In Novum Testamentum praefationes [3]
 3534741293, 9783534741298

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ERASMUS VON ROTTERDAM

AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN

ACHT BÄNDE LATEINISCH UND DEUTSCH

HERAUSGEGEBEN VON WERNER WELZIG

DRITTER BAND

ERASMUS VON ROTTERDAM

IN NOVUM TESTAMENTUM PRAEFATIONES VORREDEN ZUM NEUEN TESTAMENT

RATIO THEOLOGISCHE METHODENLEHRE

übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von GERHARD B. WINKLER

WBG� Wissen verbindet

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Veiwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in Und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WEG ermöglicht

5 ., unveränderte Auflage 2016

1995, 2., unveränderten Auflage 1990)

(unveränderter Nachdruck der Sonderausgabe basierend auf der

© 1967 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de ISBN

978-3-534-26778-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF)

978-3-534- 74129-8

INHALT Einleitung .

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VII

In Novum Testamentum Praefationes Vorreden zum Neuen Testament Paraclesis

·

Aufruf .

1 2

Methodus · Methode Apologia · Rechtfertigung Ratio seu Methodus compendio p erveniendi ad veram Theologiam Theologische Methodenlehre oder Verfahren, wie man zur wahren Gottesgelehrsamkeit gelangen könne

1 17

EINLEITUNG I Erasmus erblickte in einer unsicheren Zeit des Umbruchs und der Neubesinnung 1 das Licht der Welt. Mit einer genialen Sensibilität für alles Neue begabt, der ideale „Lernende", sah er sich der diffizilen Problematik seiner Zeit gegenüber. Eher eine hamletische Natur, war er nicht der Mann, mit einem kecken Schlag gordische Knoten zu lösen. Er, der Paulus 2 ein Chamäleon, ja sogar Christus 3 einen Proteus nannte, weil sie sich ohne Vorurteile und Fanatismen verschiedensten Lebenslagen und Menschen anzupassen wußten, nahm die gleiche Eigenschaft auch für sich in Anspruch. Und das empfand man, als sich die Ge­ müter im konfessionellen Bürgerkrieg erhitzt hatten, viel­ geschmäht als die Unverläßlichkeit des „homo duplex" Erasmus.4 Ihm, dem Theologen, Philologen, Dichter, dem geistreichen Literaten wurde das als Mangel angekreidet. Luthers Wort aus den Tischreden ist berühmt geworden: „Erasmus ist ein Aal. Niemand kann ihn greifen denn Christus allein. Der Mann ist doppelt." 5 Selbst Josef Lörtz8 meint in seinem sonst eher positiv gehaltenen Erasmus­ bild, den Humanisten nicht von jeder historischen Schuld freisprechen zu können, weil er in einer Krisenzeit nicht die 1 J. Lortz, Erasmus-kirchengeschichtlich. In: Aus Theologie und Philosophie. Festschrift für F. Tillmann zu seinem 75. Geburtstag, hg. von Th. Steinbüchel und Th. Müncker, Düsseldorf 1950, S. 282 f. und A. Auer, Die vollkommene Frömmigkeit des Christen. Nach dem Enchiridion militis Christiani des Erasmus von Rotterdam, Düsseldorf 1954, S. 23, bringen Belege für eine weitgehende theologische Unbe­ stimmtheit, um nicht zu sagen Unsicherheit, des ausgehenden 15. Jahr­ hunderts. 1 Ratio, S. 259. 3 Ratio, S. 233. ' A. Auer, aaO, S. 23 ff. 5 Tischreden 131. In: M. Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden Bd. l., Weimar 1912, S. 55, 32f. A. Auer, aaO, S. 23. 6 J. Lortz, Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrach­ tung, Bd. II., 21. Aufl., Münster 1964, S. 53 f.

VIII

Einleitung

radikale Unbedingtheit eines Heiligen und Märtyrers, son­ dern nur durchschnittliche Frömmigkeit und religiöses Mittelmaß aufgewiesen habe. Ähnlich könnte man wohl über Thomas More und John Fisher urteilen, wären sie nicht durch Umstände anderer Art zu letzter Stellung­ nahme gezwungen worden. In den lärmenden Zeiten des „tumultus", den Erasmus zutiefst verabscheute, des religiösen, politischen und sozia­ len Aufruhrs und der gewaltsamen Spaltungen mußte man Männer seines Geistes als feig und unentschieden mißver­ stehen. Man wollte klare Parteigänger, Partisanen. Erasmus mußte bei aller Klarheit seiner Stellungnahme etwa gegen Luther zwischen die Kampflinien geraten, seine Haltung denen unverläßlich erscheinen, die meinten, die echten An­ liegen der Reformatoren als harmloses Mönchsgezänk abtun zu können, und denen als Verrat, die in Gewaltlösungen eine Heilung der Zeit erhofften. Man glaubte Erasmus für lange Zeit totschweigen zu müssen. Erst in den letzten Jahr­ zehnten erleben wir etwas wie eine Erasmus-Renaissance. Man besinnt sich auf ihn, nachdem sich immer mehr die Ansicht durchsetzt, daß die konfessionellen Auseinander­ setzungen der Vergangenheit beide Teile auf lange Sicht ärmer gemacht haben. Man erinnert sich, daß Erasmus in seinem Leben wie in seinen Schriften immer auf das Ver­ bindende hinzuweisen trachtete und in seinem „Zurück zu den Quellen" den gemeinsamen Ursprung, Einigendes und Neubelebendes zugleich, freilegen wollte. Erasmus will und kann zu seiner Zeit keine theologische Summe mehr verfassen. Zu ungewohnt, zu umstürzlerisch, zu weitverzweigt erweisen sich die Probleme, die der theologischen Bewältigung harren. Erasmus weiß, daß er erst am Beginn einer Entwicklung steht ; für sie muß er durch seine Arbeiten an den Quellen, an Schrift und Kirchenvätern, neues Material oder das Werkzeug liefern. Das „Werkzeug " kennt er wohl, und in leidenschaftlichem Studium sucht er es sich zu erwerben, allein die Lösungen sind noch fern, einer anderen Generation überlassen. Nach einem Wort des Horaz will er selbst dienen „als Wetzstein,

Einleitung

IX

der scharf machen kann das Eisen, doch selbst nicht fähig des Schneidens"7• In seinem Bemühen, durch zahllose Editionen 8, Übersetzungen, Kommentare und Paraphrasen die notwendigen „positiven" Voraussetzungen zu schaffen, auf denen die „spekulative" Kraft künftiger Generationen von Theologen weiterbauen konnte, vergleicht er sich mit einem Wegweiser für spätere Geschlechter, der nach vor­ wärts und nach rückwärts zeigt, gleich jenen vielköpfigen Merkurstatuen, die auf Weggabelungen bisweilen aufge­ stellt werden und durch ihre Hinweise den Wanderer manchmal dorthin führen, wohin sie selbst niemals ge­ langen9. Aus Achtung vor der vollen Wahrheit, um die sich auch er, Erasmus, noch bemühen muß, zieht er ein bescheidenes Zuwarten voreiligen Definitionen vor, ver­ abscheut er streitbares Sich-Verschanzen hinter unbewie­ senen Thesen und grundloses Theologengezänk.10 Anderer­ seits blickt der Wegzeiger auch zurück ; Erasmus kennt und achtet die Vergangenheit, die Tradition ; so machte er sich nach einem Worte R. Newalds „zum Glied einer Kette und erhob sich über die vielen, die glauben, Endgültiges und Abschließendes vollbracht zu haben, das unverändert durch die Jahrhunderte seine Bedeutung bewahrt"11• Jedes Bemühen, einem Menschen im Urteil, besonders auch im historischen, gerecht zu werden, ist von vornherein 7

Methodus, S. 39. Ratio, S. 121. Horaz, Ars poetica, V, 304f.

8 Hier seien die Kirchenväterausgaben genannt: Hieronymus (1516),

Cyprian (1520), Arnobius (1522), Hilarius (1523), Irenäus (1526), Ambrosius (1 527), Augustinus (1528/29), Chrysostomus (1 530, in lateinischer Übersetzung), Basilius (1532). • Methodus, S. 39. Ratio, S. 109. 10 Erasmus polemisiert laufend im Tone der Devoten gegen die „Syllogismen", gegen die scholastischen Spitzfindigkeiten und damit wohl auch gegen eine zu extrem spekulativ eingestellte Schultheologie. Dabei muß man im Auge behalten, daß es den gesunden Wechsel zwi­ schen mehr spekulativer und mehr positiver Theologie im Laufe der Geschichte dieser Wissenschaft immer gegeben hat. Im übrigen ver­ steht Erasmus mehr von Thomas von Aquin, als man annehmen möchte. Vgl. Chr. Dolfen, Die Stellung des Erasmus zur scholastischen Methode, Osnabrück 1 936. 11 R. Newald, Erasmus Roterodamus, Freiburg i. B. 1947, S. 207.

