Indigene Sprachen in Mexiko: Eine sprecherzentrierte Studie zur Vitalität des yukatekischen Maya 9783110547245, 9783110544749

Nearly 15 years after the formal recognition of indigenous peoples and their rights, this study uses the example of Yuca

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German Pages 623 [624] Year 2017

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Table of contents :
Vorwort und Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das yukatekische Maya im mexikanischen Kontext: Verortung und Rahmenbedingungen
3. Theoretisch-definitorische Grundlagen der Vitalitätsforschung
4. Methodik und Forschungsdesign
5. Sprachbiografische Daten
6. Netzwerk der Sprachkontakte: Sprachgebrauch und Funktionalität
7. Objektive und subjektive Vitalitätsfaktoren des yukatekischen Maya
8. Metasprachliche Reflexion zu Einstellungen, Identität und Vitalität
9. Lo oficial es lo real? Zur Sprachenlandschaft der yukatekischen Halbinsel
10. Zusammenfassung und Interpretation der Analyseergebnisse
11. Schlussbetrachtungen zur aktuellen Sprachensituation in Yucatán
12. Literaturangaben
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Register
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Indigene Sprachen in Mexiko: Eine sprecherzentrierte Studie zur Vitalität des yukatekischen Maya
 9783110547245, 9783110544749

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Julia Montemayor Gracia Indigene Sprachen in Mexiko

Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie

Herausgegeben von Claudia Polzin-Haumann und Wolfgang Schweickard

Band 418

Julia Montemayor Gracia

Indigene Sprachen in Mexiko

Eine sprecherzentrierte Studie zur Vitalität des yukatekischen Maya

ISBN 978-3-11-054474-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054724-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054512-8 ISSN 0084-5396 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

| Necesitamos reconocer que México es un maravilloso rompecabezas en su diversidad de etnias, de culturas, de edades, de formas de pensar, de expresarse, de creer, de aprender, de elegir y de amar. Y que el rompecabezas nacional estará incompleto si a alguien se le deja fuera; estará dañado si a una sola de sus piezas se le hiere en su dignidad. CONAPRED (2011, 4)

Para mi gente en Yucatán y para mis padres.

Vorwort und Danksagung Der vorliegende Band ist eine leicht gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2016/2017 von der Fakultät P der Universität des Saarlandes angenommen wurde. Die Arbeit an diesem Dissertationsprojekt und mit den Menschen, die damit verbunden sind, ist für mich von unbeschreiblichem Wert auf fachlicher und menschlicher Ebene und hat mich sehr glücklich gemacht. Auch wenn Worte meine Dankbarkeit nicht auszudrücken vermögen, möchte ich es versuchen. Ich kann leider an dieser Stelle nicht alle namentlich erwähnen, doch allen Personen, die auf direkte oder indirekte Art zu dieser Arbeit beigetragen haben, sei herzlich gedankt. Einige Personen möchte ich besonders hervorheben: Ich danke zunächst meinen Erst- und Zweitbetreuerinnen und Mentorinnen Claudia Polzin-Haumann und Martina Schrader-Kniffki sowie Wolfgang Schweickard für die Übernahme des Drittgutachtens. Claudia und Wolfgang danke ich außerdem für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe der Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. Claudia Polzin-Haumann danke ich von Herzen weiterhin für ihre pragmatischen, strukturierenden Anregungen und Ergänzungen von der Anfangsphase der ersten Ideenfindung bis hin zum Abschluss dieser Arbeit, für ihre Zeit und ihre vielen Ratschläge, für die Unterstützung bei den Feldforschungsphasen. Ich danke dir nicht nur für die fachliche Orientierung, sondern auch für dein offenes Ohr und den Zuspruch, wenn ich ihn besonders gebraucht habe. Ich könnte mir keinen besseren Arbeitsplatz und kein besseres Team vorstellen. Martina Schrader-Kniffki hat seit unserem ersten Zusammentreffen meinen Weg aktiv mit wertvollen Anregungen und Ideen begleitet. Ich danke dir sehr für die Unterstützung, v.a. auch für die Vermittlung wichtiger Kontakte in Mexiko, für die Inspiration, für die gemeinsamen Projekte – von denen hoffentlich noch viele folgen werden – und die geteilte Leidenschaft und Liebe zu Mexiko. Ulrike Krauß, Gabrielle Cornefert und Antje-Kristin Mayr danke ich für ihre freundliche Beratung und kompetente Hilfe bei der Drucklegung dieses Bandes. Dem Deutschen Akademischen Austausch Dienst bin ich für die finanzielle Förderung während der Feldforschungsphasen in Mexiko dankbar. Weiterhin möchte ich mich bei den KollegInnen am CIESAS Tlalpan bedanken und hier stellvertretend José Antonio Flores, Itzel Vargas, Olivier Le Guen und an der UNAM Lorena Pool und César hervorheben, die mich bei der Leitfadenerstellung und beim Kontakteknüpfen in Yucatán unterstützt haben. Ich danke darüber hinaus in Mexiko Fidencio Briceño, Flor Canché, Ligia Peláez, Josep Cru, dem INALI und dem Centro de Estudios Mayas an der UNAM.

VIII | Vorwort und Danksagung

Außerdem danke ich allen Personen, die mir in Mexiko nicht nur einfach ein Dach über dem Kopf gegeben, sondern mich aufgenommen haben wie ein Familienmitglied, sowohl in Mexiko City als auch in Yucatán: Estelita, Itzel, Miros, Alejandra, Hugo und Yojana, Yessica, Doña Julia und Doña Valentina sowie ihren Familien, Dary und Gaby. Les agradezco infinitamente el apoyo y el amor que me brindan. Des Weiteren möchte ich an dieser Stelle auch Iken Paap vom IAI danken, die mich nach Hopelchén zu ihrem Ausgrabungsteam eingeladen hat und mir so wertvolle Kontakte zu den Personen vor Ort ermöglicht hat. Für anregende Gespräche in Deutschland danke ich außerdem Katrin Pfadenhauer und den Mitgliedern unseres Doktorandenkolloquiums sowie meinen KollegInnen in der Fachrichtung. Es ist so schön mit euch zusammen zu arbeiten. Unser Zusammenhalt ist etwas ganz Besonderes und ich weiß eure Unterstützung sehr zu schätzen. Insbesondere gilt mein Dank meiner lieben Kollegin und Freundin Vera Neusius, meiner ‘Diss-Schwesterʼ. Ich weiß nicht, wie ich dir jemals genug für deine Unterstützung v.a. während der Feldforschungsphasen und die schöne Zusammenarbeit danken kann. Genauso herzlich möchte ich Kerstin Sterkel für die Unterstützung, die guten Worte und das Korrekturlesen meiner Arbeit danken, ebenso auch hierfür Vera, Hannah Steurer und Gina Jablonski. Peter Bach, Julian Wichert und meinem Bruder Leon danke ich für die Hilfe und Beratung in allen technischen Belangen. Meiner Familie, meinen lieben Eltern und Freunden (v.a. Jan Exner für die Hilfe bei der Erstellung der Karten) sowie meinem Mann Julio danke ich dafür, dass sie mich in den letzten Jahren bedingungslos unterstützt – und manchmal auch ertragen – haben, dass sie mit mir und wegen mir zurückgesteckt und verzichtet haben und Verständnis für meine manchmal etwas gewöhnungsbedürftigen Arbeitsrhythmen aufgebracht haben. Julio, te agradezco todo tu cariño, tu apoyo y tu infinita paciencia, gracias por ser mi compañero, mi todo, mi pedazo de México. Danke euch allen. Der größte Dank gilt aber den Personen, die durch ihre Interviews meine Arbeit mit Leben gefüllt haben, die mich auf- und angenommen haben und ihren Alltag mit mir geteilt, mir Einblicke in ihre Identität, ihre Biografie, ihre Geschichte gewährt haben. Sin ustedes no estaría aquí y no sería quien soy. Les agradezco de todo corazón todo lo que han hecho por mí y conmigo, todo lo que me han dado. Fue inolvidable estar con ustedes. Este trabajo no existiría sin ustedes y no pasa un solo día sin que piense en ustedes y los extrañe. Dios bo’otik. Saarbrücken, im Juni 2017

Julia Montemayor

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis  |  XVII 1  1.1  1.2  1.3 

Einleitung | 1  Einordnung der Arbeit und Annäherung an den Untersuchungsgegenstand | 1  Fragestellungen und Zielsetzung | 6  Vorgehensweise und Aufbau | 11 



Das yukatekische Maya im mexikanischen Kontext: Verortung und Rahmenbedingungen | 13  2.1  Definitorische Vorbemerkungen zu einigen untersuchungsleitenden Konzepten und Disziplinen | 13  2.2  Zentrale Konstellationen in Mehrsprachigkeitskontexten | 15  2.2.1  Bilinguismus und Mehrsprachigkeit | 15  2.2.2  Diglossie | 18  2.2.3  Domänen des Sprachgebrauchs | 21  2.3  Geografisch-politische Ausgangslage | 22  2.4  México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko | 25  2.4.1  Sprachliche Diversität im mexikanischen Kontext | 25  2.4.2  Zum yukatekischen Spanisch | 27  2.4.2.1  Lexik | 28  2.4.2.2  Phonetik und Phonologie | 28  2.4.3  Zum yukatekischen Maya | 30  2.4.3.1  Sprachgeschichte, Klassifikation und Sprachgebiet | 30  2.4.3.2  Resümee des Forschungsstandes | 34  2.4.3.3  Ausgewählte Charakteristika des yukatekischen Maya | 37  2.4.3.3.1  Varietäten | 37  2.4.3.3.2  Lexik | 38  2.4.3.3.3  Phonetik und Phonologie sowie Grafie | 40  2.4.3.3.4  Morphosyntax | 41  2.5  Zwischenfazit | 42  3  3.1  3.1.1  3.1.2 

Theoretisch-definitorische Grundlagen der Vitalitätsforschung | 44  Von Vitalität und Revitalisierung in Situationen der Sprachbedrohung | 44  Definitorische Annäherungen an den Vitalitätsbegriff | 44  Sprachwechsel, Spracherhalt und Revitalisierung | 46 

X | Inhaltsverzeichnis

3.1.3  3.1.4  3.1.4.1  3.1.4.2  3.1.4.3  3.1.5  3.1.5.1  3.1.5.2  3.1.5.3  3.1.5.4  3.2  3.2.1  3.2.2  3.2.3  3.2.4  3.2.5  3.2.6  3.3  3.4  3.4.1  3.4.2  3.4.3  3.4.4  3.5  3.5.1  3.5.1.1  3.5.1.2  3.5.1.3  3.5.1.4  3.5.2  3.5.2.1  3.5.2.2 

Einflussfaktoren auf die Vitalität von Sprachen | 48  Typologien zur Kategorisierung der Vitalität von Sprachen | 50  Graded Intergenerational Disruption Scale nach Fishman | 51  Interdependente Einflussfaktoren der UNESCO | 52  Sechsstufiges Schema nach Grenoble/Whaley | 54  Stand der Vitalitätsforschung | 55  Zentrale theoretisch-methodische Beiträge zur ethnolinguistischen Vitalität | 56  Hispanistische Vitalitätsforschung | 57  Mexikanische Vitalitätsforschung | 60  Forschungslage im yukatekischen Kontext | 63  Einstellungen | 68  Definitionsansätze zum Einstellungsbegriff | 68  Genese und Struktur von Einstellungen | 71  Funktionen von Einstellungen | 75  Terminologische Abgrenzung von benachbarten Konzepten | 76  Sprachloyalität und Sprachilloyalität | 80  Zusammenfassung und Fazit zum Einstellungsbegriff | 82  Sprachbewusstsein: Sprachwissen und Spracheinstellungen | 83  Identität | 85  Komponenten des Selbstbildes: Personale und soziale Identität | 88  Überlegungen zur Bedeutung der Sprache für die Identitätskonstruktion | 95  Akkommodationstheorie und Theorie der ethnolinguistischen Identität | 97  Übertragung der Vorüberlegungen auf den yukatekischen Kontext | 98  Ethnolinguistische Vitalität | 101  Objektive ethnolinguistische Vitalität | 102  Statusfaktoren | 106  Demografiefaktoren | 107  Faktoren der institutionellen Unterstützung | 108  Kritische Einordnung | 109  Weiterentwicklungen des Modells der ethnolinguistischen Vitalität | 111  Fokussierung der subjektiven ethnolinguistischen Vitalität | 111  Erweitertes makroskopisches Bilinguismusmodell | 114 

Inhaltsverzeichnis | XI

3.6  4  4.1  4.1.1  4.1.2 

Zwischenfazit | 118 

Methodik und Forschungsdesign | 120  Forschungsziele und methodischer Zugang | 121  Qualitative und quantitative Forschungsparadigmen | 121  Methodenkombination: Triangulation und Mixed MethodsAnsatz | 124  4.1.3  Zur Erforschung der subjektiven Komponente sprachlicher Vitalität | 126  4.1.4  Festlegung der Methodik der vorliegenden Studie | 130  4.2  Erhebungsmethoden und Datengrundlage | 132  4.2.1  Leitfadengestütztes qualitatives Interview | 132  4.2.1.1  Allgemeine methodische Aspekte | 132  4.2.1.2  Entwicklung und Vorstellung des Interviewleitfadens | 134  4.2.2  Gruppendiskussion | 139  4.2.3  Teilnehmende Beobachtung | 140  4.2.4  Fotokorpus | 141  4.3  Vorbereitung und Durchführung der Interviews | 142  4.3.1  Pretest | 142  4.3.2  Datenerhebungskontext und Fallauswahl | 143  4.3.2.1  Samplingstrategie | 143  4.3.2.2  Wahl der Untersuchungsorte | 145  4.3.2.3  Wahl der Interviewpartner | 150  4.3.3  Vorstellung des Samples | 150  4.3.3.1  Altersstruktur | 150  4.3.3.2  Geschlecht | 151  4.3.3.3  Maya- und Spanischsprecher | 152  4.3.3.4  Herkunft | 152  4.3.3.5  Migration | 153  4.3.3.6  Bildungsstand | 154  4.3.4  Erhebung der Interviewdaten | 155  4.3.5  Aufbereitung des Interviewmaterials: Transkription | 157  4.4  Datenanalyse | 158  4.4.1  Computergestützte qualitative Inhaltsanalyse | 159  4.4.1.1  Analyseschritte | 161  4.4.1.2  Kategoriensystem | 162  4.4.2  Exemplarische Feinanalysen ausgewählter Textpassagen | 163  4.5  Zusammenfassende Methodenreflexion | 166 

XII | Inhaltsverzeichnis

5  5.1  5.1.1  5.1.2  5.1.3  5.2  5.2.1  5.2.2  5.2.3  5.3  5.3.1  5.3.2  5.4 

Sprachbiografische Daten | 168  Sprachkompetenz | 169  Einschätzung der Sprachkenntnisse | 169  Wunsch nach Erweiterung der Sprachkenntnisse | 173  Sprachkontaktphänomene | 186  Spracherwerb | 195  Exkurs zur Verwendung des Konzepts der Muttersprache | 195  Simultaner und sukzessiver Spracherwerb | 199  Gesteuerter und ungesteuerter Spracherwerb | 205  Intergenerationelle Sprachweitergabe | 208  Motive für die nicht erfolgte Sprachweitergabe an die Befragten | 208  Aktive Sprachweitergabe durch die befragten Mayasprecher | 213  Zwischenfazit | 219 



Netzwerk der Sprachkontakte: Sprachgebrauch und Funktionalität | 223  6.1  Domänen des Sprachgebrauchs | 223  6.1.1  Private Domänen | 224  6.1.1.1  Individuelle Domänen | 224  6.1.1.2  Familie | 228  6.1.1.3  Nachbarn und Freunde | 230  6.1.2  Öffentlich-offizielle Settings | 231  6.2  Verwendungshäufigkeit | 234  6.3  Zwischenfazit | 235  7 

Objektive und subjektive Vitalitätsfaktoren des yukatekischen Maya | 237  7.1  Soziohistorische Hintergründe und sozialer Status | 237  7.1.1  Objektive Vitalitätsfaktoren | 237  7.1.2  Subjektive Vitalitätsfaktoren | 244  7.1.2.1  Gesellschaftsstruktur und sozialer Zusammenhalt | 244  7.1.2.2  Vergangenheitsbezug | 246  7.1.3  Zwischenfazit | 248  7.2  Demografisches Kapital | 249  7.2.1  Indikatoren | 250  7.2.2  Zwischenfazit | 258  7.3  Ökonomisches Kapital | 259 

Inhaltsverzeichnis | XIII

7.3.1  7.3.1.1  7.3.1.2  7.3.2  7.3.2.1  7.3.2.2  7.3.3  7.4  7.4.1  7.4.1.1  7.4.1.2  7.4.1.3  7.4.2  7.4.2.1  7.4.2.2  7.4.3  7.4.3.1  7.4.3.2  7.4.3.3  7.4.3.3.1  7.4.3.3.2  7.4.4  7.5  7.5.1  7.5.1.1  7.5.1.1.1  7.5.1.1.2  7.5.1.1.3  7.5.1.2  7.5.1.3  7.5.2  7.5.2.1  7.5.2.2  7.5.2.3 

Objektive Vitalitätsfaktoren | 259  Del henequén al turismo: Zur Wirtschaftsstruktur der yukatekischen Halbinsel | 259  Migration und Tourismus als aktuelle wirtschaftliche Motoren Yucatáns | 270  Subjektive Vitalitätsfaktoren | 273  Sprachgebrauch in beruflichen Kontexten | 274  Bewertung der Relevanz des Maya in der Arbeitswelt | 277  Zwischenfazit | 282  Politisches Kapital | 283  Nationale mexikanische Sprach- und Bildungspolitik | 284  Eroberung und Kolonialzeit | 289  Una lengua, una nación: 19. und beginnendes 20. Jahrhundert | 290  Ein Schritt vor und zwei zurück? Aktuelle Tendenzen | 293  Objektive Vitalitätsfaktoren | 297  Ausstrahlung der nationalen Sprach- und Bildungspolitik auf die Halbinsel | 297  Soziodemografische Indikatoren und Probleme im sprach- und bildungspolitischen Bereich | 305  Subjektive Vitalitätsfaktoren | 314  Sprach- und bildungspolitische Rahmenbedingungen | 314  Konkrete sprach- und bildungspolitische Projekte | 323  Sprachgebrauch in schulischen Kontexten | 329  Bildungsbiografischer Blick auf die Verwendung des Maya | 329  Repräsentation des Maya in der Bildungslandschaft | 333  Zwischenfazit | 349  Kulturelles Kapital | 351  Objektive Vitalitätsfaktoren | 352  Mediale Präsenz des yukatekischen Maya | 352  Audiovisuelle Medien: Radio und Fernsehen | 353  Printmedien | 356  Internet und neue Medien | 358  Weitere kulturbezogene Indikatoren und Initiativen | 361  Religion, Traditionen und Bräuche | 362  Subjektive Vitalitätsfaktoren | 365  Sprachgebrauch in den Medien | 365  Weitere kulturbezogene Indikatoren und Initiativen | 376  Sprachgebrauch in religiösen Kontexten | 380 

XIV | Inhaltsverzeichnis

7.5.3  7.6 



Zwischenfazit | 381  Synthese zur Vitalität auf soziologischer und soziopsychologischer Ebene | 382 

Metasprachliche Reflexion zu Einstellungen, Identität und Vitalität | 386  8.1  Zur Erforschung von Auto- und Heteroperzeptionsprozessen in Mexiko | 386  8.1.1  Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung in Mexiko | 386  8.1.2  Diskriminierung als zentrales soziales Problem | 389  8.1.3  Ser maya en Yucatán: Selbst- und Fremdbild in Yucatán | 393  8.1.4  Zwischenfazit und Adaptation | 394  8.2  Sprachbewusstsein und Einstellungen zu Sprache und Sprechern | 395  8.2.1  Bewertung des Maya und des Spanischen | 395  8.2.2  Werturteile zum yukatekischen Maya | 399  8.2.2.1  Positive Einstellungen | 399  8.2.2.2  Negative Einstellungen | 409  8.2.2.3  Neutrale Einstellungen | 413  8.2.2.4  Stolz und Diskriminierung aufgrund der Mayakenntnisse | 414  8.2.2.5  Einflussvariablen und Besonderheiten | 429  8.2.3  Werturteile zum Spanischen | 434  8.2.3.1  Positive Einstellungen | 434  8.2.3.2  Negative Einstellungen | 436  8.2.3.3  Neutrale Einstellungen | 437  8.2.3.4  Einflussvariablen und Besonderheiten | 438  8.2.4  Wahrnehmung der Mayasprecher | 442  8.2.4.1  Positive Einstellungen | 444  8.2.4.2  Negative Einstellungen | 446  8.2.4.3  Neutrale Einstellungen | 449  8.2.4.4  Einflussvariablen und Besonderheiten | 451  8.2.4.5  Auto- und Heteronomination der Mayasprecher | 458  8.3  Identifikation | 467  8.4  Zwischenfazit | 474  8.5  Subjektive Vitalitätseinschätzung | 476  8.5.1  Evaluative Äußerungen zur gegenwärtigen Vitalität des Maya | 476  8.5.1.1  Allgemeine Veränderung der Sprachensituation | 476  8.5.1.2  Veränderter Sprachgebrauch der jüngeren Sprecher | 479 

Inhaltsverzeichnis | XV

8.5.2  8.5.3  8.5.4  8.6  9 

Evaluative Äußerungen zur zukünftigen Vitalität des Maya | 481  Empfehlungen zur Bewahrung des Maya | 486  Zwischenfazit | 492  Synthese zur Vitalität auf psychologischer Ebene | 493 

9.4.2  9.5 

Lo oficial es lo real? Zur Sprachenlandschaft der yukatekischen Halbinsel | 496  Theoretische Grundlagen der Linguistic LandscapeForschung | 497  Methodisches Vorgehen | 500  Analyse des Fotokorpus zur Sprachenlandschaft Yucatáns | 506  Sprechersicht auf Sprache und Raum | 520  Mündlicher Sprachgebrauch in urbanen und ruralen Kontexten | 520  Wahrnehmung und Bewertung der Sprachenlandschaft | 525  Synthese zur Sprachenlandschaft in Yucatán | 532 

10 

Zusammenfassung und Interpretation der Analyseergebnisse | 536 

11 

Schlussbetrachtungen zur aktuellen Sprachensituation in Yucatán | 546  Methodenreflexion und Anknüpfungspunkte | 546  Erkenntnisse zur Vitalität des Maya, Ausblick und Forschungsdesiderata | 548 

9.1  9.2  9.3  9.4  9.4.1 

11.1  11.2 

12 

Literaturangaben | 555 

Abbildungsverzeichnis | 596  Tabellenverzeichnis | 598  Register | 601 

Abkürzungsverzeichnis abs. ACALEMA AILLA CCI CDI CGEIB Che CIESAS COBAY COESPO CONACULTA CONAFE CONAPRED DAI DGEI EBLUL EIB ENAH EZLN GIDS HH Hop INAH INALI INBA INDEMAYA INEA INEGI INI Mer MH Mun NAFTA OAS PAN PRI PRMDLC REDUI SEP SIL SNPCMB TIC UADY UIMQROO

absolute Zahl Academia Campechana de la Lengua Maya Archive of the Indigenous Languages of Latin America Centro Coordinador Indigenista Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas Coordinación General de Educación Intercultural y Bilingüe Chemax Centro de Investigaciones y Estudios Superiores en Antropología Social Colegio de Bachilleres del Estado de Yucatán Consejo Estatal de Población Consejo Nacional para la Cultura y las Artes Consejo Nacional de Fomento Educativo Consejo Nacional para Prevenir la Discriminación Departamento Autónomo de Asuntos Indígenas Dirección General de Educación Indígena European Bureau for Lesser-Used Languages Educación Intercultural Bilingüe Escuela Nacional de Antropología e Historia Ejército Zapatista de Liberación Nacional Graded Intergenerational Disruption Scale hispanohablante Hopelchén Instituto Nacional de Antropología e Historia Instituto Nacional de Lenguas Indígenas Instituto Nacional de Bellas Artes Instituto para el Desarrollo de la Cultura Maya del Estado de Yucatán Instituto Nacional para la Educación de los Adultos Instituto Nacional de Estadística y Geografía Instituto Nacional Indigenista Mérida mayahablante Muna North American Free Trade Agreement Organisation Amerikanischer Staaten Partido Acción Nacional Partido Revolucionario Institucional Proyecto de Revitalización, Mantenimiento y Desarrollo Lingüístico y Cultural Red de Universidades Interculturales Secretaría de Educación Pública Summer Institute of Linguistics Servicio Nacional de Promotores Culturales y Maestros Bilingües Tecnologías de la Información y la Comunicación Universidad Autónoma de Yucatán Universidad Intercultural de Quintana Roo

XVIII | Abkürzungsverzeichnis

UNESCO UNICEF UNO UPN UQROO

United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations International Children’s Emergency Fund Universidad del Oriente Universidad Pedagógica Nacional Universidad de Quintana Roo

1 Einleitung 1.1 Einordnung der Arbeit und Annäherung an den Untersuchungsgegenstand Mexiko ist ein genuin mehrsprachiges Land, das aber paradoxerweise insbesondere seit der Gründung des Nationalstaates im 19. Jahrhundert seine nationale Identität in einer einzigen gemeinsamen Sprache sucht (cf. Barriga Villanueva 1995, 115; cf. Kap. 7.4). Obwohl sich die Einstellungen zur Mehrsprachigkeit in den letzten Jahrzehnten prinzipiell stark verändert haben und Mehrsprachigkeit heutzutage eher als Chance denn als Problem betrachtet wird (cf. Roche 2013b, 234s.; Coronado Suzán et al. 1999), können sich für das mehrsprachige Individuum je nach Konstellation und Kontext dennoch auch konfliktuelle Situationen ergeben, denn «[n]ot all forms of multilingualism are productive, empowering and nice to contemplate. Some – many – are still unwanted [or] disqualified [...]» (Blommaert/Leppänen/Spotti 2012, 1). So lässt sich in Mexiko auch heute noch ein Ungleichgewicht in der Bewertung prestigereicher internationaler Sprachen wie dem Spanischen oder dem Englischen mit einer großen Funktionsbreite und einem weiten Kommunikationsradius, mit denen sozialer Aufstieg und Prosperität verbunden werden, und den indigenen Sprachen, denen nach wie vor ein gesellschaftliches Stigma anhaftet, feststellen. Sprachen sind in diesem Zusammenhang nicht nur als funktionale Kommunikationsmittel, als Zeichensysteme zu sehen, sondern können «gleichzeitig als symbolisches Kapital und daher Lokus bedeutsamer Identitätsaushandlungen und -konstruktionen [fungieren]» (Cuonz 2014a, 1).1 Über die Sprache werden auch Sozialisierungsmechanismen weitergegeben, die einer (Sprach-)Gruppe Kohäsion stiften können, und sie beeinflusst die intergruppale Kommunikation mit monolingualen Mitmenschen in Sprechergemeinschaften: Sprachkenntnisse und die Akzeptanz der sprachlich-kulturellen Diversität können Kommunikation und gegenseitiges Verständnis ermöglichen, und einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der soziokulturellen Balance leisten. Das Verschwinden von Sprachen wird hingegen häufig von einer sinkenden Toleranz für die Vielfalt und Verschiedenartigkeit oder gar von Diskriminierungspraktiken und Rassismus begleitet (cf. CDI 2006b; Flores Farfán 2015, 93), welche auch im mexikanischen Kontext als massives und persistentes Problem anzusehen sind.

|| 1 Cf. auch UNESCO (s.a. 1) sowie Bereznak/Campbell (1996, 659).

DOI 10.1515/9783110547245-001

2 | Einleitung

Das Beherrschen mehrerer Sprachen und die prinzipielle Wertschätzung von Mehrsprachigkeit können demgegenüber den persönlichen, intellektuellen und gesellschaftlichen Horizont erweitern sowie individuelle, virtuelle und wirtschaftliche Kontaktperspektiven eröffnen: So wird Mehrsprachigkeit heutzutage auf den globalisierten Märkten als sprachliches Kapital eingesetzt (cf. z.B. Bourdieu 1984) und stellt – ganz im Gegensatz zur o.g. und u.a. in Hispanoamerika im Kontext der Unabhängigkeitsbewegungen des 19. Jahrhunderts vehement vertretenen Ideologie einer «nationalen Einsprachigkeit»2 (Langenbacher-Liebgott 2012, 148; cf. auch Heller 22006, 1582) – mittlerweile eher den Normalfall dar. Diese ‘Vermarktung’ der sprachlich-kulturellen Diversität im wirtschaftlichen Sinn kann dabei einerseits das Erlernen mehrerer Sprachen fördern, aber auf der anderen Seite auch einen Prozess aktivieren, bei dem Menschen aus ökonomischen Gründen für international weit verbreitete und persönlichen sowie wirtschaftlichen Erfolg versprechende Sprachen wie das Englische oder das Spanische optieren und dafür im Extremfall ihre Sprache aufgeben oder diese nicht mehr an nachkommende Generationen weitergeben. Diese Entwicklung lässt sich besonders häufig in Bezug auf indigene Sprachen beobachten, wenn sie auf dem Sprachenmarkt3 in Konkurrenz zu ‘großen’, internationalen Sprachen treten: Dabei handelt es sich um kein neues Phänomen, denn Sprachverdrängung und -aufgabe hat es seit jeher gegeben. Neu ist im von globalen Dynamiken und internationalen politischen Verflechtungen, von wachsender Mobilität und Vernetzung geprägten 21. Jahrhundert die beschleunigte Entwicklung der sprachlichen Assimilation und Sprachaufgabe zuungunsten indigener Sprachen (cf. Gómez Rendón/Jarrín Paredes 2015, 8). Die UNESCO geht derzeit von der Existenz von zwischen 300 und 350 Mio. Indigenen weltweit aus, einem Anteil von nur etwa 5% der Weltbevölkerung. Dennoch sprechen diese 5% mehr als 5.000 Sprachen in über 70 Ländern auf sechs Kontinenten, i.e. 75% der etwa

|| 2 Lüdi (1996a, 233) bezieht sich im Zusammenhang mit der Vorstellung, dass «‹Staaten› gleichsam natürlicherweise mit einem Sprachgebiet zusammenfallen» auf Nebrija, der bereits 1492 fomulierte: «La lengua siempre es compañera del imperio». 3 «Die Entstehung eines Sprachenmarktes schafft die Voraussetzungen für die objektive Konkurrenz, in der und durch die die legitime Sprachkompetenz als sprachliches Kapital fungieren kann, das bei jedem sozialen Austausch einen Distinktionsprofit abwirft» (Bourdieu 22005, 61, Hervorh. i. Orig.). «Sprachliche Äußerungen oder Ausdrucksweisen werden immer in bestimmten Kontexten oder auf bestimmten Märkten produziert, und die Eigenschaften dieser Märkte verleihen diesen sprachlichen Produkten einen bestimmten ‹Wert›. Auf einem gegebenen sprachlichen Markt werden manche Produkte höher bewertet als andere» und Sprecher setzen ihr sprachliches Kapital gezielt für einen bestimmten Markt ein und beeinflussen somit ihre soziale Stellung (Thompson 22005, 20s.).

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6.000 uns bekannten Sprachen sind indigene Sprachen (cf. Martínez Paredes 2009, 9).4 Die Verteilung dieser Sprachen ist dabei sehr heterogen: 60% der Idiome werden in nur 17 Ländern gesprochen (cf. Evans 2014, 39). In aktuellen Prognosen wird die Befürchtung geäußert, dass mit Ende dieses Jahrhunderts etwa die Hälfte der weltweit gesprochenen Sprachen verschwunden sein könnte (cf. UNESCO s.a. 2; Austin/Simpson 2007, 5; Moseley 32010)5 – und es besteht die Gefahr, dass durch den Sprachverlust auch das Wissen, das kollektive Gedächtnis und die Lebensformen ihrer Sprecher, die über Generationen tradiert und weitergegeben wurden, eher und schneller in Vergessenheit geraten könnten; ein Teil ihrer Identität: eine «catástrofe planetaria global» (Flores Farfán 2015, 93). Gerade auf dem amerikanischen Kontinent zeichnet sich in den vergangenen 60 Jahren ein radikaler Abfall der Sprecherzahlen indigener Sprachen und eine Veränderung der Altersstruktur der verbleibenden Sprecher ab: Während ältere Menschen häufig noch oder sogar nur die indigene Sprache sprechen, tendieren gerade die jüngeren Generationen entsprechend der gerade beschriebenen Entwicklung dazu, die indigene Sprache z.B. aus wirtschaftlichen oder Prestigegründen zugunsten internationaler Sprachen wie Englisch oder Spanisch aufzugeben (cf. Austin/Simpson 2007, 5).6 Mexiko, das mit seinen mehr als 112 Mio. Einwohnern zum einen das größte spanischsprachige Land der Welt ist (cf. INEGI 2010a) und zum anderen weltweit zu den Ländern mit der größten sprachlichen und kulturellen Vielfalt7

|| 4 Der Terminus indigen ist bezeichnenderweise in zwei gängigen linguistischen Referenzwerken entweder gar nicht aufgenommen (cf. Bußmann 32002) oder aber (im Metzler Lexikon Sprache) direkt mit einem Verweis zu Eingeborenensprache versehen: «Eingeborenensprache (engl. indigenous language, local language) Spr., die in einer bestimmten Region heimisch ist, dort gesprochen wird und nicht in die Region importiert wurde; oft abwertend gebraucht» (Glück 42010, 2.529). In der vorliegenden Arbeit wird der Terminus indigen oder lengua indígena im neutralen und keineswegs negativen Sinne gebraucht. Synonym verwendet werden im spanischsprachigen Kontext außerdem lengua originaria, amerindia oder autóctona. 5 Zur Problematik solcher Zahlenwerte cf. Crystal (2010, 3–11). 6 U.a. in Kap. 7.5 wird darauf eingegangen, dass es aber auch gegenläufige Entwicklungen gibt, in denen indigene Sprachen in ‘Jugenddomänen’ wie Popmusik oder soziale Netzwerke vordringen und sich somit neue, moderne Gebrauchssphären erschließen. 7 Unter den Ländern mit den meisten indigenen Völkern liegt Mexiko auf dem achten Platz (cf. Güémez Pineda 2008, 116). Bereits vor der Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés (1519–1521) war das Land von zahlreichen Sprachkontaktszenarien geprägt: Schätzungen gehen zu diesem Zeitpunkt von der Existenz von zwischen 120 (cf. Zimmermann 32004, 426) und an die 200 Sprachen auf dem heutigen mexikanischen Staatsgebiet aus, dessen Völker in regem Austausch standen (cf. Villavicencio 2010, 729). Mit der Conquista wurden die indigene Bevölke-

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gehört (cf. Flores Farfán 2008, 33s.), ist hier keine Ausnahme. In diesem sinfin sprachlich-kultureller Realitäten, in denen das Spanische mit offiziell 68 indigenen Sprachen und 324 Varietäten indigener Sprachen koexistiert (cf. INALI 2008, 31), ist ebenfalls eine stetige Abnahme des Anteils der indigenen Bevölkerung im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung festzustellen (cf. Zimmermann 3 2004, 424). Die yukatekische Halbinsel, auf der bis zum heutigen Tage mit dem yukatekischen Maya8 die zahlenmäßig zweitgrößte indigene Sprache Mexikos gesprochen wird, ist durch die bis dato fehlende Infrastruktur bis in die 1960er Jahre nur schwer erreichbar und dadurch ein relativ isolierter Teil Mexikos geblieben, was dazu führte, dass die indigene Sprache recht gut und konstant mit dem Spanischen koexistieren konnte (cf. Klee/Lynch 2009, 122). Trotz dieser auf den ersten Blick positiv anmutenden Ausgangslage zeigt sich bei genauerem Hinsehen auch für diese mit etwa 800.000 Sprechern (cf. INALI 2005) noch eher starke Sprache eine regressive Tendenz, die symptomatisch für die Entwicklungen der letzten 50 Jahre ist: Die Anzahl der monolingualen Mayasprecher auf der yukatekischen Halbinsel sinkt drastisch (cf. Güémez Pineda 1994, 4), während gleichzeitig der Trend zum Monolinguismus im Spanischen zu gehen scheint (cf. Bracamonte y Sosa et al. 2002, 12s.; cf. Kap. 7.2). Vor dem Hintergrund dieses beschleunigten Sprachverlustes entsteht in den meisten amerikanischen Ländern seit den 1980er Jahren eine veränderte

|| rung Mexikos und mit ihr die sprachlich-kulturelle Vielfalt stark dezimiert. Dieser Bevölkerungsschwund indigener Mexikaner setzte sich, wenn auch abgeschwächt, bis ins 19. Jahrhundert fort. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts erreicht die Zahl an indigenen Personen in Mexiko wieder etwa die Stärke, die für 1492 angenommen werden kann. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist allerdings seit Beginn der Eroberung von 100% auf die o.g. ca. 10% gefallen. Als Gründe für diese drastische Entwicklung können das Massensterben der indigenen Bevölkerung durch die Kämpfe der Eroberungszeit und die mit ihr einhergehende Zerstörung der sozialen Strukturen, Zwangsarbeit, von den Europäern eingeschleppte Epidemien wie die Pest, vor allem aber die Mestizierung und die mit ihr verbundene Hispanisierung genannt werden (cf. Berschin/Fernández-Sevilla/Felixberger 42012, 29s., 96; cf. auch Kap. 2.4 und 7.4). Es soll an dieser Stelle aber auf die Problematik von statistischen Bevölkerungsschätzungen hingewiesen werden: Es ist unklar, wer in solchen Statistiken als indigen gezählt wird, i.e. z.B. ob das Beherrschen einer indigenen Sprache Bedingung dafür ist oder auch Personen einbegriffen werden, die sich zu einer indigenen Gruppe zählen, ohne deren Sprache aktiv zu gebrauchen (cf. ausführlicher Kap. 7.2). 8 In der vorliegenden Arbeit wird das yukatekische Maya synonym als maya yucateco, el maya, la maya oder Maya bezeichnet, da sich die Studie auf die yukatekische Halbinsel bezieht und dort beinahe ausschließlich yukatekisches Maya und keine anderen Mayasprachen gesprochen werden. Zur Familie der Mayasprachen cf. Kap. 2.4.3.

