59 f. Scholastik 31 Schöpfergott 125, 135 Schranke 128 f., 133 ff., 146 f. Schuld 109 f. Schutzgeist 84 f. Seele 20, 23, 28 ff., 85 ff., 100 ff., 112 ff., 120 ff., 131 f., 136 ff., 141, 144 Seinslogik 53, 117, 128 ff., 137 Selbständigkeit 20, 128 Selbstaneignung 31, 116 Selbstbestimmung 119, 143 f., 146, 150 Selbstbewegung 31, 116 Selbstbewusstsein 31 ff., 79, 85 ff., 103, 109, 116 f., 120 ff., 131 f., 138, 149 f. Selbstbezüglichkeit 28, 71, 87, 99, 102 Selbstdifferenzierung 28, 51 Selbstgefühl 62, 71, 114 ff., 122 Selbstsetzung 103 f. Selbstzweck 16 Sensibilität 38 Sinnlichkeit 14, 70 Sittlichkeit 145, 148 Sorge 148, 152 Sozialität 23, 69 Sprache 49 f., 55, 66, 91, 120, 124, 143 Staat 17, 21, 94, 106 ff., 140, 147 f., 152 Strafe 109, 147 Subjekt 13, 16, 19, 24, 68, 75 ff., 79, 87, 90, 92, 102, 108, 115 f., 120, 135 Subjektivität 13 f., 18, 23, 28, 33, 70 f., 87, 94, 102, 106, 108, 111, 115, 120 f., 151 Substanz 15, 35 f., 50, 70, 79, 87 ff., 117 f., 127, 135

Talente 57, 66, 82, 112, 133 f., 151 Tätigkeit 16, 43 f., 46, 59 ff., 69, 71, 97 ff., 102, 116, 120, 125, 135, 138, 141, 150 Temperament 29, 57 f., 64 ff., 81 f., 90, 99, 112, 117, 118 ff., 129 f., 133 f., 151 Tier 133 Tod 11, 27, 124, 134, 140 Träger 19, 123 ff., 139 f. Transzendental 91 f., 104 Trieb 17, 68, 83, 91, 100, 108 f., 136, 138, 143 ff., 150

Umwelt 38, 54, 68, 71, 119, 122 Unbewusste, das 11, 23, 70 ff., 75, 83, 100 ff., 112 f., 152 Unendliche, das 37, 67, 70, 72, 75 f., 87 f., 94, 96, 102, 117 f., 124 ff., 138 f., 145, 149 f. Unfreiheit 145 Unmittelbarkeit 63 ff., 100, 105, 114, 136, 138 ff., 150 Ursache 40, 68, 99, 129, 131 Verantwortung 17, 109 f., 120, 148 Vergänglichkeit 129 Vernunft 15, 23, 56 f., 80, 106, 108 ff., 115, 128, 144, 146, 150 ff. Verschiedenheit 31, 34, 58, 75 Versehenstheorie 79 Versöhnung 132, 151 f. Verstand 11, 15, 17, 29 f., 22 f., 26 f., 46, 57, 128 Verzweiflung 152 Vielheit 31, 75 f., 118 Volk 16 f., 75, 119 Vorsatz 99, 104, 109 Vorstellung 29, 35, 42, 54 f., 63, 67 ff., 79, 83, 90 ff., 102, 112, 121, 125, 127 ff. Wahrnehmung 11, 30, 35, 38, 68 f., 75 Weltgeist 15 ff., 23 f., 123, 149 ff. Weltgeschichte 15 Wesen 15, 33, 77 Wesenslogik 58, 76 Widerspruch 24, 127 f., 134, 145 Wille 29, 34, 57, 62, 85, 97, 99, 104, 106 ff., 110, 146 Willensfreiheit 23, 96 f., 107 ff., 146 Willensinhalt 34, 63, 99, 143 ff., 150 Willkürfreiheit 144 f. Wirklichkeit 15 f., 68 ff., 82, 111, 130 Wissen 114, 116 ff., 123, 132 ff., 143, 150 Wollen 16, 30, 33, 94, 106 Würde 17, 146

Sachwortverzeichnis Zeichen 46 f. Zufall 65, 72, 110 f., 119 f., 135, 148, 152, 195 Zweck 15 ff., 25, 44, 57, 99, 106, 123, 143 f., 146, 149 Zweite Natur 62 ff.

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