X

Einleitung

zur Einseitigkeit verurteilt. Es soll daher auch im folgenden nur als Einführung versucht werden, das Bild des Erasmus zu skizzieren, wie es aus dem im vorliegenden Band ver­ einigten Schriften sichtbar wird. Die Einleitungen werden nur eine Seite vom „vielköpfigen" Wesen des Erasmus zeigen, nämlich Erasmus, den Theologen, der Cicero11 und Hieronymus1a in sich vereinen möchte, klassische Bildung, Sprachkultur und urchristliche Tradition, Rhetorik und Kerygma. Es spricht jedoch für die homogene Persönlich­ keit des Erasmus, daß das eher ungewohnte Bild des Bibel­ gelehrten, wenn auch abgewandelt in Stil, Form und Ton, erstaunlich mit dem des gepflegten Literaten, des beißenden Satirikers, des leidenschaftlichen Philologen und Sammlers klassischer Altertümer, des schlagfertigen Apologeten und Briefschreibers übereinstimmt. Das Geburtsjahr des Desiderius Erasmus (Gerard Gerards) liegt bekanntlich im Dunkeln wie seine Jugend und seine Herkunft, von der er nicht gerne spricht.1" In der ersten Auflage der >MethodusRatioParaclesis ad lectorem pium< mit ihrer Umschreibung der philosophia Christiana, etwas vereinfachend, einen direkten Niederschlag des devoten Erbes. Nicht nur aus pädagogischen Erwägungen widersetzten sich die Devoten der maßlosen Vermengung der Theologie mit bloß menschlicher Spekulation, mit irdi­ scher Philosophie. Erasmus macht sich ihre Ansichten zu eigen, wenn er mit Leidenschaft die neue philosophia Christiana propagiert. Dazu kommt vielmehr ein zweites Moment, das bereits bei den frühen Nominalisten Wider­ spruch erregt hatte: Es ist das ein überbetonter „Realismus", den die späte Scholastik hinsichtlich des Heilswirkens Gottes vertrat ; zu einseitig betonte man den „objektiven Vollzug der Heilsveranstaltungen"24• Beim Volk und beim ungebildeten Klerus wirkte sich das in mechanistischer, wenn nicht magischer Handhabung der Sakramente, der Sakramenta­ lien, des Breviers, des Ablasses und der liturgischen Riten aus. Alle Aufmerksamkeit galt dem opus operatum, weniger dem opus operantis. Wenn nun die Devoten auch dagegen ankämpften, so kehrten sie das „humanistische" Moment beim Heilswirken Gottes hervor, nämlich die innere Berei­ tung, die Belehrung durch die Wortverkündigung, das innere Gebet, mit einem Wort die Innerlichkeit. Aus diesen Zusammenhängen wird die Tatsache verständlich, daß Erasmus an zahllosen Stellen gegen den Mißbrauch der „Zeremonien" wettert, dagegen, daß man äußerliches, der in der Aufklärungszeit üblich gewordenen „praktischen Theologie" oder „Pastoraltheologie" bezeichnen kann. 11 K. A. Meissinger, aaO, S. 206f. "' A. Auer, aaO, S. 30; vgl. zum Folgenden die ausführliche theologi­ sche Abhandlung A. Auers, aaO, S. 152-1 80, mit dem Nachweis, daß es Erasmus nicht um ein bloß „innerliches" Christentum geht, um ein Christentum bloß „frommen Glaubens", sondern daß er trotz seiner Reformbestrebungen an der Sichtbarkeit der Kirche und der Heils­ einrichtungen festhält.

Einleitung

XIII

magisches Getue an die Stelle des Kultes der Herzen setzt. Hieher gehört es auch, wenn Erasmus hinsichtlich seiner Bibelübersetzung erklärt, er wolle die Vulgata des Hierony­ mus keineswegs verdrängen, man solle sie nur weiter beim öffentlichen Gottesdienst verwenden, seine, des Erasmus, Übersetzung sei dagegen zur Lesung und Betrachtung im stillen Kämmerlein gedacht.25 Diese in seiner Jugend erworbenen geistigen Voraus­ setzungen allein genügen jedoch noch nicht zu einem vollen Verständnis des Inhalts der in diesem Bande enthaltenen Schriften. Die bereitgestellten Elemente bedurften noch eines Katalysators; und das war für Erasmus die Theologie des John Colet. Durch sie erfährt Erasmus, daß klassische Bildung und philologische Methode neue Möglichkeiten des Zugangs besonders zum Neuen Testament eröffnen. Es wird mit Recht bezweifelt, daß Erasmus die Ausgaben der Kirchenväter, die griechische Edition des Neuen Testa­ ments, die Paraphrasen und Kommentare dazu ohne die entscheidenden Anregungen durch Colet überhaupt in An­ griff genommen hätte.26 Während Erasmus in den vor­ liegenden Einleitungsschriften auffallenderweise den Na­ men John Colets nicht erwähnt, beruft er sich am Schlusse seiner >ApologiaAnnotationes< (1444) zum Neuen Testament er 1 504 zufällig im Prämonstratenserkloster Parc bei Brüssel gefunden hatte ; diese bestärkten durch ihre Einwände gegen die kirchlich approbierte Vulgata in ihm die Über­ zeugung von der Notwendigkeit einer biblischen Text­ kritik. Die Veröffentlichung der >Annotationes< durch Erasmus bildet die Grundlage für die moderne kritische 26 Zum Thema Erasmus und die Devoten vgl. etwa P. Mestwerdt, Die Anfänge des Erasmus. Humanismus und „devotio modema". Hg. H. von Schubert (Studien zur Kultur und Geschichte der Reformation II.), Leipzig 1917. 21 K . Bauer, John Colet und Erasmus von Rotterdam. In: Fest­ schrift für H. von Schubert zu seinem 70. Geburtstag, hg. 0. Scheel (Archiv f. Refgesch., Ergänzungsband V), Leipzig 1929, S. 1 87 ; vgl. Auer, aaO, S. 45. 17 Apologia, S. 1 15.

XIV

Einleitung

Bibelwissenschaft28 und stellt zugleich die wichtigste Vor­ arbeit für die Herausgabe des Novum Instrumentum dar. Die Jahre nach 1 505 sind erfüllt von emsigen Vorbereitungs­ arbeiten ; Handschriften werden verglichen, Varianten �­ sammelt, Textstellen verbessert. Die Briefe aus dieser Zeit sind voll von Hinweisen über den Fortschritt der Arbeiten. Am 1 1. Juli 1 5 13 konnte Erasmus seinem Freund Colet melden: „Absolui collationem Noui Testamenti, nunc diuum Hieronymum aggredior." Dem Prior Servatius in Steyn gegenüber erwähnte er außerdem am 8. Juli 1 5 14 die umfangreichen Anmerkungen zu seiner Textausgabe : „ . . . supramille loca annotaui non sine fructu theologorum. "29 Für eine gerechte Beurteilung des Neuen Testaments von 1516 muß man beachten, daß Erasmus bei den Vorarbeiten, namentlich in England, bessere Handschriften benützt und verarbeitet hatte, als sie ihm für die endgültige Redaktion zur Verfügung standen. so Wenn man diese annähernd sechzehnjährige Vorberei­ tungszeit in Betracht zieht, dann wird man wohl die über­ stürzte Hast der ersten Ausgabe des Neuen Testaments, Anlaß dazu und Nebenmotive milder beurteilen. Dem Buchdrucker und Verleger Froben in Basel war es nicht entgangen, daß Kardinal Ximenez (1436-15 17) mit Hilfe eines erlesenen Stabes von Gelehrten und mit viel Geld bereits 1514 in Alcala den ersten gedruckten griechischen Text des Neuen Testamentes in der sogenannten Complu­ tenser Polyglotte herausgebracht hatte. Aus noch unge­ klärten Gründen war das Monumentalwerk von Rom bis 1 520 nicht zur Verbreitung freigegeben worden. Erasmus hatte, wie wir wissen, viele einflußreiche Freunde am eng­ lischen Hof, die ihrerseits in Rom viel vermochten. Ande­ rerseits besaß er innerhalb des Kardinalskollegiums mäch­ tige Bewunderer. Nicht bloß einmal lehnte er die Kardinals11 A. Bludau, Die beiden ersten Erasmus-Ausgaben des Neuen Testaments und ihre Gegner. In: Biblische Studien 7 (1902), S. 426. Vgl. auch A. Auer, aaO, S. 39, F. Heer, Erasmus, S. 16. H Vgl. auch A. Bludau, aaO, S. 431. IO K. A. Meissinger, aaO, S. 205.

Einleitung

XV

würde ab, die man ihm angetragen hatte.31 Papst Leo X . (1513-1521) war sein persönlicher Freund. Erasmus hatte