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Politik in Bezug auf die Anerkennung der Rechte indigener Völker und die Stärkung indigener Organisationen; eine Bewegung, die seit den 1990er Jahren auch steigendes internationales Interesse weckt und u.a. in den sprachlichen Menschenrechten ihren Ausdruck fand (cf. Kap. 7.4). Exemplarisch sei an dieser Stelle Artikel 5 der UNESCO-Deklaration über die kulturelle Vielfalt (2001) zitiert, aus dem hervorgeht: «Toute personne doit ainsi pouvoir s’exprimer, créer et diffuser ses œuvres dans la langue de son choix et en particulier dans sa langue maternelle; toute personne a le droit à une éducation et une formation de qualité qui respectent pleinement son identité culturelle; toute personne doit pouvoir participer à la vie culturelle de son choix et exercer ses propres pratiques culturelles, dans les limites qu’impose le respect des droits de l’homme et des libertés fondamentales».

Auch aus wissenschaftlicher Sicht kann in den letzten zwanzig Jahren eine zunehmende Beschäftigung mit der Vitalität von Sprachen, mit Sprachbedrohung und Sprachenwechsel sowie Sprachaufgabe verzeichnet werden. Viele Studien beschäftigten sich dabei mit den Modernisierungs- und Assimilierungstendenzen, die von Globalisierungsprozessen ausgehen und auf u.a. kleinere sprachliche und ethnische Gruppen einwirken, wodurch diese stärker mit internationalen Wirtschaftssystemen, Sprachen wie dem Englischen, der Nationalkultur und z.B. im Zuge von Migration und Tourismus mit neuen ökonomischen Strukturen in Kontakt kommen. Wesentlich weniger erforscht ist dabei der umgekehrte Fall, «the fact that globalizing forces have triggered reacting forces as some people seek to assert, or better to reassert, their unique cultural identity» (Grenoble/Whaley 2006, 3) im Sinne eines Sprachaktivismus9, der durch die eigenambitionierte und selbstgesteuerte Partizipation10 und Agency11 der Sprecher desde abajo, also aus der Initiative der comunidades indígenas heraus betrieben werden kann.12 Auch auf gesellschaftlicher Ebene lässt sich analog ein wachsendes oder zumindest erwachendes Bewusstsein für die Bedrohung der

|| 9 Cf. zur Thematik des Sprachaktivismus Combs/Penfield (2012) sowie Cru (2014). 10 Cf. z.B. Rosales González/Llanes Ortíz (2003). 11 Cf. Kap. 3.4.4. 12 Die besondere Relevanz von Wahrnehmungsprozessen und Sprechereinstellungen für den Erhalt einer Sprache sowie die Betrachtung nicht nur von großen sprachpolitischen Institutionen und der offiziellen Gesetzgebung, sondern auch von kleineren, in der Sprechgruppe entstandenen Initiativen zur Bewahrung der Sprache wurde in mehreren Arbeiten (cf. u.a. Schrader-Kniffki 2004; Yagmur 2011; cf. auch Kap. 3.1.5) betont: «Ethnic minority institutions are ignored, which results in underestimation of the actual vitality of ethnic groups» (Yagmur 2011, 119).

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sprachlich-kulturellen Vielfalt beobachten. Weiterhin findet auch desde arriba, i.e. auf politischer Ebene, eine steigende Beschäftigung mit Revitalisierungsmaßnahmen sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene statt (cf. Flores Farfán 2015, 93)13, da Sprache als «visible and powerful indicator of group identity» erkannt wurde (Grenoble/Whaley 2006, 3). Nachdem selbst im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts in sprachpolitischer Sicht noch zur markanten Dezimierung der indigenen Bevölkerung Mexikos und der sprachlich-kulturellen Assimilation beigetragen wurde, scheint es im Laufe des 20. Jahrhunderts – zumindest auf dem Papier – zu einem Paradigmenwechsel gekommen zu sein, der 2003 mit der Ley General de Derechos Lingüísticos de los Pueblos Indígenas (Gobierno de México 2003) seinen bisherigen Höhepunkt erreicht hat (cf. Kap. 7.4.1.3).

1.2 Fragestellungen und Zielsetzung Dieses Gesetz bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie: Fast 15 Jahre nach der formellen Anerkennung der indigenen Völker und ihrer Rechte soll in dieser Arbeit am Beispiel der yukatekischen Halbinsel und des dort gesprochenen yukatekischen Mayas die komplexe Mehrsprachigkeitssituation Mexikos beleuchtet werden. Der Fokus liegt dabei auf der Erforschung der ethnolinguistischen Vitalität des yukatekischen Maya und der Situation seiner Sprecher, die sich heute zwischen zunehmender Selbstbestimmung und der Einforderung ihrer Rechte auf der einen und anhaltender Marginalisierung und Diskriminierung auf der anderen Seite positionieren, die häufig durch ihren ethnischen und sprachlichen Hintergrund bedingt sind. Die zentrale der Studie zugrunde liegende Theorie der ethnolinguistischen Vitalität wird in erster Linie mit den Forschungen von Giles, Bourhis und Taylor

|| 13 Dies manifestiert sich in zahlreichen Publikationen, u.a. auf internationaler Ebene z.B. im Atlas of the World’s Languages in Danger of Disappearing der UNESCO (2010), aber auch durch die Existenz regierungsunabhängiger Akteure wie Mercator, EBLUL, Linguapax und NGOs wie Terralingua oder die Foundation for Endangered Languages (cf. Heller/Duchêne 2008, 6; Patrick 2008, 35). Für weitere Publikationen zur Thematik der Sprachbedrohung cf. z.B. Austin/Simpson (2007a); Brenzinger (2007); Evans (2010; 2014); Grenoble/Whaley (2006); King et al. (2008); Krauss (1992); Nettle/Romaine (2000); Tsunoda (2005). Zu Revitalisierung, Diagnose und Dokumentation von Sprachwechsel, z.T. mit Anregungen zu Revitalisierungsmaßnahmen cf. z.B. Duchêne/Heller (2008); Fishman (1991); Flores Farfán (2006; 2007; 2011a; 2011b); Flores Farfán/Córdova Hernández (2012); Hinton/Hale (2001); Ramallo/Flores Farfán (2010); Skutnabb-Kangas (22006).

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(1977) verbunden. Die Autoren haben in Anlehnung an die sprachökologische Auffassung, nach der das Sprachverhalten der Sprecher in Sprachkontaktsituationen primär von außersprachlichen Faktoren beeinflusst wird (cf. Porębska 2006, 16), das bis heute meistverwendete Analysemodell zur Erforschung sprachlicher Vitalität und interethnischer Gruppenbeziehungen entwickelt. Die vorliegende Untersuchung orientiert sich v.a. an zwei wesentlichen Weiterentwicklungen dieses o.g. Leitmodells, die neben sog. objektiven Vitalitätsfaktoren (mit z.B. sprachlichen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und demografischen Komponenten), die bereits im ersten Modell angelegt waren, die Bedeutung der Interaktion der Sprecher, der innerhalb dieser entstehenden Sprachkontakte und deren Einfluss auf die Wahrnehmung einer subjektiven ethnolinguistischen Vitalität hervorheben und einbeziehen (cf. Bourhis/Giles/Rosenthal 1981; Landry/Allard 1994a, 1994b; Landry/Bourhis 1997; cf. Kap. 3.5).14 Dabei rücken subjektive Theorien (cf. Lenz 2003; König 2014), Perzeptionen und Repräsentationen der Sprecher bezüglich ihrer sozialen Realität in den Fokus der Betrachtung: Ein wesentlicher Bestandteil der subjektiven Vitalitätskomponente ist das Sprachbewusstsein der Sprecher, das als Kombination von Sprachwissen und Wissen um die Sprachensituation15 und mit dieser verbundenen Spracheinstellungen verstanden werden kann (cf. Kap. 3.2 und 3.3). (Sprach-)Einstellungen bzw. metasprachliche Reflexionen, Repräsentationen und sprachliche Werturteile (cf. Cuonz 2014a) können Auskunft über die soziolinguistischen Verhältnisse, in denen die Sprecher leben, geben und sind daher von wesentlicher Bedeutung für Einschätzungen bezüglich der Zukunft von Sprachen und ihrer Vitalität, da sie Sprachgebrauch und Sprachwahl beeinflussen (cf. Hentschel 2013, 13; Vargas 2014, 33). Bisher wurden diese bedeutsamen subjektiven Komponenten der Sprachvitalität allerdings insgesamt erst wenig und nicht systematisch erforscht, obwohl sie zur «metalinguistischen Alltagspraxis von Laien» gehören (Cuonz 2014a, 1). Wenngleich in den vergangenen Jahren durch sprachpolitische Bemühungen staatlich gesteuerte Initiativen zum Schutze indigener Sprachen proklamiert wurden, sind es letztendlich doch die Sprecher, die durch ihren Sprachgebrauch oder den Wechsel zu einer || 14 Das um diese Bestandteile ergänzte Modell wird hier als ‘erweitertes makroskopisches Bilinguismusmodellʼ betitelt. 15 Unter Sprachensituation soll in dieser Arbeit in Anlehnung an Scharnhorst (2007, 12s.) die allgemeine gesellschaftliche Lage einer Sprache in einem bestimmten Territorium zu einem ausgewählten Zeitpunkt als Ergebnis eines historisch-dynamischen Prozesses verstanden werden, wobei u.a. die politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse als Einflussfaktoren auf die Sprache gelten können. Diese Komponenten finden sich als zentrale Bestandteile des dieser Arbeit zugrunde liegenden Modells wieder (cf. Kap. 3.5).

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anderen Sprache in bestimmten Kontexten über die Entwicklung und Zukunft einer Sprache entscheiden. Ihnen kommt also, entgegen dem lange Zeit propagierten Vorwurf der mangelnden Wissenschaftlichkeit der Analyse von Sprecherurteilen, eine Schlüsselrolle zur Beantwortung der Frage nach der Vitalität einer Sprache zu (cf. Kap. 3.5). Vor diesem Hintergrund widmet sich die Arbeit diesem Feld, das v.a. in den letzten 20 Jahren in den Blickpunkt der linguistischen Forschung gerückt ist, da für die Einschätzung der Vitalität des yukatekischen Maya eine Beschäftigung mit sprachlichen Werturteilen linguistischer Laien (cf. u.a. Cuonz 2014a) herangezogen wurde (cf. Kap. 2.1). Neben einer Untersuchung objektiver Vitalitätsfaktoren wird dabei durch die Analyse metasprachlicher Äußerungen die subjektive Sicht bilingualer Maya- und Spanischsprecher sowie Nicht-Mayasprecher auf die Mehrsprachigkeitssituation in Yucatán betont, um eine Gesamtschau über die interdependenten Einflussfaktoren auf die aktuelle Sprachensituation zu ermöglichen. Gleichzeitig verfolgt die Arbeit auch das Ziel, zum einen am Beispiel eines Einblicks in das Sprachkontaktszenario Yucatáns die sprachliche Vielfalt der Welt zu visualisieren und zum anderen ein Bewusstsein für den drohenden Sprachverlust zu schaffen. Folgende Leitfragen liegen der Arbeit zugrunde: 1. Welches Bild der Mehrsprachigkeitssituation auf der yukatekischen Halbinsel lässt sich fast 15 Jahre nach der sprachpolitischen Anerkennung der Rechte indigener Völker in Mexiko zeichnen? Wie empfinden Maya- und Nicht-Mayasprecher die Sprachkontaktsituation in Yucatán? Kann bei ihrer Einschätzung ein Zusammenhang mit der Sprachbiografie und persönlichen Erfahrungen, den erlernten Sprachen und der darin erworbenen Kompetenz hergestellt werden? Wie bewerten die Sprecher das Miteinander in ihrer mehrsprachigen Umwelt (cf. Kap. 5 und 7)? 2. Da in Sprachkontaktsituationen im sprachökologischen Verständnis das Sprachverhalten maßgeblich von außersprachlichen Faktoren beeinflusst wird, soll dem Verhältnis von Sprache und Kontext besondere Beachtung geschenkt werden (cf. Porębska 2006: 16), wobei die von den Sprechern empfundene Funktionalität der Sprachen eine große Rolle spielt: Mit wem sprechen sie in welchen Kontexten welche Sprache? In welchen Domänen wird Maya, in welchen Spanisch oder Englisch gebraucht? Welche Bedeutung kommt dabei dem sprachlichen Netzwerk im privaten und im öffentlichen Bereich zu (cf. Kap. 6)? 3. Wie sind in Anlehnung an die aus dem erweiterten makroskopischen Bilinguismusmodell nach Landry/Bourhis extrahierten Indikatoren (cf. Kap. 3) die objektiven und subjektiven Vitalitätsfaktoren des yukatekischen Maya

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auf demografischer, wirtschaftlicher, (sprach- und bildungs-)politischer und kultureller Ebene zu bewerten (cf. Kap. 7)? Inwiefern stimmt unter Berücksichtigung der Gruppe der Spanischsprecher und der Mayasprecher das objektive mit dem subjektiven Vitalitätsbild überein? 4. Welche (Sprach-)Einstellungen werden in diesem Zusammenhang im untersuchten mehrsprachigen Raum in Bezug auf das Maya und das Spanische geäußert? Und welchen Einfluss haben diese auf die soziale Stellung der Sprecher? Wird Mehrsprachigkeit wertgeschätzt und für die Konstruktion der Identität als wichtig angesehen (cf. Kap. 8)? 5. Inwiefern lassen sich die objektiven und subjektiven Vitalitätseinschätzungen auch auf den öffentlichen Raum, die sog. Sprachenlandschaft, übertragen? Wie nehmen die Sprecher die schriftliche Repräsentation der Mehrsprachigkeit in der Linguistic Landscape wahr (cf. Kap. 9)? 6. Welche Prognosen geben die Sprecher für die Zukunft des yukatekischen Maya ab? Können sie, u.a. unter Einbezug der o.g. sprachpolitischen Entwicklungen, einen Wandel feststellen bzw. wie (er-)leben sie diesen? Welche Revitalisierungsmaßnahmen halten sie in diesem Zusammenhang für sinnvoll (cf. Kap. 8)? Das wachsende Interesse an der Vitalität von Sprachen und an entsprechenden Revitalisierungsmaßnahmen zeigt sich in zahlreichen Publikationen, die interessante Forschungsansätze und -ergebnisse präsentieren, aber auch Forschungsdesiderate und Unstimmigkeiten erkennen lassen (cf. Kap. 3.1.5; Kap. 4). Zentrale Kritikpunkte beziehen sich v.a. auf die mangelnde Systematik einiger Studien, auf die lokale Begrenztheit auf punktuelle Untersuchungsausschnitte der sprachlichen Realität (cf. Lenz 2003, 15), den spärlichen oder fehlenden Einbezug der Sprechersicht (cf. Vargas García 2014) und die methodischen Inkonsistenzen, da es bisher noch keine einheitlichen und normierten Verfahren zur Erfassung der sprachlichen Vitalität gibt. Als Reaktion auf diese Diagnose soll mit dieser Studie ein aktueller Beitrag zur Diskussion der genannten Forschungsdesiderate geleistet werden, indem ausgehend von den sprachpolitischen Rahmenbedingungen fast 15 Jahre nach der Anerkennung der Rechte indigener Völker in Mexiko unter Berücksichtigung diasystematischer Parameter und unter Adaptation qualitativer und quantitativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden eine Bewertung der objektiven und der subjektiven Vitalität des yukatekischen Maya erfolgt, um damit in methodischer Sicht durch das Aufbrechen der Dichotomie zwischen qualitativer und quantitativer Forschung zu aussagekräftigeren Ergebnissen zu kommen als es durch die Beschränkung auf eines der beiden Paradigmen möglich wäre (cf.

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Kuckartz 2014a, 21, 53s.). Ein primär qualitatives Design aus leitfadengestützten Interviewdaten, für das sich u.a. auch aus forschungsethischen Gründen (cf. Kap. 4) entschieden wurde, wird bei der Analyse bestimmter Indikatoren, für deren Interpretation eine Quantifizierung ausgewählter Ergebnisse sinnvoll ist, um diese erweitert. Ein inhaltsanalytischer Ansatz eignet sich im Besonderen zur Auswertung der Daten, da so quantitativ-sozialpsychologische und qualitativ-soziolinguistische (laienlinguistische und ethnolinguistisch-anthropologische; cf. Senft 2003) Perspektiven kombiniert werden können. In methodischer Hinsicht ist die Arbeit damit als Plädoyer für den Einsatz von auf den Forschungsgegenstand und den -kontext angepassten Methoden, für die Sensibilisierung bezüglich der Chancen und Stärken einer Methodenkombination in Vitalitätsstudien (cf. Deminger 2004; Yagmur/Ehala 2011; McEntee-Atalianis 2011) sowie die Reflexion bisher verwendeter empirischer Forschungsmethoden bei der Erhebung und Auswertung einstellungsbezogener Daten zu verstehen. Das zentrale Korpus aus metasprachlichen Äußerungen zur Sprachensituation in Yucatán wurde an einem urban (Mérida) und drei rural geprägten Untersuchungsorten (Muna, Chemax und Hopelchén) in den mexikanischen Bundesstaaten Yucatán und Campeche mit Sprechern unterschiedlichen Alters, Bildungsstandes und Berufs mit divergierenden Sprachkenntnissen erhoben und mit einem Fotokorpus zur Sprachenlandschaft der jeweiligen Erhebungsorte verknüpft, um so neben der Beschäftigung mit den objektiven Daten einen Einblick in die subjektive Sprechersicht und die visuelle Manifestation der Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum zu ermöglichen. Das Hauptziel ist damit weder eine zahlenmäßig repräsentative Studie noch die Berechnung von (im Übrigen oftmals wenig aussagekräftigen) Vitalitätsindizes (cf. Kap. 4), sondern die Dokumentation von Tendenzen und Perspektiven in der gegebenen Sprachkontaktsituation sowie das Aufzeigen der für die Sprecher relevanten Inhalte, Themen und Desiderata, denn es wird, wie bereits erwähnt, die Auffassung vertreten, dass der Verwendung der Sprache durch ihre Sprecher eine Schlüsselrolle in Bezug auf die Vitalität zukommt (cf. Sallabank 2013, 2). Damit verbunden ist außerdem der Wunsch, durch die Analyse der Sprechermeinungen zur Sprachensituation in Yucatán ein fruchtbares Panorama eines umfassenden Spektrums an Einflussfaktoren auf die sprachliche Vitalität zu bieten, das als Orientierungspunkt für das Design und die Implementierung zukünftiger sprecherorientierter Revitalisierungsprojekte für das yukatekische Maya dienen kann (cf. Kap. 3).

Vorgehensweise und Aufbau | 11

1.3 Vorgehensweise und Aufbau Auf diese einleitenden Betrachtungen folgen zunächst eine Beschäftigung mit den Rahmenbedingungen der Studie, um das yukatekische Maya im mexikanischen Kontext zu situieren (Kap. 2), und ein Theorieteil (Kap. 3), in dem theoretische und definitorische Grundlagen für die spätere Korpusanalyse eingeführt werden. Dabei wird in einem ersten Schritt die Vitalitätsforschung im Rahmen der Soziolinguistik, Sprachkontaktforschung und Laienlinguistik verortet. Im Anschluss soll durch eine kritische Auseinandersetzung mit Leitbegriffen der Soziolinguistik das Forschungsfeld für die vorliegende Studie abgesteckt werden. In diesem Zusammenhang werden zentrale Termini zur Beschreibung der ‘Konkurrenzsituation’ von Sprachen (z.B. Sprachbedrohung, -erhalt, -wechsel oder -verlust) definiert. Den Kern dieses Kapitels bilden die Darstellung unterschiedlicher Modelle zur ethnolinguistischen Vitalität sowie die Extraktion und Zusammenführung ausgewählter Faktoren für eine Adaptation im yukatekischen Kontext. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Verbindung zwischen Sprache und Identität und der Bedeutung von Einstellungen für die Vitalität von Sprachen. Im Rahmen dieses Kapitels wird auch ein detaillierter Forschungsstand zur Untersuchung sprachlicher Vitalität unter besonderer Berücksichtigung des hispanischen, mexikanischen und yukatekischen Forschungskontextes präsentiert. Das sich anschließende Kapitel (Kap. 4) dient der Vorstellung des Forschungsdesigns unter Einbezug von Überlegungen zum Einsatz von qualitativen und quantitativen Ansätzen zur Untersuchung von Vitalität und ihrer zentralen subjektiven Komponente der metasprachlichen Reflexionen. Ausgehend von Fragen der Erhebung, der Messbarkeit und der Auswertung von sprachlichen Werturteilen und vitalitätsrelevanten Faktoren werden im Rahmen einer ausführlichen Beschreibung der analysierten Korpora die zentralen Erhebungsinstrumente vorgestellt und kritisch eingeordnet. Anschließend folgen Erläuterungen zu den Erhebungsphasen, den Untersuchungsorten und eine Charakterisierung des entstandenen Samples, um im abschließenden Teil dieses Kapitels die gewählten Auswertungsmethoden zu illustrieren: Nach der Präsentation der Methodik der qualitativen Inhaltsanalyse wird der Fokus auf den konkreten Analyseschritten und der in diesen erfolgten Kategorienbildung liegen. Außerdem wird das Vorgehen bezüglich der einstellungsbezogenen Textstellen dargelegt, an denen durch exemplarische Feinanalysen ein angemessener Zugang zu Spracheinstellungen und mit diesen in Verbindung stehenden identitätsbezogenen Aussagen ermöglicht werden soll. Dieses Kapitel schließt mit einer zusammenfassenden Methodenreflexion und einem Fazit zu den gewählten Problemlösungsstrategien in methodischer Hinsicht.

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Die nun folgenden Teile dienen der Darstellung und Diskussion der Resultate der Korpusanalyse16, wobei mit der Zielsetzung der Erhöhung der Repräsentativität und einer reflektierten Einordnung punktuell Vergleiche u.a. zu quantitativ ausgerichteten Studien der Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas (CDI 2006b) und des Consejo Nacional para Prevenir la Discriminación (CONAPRED 2011, 2012) gezogen werden. Ausgehend von einer Beschäftigung mit sprachbiografischen Daten zur Sprachkompetenz, dem Spracherwerb sowie der intergenerationellen Sprachweitergabe (Kap. 5) und einer Analyse der Sprachverwendung und Funktionalität der Kontaktsprachen in unterschiedlichen Domänen (Kap. 6) soll durch die Interpretation sowohl der objektiven als auch der subjektiven Vitalitätsfaktoren zu einer Bewertung der Vitalität des yukatekischen Maya unter Einbezug geografischer, soziohistorischer, demografischer, wirtschaftlicher und sprachlicher Parameter gelangt werden (Kap. 7). Von besonderer Relevanz ist dafür die in Kap. 8 thematisierte metasprachliche Reflexion der Befragten zum einen in Bezug auf die Wahrnehmung der Mehrsprachigkeitssituation auf der yukatekischen Halbinsel und zum anderen für eine Einschätzung der Vitalität des Maya aus der subjektiven Sicht der Maya- und Spanischsprecher. Abschließend sollen diese Interviewdaten in Kap. 9 mit der visuellen Repräsentation von sprachlicher Vielfalt im öffentlichen Raum in Verbindung gebracht werden. Durch eine erneute Triangulation von Daten und Methoden wird in diesem Kapitel untersucht, ob die Linguistic Landscape Yucatáns als Spiegel der sprachlichen Realität angesehen werden kann und welche Bedeutung sie für die Vitalität des Maya einnimmt. Die Arbeit schließt mit einem Resümee und einer Einordnung der zentralen Ergebnisse sowie einem Ausblick. Diese verschiedenen Ansätze sollen in der umfassenden Zusammenschau diverser Einflussfaktoren eine differenzierte Einschätzung bezüglich der aktuellen Sprachensituation und der Vitalität des yukatekischen Maya zwischen olvido, revalorización und revitalización ermöglichen.

|| 16 Alle Belegstellen werden so wiedergegeben, wie sie im Original lauten, i.e. eventuelle Abweichungen (z.B. Fehler in der Grammatik oder eine z.T. unvollständige Syntax) sind als solche im Material belegt. Sie werden nicht systematisch mit [sic] gekennzeichnet.

2 Das yukatekische Maya im mexikanischen Kontext: Verortung und Rahmenbedingungen 2.1 Definitorische Vorbemerkungen zu einigen untersuchungsleitenden Konzepten und Disziplinen Lebendige Sprachen unterliegen als komplexe Varietätengefüge einem stetigen Wandel, welcher in besonderem Maße durch Sprachkontaktsituationen beeinflusst wird. Das Spanische ist durch seine Expansionsgeschichte und die mit ihr verbundenen Kolonisations- und Migrationsbewegungen durch historische Kontaktszenarien, aber auch durch aktuelle Konstellationen physischen und nicht-physischen, i.e. virtuellen Kontaktes geprägt. Mit den Studien von Weinreich (1953) und Haugen (z.B. 1950) wird die Disziplin der Sprachkontaktforschung etabliert.1 Dabei stehen die Sprecher – und nicht etwa die Sprachen, wie der Begriff Sprachkontakt suggerieren könnte – im Fokus der Untersuchungen, da sie Sprachkontakt im menschlichen Zusammenleben herstellen und diesen erfahren (cf. Lüdi/Py 1984, 5). Weinreichs Überlegungen zu einer Systematik und Theorie des Sprachkontaktes wurden nahezu zeitgleich und in unmittelbarer Folge durch sozio- und variationslinguistische Fragestellungen erweitert (cf. Langenbacher-Liebgott 2012, 146s.). Die Soziolinguistik interessiert sich dabei insbesondere für die Erforschung mehrsprachiger Gesellschaften und in diesem Kontext emergierenden Fragen der Sprachbewahrung, des Sprachwechsels, der Vitalität und Revitalisierung von Sprachen sowie deren Bedeutung für das Sprachbewusstsein und Identitätskonzepte der Sprecher2, wobei die Untersuchung subjektiver Sprecheräußerungen über ihre Sprache im Rahmen der Sprachwissenschaft lange Zeit ausgeklammert wurde, da die Innensicht der Sprecher als spekulative und unwissenschaftliche Größe galt. Erst im Laufe der 1960er Jahre wurde der Einbezug von Sprechermeinungen explizit eingefordert, wodurch «programmatisch eine Erweiterung des sprachwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs um die Dimension der Einstellungen von Sprechern gegenüber den Sprachvarietäten» (Neuland 1993b, 724) verbunden war. Mit die-

|| 1 Zur Sprachkontaktforschung in Hispanoamerika und im Besonderen in Mexiko cf. z.B. Klee/ Lynch (2009, 113–168), Schrader-Kniffki (2003, 21–39) und Zimmermann (1996; 32004). 2 Cf. u.a. Fishman (1977; 1980; 1991); weitere Hinweise zu zentralen Forschungsfeldern und Studien im Bereich der Soziolinguistik cf. Langenbacher-Liebgott (2012, 154). Cf. ausführlich Kap. 3.

DOI 10.1515/9783110547245-002

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sem turn sind Spracheinstellungen als Einflussgröße auf Sprachverwendung, Sprachwandel oder -erhalt in Mehrsprachigkeitskontexten zu einem bedeutenden Forschungsgegenstand geworden. In diesem Zusammenhang werden nicht nur die «sozialen Bedingungen und Wirkungen des Sprachgebrauchs [...] in ihren unmittelbar äußerlich manifesten Erscheinungsweisen erforsch[t], sondern [auch die] Verarbeitung sozialer Wirklichkeit im Bewußtsein von Sprechern und Hörern berücksichtig[t]» (Neuland 1993b, 724). Gerade im Bereich der angewandten Linguistik ist mit der gezielten Erforschung der subjektiven Sprecherurteile linguistischer Laien eine eigene Disziplin, die Laienlinguistik3, entstanden (cf. Wilton/Stegu 2011, 1). Der Begriff wurde zunächst maßgeblich von Gerd Antos geprägt, der darunter eine «an die breite Öffentlichkeit gerichtete praxisorientierte Sprach- und Kommunikationslehre zur Lösung muttersprachlicher Probleme» (Antos 1996, 13), also eine normative Linguistik von (gebildeten) Nicht-Linguisten für Nicht-Linguisten versteht. Im anglophonen Raum beschäftigt sich die Linguistik unter dem wesentlich weiter gefassten Terminus folk linguistics (cf. u.a. Niedzielski/Preston 2003) im Sinne einer Beschreibung und teilweise auch Bewertung von Sprachen durch linguistische Laien (cf. König 2014, 10) schwerpunktmäßig mit perzeptiver Dialektologie (cf. z.B. Preston 1999), die u.a. auch in der germanistischen Forschung auf großes Interesse stößt.4 In romanistische Forschungsgebiete haben laienlinguistische Arbeiten im Vergleich zur Anglistik und Germanistik erst eher spärlich Einzug gehalten.5 Metasprachliche Untersuchungen zu Spracheinstellungen, Sprachbewusstsein und zur Verbindung zwischen Sprache und Identität bei linguistischen Laien können ebenfalls diesem Bereich der folk linguistics zugeordnet werden (cf. Cuonz/Studler 2014a, 2).

|| 3 Cuonz (2014a, 9–15) weist auf unterschiedliche definitorische Ansätze hin und unterstreicht dabei das Forschungsdesiderat, ästhetische und affektive Sprachurteile als Phänomene der Laienmetasprache innerhalb der Laienlinguistik zu erforschen. Die vorliegende Arbeit stellt dabei einen Beitrag dar, der dieser Aufforderung nachkommen möchte. Im Bereich der Laienlinguistik existieren quantitativ orientierte (z.B. Niedzielski/Preston 2003), qualitativ orientierte diskurslinguistische (z.B. Arendt 2010) oder gesprächsanalytische Arbeiten (z.B. Tophinke/ Ziegler 2006). 4 Cf. z.B. Anders (2010); Anders/Hundt/Lasch (2010); Hundt (1992); Eichinger et al. (2012); Krefeld/Pustka (2010); aber auch Spitzmüller (2005) zu Sprachpurismus und Anglizismengebrauch; Kilian/Niehr/Schiewe (2010) zur laienlinguistischen Sprachkritik uvm. 5 Cf. z.B. Paveau (2008); Polzin-Haumann (2006); Preston (2008); Wochele (2011); Hardy/Herling/Patzelt (2015). Einen Überblick zu Laienlinguistik und Sprachchroniken im spanischen und lateinamerikanischen Raum geben Kailuweit/ Jäckel (2006).

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In Abgrenzung zur o.g. engen Definition nach Antos orientiert sich die vorliegende Arbeit an einem weiter gefassten Begriff der Laienlinguistik, bei dem der Akzent nicht auf nichtwissenschaftlicher Ratgeberliteratur liegen soll, sondern auf Alltagsreflexionen linguistischer Laien6, in unserem Fall Nichtlinguisten, die auf einem Kontinuum zwischen wenigem bzw. keinem linguistischem Wissen und einem Grundstock an sprachbezogenen Wissensbeständen über eine unterschiedliche Ausprägung an sprachwissenschaftlicher Basiskompetenz verfügen und auf dieser Basis die sie umgebende Sprachensituation und ihren Sprachgebrauch reflektieren und bewerten (cf. Arendt 2010, 143; König 2014, 12). In diesem Sinne ist die vorliegende Untersuchung als soziolinguistische Arbeit zu verstehen, die sich mit der ethnolinguistischen Vitalität des yukatekischen Maya beschäftigt, wobei innerhalb der subjektiven Komponente der sprachlichen Vitalität Werturteile linguistischer Laien betrachtet und analysiert werden sollen (cf. Kap. 3).

2.2 Zentrale Konstellationen in Mehrsprachigkeitskontexten 2.2.1 Bilinguismus und Mehrsprachigkeit Bilinguismus wurde lange Zeit über die Disziplinen hinweg eher stiefmütterlich als ein wenig relevantes Phänomen der Abweichung vom Normalfall betrachtet, das in der gleichzeitigen Beherrschung zweier Sprachen besteht.7 Erst Mitte des 20. Jahrhunderts fand ein Umdenken statt, seitdem Bilinguismus als variables, weitverbreitetes und multidimensionales Konzept verstanden wird8, das sich zunächst ganz allgemein auf den Gebrauch zweier Sprachen bezieht. Eine mögliche Nuancierung besteht in der Bezeichnung der Verwendung von mehr als zwei Sprachen als Multilinguismus (bzw. Mehrsprachigkeit), während Plurilinguismus bereits den Gebrauch von mehr als einer Sprache meint. Umstritten ist bei dieser Einteilung das Maß an Kompetenz und Performanz, das die Sprecher haben müssen, um als bi- oder multilingual gelten zu können (cf. Riehl 22009,

|| 6 Zum Konzept des linguistischen Laien cf. z.B. Antos (1996); König (2014, 11–15); Paveau (2008); Wilton/Stegu (2011). 7 Lüdi (1996a, 233) beschreibt in diesem Zusammenhang das Stereotyp, nach dem «Einsprachigkeit der natürliche, gottgewollte und/oder politisch legitime Zustand des Menschen sei. Der ‹ideale› Mensch ist einsprachig (und zwar möglichst in einer der großen westlichen Kultursprachen...) [...]». Dabei ist in der Realität Mehrsprachigkeit keine Ausnahme, «sondern ein möglicher Normalfall» (Lüdi/Py 1984, 1, Hervorh. i. Orig.). 8 Cf. z.B. Mackey (1987); Lüdi (1996a); Goebl et al. (1996) uvm.

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73; Lüdi 1996a, 234). In der vorliegenden Arbeit wird aufgrund der Universalität der Definition i.d.R. der Begriff der Mehrsprachigkeit verwendet, welche unter Einbezug neuerer Perspektiven als ein Kontinuum an Ausprägungen verstanden werden kann: Funktional mehrsprachig ist, «wer sich irgendwann in seinem Leben im Alltag regelmäßig zweier oder mehrerer Sprachvarietäten bedient und auch von der einen in die andere wechseln kann, wenn dies die Umstände erforderlich machen, aber unabhängig von der Symmetrie der Sprachkompetenz, von den Erwerbsmodalitäten und von der Distanz zwischen den beteiligten Sprachen» (Lüdi 1996a, 234).

Dabei kann prinzipiell z.B. zwischen institutioneller, individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit unterschieden werden, die interdependent sind, weshalb von einer dichotomischen Abgrenzung eher abzusehen ist (cf. Riehl 2014, 12). Individuelle Mehrsprachigkeit kann in einem institutionellen Milieu, also schulisch, oder im sozialen Milieu ‘natürlich’ erworben werden (cf. Abendroth-Timmer/Fäcke 2011, 16; Lüdi/Py 1984, 7) und sich in unterschiedlicher Art und in sehr verschiedenen Situationen äußern. Lüdi (1996a, 234) betont, dass generell eine Vielzahl an Faktoren9 individuelle Mehrsprachigkeit bedingen können: «[…] geographische Mobilität von Einzelnen und von Gruppen, Leben in Sprachgrenzregionen oder in sprachlich heterogenen Gebieten, Heirat mit Anderssprachigen, Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft mit einer besonderen Sprache, soziale Mobilität, Zugang zu höherer Bildung usw.».

Weiterhin wird die sprachliche Kompetenz von der tatsächlichen Verwendung der Sprache unterschieden. Die Kompetenz wird u.a. beeinflusst vom Kontext, in dem eine Sprache erworben wird (zu Hause, im Alltag, in der Schule etc.), dem Zeitpunkt des Erwerbs (Alter sowie sukzessiver oder simultaner Spracherwerb), der Motivation und den Bedingungen, unter denen sie erworben bzw. erlernt wird. Davon ausgehend kann eine Sprache dominant sein und dann besser beherrscht werden als andere (in denen u.U. nur rezeptive Kenntnisse vorhanden sind) oder aber zwei oder mehrere Sprachen werden auf dem (nahezu) gleichen Level beherrscht. Das Sprachverhalten kann sich durch konstantes Code-Switching oder einen Sprachenwechsel in Abhängigkeit von der Gesprächssituation, dem Konversationspartner oder dem Umfeld charakterisieren (cf. Mackey 1987, 1485ss.; Roche 2013a, 182–186; cf. Kap. 5).

|| 9 Cf. dazu auch Mackey (1987).

Zentrale Konstellationen in Mehrsprachigkeitskontexten | 17

Institutionelle Mehrsprachigkeit herrscht vor, wenn die Verwaltung eines Bezirks, einer Stadt, eines Landes oder einer Organisation ihre Dienste in mehreren Sprachen anbietet, was z.B. in territorial mehrsprachigen Staaten, aber auch in internationalen Organisationen (wie der UNO, der EU usw.) der Fall ist (cf. Riehl 22009, 60). Der letzte Fall der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit beschreibt Konstellationen der Koexistenz mehrerer Sprachen in einem bestimmten (meist Staats-) Gebiet, wobei es eher selten ist, dass die Sprachen in identischer Weise und Funktion verwendet werden und alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft mehrsprachig sind. Häufig liegt in diesen Kontexten eine funktionale Aufteilung vor, die in Abhängigkeit vom Status der Sprachen erfolgen kann und bei der von der Sprache mit dem höheren Status eine größere Anziehungskraft auf die Sprecher ausgeht (cf. Mackey 1987, 1488; cf. auch Kap. 2.2.2). In den 1960er Jahren erfolgte in der Mehrsprachigkeitsforschung ein Perspektivwechsel in Bezug auf die Einstellung zur Mehrsprachigkeit: Während vorher die negativen Begleiterscheinungen der Mehrsprachigkeit im Vordergrund standen, rückten nun positive Faktoren dieses Phänomens und das Bewusstsein dafür, dass die als negativ angesehenen Aspekte der Mehrsprachigkeit eher sozialer denn sprachlicher Natur sind, in den Fokus der Studien. Die soziale Bewertung der Mehrsprachigkeit hängt dabei z.B. vom «Marktwert» der innerhalb der Gesellschaft in Kontakt stehenden Sprachen, der sozioökonomischen Situation der Mehrsprachigen oder dem sozialen Prestige dieser Gruppen ab (Lüdi 1996a, 236). Diese außersprachlichen Faktoren werden in dieser Arbeit eine tragende Rolle spielen. In einem soziolinguistischen Verständnis (cf. Haugen 1972), wie es dieser Studie zugrunde liegt, werden also die individuelle Sprachsituation und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als eng miteinander verbunden verstanden, weshalb auch das Sprachverhalten immer im gegebenen sozialen Kontext betrachtet werden muss (cf. Fasoli-Wörmann 2002, 81s.). Nach dieser Auffassung können durch die Begriffe der Diglossie (cf. Kap. 2.2.2) und der ethnolinguistischen Vitalität (cf. Kap. 3) komplexe Strukturen in Mehrsprachigkeitssituationen greifbar und verständlich gemacht werden. Beide Konzepte beschäftigen sich prinzipiell mit makrosozialen Aspekten von Sprache und Domänen des Sprachgebrauchs, haben allerdings auch zur Vorhersage von Sprachverhalten sowie möglichen Sprachwechselprozessen in multilingualen Kontexten Anwendung gefunden (cf. z.B. Landry/Allard 1994).

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2.2.2 Diglossie Der Terminus Diglossie als zentrales Konzept der soziolinguistischen Variationsforschung wurde 1959 von Ferguson zur Beschreibung von Situationen eingeführt, in denen zwei verwandte Dialekte derselben Sprache unterschiedliche soziale Funktionen erfüllen. Diglossie liegt demnach dann vor, wenn in einer relativ stabilen Kontaktsituation ein funktional differenzierter und komplementärer Sprachgebrauch festgestellt werden kann, i.e. dass i.d.R. eine dominante Sprache (die sog. high variety oder H-Varietät) in formellen und öffentlichen Kommunikationssituationen bzw. Domänen verwendet wird, wohingegen die sog. low variety oder L-Varietät im informellen, privaten Bereich gebraucht wird (cf. Rindler Schjerve 1998, 15). Ferguson (1959, 336) definiert damit Diglossie als bestimmten Typ gesellschaftlicher Zweisprachigkeit: «Diglossia is a relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of the language (which may include a standard or regional standards), there is a very divergent, highly codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and respected body of written literature, either of an earlier period or in another speech community, which is learned by formal education and is used for most written and formal spoken purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation».

Mit dieser Einteilung geht i.d.R. eine Hierarchisierung der sprachlichen Wertzuweisungen einher, wenn die dominante Sprache als prestigeträchtigere und die dominierte Sprache als stigmatisierte oder über einen geringeren Status verfügende Sprache empfunden wird (cf. Rindler Schjerve 1998, 15).10 Fishman (1967) hat das Konzept der Diglossie ausgeweitet auf komplexere Mehrsprachigkeitssituationen, in denen auch mehr als zwei Dialekte oder auch genetisch nicht verbundene Sprachen koexistieren und unterschiedliche Funktionen übernehmen, sowie einige Modifikationen vorgenommen (cf. Landry/ Allard 1994b, 16): So hat er zunächst in seinem nicht ganz unproblematischen Vierfelderschema den Begriff Bilinguismus als psychologische, im Individuum verankerte Kategorie dem Konzept der Diglossie als gesellschaftlicher Dimensi-

|| 10 Prestige und Stigma als Gegensatzpaar manifestieren sich durch Etikettierungsprozesse in sozialer Wertschätzung bzw. Geringschätzung. Sie stellen für den Einzelnen objektive Bedingungen dar, die aber auf subjektiven Bewertungen anderer, also auf einer Fremdeinschätzung, beruhen (cf. Strasser/Brömme 22004, 412). Goffman erläutert, dass das, was in einer Gesellschaft als Stigma gilt, je nach sozialer Gruppe unterschiedlich ist, jedoch ist ein Stigma immer mit einer Diskriminierung verbunden (cf. Abels 52010, 168). Zur Manifestation des Stigma Sprache in Diskriminierungsakten im mexikanischen Raum cf. Kap. 8.1.

Zentrale Konstellationen in Mehrsprachigkeitskontexten | 19

on der Zweisprachigkeit gegenübergestellt und weiterhin die von Ferguson proklamierte Situation zweier Varietäten einer Sprache erweitert auf multilinguale Kontexte (cf. Landry/Allard 1994b, 19; Fishman 1980, 6). Bilinguismus mit Diglossie liegt dann vor, wenn ein großer Prozentsatz der Individuen bilingual ist und es eine klare institutionelle Regelung für die unterschiedlichen Gebrauchsdomänen der L- und der H-Varietät gibt (z.B. in Paraguay): «This is a societal arrangement in which individual bilingualism is not only widespread but institutionally buttressed» (Fishman 1980, 6, Hervorh. i. Orig.). Von Bilinguismus ohne Diglossie kann gesprochen werden, wenn «Sprachen und Varietäten aufgrund eines raschen sozialen Wechsels oder bedingt durch Migrationen durcheinandergewürfelt werden» (Lüdi/Py 1984, 12) und die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in einer Sprachkontaktsituation infolgedessen bilingual sind, ohne dass sich gleichzeitig eine stabile Funktionsaufteilung oder institutionelle Verankerung der Zweisprachigkeit entwickelt (z.B. in den USA oder in Australien). Diese Konstellationen sind besonders häufig durch einen Sprachwechsel zur H-Varietät charakterisiert. Diglossie ohne Bilinguismus findet sich in Situationen, in denen Sprachen unter politischer Steuerung nach dem Territorialprinzip verteilt sind und von den meisten Sprechern in einem bestimmten Gebiet oft aber nur die jeweilige Sprache verwendet wird (z.B. im alten Russland, wo die Gebrauchssprache der herrschenden Schicht das Französische war, die große Mehrheit der Bevölkerung allerdings nur Russisch oder eine andere Lokalvarietät sprach, cf. Lüdi/Py 1984, 13). Lüdi/Py (1984, 13) geben zu bedenken, dass der Fall eines gänzlichen Fehlens von individueller Zweisprachigkeit in Diglossiesituationen faktisch unvorstellbar sei und daher vielmehr «Grenzfälle vor[lägen], in denen die Zweisprachigen zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen». Auch Gesellschaften, in denen es weder Diglossie noch Bilinguismus gibt, sind selten (cf. Landry/Allard 1994b, 20). Prinzipiell sind hier Gesellschaften gemeint, die sprachlich strikt homogen sind, welche allerdings heutzutage in einer solchen Reinform kaum existieren: «Strictly speaking, of course, no socially complex speech community is fully homogeneous linguistically» (Fishman 1980, 9; cf. auch Haarmann 1983, 375–409). In den wenigsten Fällen liegen allerdings in der Realität solche Idealtypen vor, denn wie Fishman (1980, 6) selbst bemerkt, sind Bilinguismus und Diglossie Variablen eines Kontinuums und die durch sie beschriebenen Kontaktsituationen meist nicht statisch und stabil. Lüdi/Py (1984, 13, Hervorh. i. Orig.) erörtern diesbezüglich: «Man wird wohl die Dichotomie: Diglossie vs. Zweisprachigkeit nur dann nutzbringend weiter verwenden können, wenn man Zweisprachigkeit ohne Diglossie und Diglossie ohne Zweisprachigkeit als Grenzwerte in einem Kontinuum auffasst, welches vor allem zahlrei-

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che Abstufungen von Zweisprachigkeit und Diglossie umfasst, je nach dem Prozentsatz der Zweisprachigen in der Bevölkerung, dem Grad ihrer Zweisprachigkeit, der Bedeutung der beiden Sprachen in der Gesamtbevölkerung usw.».

Häufig ist in Mehrsprachigkeitskontexten eine rückläufige funktionale Verwendung der L-Varietät und eine «Monolingualisierung der bilingualen Sprachengruppe» (Rindler Schjerve 1998, 16) zu beobachten: «Die Diglossie ist nicht eine natürliche Form der soziolinguistischen Ordnung des Sprachkontaktes, wie dies ihre ursprüngliche Konzeptualisierung nahelegt, vielmehr ist sie Ausdruck von dynamischen und konfliktuellen Gruppenbeziehungen, von unterschiedlichen Macht- und Dominanzverhältnissen, die die neutrale Koexistenz zweier Sprachen bzw. ihrer Sprecher im Bilinguismus als Mythos entlarven» (Rindler Schjerve 1998, 15s.). 11

Dies kann mehrere Konsequenzen haben: Die L-Varietät wird selbst im privaten Bereich immer weniger gebraucht und es erfolgt u.U. keine intergenerationelle Sprachweitergabe mehr, was zu Sprachmischung, Sprachenwechsel oder -tod führen kann (cf. Kap. 3.1.2). Weiterhin kann dies bei den Sprechern der L-Varietät Identifikationsprobleme sowie durch mit der Sprache verbundene soziale Diskriminierung und Stigmatisierung bedingte Minderwertigkeitskomplexe hervorrufen (cf. Rindler Schjerve 1998, 15; cf. Kap. 1). Statt von der H-Varietät oder der L-Varietät wird in der vorliegenden Arbeit bevorzugt vom Spanischen und dem Maya bzw. der dominanten bzw. nichtdominanten Sprache, wenn die asymmetrischen Verhältnisse betont werden sollen, oder der indigenen bzw. der lokalen Sprache gesprochen, wenn wir uns auf das yukatekische Maya beziehen, das bereits vor Ankunft der Spanier in Mexiko die Sprache der im untersuchten Gebiet lebenden Bevölkerung war.12 Häufig finden sich in der Literatur auch die Bezeichnungen Minderheiten- und Mehrheitssprache,13 die jedoch aufgrund ihrer Konnotationen z.T. kritisiert werden (cf. Grenoble/Whaley 2006, 14), und die wie folgt zu verstehen sind:

|| 11 Zum primär in der katalanischen Soziolinguistik geprägten Terminus Sprachkonflikt cf. z.B. Nelde (1980; 22005); Pardines López/Torres García (2011); Pitarch (1981). 12 Für eine Übersicht zu Studien zur Mehrsprachigkeit in Mexiko cf. Guerrero Galván/San Giacomo (2014, 1470–1474). 13 Cf. zur Definition von Minderheiten nach den Vereinten Nationen Marten (2016, 59): Eine Minderheit ist demnach eine «Gruppe von Individuen, die nummerisch kleiner ist als der Rest der Bevölkerung in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit sie haben. Gleichzeitig spielt sie in diesem Land keine dominante Rolle. Eine Minderheit unterscheidet sich von der Mehrheitsbevölkerung anhand bestimmter Charakteristika wie Religion oder Sprache. Zusätzlich wird davon ausgegangen, dass eine gewisse Solidarität innerhalb der Gruppe, eine Art Wir-Gefühl

Zentrale Konstellationen in Mehrsprachigkeitskontexten | 21

«[M]inority language is defined as a language (which might or might not exist in other parts of the world) of an ethnic group (indigenous or immigrant) whose speakers are in direct and frequent contact with a (normally) different ethnic group which is more numerous and powerful and whose members speak a different language» (Kaufmann 22006, 2433).

2.2.3 Domänen des Sprachgebrauchs Der Begriff der Domänen14 soll aufgrund seiner Wichtigkeit für die Untersuchung gesondert Erwähnung finden: Die Vorstellung von Sprachverhaltensdomänen wurde von Fishman eingeführt und terminologisch weiterentwickelt (cf. Werlen 22004, 336s.) und kann als «zentraler kontaktlinguistischer Beschreibungsansatz» immer noch als «das brauchbarste Instrument zur systematischen Erfassung der diglossischen Makrostruktur des gesellschaftlichen Bilinguismus» verstanden werden (Rindler Schjerve 1998, 16). Werlen (22004, 335) definiert Domänen des Sprachgebrauchs bzw. der Sprachwahl als «abstrakte Konstrukte, die durch zu einander passende Orte, Rollenbeziehungen und Themen bestimmt sind», denn für die Konzeptualisierung einer Sprachverhaltensdomäne ist die funktionale Zuordnung der verwendeten Sprachen zu bestimmten sozialen Aktivitätssphären, «in denen sie gewohnheitsmäßig gebraucht und mit denen sie assoziiert werden» grundlegend (Rindler Schjerve 1996, 797). Marten resümiert (2016, 87): «Bei der Analyse von Sprachdomänen wird vorausgesetzt, dass es funktionale und räumliche Aufteilungen des Sprachgebrauchs gibt, in die sich dieser in Hinsicht auf Kommunikationspartner, -funktionen und -typen idealtypisch aufteilen lässt». Über die Erfassung des Sprachgebrauchs in den einzelnen Domänen ist also ein Einblick in die diglossische Sprachgebrauchsverteilung in einer Sprechergemeinschaft möglich, wobei dadurch gleichzeitig auch mit den Sprachen verbundene Einstellungen und Wertvorstellungen untersucht werden können (Rindler Schjerve 1998, 18; s. auch z.B. Born 1983), auf denen in dieser Studie ein besonderes Augenmerk liegen soll (cf. Kap. 3.2). In methodischer Hinsicht wird i.d.R. zur Erhebung der Sprachwahl in mehrsprachigen Gemeinschaften durch Fragebögen oder Interviews ein Sample an

|| im Sinne einer ethnischen Eigenständigkeit, vorhanden sein muss, die sich auf ein gemeinsames kulturelles Erbe, Traditionen oder auch eine Sprache beziehen». 14 Haugen wählt statt des Begriffs Domäne die Bezeichnung Funktion, worauf andere Autoren (Fishman 1964; Ferguson 1959) aufgrund der Prägung dieser Konzepte durch die Modelle Bühlers (1934) und Jakobsons (1960) bewusst verzichten (cf. Werlen 22004, 337).

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Gewährspersonen zu ihrem Sprachgebrauch in ‘klassischen’ Domänen im privaten Bereich (z.B. in der Familie, mit den Nachbarn oder dem Freundeskreis) und im öffentlichen Bereich (z.B. auf der Arbeit, im Bildungssektor, bei Behördengängen in Verwaltung und Justiz, im medialen Bereich, im religiösen und kulturellen Leben, beim Einkaufen oder in der Sprachenlandschaft etc.) befragt, wodurch sich «Dominanzkonfigurationen» (Werlen 22004, 335) ergeben, in denen Sprachwechselprozesse in sozialen Interaktionen sichtbar gemacht werden können (cf. auch Marten 2016, 87s.).15 Haarmann (1996a, 227) erläutert, dass der «praktische Nutzwert» einer Sprache, also ihre empfundene Funktionalität, sich im einer Sprache beigemessenen Prestige ausdrückt «und zwar in direkter Koppelung mit Vorstellungen über eine sprachgebundene Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen», weshalb sich beobachten lässt, dass die Sprache mit dem geringeren Sozialstatus sukzessive aus den Gebrauchsdomänen verdrängt wird.

2.3 Geografisch-politische Ausgangslage Auf der Basis dieser grundlegenden Ausführungen soll im Anschluss das yukatekische Maya in den gesamtmexikanischen sprachlich-kulturellen Kontext eingeordnet werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Charakterisierung der Sprachensituation auf der yukatekischen Halbinsel liegen wird. Mexiko (Estados Unidos Mexicanos) liegt auf dem nordamerikanischen Kontinent auf einer Fläche von 1.964.375 km2 und grenzt im Norden an die Vereinigten Staaten von Amerika, im Süden an Guatemala und Belize, im Osten an den Atlantik (Golf von Mexiko), im Südosten an die Karibik sowie im Westen an den Pazifik (cf. Abb. 1). Das Land besteht aus 31 Bundesstaaten und dem sog. Distri-

|| 15 Relativ früh verloren geht bzw. nie vorhanden war dabei die L-Varietät in institutionellen Domänen wie der Schule (wo dann besonders oft Spracherhaltungsmaßnahmen ansetzen); in der Familie und allgemein dem Bereich des privaten Sprachgebrauchs bleibt die L-Varietät i.d.R. am längsten erhalten. Die Sprachverwendung in den elektronischen Medien bzw. der Konsum medialer Produkte in der Mehrheits- oder Minderheitensprache erlangt im massenmedialen Zeitalter steigende Bedeutung. Weiterhin lässt die Befragung unterschiedlicher Altersgruppen bzw. Generationen einen «direkten Schluss auf die Diachronie von Sprachverschiebung/-erhaltung» zu, da diese i.d.R. beim Übergang von einer zur nächsten Generation bzw. sukzessive in einer stetigen Ab- bzw. Zunahme über mehrere Generationen hinweg erfolgt. Auch Wohnort, Bildungsstand, Migration oder Geschlecht können als interdependente Variablen aufschlussreich für das Erkennen von Sprachwechselprozessen sein (cf. Dressler/De Cillia 2 2006, 2262ss.). Cf. dazu ausführlicher Kap. 3 und 4.

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to Federal mit der Hauptstadt Mexiko City (cf. INEGI 2014), die insgesamt 2.457 Gemeinden verzeichnen (cf. SRE 2016).

Abb. 1: Mexiko (www.openstreetmap.org)

Mexiko durchlebte mit dem Ende der 1990er Jahre einen politischen Wandel, der mit der Ablösung des über 70 Jahre an der Macht befindlichen Partido Revolucionario Institucional (PRI) durch die Wahl von Präsident Vicente Fox (2000– 2006) des Partido Acción Nacional (PAN) eingeleitet wurde. Die Demokratisierungs- und Pluralisierungsfortschritte der vergangenen Jahre treten jedoch hinter den aktuellen massiven Problemen der Korruption und sozialen Ungleichheit, die dem in Mexiko großflächig wütenden Drogenkrieg16 einen fruchtbaren Nährboden bieten, zurück (cf. Piepenbrink 2011, 1). Mit der Wahl des aktuellen Präsidenten Enrique Peña Nieto kam 2012 der PRI wieder an die Macht. Ein sichtbarer Strategiewandel im Kampf gegen die Drogenmafia ist allerdings bisher nicht erkennbar (cf. Bechle 2014).17

|| 16 Seit 2007 starben in Mexiko bisher mehr als 70.000 Menschen bei Auseinandersetzungen der staatlichen Sicherheitskräfte gegen das organisierte Verbrechen oder zwischen rivalisierenden Drogenkartellen (cf. Bechle 2014). Für weitere Hintergrundinformationen zum Drogenkrieg in Mexiko cf. z.B. Hoffmann (2011). 17 Für einen ausführlicheren Einblick in die politische Situation Mexikos cf. z.B. Bernecker (32004); Braig (2008); Bundeszentrale für politische Bildung (2011); Fitzgerald (2008a; 2008b).

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Von den Vereinigten Staaten von Amerika wird Mexiko durch eine 3.125 km lange und streng bewachte Grenze getrennt (cf. INEGI 2014), über die der weltweit größte andauernde Strom an Arbeitsmigranten und mittel- und südamerikanischen Transmigranten von Mexiko in die USA gelangt. 1994 trat das nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in Kraft, das von der Politik auch «als Maßnahme verkauft [wurde], welche durch die Schaffung von mehr und besser bezahlten Arbeitsplätzen im Exportsektor der mexikanischen Wirtschaft die Migration eindämmen sollte». De facto hat dieses Abkommen das Handelsvolumen zwischen Mexiko und den USA zwar verdreifacht, die mexikanischen Landwirte sind allerdings klare Verlierer dieser Entwicklung, da ihre Produkte nicht mit dem US-Markt konkurrenzfähig sind, was die Abwanderung vieler ehemals im primären Sektor tätiger Mexikaner in die USA eher begünstigt als verringert hat (cf. Fitzgerald 2008a).18 Diese Ausgangssituation und die mit ihr zusammenhängenden verstärkten Globalisierungs- und Migrationstendenzen haben auch Auswirkungen auf den yukatekischen Kontext, in dem sie sich besonders deutlich im Hinblick auf den touristischen Sektor manifestieren (cf. Kap. 7.3). Bis zum massiven Ausbau der Infrastruktur der Halbinsel im Zusammenhang mit der touristischen Erschließung der Riviera Maya in den 1960er Jahren war das untersuchte Sprachgebiet aufgrund seiner geografischen Randlage (cf. Kap. 1 und Kap. 4.3.2.2) vom restlichen Mexiko eher abgeschottet geblieben. Diese Isolation hatte mehrere wichtige Konsequenzen: Erstens das Entstehen eines Regionalstolzes und eines Unabhängigkeitsgefühls, welches in den Abspaltungsbestrebungen Yucatáns (cf. Ayuntamiento de Mérida s.a.) unmittelbar nach der Befreiung Mexikos von der spanischen Herrschaft gipfelte, zweitens die Herausbildung einer regionalen Varietät des Spanischen (cf. Klee/Lynch 2009, 122) und drittens hat die geografische Situierung dazu beigetragen, dass auf yukatekischem Gebiet auch lange nach der Eroberung noch mehr indigene Sprecher als Spanischsprecher lebten. Aus diesem Grund lag dort nach Pfeiler (1988, 423) bis in die späten 1980er Jahre eine relativ stabile Diglossiesituation mit Bilinguismus auf individueller Ebene vor (cf. Kap. 2.2.2). Dieser Zustand hat sich u.a. durch die o.g. touristische Erschließung, die Anbindung an Infrastrukturnetze und die mit dieser einhergehenden verstärkten Globalisierungstendenzen v.a. der letzten Jahrzehnte verändert, weshalb im Rahmen dieser Arbeit zu prüfen ist, wie die aktuelle Sprachkontaktsituation fast 30 Jahre nach der oben zitierten Einschätzung zu bewerten ist.

|| 18 Zum NAFTA-Abkommen cf. auch Maihold (2011).

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2.4 México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko 2.4.1 Sprachliche Diversität im mexikanischen Kontext Mexiko ist das größte spanischsprachige Land der Erde und gleichzeitig weltweit eines der Gebiete mit der bedeutendsten sprachlichen und kulturellen Vielfalt. Wenngleich das Spanische de facto als offizielle Sprache gelten kann (cf. Baldauf/Kaplan 2007, 14), ist Mexiko ein Kaleidoskop sprachlich-kultureller Diversität mit offiziell 68 Sprachen aus 11 Sprachfamilien, die sich in 364 Varietäten untergliedern lassen (cf. Briceño Chel s.a.; CDI 2000; INALI 2008; Villavicencio 2010, 729).19 Sprachliche und kulturelle Heterogenität haben Mexiko bereits vor der Eroberung und Kolonialzeit charakterisiert und konstante Sprach- und Kulturkontakte zeichnen das Land auch heute noch aus. Die Vielfalt der gesprochenen Sprachen und die Anzahl ihrer Sprecher nehmen jedoch mit zunehmender Geschwindigkeit ab, während die Relevanz des Spanischen aufgrund seiner ökonomischen, politischen und sozialen Stellung immer größer wird. So übersteigt der Anteil an Sprechern einer indigenen Sprache heutzutage die Sechs-ProzentMarke nicht mehr (cf. INEGI 2010a; 2010b; 2010c; 2010d; cf. auch Cienfuegos Salgado 2005, 178) und ein beachtlicher Anteil der mexikanischen indigenen Sprachen ist in seiner Existenz bedroht (cf. INEGI 2012, 76). Zwischen dem Spanischen und den indigenen Sprachen entsteht auf gesellschaftlicher Ebene eine Diglossiesituation, die Zimmermann (cf. 1994, 1700) in den 1990er Jahren bereits als recht instabil bezeichnet, und die mit unterschiedlichen Graden von Bilinguismus und vielfältigen Formen des Sprachkontakts und der Sprachmischung auf individueller Ebene einhergeht. Die o.g. Einschätzung in Bezug auf den yukatekischen Sprachraum, zu der Pfeiler 1988 gekommen ist, schien dabei eher den Ausnahmefall als die Regel zu bedeuten, und bereits wenige Jahre später bescheinigt die Autorin selbst in Bezug auf die aktuelle Sprachverwendung auf der Halbinsel in Analogie zur Situation in den übrigen mexikanischen indigenen Gebieten, «das Vorherrschen von Diglossie (nach Ferguson) mit instrumentellem Bilinguismus (nach Fishman) auf der einen Seite und einhergehendes Fehlen von Sprachtreue und negativer Einstellung

|| 19 Die Angaben zur Anzahl der in Mexiko verbreiteten Sprachen variieren je nach (politischer) Interessenlage der sie publizierenden Institution und in Abhängigkeit von den angelegten Unterscheidungskriterien (u.a. in Bezug auf die Definition von Sprache und Dialekt) stark (cf. Haboud et al. 2016, 211s.; Pfadenhauer 2012, 17). Cf. auch Serrano Carreto (2006).

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und Einschätzung der Sprecher zur indigenen Sprache auf der anderen Seite» (Pfeiler 1995, 119s.) (cf. Kap. 2.2 und 3.2). Das mexikanische Spanisch ist seinerseits ein Konglomerat an Varietäten, die je nach Region z.T. von unterschiedlichen indigenen Adstratsprachen beeinflusst werden. Insgesamt sind die Auswirkungen der amerindischen Sprachen auf das Spanische jedoch wesentlich geringer als umgekehrt (cf. Zimmermann 1994, 1700). In diesem Zusammenhang soll hier nur auf das bisher erst wenig erforschte español indígena (oder amerindio)20 verwiesen werden, das unter Berücksichtigung der L1 und der mit dieser zusammenhängenden Interferenzen auf phonetischer, syntaktischer und semantischer Ebene als «forma en que los grupos de bilingües indígenas hablan el español» (Guerrero Galván/San Giacomo 2014, 1474) verstanden werden kann. Ebenso wenig wie von einem homogenen mexikanischen Spanisch auszugehen ist, handelt es sich hier um ein monolithisches español indígena, sondern in Abhängigkeit von der jeweiligen Kontaktsprache um unterschiedliche und dynamische Varietäten des Spanischen. Zum Zeitpunkt des letzten Zensus lebten in Mexiko 6,7 Mio. Indigene (cf. INEGI 2010c, 79, 81). Yucatán ist dabei mit 29,6% nach Oaxaca der Bundesstaat mit den meisten indigenen Sprechern. Auch Quintana Roo und Campeche zählen zu den sieben Bundesstaaten mit den meisten Sprechern einer indigenen Sprache. Gleichzeitig geht aus den Zensusdaten hervor, dass Yucatán der mexikanische Bundesstaat ist, in dem sich die meisten Personen selbst als indigen ansehen (62,7%), unabhängig davon, ob sie eine indigene Sprache sprechen oder nicht. Auch Quintana Roo (33,8%) und Campeche (32%) zählen zu den fünf Bundesstaaten, in denen dies am häufigsten angegeben wird. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die insgesamt 1,5 Mio. Personen, die eine indigene Sprache zwar nicht mehr aktiv sprechen, aber noch über rezeptive Kenntnisse verfügen: Auch hier führt Yucatán mit 17,9% der Befragten die Statistik an, gefolgt von Quintana Roo mit 7,3%, Oaxaca mit 7,2% und Campeche mit 5,8% (cf. INEGI 2010c, 85s.). In den Bundesstaaten Tabasco, Campeche, Yucatán, Quintana Roo und Chiapas werden insgesamt elf Mayasprachen gesprochen (Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal, Chuj, Chontal, Chol, Lacandon, Mam, Kekchi, Quiché und Yukatekisch) (cf. Terborg/García Landa/Moore 2007, 130). Wie in den einleitenden Worten dieser Arbeit bereits erwähnt, ist das yukatekische Maya mit etwa 800.000 Sprechern und einem Anteil von 11,7% an der Gesamtzahl der Sprecher indige|| 20 Cf. z.B. Flores Farfán (2000; 2008); Pfadenhauer (2012); Zimmermann (32004).

México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko | 27

ner Sprachen nach dem Náhuatl die am zweithäufigsten gesprochene indigene Sprache Mexikos, wobei im Vergleich der Zensusdaten von 2000 und 2010 ein leichter Rückgang der Sprecherzahlen zu verzeichnen ist (cf. INEGI 2010c, 82s.). Maya yucateco ist in Campeche, Yucatán und Quintana Roo sowie in nördlichen Teilen Belizes (dem Distrikt Corozal) verbreitet (cf. Voss 2008, 59; cf. Kap. 2.4.3).21 Trotz dieser auf den ersten Blick hohen Sprecherzahlen lassen sich auch für das yukatekische Maya – und damit beschäftigt sich diese Arbeit – zahlreiche Indikatoren für dessen Bedrohung finden, wie auch das INEGI (2012, 76) unterstreicht. Die Sprachkontaktsituation auf der yukatekischen Halbinsel soll im Folgenden im Fokus stehen, denn trotz der alarmierenden Perspektive der rückläufigen Sprecherzahlen des yukatekischen Maya nimmt das Gebiet aufgrund seiner vielen bilingualen Sprecher nach wie vor eine außerordentliche Stellung im Sprachenpanorama Mexikos ein (cf. Pfeiler 1995, 120).

2.4.2 Zum yukatekischen Spanisch Das yukatekische Spanisch ist recht intensiv und gut erforscht22 und kann aufgrund seiner Eigenheiten leicht identifiziert werden (cf. Pfeiler 1999b, 91s.), denn diese am stärksten von einer indigenen Sprache beeinflusste Regionalvarietät des Spanischen (cf. Pfeiler 1995, 119)23 zeichnet sich durch markante Besonderheiten v.a. in den Bereichen Lexik sowie Phonetik und Phonologie, und einigen weniger augenscheinlichen Charakteristika auf morphosyntaktischer Ebene24 aus, wobei auf letztere aufgrund ihrer geringeren Relevanz hier nicht explizit eingegangen werden soll.

|| 21 Für eine genauere geografische Verortung cf. Kap. 4.3.2.2. 22 Cf. z.B. Güémez Pineda (2011); Lope Blanch (1987); Michnowicz (2006); Pfeiler (1988; 1995); 1996; 1998; 2012); Pfeiler/Hofling (2006); Suárez Molina (1996). 23 Insgesamt wurde das mexikanische Spanisch allerdings in wesentlich geringerem Maße von den zahlreichen indigenen Sprachen beeinflusst als es z.B. die Vielzahl an u.a. aus dem Náhuatl oder Maya stammenden Toponyme vermuten lässt. 24 Die Hauptmerkmale des yukatekischen Spanisch, die auf morphosyntaktischer Ebene in Verbindung mit dem Maya gebracht werden können, sind z.B. Konstruktionen, in denen der unbestimmte Artikel mit einem Possessivpronomen kombiniert wird (z.B. un mi libro) oder Possessivpronomina redundant verwendet werden (z.B. su ropa de mi hermano) (cf. weiterführend z.B. Klee/Lynch 2009, 123).