ihm schon am 28. April 1515 die Widmung seines Neuen Testamentes angeboten, nachdem er diesbezüglich bereits am 30. April 1514 mit befreundeten Kardinälen in Kontakt getreten war.32 Es erscheint daher die Vermutung, daß die Kurie im Interesse des Erasmus die Freigabe der Polyglotte von Alcala verzögert habe, keineswegs unbegründet.33 Übri­ gens hatte sich noch 1517 Kardinal Ximenez vergeblich bemüht, Erasmus nach Alcala zu verpflichten. Nun trachtete Frohen unter allen Umständen, Erasmus so schnell wie möglich für seinen Verlag zu gewinnen . „Frohen ersucht um dein Neues Testament, für welches er verspricht ebensoviel zu zahlen wie irgend ein anderer" , schreibt Beatus Rhenanus am 17. April 1515." Erasmus sagt zu, und in knappen sechs Monaten lag Anfang März 1516 erstmalig ein griechisches Neues Testament samt einer auf Grund des Urtextes besorgten Übertragung in das Lateinische und umfangreichen, etwa die Hälfte des Folio­ bandes füllenden Anmerkungen im Druck vor. Dazu kamen noch bei der ersten Ausgabe unsere drei Einleitungs­ schriften, die >ParaclesisMethodus< und die >ApologiaAnnotationes< wurden wiederum durch längere Vorreden eingeleitet und eine Schutzschrift von sechs Seiten Länge wurde vorausge­ schickt.36 Dieses Werk galt bei Erasmus und seinen Zeitgenossen als die Krone seines Schaffens, als seine Lebensarbeit. Die Bedeutung der Ausgabe liegt dabei nicht in ihrem wissen­ schaftlichen Wert. Es wurden für die Schlußredaktion schlechte Handschriften verwendet. Die Arbeit war über­ hastet: „Praecipitatum fuit verius quam editum", schrieb er am 2. November 1517 an Willibald Pirckheimer. Auch mit eigenwilligen Konjekturen sparte Erasmus nicht ; als die Zeit drängte und er in der Reuchlinschen Handschrift den Schluß der Apokalypse nicht vorfand, sah er sich ge­ nötigt, den griechischen Urtext aus dem lateinischen zu rekonstruieren. Dieser falsche Schluß fand sich noch in der 3. Ausgabe (1522).36 Was vielmehr der Arbeit ihren Impuls gab, der in ganz Europa verspürt wurde, war ihr reforma­ torischer Charakter. So konnte Erasmus am 9. August 1516 an Leo X . schreiben: „Nusquam terrarum non iam vulga­ tum opus." Erasmus war auf dem Gipfel seines Ruhmes an­ gelangt. Am Vorabend der Reformation wurde seine Bibel­ arbeit mit großer Einhelligkeit gepriesen. Noch war die abendländische Christenheit nicht gespalten. K. A. Meissin­ ger schreibt zur schicksalhaften Stellung des Erasmus in jener Zeit: „Wäre zwischen 1518-1520 der Streit im Sinne des Erasmus beigelegt worden, dann sähe das Problem der Bibelkritik offenbar ganz anders aus, als es heute aussieht. Da wäre das Charisma der Kritik, die Gabe der Unterschei­ dung (1 Kor 12,13) in der lebendigen Zucht der einen Kirche geblieben, statt auf der einen Seite ins Schranken­ und Formlose auszubrechen, auf der anderen aber jene Ängstlichkeit in allen Fragen der Kritik zu erzeugen, die seit 16 Eingehendere Beschreibung der beiden ersten Ausgaben: A. Blu­ dau, aaO, S. 436ff. H K. A. Meissinger, aaO, S. 205.

Einleitung

XVII

dem Konzil von Trient der katholischen Kirche anhaftet. "37 Damals wurde das Werk des Erasmus noch durch päpstliche Breven und kaiserliche Schutzschreiben in der ganzen Welt propagiert wegen ihres „Nutzens für das Studium der Theologie und des orthodoxen Glaubens überhaupt"38. Beide Ausgaben, die von 1 5 16 und die von 1 5 19, fanden reißenden Absatz, sie wurden in 3300 volumina verkauft, stellten bekanntlich Vorlage für Luthers Übersetzung dar und blieben bis ins 1 9. Jahrhundert offizielle Textausgabe für die lutherische Kirche.311 Den eigentlichen Stein des An­ stoßes bei der Ausgabe bildete jedoch nicht der griechische

Text, sondern die neue lateinische Übersetzung „secundum Graecam veritatem". Haben die Griechen die heiligen Schriften tatsächlich irrtumsfreier überliefert als die La­ teiner?'0 Hat die geheiligte Vulgata des Hieronymus bis jetzt wirklich nicht gestimmt? Diese Fragen muß Erasmus in seinen Einleitungsschriften immer wieder beantworten. Das „Zurück zu den Quellen" stellte nicht bloß die schwär­ merische Parole einer schwärmerischen Bewegung dar, son­ dern es ermöglichte wie das Teleskop des Galilei eine neue Sehweise, durch die traditionelle Fragen in einem neuen Licht erschienen. Wiederum war es weniger die Über­ setzungsleistung als solche als vielmehr der neue Weg, der gezeigt, das neue Prinzip, das erstellt wurde.41

17 K. A. Meissinger, aaO, S. 1 78. " Päpstliches Breve vom lO. September 1518, Allen, III, S. 387 f. 11 In Frankreich war sie bald in 100000 Exemplaren verbreitet; A. Bludau, aaO, S. 456. K. A. Meissinger, aaO, S. 205. Vgl. H. F. Rosenfeld, Luther, Erasmus und wir. Eine quellenkritische Betrachtung zu Luthers Übersetzung des N. T. In : Forschungen und Fortschritte 29 (1955), s. 313-317. • Brief an Martin Dorpius vom Mai 1515, Allen, II, S. 9o:ff . n Zur Beurteilung der Erasmischen Übersetzung vgl. neben A. Bludau, aaO, S. 457-472, auch H. Höpft, Kardinal Wilhelm Shirlets Annotationen zum Neuen Testament. Eine Verteidigung der Vulgata gegen Valla und Erasmus. In: Biblische Studien 13 (1go8), S. 97-215.

XVIII

Einleitung II

Die vorliegenden Schriften sind als Trabanten zum Neuen Testament entstanden und mit diesem, wie bereits erwähnt, anfangs März 1516 veröffentlicht worden. Sie finden sich noch zusammen in der zweiten Ausgabe des Neuen Testa­ mentes, Basel, März 1519, die kurze >Methodus< von 1516 hatte sich jedoch inzwischen zur >Ratio verae theologiae< entwickelt, einem umfangreichen Traktat, den sein Ver­ fasser bereits 1518 bei Theodor Martinus in Löwen als selbständige Schrift herausgebracht hatte.42 Die >Para­ clesis< findet sich noch in der dritten Ausgabe bei Frohen, Februar 1522; in der vierten, Basel, März ·1527, und der fünften, März 1535, unterbleibt dann ihr Abdruck, weil auch sie inzwischen eine weite selbständige Verbreitung gefun­ den hatte. Häufig mit der >Ratio< zusammen herausgegeben, erhält sie oft einen erklärenden Untertitel wie : >Paraclesis, id est adhortatio ad Christianae philosophiae studiumBibliotheca ErasmianaGold. Spiegel für Theowgen und Geistliche der christlichen Kirche
Paraclesis ad lectorem piumMethodus< und die >ApologiaMethodus< (und >RatioApologiaDe philosophia ChristianaDe doctrina Christiana< (397-426?) des heiligen Augustinus, anzuspielen. Diesen überaus einfluß­ reichen54 bibelwissenschaftlichen Traktat führt Erasmus IO Paraclesis, S. 14. 11 P araclesis, S. 32.

61 Ähnlich werden in der scholastischen Methode vor Behandlung einer These die möglichen Einwände vorweggenommen und nach gutem alten Rhetorenbrauch in die Beweisführung eingebaut. Erasmus steht auch formal tiefer in der scholastischen Tradition, als man auf Grund seiner Polemik annehmen könnte. 11 Vgl. W. Welzig, Erasmus von Rotterdam, Enchiridion, Hand­ büchlein eines christlichen Streiters, Graz 1 961, S. 9, die Ausführungen über den Titel >EnchiridionRatio< geäußerten Ideen.'3 Ferner ist die Formulierung mit absichtlichem Gleich­ klang gegen die Theologie der Syllogismen und Konklusio­ nen gerichtet, gegen eine Gottesgelehrsamkeit, die in rein menschlichen Spekulationen befangen, den Kontakt mit dem Wort Gottes verloren hat und zur bloßen Menschen­ weisheit herabgesunken ist. Dieser Menschenphilosophie wird die neue „philosophia Christiana" gegenübergestellt, die weder Aristoteles noch Plato, sondern Christus folgt. 11 Vgl. Schluß von >De doctrina Christiana< IV, 31; PL 34, 122: „Ego tarnen Deo nostro gratias ago, quod in his quatuor libris non qualis ego essem, cui multa desunt: sed qualis esse debeat, qui in doctrina sana, id est Christiana, non solum sibi sed etiam aliis laborare studet, quan­ tulacumque potui facultate disserui." '° Siehe Anm. 51. •1 Exordium Magnum, PL 185, 109. H P. Salmon, Monastic Ascetism and the Origins of Citeaux. In: Monastic Studies 3 (1965), S. 131, Anm. 24. n Geradezu als Begleittext zur >Rati0< mit vielen Stellenverweisen P. Norber, Lectio vere divina : St. Bemard and the Bible. In: Monastic Studies 3 (1965), S. 165-181.

XXIV

Einleitung

Diese „Philosophie" ist eine Wissenschaft „von oben", nicht vom Menschen. Die bekannte Stelle Jak 3,13 „quae de sursum est sapientia" gibt Erasmus mit „sapientia vere theologica", mit „wahrhaft theologische Weisheit" wieder.84 Schließlich stellt die „philosophia Christi" für Erasmus den Inbegriff aller Erneuerungs- und Reformbestrebungen seiner Zeit dar. Sie ist Renaissance und Reformatio in einem. In diesem Sinne definiert Erasmus die Formel selbst in der >ParaclesisParaclesis ad lectorem pium< den ganzen Glanz klassischer Beredsamkeit auf, der auch heute noch bei der Lektüre suggestiv zu wirken vermag.66 Die Philosophenschulen kennen alle ihren Plato, ihren Aristoteles, ihren Pythagoras. Nur die Christen und die christlichen Theologen kümmern sich weder um Christus noch um seine Lehre. 67 Diese über­ ragt alle Weisheit der menschlichen Schulen. Sie stammt nicht etwa aus Ägypten, aus Syrien oder Babylon, sondern „ex ipso coelo" .68 Sie ist eine lebendige Weisheitskraft, die weiteste Kreise zu erfassen versteht, alles durchdringt, was sich ihr gläubig öffnet, und für hoch und niedrig gleicher­ maßen wertvoll ist.69 Weil Christus nicht wollte, daß diese Philosophie bloß einigen Gebildeten verständlich sei, son­ dern auch der breiten Masse, daher müssen die heiligen Schriften von Schottland bis zur Türkei in die verschie­ denen Volkssprachen übersetzt und vom gewöhnlichen Volk gelesen werden.10 Warum sollte die Lehre allein wenigen vorbehalten sein, wo doch die Sakramente und das ewige Ziel allen gemeinsam sind. Auch ein Bauer oder Leinen­ weber kann wirklich „Theologe" und „Doktor" sein, nicht wenn er gescheit über die Engel disputiert, sondern wenn er ein „engelgleiches Leben" führt.71 Wenn man etwas an­ deres als diese „Lebenstheologie" betreibt, unterscheidet man sich in nichts von einem Heiden.72 Die drei verant11 Der lwmo duplex Erasmus weiß bezeichnenderweise in einem Satz über die Kunst der Rhetoren abfällig zu urteilen, vgl. S. 7, sie dabei aber selbst bestens auszuüben. 17 s. 9· 18 S. 10, 11 „ At rursum ita non deest infirmis, ut summis etiam sit admirabilis." s. 12. 70 „Omnes mulierculae legant evangelium, legant Paulinas epistolas." s. 14. 71 s. 19. 71 s. 2 1 .

XXVI

Einleitung

wortlichen Stände, Fürsten, Bischöfe und Lehrer, müssen dafür sorgen, daß dieses praktische Christentum der Ju­ gend vermittelt wird . Diese Art der Philosophie gründet „in affectibus verius quam in syllogismis", sie ist „vita magis quam disputatio".73 Und es sei niemandem verwehrt, ein Theologe zu sein. 74 Während heidnische Philosoph'en darnach trachten, auf die Lebensführung ihrer Anhänger Einfluß zu nehmen, tun wir Christen, als ob die Lehre Christi für das praktische Leben ähnlich wie das mosaische Gesetz überholt sei. 76 Aus keinen anderen Quellen kann die Philosophie Christi besser gelernt werden als aus den Evangelien und den Apostelbriefen. Alle unsere Lebens­ fragen sind darin behandelt und gelöst, man muß sie nur fromm, betend und auf Lebensänderung bedacht lesen. Christus ist das Heilmittel für alle Not ; er hat uns ver­ sprochen, bei uns zu bleiben „usque ad consummationem saeculi", Mt 28,20 ; dieses Gegenwärtigsein erfüllt er in den heiligen Schriften ; da atmet er, da lebt er, da spricht er zu uns ; da ist er uns besser zugänglich als vielen seiner Zeit­ genossen. Die heiligen Schriften sind wie die Briefe eines guten Freundes, die man liest, aufhebt, immer wieder über­ denkt und nochmals liest ; und gelehrte Theologen nehmen keine Notiz davon.76 Alle Großen der Geistesgeschichte ver­ blassen vor dem Einen, von dem der himmlische Vater selbst gesagt hat : „Ipsum audite - Ihn sollt ihr hören !", Mt 3,1 7 ; 1 7 ,5 . Er ist der „unicus doctor". Petrus wurde be­ auftragt, seine Schafe mit dem guten Futter der „doctrina Christiana" zu nähren.77 Und die übrigen Apostel, etwa Paulus und Johannes, sind sie nicht gleichsam eine Wieder­ geburt Christi?78 Die Aufgabe der Apostel ist es, uns die Lehre Christi schmackhaft zu machen. 78 71 s. 22. s. 23. 76 s. 27. 71 s. 29. 77 s. 32. 7 1 s. 33· " Vgl. S. 35 · „

Einleitung

XXVII

In der >Methodus< fragt der fiktive Leser den Verfasser, wie man „ad laudatam illam philosophiam" gelangen könne. „Viam magis et rationem indica!"80 Dem Aufbau von >De doctrina Christiana< weithin folgend, erarbeitet der Autor vorerst die Voraussetzungen für eine richtig betriebene theologische Wissenschaft. Erstens braucht es sittliche Vor­ bedingungen : vor allem einen lernbegierigen, von allen verkehrten Leidenschaften reinen Geist.81 Ferner soll sich niemand entmutigen lassen, die drei biblischen Sprachen gründlich zu erlernen. Alle sonstigen Wissenschaften kann man vielleicht entbehren, nicht aber die philologischen.82 Auch die Vulgata allein genügt nicht. Vieles am Urtext bleibt unübersetzbar. Seit Hieronymus wurde viel am Text verdorben.83 Selbst heilige Kirchenväter haben man­ gels entsprechender Hebräischkenntnisse geirrt.84 Ferner muß im Sinne des Augustinus das Studium der sieben freien Künste, das heißt die Grundlegung einer soliden humanistischen Allgemeinbildung betrieben werden, bevor man sich an die heilige Wissenschaften wagt. Allgemein­ wissen, auch in naturwissenschaftlichen Belangen, ist sehr nützlich, um Fehlinterpretationen zu vermeiden.85 Auf die Ausbildung in Grammatik, „Rhetorik" (Dichtungslehre) und „Poetik" (Dichtkunst}, muß man größten Wert legen, weil ja die „professio theologica magis constat affectibus quam argutiis".86 Man soll die angeführten Wissenschaf­ ten nicht als kindisch und unernst abtun. Die Theologie müsse nämlich auch lebendig und ansprechend dargestellt werden. Paulus habe die Poeten zitiert, niemals aber einen Aristoteles oder Averroes. Das alles sind zwar wich­ tige Voraussetzungen für ein richtiges Theologiestudium ; es ist aber für einen, der zur Theologie bestimmt ist, gefähr­ lich, sich sein Leben lang mit profanen Wissenschaften abao

S. 38.

11 s. 41.



s. 43 f. s. 45. " s. 45. 88

II $. 49 f.

11 S. 50.

XXVIII

Einleitung

zugeben. Jede Wissenschaft muß auf ihre adäquaten auctores zurückgreifen. Die profanen Autoren kann man im schlimmsten Fall missen, das hängt von der Zeit und von der Kultur ab, auf die Quellen unserer Philosophie können wir aber nicht verzichten.87 Nach diesen Voraussetzungen muß dem jungen Theologen ein kurzer Abriß der grund­ legenden Lehren Christi, namentlich die Bergpredigt, dar­ geboten werden.88 Dazu kommt ein gründliches Studium des Lebens J esu.89 Hierauf sind für die eigentliche Schrift­ deutung wichtige hermeneutische Grundsätze zu beachten. Man muß bei den einzelnen Schriftstellen jeweils überlegen, in welchem Sinne sie gebraucht sind, ob im wörtlichen, über­ tragenen, allegorischen oder anagogischen.90 Um zu ver­ meiden, daß einzelnen Stellen ein falscher Sinn untergelegt wird, lasse man sie selber sprechen, man unterschiebe ihnen keine vorgefaßten Meinungenlll und achte auf den Zusam­ menhang. Die Bibel erklärt sich am besten selbst. Man sammle daher Parallelstellen, ordne sie nach bestimmten Themenkreisen und notiere, was man sonst noch in diesem Zusammenhang bei anderen Autoren findet.92 So mache man sein Herz zu einer Bibliothek für Christus, man hält die Schätze allzeit bereit und geordnet für den Bedarfsfall. Das sind die sichersten Quellen. Mit Schriftkommentaren dagegen sei man vorsichtig und man lasse Kritik walten.93 Im übrigen glaube man als Theologe nicht, überall Antwort geben zu müssen, namentlich wenn es sich um ehifurchts­ lose Fragestellungen handelt. Die weltlichen Studien der scholastischen Schulen soll man nur ruhig betreiben, man darf aber nicht vergessen, daß . man sie gelegentlich für Wichtigeres beiseitelassen muß.94 8 7 s. 57· 88 s. 59 · „

s. 6 1 .

t o s. 61.

11 „ Sunt, qui secum afferunt decreta et his servire cogunt sacram scripturam" ; S. 6�. „ s. 65. „ s. 7 1 . " s. 75.

Einleitung

XXIX

Wie bereits aus dem Untertitel der >Ratio seu compen­ dium verae theologiae< (1518, 1 5 1 9) ersichtlich ist, geht es in der erweiterten Schrift um mehr als eine Methodenlehre ; Erasmus versucht einen kurzgefaßten Abriß einer „wesent­ lichen" Theologie. Es ist eine Art Verkündigungstheologie, die, wie wir unten sehen werden, neben den Kategorien des „bonum" und „verum" die häufig vernachlässigte Kate­ gorie des „pulchrum" zur Geltung bringen will.96 Der Ab­ schnitt über die biblischen Hilfswissenschaften geht weit über die Vorlage bei Augustinus hinaus. Die ganzheitliche, synthetische Methode der Dichter wird gegen die analy­ tische Tendenz des Philosophierens hervorgehoben.98 Neu sind die ausführlich behandelten Gesichtspunkte, daß bei der Schrifterklärung neben dem Zusammenhang97 auf die Standpunkte , die Rollen (personae)"8 der Sprechenden, ebenso die verschiedenen heilsgeschichtlichen Epochen (tempora)99 und die Stände innerhalb der Kirche (circulijlOO zu achten ist, durch die, für die und in denen gewisse Wei­ sungen und Lehren Christi ergehen. In der Christologie geht es dem Autor nochmals darum, die wundervolle Geschlossenheit der Persönlichkeit Jesu trotz aller überraschenden Vielseitigkeit hervorzukehren. Leben und Lehre, Wort und Tat, Zeichen und Wunder fügen sich in ihm zu einer kontinuierlichen Einheit, zu einer per­ fekten „unitas in varietate". lOl Ebenso kontinuierlich lebt Christus in der Urkirche der Apostel fort.102 Auch bei Petrus und Paulus ist der Wille, in Einheit „allen alles" zu sein, bestimmend. Aus dieser bibeltheologischen Lehre von Christus und der Kirche ergibt sich bruchlos die Erasmische 15 Vgl. zu ähnlichen Strömungen in der neueren Theologie H. U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, l. Bd. : Schau der Gestalt, Einsiedeln 1961. „ s. 161 ff. 17 s. 179 · „ s. 179 ff. „ s. 185 ff. 100 s. 193 ff. 101 s. 2 1 7 ff. lOS 5. 259 ff.