28 | Das yukatekische Maya: Verortung und Rahmenbedingungen

2.4.2.1 Lexik Durch den mittlerweile über 500 Jahre lange währenden konstanten Kontakt zwischen dem Maya und dem Spanischen ist für die in Yucatán gesprochene Varietät des mexikanischen Spanisch unabhängig von der sozioökonomischen Stellung seiner Sprecher insbesondere im lexikalischen Bereich eine deutliche Beeinflussung durch das Maya zu dokumentieren (cf. Pfeiler 1999b, 93). Es handelt sich dabei in erster Linie um die Integration von Lexemen aus dem Maya in den Bereichen Flora und Fauna (z.B. cucayo (‘Fledermaus’), henequén (‘Sisalagave’), kambul (‘Fasan’), pepén (‘Schmetterling’) oder quequeo (‘Wildschwein’)) sowie Vokabular zu Nahrungsmitteln oder zur Beschimpfung, die Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch der hispanophonen Yukateken gefunden haben (cf. Klee/Lynch 2009, 122; Pfeiler 1995, 121; cf. Kap. 5.1.3). Auch Qualitätsbezeichnungen aus dem Maya wie chan (‘klein’), box bzw. boxito/-a (‘braun, schwarz’) oder ch’el (‘blond’) und Anredeformen wie ts’ul (‘Herr’) und xunaan (‘Hausherrin, Dame’) werden im yukatekischen Spanisch verwendet. Weiterhin ist punktuelles Code-Switching zwischen dem Maya und dem Spanischen im populären Sprachgebrauch generell recht häufig zu finden (z.B. hacer chichis ‘ein Kind in den Schlaf wiegen’), was u.a. durch den Gebrauch modifizierender Adverbien, die direkt vor dem Verb auftreten (z.B. ella chan lo quiere) realisiert wird (cf. Dietrich 1998, 447s.; Kolmer 2005, 133). In der Aktualität lässt sich aber auch im yukatekischen Spanisch eine Entwicklung verzeichnen, die gleichermaßen zahlreiche andere Kontakträume charakterisiert, und die erneut mit den o.g. wachsenden Globalisierungstendenzen und Migrationsströmen sowie dem touristischen Wandel in der Region in Verbindung gebracht werden können: «[L]as interferencias e integraciones mayas están disminuyendo y, en cambio, observamos un aumento de las interferencias del inglés en nuevos ámbitos sociales, o sea, se trata de un proceso de cambio sociolingüístico complejo que finalmente contribuye de forma determinante a la modificación de la identidad cultural yucateca, tanto de la individual como de la identidad colectiva» (Pfeiler 1999b, 94).

2.4.2.2 Phonetik und Phonologie Auf lautlicher Ebene unterstreicht Pfeiler (1995) die markanten prosodischen Besonderheiten des Spanischen in Yucatán, die insbesondere bei den Lauten auftreten, die im Maya und im Spanischen unterschiedlich realisiert werden bzw. nicht vorhanden sind (cf. Kap. 2.4.3). Nicht immer ist allerdings eindeutig zu klären, welche der salienten Phänomene tatsächlich ausschließlich auf einen Einfluss des Maya zurückzuführen sind. Sicher durch den Kontakt mit dem Maya zu erklären ist jedoch die Glottalisierung von Vokalen und Konsonanten,

México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko | 29

welche häufig in der emphatischen Rede auftritt und sich in Normabweichungen wie der übermäßigen Bildung von Hiaten und vor vokalischem Anlaut äußert, wie z.B. in der Aussprache von me iba als [me?iba] (cf. Dietrich 1998, 448). Weiterhin charakteristisch ist die Aspiration der stimmlosen Plosive, die sich z.B. in einer Realisierung von terco als [’therko] manifestiert. In Bezug auf die suprasegmentale Ebene ist für das yukatekische Spanisch im Gegensatz zur mexikanischen Hauptstadtvarietät, die i.d.R. als cantadita und klangvoll beschrieben wird, eher eine ‘abgehackte’, akzentuiertere Sprechweise zu konstatieren. Tonhöhe und Intensitätsakzent zählen im Spanischen normalerweise zu den wichtigsten prosodischen Merkmalen, wohingegen das Spanische in Yucatán sich durch Vokallängung, Akzentverlagerung und eine damit verbundene charakteristische Betonung auszeichnet, die auf den Kontakt mit dem Maya zurückzuführen sind. Die zu beobachtenden Monophthongierungen (z.B. fuerte zu [’forte]) können z.T. auch von Akzentverschiebungen begleitet werden, wie z.B. in der Realisierung von ahora als [’aura], also einer für silbenzählende Sprachen wie das Spanische atypischen Betonung der ersten Silbe (cf. Pfeiler 1995, 123s.). Die Vokallängung und der durch diese veränderte Rhythmus der Sprache können als besonders charakteristisch für die Varietät des Spanischen gelten, die in Kontakt mit dem Maya steht: «Im Regionalspanisch kommen Lautgruppen vor, in denen der betonte Vokal länger als die übrigen Vokale der Sequenz realisiert werden [sic]. Dies verleiht der Aussage einen besonderen Rhythmus. […] Durch den Einschub des vom Maya stammenden Glottalverschlusses entsteht eine bestimmte Satzmelodie, die außerdem mit der Bevorzugung geschlossener Silben im Maya zusammenhängt» (Pfeiler 1995, 125).

Das yukatekische Spanisch zeichnet sich auf lautlicher Ebene darüber hinaus durch die Entpalatalisierung des palatalen Nasals (wie z.B. in niño als [’ninio]), die okklusive statt ihrer intervokalischen Position eigentlich entsprechenden frikativen Aussprache von /b/, /d/ und /g/ (z.B. jabón als [ha’bon]) sowie die bilabiale Realisierung des finalen /n/ als /m/ (z.B. pan als [pam]) aus, was der standardspanischen Phonemdistribution widerspricht (cf. Pfeiler 1995, 121; Dietrich 1998, 448). Eine weitere Besonderheit des yukatekischen Spanisch besteht in der Reduzierung der finalen KV-Gruppe (z.B. in rebozo [re’bos] oder gripa [grip]), die laut Pfeiler (1995, 121) auf eine Übertragung der im Maya vorwiegenden KVK-Silbenstruktur (cf. Kap. 2.4.3.3.4) auf das Spanische zurückzuführen ist.

30 | Das yukatekische Maya: Verortung und Rahmenbedingungen

2.4.3 Zum yukatekischen Maya Zu Herkunft und Entstehung der Bezeichnung Maya für das Volk und seine Sprache25 existieren zahlreiche Theorien und Erklärungsansätze. In der Aktualität wird Maya als Sammelbezeichnung für eine aus 68 Ethnien bestehende Gruppe von Völkern, Kulturen, deren Sprachen und ihre Sprecher, die miteinander verwandt sind und im Südosten Mexikos, Guatemala und Belize sowie Teilen von Honduras und El Salvador leben, verwendet (cf. Haarmann 2004, 221; Lehmann 1990, 28; Voss 2008, 58). Die Sprecher des yukatekischen Maya nennen ihre Sprache maya yucateco, maya peninsular, einfach la bzw. el maya oder maaya t’aan (cf. Briceño Chel/Quintal 2008, 150). In dieser Arbeit ist mit dem Maya immer yukatekisches Maya und den Maya das auf der yukatekischen Halbinsel lebende Volk gemeint. Synonym wird vom maya yucateco oder von Mayasprechern bzw. mayahablantes gesprochen. Wenn übergeordnet die Sprachfamilie Maya gemeint ist, für die keine nähere oder entferntere Verwandtschaft mit anderen amerikanischen Sprachen belegt werden kann (cf. Haarmann 2004, 221; cf. auch Kap. 2.4.3.1), wird dies entsprechend kenntlich gemacht. 2.4.3.1 Sprachgeschichte, Klassifikation und Sprachgebiet Die Situation des yukatekischen Maya ist ein Sonderfall und dies nicht nur, weil Yucatán wie bereits erwähnt bis dato der Bundesstaat ist, in dem die meisten bilingualen Sprecher des Spanischen und einer indigenen Sprache leben, sondern auch, weil es im yukatekischen Sprachraum keine mit dem Ausmaß der in anderen mexikanischen Bundesstaaten vorkommenden sprachlich-kulturellen Diversität vergleichbare sprachliche Dialektalisierung sowie markante Koexistenz mit anderen indigenen Sprachen gibt (cf. Pfeiler 2014, 1757; cf. auch Kap. 7.2; cf. Campbell 2000, 362s.; Ruz 2006, 16). Seit jeher ist Mesoamerika26 mit unbedeutenden Verschiebungen das Sprachgebiet der Mayasprachen (cf. Campbell 2000, 362), die als größte indige-

|| 25 Lizama Quijano (2010b, 119ss.) weist in Bezug auf den Namen des Volkes darauf hin, dass nicht eindeutig geklärt ist, wie sich die Maya vor Ankunft der Spanier nannten und ob sie überhaupt über ein Ethnonym verfügten, bevor sie den von den Eroberern kreierten Namen übernahmen. 26 Der Terminus Mesoamerika bezieht sich auf das Gebiet zwischen dem Río Pánuco in Nordmexiko und dem Río Lempa in El Salvador und schließt dabei die Pazifikküste Nicaraguas und Costa Ricas mit ein (cf. Campbell 2000, 156). In geografischer und kultureller Hinsicht kann Mesoamerika von Aridoamerika getrennt werden. Letzteres beginnt am Río Pánuco und zieht

México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko | 31

ne Sprachfamilie in diesem Raum gelten können.27 Nach der Sprecherzahl sind die Mayasprachen nach den Quechuasprachen Südamerikas die zweitgrößte Einheit in ganz Amerika (cf. Kausen 2014, 914). Die größte Anzahl an Mayasprachen wird bis zum heutigen Tage in Guatemala gesprochen (cf. Lehmann 1990, 29; Campbell 2000, 363; Ruz 2006, 16; Abb. 2). Die zeitgenössischen Mayasprachen leiten sich alle aus einem «idioma hereditario», dem sog. Protomaya oder Ur-Maya ab, dessen Entstehungszeitpunkt auf vor etwa 4000–5000 Jahren geschätzt wird (cf. England 1988, 5; Kaufman 1974 in: Raga Gimeno 1995, 12; Kausen 2014, 914; cf. Tab. 1).28 Obwohl es für das Protomaya keine eindeutigen schriftlichen Quellen gibt, gilt seine Existenz durch Vergleichsstudien diverser Hieroglyphen unterschiedlicher Fundorte und aufgrund der großen Ähnlichkeit sogar aller zeitgenössischen Mayasprachen in Morphologie und Syntax sowie im literarischen Sprachgebrauch und den Redensarten als sehr wahrscheinlich (cf. Hirschmann 2010, 145; Kausen 2014, 914). Die Urheimat des Protomaya liegt vermutlich im Chuchumatanes-Hochland in Guatemala, in der Nähe von Huehuetenango (cf. Alonso de la Fuente 2007; Kausen 2014, 915). Tab. 1: Protomaya und Stammbaum der Mayasprachen (stark vereinfachte Darstellung, adaptiert nach Kaufman 1974, in: Raga Gimeno 1995, 12)

Protomaya

oriental

quicheano

kekchí pocomchí pocomam quiché sipacapeño sacapulteco

|| sich unter Einbezug des Nordens und Westens Mexikos bis in die USA. In Aridoamerika erschwerten die landschaftlichen Bedingungen die Entwicklung höherentwickelter Kulturen zu dem Zeitpunkt, in dem in Mesoamerika die Azteken sowie deren Vorläufer und die Maya siedelten (cf. Masferrer Kan 21996, 273s.). 27 Die Ausnahme stellt das Huastekische dar, welches im nördlicher gelegenen Gebiet um San Luis Potosí und Veracruz verbreitet ist (cf. England 1988, 5s.). Wieso mit dem Huastekischen eine Mayasprache in relativ großer Entfernung zum eigentlichen Verbreitungsgebiet der Mayasprachen gesprochen wird, konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden. Mögliche Erklärungsansätze bestehen in der Annahme von Migrationsbewegungen und der Abspaltung von Sprechergruppen im Zuge dieser. Cf. weiterführend Terborg/García Landa/Moore (2007, 131). 28 Zum Protomaya und seinen Charakteristika cf. auch Campbell (2000, 164ss.).

32 | Das yukatekische Maya: Verortung und Rahmenbedingungen

tzutujíl cakchikel uspanteco mameano

mam teco aguacateco ixil

occidental

kanjobalano

jacalteco acateco kanjobal motozintleco tojolabal chuj

cholano

tzotzil tzeltal ch’ol chontal chortí

yucateco

yucateco lacandón mopán itzá

huastecano

huasteco chicomucelteco

Es gibt vier sich aus dem Protomaya ableitende Zweige: Maya oriental, maya occidental, maya yucateco und maya huastecano (cf. England 1988, 5; cf. Tab. 1). Innerhalb des yucateco-Zweiges können wiederum vier untereinander verständliche Dialekte unterschieden werden: yucateco, itzá, lacandón und mopán. Da die Hauptzweige in sich weiter untergliedert sind, ergibt sich eine Gesamtanzahl von zwischen 26 und 30 Maya-Sprachen29 mit insgesamt um die 5,5 Mio. Sprechern in Guatemala, Belize und dem Süden Mexikos.

|| 29 Je nach Quelle und angelegten Unterscheidungskriterien werden bestimmte Varietäten nicht als Sprachen anerkannt, sondern teilweise als Dialekte anderen Varietäten zugeordnet

México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko | 33

Abb. 2: Mayasprachen in Mesoamerika (cf. Law 2014, 25)

Die Sprecherzahlen der einzelnen Mayasprachen variieren stark,30 aber die Mehrzahl der Mayasprachen hatte vor dreißig Jahren mindestens einige Tau|| (cf. England 1988, 5): «A su vez, estas lenguas son parte del tronco lingüístico denominado protomaya que, en conjunto, integra la ‹familia lingüística maya› constituida por entre 26 y 30 lenguas, según los diversos estudiosos, distribuidas en el territorio maya que comprende el sureste de México, Guatemala, Belice, Honduras y el Salvador» (Briceño Chel/Quintal 2008, 150s.). Cf. auch Smailus 1998 und Kausen (2014, 733). 30 Dazu Alonso de la Fuente (2007): «Mientras que el k’iche’, yucateco y cakchiquel son hablados por algo más de un millón de personas cada uno, al menos cinco son utilizadas por menos de cinco mil y se encuentran en serio peligro de desaparecer: teco, uspanteco, lacandón, motozintleco y sobre todo itzaj. Por el momento, han desaparecido con seguridad dos: chicomucelteco y choltí».

34 | Das yukatekische Maya: Verortung und Rahmenbedingungen

send Sprecher, weshalb die Familie der Mayasprachen zu diesem Zeitpunkt als «la familia más viva de los idiomas americanos» (England 1988, 6) bezeichnet werden konnte. Der yukatekische Zweig hat sich etwa vor 3.600 Jahren abgespalten (cf. Kausen 2014, 916); das yukatekische Maya wiederum hat sich zwischen 250 und 900 n. Chr. herausgebildet (cf. Alonso de la Fuente 2007) und wird, wie bereits erwähnt, bis zum heutigen Tage in einem recht kompakten und zusammenhängenden Sprachgebiet von einer relativ großen Sprecherzahl gesprochen (cf. Campbell 2000, 362s.). Der Wandel vom klassischen zum modernen Yukatekisch vollzog sich kontinuierlich im 18. und 19. Jahrhundert, wobei es prinzipiell zu Veränderungen auf allen sprachlichen Ebenen gekommen ist. Die wenigsten Unterschiede gibt es wohl auf der phonologischen, die meisten auf der lexikalischen Ebene, die insbesondere durch Entlehnungen aus dem Spanischen hervorgerufen wurden (cf. Lehmann 1990, 31). Bis heute herrscht die Meinung vor, dass Mayasprachen innerhalb der indigenen Sprachen Mexikos ein relativ großes Prestige hätten, was sicher in dessen kommunikativer Praxis und weniger in seiner offiziellen Verwendung begründet liegt (cf. Pfeiler 2014, 1765, s. ausführlich Kap. 6 und 7): «Lope Blanch (1987: 9) observa que el idioma maya ‹goza de una privilegiada situación de prestigio de que carecen las demás lenguas indígenas de México› dado que ‹no está restringido a la población rural o popular – marginada y carente de prestigio –, sino que se extiende sobre buena parte de la población urbana y aún culta de la península›» (Klee/Lynch 2009, 122).

In Bezugnahme auf die hier zitierten Annahmen aus den 1980er Jahren verfolgt diese Arbeit die Zielsetzung, diese Ergebnisse um eine aktuellere Einschätzung der Vitalität des yukatekischen Maya zu ergänzen. 2.4.3.2 Resümee des Forschungsstandes Die Mayaschrift, die mehrheitlich aus sog. Logogrammen bestand und außerdem phonetische Zeichen enthielt, ist sehr reichhaltig in über zehntausend Funden aus Gebäudeteilen, Stelen und Altären dokumentiert sowie aufgrund der u.g. Kodizes überliefert worden (cf. Brody 2007, 275; Kausen 2014, 886).31 Ein großer Vorteil für die Erforschung der Mayasprachen und ein positiver Einfluss-

|| 31 Kausen (2014, 886) bezeichnet die Mayaschrift als «das einzige voll ausgebaute mesoamerikanische Schriftsystem». Es sei als logomoraisch zu charakterisieren, da seine Zeichen Logogramme und Phonogramme sind, die KV-Moren darstellen.

México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko | 35

faktor auf die Vitalität des Maya (cf. Kap. 3.1.4.2) ist deren gute Dokumentation seit dem 16. Jahrhundert, die insbesondere mit der Missionsarbeit der Franziskaner, welche mit der Evangelisierung der indigenen Bevölkerung Yucatáns betraut worden waren, in Verbindung zu bringen ist (cf. Kolmer 2005, 58; Kausen 2014, 914). Die Franziskanermönche lernten zunächst in erster Linie aus utilitaristischen Gründen Maya, um ihr Ziel der Missionierung besser und leichter erreichen zu können. Gleichermaßen scheint das Maya aber auch ein intellektuelles Interesse bei den Geistlichen geweckt zu haben, denn sie verfassten präzise Vokabellisten, die ersten Grammatiken des yukatekischen Maya (cf. Pfeiler 2014, 1767), Wörterbücher, Anthologien und Erklärungen zu den Hieroglyphen des klassischen maya yucateco (cf. Alonso de la Fuente 2007). Mit den o.g. schriftlichen Zeugnissen des yukatekischen Maya, die vor der Kolonialzeit erstellt und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entziffert32 wurden (cf. Kausen 2014, 886), zusammengenommen ist die Sprache also seit mehr als 2000 Jahren kontinuierlich dokumentiert worden (cf. Pfeiler/Hofling 2006, 27; Brody 2007; 2010), wobei an dieser Stelle aus forschungsökonomischen Gründen nur auf einige ausgewählte Werke verwiesen wird. Seit der Eroberung wurden zahlreiche mehr oder weniger ausführliche Grammatiken verfasst, aber es wurden nicht von jeder Grammatik Exemplare überliefert. Die erste noch erhaltene Grammatik stammt von Fray Juan Coronel aus dem Jahre 1620. Ein detaillierter Einblick in zeitgenössische Grammatiken sowie Studien zu dialektologischen und diachronen Aspekten des Maya soll an dieser Stelle ausgespart werden, findet sich aber z.B. in Raga Gimeno (1995, 8s.), Hanks (2010, 118–156) sowie Pfeiler/Hofling (2006, 27ss.).33 Unter den ersten zunächst ebenfalls von Franziskanermönchen verfassten Wörterbüchern sind u.a. der Diccionario de Motul oder der Diccionario de la lengua maya, die beide von Fray Antonio de Ciudad Real im 16. Jahrhundert verfasst wurden, zu erwähnen. In den folgenden Jahrhunderten entstanden weitere Wörterbücher, wobei in relativ aktueller Perspektive exemplarisch auf den Diccionario Maya Cordemex hingewiesen werden soll, der unter der Leitung von Barrera Vázquez (1980) erarbeitet wurde und ein «inmenso compendio de todos || 32 Mittlerweile konnten ca. 900 verschiedene Mayagrapheme identifiziert werden, von denen viele multifunktional sind, i.e. je nach Bedarf können sie semantische oder phonetische Funktionen übernehmen, was der Leser aus dem Kontext erschließen muss. Weiterhin ist die Mayaschrift stark polyvalent, i.e. einerseits lassen viele Zeichen unterschiedliche Lesarten zu und andererseits gibt es für dieselbe KV-More oft mehrere Zeichen (cf. Kausen 2014, 887s.). 33 Für eine ausführliche Dokumentation zu Grammatiken und Wörterbüchern zum yukatekischen Maya seit der Eroberung cf. weiterhin auch Kolmer (2005, 93–100) sowie Hopkins/Josserand (1994).

36 | Das yukatekische Maya: Verortung und Rahmenbedingungen

los materiales léxicos del maya conocidos» darstellt (Raga Gimeno 1995, 9; cf. auch Pfeiler/Hofling 2006, 27ss.). Der Person, die die meisten Informationen zum Maya vor und zu Beginn der Kolonialzeit überliefert hat, ist es auch zu verdanken, dass die diesen zugrundeliegenden Originaldokumente vernichtet wurden: Diego de Landa. Er hat seine aus Berichten der Maya erworbenen Kenntnisse in seinem Werk Relación de las Cosas de Yucatán niedergeschrieben, nachdem er die ursprünglichen Dokumente der Maya 1562 bei einer Massenvernichtung in Maní öffentlich verbrannt hatte (cf. Kolmer 2005, 22; Ligorred Perramon 2004, 201). Aus der Zeit des sog. klassischen Maya existieren deshalb nur noch drei in Dresden, Madrid und Paris aufbewahrte Kodizes. Die Inhalte dieser in Hieroglyphenschrift verfassten Dokumente aus vorkolonialer Zeit sind teils religiöser Natur, teils enthalten sie Informationen zur Geschlechterfolge von Dynastien und Berichte zu bestimmten historischen Ereignissen. Sie zeichnen sich durch eine sehr genaue chronologische Aufzeichnung aus, über die die Forschung Aufschluss bezüglich bedeutender Grundlagen zum Verständnis der Sprache und Kultur der Maya erhalten konnte. Nach der Eroberung Yucatáns wurde das Yukatekische, wie auch die anderen Mayasprachen, in lateinischer Schrift geschrieben (cf. Lehmann 1990, 31). Aus dieser Zeit liegen noch einige der vermutlich einmal sehr zahlreich vorhandenen, aber im Zuge der Eroberung und Kolonialzeit vernichteten Libros de Chilam Balam (z.B. aus Maní, Tizimín oder Chumayel) vor, die Berichte über Traditionen, Rituale und Ereignisse der Maya-Geschichte bündeln (cf. Kolmer 2005, 25): «Los libros de Chilam Balam recuperan, desde la clandestinidad, conocimientos cosmológicos, históricos o mitológicos de los antiguos mayas y se convirtieron, junto con la rica tradición oral, en un soporte para el posterior renacimiento de la sociedad maya» (Ligorred Perramon 2004, 201, Hervorh. i. Orig.).

Bei Teilen dieser Schriftstücke scheint es sich um Transkriptionen der vernichteten Hieroglyphen der o.g. Originaldokumente zu handeln (cf. Briceño Chel/ Quintal 2008, 160). In neuerer Zeit ist die Zahl an Studien zum yukatekischen Maya angestiegen (cf. Pfeiler/Hofling 2006, 28), wobei häufig Sprachkontaktphänomene wie Entlehnungsprozesse oder prosodische Aspekte im Vordergrund der Arbeiten stehen (z.B. Arzápalo Marín 1997; Briceño Chel 1993; 1997; Gutiérrez Bravo 2002; Pool Balam/Le Guen 2015; Pfeiler 1988; 1996; 1998; Vapnarsky 1996), aber auch Normierungs- und Kodifizierungsbestrebungen thematisiert werden (cf. z.B. Briceño Chel 22007; Briceño Chel/Can Tec 2014; cf. ausführlicher Kap. 7.5).

México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko | 37

Ein sehr aktuelles Forschungsfeld stellt in diesem Zusammenhang die Beschäftigung mit der Dokumentation und Normierung einer Gebärdensprache im yukatekischen Maya dar. Zentrale Ziele dieses von einer Forscherequipe um Olivier Le Guen und Lorena Pool Balam betreuten und vom INALI und dem CIESAS unterstützten Proyecto Lengua de Señas Maya Yucateco besteht in der Beschreibung der in unterschiedlichen Gemeinden existierenden Varietäten der Gebärdensprache des yukatekischen Maya und in der Schaffung eines OnlineWörterbuches der Gebärden.34 2.4.3.3 Ausgewählte Charakteristika des yukatekischen Maya Eine detaillierte Einführung in das yukatekische Maya ist an dieser Stelle nicht vorgesehen.35 Es sollen jedoch mit dem Ziel eines besseren Überblicks der untersuchten Sprachensituation einige ausgewählte markante Charakteristika des Maya in Bezug auf seine Varietäten und bestimmte Besonderheiten in lexikalischer, lautlicher und morphosyntaktischer Sicht vorgestellt werden, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen. 2.4.3.3.1 Varietäten Innerhalb des untersuchten Sprachgebiets können fünf Regionen unterschieden werden, in denen die untereinander verständlichen dialektalen Varietäten des yukatekischen Maya gesprochen werden: der Osten des Bundesstaates Yucatán, das Zentrum Quintana Roos, der Süden des Bundesstaates Yucatán, der Camino Real in der Grenzzone zwischen Yucatán und Campeche und die sog. zona exhenequenera um Mérida (cf. Briceño Chel/Quintal 2008, 157).36 Insbesondere in letzterer ist das Maya stärker durch den intensiven Kontakt mit dem Spanischen beeinflusst worden: Nach Aussage der Sprecher sprechen hier v.a. die Jugendlichen ein xe’ek’ maaya, ein ‘vermischtes’ Maya, und nicht die ursprünglich von den antiguos gesprochene und von den Sprechern positiver bewertete, ja idealisierte, aber heute moribunde ‘reine’ Form des hach maaya (cf. Briceño Chel/ Quintal 2008, 152s.; Guzmán Medina 2003; Pfeiler 1996, 8; Raga Gimeno 1995, 15): || 34 Momentan liegt der Fokus der Erforschung auf den in den Gemeinden Chican und Nohkop verwendeten Gebärden im yukatekischen Maya. Weiterführende Informationen zu diesem Projekt unter ‹http://ymslproject.org› [letzter Zugriff: 02.07.2016]. 35 Für eine intensivere Beschäftigung mit dem yukatekischen Maya cf. u.a. Briceño Chel (22007); Briceño Chel/Can Tec (2014); Briceño Chel/Quintal (2008); Lehmann (1990); Raga Gimeno (1995). 36 Zur dialektalen Variation des yukatekischen Maya cf. auch Pfeiler/Hofling (2006).

38 | Das yukatekische Maya: Verortung und Rahmenbedingungen

«La diferencia destacada entre la hach maaya y el xe’ek’ muestra la discrepancia en la identidad lingüística de los mayas en Yucatán. Distinguen, por un lado, la variante ‹alta› que ya casi no se habla, pero es valorada positivamente por su fuerte potencial de identificación [...], y, por otro lado, la variante moderna, a la que se le asignan los adjetivos de ‹corrompida y mezclada›» (Pfeiler 1997, in: Pfeiler 2014, 1778s.).

Wo genau das hach maaya gesprochen wird, scheint weder in der Literatur noch aus Sprechersicht klar definierbar zu sein, worauf in Kap. 5.1.3 genauer eingegangen wird:37 «Para algunas personas estos mayas se encuentran en Quintana Roo, para otras en Peto, y otras opinan que están por Valladolid y sus alrededores, aunque para otras son también localizables en las cercanías de Uxmal y Ticul, o donde se ubican los macehuales, es decir, en la zona de los cruzo’ob en Quintana Roo» (Briceño Chel/ Quintal 2008, 152).

Pfeiler (2014, 1771) beschreibt drei Zentren des hach maaya, die in den drei Bundesstaaten der yukatekischen Halbinsel liegen, und die sich im Sample der vorliegenden Studie wiederfinden: die östliche Region Yucatáns an der Grenze zu Quintana Roo, eine Zone im Zentrum Quintana Roos und die Gegend der chenes in Campeche (cf. auch Voss 2008, 59).38 2.4.3.3.2 Lexik Das heutzutage i.d.R. auf der Halbinsel gesprochene Maya, das xe’ek’ maaya, ist v.a. auf lexikalischer Seite durch das Spanische beeinflusst. Gerade in den dynamischen Bereichen, die von modernen Entwicklungen in z.B. technologischer Hinsicht dominiert werden, wird der entstehende Benennungsbedarf für Objekte (wie fax, escáner, computadora, mail, celular), für die im Maya bisher kein Lexem existiert, i.d.R. über Entlehnungen aus dem Spanischen gedeckt. Briceño Chel (cf. 2009, 64) beschreibt dies als natürlichen Prozess lebendiger Sprachen auf die u.a. im Zuge der Globalisierung veränderten Umweltbedingungen zu reagieren. In diesem Zusammenhang ist z.B. die Integration einzelner Morpheme aus dem Spanischen in das Maya zu beobachten (z.B. -ito/-ita zur Bildung

|| 37 Dass eine Verortung des hach maaya schwierig ist, wurde auch in den im Anschluss analysierten Interviews deutlich: Letztlich scheint niemand dieses ‘reine’ Maya zu sprechen, es wird immer in anderen Regionen verortet, wobei v.a. die campechanos auf Yucatán verweisen, dort spreche man la verdadera maya. Sie selbst sprechen laut eigener Aussage «la maya moderna, mezclada, amestizada» (cf. auch Ruz 2006, 17s.; cf. Kap. 5.1.3). 38 Zur Erstellung des Samples und der Auswahl der Untersuchungsorte cf. Kap. 4.3.2.

México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko | 39

von Diminutiven wie boxito (‘braun, schwarz’) oder analog das Augmentativsuffix -ote) (cf. Pfeiler 1998, 133s.).39 Exemplarisch soll an dieser Stelle auf einige Toponyme40 der yukatekischen Halbinsel eingegangen werden, die die alltägliche Präsenz des Maya in Yucatán illustrieren und gleichermaßen einen Einblick in ausgewählte lexikalische Felder des Maya ermöglichen können: «La característica más sobresaliente y una de las más productivas de la lengua maya para la construcción de sus topónimos es la de anteponer un prefijo con un valor locativo a un nominal, por lo que entonces la estructura de estos topónimos quedaría como sigue: Locativo + Nominal» (Briceño Chel/Quintal 2008, 165).

Zu diesen produktiven Lokativen im yukatekischen Maya gehören u.a. ti’ (= ‘in, hier in’) und te’ (= ‘hier in’), die sich in Ortsnamen wie Timul (Ti’ múul = ‘hier auf dem Berg’), Tekax (Te’ k’aax = ‘hier auf dem Hügel’) oder Tepakan (Te’ páak’am = ‘hier bei dem Kaktus’) finden. Auch das Suffix -il, das Zugehörigkeit ausdrückt und mit ‘aus’ bzw. ‘Ort des...’ übersetzt werden kann, tritt häufig in Ortsnamen auf, wie z.B. in Xpichil (Xpichi’-il = ‘Ort der Guayaba’) oder Kinil (K’iin-il = ‘Ort der Sonne’). Auf Charakteristika des Ortes, um den es geht, kann weiterhin auch durch das Suffix -ja’ (= ‘Wasser’) hingewiesen werden, das sich in zahlreichen Ortsnamen wie Chocholá (Ch’óoch’-ol’-ja’ = ‘Ort des Salzwassers’), Cuzamá (Kusam-ja’ = ‘Wasserloch der Schwalben’) oder Kimbilá (K’íimbil-ja’ = ‘heißes Wasser’) findet. Die Wichtigkeit des Wassers für die Siedlungen zeigt sich auch im Gebrauch des Lexems ch’e’en in Toponymen (= ‘Brunnen’), wie z.B. in einem der Untersuchungsorte Hopelchén (Jo’o-p’éel-ch’e’en = ‘Ort der fünf Brunnen’) (cf. Briceño Chel/Quintal 2008, 165–168).

|| 39 Auf eher erfolglose puristische Bestrebungen, Lehnwörter aus dem Spanischen mit sprachlichem Material aus dem Maya zu übersetzen, geht Briceño Chel (2009, 66s.) anhand einiger Beispiele ein: Für ferrocarril existiert z.B. der Vorschlag, dieses Lehnwort durch tsíimin k’áak’ zu ersetzen, was mit ‘caballo de fuego’ übersetzt werden könnte. Durchaus positiver bewertet Valentina Vapnarsky in ihrem Vortrag im Rahmen der Sektion «Unidad en la ‹superdiversidad›? Spanisch-amerindische Kontakträume im 21. Jahrhundert» des 21. Deutschen Hispanistentags die kreativen Formen eines «purismo relajado y lúdico», die sie anhand einer Whatsapp-Gruppe, in der Mayasprecher und -forscher miteinander über Sprache schreiben und diskutieren, illustriert hat. In diesen neuen Dynamiken und Kommunikationsarenen, die eine Partizipation der Sprecher selbst an einer Sprachpolitik von unten und einer Meinungsbildung ermöglichen, sieht sie auch die Chance einer Aufwertung des Maya in der heutigen immer stärker globalisierten Welt [cf. eigene Mitschrift JMG]. 40 Cf. auch Suárez Molina (1996, 137–141) sowie Dietrich (1998, 447).