XXX

Einleitung

Sittenlehre. Nach der Erarbeitung des negativen Aspekts, der Mängel, Leidenschaften und Sünden, die die Übernahme der philosophia Christi erschweren oder verhindern103, ent­ wickelt er eine biblische Tugendlehre, in der er wiederum die theologischen Tugenden des Glaubens und der Liebe besonders ausführlich behandelt.1°' Ein brennendes An­ liegen in diesem Zusammenhang ist ihm die Frage des Friedens und der Eintracht, für die er, vom Beispiel Jesu und der Apostel ausgehend, Antwort für seine Zeit sucht. An diese grundsätzlichen Erörterungen schließt der Autor die Fragen der biblischen Hermeneutik an. In einem Ab­ schnitt über allgemeine Probleme der biblischen Exegese166 befaßt er sich vorerst mit Fällen von falscher Auslegung108 , um von daher Methoden und Grundsätze adäquater Exe­ gese zu entwickeln. Nach einer ausführlicheren Gegenüber­ stellung der zwei Wege, des der spekulativen und des der positiven Theologie, zeigt Erasmus im Anschluß an das 4. Buch von >De doctrina Christiana< die schlimmen Folgen einer inadäquaten Theologie für die praktische Wort­ verkündigung, die Predigt, auf.1°7 Die Theologen leiten ihren Ehrennamen vom Worte Gottes her ; sie sollen sich dessen bewußt sein und das anvertraute Gut treu und unverfälscht weitergeben.108 Auf Einwände, Ratschläge und Schwierigkeiten, die ihm im Laufe seiner Arbeit am Neuen Testament vorgetragen wurden, und auch dem fiktiven adversarius antwortet Erasmus in seiner >Apologia< (1516).1011 Er freue sich, ange­ klagt wie Paulus vor Agrippa, für die Wahrheit eintreten 101 s . 269 ff. 1°' s . 297 ff. 106 s . 43 1 f. 108 s . 433 ff. 107 s . 481 ff. 108 s . 493 · 10• In der >Bibliotheca Erasmiana< sind eine ganze Reihe von Apo­

logien verzeichnet, die Erasmus zu allen möglichen Gelegenheiten ver· faßt hatte. Ähnliche Gedanken wie in der vorliegenden >Apologia< finden sich schon in der Vorrede zu den >Annotationes< (1 505) des Laurentius Valla, vgl. A. Bludau, aaO, S. 427, und in dem Brief an den Benediktinerabt Paul Volz (1518).

Einleitung

XXXI

zu können. Es werfe ein schlechtes Licht auf die Kritiker, wenn sie ohne die entsprechenden wissenschaftlichen Vor­ aussetzungen, namentlich die nötigen Sprachkenntnisse, eine Frucht des Fleißes, die nur ihrem Nutzen dienen soll, leichtfertig aburteilen. Das sei undankbar genug.110 Von Theologen müßte man mehr Aufrichtigkeit, Dankbarkeit und Sanftmut erwarten. Er, der Autor, verzichte gern auf Anerkennung, wenn er nur wie ein gewissenhafter Arzt dem widerstrebenden und schreiendenPatienten helfen könnte.111 Vor allem erbitte er sich positive Kritik. Dafür sei aber ein gründliches Studium der Quellen, der Schrift und der Väter, notwendige Voraussetzung. Er sei gerne zum Widerruf bereit, falls er nach Menschenweise geirrt haben sollte.11Z Nach dieser apologetischen Einleitung wird der Hand­ schriftennachweis erbracht.118 Zahllos seien die Fehler­ quellen, denen die Abschreiber im Laufe der Jahrhunderte ausgesetzt gewesen seien. Schriftvarianten erfordern Aus­ wahl oder Änderung, sie seien aber nicht notwendig ein Übel. Man denke nur an die christlichen Bibeldichtungen, in denen trotz verbaler Änderung Wertvolles zum Ver­ ständnis der Schrift beigetragen worden sei.m. Es solle weder die Vulgata verdrängt, noch die Bibel als solche ver­ bessert werden. Ausmerzen müsse man nur die Überliefe­ rungsfehler .116 Jede Übersetzung bringe notwendig eine Änderung des Originalsinnes mit sich. Trotz einer großen Zahl von Varianten sei die amtliche kirchliche Übersetzung im wesentlichen nicht verderbt. Außerdem hätten selbst die Apostel die heiligen Schriften nicht abergläubisch oder skrupulös zitiert. Übrigens sei es doch merkwürdig, daß jeder Windbeutel die Heilige Schrift verderben dürfe, und einem, der mit den besten wissenschaftlichen Voraus­ setzungen ausgestattet ist, sollte es nicht erlaubt sein, diese uo s . 8 1 . 111 s . 83 f. U I S. 8 5 . 111 s . 87 f. 11& s . 9 5 · 111 s . 95.

XXXII

Einleitung

Fehler wieder gutzumachen?116 Hieronymus sei sein bester Anwalt ; er habe seinerzeit das gleiche getan wie er, Eras­ mus. Auch er revidierte die alte lateinische Version nach dem Urtext.117 Sollte man in seinem Text etwas Anstößiges finden, dann vergleiche man es erst mit dem griechischen Original. Er, der Herausgeber, bestehe nicht absolut auf seinen Lesearten ; daher lasse er im kritischen Apparat (in den Annotationes) auch divergierende Lesarten abdrucken. Der Leser möge sich selbst ein Urteil bilden.118 Heute be­ sitze man gegenüber den Alten den großen Vorteil neuester philologischer Errungenschaften.119 Daher möge auch nie­ mand die Grammatik verachten. Ein einziges Komma könne schon, falsch gesetzt, einen häretischen Sinn ergeben, wie auch Augustinus bereits nachgewiesen habe. Der Verfasser sei sich bei seiner Übersetzung bewußt, daß man nicht jedem Geschmack recht tun könne. Den einen werde sein Latein zu wenig ciceronianisch sein, den anderen zu fremdartig und zu klassisch ; den einen werde er zu konservativ, den anderen zu fortschrittlich sein. Wenn er die Wahl habe, wähle er lieber die Schlichtheit. Im übrigen halte er sich an den Grundsatz, daß sich Gott zwar durch grammatikalische Fehler nicht beleidigen lasse, daß sie ihn aber auch nicht sonderlich freuten.120 IV Im Bemühen um eine praktische, einfache, „existenti­ elle"121 Theologie geht Erasmus, wie bereits erwähnt, von seinem Begriff der philosophia Christiana als einer renas­ centia, einer „instauratio bene conditae naturae"122, aus. Es handelt sich um jene keinem Menschen ersparbare reformatio lH S. 101.

U7 s . lOJ. s . 107. Ut s . i 09 ff. 1U

uo S. u5. 111 A. Auer, aaO, S. 46f. 111 Paraclesis, S. 2 2.

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XXXI II

continua, die Wiederholung und Vertiefung der einen Wiedergeburt aus dem Wasser und dem Heiligen Geist, Jo 3,3ff. Erasmus verwendet zwar das Wort „reformatio" nicht direkt und wählt gelegentlich nur den Begriff „trans­ formatio"123, wo er davon spricht, daß die Offenbarungs­ wahrheit ins Leben hineinverwandelt werden soll ; sachlich geht es ihm aber um eine Reform auf allen Gebieten. Sie ist der Leitgedanke, der sich durch die vier vor­ liegenden Schriften zieht und auf den man die Vielfalt aller theologischen, kirchen- und gesellschaftspolitischen Äuße­ rungen zurückführen kann. Erasmus beginnt seine Reform­ arbeit beim Einzelmenschen (r�formatio anthropologica) ; es geht zu allererst um die Wiedergeburt der „anima naturaliter Christiana"12'. Diese Reform des Menschen, des Einzelmenschen, kann aber nur von Christus aus, dem „unicus scopus" der Menschheit, erfolgen. Christus spricht in den heiligen Schriften zu uns und wird so in unserer Mitte gegenwärtig. Daher muß allen Christen ein Zugang zu diesen Quellen er­ öffnet werden. Das geschieht durch die Arbeit an der Bibel : durch Textverbesserung, durch Ausgaben, Übersetzungen, Kommentierungen. Das ist die reformatio biblica. Diese Arbeit, die erste Erforschung der genuin christ­ lichen Lehre und ihre Vermittlung an das Volk, ist den Theologen übertragen. Daher müssen die künftigen Theo­ logen neu geschult werden. Das akademische System der Spätscholastik wurde dem Worte Gottes (philosophia Christi) weithin nicht mehr gerecht. In einer Erneuerung der theologischen Studien (reformatio academica) müßte durch Vermittlung der philologischen Voraussetzungen und 111 Paraclesis, S. 22. 1" Ähnlich wie Nikolaus von Cues spricht Erasmus den alten heid· nischen Autoren keineswegs den Wahrheitswert ab. Vieles, was Christus später lehrt, fände sich schon bei den heidnischen Philosophen von Sokrates bis Epikur; Paraclesis, S. 25. Der wahre Schüler Christi müsse sich aber darüber hinaus für die spezifisch christlichen Forderungen interessieren. Erasmus geht demnach über ein bloßes Wiederherstellen der geschändeten Natur hinaus.