40 | Das yukatekische Maya: Verortung und Rahmenbedingungen

2.4.3.3.3 Phonetik und Phonologie sowie Grafie Für das Protomaya konnte eine vorherrschende KVK-Silbenstruktur rekonstruiert werden. Die meisten Wurzeln des Protomaya waren einsilbig. Die Protosprache war nicht tonal, was sich bei der Herausbildung des heutigen yukatekischen Maya geändert hat (cf. Kausen 2014, 925s.). Das heutige Maya hat 17 Konsonantenphoneme, zwei Halbvokale und vier weitere konsonantische Phoneme, die in spanischen Lehnwörtern vorkommen, welche in der Übersicht in Klammern dargestellt wurden (cf. Tab. 2). Die mit dem Apostroph gekennzeichneten Konsonanten bzw. konsonantischen Verbindungen werden glottalisiert. Grafisch können diese durch das folgende Inventar ausgedrückt werden: (cf. Briceño Chel/Can Tec 2014, 179). Tab. 2: Übersicht der konsonantischen Phoneme des Maya (adaptiert nach Klingler/Letcher Lazo 2013b; Briceño Chel/Can Tec 2014, 179)

Artikulationsart

Artikulationsort bilabial labiodental alveolar postalveolar palatal velar glottal

Plosive

stimmlos

t

k

stimmhaft b

(d)

(g)

glottal

p’

t’

k’

m

n

Nasale

p

Laterale

l

Frikative Affrikate

(f)

s



stimmlos

ts

t∫

glottal

ts’

t∫’

Vibranten Halbvokale

h

(r) w

j

Im Maya gibt es weiterhin fünf Vokale (a, e, i, o, u), die lang oder kurz sein können. Lange Vokale werden graphisch als Doppelvokale dargestellt und können, wie einführend erwähnt, in verschiedenen Tonhöhen realisiert werden. Hohe Töne werden mit einem aufsteigenden Akzent auf dem

México plurilingüe: Zur Sprachensituation in Mexiko | 41

ersten Vokal gekennzeichnet, niedrige Töne i.d.R. ohne Akzent notiert. Sowohl die kurzen als auch die langen Vokale können weiterhin wie die Konsonanten glottalisiert werden; im ersten Fall durch einen Glottisschlag, der dem kurzen Vokal folgt, also z.B. , oder im zweiten Fall intervokalisch, z.B. in der Form bei den langen Vokalen, die alle den hohen Ton tragen, weshalb eine weitere orthografische Markierung nicht notwendig ist (cf. Tab. 3). Tab. 3: Übersicht der Vokale (adaptiert nach Klingler/Letcher Lazo 2013b; Briceño Chel/Can Tec 2014, 179)

kurzer Vokal glottalisierter Vokal

langer Vokal (hoch)

langer Vokal (tief)

reartikulierter Vokal

a

a’

áa

aa

a’a

e

e’

ée

ee

e’e

i

i’

íi

ii

i’i

o

o’

óo

oo

o’o

u

u’

úu

uu

u’u

Die funktionale Bedeutung, die der Ton trägt, ist nicht so ausgeprägt wie z. B. im Chinesischen, aber dennoch kann aus ihnen ein Bedeutungsunterschied resultieren, der u.a. durch die folgenden Beispiele verdeutlicht werden kann: kaan ist das Lexem für ‘Schlange’, ka’an heißt ‘Himmel’, k’aan ‘gelb’ und k’áan ‘Hängematte’; miis bedeutet ‘Katze’ und míis ‘Besen’ (cf. Bastarrachea/Yah Pech/Briceño Chel 1992). 2.4.3.3.4 Morphosyntax Das yukatekische Maya ist eine Sprache, in deren Syntax historisch gesehen die Struktur Verb-Objekt-Subjekt (VOS-Stellung) vorherrschte, was z.B. aus der Analyse des o.g. Dresdener Kodex hervorging (cf. Kap. 2.4.3.2). Diese seltene Wortstellung kommt nur in 3% aller Sprachen vor (cf. Evans 2014: 214). In neueren Studien zeigt sich allerdings, dass die Satzstruktur des aktuellen Mayas i.d.R. eher dem Muster Subjekt-Verb-Objekt (SVO-Stellung) folgt (cf. Briceño Chel/Quintal 2008, 151). In morphologischer Hinsicht kann das Maya als agglutinierende Sprache klassifiziert werden, i.e. die grammatischen Funktionen (z.B. Person, Numerus, Tempus) werden durch Affixe gekennzeichnet, die an die Wurzel angehängt werden und sie modifizieren (cf. Briceño Chel/Quintal 2008, 151): In der verbalen Flexion werden Aspekt-Modus, Tempus, Person des Subjekts und des

42 | Das yukatekische Maya: Verortung und Rahmenbedingungen

Objekts sowie die Pluralität der Aktanten markiert; nominale Kategorien sind Numerus und Possessor. Kasus und Genus existieren nicht (cf. Kausen 2014, 925). Die meisten Wörter werden auf der Grundlage von monosyllabischen Wortwurzeln gebildet, die die Struktur Konsonant-Vokal-Konsonant (KVK) aufweisen (Bsp.: -kan- = ‘etwas lernen’). Auf der Basis dieser Wortwurzeln können durch verschiedene Kompositions- und Derivationsprozesse neue Wörter gebildet bzw. es kann zwischen den einzelnen Wortarten übergeleitet werden (cf. Klingler/Letcher Lazo 2013a). So fungiert z.B. janal je nach Kontext und gewählten Affixen als Verb (‘essen’) oder Substantiv (‘Essen’) (cf. Briceño Chel/Quintal 2008, 154). Ein weiteres Charakteristikum des Maya, das in grammatikalischer Hinsicht einen der bedeutendsten Unterschiede zum Spanischen bedingt, ist das Vorhandensein des typischen Kasus von Ergativsprachen, in dem das handelnde Subjekt (Agens) transitiver Verben erscheint (cf. Kolmer 2005, 27; Smailus 1998, 121s.). Zudem gibt es im Maya Bestimmungswörter, u.a. sog. Numeralklassifikatoren, die zwischen dem Zahlwort und der lexikalischen Wurzel stehen müssen, da auf syntaktischer Ebene zwingend festzulegen ist, wie die Dinge oder Lebewesen sind, über die gesprochen wird. Im klassischen Yukatekisch gab es etwa ein Dutzend dieser clasificadores (cf. Lehmann 1990, 39). Zu den heute im Alltag am gebräuchlichsten clasificadores gehören z.B. jene für belebte (-túul) und unbelebte (-p’éel) Objekte, für essbare Dinge (-o’och), Pflanzen (-kúul) oder Haustiere (-alak’). Die damit verbundenen syntaktischen Konstruktionen können durch die folgenden Beispiele veranschaulicht werden: z.B. a w-alak’ k’éek’en (Poss. 2. Sg.–Fugenelement %–Klass. Haustier–N Sg. Schwein: ‘dein Schwein’) oder jun-túul wíinik (Num. eins–Klass. belebt–N Sg. Mensch: ‘ein Mensch’) (cf. Briceño Chel/Quintal 2008, 154ss.).

2.5 Zwischenfazit Im Rahmen dieses Kapitels sollte das yukatekische Maya in das mexikanische Sprachenpanorama eingeordnet werden. Es wurde deutlich, dass die yukatekische Halbinsel innerhalb Mexikos eine Sonderrolle einnimmt, denn bis zum heutigen Tage gibt es relativ viele bilinguale Mayasprecher, die seit jeher in einem relativ großen zusammenhängenden Sprachgebiet leben, wobei die dialektale Variation sehr gering ist und deshalb eine weitreichende Verständigung zwischen den Sprechern der unterschiedlichen Varietäten des yukatekischen Maya gewährleistet ist (cf. dazu Kap. 7.2). Bis vor kurzem war das Kontaktgebiet daher von einer recht stabilen Diglossiesituation mit Bilinguismus auf indivi-

Zwischenfazit | 43

dueller Ebene charakterisiert. Diese Einschätzung muss allerdings heutzutage vor dem Hintergrund rapide sinkender Sprecherzahlen überprüft werden, denn mit der touristischen Erschließung der Halbinsel hat das Sprachgebiet tiefgehende Veränderungen erfahren, die sich nicht zuletzt auf die Vitalität des Maya ausgewirkt haben. Das Kernkonzept der ethnolinguistischen Vitalität und mit ihm verbundene Modelle, die die vorliegende Untersuchung in ihrer Konzeption geleitet haben, sollen im folgenden Kapitel eingehend betrachtet werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf dem Einbezug der Sprecher, ihren Einstellungen und ihrer subjektiven Wahrnehmung der ethnolinguistischen Vitalität liegen wird.

3 Theoretisch-definitorische Grundlagen der Vitalitätsforschung Ziel dieses Kapitels ist die theoretisch-definitorische Verortung des zentralen Untersuchungsgegenstands der Vitalität von Sprachen in der sprachwissenschaftlichen Forschungslandschaft sowie die Annäherung an theoretische Grundbegriffe. Das Herzstück bilden dabei die Betrachtungen zur Vitalitätsforschung und der Modelle zur ethnolinguistischen Vitalität, mit deren Hilfe die Sprachensituation im betreffenden Untersuchungsgebiet in Abhängigkeit von primär außersprachlichen Faktoren auf objektiver und subjektiver Ebene beschrieben werden kann. Zur Erfassung dieses interdisziplinären Forschungsgegenstands an der Schnittstelle von Soziolinguistik, Ethnologie, Kulturwissenschaft und Sozialpsychologie soll das Konzept der sprachlichen Vitalität zunächst eingeordnet werden. Ausgehend von einer Begriffsbestimmung der zentralen Termini werden im Anschluss auf dieser Grundlage Einflussfaktoren auf die sprachliche Vitalität sowie Typologien zur Klassifizierung der Vitalitäts- bzw. Bedrohungsstadien von Sprachen eingeführt. Auf deren Basis wird die spätere Interpretation der Korpusdaten erfolgen. Über die Konzepte der Spracheinstellungen, des Sprachbewusstseins und deren Stellenwert für die Konstruktion von Identität wird die Brücke zu den die Untersuchung leitenden Modellen zur ethnolinguistischen Vitalität geschlagen.

3.1 Von Vitalität und Revitalisierung in Situationen der Sprachbedrohung 3.1.1 Definitorische Annäherungen an den Vitalitätsbegriff Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der ‘Konkurrenzsituation’, in der sich in einem bestimmten Gebiet koexistierende Sprachen befinden, unter Berücksichtigung einer Perspektive, die die Sprache durch das «Bewußtsein ökologischer [...] Prozesse» eingebettet in die «Lebensbedingungen menschlicher Gemeinschaften» (Haarmann 1996b, 842) sieht, nimmt systematisch seit dem Beginn der 1970er Jahre zu und erreicht ihren Höhepunkt in der aktuellen Forschung zur Vitalität von Sprachen. In den durch die wachsenden Globalisierungstendenzen und Migrationsbewegungen beeinflussten dynamischen Kontaktkonstellationen und vor dem Hintergrund, dass schätzungsweise 95% der momentan existierenden Sprachen als bedroht gelten können (cf. Krauss 2007,

DOI 10.1515/9783110547245-003

Von Vitalität und Revitalisierung in Situationen der Sprachbedrohung | 45

3), stellt die Untersuchung von Prozessen des Spracherhalts, des Sprachwechsels oder des Sprachverlusts bzw. von Revitalisierungsmaßnahmen, die als eine mögliche Konsequenz und Reaktion auf diese letztgenannten Entwicklungen gesehen werden können, ein zentrales Anliegen der aktuellen Forschung dar.1 In diesem Zusammenhang soll zunächst skizziert werden, was im gegebenen Kontext unter der Vitalität einer Sprache zu verstehen ist und inwiefern die Beschäftigung mit der Vitalität und der Revitalisierung von Sprachen in den o.g. Bereich der Sprachkontaktforschung einzuordnen ist.2 Obwohl sich die Fachliteratur insbesondere im Bereich der Sozialpsychologie bereits seit vielen Jahrzehnten des Begriffs der Vitalität bedient, findet dieser in einschlägigen sprachwissenschaftlichen Lexika kaum Berücksichtigung und entzieht sich einer allgemeingültigen Definition.3 Unter der Vitalität von Sprachen soll in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Achterberg (2005, 24s.) die «Lebens- und Widerstandskraft sowie die Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit» von nicht-dominanten Sprachen «in Konkurrenz zu dominanten Sprachen in multilingualen Gesellschaften verstanden werden».4 Diese Definition zeugt von einer metaphorisch-terminologischen Übertragung des Verständnisses der Vitalität von Organismen, also biologischen Ökosystemen, auf die Sprache. Sprachen können demnach, genau wie Organismen, flexibel und dynamisch auf Umwelteinflüsse und veränderte Bedingungen – wie z.B. Sprachkontakt – reagieren, mit denen sie in einem interdependenten System zu sehen sind (cf. Haarmann 1996b, 843). Auf dieser Grundidee basierend beschäftigt sich bereits die Sprachinselforschung (cf. Mattheier 1996, 812) mit extralinguistischen Einflüssen auf Sprachen; ein Ansatz, der in der Folge insbesondere durch kontaktlinguistische,

|| 1 Trotz zahlreicher Sammelpublikationen zu der o.g. Thematik (cf. u.a. neuere Werke wie Austin/Simpson 2007a; Brenzinger 2007; Grenoble/Whaley 2006; Tsunoda 2005) fehlt nach wie vor eine einheitliche, konsistente Theorie des Sprachtods (cf. Dressler/De Cillia 2006, 2258, 2260). Cf. dazu ausführlicher Kap. 3.1.5. 2 Eine detailliertere Beschäftigung mit dem Leitkonzept der vorliegenden Arbeit, der ethnolinguistischen Vitalität, wird in einem separaten Kapitel erfolgen (cf. Kap. 3.5). An dieser Stelle sollen lediglich einführend zentrale Termini der Vitalitätsforschung vorgestellt werden. 3 So verzeichnen beispielsweise weder das Metzler Lexikon Sprache (Glück 42010) noch das Lexikon der Sprachwissenschaft (Bußmann 42008) das Lemma Vitalität. 4 Zu kleineren begrifflichen Veränderungen, die im Vergleich zur Definition nach Achterberg vorgenommen wurde, cf. Kap. 2.2 zur Verwendung von Minderheitensprache, bedrohte Sprache, nicht-dominante Sprache etc.

46 | Theoretisch-definitorische Grundlagen der Vitalitätsforschung

sprecherzentrierte Arbeiten von Weinreich (1953)5 oder Studien zur Sprachökologie6 von Haugen (1972) fortgeführt wurde, wobei v.a. Haugen bereits zahlreiche zentrale Indikatoren anführt, die in die späteren Modelle, wenngleich z.T. unter einer anderen Bezeichnung, eingeflossen sind (cf. Haugen 1972, 336s.). Obwohl die Idee der Vitalität von Sprachen bereits auf eine lange Geschichte in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft zurückblicken kann, etabliert sich der Terminus erst im Laufe der 1970er Jahre durch seine Verwendung durch Fishman und Haarmann, bevor er im ethnolinguistischen Vitalitätsmodell nach Giles/Bourhis/Taylor (1977) zum Leitbegriff wird und eine eigene Forschungsrichtung begründet (cf. Achterberg 2005, 25)7, deren Vertreter Sprachvariation unter Berücksichtigung außersprachlicher, sprachökologischer Faktoren zu erklären versuchen (cf. Haarmann 1996b, 842).

3.1.2 Sprachwechsel, Spracherhalt und Revitalisierung Der Fortbestand einer Sprache kann durch eine andere Sprache bzw. genauer durch Sprecher einer oder mehrerer anderer Sprachen bedroht werden.8 So beschreiben die Termini Sprachverschiebung, -verlagerung, -bedrohung, -wechsel oder -umstellung (engl. language shift, cf. Fishman 1991) die veränderte Sprachwahl zugunsten einer dominanten und zuungunsten einer rezessiven Sprache. Wenn diese Verschiebung in dem Maße erfolgt, dass die rezessive Sprache aufgegeben wird, kann von Sprachersatz oder Sprachentod9 gespro-

|| 5 Kloss hat 1966 weiterhin als einer der ersten Forscher den Versuch unternommen, die soziolinguistischen Einflussfaktoren auf Spracherhalt oder drohenden Sprachverlust zu systematisieren (cf. Kaufman 2006, 2432). 6 Haugen (1972, 325) versteht unter Sprachökologie «the study of interactions between any given language and its environment» und bemerkt weiterhin, dass «[t]he ecology of language is determined primarily by the people who learn it, use it, and transmit it to other», womit er bereits zu diesem Zeitpunkt auf bedeutende Parameter für die Untersuchung der Vitalität einer Sprache hinweist. 7 Eine sehr ausführliche Darstellung zum Verständnis und der Anwendung des Vitalitätsbegriffs findet sich bei Achterberg (2005, 26–31), der tiefgehend auf die Entwicklung und Herausbildung des Konzepts eingeht, weshalb hier auf eine solche verzichtet werden soll. Für einen Überblick zur Genese des Begriffs cf. außerdem Harwood/Giles/Bourhis (1994, 167–206) sowie weiterführend Fishman (2001) und Haarmann (1986; 1996b). 8 Eine Übersicht zu diesen Einflussfaktoren findet sich in Kap. 3.1.3. 9 Die vorliegende Arbeit ist sprachökologisch orientiert, was die Verwendung der Bezeichnungen Vitalität und Sprachentod nahe legt. Dieser Terminus hat sich durchgesetzt, wenngleich häufig Kritik an dieser Bezeichnung geübt wurde, u.a. mit der Begründung, dass Sprache ein

Von Vitalität und Revitalisierung in Situationen der Sprachbedrohung | 47

chen werden; der umgekehrte Vorgang, also wenn der drohende diachrone Prozess der Sprachverlagerung einer bisher noch vitalen Sprache aufgehalten werden kann, wird als Spracherhaltung bzw. -bewahrung10 (engl. language maintenance) bezeichnet. Von der Sprachbewahrung kann theoretisch die Revitalisierung einer Sprache oder der Vorgang, den Fishman (1991) mit reversing language shift bezeichnet, abgegrenzt werden, wenngleich in der Praxis häufig z.B. von staatlicher Seite Programme zum Schutz bedrohter Sprachen geplant werden, die beide Elemente miteinander verbinden: «Whereas the goal of revitalization is to increase the relative number of speakers of a language and extend the domains where it is employed, maintenance serves to protect current levels and domains of use. Revitalization almost always requires changing community attitudes about a language, while maintenance seeks to protect against the imposition of outside attitudes» (Grenoble/Whaley 2006, 13).11

Der Prozess des Sprachentods verläuft den meisten Fällen graduell: «Gradual language death is the most common type of language death; in it, a speech community in a language-contact situation shifts gradually to the dominant language while the dying language comes to be used by smaller numbers of individuals in fewer contexts. An age-graded proficiency continuum is characteristic of this situation» (Bereznak/Campbell 1996, 660).

Dem graduellen Verlust einer Sprache geht i.d.R. eine Phase voraus, in der die Sprecher insbesondere der jüngeren Generation zwei- oder mehrsprachig sind. In diesen Mehrsprachigkeitskontexten kann entweder stabiler Bi- oder Multilinguismus vorliegen, mit dem Resultat, dass die bedrohte Sprache erhalten bleibt, oder aber instabiler Bi- oder Multilinguismus, als dessen Ergebnis es letztendlich zur Aufgabe der rezessiven Sprache kommen kann (cf. Austin/Simpson 2007b, 5). Zwischen diesen Polen gilt es das yukatekische Spanisch anhand

|| historisch-gesellschaftliches Phänomen und kein Organismus sei (cf. Dressler/De Cillia 2006, 2258; Sallabank 2013, 19s.; Scharnhorst 2007, 10s.; cf. auch Haugen 1972, 326s.). Nach Ammon (22004, 180s.) ist die Organismus-Metapher jedoch leicht durchschaubar und daher unproblematisch, weshalb er darauf hinweist, dass das Verständnis von Sprache als «explizit vom Menschen geschaffenes Werkzeug, Kommunikations- und Kognitionsmittel und als Norm menschlichen Handelns» als Korrektiv gelten könne. 10 Cf. hierzu Hyltenstam/Stroud (1996). 11 Kaufmann argumentiert ähnlich (2006, 2432, Hervorh. i. Orig.): «Language revival [Sprachwiederbelebung, JMG] could be seen as reversing a language shift which has been completed, language revitalization as reversing a language shift which is well advanced, and language maintenance as reversing a language shift which has just begun».

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dieser Studie einzuordnen, da sich unter Rückgriff auf die Überlegungen aus Kap. 2 abzeichnet, dass in den letzten Jahrzehnten ein Wandel von einer stabilen zu einer weniger stabilen Mehrsprachigkeitssituation stattgefunden hat. Auf zwei weitere Konzepte soll in diesem Zusammenhang kurz eingegangen werden: Sprachwandel und Sprachverfall, die prinzipiell beide Veränderungsprozesse der Sprache in Kontaktsituationen beschreiben, allerdings stehen divergierende Haltungen bezüglich deren Bewertung dahinter. Der zum Sprachentod führende Sprachverfall12 beschreibt in einer ‘negativeren’ Perspektive die Entwicklung der durch den konstanten Kontakt mit einer anderen Sprache ‘bedrohten’ rezessiven Sprache und ist gekennzeichnet durch starke einseitige Interferenzen aus der dominierenden in die rezessive Sprache, «wobei die Asymmetrie der Entlehnungsrichtung die soziale, soziopsychologische und meist sozioökonomische und politische Hierarchie der Sprachgemeinschaften widerspiegelt» (cf. Dressler/De Cillia 2006, 2258ss.). Als unmittelbare Ursache des Sprachverfalls wird die Sprachverschiebung beim Spracherwerb gesehen, welche in der Vitalitätsforschung z.B. im Rahmen des Kriteriums der intergenerationellen Sprachweitergabe untersucht wird (cf. Kap. 3.1.4, 5.2 und 5.3).13 Neben dieser puristischen Haltung hat sich in neueren Forschungen in einer neutraleren Perspektive jedoch eher die Erkenntnis durchgesetzt, dass Sprachkontakt zu Sprachwandelprozessen führen kann, die jedoch nicht zwangsläufig zur Aufgabe und negativen Veränderung der nicht-dominanten Sprache führen müssen. Entlehnungen oder Code-Switching-Phänomene sind aus funktionaler Sicht nicht ausschließlich als Zeichen für einen mehr oder weniger stark fortgeschrittenen Sprachverfall zu interpretieren, sondern können als Ausdruck stetiger, natürlicher, dynamischer, innovativer und kreativer Adaptationsprozesse lebendiger Sprachen auch in Kontexten stabiler Mehrsprachigkeit auftreten und sogar zum Fortbestand einer Sprache beitragen (cf. Crystal 32010; Dressler/De Cillia 2006, 2261; Flores Farfán 2009).

3.1.3 Einflussfaktoren auf die Vitalität von Sprachen Sprachverschiebung kann beispielweise durch physikalische oder demografische Dislokationen (cf. Fishman 1991, 57) wie Naturkatastrophen, Hungersnöte

|| 12 Zu den strukturellen Konsequenzen des Sprachverfalls cf. Bereznak/Campbell (1996, 660ss.). 13 Die Motive für eine solche Entscheidung sind vielfältig und werden im Rahmen der Korpusanalyse beschrieben (cf. z.B. Kap. 5.3).

Von Vitalität und Revitalisierung in Situationen der Sprachbedrohung | 49

und Epidemien eingeleitet werden, aber auch durch menschliches Einwirken wie eine imperialistisch motivierte Unterordnung einer Sprachgemeinschaft (z.B. im Zuge von Eroberung und Kolonialisierung wie im vorliegenden Kontext), Genozide oder massive Umweltverschmutzung. Unterschiedliche, z.T. interdependente Faktoren bewirken, dass die verbleibende Bevölkerung demografisch, sozial und kulturell geschwächt wird (s. ausführlicher Kap. 3.5; cf. u.a. Bereznak/Campbell 1996, 660; Giles/Bourhis/Taylor 1977; Grenoble 2011; Landry/Allard 1994a; 1994b; Tsunoda 2005, 58s.). Für die drohende Sprachverdrängung gibt es also prinzipiell natürliche, politische oder militärische, soziale (bzw. soziologische oder soziopsychologische), historische, wirtschaftliche, umweltbedingte, kulturelle, religiöse oder (sozio-)linguistische Gründe. Gerade politische, soziale, wirtschaftliche und kulturell-religiöse Ursachen können hier besonders stark ins Gewicht fallen (cf. Tsunoda 2005, 57ss.), weshalb auf diese im Folgenden näher eingegangen werden soll. Diese in erster Linie außersprachlichen Faktoren wurden auch in das erweiterte makroskopische Bilinguismusmodell integriert, an dessen Indikatoren sich diese Studie in weiten Teilen orientiert (cf. Kap. 3.5.2.2): Häufig sind ethnolinguistische Minderheitengruppen sozial benachteiligt und haben erschwerte Zugänge zu Bildung und materiell-ökonomischen Ressourcen (cf. Fishman 1991, 59). In diesen Kontexten wurde Fragen hinsichtlich der sprachlichen Menschenrechte sowie Bestrebungen einer Entgegenwirkung der Sprachwechselprozesse bzw. Revitalisierungsmaßnahmen u.a. durch Initiativen der Sprachplanung bzw. Sprachpolitik eine zunehmend größere Bedeutung zugemessen (cf. Dressler/De Cillia 2006, 2258, 2260; cf. Kap. 7.4). Urbanisierung, Modernisierung sowie Mobilitätsbewegungen im Zuge einer «ökonomischen Integrierung» können einen Sprachwechsel im Besonderen beschleunigen: «Die soziopolitische [...] bzw. sozioökonomische Unterordnung kann entweder zu einer Folklorisierung der untergeordneten (Sprach-)Kultur führen oder aber zu einer soziokulturellen Entfremdung», wobei in beiden Fällen die Sprachkultur leidet, was sich in vielen Fällen in einem mangelnden Prestige der dominierten Sprache niederschlägt (cf. Dressler/De Cillia 2006, 2266). Aus soziopsychologischer Sicht sind die Sprechereinstellungen zu der dominanten und der rezessiven Sprache «ein entscheidendes Korrektiv für die Bedingungen ihrer Vitalität» (Haarmann 1996a, 228), die sich wiederum in einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Sprachloyalität bzw. -illoyalität (cf. Weinreich 1953, 99–103; Fasoli-Wörmann 2002, 284) seitens der Sprecher ausdrücken (cf. Kap. 3.2). Abwertende Meinungen der Mehrheitsgruppe können von den Sprechern der rezessiven Sprache übernommen werden, was in der

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Folge die Assimilationsbereitschaft der Minderheitengruppe potenziert und die Identifikation mit der rezessiven Sprache hemmt (cf. hierzu v.a. Kap. 3.4.1, 3.4.2 und 3.4.3). Auch bei funktionalen Vergleichen zwischen der dominanten und der rezessiven Sprache wird letztere häufig schlechter bewertet, weshalb in bestimmten Kontexten sentimentale Gründe für eine Spracherhaltung ausschlaggebender sein können als instrumentale (cf. Dressler/De Cillia 2006, 2267). «Language attitude is one of the crucial factors regarding the fate of endangered languages […]. It can be divided into the following two types: attitude towards their own language, and attitude towards other groups’ languages. Language attitude may also be classified as follows: negative attitude, positive attitude, and indifferent attitude. In the language endangerment situation, negative attitude seems by far the commonest» (Tsunoda 2005, 59).

Der u.a. in diesem Zitat unterstrichenen besonderen Bedeutung von Sprechereinstellungen für die Vitalität von Sprachen soll in der vorliegenden Arbeit Rechnung getragen werden, indem neben der Analyse der objektiven Vitalitätsfaktoren (cf. Kap. 3.5.1) ein besonderes Augenmerk auf der Sprechersicht und ihrer Wahrnehmung der Vitalität sowie auf ihren Einstellungen zu den beiden im Forschungsgebiet gesprochenen Sprachen Spanisch und Maya und deren Sprechern liegen wird (cf. Kap. 3.5.2). Im Anschluss an einige im folgenden Teilkapitel vorgestellte Typologieentwürfe zur Kategorisierung der Bedrohung bzw. Vitalität von Sprachen soll zu einem späteren Zeitpunkt eine Taxonomie vorgestellt werden, anhand derer ausgewählte Einflussfaktoren auf die ethnolinguistische Vitalität von Sprachen systematisch erforscht werden können.

3.1.4 Typologien zur Kategorisierung der Vitalität von Sprachen An dieser Stelle werden exemplarisch einige Typologien zur Klassifizierung der Vitalität (bzw. in der umgekehrten Perspektive der Bedrohung) von Sprachen diskutiert, wobei aus forschungsökonomischen Gründen eine Konzentration auf einerseits einschlägige und stark rezipierte Skalen (wie derjenigen von Fishman und Krauss) und andererseits auf aktuelle Interpretationen der Forschungsergebnisse in diesem Bereich (z.B. im Rahmen der von der UNESCO ausgewählten Faktorenkomplexe und deren Rezeption durch z.B. Grenoble/Whaley) erfolgt, mit dem Ziel, in der Zusammenschau dieser Modelle zu einer geeigneten Adaptation im vorliegenden Kontext zu gelangen.

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3.1.4.1 Graded Intergenerational Disruption Scale nach Fishman Eine zentrale sprachökologische Typologie zur Einschätzung der regressiven Entwicklung von Sprachen stammt von Joshua Fishman (1991, 87–121). Im Zentrum der Graded Intergenerational Disruption Scale (GIDS) steht das Kriterium der intergenerationellen Sprachweitergabe: «[T]he higher the GIDS rating the lower the intergenerational continuity and maintenance prospects of a language network or community» (Fishman 1991, 87). Die achtstufige Skala funktioniert komplementär zu Vitalitätsmessungen, allerdings mit entgegengesetztem Fokus, da nicht die Vitalität, sondern der Rückgang der Gebrauchssphären einer Sprache abgebildet wird. Entsprechend wird Stufe 8 einer Sprachensituation zugeordnet, in der nur noch vereinzelte ältere Sprecher die Sprache in religiösen und rituellen Kontexten verwenden und dabei häufig teilweise nur über rudimentäre Kenntnisse der Sprache im Alltagsgebrauch verfügen («seriously dislocated language-in-culture realities», Fishman 1991, 88, 112); auf Stufe 1 kann der Gebrauch der Sprache auch im höheren Schulwesen, im Arbeits-, Medien- und Regierungsbereich beobachtet werden (Fishman 1991, 107). Die dazwischenliegenden Stadien beschreiben Phasen des Übergangs vom schwächsten zum stärksten Level. Ausgehend von dieser Klassifizierung zur Sprachbedrohung entwickelt Fishman (1991, 395) ein ebenfalls achtstufiges Modell zur Revitalisierung von Sprachen («Stages of reversing language shift: severity of intergenerational dislocation»). Ziel des «program minimum» (1991, 400) auf den Stufen 8 bis 5 ist das Umkehren des drohenden Sprachwechsels «on ‹the weak› side» (Fishman 1991, 396), i.e. das Etablieren einer Diglossiesituation in der entsprechenden Sprachgemeinschaft, die über die Stärkung des Sprachgebrauchs der betroffenen Sprache in der Erwachsenengeneration (8), über das Wiederbeleben kultureller Praktiken (7), die Stimulation der intergenerationellen Sprachweitergabe in privaten Kontexten sowie die Wiedereinführung der Sprache in das alltägliche Leben der Sprachgemeinschaft (6) und die Alphabetisierung («formal linguistic socialization», Fishman 1991, 399) älterer und jüngerer Generationen (5) erreicht werden soll. Nach Fishman ist das Durchlaufen dieser Stadien mit keinen größeren Kosten verbunden und die Unterstützung durch die dominante Sprachgruppe ist nicht zwangsläufig notwendig, sondern hängt vor allem von der aktiven Beteiligung der nicht-dominanten Sprachgruppe ab. Die nachfolgenden Stadien «on the strong side» (1991, 401) zielen darauf ab, von einer Diglossiesituation zu einer gleichberechtigten Mehrsprachigkeitssituation zu gelangen, was das Einbinden der Sprache in Schulen und den Einbezug von Lehrpersonen, die diese Sprache sprechen (4), die Verwendung dieser in der Arbeitswelt (3), in regionalen Medien und Regierungsangelegenheiten (2) sowie

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auf der letzten Stufe in nationalen Bildungs-, Regierungs- und Medienkontexten (1) beinhaltet (Fishman 1991, 395). Fishman unterstreicht dabei mehrfach die zentrale Rolle von Stadium 6, die Stimulation der intergenerationellen Sprachweitergabe und die alltägliche Verwendung der Sprache (cf. auch Kaufmann 2006, 2432), auf die daher im Besonderen in Kap. 5.3 eingegangen werden soll. Auch die anderen Faktoren wurden unter Berücksichtigung weiterer Klassifizierungsmodelle in das Untersuchungsdesign integriert (cf. insbes. Kap. 3.1.4.2, 3.1.4.3, 3.5 und 6), jedoch nicht eins zu eins übernommen. Zentrale Kritikpunkte an diesem Modell bestehen zum einen in der Suggestion einer linearen Entwicklung, die häufig mit der Realität nicht übereinstimmt, und zum anderen in der nicht beachteten Interdependenz und den vorhandenen Überlappungsbereichen zwischen den einzelnen Stufen (cf. Marten 2016, 67ss.). 3.1.4.2 Interdependente Einflussfaktoren der UNESCO Die UNESCO Ad Hoc Group on Endangered Languages hat u.a. diese Erkenntnisse 2003 in neun interdependenten Einflussfaktoren, die die Sprachvitalität beeinflussen, gebündelt (cf. UNESCO 2003b; cf. auch Sallabank 2012, 106ss.). Die ersten drei Faktoren beziehen sich dabei auf Sprecherzahlen und deren Verteilung über die Sprechergenerationen und innerhalb der Gesamtbevölkerung;14 die Faktoren 4 bis 7 identifizieren, wie und in welchen Domänen die Sprache gebraucht wird;15 Faktor 8 bezieht sich auf die Wahrnehmung und Wertschätzung der Sprache durch ihre Sprecher16 und der letzte Faktor beschäftigt sich mit den Publikationen17 zu und in der entsprechenden Sprache (cf. Grenoble/Whaley 2006, 4): (1) (2) (3) (4) (5) (6)

Intergenerationelle Sprachweitergabe Absolute Sprecherzahl Verhältnis der Sprecher zur Gesamtbevölkerung Tendenzen in existierenden Sprachdomänen Reaktionen auf neue Domänen und Medien Materialien für Sprachenunterricht und Literalität

|| 14 Cf. dazu im Modell nach Giles/Bourhis/Taylor die Demografiefaktoren (cf. Kap. 3.5.1.2) und im erweiterten makroskopischen Bilinguismusmodell den Indikator demografisches Kapital (Kap. 3.5.2.2, 7.2). 15 Cf. hierzu die Adaptation in Kap. 6 und 7. 16 Cf. hierzu Kap. 8. 17 Cf. Kap. 2.4.3.2.

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(7) Offizielle staatliche und institutionelle Sprachpolitik (inkl. Sprachstatus und -gebrauch) (8) Attitüden der Mitglieder der Sprachgemeinschaft zu ihrer eigenen Sprache (9) Menge und Qualität an Dokumentation Die Stärke und Vitalität einer Sprache wird nach dieser Einteilung unter Punkt 4 (cf. Aufzählung oben) nach ihrer Präsenz in möglichst vielen Domänen in sechs Stufen bemessen: Vom universalen, allgemeinen aktiven Gebrauch einer Sprache in allen Domänen, über eine funktionelle Aufteilung mehrerer Sprachen auf unterschiedliche Domänen (i.d.R. den Gebrauch einer dominanten Sprache in offiziellen und öffentlichen Domänen und einer weniger dominanten Sprache in privateren Domänen), eine Abnahme der Diversität an Domänen, den Gebrauch in limitierten oder formellen Domänen wie z.B. bei rituellen Zeremonien oder Festen bis hin zum Gebrauch in nur noch sehr wenigen Domänen und von sehr wenigen Sprechern (oft Schamanen oder Dorfälteste) und dem letzten Stadium des Sprachtods (cf. Grenoble/Whaley 2006, 8s.). Die reine Existenz medialer Produkte und Lehrmaterialien (cf. Faktor 6 und 9) in einer lokalen Sprache garantieren allerdings noch nicht deren Vitalität. Eine Analyse des Angebotes und v.a. die Nutzung dieses sind ausschlaggebend, und dies gilt gleichermaßen für den medialen wie für den Bildungssektor (cf. Faktor 5 und 7): «Many schools which purport to have local language education teach the language as a secondary subject, and the curriculum as a whole is taught in a language of wider communication, yet ‹Education in the language is essential for language vitality› (UNESCO 2003)» (Grenoble/Whaley 2006, 10, Hervorh. i. Orig.).