XXXI V

Einleitung

des universalen Bildungsgutes des Zeitalters zuerst den Fachtheologen der Zugang zu den Quellen ermöglicht wer­ den. Der neue Theologe weiß sich zwar der Tradition ver­ pflichtet, er nimmt das Zitat ernst, er steht aber auch den ehrwürdigsten Väterquellen mit der Gabe der Kritik und selbständiger Meinung gegenüber. Die auf Verkündigung und praktische Wirksamkeit be­ dachte Theologie dringt nicht nur durch schlichte, klare, bildhafte, von Vätern und Bibel her inspirierte Sprache in die Herzen der Gläubigen ein, sie stellt darüber hinaus eine schlichte, ganzheitliche Theologie dar, eine perfekte „unitas in varietate", eine „complexio oppositorum", die als solche ästhetisch wirkt und lustbetont das Schönheitsempfinden, die „affectus" anspricht. Diese neue ästhetische Theologie (reformatio aesthetica) sucht lieber in einer Vielfalt von poetischen Bildern einen Gedanken einprägsam zu gestal­ ten, als daß sie in verwirrender Weise einen einfachen Ge­ danken in gedachte Elemente zu zerlegen trachtete ; sie läßt sich aber nicht nur in der äußeren Sprechweise mehr von der Poetik als von der Analytikl.26 leiten, vielmehr ist ihre Harmonie, ihre Einfalt, ihre Geschlossenheit, ihr liebens­ wertes Fascinosum, ihre Wirksamkeit in der Wurzel selbst, nämlich in der Person Christi, begründet. In seiner Person findet sich eine perfekte Einheit von Göttlichem und Menschlichem, von Wort und Tat, von Sein und Schein. Aus dieser Fülle und Geschlossenheit heraus, die Erasmus „harmonia", „concentus" u . ä. nennt1111, versteht er es auch, sich allen Geschöpfen anzup�sen, sich zu „akkommodie­ ren", nichts abzustoßen, vielmehr alles zu gewinnen. Die ästhetische Theologie sucht notwendig immer wieder die Inkarnation, die „ Gestalt", die Verwirklichung ; und das ist das praktische Christenleben. Es gibt bei ihr keinen „Stilbruch", auch nicht den zwischen Theorie und Praxis.127 111 Hethodus, S. 51lf. 111 Ratio, s. 222 lf.

117 Das hatte Erasmus bei seinen Freunden in England nachhaltend beeindruckt.

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XXXV

Ihr wird nie der Lebenskontakt fehlen, sie wird wie von selbst in die Lebenshaltungen hineinfließen. „Abeunt studia in mores. "128 Sie wird nicht bloß Theologie des In­ tellekts, der Syllogismen und Schlußfolgerungen sein, son­ dern eine Theologie, die „in affectu" begründet ist, die den ganzen Menschen durchdringt und erfaßt. Das ist die

reformatio morum. Diese Theologie ist nicht als exklusive Geheimwissen­ schaft für einige Kleriker und Mönche, sie ist vielmehr für die Massen bestimmt. Wie die Taufe und das letzte Ziel des Menschen ist sie Allgemeingut, Recht und Verpflich­ tung für alle Christen . Erasmus erwartet sich von dem Gedanken der Laientheologie und einer universalen christ­ lichen Volksbildung129 die Ü berwindung eines bloß rituellen Christentums, der Gefahr eines bloßen Sakramentalismus ohne Glaubenswissen. Es ist das seine reformatio per doctrinam, seine reformatio paedagogica, die Grundlegung einer christlichen Volksaufklärung. Von dieser Breiten­ wirkung der philosophia Christi erhofft sich Erasmus die Überwindung der Häresien und die Bekehrung der Heiden.180 Wenn er durch den Gedanken der Volksauf­ klärung zu einem der geistigen Väter der Aufklärung wird, so spricht das nicht gegen ihn. Erasmus denkt sich die langsame Durchdringung der Menscheit mit der philosophia Christiana stufenförmig ge­ schichtet.131 Bestimmte Gesellschaftsschichten ( circuli) müssen zuerst von der Sonne Christus „assimiliert" wer­ den. Das ist zunächst der Klerus. Als nächster circulus fol­ gen dann die Fürsten und als dritter das gewöhnliche Volk. Alle gehören sie dem Leib Christi an, aber verschieden sind die Aufgaben und auch die Intensität und Nähe, in der die philosophia Christi wirkt. Auch innerhalb der einzelnen „Kreise" werden gelegentlich Tätigkeiten aufscheinen, die 111

Paraclesis, S. 36. „Mulierculae legant evangelium." Paraclesis, S. 14. 180 Besser als mit Kanonen könnte man so die Mohammedaner gewin­ nen. Paraclesis, S. 21. Ratio, S. 343. 111 Ratio, S. 192 ff. 111

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mehr den höheren oder tieferen Schichten eigen sind. Es sollte vielmehr das Benachbarte der Verwandlung zum Besseren und nicht zum Schlechteren dienen.182 Auch die untersten und gewöhnlichsten menschlichen Gesetze müß­ ten sich immer wieder an ihrem Urtyp Christus orientie­ ren.188 Im übrigen müßte man bei Mängeln und Unvoll­ kommenheiten in den einzelnen Schichten dem Wirken der göttlichen Sonne Zeit lassen. Soweit das gedankliche Schema der von Plato angeregten rejormatio sociologica des Erasmus. Aber auch in der zeitlichen Vertikalen, im Ablauf der einzelnen Geschichtsperioden vollzieht sich dieser Refor­ mations- und Transformationsprozeß. Es sind das die ver­ schiedenen „tempora", die Perioden der Heilsgeschichte, in denen die philosophia Christi verschieden mächtig, aber stetig fortschreitend, wirkt. Eine Periode löst die andere ab. Und was in der einen gut war, braucht den Anforderungen der nächsten nicht mehr zu entspre­ chen.1" Das ist zu beachten, wenn man etwa Forderungen vergleicht, die Johannes der Täufer vor dem Auftreten J esu gestellt hat, oder solche, die z. B. erst nach der Geist­ sendung in Kraft treten. Hier trifft sich bei Erasmus sein theologisches Evolutionsdenken mit der Idee der refor­ niatio. Es gibt für ihn eine Entfaltung der kirchlichen Lehre, eine Entwicklung der sakramentalen Praxis und des Kirchenrechtes.1ü Seine fünfte und letzte Periode sieht Erasmus in reformatorisch apokalyptischen Farben.188 In dieser seiner Geschichtstheologie zeigt Erasmus sein toleran­ tes und optimistisches Verständnis des Heilswirkens Gottes in der Geschichte. Das ist seine reformatio eschatologica. Im Zusammenhang mit diesem geduldigen, traditions­ bewußten, toleranten und allumfassenden Begriff der rejormatio müssen auch die zahlreichen reformatorischen 111

Ratio, 111 Ratio, lH Ratio, 111 Ratio, 1H Ratio,

S. S. S. S. S.

197. 201 . 185. 189 ff. 193·

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XXXVII

Anliegen der vorliegenden Schriften gesehen werden. Zum Unterschied von anderen literarischen Formen bedient sich hier Erasmus eines vornehmen, versöhnlichen, akademi­ schen Tones. Er besitzt zu viel Formgefühl, als daß er nicht wüßte, daß er bei einem essayhaften theologischen Traktat eine andere Stilebene zu wählen hat als in einem wilden Pamphlet oder in einer satirischen Schrift. Zahlreich, aber gemäßigt sind die spitzen Bemerkungen über die scholastische Sophisterei137, wobei er immer wieder betont, daß es ihm um keinen grundsätzlichen Bruch mit der Vergangenheit geht, sondern nur um das Abstellen von Mißständen und um die Förderung seiner positiven An­ regungen. Hand in Hand mit dieser Polemik geht die Kritik an einem bloßen Zeremonialismus in der Frömmigkeit, einer äußerlich mechanischen Übung, die mit Aberglauben und magischen Vorstellungen belastet ist. Von daher verstehen wir, wie bereits angedeutet, seine beständig wiederkeh­ renden kritischen Bemerkungen über die „Zeremonien" ; aber wiederum richtet sich seine Kritik gegen den Miß­ brauch, nicht gegen die Einrichtungen als solche.138 Wenn man auch wissen muß, wie Erasmus das Kloster persönlich erlebte, so mag doch die in den vorliegenden Schriften sehr maßvoll gehaltene Polemik gegen die „Mönche" von seinem Bemühen um eine volksverbundene Laienfröm­ migkeit verstanden werden. Die philosophia Christi soll nicht nur Sache einiger weniger Auserwählter sein, weil doch alle Christen zur Vollkommenheit berufen sind. Außer­ dem prangert er in seiner Kritik am Ordensleben den bloß äußerlichen Vollzug von Gesetzen, Observanzen und Heilig­ keitsriten an. In seinen Bemerkungen zum päpstlichen Primat1B9 und zur Infallibilität1'°, in seiner Stellung zu den Sakramentenlil 117 Methodus, S. 73, vgl. die fast wörtlich gleiche Polemik bei den frühen Zisterziensertheologen z. B. bei Gilbert von Hoyland, PL 184, 125 ff. 111 Methodus, S. 65 u. a. 11• Paraclesis, S. 33. Anm. 6o. Ratio, S. 183. Anm. 83. ue Zur Zweischwertertheorie vgl. Methodus, S. 65. Hl Ratio, S. 209 ff., Anm. 1 13, Anm . 1 14 namentlich zum Eherecht.