Die offizielle Sprachpolitik und die Haltung der Regierung zu den lokalen Sprachen haben wiederum einen großen Einfluss auf die Spracheinstellungen der Sprecher und gerade letztere sind von wesentlicher Bedeutung für Spracherhalt und das Funktionieren von Revitalisierungsbemühungen oder Sprachwechsel. Der Blick auf diese exemplarisch ausgewählten Einteilungsversuche unterstreicht einerseits die Komplexität der Aufgabe als solcher, Stadien sprachlicher Vitalität zu kategorisieren bzw. eine Hierarchisierung vorzunehmen, und andererseits die Verflechtung der dabei relevanten Einzelfaktoren untereinander. In der Zusammenschau dieser Modelle (cf. Kap. 3.1.4.1) fällt auf, dass v.a. der Faktor der intergenerationellen Sprachweitergabe als besonders ausschlaggebend für den Fortbestand einer Sprache angesehen wird:18 || 18 Dies zeigt sich auch in der Mehrzahl der Forschungsarbeiten im yukatekischen Kontext, die der intergenerationellen Sprachweitergabe eine exponierte Position zuweisen (cf. Kap. 3.1.5.4).

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«While it is difficult universally to rank the importance of these factors, as they affect one another and have different levels of import in different circumstances, the one factor that tends to rise above the others is intergenerational transmission: once the children stop learning a language, it is in a precarious state. In cases of rapid or accelerated language shift, disrupted transmission to children can move a vital language to near extinction in the course of a single generation» (Grenoble/Whaley 2006, 13, Hervorh. JMG).

3.1.4.3 Sechsstufiges Schema nach Grenoble/Whaley Grenoble/Whaley entwickeln ausgehend von dieser These ein Schema zur Klassifizierung der Sprachbedrohung, das an die folgende zehnstufige Einteilung nach Krauss angelehnt ist (1997, in: Grenoble/Whaley 2006, 6): (a) Sprache wird von allen Generationen gesprochen, inkl. aller oder fast aller Kinder (a-) Sprache wird von allen oder den meisten Kindern erlernt (b) Sprache wird von allen Erwachsenen ab dem zeugungsfähigen Alter gesprochen, aber nur von wenigen oder keinen Kindern erlernt (b-) Sprache wird von Erwachsenen ab 30 Jahre oder älter gesprochen, aber nicht von jüngeren Eltern (c) Sprache wird von Erwachsenen mittleren Alters oder älter gesprochen (40 Jahre und älter) (c-) alle Sprecher sind um die 50 Jahre alt oder älter (-d) alle Sprecher sind um die 60 Jahre alt oder älter (d) alle Sprecher sind um die 70 Jahre alt oder älter (d-) alle Sprecher sind um die 70 Jahre alt oder älter; es gibt nur noch weniger als 10 Sprecher (e) ausgestorben, keine Sprecher mehr Nach dieser Klassifizierung von Krauss sind Sprachen vital, wenn sie mit dem Label (a) gerankt werden und dann von nahezu allen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft beherrscht werden. Bereits im Stadium (b) ist eine Sprache bedroht und Revitalisierungsmaßnahmen werden notwendig, um sie zu bewahren. Je weiter unten eine Sprache auf dieser Skala eingeordnet wird, desto stärker ist sie vom Aussterben bedroht und desto schwieriger wird eine Revitalisierung. Grenoble/Whaley (2006, 18) überführen diese Erkenntnisse in ein sechsstufiges Schema der Einordnung von Sprachen nach ihrem Bedrohungsgrad: (1) Eine Sprache ist nach dieser Einteilung sicher, wenn alle Generationen die Sprache in allen oder nahezu allen Domänen verwenden und diese im Ver-

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(2)

(3)

(4) (5) (6)

gleich zu anderen in der Region gesprochenen Sprachen über eine recht breite Sprecherbasis verfügt. Sprachen auf dieser Stufe sind i.d.R. Regierungs-, Handels- und Bildungssprache und verfügen über einen offiziellen Status, der ihnen ein höheres Prestige zusichert als anderen Sprachen. Auf der nächsten Stufe finden sich gefährdete Sprachen, die zwar (noch) als vital gelten und von Sprechern aller Altersgruppen gesprochen und erlernt werden, aber es fehlen ihnen dennoch einige Merkmale einer sicheren Sprache: So werden diese Sprachen z.B. nur in einer limitierten Anzahl an Domänen gesprochen oder haben weniger Sprecher als andere Sprachen der Region. Eine Sprache verschwindet, wenn sich ein Sprachenwechsel zu einer anderen in der Region gesprochenen Sprache beobachten lässt, der von einer flächendeckend zu beobachtenden Verringerung der intergenerationellen Sprachweitergabe und einer damit einhergehenden Abnahme der Sprecherbasis begleitet wird. Sprachen in diesem Stadium werden in einer geringeren Anzahl an Domänen verwendet und eine andere Sprache mit größerer kommunikativer Reichweite beginnt, die Sprache auch aus privaten Kontexten zu verdrängen. Im Aussterben begriffene Sprachen werden nicht mehr an Kinder weitergegeben. Fast ausgestorbene Sprachen werden nur noch von einer Handvoll Sprecher der ältesten Generation verwendet. Eine ausgestorbene Sprache hat keine Sprecher mehr.

In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, die hier aufgeführten Einflussfaktoren auf die Vitalität von Sprachen zu systematisieren, und die Sprachensituation Yucatáns unter deren Berücksichtigung einzuordnen. Diese Vorüberlegungen und Kategorisierungsansätze werden in Kap. 3.5 im Zusammenhang mit der dieser Arbeit zugrunde liegenden Modellvorstellung der Einflussfaktoren auf die ethnolinguistische Vitalität vertieft und im Anschluss im Rahmen der Datenerhebung und -analyse berücksichtigt.

3.1.5 Stand der Vitalitätsforschung Aufgrund der Komplexität und Interdisziplinarität des Untersuchungsgegenstands, die bereits durch diese definitorischen Annäherungen deutlich wurden, wird an dieser Stelle kein erschöpfender Forschungsstand gegeben, sondern vielmehr eine Selektion der für die hier verfolgten Zwecke besonders einschlä-

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gigen Theorien und Begriffe präsentiert. Zwar ist mit der wachsenden Beschäftigung mit der Vitalitätsforschung eine Vielzahl an Publikationen erschienen, diese sind allerdings aufgrund der Interdisziplinarität des Forschungsgegenstandes z.T. nur schwer zu erschließen und zugänglich, da sie in unterschiedlichen Fachzeitschriften diverser Forschungsdisziplinen erscheinen (u.a. im Journal of Multilingual and Multicultural Development, International Journal of the Sociology of Language oder Journal of Language and Social Psychology) und häufig den Terminus Vitalität nicht im Titel tragen, wodurch sich ein direkter Bezug zu den hier relevanten Kontexten häufig nicht herstellen lässt (cf. Achterberg 2005, 23). 3.1.5.1 Zentrale theoretisch-methodische Beiträge zur ethnolinguistischen Vitalität Wie bereits oben angedeutet, hat sich in der Folge der ersten Beschäftigungen mit der Vitalität von Sprachen (cf. Kap. 3.1.1) insbesondere das im Folgenden im Zentrum stehende Modell zur ethnolinguistischen Vitalität nach Giles/Bourhis/Taylor (1977) in der Soziolinguistik etabliert und ein großes wissenschaftliches Echo sowie zahlreiche methodische Weiterentwicklungsversuche erfahren19 (cf. Yagmur/Ehala 2011, 104). Haarmann, Haugen, Giles et al. und Edwards prägen in ihren Studien im Besonderen den Begriff der Ethnolinguistik. Das konkrete Verständnis der Gegenstände dieser Disziplin divergiert jedoch (cf. Senft 2003).20 In den letzten 30 Jahren lässt sich ein steigendes Interesse an der Beschäftigung mit der ethnolinguistischen Vitalität verzeichnen (cf. Yagmur/Ehala 2011, 101; z.B. Journal of Multilingual and Multicultural Development 32:2 (2011); Euromosaic-Studie zur Vitalität europäischer Regional- und Minderheitensprachen 2004), wobei v.a. die mit dem Kernkonzept der Vitalität bedrohter Sprachen in enger Verbindung stehende Erfassung von subjektiven Spracheinstellungen

|| 19 Cf. z.B. Allard/Landry (1986; 1994); Achterberg (2005); Bourhis/Giles/Rosenthal (1981); Giles/Johnson (1987); Haarmann (1986); Landry/Allard (1994a; 1994b); Landry/Bourhis (1997); Viladot/Siguan (1992); Viladot/Esteban Guitart (2011); Viladot et al. (2013); Yagmur (2011); Yagmur/Ehala (2011); uvm. 20 So stehen für Haugen die Sprechereinstellungen zu ihrer jeweiligen Varietät im Zentrum der Ethnolinguistik; Haarmann hingegen fokussiert den sprachlichen Abstand zwischen Kontaktsprachen als zentrales Thema (cf. Yagmur/Ehala 2011, 102).

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aufgrund ihrer besonderen Relevanz in neueren Forschungen in den Vordergrund gerückt werden.21 Als weitere wegweisende Studien im Bereich der Vitalitätsforschung können die Untersuchung von intergruppalen Beziehungen und zur Sprachwahl22, Arbeiten in Bezug auf Sprachloyalität, Spracherhalt oder -wechsel23 oder bezüglich der Entwicklung von Revitalisierungsmaßnahmen und -programmen24 gelten.25 3.1.5.2 Hispanistische Vitalitätsforschung Im theoretischen Teil dieser Arbeit liegt der Fokus auf Erkenntnissen aus Studien aus der frankokanadischen, anglistischen oder germanistischen Sprachwissenschaft und Sozialpsychologie, weil die Vitalitätsforschung im romanistischen und insbesondere im mexikanischen Kontext in Bezug auf die Entwicklung von Modellen und Theorien erst wenige und meist an o.g. Traditionen anknüpfende Arbeiten verzeichnen kann. In der hispanistischen Forschung finden sich zahlreiche Studien, die sich in erster Linie mit Spracheinstellungen, einer Komponente des Modells der ethnolinguistischen Vitalität, beschäftigen – dabei allerdings andere Vitalitätsfaktoren ausklammern – wobei an dieser Stelle ebenfalls nur auf eine Auswahl an für diese Untersuchung besonders relevanten Arbeiten verwiesen werden kann: Zu Einstellungen bezüglich Varietäten des amerikanischen Spanisch im Gegensatz zum Spanischen der iberischen Halbinsel (z.B. Bentivoglio/Sedano 1999; Chiquito/Quesada Pacheco 2014); dem Spanischen in Chile (z.B. Rojas

|| 21 Cf. z.B. Allard/Landry (1986; 1994); Bayer (2003); Cuonz (2014a); Currie/Hogg (1994); König (2014); Giles/Johnson (1987); Tophinke/Ziegler (2006; 2014). 22 Cf. z.B. Allard/Landry (1986); Edwards (1977); Fasoli-Wörmann (2002); Giles (1977); Giles/Bourhis/Taylor (1977); Morett (2014); Moßbrucker (1999); Nelde (1980); Neuland (1993b); Pfadenhauer (2012); Pfeiler (1988; 1998; 1999a; 2012); Tajfel/Turner (1979). 23 Cf. z.B. Achterberg (2005); Fishman (1991); Flores Farfán (1999); Giles/Johnson (1987); Kramer (1990); Porebska (2006); Yagmur (2004; 2009); Yagmur/Akinci (2003); Yagmur/de Bot/ Korzilius (1999). 24 Cf. z.B. Austin/Sallabank (2011); Austin/Simpson (2007a); Brenzinger (2007); Cru (2014); Fishman (1991; 2001); Flores Farfán (2000; 2006; 2007; 2010; 2011a; 2011b; 2015); Flores Farfán/Córdova Hernández (2012); Gómez Rendón/Jarrín Paredes (2015); Grenoble/Whaley (2006); Haboud (2009); Haboud/Ostler (2013); Haboud et al. (2016); Hinton (2011); Hinton/Hale (2001); Hirsh (2013); Sallabank (2011; 2013); Vargas García (2014); Yagmur/Kroon (2003; 2006). 25 Für einen ausführlichen Stand der Forschung zur ethnolinguistischen Vitalität cf. die umfangreiche und detaillierte Studie von Achterberg (zur Vitalität slavischer Sprachen, 2005, 85– 101), Lenk (2010, 39–73) sowie Yagmur/Ehala (2011).

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2012; 2014), in Costa Rica (z.B. Congosto Martín/Quesada Pacheco 2012; Quintanilla/Rodríguez 2014), in Puerto Rico (z.B. Escudero 2000; López Laguerre 1997), dem Guaraní in Paraguay (z.B. Fasoli-Wörmann 2002), dem Spanischen in den USA (z.B. Klee/Lynch 2009; Medina Rivera 2014; Montes Alcalá/Sweetnich 2014), zu Varietäten des Spanischen, Regionalsprachen und Sprachkontaktsituationen auf der iberischen Halbinsel (z.B. Casares Berg 2003; González Martínez 2010; Hernández Campoy 2004; Lasagabaster Herrarte 2014; Sáez Rivera/Castillo Lluch 2012; Schlaak 2014), zum Spanischen der Kanaren (z.B. Morgenthaler García 2008) oder das Habla-culta-Projekt (Lope Blanch 1986). Einen aktuellen und breitgefächerten Einblick in verschiedene Sprachkontaktszenarien und Attitüden von Spanischsprechern zu den Varietäten des Spanischen in der hispanophonen Welt geben Chiquito/Quesada Pacheco (2014) durch ihre großräumig in zwanzig hispanophonen Hauptstädten angelegte Fragebogenstudie des Proyecto LIAS (Linguistic Identity and Attitudes in Spanish-speaking Latin America) (cf. beispielsweise zu Attitüden in Mexiko City Morett 2014). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass einer Vielzahl dieser Studien zu Attitüden ein quantitatives (Fragebogen-)Design zugrunde liegt, über das eine möglichst große Zahl an Sprechern erreicht werden soll: So wurde z.B. auch in der Studie von Bodnar (2013, 267, 282) ein aus 53 Items bestehender Fragebogen, in dem u.a. Sprachgebrauch und -einstellungen erhoben wurden, 8.276 Familienoberhäuptern in unterschiedlichen kolumbianischen Dörfern vorgelegt, wobei das Fragenformat dabei i.d.R. geschlossen war und wenig Raum für Erklärungen ließ. In einigen Studien (cf. z.B. auch in Morett 2014, 830 s.o.) wird auf mit diesem methodischen Vorgehen verbundene Probleme eingegangen: «En estos resultados también puede influir el método empleado: es sabido que la elicitación manifiesta de actitudes conduce a que los sujetos tiendan a responder de acuerdo con las respuestas que suponen más apropiadas desde el punto de vista social, o bien a reproducir la ideología aprendida en las escuelas» (Rojas 2012, 111).

Nicht selten wird in diesen quantitativ ausgelegten Studien auf die Notwendigkeit hingewiesen, die vorgestellten Ergebnisse im Sinne einer Triangulation mit qualitativen Daten, wie z.B. Interviews, zu ergänzen, insbesondere weil es sich bei Einstellungen um Untersuchungsgegenstände komplexen Charakters handele, die dementsprechend auch «aproximaciones complejas» für sich beanspruchen (cf. Rojas 2012, 113, cf. dazu ausführlicher Kap. 4.1). Neben diesen Untersuchungen, die primär einen vitalitätsrelevanten Faktor, nämlich Einstellungen, betrachten, existieren in der hispanistischen Forschungslandschaft auch vereinzelte umfassendere Studien z.B. zur Vitalität des

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Quechua (cf. Sichra 2003), des Quichua in Ecuador (cf. Lenk 2010), im chilenischen Kontext zum Mapudungún in Santiago (cf. Lagos 2012) oder zur Perzeption der Vitalität des Katalanischen (Viladot/Siguan 1992; Viladot/Esteban Guitart 2011), aus denen hier exemplarisch einige Ergebnisse extrahiert und vorgestellt werden sollen, da sie als Orientierungsparameter für die Ausgestaltung des vorliegenden Untersuchungsdesigns gelten können. In methodischer Hinsicht weist Lagos (2005, 24) darauf hin, dass es keine quantitativen Indikatoren gebe, die für sich genommen eine größere oder geringere Vitalität einer Sprache garantieren könnten, sondern dass der Sprachgebrauch, «su uso efectivo como instrumento de comunicación», neben den Attitüden ein Indiz für erstere sei. In Santiago de Chile lassen sich ein Verwendungsrückgang des Mapuche sowie eine funktional asymmetrische Beziehung zwischen dem Mapuche und dem Spanischen feststellen (2005, 35). Lenk (2010) legt mit ihrer Studie eine der wenigen Arbeiten vor, in denen systematisch unter Einbezug einer Vielzahl von Einflussvariablen auf die ethnolinguistische Vitalität quantitative und qualitative Erhebungsformen kombiniert werden. Ausgehend von den Überlegungen zur ethnolinguistischen Vitalität nach Giles/Bourhis/Taylor (1977) und über den Einsatz des von Allard/Landry entwickelten Beliefs on Ethnolinguistic Vitality-Fragebogens (1986) erhebt sie zunächst quantitative Daten, die sie in einem weiteren Schritt mit qualitativen Daten aus sechs halbstrukturierten Experteninterviews zur wirtschaftlichen und politischen Situation, der bilingualen Bildung, zu Sprachgebrauch und identitätsrelevanten Faktoren ergänzt. Dabei beschreibt sie die Vitalität des Quichua in Ecuador unter Einbezug der soziologischen Ebene, also den objektiven Rahmenfaktoren, der Netzwerkkontakte (quantitative Ebene) und der psychologischen Komponenten auf Sprecherebene (cf. makroskopisches Bilinguismusmodell, Kap. 3.5.2.2). Hervorzuheben ist weiterhin der Sammelband Voces e imágenes de las lenguas en peligro von Haboud/Ostler (2013), in dem sich ein weites Spektrum an jeweils knappen Einblicken in unterschiedliche Kontaktsituationen zwischen indigenen und dominanten Sprachen nicht nur im amerikanischen Kontext (z.B. in Ecuador, Argentinien, Bolivien, Peru, Paraguay, Brasilien oder Mexiko), sondern auch weltweit (z.B. in Ostafrika, Neuseeland oder Georgien) findet. Im Zentrum der Publikation stehen soziolinguistische Studien zu Kontaktphänomenen und dem Einfluss von Sprachkontakt auf Einstellungen, Identität und Vitalitätseinschätzungen bei den Sprechern, die Rolle von neuen Medien und Technologien für bedrohte Sprachen sowie Dokumentations-, Revitalisierungsund Standardisierungsprozesse in den entsprechenden Kontexten.

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Insgesamt belegt ein Blick auf die Forschungslage zu Vitalität und Einstellungen, dass es keine gemeinsame definitorische Grundlage gibt, sondern eine Vielzahl an Ansätzen existiert, in denen unterschiedliche Aspekte und Analyseparameter im Vordergrund stehen. So wird Vitalität z.B. in einigen Studien implizit mit Sprachkompetenz gleichgesetzt (cf. Bodnar 2013, 277), in anderen wird unter der Vitalität einer Sprache ihr Gebrauch durch ihre Sprecher verstanden (cf. García Landa/Cantú Bolán 2011, 226) oder, wie in der Definition, an der sich die vorliegende Arbeit orientiert, ein weiterer Vitalitätsbegriff zugrunde gelegt (cf. Kap. 3.1.1). 3.1.5.3 Mexikanische Vitalitätsforschung Eine systematische Beschreibung der Vitalität ausgewählter indigener Sprachen unter Einbezug eines weiten Spektrums an Einflussfaktoren im mexikanischen Kontext ist der Autorin zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Arbeit nicht bekannt, was evtl. auch daran liegen kann, dass zahlreiche Untersuchungen zu diesem Themenbereich von Studierenden im Rahmen von Licenciatura- oder Maestría-Arbeiten erstellt werden und deren Ergebnisse nur in geringfügigem Maße öffentlich zugänglich gemacht werden. Durch die Rechercheaktivitäten am Centro de Investigaciones y Estudios Superiores en Antropología Social (CIESAS) Tlalpan und Mérida sowie an der Universidad Autónoma de Yucatán (UADY) wurden deren jeweilige Archive im Hinblick auf Abschlussarbeiten und Forschungsbeiträge zur ethnolinguistischen Vitalität indigener mexikanischer Sprachen sowie weiterhin die Seiten des Instituto Nacional de Estadística y Geografía (INEGI), der Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas (CDI) und des Instituto Nacional de Lenguas Indígenas (INALI) bezüglich Studien zur Sprachensituation und der ethnolinguistischen Vitalität in Mexiko durchsucht, um im Rahmen dieser Arbeit auch auf im deutschen Forschungskontext weniger sichtbare und schwer beschaffbare Analyseresultate eingehen zu können und diese Erkenntnisse in das Untersuchungsdesign einfließen zu lassen. Die CDI veröffentlichte 2009 ein zehnseitiges Dokument zum «reemplazo etnolingüístico», in dem Indizes berechnet wurden, um die Sprachbedrohung der indigenen Sprachen Mexikos in erster Linie in Abhängigkeit von deren Sprecherzahlen zu klassifizieren. Dabei bleibt allerdings unklar, wie genau die Zahlenwerte entstanden sind, die zur Einordnung der mexikanischen indigenen Sprachen geführt haben. Im Rahmen dieser Erhebung wird das yukatekische Maya mit dem Wert «extinción acelerada» gelistet, wobei u.a. auf die Relevanz der Faktoren der intergenerationellen Sprachweitergabe, der wirtschaftlichen Veränderungen und der mit dem Sprechen einer indigenen Sprache verbunde-

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nen Diskriminierung sowie soziale Benachteiligung hingewiesen wird (2009a, 3ss., 10; cf. auch Kap. 7.3 und 8.1): «Un caso similar puede observarse en los mayas, donde la creciente población mestiza y el uso del español ha ido paulatinamente desplazando a la lengua materna, sobre todo en aquellos espacios donde el turismo se ha desarrollado con las consiguientes oportunidades de trabajo. Así, el uso del maya, y su transmisión a las nuevas generaciones, muestra patrones diferentes de acuerdo a la cercanía o lejanía de los centros turísticos y a la actividad económica predominante» (CDI 2009, 6).

Analog zu den für die hispanistische Vitalitätsforschung gemachten Beobachtungen existieren auch zu den mexikanischen Idiomen v.a. Arbeiten, die primär einzelne Vitalitätsfaktoren, insbesondere Einstellungen analysieren (z.B. zum Náhuatl cf. Cerón Velázquez 199526; Flores Farfán 1999; Hill/Hill 1999; zum Otomí cf. Hamel 1988; Hamel/Muñoz Cruz 1981; 1986; Terborg/Velázquez 2008; Vargas García 2011; 2014; Zimmermann 1982; 1993; 1999; zum Sprachkontakt in Oaxaca cf. Hernández Hernández 2009; Pfadenhauer 2012; Schrader-Kniffki 2003; 2014; zur Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung cf. CDI 2006b27), oder die Rolle der Medien in Kontaktsituationen (z.B. in Chiapas cf. Viladot et al. 2013; in Yucatán Cru 2014; 2015) fokussieren. Einen übergreifenden Einblick in sechs unterschiedliche und doch vergleichbare Szenarien mexikanischer indigener Sprachen ermöglichen Terborg/ García Landa (2011) in ihrem Sammelband zum Spannungsfeld zwischen Sprachaufgabe, Vitalität und Revitalisierung. Einen weiteren allgemeinen Überblick über die Vitalität von Sprachen im mexikanischen Kontext präsentieren Garza Cuarón/Lastra (2000) sowie Manrique Castañeda (1996). Auf die fragebogengestützte Untersuchung zu Attitüden zur in Mexiko City gesprochenen Varietät des Spanischen von Morett (2014) wurde bereits in Kap. 3.1.5.2 hingewiesen.28 Das Design der Mehrheit dieser Arbeiten ist ebenfalls quantitativ orien-

|| 26 Cerón Velázquez (1995, 16) bezieht u.a. in Anlehnung an Giles/Bourhis/Taylor (1977) auch andere Vitalitätsfaktoren wie Kleidung, Nahrung, traditionelle und alltägliche Lebensformen, religiöse und kulturelle Praktiken sowie die Behausung in ihre ethnografische und soziolinguistische Erhebung mit ein, fokussiert aber insbesondere rituelle Verwandtschafts- und Verbundenheitsbeziehungen. 27 Die Ergebnisse dieser Studie sollen im Analyseteil dieser Arbeit mit den Tendenzen der Interviews aus Yucatán verglichen werden und werden daher an späterer Stelle genauer beschrieben (cf. Kap. 8.1). 28 Cf. darin einen kurzen Forschungsstand zur Erforschung der Attitüden zu Varietäten des Spanischen in Mexiko (Morett 2014, 798–801). Cf. außerdem Muntzel (2010, 958–961).

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tiert. Dies gilt auch für die detaillierte Studie von Kaufmann (1997) zu Attitüden zum Plattdeutschen in Mexiko am Beispiel der Mennoniten. Exemplarisch soll an dieser Stelle auf eine ausgewählte Arbeit zu Attitüden eingegangen werden, da ihre Resultate als symptomatisch auch für die anderen o.g. Untersuchungen gelten können: Castillo Hernández stellt mit seiner Studie zu Spracheinstellungen in Cuetzalan einen sozialpsychologisch orientierten Beitrag zum Verständnis der Situation der indigenen Sprachen in Mexiko vor und unterstreicht dabei den «carácter conflictivo» (2006, 311) zwischen dem mexicano, das innerhalb der Dorfgemeinschaft gesprochen wird und als wichtiger Identitätsmarker mit einem «alto valor cultural y una función simbólica» (2006, 313) gilt, aber häufig mit «ser ‹campesino›» (2006, 312) verbunden wird, und dem Spanischen, das über die Grenzen der comunidad hinausreicht.29 «[A]ctitudes de menosprecio hacia las lenguas indígenas por parte de la sociedad», so eines seiner zentralen Ergebnisse, tragen wesentlich zur Verdrängung indigener Sprachen bei (2006, 311). Auf diese Dominanz der Diskriminierungspraktiken in indigenen Kontexten wird sich in Kap. 8.1 ausführlich bezogen. Gerade in Mexiko scheint das Hauptaugenmerk in den letzten Jahren weniger allein auf der Erfassung der Vitalität bedingenden Faktoren, denn auf der Erarbeitung von Strategien und Leitlinien zur Revitalisierung bedrohter indigener Sprachen zu liegen.30 Die Erscheinungsdaten der in der Fußnote zitierten Werke zeigen, dass es sich um ein «movimiento político-pedagógico localizado que [apenas] comienza a mostrar características más o menos definidas y algunas estrategias de pequeña escala en comunidades y regiones, escuelas y universidades, cuya capacidad todavía no ha sido dimensionada a cabalidad» (Rebolledo Recendiz 2014, 22)

handelt, welches aber einen immer stärkeren Aufschwung erlebt. Hervorzuheben sind insbesondere die Revitalisierungsmaterialien des Acervo Digital de Lenguas Indígenas Víctor Franco Pellotier am CIESAS Tlalpán, durch die z.B. im Proyecto de Revitalización, Mantenimiento y Desarrollo Lingüístico y Cultural (PRMDLC) (cf. Flores Farfán 2015) ein partizipativer Ansatz verfolgt wird, in || 29 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Vargas García (2014, 33): «Los hablantes de lenguas indígenas, [sic] han considerado al español como el idioma más apropiado para satisfacer las nuevas necesidades comunicativas en ciertos contextos, como es el caso de la escuela o la búsqueda de trabajo fuera de las comunidades o de la región». 30 Cf. z.B. Flores Farfán (2003; 2006; 2007; 2010; 2011a; 2011b; 2015); Flores Farfán/Córdova Hernández (2012); Haboud et al. (2016); Hidalgo (2006); Lepe/Rebolledo (2014a); Terborg/García Landa (2011); Vargas García (2014). In einer gesamtamerikanischen Perspektive cf. CoronelMolina/McCarty (2016). Cf. weiterführende Überlegungen hierzu in Kap. 11.

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dessen Rahmen auf der Basis von Audio- und Videomaterial in unterschiedlichen comunidades indígenas informelle und spielerische Workshops angeboten werden. Mesoamerikanische Sprachen zeichnen sich durch ihre orale Tradition aus (cf. Briceño Chel 2012), weshalb ein Revitalisierungsprojekt, das ausschließlich auf die Schriftlichkeit abzielt, nicht zielführend ist: «[T]anto la escritura como la oralidad y desde luego otros medios, a partir de un enfoque multimodal, deberían ser parte de las estrategias de revitalización de una lengua» (Vargas García 2014, 41).31 Ohne die aktive Beteiligung der Sprecher an sprachlichen Wiederbelebungsprozessen, ihre Partizipation und das Vorhandensein von Agency32, können diese nicht erfolgreich sein: «Buscando superar los conflictos de intereses y las tensiones que se pueden generar entre las perspectivas de los hablantes y las de los investigadores, la lingüística revitalizadora se asume como una (micro)política en la que el investigador es sólo un facilitador, un detonador de procesos, en el mejor de los casos un guía en la gestión de la revitalización junto con los propios hablantes, sin limitarse a intentar involucrar a los hablantes y facilitar la accesibilidad de los datos [...]» (Flores Farfán 2015, 96).

3.1.5.4 Forschungslage im yukatekischen Kontext Zur Sprachensituation in Yucatán liegen zahlreiche sprachsystemische Arbeiten vor, die sich mit der Struktur des Maya oder Kontaktphänomenen zwischen dem Spanischen und dem yukatekischen Maya befassen.33 Im Bereich der soziolinguistischen Forschung überwiegen auch im yukatekischen Kontext die Arbeiten, die die Komponente der Attitüden fokussieren und dabei weniger die Zusammenstellung eines systematisch aufbereiteten Panoramas der objektiven und subjektiven Vitalitätsfaktoren anstreben. Eine der ersten Studien, die sich neben anderen ethnografischen und soziolinguistischen Inhalten auch mit Spracheinstellungen zum yukatekischen Maya befasst hat, ist die zunächst unveröffentlichte und dann im Jahr 2012 als erweiterte Version vorgelegte Dissertationsschrift von Barbara Pfeiler. Diese ist durch ihre Ausrichtung an extralinguistischen Einflussfaktoren auf die Einstellungen

|| 31 Cf. für eine ausführliche Beschäftigung mit dem Faktor Schriftlichkeit in Revitalisierungsprozessen Grenoble/Whaley (2006, 102–136). 32 Cf. hierzu Kap. 3.4.4. 33 Cf. z.B. Arzápalo Marín (1997); Blaha Pfeiler (1997); Briceño Chel (1997); Gómez Rendón (2008); Hopkins/Josserand (1994); Pfeiler (1988; 1995; 1996; 1998; 1999a; 2012); Pfeiler/Hofling (2006); Pfeiler/Zámisová (2006); Pool Balam/Le Guen (2015); Suárez Molina (1996); Vapnarsky (1996).

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zum Spanischen und dem Maya und ihre Zielsetzung, die Ursachen für den Rückgang der Sprecherzahlen des Mayas erheben zu wollen, prinzipiell am Vitalitätsmodell nach Giles/Bourhis/Taylor (1977) orientiert, allerdings ohne ausführlich auf dieses einzugehen oder es strukturiert im Rahmen der der Arbeit zugrunde liegenden Feldforschung anzuwenden. Neben detaillierten ethnografischen Einblicken in die Sprachensituation zweier ländlicher Gemeinden Yucatáns (Cantamayec und Chabihau) ist die wichtige methodische Erkenntnis ihrer Studie hervorzuheben, dass offenere Erhebungsdesigns der in der o.g. Untersuchung angewendeten Matched Guise-Technik vorzuziehen sind (cf. Kap. 4.1.3). Die Wichtigkeit der profunderen Erforschung der Spracheinstellungen unter Einbezug der subjektiven Wahrnehmung der Sprecher im yukatekischen Sprachraum unterstreicht Pfeiler auch an anderer Stelle (1999b, 95): «[…L]a relación entre lengua e identidad social no se basa tanto en la lengua misma sino más bien en lo que cree el hablante inocente de su propio idioma y qué funciones y poderes le atribuye a éste». Einige Masterarbeiten der Universidad Autónoma de Yucatán haben ebenfalls Attitüden zum Thema: Durán Caballero/Sauma Castillo (2003) beschäftigen sich vor dem Hintergrund sprach- und bildungspolitischer Veränderungen mit Spracheinstellungen von Grund- und Sekundarschülern sowie Studierenden zum Maya und zum Spanischen im urbanen Milieu Méridas. Durch den Einsatz eines Fragebogens mit 24 geschlossenen Fragen, wovon die Hälfte auf das Prestige der Sprachen und die andere auf den Nutzen des Erlernens des Maya in den Bereichen Arbeitswelt, Bildungswesen und Alltag zielte, gelangen die Autoren zu dem Ergebnis, dass das Maya im Vergleich zum Spanischen deutlich benachteiligt ist. Weiterhin zeigt die Auswertung der Fragebögen das Vorhandensein zentraler Stereotype bezüglich der Mayasprecher: So wird z.B. häufig davon ausgegangen, dass diese quasi ausschließlich in sozioökonomisch benachteiligten Kontexten und Armut in ländlichen comunidades leben und kein oder nur sehr schlecht Spanisch sprechen. Angulo Uc (2004) möchte mit seiner Arbeit einen aktuellen Beitrag zur Nutzung der Matched Guise-Technik für die Beschreibung der Sprachensituation Yucatáns leisten. Am Beispiel Méridas zeigt er die Diskrepanz zwischen der Aufwertung des yukatekischen Maya in offiziellen Kontexten und der Notwendigkeit für die yucatecos, Spanisch zu sprechen auf «si quieren aspirar a un título universitario, un empleo mejor remunerado y una vida mejor» (Angulo Uc 2004, 9). Canché Teh beschäftigt sich 2005 in ihrer ethnografischen Masterarbeit zu Bilingüismo y continuidad del maya yucateco entre la población de Timucuy de Hidalgo auf der Basis von Interviews und Beobachtungen in ausgewählten Fa-

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milien in Timucuy ebenfalls mit Einstellungen zum Maya. Ein zentraler Fokus ihrer Arbeit liegt auf Mechanismen der intergenerationellen Sprachweitergabe, die in den von ihr betrachteten Fällen i.d.R. von den Großeltern zu den Enkeln erfolgt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass das Maya, wenngleich es in allen Kontexten mit dem Spanischen koexistiert, kontinuierlich in allen Domänen der o.g. comunidad gebraucht wird und somit generell eine «dinámica favorable al uso del maya» zu beobachten ist (Canché Teh 2005, 89). Auch Chi Canul (2011) legt mit seiner Arbeit zur Vitalität des Maya in Naranjal Poniente eine ethnografische Studie zur intergenerationellen Kommunikation und Sprachweitergabe vor. Durch Fallbeispiele in dieser o.g. Gemeinde in Quintana Roo beschränkt er sich auf die Untersuchung von Sprachgebrauch und -weitergabe in zwei Familien; andere vitalitätsrelevante Faktoren (cf. Kap. 3.1.4 und 3.5) finden allerdings keine Beachtung. Eine quantitative Erfassung der Rolle der «ethnischen Affinität» bei Sprachwahl und Spracheinstellungen in Felipe Carrillo Puerto strebt Otto (2009, 169) in seiner Dissertationsschrift an. Auch in dieser Studie wird deutlich, dass durch den Einsatz der Matched Guise-Technik im yukatekischen Kontext keine aussagekräftigen und gegenstandsbezogenen Ergebnisse erzielt werden können (cf. Otto 2009, 35). Als weiteres methodisches Problem wird der Einsatz des Fragebogens thematisiert, der in einigen Fällen vom Forscher selbst nach Gefühl ausgefüllt werden musste, da die Befragten mit den vorgeschlagenen Skalenwerten und Formulierungen nicht zurechtkamen (cf. Otto 2009, 53). In einer Befragung, die Sima Lozano 2011 mit 22 Nicht-Mayasprechern in halboffenen Interviews zu ihren Einstellungen zum yukatekischen Maya durchgeführt hat, kann der positive Einfluss der sprachpolitischen Maßnahmen34 auf die Wahrnehmung des Maya belegt werden. Gleichzeitig stellt sich aber heraus, dass die Perzeption der Interviewten in Bezug auf die Sprecher nicht in gleichem Maße positiv beeinflusst wird wie die auf die Sprache selbst: «En el sector sur de la ciudad de Mérida las actitudes hacia la maya y sus hablantes son heterogéneas, la lengua es valorada positivamente, pero los mayahablantes son vistos todavía como pobres e inferiores» (Sima Lozano 2011, 61). In einer Anschlussstudie mit 25 Interviewteilnehmern erhoben Sima Lozano/Perales Escudero/Be Ramírez 2014 in Mérida die Autoperzeption von bilin-

|| 34 Zur Sprach- und Bildungspolitik in Yucatán cf. z.B. Briceño Chel (2002; 2008); Briceño Chel/Quintal (2008); Canché Teh (2014); Canté Canul/Kuh López (2008); Canto Ramírez (2008); Martínez Paredes (2009); Mijangos Noh (2009); Mijangos Noh/Canto Herrera/Cisneros-Cohernour (2009); Morris Bermúdez (2007). Cf. ausführlich Kap. 7.4.