XXXVIII

Einleitung

und zum kirchlichen Eherecht muß Erasmus gerechterweise vom Standpunkt der vortridentinischen Theologie und des vortridentinischen Kirchenrechtes beurteilt werden, wobei man festhalten muß, daß uns heute sein Kirchenbegriff etwa142 sehr fortgeschritten erscheint, was wiederum zeigt, wie durch den konfessionellen Streit im Schoße der Kirche wertvolle Kräfte der Erneuerung auf Jahrhunderte gebun­ den wurden. Schwer verständlich ist uns heute der theologische Anti­ semitismus143, den Erasmus mit großer Bestimmtheit äußert, und zwar mit exegetischen Argumenten, die wegen ihres Mangels an Objektivität deshalb besonders befremden, weil sich Erasmus ansonsten bei der Beurteilung von Texten der Heiligen Schrift als besonnen erweist ; auch findet er für andere Religionen, wie z. B. den Islam, warme Worte der Toleranz und des Verständnisses.1" In seiner Haltung zu den Juden seiner Zeit stellt er jedoch keine isolierte Er­ scheinung dar, wenn man etwa an die heftigen Worte Luthers gegen das auserwählte Volk denkt.145 Möglicher­ weise fand er theoretische Grundlagen für seine Einstellung bei Chrysostomus, den er auch sonst sehr schätzte.166 Die Frage nach der kirchlichen Orthodoxie des Erasmus braucht im Zusammenhang mit den in diesem Bande vor­ liegenden Schriften nur gestreift zu werden. Es ist Tatsache, daß sich viele reformatorische Tendenzen des Erasmus mit denen der späteren Reformatoren decken. Solche finden sich aber auch - und vielleicht in noch schärferer Weise - bei Männern der Kirche wie Ximenez, Adrian von Utrecht, dem späteren Papst, Hosius, dem späteren Kardinal und GegenHt U. a. Methodus, S. 65.

141 Zum Beispiel Ratio, S. 237 ff. und Anm. 142. 1" Zum Beispiel Ratio, S. 343 und S. 375. Diese Äußerungen müs­

sen im Zusammenhang mit der Erasmischen Friedensidee gesehen werden. HI Vgl. den heftigen Antisemitismus der Reformatoren ; dazu J. Lortz, Geschichte der Kirche, Bd. 1, S. 483f. H• Chrysostomus bekämpft jüdischen Prosyletismus in schonungs­ loser Weise; J. Lortz, Geschichte der Kirche, Bd. 1, S. 468.

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reformator,147 bei John Colet, dem Beichtvater des hl. Thomas Morus, bei diesem selbst, bei John Fisher, dem späteren Kardinal und Martyrer, und bei Nausea, dem erasmisch gesinnten Bischof von Wien, der in seinem Nekrolog auf Erasmus der Hoffnung Ausdruck gibt, dieser werde bald zu den kanonisierten Seligen gehören.148 Erasmus geriet, nachdem er zur Zeit der Abfassung der vorliegenden Schriften in ganz Europa, von Alcala bis nach Ermland, von Cambridge bis nach Rom, gefeiert und umworben war, zwischen das Feuer der beiden Parteien. Er meinte ein paar Jahre zwischen Luther und seinen Geg­ nern vermitteln zu können. Nach dessen Schrift >De servo arbitrio< (1525 ) gab er seine Versuche auf und vollzog ent­ schieden den Bruch.Auch schmeichelhaften Angeboten seines Freundes Zwingli wußte er sich zu entziehen.149 Er beteuerte immer wieder seine Treue zur Tradition und zur angestamm­ ten Kirche. Es ist tragisch und paradox zugleich, daß aus­ gerechnet das schlechte Bild, das Luther von ihm entwarf, bewirkte, daß seine Gestalt auch in der katholischen Welt in ein schiefes Licht gesetzt wurde. Seine Gegner, wie sein ehemaliger Freund und Studiengenosse Aleander, sahen in ihm einfachhin den Wegbereiter Luthers. Im Trubel der Revolution, den Erasmus wie nichts sonst verabscheute und mied, wurde man vielfach nicht nur blind für die be­ rechtigten Anliegen der „Häretiker", sondern auch für die der katholischen Reform vor dem großen Bruch. Wie es in Katastrophenzeiten üblich ist, wurde das Kind mit dem Bade ausgegossen. Aus dieser Notstandshysterie heraus ver­ stehen wir etwa, daß Erasmus 1 557 mit allen seinen Schrif­ ten auf den von Paul IV. erstmals herausgegebenen Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde.160 1 596 verblieben m J. Lortz, Erasmus - kirchengeschichtlich, aaO, S. 288. ua A. Flitner, Erasmus im Urteil der Nachwelt. Das literarische Erasmusbild von Beatus Rhenanus bis zu Jean Le Clerc, Tübingen 1952, S. 23 ff., R. Padberg, aaO, S. 21. 1 u Brief an Zwingli, September 1522, Allen, V, 129. uo A ngeführt bei S. Heß, Erasmus von Rotterdam, Bd. l , Zürich l 7go, S. 249. Vgl. A. Auer, aaO, S. 27, Anm. Sg.

XL

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immer noch einige Werke auf der Verbotsliste.151 Die Maß­ nahmen hatten weittragende Folgen ; Erasmus wurde zu Ende des 16. Jahrhunderts, trotz seines postumen Ein­ flusses etwa auf das Tridentinische Konzil152, als katholischer Theologe nicht mehr ernst genommen. Er wurde für Jahr­ hunderte praktisch totgeschwiegen.153 Die Erasmus-Renaissance der letzten Jahrzehnte hat ge­ zeigt, daß man in diesem Jahrhundert der ökumenischen Bestrebungen wieder Männer als Leitbilder rehabilitieren muß, die, ohne den Schoß der alten Kirche verlassen zu haben, doch das Banner der reformatorischen philosophia evangelica Christiana hochgehalten haben, eine Zeitlang nicht gehört im Waffenlärm der streitenden Parteien, nun wieder benötigt, als unbestechliche Zeugen der complexio oppositorum catholica. Dem lateinischen Text der vorliegenden Schriften liegt die Ausgabe von Holbom zugrunde. (Desiderius Erasmus Roterodamus : Ausgewählte Werke. In Gemeinschaft mit A. Holbom herausgegeben von H. Holbom. München : C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung 1933, S. 139-305. Unver· änderter Neudruck 1 964.) Wo bei Holbom offensichtliche Druckfehler vorliegen, wurde stillschweigend korrigiert. Für die Mehrzahl der Bibelstellen, der Väterzitate und sonstigen Zitate ist diese Ausgabe der Holbomschen ver· pflichtet.

161 >Lob der TorheitColloquienDe interdictu esu camiumChristiani matrimonü instituti0< und eine bestimmte in Italien herausgekommene Ausgabe der Paraphrasen zum NT; F. H. Reusch, Der Index der verbotenen Bücher, Bd. l, Bonn 1883, s. 263, R. Padberg,_ aao, s. 9 f. 111 Vgl. F. Heer, Die dritte Kraft, S. 438ff. 111 R. Padberg, aaO, S. lo, Anm. 29, führt einen interessanten Theo­ logenkatalog des 16. Jahrhunderts an, der Namen wie Heinrich VIII. von England nennt, Erasmus aber verschweigt.

IN NOVUM TESTAMENTUM PRAEFATIONES PARACLESIS

·

METHODUS

APOLOGIA

VORREDEN ZUM NEUEN TESTAM ENT AUFRUF

·

METHODE

RECHTFERTIGUNG

ERASMI ROTERODAMI PARACLE SIS AD LECTOREM PIUM Lactantius ille Firmianus, optime lector, cuius linguam unice miratur Hieronymus, Christianae religioni patrocina­ turus adversus ethnicos cum primis optat sibi dari eloquen­ tiam Tullianae proximam improbum ratus, opinor, optasse parem. At ego sane, si quid huiusmodi votis proficitur, tantisper dum mortales omnes ad sanctissimum ac salu­ berrimum Christianae philosophiae studium adhortor ac veluti classicum canens evoco, vehementer optarim eloquentiam mihi dari longe aliam quam fuerit Ciceroni : si minus picturatam quam fuit illius, certe multo magis effi cacem. Immo, si cui unquam talis contigit dicendi vis, qua­ lem non omnino sine causa veterum poetarum fabulae subnotarunt in Mercurio, qui ceu magica virga divinaque cithara somnum immittit cum libet et idem adimit, quos

AUFRUF DES ERASMUS VON ROTTERDAM AN DEN FROMMEN LESER Finnianus Lactantius1, bester Leser, dessen Sprache Hieronymus2 in einzigartiger Weise bewundert, äußert, als er sich eben anschickte, die christliche Religion gegen die Heiden in Schutz zu nehmen, vor allem den Wunsch, daß ihm eine Beredsamkeit verliehen werde, die der des Tullianers8 nahe komme, wobei er sich, wie ich glaube, dieser Gleichstellung als unwürdig erachtete. Wenn ich nun alle Menschen zum heiligsten und nützlichsten Studium der Philosophie Christi' aufrufe und es gleichsam als „klassisches" besinge, möchte ich, falls solche Wünsche überhaupt etwas taugen, leidenschaftlich darnach verlan­ gen, daß mir eine Beredsamkeit verliehen werde, die weit über die des Cicero hinausgeht ; sie sei weniger geziert, da­ für um so wirksamer. Sollte einem je die Macht der Rede geschenkt werden, wie sie die Geschichten der alten Poeten nicht ganz ohne Grund bei Merkur5 vermerken, der wie mit einem Zauberstab und mit seiner göttlichen Zither den Schlaf nach Belieben schickt und auch wieder verscheucht, 1 Caecilius Finnianus, auch genannt Lactantius (?250-?317), christ­ licher Philosoph, wurde wegen seiner geschliffenen Latinität als der „christliche Cicero" bezeichnet ; er faßt alle Argumente für das junge Christentum in seinem Hauptwerk >Divinae Institutiones< (304-313) zusammen. Vgl. Div. Inst. III 1, 1 ; PL 6, 347 C-D. 1 Vgl. Hieronym., Epist. 58,10 (ad Paulinum) ; PL 22,585. 1 Marcus Tullius Cicero (1o6-43), der große römische Redner und Stilist. Die Nennung der drei Namen besitzt an dieser Stelle program­ matische Bedeutung. • Christiana philosophia, „christliche Weisheitslehre", ist ein pro­ giammatischer Begriff, der sich wie ein roter Faden durch die Schrif­ ten des Erasmus zieht und mit dem er sich von einer Theologie distanzieren will, die bloße „Menschenweisheit" ist. Er bedeutet bei Erasmus das Gegenteil von dem, was wir heute unter „christlicher Philosophie" verstehen, nämlich die praktische christliche Lebens­ weisheit, die über die heiligen Schriften vom offenbarenden Christus selbst stammt. 1 Mercurius, Hermes, als Götterherold sprichwörtlich für sein oratori­ sches Geschick, Erfinder der Lyra, daher auch Patron der schönen Literatur, mit Nekromantik und Zauberei assoziiert.