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gualen Mayasprechern bezüglich des Maya und seiner Sprecher. Auch hier zeigte sich, dass die Einstellungen bezüglich der Sprache i.d.R. eher positiv waren, wohingegen die sprecherbezogenen Attitüden ambivalent ausfielen: «Tanto los yucatecos bilingües de maya y español, y los monolingües de español de la capital yucateca dicen cosas maravillosas del idioma maya, pero no siempre del hablante bilingüe de maya y español, y ciertamente no del monolingüe maya» (Sima Lozano/Perales Escudero/Be Ramírez 2014, 173).

Die Autoren plädieren für eine Politik, die nicht nur das Prestige der Sprache positiv verändern möchte, sondern auch das Ansehen der Sprecher einbezieht (cf. Sima Lozano/Perales Escudero/Be Ramírez 2014, 157) und Manifestationen rassistischer Ressentiments bekämpft. Diese ließen sich durch zwei Diskurse erklären: «Uno es el racismo persistente y característico de las élites meridanas; otro es el discurso consumista de la globalización que privilegia el fenotipo europeo sobre todos los demás y lo conecta con un imaginario de sofisticación: la modernidad en Latinoamérica se representa, se vive y se imagina desde y hacia la blancura [...]» (Sima Lozano/Perales Escudero/Be Ramírez 2014, 173).

Als weitere Studien, die sich mit Marginalisierung und Diskriminierung yukatekischer Mayasprecher und Rassismus als Ursache für den Rückgang der Sprecherzahlen befassen, sollen an dieser Stelle exemplarisch die Arbeiten von Bracamonte y Sosa et al. (2002), Bracamonte y Sosa/Lizama Quijano (2003), Bracamonte y Sosa/Lizama Quijano/Solís Robleda (2011), Castellanos Guerrero (2003), Güémez Pineda (2008), Lizama Quijano (2008; 2010a; 2010b; 2010c), Moßbrucker H. (1992; 1995; 1999) und París Pombo (2003) genannt werden, auf die an anderer Stelle noch näher eingegangen wird (cf. Kap. 7 und 8). Sima Lozano/Perales Escudero (2015) haben jüngst auf der Basis von 16 halbstrukturierten Interviews mit 16–30-jährigen Sprechern eine qualitative Studie zu Attitüden und Sprachwahl in Mérida vorgelegt. Diese bezieht sich auf das Spannungsfeld zwischen dem Spanischen, dem Englischen und dem Maya, wobei trotz positiver Werturteile zum Maya das Englische eine «postura en términos metafóricos maravillosa» einnimmt und sogar mit dem Spanischen konkurriert (Sima Lozano/Perales Escudero 2015, 140). Auch in der Forschungslandschaft zum yukatekischen Maya und der Sprachkontaktsituation auf der yukatekischen Halbinsel lässt sich eine wachsende Beschäftigung mit der Thematik der Revitalisierung beobachten. Exemplarisch sollen hier einige aktuelle Studien erwähnt werden, die die zeitgenössische Tendenz beleuchten, Revitalisierung im Einklang mit den und unter akti-

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vem Einbezug der Sprecher zu planen und zu koordinieren, statt diesen in fremden Kontexten geplante und daher häufig inadäquate Maßnahmen aufzuoktroyieren. So plädiert Josep Cru (2014, 193, 223, 231) in From Language Revalorisation to Language Revitalisation? Discourses of Maya Language Promotion in Yucatán für Revitalisierungsmaßnahmen «from the ground up». Die Verwendung des Maya in sozialen Medien oder in popkulturellen Sphären sind nach Auffassung des Autors vielversprechende Szenarien und Räume für eine erfolgreiche Sprachbewahrung und -revitalisierung. Auch Flores Farfán wendet sich gegen eine an der reinen Dokumentation von Sprachen ausgerichtete Linguistik, «en que la agencia de los hablantes es básicamente negada» (Flores Farfán 2015, 96). Im Rahmen des bereits in Kap. 3.1.5.3 erwähnten PRMDLC wurden audiovisuelle und gedruckte Medien auf maya yucateco in Kooperation mit den Sprechern selbst produziert. Die Sprachbenutzer haben eine aktive Rolle in der Zusammenstellung, Transkription, Illustration, Verbreitung und Überarbeitung der Materialien übernommen und somit einen wichtigen Beitrag zu einer innovativen Revitalisierungsmethodik, «un método de revitalización indirecto que genera dinámicas a partir de un enfoque lúdico, dirigido a los niños, segmento clave de la población para revertir el desplazamiento lingüístico» (Flores Farfán 2015, 108), geleistet. Dieser Einblick in die Forschungslage zur Vitalität indigener Sprachen Mexikos und im Besonderen zum yukatekischen Maya konnte verdeutlichen, dass zwar in den letzten zwanzig Jahren eine steigende Beschäftigung mit Spracheinstellungen und Revitalisierungsbestrebungen zu verzeichnen ist, aber aufgrund der selektiven Betrachtung ausgewählter Vitalitätsfaktoren kein Gesamtbild der untersuchten Sprachensituation entstehen kann. In der vorliegenden Arbeit soll durch den systematischen Einbezug objektiver und subjektiver Vitalitätsparameter in einer Erhebung, die in vier Untersuchungsorten sowohl in urbanen als auch in ruralen Kontexten mit Maya- und Nicht-Mayasprechern stattgefunden hat, ein breiteres Spektrum an Facetten bezüglich der Vitalität des yukatekischen Maya eröffnet werden, und zugleich in methodischer Hinsicht durch eine Methodenkombination ein Mehrwert erreicht werden (cf. Kap. 4). Aus diesem Grund werden im Anschluss die bereits im Rahmen des Forschungsstandes angesprochenen Kernkonzepte der (Sprach-)Einstellungen und deren Relevanz für die Ausbildung eines Sprachbewusstseins sowie deren Verbindung mit Identitätskonstruktion bei den Sprechern beleuchtet, da diese in das Untersuchungsdesign dieser Studie zur Erforschung der ethnolinguistischen Vitalität des Maya integriert wurden.

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3.2 Einstellungen Einstellungen sind als Meinungen und Wertungen, durch die die sprachliche Wirklichkeit besser geordnet und verstanden werden kann, Teil unseres Alltags. Sie können handlungssteuernd wirken, denn auf der Grundlage von Wahrnehmungen trifft der Mensch Handlungsentscheidungen u.a. in Bezug auf die Sprachverwendung. Die Beschäftigung mit Einstellungen auf der Basis metasprachlicher Äußerungen ermöglicht einen Blick auf die Hintergründe und Motive des Sprachhandelns des Sprechers einer bestimmten Sprache und ist deshalb aufschlussreich für eine Einschätzung bezüglich der Vitalität von Sprachen (cf. Arendt 2010, 7). Dieses Kapitel soll die folgenden Funktionen erfüllen: Es dient der Präzisierung eines der für die Untersuchung zentralen Konzepte, Einstellungen allgemein sowie Einstellungen zu Sprechern und Sprache35 im Besonderen, und klärt, inwiefern Ergebnisse der Attitüdenforschung gewinnbringend im vorliegenden Kontext genutzt und adaptiert werden können.

3.2.1 Definitionsansätze zum Einstellungsbegriff In der Sozialpsychologie, in der Einstellungen36 seit den 1930er Jahren verstärkt erforscht wurden (cf. Vandermeeren 22005, 1318), werden diese als «gesell|| 35 Wenn im Folgenden von Spracheinstellungen gesprochen wird, und dabei nicht weiter spezifiziert wird, ob es sich um auf die Sprache bezogene oder die Sprecher bezogene Einstellungen handelt, soll das Konzept als Oberbegriff für beide Einstellungsbestandteile verstanden werden. Wenn eine Unterscheidung und separierte Betrachtung notwendig ist, wird auf diese hingewiesen (z.B. in Kap. 8). Cf. dazu die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel. 36 Einen detaillierten Überblick über die Spracheinstellungsforschung und unterschiedliche (in erster Linie quantitativ orientierte) methodische Zugänge liefert Casper (2002), weshalb darauf hier nur in stark verkürzter Form Bezug genommen wird: Der Einstellungsbegriff wurde 1918 mit Thomas’ und Znanieckis The Polish Peasant in die Sozialpsychologie eingeführt, wenngleich es auch vorher schon vereinzelte Schriften über einstellungsähnliche Konzepte gab (cf. Casper 2002, 15; Lasagabaster Herrarte 22004, 399). Die o.g. Autoren definierten den Begriff der Attitüde und begannen mit der Erarbeitung von Methoden zur Einstellungsmessung, die in der Folge durch Ansätze von Bogardus (1925), Thurstone (1927), Likert (1932), LaPiere (1934), Guttman (1950) oder Osgood (1957) weiterentwickelt wurden, wobei in diesen quantitativen Ansätzen häufig in erster Linie die Problematik der Messbarkeit und der Operationalisierung durch Einstellungsvariablen thematisiert wurde. Im Zentrum der anfänglichen Forschung standen Versuche, über die Messung von Einstellungen Verhalten programmatisch voraussagen zu wollen, wobei sich allerdings herausstellte, dass die Korrelation zwischen beiden Variablen wesentlich weniger bedeutend ist als zunächst angenommen (cf. Bayer 2003, 21). Seit

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schaftlich gewachsene und in der Sozialisation erworbene Bewertungsstrukturen verstanden, die sich in verschiedenen Formen ausprägen und handlungsleitende Funktion haben» (Arendt 2010, 8). Die Spracheinstellungsforschung in der Linguistik ist bis zum heutigen Tage eine Disziplin, die eng mit sozialpsychologischer Forschung verbunden ist.37 Mit den Arbeiten von Lambert wird das Konzept in den 1960er Jahren in die Kontaktlinguistik eingeführt (cf. Vandermeeren 1996, 692).38 Auf Sprache bezogene Attitüden bezeichnen wertende Dispositionen von Individuen oder Gruppen gegenüber sprachlichen Erscheinungen und dabei insbesondere kollektiv geteilte «Haltungen gegenüber Sprachen, Sprachvarietäten oder Sprachverhalten anderer Individuen oder Gruppen, oft mit wertender Berücksichtigung der jeweils eigenen Sprache» (Stickel 1999, 17), die als entscheidende Steuerungsfaktoren für die Varietäten- oder Sprachwahl gelten können. Insbesondere seit den 1980er Jahren wird der Einstellungsbegriff in diesem Verständnis als «hot topic» der Soziolinguistik unter dem Konzept der Spracheinstellung rezipiert (Tophinke/Ziegler 2006, 203) und findet v.a. in der Beschäftigung mit Spracherwerb, Sprachverhalten und Sprachwahl sowie der Frage nach der Entwicklung von Sprache(n) und Varietäte(n), z.B. in Bezug auf deren Vitalität, Anwendung.39 Trotz oder vielleicht gerade wegen seines inter-

|| den 1980er Jahren lassen sich Überlegungen zu einem Methodenpluralismus in der Kombination von quantitativen und qualitativen Verfahren und insgesamt eine stärkere Hinwendung zu qualitativen Messmethoden beobachten, was sich auch in Kap. 3.1.5 zum Forschungsstand abgezeichnet hat: «In der letzten Zeit wurde auch immer häufiger mit qualitativen Methoden der Einstellungsmessung experimentiert, weil mit rein quantitativen Methoden das Subjektive der Bewertungen und die relevanten Zusammenhänge im Leben der einzelnen Personen nicht zufriedenstellend erfasst werden können» (Casper 2002, 22; cf. auch Casper 2002, 157). In der Linguistik manifestiert sich mit Beginn der 1980er Jahre ein deutlicheres Interesse an der Erforschung von Spracheinstellungen (cf. z.B. Studien von u.a. Fishman oder Giles, insbesondere zu Themen wie sprachlicher Akkommodation, Sprache und Identität, Sprachwandel, soziolinguistischer Stereotypisierung sowie der Verbindung dieser Aspekte mit der Vitalität von Sprachen, auf die in den folgenden Kapiteln noch näher eingegangen wird) (cf. Casper 2002, 15–21). 37 So unterstreichen Gallois/Watson/Brabant (2007, 595): «[...] research on language attitudes has always reflected, and has retained to the present day, an allegiance to social-psychological methods and the basic concept of attitude. Compared to other approaches to language and identity, including those from linguistics, this area has a strongly psychological flavour». 38 Sowohl Kontaktlinguisten als auch Sozialpsychologen, Soziologen oder Anthropologen beschäftigen sich mit der Bewertung von Sprachvarietäten (Standardsprachen, Dialekten, Soziolekten, Idiolekten) durch Sprecher und Nicht-Sprecher. Einen kurzen interdisziplinären Forschungsstand liefert Vandermeeren (1996, 695). 39 Cf. z.B. Giley/Byrne (1981). Weitere Forschungsinteressen bestehen in der Wahrnehmungsdialektologie in der Beschäftigung mit der Relation zwischen Spracheinstellungen

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disziplinären Charakters wird der Spracheinstellungsbegriff allerdings nicht einheitlich verwendet und unterschiedliche Aspekte stehen jeweils im Fokus der vielfältigen Definitionsansätze (cf. Cuonz 2014, 32; Putsche 2011, 48).40 Grundsätzlich herrschen in der Attitüdenforschung zwei theoretische Perspektiven vor: Eine mentalistisch-kognitive Tradition, in deren Verständnis eine Einstellung als Gesamtheit der Dispositionen eines Individuums, auf ein Objekt positiv oder negativ zu reagieren, angesehen wird, steht einer behavioristischen Orientierung, die Einstellungen als Reaktionen auf einen Stimulus sieht, gegenüber. Die soziolinguistische Einstellungsforschung ist dabei eher am mentalistischen Ansatz orientiert, der Einstellungen nicht nur durch die Beobachtung von Verhalten, sondern auch durch Introspektion, also auch durch die Analyse nicht direkt beobachtbarer innerer Prozesse, erschließen möchte (cf. Rindler Schjerve 1998, 22; Vandermeeren 1996, 692). In neueren Ansätzen werden Einstellungen als multikomponentiell strukturierte, in soziale Situationen eingebettete und von diesen beeinflussbare und damit kontextgebundene Vorstellungen dargestellt (cf. Kap. 3.2.2), womit die Relevanz des Einbezugs außersprachlicher Faktoren in den Vordergrund rückt: «It is beyond any doubt that attitudes are directly influenced by exceptionally powerful environmental factors such as the family, work, religion, friends or education, up to the point that people tend to adjust their attitudes to conform with those that are most prevalent in the social groups they belong to» (Lasagabaster 22004, 399).41

In Anlehnung an dieses dynamischere und flexible Verständnis ist das Bezugsobjekt von Einstellungen unspezifiziert, i.e. diese können sich als positive, negative oder neutrale Einstellungen auf Personen, Sachverhalte oder andere Kategorien von Objekten beziehen (cf. Haddock/Maio 62014, 198s.). Das Individuum kann also dabei «evaluative Tendenzen oder Orientierungen gegenüber jeglicher Art von sozialen Objekten haben [...]: Sprachen sind nur ein Beispiel, politische Positionen, Kunst oder Lebensstilfragen sind andere» (Cuonz 2014a,

|| und Sprachproduktion (cf. u.a. Preston 1999; Anders/Hundt/Lasch 2010; Anders 2010; Eichinger et al. 2012; Hundt 1992). 40 Zur Begriffsdiskussion cf. auch Riehl (2000, 243s.). Für einen diachronen Blick auf die Einstellungsforschung cf. Barden/Großkopf (1998, 216–219). 41 Weitere Einflussfaktoren sind z.B. Massenmedien (cf. Lasagabaster Herrarte 22004, 400). In dieser Definition sind bereits zahlreiche der im Rahmen dieser Arbeit einbezogenen Einflussgrößen benannt. Auf die hier angesprochenen sprachlichen Anpassungsmechanismen im sozialen Gefüge der Interaktionspartner wird in Kap. 3.4 Bezug genommen.

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32).42 In diesem Kontext sei auf einen wichtigen Zusammenhang hingewiesen: Einstellungen gegenüber Sprachen können als «judgements about speakers rather than about speech» verstanden werden (Trudgill 1975, 29, in: Barden/ Großkopf 1998, 234), da sich in Äußerungen über Sprachen häufig Urteile bezüglich ihrer Sprecher und deren Bewertung wiederfinden (cf. auch König 2014, 39). «Es ist eine allgemein verbreitete, auch empirisch unterstützte Ansicht, dass Spracheinstellungen in erster Linie soziale Einstellungen sind. Als solche umfassen sie sowohl Einstellungen zu der Sprache (Objekt: Sprache) als auch zu den Sprechern dieser Sprache (Objekt: Mitglieder einer Sprachgruppe) im Verhältnis zu anderen Sprachen und Sprachgruppen der untersuchten Sprachgemeinschaft» (Casper 2002, 50).

Auch wenn wie oben beschrieben häufig eine kausale Verbindung zwischen den Einstellungen zur Sprache und zu den Sprechern angenommen wird, ist es umstritten, «ob Einstellungen zu Sprechern auch Spracheinstellungen sind bzw. ob auf der Grundlage des eben beschriebenen Zusammenhangs die Messung von einer der beiden Einstellungstypen ausreicht oder nicht» (Casper 2002, 51). Aus diesem Grund wurden in den dieser Arbeit zugrundeliegenden Interviews Einstellungen zur Sprache und Einstellungen zu den Sprechern separat thematisiert, um eventuelle Nuancierungen und Abweichungen sichtbar machen zu können (cf. Kap. 8.2.2, 8.2.3 und 8.2.4).

3.2.2 Genese und Struktur von Einstellungen In diesem Teilkapitel soll auf die Beschaffenheit der inneren Struktur von Einstellungen eingegangen werden (cf. Mummendey/Grau 62014, 26). I.d.R. wird in der Forschungsliteratur zwischen einem Einkomponentenmodell und einem Dreikomponentenmodell unterschieden. Im Einkomponentenmodell werden Einstellungen als hauptsächlich durch eine affektive Komponente, also einer gefühlsorientierten Bewertung bestimmt verstanden. Dem Untersuchungen wesentlich häufiger zugrunde gelegten Dreikomponentenmodell entsprechend sind Einstellungen als Kompositionen von kognitiven, affektiven und konativen Elementen zu verstehen, die in einem engen Zusammenhang miteinander stehen und deshalb in der (quantitativen)

|| 42 Zu weiteren Einstellungsobjekten und Klassifizierungsversuchen cf. u.a. Vandermeeren (22005, 1324).

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Forschungspraxis kaum voneinander zu separieren sind (cf. Deprez/Persoons 1987, 125; Fabrigar/MacDonald/Wegener 2005, 82).43 Die kognitive Komponente bezieht sich auf Gedanken, Meinungen, Vorstellungen, Überzeugungen und Wissensbestände – sog. positive, negative oder neutrale beliefs44 – die eine Person bezüglich des Einstellungsobjektes zu haben glaubt oder auch effektiv hat (cf. Cuonz 2014a, 33s., 54–57; Haddock/Maio 6 2014, 200). In Spracheinstellungsstudien wird die kognitive Komponente z.B. über Fragen zu Gedanken, Meinungen, Überzeugungen der Befragten zu Wesen, Nutzen, Brauchbarkeit, Bedeutung und Funktion bzw. Funktionalität einer Sprache für die Ziele und Bedürfnisse einer Person oder Gruppe untersucht (z.B. Tradition, Kultur, Bildung, soziales und berufliches Fortkommen). Auf der Basis dieses Wissens, also den o.g. beliefs, entwickelt das Individuum eine bestimmte emotionale Haltung zum Einstellungsobjekt. Der affektive Bestandteil beinhaltet positive oder negative Gefühle wie Zuneigung oder Ablehnung gegenüber dem Einstellungsobjekt, also z.B. der Sprache; «emotional[e] Werte, mit denen die kognitiven Überzeugungen belegt werden» (Lenz 2003, 264). In der konativen Komponente werden die kognitiven Ansichten und emotionalen Meinungen in mehr oder weniger spezifische potenzielle Handlungsabsichten transformiert. Sie repräsentiert die Disposition, mit einem bestimmten Verhalten auf das Einstellungsobjekt zu reagieren, i.e. die Bereitschaft im Sinne der Vorstellungen oder Überzeugungen zu handeln,45 also z.B. auf die

|| 43 Eine eindeutige Trennung der kognitiven von konativen Items und der kognitiven und affektiven Items wird in quantitativen standardisierten Einstellungsmessungen als Problem empfunden. In der vorliegenden Studie kann diese Messproblematik durch ein qualitativ orientiertes Interviewdesign vermieden werden (cf. Casper 2002, 30s.; cf. Kap. 4). 44 Girnth (2002, 3) versteht unter Ideologien «die einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung oder einer bestimmten Gesellschaftsordnung zugrundeliegenden Wertvorstellungen und Denkmuster», die sich als «Bewusstseinstatsachen in Sprache manifestieren und in der Regel auch sprachlich vermittelt werden». Sprachideologien können demnach wiederum als «von einem Kollektiv ausgehandeltes und geteiltes [...] System von beliefs über Sprachen, Varietäten oder Dialekte» aufgefasst werden (Cuonz 2014a, 59, Hervorh. i. Orig.; cf. auch Bendel Larcher 2015, 216). Sallabank (2013, 64) beschreibt Attitüden als «overt manifestations of implicit ideologies», weshalb im vorliegenden Fall die Verwendung des Terminus der Einstellungen angemessener erscheint als der der Ideologie, auf die erst durch die Analyse der Versprachlichung von (Sprach-)Einstellungen Rückschlüsse möglich sind (cf. König 2014, 24; Girnth 2002, 3). 45 Einstellungen können weiterhin das Verhalten derjenigen beeinflussen, die selbst Einstellungsobjekt sind, «d.h. verbalisierte Einstellungen anderen Personen […] gegenüber können einen verhaltensmodifizierenden Effekt haben». Dabei sind die Einstellungen selbst wiederum

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Absicht der Ausführung bestimmter sprachbezogener Handlungen wie das Bevorzugen einer Sprache bei der Kindererziehung zu Hause und in der Schule, die Teilnahme an Sprachkursen oder anderen kulturellen und sprachbezogenen Aktivitäten, das Lesen und Schreiben in bestimmten Sprachen, der Medienkonsum in dieser Sprache oder der Sprachgebrauch in bestimmten Situationen (z.B. auf der Arbeit, mit dem Nachbarn, auf dem Markt, in offiziellen Situationen o.Ä.). Aus einer verbalisierten Einstellung ist allerdings nicht in absoluter Form ein bestimmtes Verhalten zu erwarten, denn in Einstellungen wird zunächst einmal nur eine Verhaltens- oder Handlungsabsicht ausgedrückt, die nicht zwangsläufig realisiert werden muss. Das später beobachtbare Verhalten muss demnach nicht mit den geäußerten Einstellungen übereinstimmen: «Gerade bei Spracheinstellungen erleben wir mitunter einen eklatanten Widerspruch zwischen geäußerter Bewertung und dem tatsächlichen Sprachverhalten» (Arendt 2010, 9).46 Diese beschriebenen Dimensionen des Dreikomponentenmodells finden sich deutlich im dieser Untersuchung zugrunde liegenden Modell der ethnolinguistischen Vitalität wieder, weshalb das dazugehörige Verständnis der Struktur von Einstellungen hier übernommen werden soll, auch wenn das bis zum heutigen Tage mehrheitlich verwendete und weiterentwickelte Dreikomponentenmodell bisweilen auch kritisch diskutiert wird (cf. Putsche 2011, 52; Casper 2002, 91), da die Vorstellung von Komponenten zu starr sei, um dem tatsächlichen, dynamischen Charakter von Einstellungen gerecht zu werden. Dem Verständnis von Albarracín et al. (2003, 3) folgend erscheint es daher treffender, statt von Komponenten von den die innere Struktur von Einstellungen bedingenden Konstrukten kognitiver, affektiver und konativer Art zu sprechen: «Each of these individual phenomena is central to the dynamic forces that form and transform existing attitudes. Similarly, attitudes have reciprocal impact on af-

|| von Verhaltensweisen abhängig und durch diese wandelbar; sie sind also selbst erst aus Verhaltensweisen entstanden (cf. Casper 2002, 41). Cf. dazu auch Kap. 3.4. 46 In Verbindung mit der konativen Komponente ist der in der Forschung häufig erfolgte, kritisch zu bewertende Versuch, über die Erforschung von Einstellungen Aussagen bezüglich des tatsächlichen und zu erwartenden Verhaltens treffen zu wollen, zu nennen. Letzteres kann, muss aber nicht immer mit den Einstellungen korrelieren (cf. Robinson 2003, in: Gallois/Watson/Brabant 2007, 596). Einstellungen müssen keine bestimmten Verhaltensweisen nach sich ziehen, können aber eine Bereitschaft zur Handlung, eine Disposition, implizieren (cf. Lenz 2003, 263s.). Das tatsächliche Verhalten lässt sich aus Einstellungsäußerungen aber nicht direkt ableiten, denn die tatsächliche Ausführung hängt von weiteren Faktoren wie z.B. divergierenden Einstellungen, sozialen Zwängen, situativen Sachzwängen etc. ab (cf. Barden/Großkopf 1998, 218; cf. auch Ajzen/Fishbein 2005 und Kap. 2.4.1).

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fects, beliefs, and behaviours». So sind Einstellungen also nicht einfach als fixe, sich aus Affekt, kognitiven Bestandteilen und Verhalten zusammensetzende Komponenten zu verstehen, sondern als «eine separate Entität, die aus diesen Elementen gespeist wird, und diese im Gegenzug ebenfalls speist» (Cuonz 2014a, 34). Einstellungen, zu denen wie gezeigt wurde auch Spracheinstellungen gezählt werden, werden also im Kontakt mit der Umwelt, in Interaktionen in einem gegebenen sozialen und kulturellen Rahmen erworben und sind daher keine vordefinierten, angeborenen Konstanten, sondern prinzipiell veränderbare, prozessuale und dynamische, wenngleich relativ stabile und gesellschaftlich gewachsene, kollektiv geteilte Konstrukte, die «in sozialen Interaktionsprozessen aus Sedimentierungen von eigenen und tradierten Erfahrungen entstehen, weiterentwickelt und variiert werden» (Lenz 2003, 265). Die Genese von Einstellungen kann in diesem Sinne mit Studler (2014, 178) auf zweierlei Arten verstanden werden: «einerseits als Genese in der Sprachsozialisierung (vgl. ‹primärer Habitus›, Bourdieu 1982), andererseits als Genese in der Interaktion (vgl. ‹sekundärer oder tertiärer Habitus›, Bourdieu 1982, 1997). Einstellungen und deren Äußerung können und müssen also jeder-zeit als Kombination von einerseits stabilen (und eventuell unbewussten) und anderer-seits dynamischen (und bewussten) Einstellungen begriffen werden».

Spracheinstellungen sind in dieser Betrachtungsweise nicht einfach als Reaktionen auf sprachliche Reize zu verstehen und auch nur einer von zahlreichen Faktoren (neben der subjektiven Norm, dem früheren Verhalten, Verhaltensalternativen oder der Identität), die das (Sprach-)Verhalten mitbestimmen können (cf. Arendt 2010, 10). Sie werden während der Interaktion ausgehandelt, wobei dieselben Einstellungen auch prinzipiell unterschiedliche Verhaltensweisen bedingen können (cf. Casper 2002, 75s.). Dabei sind sowohl der Makrokontext, also das geteilte Alltags- und Weltwissen (z.B. von der Gesellschaft vorgegebene Normen und Werte) der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, der durch die spezielle soziale Situationsparameter beeinflusste Mesokontext (z.B. die gegebene Interviewsituation) und der Mikrokontext, verstanden als «Normerwartungen der Aktanten, ihre Intentionen, ihr individuell zugängliches Alltagswissen und schließlich das jeweilige Selbstkonzept» für die Interpretation von Einstellungsäußerungen von Bedeutung (Tophinke/Ziegler 2006, 213s.). Die Phasen der Primär- und Sekundärsozialisation spielen eine zentrale Rolle für den Erwerb von Sprachwissen und die Entstehung sowie die Modifikation von

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Einstellungen, weshalb ein Einbeziehen der sprachlichen Biografie47 der befragten Personen für die Interpretation der Sprach- und Einstellungsdaten (cf. Kap. 5) ebenso wichtig erscheint wie eine «kontextsensitive Perspektivierung», die im Rahmen einer qualitativen Analyse der einstellungsbezogenen Daten ermöglicht werden kann (cf. Lenz 2003, 266ss.; cf. Kap. 4 und 8).

3.2.3 Funktionen von Einstellungen Mit dem in den letzten 25 Jahren wachsenden Interesse an der Einstellungsforschung ist die Erarbeitung von funktionalen Einstellungstheorien einhergegangen. Das Konstrukt Einstellung lässt sich nicht direkt im Alltag beobachten, sondern kann i.d.R. nur über andere Erscheinungen, wie sprachliche Äußerungen, abgeleitet werden. So werden z.B. anhand der Funktionen von Einstellungen Rückschlüsse auf deren Ursachen gezogen, wobei nicht jede Einstellung jede Funktion haben muss, sondern einer zentralen oder in Abhängigkeit von der Person, der Einstellungsthematik und dem Kontext unterschiedlichen Funktionen dienen kann (cf. Casper 2002, 37, 40). Die in der Soziolinguistik bekannteste, aus der Sozialpsychologie stammende funktionale Theorie beschreibt vier motivationale Funktionen (nach Katz, cf. Fabrigar/MacDonald/Wegener 2005, 82s.) und wird besonders häufig für die Erklärung der Ursachen vorhandener Einstellungen und derer potenzieller Auswirkungen herangezogen. Sie ist in engem Zusammenhang mit der sozialen Identitätstheorie nach Tajfel/Turner (1979; cf. Kap. 3.4.1) zu sehen. Einstellungen können ihr zufolge erstens der Verteidigung des Selbst und der eigenen Gruppe dienen. Zweitens sind sie Ausdruck von Werten und eines (möglichst positiven) Selbstbildes eines Individuums, was für die Entwicklung eines positiven Identitätsbewusstseins und eines Gruppenzugehörigkeitsgefühls von Bedeutung ist. Eine dritte Funktion ist die instrumentale, utilitaristische oder soziale Anpassungsfunktion, die auf der Erwartungshaltung von Personen basiert, dass bestimmte Einstellungen Vor- oder Nachteile bzw. eine Belohnung oder Bestrafung zur Folge haben. In sprachlicher Hinsicht kann diese Funktion mit der positiveren Bewertung derjenigen Sprache, die aufgrund von Normerwartungen beruflichen Erfolg oder sozialen Aufstieg verspricht, in Verbindung gebracht werden. Diese Funktion verhilft auch zur Rechtfertigung der privilegierten Rolle der Mehrheitsgruppe (cf. Fabrigar/MacDonald/Wegener 2005, 82).

|| 47 Zu sprachbiografischen Untersuchungen cf. z.B. Barden/Großkopf (1998); Franceschini/Miecznikowski (2004); König (2014).

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Letztlich haben Einstellungen eine kognitive Wissens- oder Ökonomiefunktion, i.e. sie helfen dem Individuum als eine Art Wahrnehmungsfilter die komplexe soziale Realität zu verstehen, zu strukturieren, zu kategorisieren und zu organisieren48 (cf. Casper 2002, 38ss.; Schoel et al. 2012, 165; Haddock/Maio 62014, 208; Scharloth 2005, 6). Diese letzte Funktion ist die zentralste Einstellungsfunktion, denn sie dient durch ihren informationsverarbeitenden Charakter dazu, Sachverhalte, Ereignisse oder Objekte aus der Umwelt zu klassifizieren und zu taxieren (cf. Arendt 2010, 8). Sprachgemeinschaften können sich also in dieser funktionalen Perspektive durch Einstellungen definieren, wodurch die Entwicklung von sozialer Identität beeinflusst wird. Insbesondere in mehrsprachigen Gesellschaften dienen Einstellungen der Selbst- und Fremdeinschätzung von Sprechergruppen und strukturieren die komplexe soziale Umwelt. In der Interaktion tragen sie zur Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern, von Identitäten und Alteritäten, i.e. zur sozialen Positionierung bei, und «unterstützen die Zuordnung, Abgrenzung und Ausgrenzung von Sprechern und Sprecherinnen in konkreten Kommunikationszusammenhängen» (Tophinke/Ziegler 2002, 2). Durch den oben beschriebenen möglichen Einfluss auf das Sprachverhalten können sie sich auch auf die Sprachloyalität, den Spracherhalt oder -verlust auswirken (cf. Casper 2002, 44; cf. Kap. 3.1.2 und 3.2.5). Dabei können Forschungsergebnisse von Nachbardisziplinen wie der Sozialpsychologie nutzbar gemacht werden: Einstellungen werden hier als ein Bestandteil der komplexen Selbstkonzepte von Individuen verstanden, die deren Handeln in sozialen Situationen kennzeichnen. Das Sprachverhalten ist wiederum von diesem Selbstkonzept abhängig (cf. Kap. 3.4.1).

3.2.4 Terminologische Abgrenzung von benachbarten Konzepten Die Abgrenzung des Konzepts Einstellung von benachbarten Begriffen wie Vorurteil, Stereotyp, Diskriminierung oder Mentalität ist ein schwieriges und vieldiskutiertes Unterfangen. Die folgende Einteilung koppelt die Konzepte Stereotyp, Vorurteil und Diskriminierung in Anlehnung an das in Kap. 3.2.2 beschriebene Dreikomponentenmodell an den Einstellungsbegriff. Einstellung kann demnach

|| 48 Diese Eigenschaften werden auch Stereotypen (cf. Kap. 3.2.4) zugeschrieben, was als Indiz dafür gelten kann, dass Stereotype als Unterform von Einstellungen gesehen werden können. Auf die enge Verbindung zwischen Einstellung, Vorurteil und Stereotyp weist auch Casper (2002, 60) hin.

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als Hyperonym für die oben evozierten Begriffe dienen; Stereotyp, Vorurteil oder Diskriminierung fokussieren ihrerseits bestimmte Bestandteile von Einstellungen, wenn das Einstellungsobjekt wie im vorliegenden Fall eine soziale Gruppe bzw. deren Sprache ist (cf. Cuonz 2014a, 53). 49

|| 49 Der Terminus Stereotyp wird durch die medienwissenschaftlich orientierte Arbeit Walter Lippmanns (1922) geprägt, der mit ihm «pictures in our heads», mentale Bilder, bezeichnet. Seiner Theorie zufolge wird die öffentliche Meinung durch ‘Bilder in den Köpfen der Menschenʼ gebildet, durch im Rahmen der Sozialisation herausgebildete «Denkprodukte», die er als Stereotype bezeichnet. Stereotype sind in diesem Sinne «Bewußtseinsprodukte, die es dem Menschen ermöglichen, die Wirklichkeit zu ordnen, bevor er die entsprechende Erfahrung gesammelt hat» (Schaff 1980, 40). Schaff (1980, 31) betont außerdem unter Rückgriff auf die Einstellungskomponenten, dass von einem Stereotyp dann gesprochen wird, wenn «unsere Emotionen, Werturteile und Haltungen im Sinn der Bereitschaft zu entsprechendem Handeln nicht eine Reaktion auf eigene diesbezügliche Erfahrungen» sind, sondern auf uns durch die Gesellschaft kollektiv vermittelte und nicht von unseren eigenen empirischen Erfahrungen abhängigen Empfindungen, Urteilen und Haltungen beruhen, also sozial übermittelt und dabei relativ stabil und resistent sind (cf. Schaff 1980, 33, 86). Der Begriff selbst ist dem Druckwesen entlehnt: Hier sind Stereotypen «fest miteinander verbundene Druckzeilen im Gegensatz zu beweglichen Lettern» (Bußmann 2002, 650s.), «also zwei Entitäten, die miteinander verkoppelt oder assoziiert sind, wie eben die soziale Gruppe und das Bild, das von ihr existiert» (Cuonz 2014a, 41). Ein Stereotyp ist als Teil eines kollektiven und durch Überfokussierung markanter Eigenschaften unter Vernachlässigung anderer Charakteristika vereinfachenden Kategorisierungsprozesses nach Quasthoff (1998, 48) ein «verbaler Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung, die in einer gegebenen Gemeinschaft weit verbreitet ist. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht». Auch den Konzepten Vorurteil und Diskriminierung, die ebenfalls im Rahmen dieses Teilkapitels thematisiert werden, liegen Kategorisierungsprozesse in Intergruppenbeziehungen zugrunde. Ein weiterer verwandter Begriff ist der vorrangig in der französischsprachigen Forschungsliteratur in Anlehnung an Moscovici und Foucault verwendete Terminus der représentations sociales, verstanden als im Alltag verwendetes kollektiv geteiltes System von Überzeugungen, wobei sich Attitüden in diesem Zusammenhang auf die persönliche Komponente kollektiv geteilter sozialer Repräsentationen bzw. Vorstellungen beziehen (cf. Putsche 2011, 66–75). In unserem Kontext leichter abzugrenzen ist der Begriff der Sprachreflexion, der eher in geistesgeschichtlich motivierten Untersuchungen Anwendung gefunden hat, und dessen Erkenntnisziel ausschließlich «das Denken über Sprache als solches», nicht aber eine angenommene Verbindung dieses Sprachdenkens mit Sprachverhalten ist (Scharloth 2005, 8). Genau aus diesem Grund des Nichteinbeziehens des tatsächlichen Sprachgebrauchs erscheint der Terminus im vorliegenden Fall auch weniger angemessen. Cf. zur Abgrenzungproblematik der Termini auch Scharloth (2005, 5–56) und Roth (2005, 13–48).

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Bei Stereotypen steht deren kognitive Beschaffenheit im Vordergrund, weshalb sie als «im Gedächtnis gespeicherte kognitive Repräsentationen50 von sozialen Begriffen» definiert werden können. Stereotype können positiv oder negativ sein, aber auch keine Wertung enthalten (Putsche 2011, 61s.). Sprache kann in vielfältiger Weise an ihrer Entstehung, Verbreitung und Konservierung beteiligt sein. So kann das Hören einer bestimmten Sprache oder Sprechweisen zunächst überhaupt einmal Stereotype (oder Vorurteile, s.u.) hervorrufen und dann in der Folge als Trägermedium für die Weitergabe und Bewertung dieser dienen. Dabei können einzelne sprachliche Impulse Konzepte aktivieren, die mentale Gruppenrepräsentationen hervorrufen (cf. Bourhis/Maass 2008, 45; Tajfel 1982). Eine besondere Form stellt das sprachliche Stereotyp dar, das mit Boyer (1990, 109, in: Fenoglio 1996, 678) als «représentation formalisée comportant un certain nombre de traits stéréotypés concernant, bien entendu, la langue, mais aussi le non-verbal» definiert werden kann. Vorurteile beziehen sich als Untergruppe von Einstellungen auf die affektive Komponente im Kontakt unterschiedlicher Gruppen und beschreiben eine negative Reaktion, Bewertung oder Einstellung gegenüber einer Gruppe. Sie sind also i.d.R. Werturteile negativer Art (cf. Roth 2005, 44s.), wobei in der vorliegenden Arbeit im Bereich der affektiven Komponente neben Vorurteilen auch positive Werturteile betrachtet werden sollen, weshalb dieser Begriff für die Beantwortung der Forschungsfragen weniger angemessen erscheint. Auf den konativen Part von Einstellungen zielt das Konzept der Diskriminierung51, das negative Verhaltensweisen von Mitgliedern einer Gruppe gegenüber denjenigen einer anderen beschreibt: «[D]iscrimination is a selectively unjustified negative behavior towards out-groups» (Bourhis/Maass 22005, 1487). Unter Diskriminierungsakten soll in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Wagner (2001, 13s.) die negative Bewertung einer Person unter Bezugnahme auf eine soziale Gruppe verstanden werden, was z.B. durch eine direkte Kategorisie-

|| 50 Zur Abgrenzung von Repräsentationen bzw. Konzeptualisierungen und Perzeptionen, cf. Kap. 3.3. 51 In Anlehnung an Allport (1954) liegt «Diskriminierung [...] vor, wenn einzelnen oder Gruppen von Menschen die Gleichheit der Behandlung vorenthalten wird, die sie wünschen. Diskriminierung umfaßt alles Verhalten, das auf Unterschieden sozialer oder natürlicher Art beruht, die keine Beziehung zu individuellen Fähigkeiten oder Verdiensten haben noch zu dem wirklichen Verhalten der individuellen Person». Soziale Diskriminierung kann also gewissermaßen als Konsequenz von Vorurteilen betrachtet werden, in dem Sinne, dass aus diesen eine Ablehnung bestimmter Personen resultieren kann, «einzig aufgrund deren Zugehörigkeit zu anderen Gruppen oder sozialen Kategorien» (Petersen/Six 2008, 161). Diese Erläuterung illustriert erneut die Interdependenz der Einstellungskomponenten.

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rung oder die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen erfolgen kann. Bezieht sich hingegen die Bewertung auf ein individuelles Merkmal einer bestimmten Person, das unabhängig von der sozialen Kategorie zu sehen ist, handelt es sich um eine Beleidigung und nicht um eine Diskriminierung. Baugh (1996, 709) definiert sprachliche Diskriminierung als ein inhärent soziales Phänomen, das als «evidence from culturally diverse speech communities suggests that language barriers are usually the product of social boundaries between groups» gelten könne. Der mit den bisher genannten Konzepten verbundene Begriff der Mentalität wird von Spitzmüller (2005, 57) als «Nährboden» bezeichnet, auf dem Diskurse gedeihen, in denen wiederum Einstellungen sichtbar werden können. Diskurse sind demnach versprachlichte Manifestationen von Mentalitäten, die deshalb durch die Untersuchung sprachlicher Verhaltensweisen und in diesen evozierten Einstellungen ermittelt werden können (cf. Spitzmüller 2005, 69s.).52 Das Konzept der Mentalität stammt aus der französischen Fachsprache (cf. Hermanns 2012, 8–15): In der Sprache und im Sprachgebrauch manifestiert sich, was Menschen in unterschiedlichen sozialen Gruppen, Kontexten oder Epochen «denken, fühlen, wollen». Einzeltexte zeigen individuelles Denken, Fühlen und Wollen; eine ausgeweitete Betrachtung des Sprachgebrauchs von Gemeinschaften, im Idealfall von Diskursen als größeren Textgeflechten53, dem «Königsweg der wissenschaftlichen Erkenntnis von Mentalitäten» (Hermanns 2012, 7), kann Aufschluss über das kollektive Denken, Fühlen und Wollen in einer Gruppe geben. Fachsprachlich kann unter einer Mentalität einerseits die Gesamtheit der kollektiven, gewohnheitsmäßigen Überzeugungen und Denkmuster einer Gruppe sowie andererseits die damit verbundenen kognitiven, affektiven und ethischen Dispositionen, diese auch weiterhin zu verfolgen, verstanden werden. Damit kann eine Mentalität also als «Gesamtheit von Dispositionen zu einer Art des Denkens, Fühlens, Wollens – die Gesamtheit der kognitiven, affektiven (emotiven) sowie volitiven Dispositionen [scil. der Einstellungskomponenten des Dreikomponentenmodells, JMG] – einer Kollektivität» definiert werden (Hermanns 2012, 10s.). Einstellungen sind demnach in die sie umfassenden Mentalitäten eingebettet und Teil von ihnen, wenn man Mentalitäten als «Teil|| 52 Zum Mentalitätsbegriff cf. auch Arendt (2010, 43ss.) 53 Ein von Hermanns (2012, 13, 23, 41) formuliertes Desiderat bezieht sich auf die Betrachtung größerer Diskurse, um zu gewährleisten, dass es sich nicht um idiosynkratische Wendungen von Einzelpersonen, sondern um den Usus einer gesamten Gruppe handelt. Zu einer Mentalität gehört nur, was in einer Gruppe usuell und generell ist, also in den Quellen seriell auftritt. Die vorliegende Studie unternimmt durch ein gesellschaftsumspannendes Sample in Kombination unterschiedlicher Methoden und Korpora den Versuch dieser geforderten Ausweitung.

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bereich des gewohnheitsmäßig Gedachten auffass[t...], der dem Wissen in anderen Teilbereichen zugrunde liegt» (Scharloth 2005, 47). Da sich Mentalitäten auf die Gedankenmuster von sozialen Gruppen beziehen, lassen sie sich erst durch eine umfassende Analyse des Gesamtdiskurses erschließen, in dem sie begründet liegen. In der vorliegenden Arbeit wurde keine Diskursanalyse, sondern eine qualitative Inhaltsanalyse auf der Basis von Interviews und teilnehmenden Beobachtungen angestrebt. Durch die Analyse der Werturteile und Einstellungsäußerungen kann lediglich eine Annäherung an die diesen zugrundeliegenden Mentalitäten erfolgen, weshalb der Begriff der Einstellungen in unserem Kontext als primärer Anknüpfungspunkt dienen soll.

3.2.5 Sprachloyalität und Sprachilloyalität Als Sonderformen der Spracheinstellungen können Sprachloyalität und -illoyalität verstanden werden. Kramer (1990, 15) spricht der Sprachloyalität unter den Sprachattitüden eine besondere Rolle zu, denn eine Gruppe «sieht in der eigenen Sprache ein Mittel, um sich von anderen Gruppen zu unterschieden, und einen Identitätsbeweis, der als Legitimation der eigenen Vollwertigkeit zu dienen hat; der normale Ausdruck eines derartigen Gruppenbewußtseins ist die Loyalität gegenüber der eigenen Sprache, d.h. der Gebrauch dieser Sprache unter mehr oder weniger allen Umständen und ihre Verteidigung gegenüber den anderen Sprachen».

Er bezieht sich in seinen Überlegungen auf die Definition von Sprachloyalität nach Weinreich, der ausführt, dass in der sprachsoziologischen Forschung zum Sprachkontakt mit dem Terminus Sprachloyalität eine Erscheinung beschrieben werden kann, die sich zu Sprache ungefähr so verhalte wie Nationalismus zu Nation. Eine Sprache könne wie eine Nation als eine bestimmte Menge von Verhaltensnormen verstanden werden und meine in diesem Sinne den Bewusstseinszustand, «in which the language (like the nationality), as an intact entity, and in contrast to other languages, assumes a high position in a scale of values, a position in need of being ‹defended›» (Weinreich 1953, 99). Sprachloyalität kann in diesem Sinne in einem Kontext drohenden Sprachwechsels als Versuch verstanden werden, die bedrohte Sprache zu schützen, als ein je nach Situation unterschiedliche Inhalte umfassendes Prinzip, in dessen Namen sich Mitglieder einer Sprachgruppe zusammentun, «to resist changes in either the functions of their language (as a result of language shift) or in the structure or vocabulary (as a consequence of interference)» (Weinreich 1953, 99). Weinreich unterstreicht weiterhin, dass ein Ansatz von Sprachloyalität in jedem Sprecher einer

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Muttersprache ruht, denn eine gewisse mehr oder weniger stark ausgeprägte affektive Bindung an die eigene Sprache, die man als Kind erlernt hat, wohne jedem Sprachbenutzer von Natur aus inne. Eine Abweichung von dieser Sprache sei dem Sprecher zunächst einmal zuwider. Sprachloyalität keimt in Kontaktsituationen, im Vergleich mit Mitgliedern anderer Sprachgruppen, in dem die eigene Sprachgruppe in Konkurrenz zu einer anderen Sprache tritt (cf. Weinreich 1953, 100; cf. dazu Kap. 3.4.1). Kramer (1990, 15) präzisiert diese Aussage dahingehend, dass dieses Konkurrenzgefühl umso eher entsteht, je kleiner die eigene Sprechergemeinschaft im Gegensatz zur größeren Kontaktgruppe erscheint. Ist in solchen Kontaktsituationen kein Bedürfnis, die eigene Sprache verteidigen und schützen zu müssen, vorhanden, sondern ist ein Mangel an Loyalität gegenüber der Muttersprache zu konstatieren, schlägt Kramer (1990, 16) den Terminus Sprachilloyalität vor und definiert: «Sprachilloyalität liegt vor, wenn Angehörige einer Sprachgemeinschaft statt der eigenen fremde Sprachen bevorzugen, weil sie ihre Muttersprache entweder als zu wenig geeignet für bestimmte Zielsetzungen oder als nachteilig für ihre politischen Überzeugungen ansehen». Dies ist z.B. der Fall, wenn die eigene Muttersprache in den familiären Bereich zurückgedrängt und wissenschaftliche, politische oder öffentliche Belange in einer anderen als der Muttersprache thematisiert werden und diese eine größere soziale Mobilität verspricht (cf. Guerrero Galván/San Giacomo 2014, 1478).54 Insbesondere dann, wenn eine Sprache vollständig kodifiziert ist und die mit ihr in Kontakt stehende Sprache weniger oder erst teilweise kodifiziert ist, wird die kodifizierte und prestigereichere Sprache bevorzugt: «Die Trennwand zwischen der Verwendung einer fremden Sprache aus Gründen der besseren Eignung für bestimmte Zwecke und ihrem Gebrauch aus Geringschätzung des Wertes des eigenen Idioms ist nur sehr dünn. Wenn das Prestige einer Sprache A sehr hoch und das einer Sprache B nur sehr niedrig ist, dann liegt es für Menschen, die auf sozialen Aufstieg erpicht sind, nahe, sich nur der Sprache A zu bedienen und möglichst nicht deutlich zu machen, daß sie eigentlich zur Sprachgemeinschaft B gehören» (Kramer 1990, 16s.).55

Mit anderen Worten: «Die Sprache, die jemand spricht oder auch nur versteht, kann darüber Aufschluß geben, welcher sozialen Gruppe er angehört, und wenn jemand seine Gruppenzugehörigkeit verändern will. Dann ist er gezwun-

|| 54 Cf. z.B. Berger (1988) zur Sprach(il)loyalität in der Bretagne. 55 Cf. hierzu die Ergebnisse der in Kap. 8.1 vorgestellten Studien zur Diskriminierung in Mexiko.

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gen, sein Sprachverhalten zu ändern – er muß also in vielen Fällen einer anderen Sprache gegenüber den eigenen Vorzug geben, er muß also illoyal gegenüber seiner Muttersprache sein» (Kramer 1990, 17). Diese Haltung ist zwar prinzipiell immer und überall möglich, aber umso häufiger zu beobachten, je größer die sozialen Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft sind. Eine bedeutende Voraussetzung der Sprachilloyalität ist deshalb in einem sozialen Minderwertigkeitskomplex zu sehen, im Rahmen dessen die eigene Sprache ebenso wie deren sozialökonomische Struktur gegenüber einer anderen Sprache mit ihrerseits anderen Strukturen minderwertig erscheint. Erst wenn die eigene Sprache und die mit ihr verbundene Lebenswelt positiver beurteilt werden, kann in von Sprachilloyalität geprägten Kontaktsituationen eine Entwicklung zur Sprachloyalität eingeleitet werden (cf. Kramer 1990, 17s.).

3.2.6 Zusammenfassung und Fazit zum Einstellungsbegriff Die vorhandene Vielfalt an Definitionen und unterschiedlichen Verwendungsweisen in Bezug auf den Einstellungsbegriff belegt die Notwendigkeit einer Festlegung des Verständnisses des Konzepts im vorliegenden Kontext. Einstellung oder die in dieser Arbeit synonym verwendeten Begriffe Attitüde oder Werturteil sollen hier als Oberbegriffe für verbalisierte Meinungen zu Sprachen und ihren Sprechern dienen, die interdependente kognitive, affektive und konative Bestandteile beinhalten können (cf. Cuonz 2014a, 40–45; Putsche 2011, 75– 78). Vorurteile, stereotype Vorstellungen oder Diskriminierungsakte werden als Unterkategorien von Einstellungen gesehen.56 Spracheinstellungen beziehen sich nicht nur auf die Sprache selbst, sondern auch auf ihre Sprecher und sind prinzipiell veränderbar. Eine besondere Form von Spracheinstellungen, Sprachloyalität bzw. -illoyalität, wird als positive bzw. negative Haltung gegenüber der eigenen Sprache verstanden, die in Mehrsprachigkeitskontexten in Konkurrenz zu einer tendenziell positiver bewerteten und sozialen Aufstieg versprechenden, dominanten Sprache steht. Diese Art der Spracheinstellung wird im Rahmen der Untersuchung der Vitalität des yukatekischen Maya als bedeutend angesehen und soll im korpusanalytischen Teil dieser Studie näher betrachtet werden. Ein für den vorliegenden Kontext treffendes Fazit findet Casper (2002, 92, Hervorh. i. Orig.):

|| 56 Im Rahmen der Korpusanalyse werden diese positiven, negativen oder neutralen Sichtweisen getrennt voneinander betrachtet.

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«In der jüngsten Zeit ist die Subjektivität der Einstellungen (d.h. wie wird die Realität von den Betroffenen tatsächlich wahrgenommen) und das Prozesshafte wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt. Einstellungen sollen in Verbindung mit und durch Elemente sozialer Prozesse, deren Teil sie sind, definiert werden. Damit wird auch ihre Entstehung und Entwicklung berücksichtigt und dadurch werden die vielen zusätzlichen Faktoren […] erfasst. Einstellungen sind nun dynamisch, kontextabhängig und funktionsbetont, nicht nur sie werden ausgehandelt […], sondern sogar das Einstellungsobjekt und die Identität des Einstellungsbesitzers […]».

3.3 Sprachbewusstsein: Sprachwissen und Spracheinstellungen Ebenso wie das Konzept der (Sprach-)einstellungen hat auch der Begriff des Sprachbewusstseins in unterschiedlichen Disziplinen verschiedene Ausprägungen erfahren und entzieht sich einer einheitlichen Definition.57 Die im vorherigen Kapitel thematisierten Spracheinstellungen gelten als Bestandteil des Sprachbewusstseins58 (cf. Cichon 2001; Scherfer 1983; Hentschel 2013; Ineichen 1981; Polzin-Haumann 2006). Dieses besteht wiederum aus der engen Verbindung zwischen dem Sprachwissen, i.e. der virtuellen, dem Sprecher bewussten Kompetenz und dem funktionellen Wissen über Sprachen und Varietäten, was Gauger (1992, 510) als internes Sprachbewusstsein bezeichnet, und dem externen Sprachbewusstsein, welches mit Sprechereinstellungen zu ihrem Sprachbesitz und der Tatsache, zu einer Sprachgemeinschaft zu gehören gleichgesetzt werden kann (cf. Kap. 3.2). Im Grad der Ausbildung dieses prinzipiell bei jedem Sprecher vorhandenen internen Sprachbewusstseins existieren jedoch erhebliche Unterschiede, weshalb Gauger die Abstufung zwischen einem durchschnittlichen oder alltäglichen, einem literarischen und einem sprachwissenschaftlichen Sprachbewusstsein vornimmt. Entgegen der Annahme, die der Begriff des Sprachbewusstseins suggeriert, dass die metasprachlichen Wissenssegmente dem Sprecher explizit und tatsächlich bewusst sein müssen, ist das Sprachbewusstsein im Bereich des «Vorbewussten aber prinzipiell Bewusstseinsfähigen

|| 57 Der Begriff der language awareness, der der deutschen Übersetzung Sprachbewusstsein sehr nah kommt, wird der Terminologie der Fremdsprachendidaktik zugeordnet und soll daher an dieser Stelle nicht verwendet werden. 58 Wegweisend sind u.a. die Arbeiten von Schlieben-Lange (1975), die den Begriff in die Soziolinguistik einführt, Ineichen (1981), Scherfer (1983), Gugenberger (1995) und Cichon u.a. (2001). Für eine gute und ausführliche Zusammenfassung in Bezug auf die Definitionsansätze und die Begriffsgeschichte cf. Scharloth (2005).

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anzusiedeln» (cf. Scharloth 2005, 10s.). Mattheier (1995, 16) erläutert diesbezüglich: «Es geht um das systematische und unsystematische Sprachwissen und die unterschiedlichen Handlungs- und Urteilsmotivationen, die bei einem Sprachgemeinschaftsmitglied bzw. in einer Sprachgemeinschaft verbreitet sind. Hierzu sollen alle Formen der geistigen Auseinandersetzung mit der eigenen und anderer Sprachlichkeit gezählt werden, also das relativ unreflektierte Alltagswissen über Richtigkeit und Angemessenheit von Sprachhandlungsmustern ebenso wie die differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sprache».59

Wie Spracheinstellungen ist auch das Sprachbewusstsein nicht direkt empirisch fassbar, sondern nur über die Analyse von metasprachlichen Äußerungen der Sprechergruppen sowie Beobachtungen ihres (Sprach-)Verhaltens im entsprechenden soziolinguistischen Kontext zu erschließen (cf. Scherfer 1983, 52s.; Gugenberger 1995, 100). Fenoglio (1996, 676) verortet die Beschäftigung mit dem Sprachbewusstsein in der Erforschung von Repräsentationen60: «En effet, ce à quoi renvoie l’expression ‹conscience linguistique› est une représentation. Cette représentation n’est pas en elle-même linguistique, elle est discursive. La conscience linguistique est un discours porté sur la langue. La ‹conscience linguistique› peut donc être abordée comme catégorie sociolinguistique de travail désignant un discours autoréflexif sur la compétence et la pratique linguistique. Il s’agit donc d’un discours d’ordre métalinguistique [...]».

Für den Sprecher kann das Sprachbewusstsein unterschiedliche Funktionen erfüllen: Es ermöglicht es ihm, eine Sprache oder Varietät zu identifizieren und || 59 In diesem Ansatz ist das Verständnis des Terminus in der vorliegenden Arbeit begründet, weshalb er der Verwendung verwandter Termini wie Sprachreflexion oder -ideologien vorgezogen wird, um den Akzent auf den Einbezug bewusster und unbewusster Wissensbestände und Einstellungen zu legen. 60 Auch Krefeld/Pustka (2010, 11) schlagen in Anlehnung an die psychologische Terminologie den Begriff der Repräsentation zur Beschreibung der mentalen Organisationsform dieses Sprachbewusstseins vor. Sie unterscheiden dabei «sprach(en)- und varietätenbezogen[e] Repräsentationen, die auf der konkreten Wahrnehmung sprachlicher Realisierungen basieren», die sog. «perzeptiv basierten Repräsentationen», die sie mit Perzeptionen betiteln, und Repräsentationen, die Teil des Sprachwissens sind, und deshalb auch unabhängig von konkreten Wahrnehmungsmomenten als solche abgerufen werden können. Repräsentationen sind das mentale Abbild von Einstellungen, die ohne einen Stimulus, also ohne direkte Wahrnehmung eines Merkmals, im Sprecher verankert sind. Repräsentationen und Perzeptionen beeinflussen sich gegenseitig: «So basieren Repräsentationen u.a. auf Perzeptionen und werden durch diese auch ständig modifiziert; gleichzeitig wird die aktuelle Perzeption durch bereits vorhandene Repräsentationen gesteuert und gefiltert» (Krefeld/Pustka 2010, 13s.).

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sich oder andere als Sprecher dieser Sprache zu klassifizieren, worin ein Beitrag zur Identitätsbildung des Sprechers liegt (cf. Scharloth 2005, 15). Das Sprachbewusstsein mit den darin einbegriffenen Spracheinstellungen ist deshalb eine konstitutive Komponente der Sprecheridentität (cf. Schlieben-Lange 1975, 199), da gerade im Erkennen, dass man nicht so spricht wie die Anderen, im Bewusstsein für das Anderssein im sozialen Vergleich (cf. Tajfel/Turner 1979) Identität konstruiert werden kann.61 Weiterhin hat das Sprachbewusstsein eine soziale Orientierungsfunktion, da es durch den Sprecher bei der Zuordnung und Kategorisierung von Personen, Situationen oder Institutionen unterstützt, «indem es sprachliche und sozio-situative Merkmale korreliert und so handlungsorientiertes Wissen bereitstellt» (Scharloth 2005, 15). In diesen Funktionen erkennen wir deutliche Parallelen zu den in Kap. 3.2.3 beschriebenen Einstellungsfunktionen, was als Indikator für die enge Verflechtung zwischen Sprache, Spracheinstellungen und Identität gesehen werden kann: «En la investigación actual, la identidad lingüística manifiesta en la conciencia lingüística se considera un componente fundamental de la identidad cultural, tanto colectiva como individual. Por conciencia lingüística se entiende el conjunto de las actitudes, la representación de todo lo que los hablantes piensan (componente emocional-valorativo) y saben (componente cognitivo) sobre la lengua. Puesto que son capaces de articular ese saber, es preciso explorar la conciencia lingüística a través de las reflexiones y comentarios metalingüísticos de los hablantes sobre ciertos fenómenos lingüísticos y su uso» (Helfrich 2008).

3.4 Identität Dieses Kapitel wendet sich im Anschluss an diese Überlegungen zur Verflechtung von Sprache, Spracheinstellungen, Sprachbewusstsein und Identität den folgenden Fragenkomplexen zu: Was ist Identität und wie lässt sich Identität definieren? Was hat Identität mit Sprache zu tun? Oder anders formuliert: Wie relevant ist Sprache für die Identität ihres Sprechers? Hat man nur eine (Sprach-)Identität oder können mehrere (Sprach-)Identitäten in einer Person koexistieren? Welche Rolle spielen

|| 61 Polzin-Haumann (2006, 101) legt dar, dass das Sprachbewusstsein in soziologischer Hinsicht die Grundlage von Zugehörigkeits- und Abgrenzungsprozessen bildet; in linguistischer Hinsicht umfasse es «Beschreibungs- und Bewertungskategorien, innerhalb derer Annahmen, Zuschreibungen, Wertungen, (Vor)Urteile, Stereotype etc. formuliert werden». Diese sollen im Rahmen der Korpusanalyse sichtbar gemacht und klassifiziert werden.

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in diesem Zusammenhang die soeben betrachteten Einstellungen sowie das Sprachbewusstsein des Sprechers bzw. der Sprechergruppe? Eine eindeutige und allgemeingültige Begriffsbestimmung ist aufgrund der Vieldeutigkeit des Identitätsbegriffs, der zahlreichen Definitionsoptionen in der Fachwelt und im Alltag und seiner mitunter inflationären Verwendung v.a. seit den 1960er Jahren ein schwieriges Unterfangen (cf. Haarmann 1996a, 218): Eine umfassende Darstellung der Definitionsansätze des Konzepts Identität wäre bereits für sich eine oder gar mehrere Forschungsarbeiten wert.62 Der Terminus gehört, so Spitzmüller (2005, 62), «zum Arsenal der schillernden Termini» und erfreue sich großer Beliebtheit, was die Herausbildung unterschiedlicher, sich teilweise widersprechender Bedeutungen begünstigt und diesbezüglich zu erwartende Kritik hervorgerufen habe.63 Auch Thim-Mabrey (2003, 1) erläutert in diesem Zusammenhang: «Jedes Unternehmen, das den Prozessen der Identitätsbildung, den dabei mitwirkenden konstitutiven und begleitenden Faktoren auf die Spur kommen will, stößt schon im All-

|| 62 An dieser Stelle muss daher eine Konzentration auf die für den vorliegenden Kontext zentralen Identitätsbegriffe erfolgen. Die Forschungsliteratur zu diesem Themengebiet ist schier unerschöpflich. So nehmen einige Autoren neben der hier vorgenommenen Unterteilung in personale und soziale Identität z.B. weiterhin die Abgrenzung einer narrativen (cf. LuciusHoene/Deppermann 2002; Morgenthaler García 2008), einer lokalen, nationalen oder globalen (Cuonz 2014a, 83–86) oder einer ethnischen Identität vor (cf. u.a. Zimmermann 1999, 223), welche in der vorliegenden Arbeit als ‘Unterform’ der sozialen Identität, die auf den kulturellen und historischen kollektiven Erfahrungen sowie Erwartungen einer Gemeinschaft basiert, verstanden wird. Wenngleich Sprache häufig als wesentlicher Marker für Ethnizität beschrieben wird (cf. Giles/Johnson 1987), ist der Gebrauch einer gemeinsamen Sprache keine notwendige Bedingung für die Entwicklung und Bewahrung einer ethnischen Identität (cf. Deumert 22004, 355s.). Auch die regionale Identität kann als Teilaspekt von sozialer Identität definiert werden, wenn die regionale Verankerung des Individuums als sozialer Fakt verstanden wird, der das Zusammengehörigkeitsgefühl von Gruppen mitbestimmt und gleichzeitig als Abgrenzungsparameter nach Außen fungiert (cf. Gleber 1994, 11; Frankenberg/Schuhbauer 1994, 17s.). 63 In besonderem Maße gilt dies für die kollektive Identität, ein «Plastikwort», das seit der 1990er Jahre Hochkonjunktur erlebt und dabei aber – vielleicht gerade durch seine inflationäre Verwendung u.a. in Medien und Politik – «semantisch sehr vage» bleibt (cf. Spitzmüller 2005, 62, cf. auch Bossong 1997, 65; Niehr 2014, 7). Zum Begriff der kollektiven Identität cf. auch PlaLang (2006, 128s.) und Naglo (2007, 15, Hervorh. i. Orig.): «Kollektive Identität kann so ganz im Sinne eines Nationalismus des Ethnos verstanden werden, der ein Volk als eine durch mehrere objektive Merkmale (Sprache, Kultur, Geschichte, Herkunft, Abstammung, Rasse, Sitten, Gefühlswelt, ggf. auch Religion) konstituierte, eindeutig abgrenzbare Gemeinschaft begreift». Aufgrund der Fülle der Definitionsmöglichkeiten und Verwirrungen um den Identitätsbegriff verzichten einige linguistische Arbeiten sogar gänzlich auf eine Definition von Identität (cf. Cuonz 2014a, 76).

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tagsverständnis des Wortes auf höchst komplexe und erklärungsbedürftige Konzepte – Echtheit, Übereinstimmung, Selbst, innere Einheit, Gleichheit –, die überdies alle, mehr oder weniger gemischt, auch in der Vorstellung von Sprachteilhabern eine Rolle spielen können, wenn diese reflektieren, was ihre eigene ‹Identität› prägt und womit sie sich ‹identifizieren›».

Mit der postmodernistischen und poststrukturalistischen Wende in den Sozialwissenschaften tritt in den 1980er und 1990er Jahren ein dynamischeres Verständnis der Verbindung zwischen Sprache und Identität an die Stelle des starren, essentialistischen Identitätskonzepts, das seine Ursprünge im Zeitalter der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert hat und die inhaltlichen Komponenten von Identität in ihrer Ausprägung als «quasinatürlich» betrachtete (cf. Naglo 2007, 15; cf. auch Kap. 1). Vielmehr wird heute davon ausgegangen, dass sich Identität aus mehreren «Merkmalbündeln» mit zum einen unveränderlichen (wie z.B. genetischen Merkmalen) und veränderlichen Komponenten zusammensetzt (cf. Haarmann 1996a, 224), wobei die Sprache eines dieser Merkmale sein kann: «Rather than organizing ourselves around putatively stable and objectively real categories, the conditions of life in late modernity require (and permit) mobility, flexibility and multiplicity» (Heller 2 2006, 1584), was sich in wachsenden Mobilitäts- und Migrationsprozessen, globalisierten Informationsströmen, grenzüberschreitenden Arbeitsplatzwechseln, Mischehen und anderen sozialen Phänomenen manifestiert und ein neues, flexibleres Identitätskonzept erforderlich macht. Durch interpersonale Kontakte und durch soziale Interaktion entstehen sprachliche Kontakte, die die Idee einer an eine einzige Sprache gebundenen Identität zum Wanken bringen. Der heutzutage gängige Gebrauch unterschiedlicher Sprachen in unterschiedlichen Kontexten, mit unterschiedlichen Personen und einer Fülle von Weltbildern macht neue Forschungsansätze und Identitätskonzepte notwendig, um den komplexen Verbindungen zwischen Sprache und Identität gerecht zu werden. In diesem Kapitel sollen einige im vorliegenden Forschungskontext zentrale Ansätze vorgestellt werden, wobei jedoch an dieser Stelle keine definitive Fixierung einer einzigen Definition erfolgen wird. Vielmehr soll durch das Aufzeigen identitätsrelevanter Komponenten ein Spektrum an Variablen präsentiert werden, die prinzipiell in der Konstruktion von Identität eine Rolle spielen können. Eine Festlegung auf im vorliegenden Feld bedeutsame identitätsbildende Elemente kann erst im Rahmen der Korpusanalyse, durch die Untersuchung des empirischen Materials und auf der Basis der Antworten der Interviewpartner, erfolgen. Dies entspricht einer zentralen Prämisse der qualitativen Forschung: Begriffe werden nicht a priori, statisch und theoretisch definiert und dann bis zum Ende der Untersuchung als solche beibehalten, sondern sind «vielmehr auf

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Daten gegründet, die aus der Beobachtung der sozialen Realität gewonnen wurden» (Lamnek 52010, 114).

3.4.1 Komponenten des Selbstbildes: Personale und soziale Identität Im Metzler Lexikon Sprache steht die logische Beziehung der Identität zweier Größen im Fokus: «Identität (lat. idem >dasselbe