4

In Novum Testamentum Praefationes

vult ad inferos impellens ac rursus ab inferis evocans, aut qualem signarunt in Amphione Orpheoque, quorum alter rigida movisse saxa, alter quercus et omos traxisse cithara fingitur ; aut qualem Ogmio suo tribuebant Galli mortales omnes catenulis a lingua in aures infixis quo vellet circum­ ducenti, aut qualem Marsyae fabulosa tribuit antiquitas ; aut certe, ne nimium diu fabulis immoremur, qualem Socrati tribuit Alcibiades, Pericli vetus comoedia, quae non aures tantum mox peritura voluptate deliniat, sed quae tenaces aculeos relinquat in animis auditorum, quae rapiat, quae transformet, quae multo alium dimittat auditorem quam acceperit. Timotheus musicus ille nobilis Dorios occinens

I.

Paraclesis Aufruf •

s

der, wen immer er will, ins Totenreich treibt und vom Toten­ reich zurückruft ; oder wie man sie dem Amphion• und dem Orpheus7 nachsagt, von denen der eine starres Gestein mit seiner Zither gerührt, der andere Eichen und Bergeschen angezogen haben soll ; oder wie die Gallier sie ihrem OgmiusB zuschrieben, der die Sterblichen ganz, wie er wollte, an zarten Kettchen, die von seiner Zunge zu ihren Ohren führten, umherführen konnte ; oder wie sie das fabulierende Altertum einem Marsyas• zuschrieb ; - damit ich aber nicht mehr bei Fabeln verweile - wie Alkibiades10 sie dem Sokrates nachsagt und eine alte Komödie dem Perikles11, die nicht bloß die Ohren mit schnell vergäng­ lichem Wohllaut bezaubert, sondern haftende Stacheln1• in den Herzen der Zuhörer zurückläßt, die hinreißt, die verwandelt, die den Zuhörer verändert entläßt, viel anders, als sie ihn empfangen hat. Von Timotheus1a, jenem edlen Musiker, sagt man, er sei gewohnt gewesen, durch das Sin1 Amphion, Sohn des Zeus und der Antiope, war von Hermes die Leier gegeben worden ; sagenhafter Musiker, dessen Zaubertönen selbst leblose Steine nachgeeilt sein sollen. 7 Orpheus werden ähnliche Sagenmotive wie Amphion zugewiesen. 1 Ogmios, die obskure keltische Gottheit Ogom, von Lukian, in Heracles LV, I ff., als eine Art „Heracles Gallicus" dargestellt mit dem merkwürdigen von Erasmus berichteten Sagenmotiv. 1 Satyr oder Silen, der es wagte, Apollo zum musischen Wettkampf auf der Flöte herauszufordern, dabei vom Gott besiegt und bei leben· digem Leib geschunden wurde ; tragikomischer Hinweis auf das Schick· sal, das dem Verfasser bei ähnlichem Unterfangen drohen könnte. 10 Plato, Symposion, 215 a ff. 11 Gemeint ist Aristophanes, Die Achamer, 53off. u Die Metapher findet sich häufig für die nachhaltige Wirkung der Rede bei Cicero. 11 Timotheus (ca. 450 - ca. 36o), Dithyrambendichter, Musiker aus Milet. Wird von der Sage wegen seiner menschenbezwingenden Kraft gefeiert und als Zeitgenosse Alexanders des Großen (356-323) hinge­ stellt. Er soll den König durch die Verwendung der einzelnen Ton­ arten in die verschiedensten Gemütslagen versetzt haben. Die „dori­ sche Tonart" galt als besonders martialisch . Vgl. auch John Dryden, Alexander's Feast. Nach den fünf mythologischen Gestalten greift Erasmus hier bei den historischen Beispielen einen Philosophen, einen Staatsmann und einen Dichter heraus, um mit einer Allegorie und der Anrufung Christi zu endigen.

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modos Alexandrum Magnum ad belli studium inflammare solitus legitur. Neque defuerunt olim, qui precaminibus, quas Graeci vocant bt8�, nihil ducerent efficacius. Quod si quod usquam esset huiusmodi genus incantamenti, si qua vis harmoniae, quae verum habeat E:v&oucnocaµ6v, si qua Pitho vere flexanima, eam mihi cupiam in praesentia suppetere, quo rem omnium saluberrimam omnibus per­ suadeam. Quamquam illud potius optandum, ut Christus ipse, cuius negotium agitur, ita citharae nostrae chordas temperet, ut haec cantilena penitus afficiat ac moveat animos omnium, ad quod quidem efficiendum nihil opus rhetorum epicherematis aut epiphonematis. Hoc quod optamus non alia res certius praestet quam ipsa veritas, cuius quo simplicior, hoc efficacior est oratio. Ac primum quidem non libet in praesentia refricare querelam illam non omnino novam, sed heu nimium iustam, et haud scio an unquam iustiorem quam hisce temporibus, cum tarn ardentibus animis in sua quisque studia mortales incumbant, hanc unam Christi philosophiam a nonnullis etiam Christianis rideri, a plerisque negligi, a paucis trac-

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gen von dorischen Weisen Alexander den Großen in einen Kriegsrausch zu versetzen. Auch fehlten einst jene nicht, die nichts für wirksamer hielten als jene Besprechungs­ formeln, welche die Griechen „Epoden"14 nennen. - Sollte es je eine derartige Beschwörungsweise gegeben haben oder die Gewalt der Harmonie, die den wahren „Enthusias­ mus"15 birgt, sollte es eine Herzen bezwingende Muse der Überzeugungskunst111 geben, dann würde ich wünschen, daß sie mir jetzt beistünde, da ich darangehe, alle für eine höchst nützliche Sache zu gewinnen. Gleichwohl müßte man sich noch lieber wünschen, daß Christus selbst, dessen Sache hier vertreten wird, so die Saiten unserer Zither beherrsche, daß dieses Lied die Herzen aller durch und durch erschüttere und bewege, was zu erreichen es nicht der Spitz­ findigkeiten und Floskeln17 der Rhetoren bedarf. Dem, was wir wollen, hilft nichts sicherer als die Wahrheit selbst ; je einfacher die Rede diese enthält, desto wirksamer wird sie sein. Gleich zu Beginn rühre ich für den Augenblick nur un­ gern an jenen nicht mehr ganz jungen, aber nicht allzu ge­ rechten Streit18 ; ich weiß nicht, ob je gerechter als in diesen Zeiten, da sich alle Menschen mit so brennendem Eifer ihren Studien widmen, diese einzige Philosophie Christi von einigen Christen sogar verlacht, von den meisten verH Zum Unterschied von unserer „Epode" (griech. >epod6sepodC< ein Gesang, der zum Zweck der Bezauberung über einem Gegenstand gesungen wird. 11 Enthusiamws ist das exstatische „Ergriffensein" von einer Gott­ heit, religiös-magisch hervorgerufen durch bestimmte Arten von Musik; vgl. Aristoteles, Politica 134o a I I , 1342 a 7. 11 Pitho oder >Peith0METHODE< Es könnte jedoch ein Leser unter Umständen einwenden : „Was treibst du da (wie man zu sagen pflegt) noch einen an, der schon läuft? Gib lieber den Weg und die Weise an, wodurch man wie an Hand eines Leitfadens zu jener viel­ gerühmten Philosophie gelangen kann . Denn nicht der geringste Teil eines Geschäftes ist es, den Weg zu kennen, wie man das Geschäft anzupacken hat." Ich bin mir zwar völlig im klaren, daß das zunächst nicht durch einen ein­ zigen Band und auch nicht einmal durch einen aus meiner Feder erledigt werden kann. Doch möchte ich jene Leute gar sehr nachahmen, die nach einem Mißgeschick bei der Seefahrt des ungeachtet den neuerdings in See Stechenden durch Aufzeigen der Gefahren ihre Erfahrungen zur Ver­ fügung stellen, oder ganz gewiß auch jene Merkurstatuen, die, auf Weggabelungen aufgestellt, bisweilen den Wan­ derer durch ihren Hinweis dorthin führen, wohin sie selbst niemals gelangen, um mit dem Dichter zu sprechen : Dienen will ich als wetzender Stein, der scharf kann machen das Eisen, doch selbst nicht fähig des Schneidens.1 Obwohl der heilige Aurelius Augustinus genau und aus­ führlich diesen Gegenstand in den vier Büchern mit dem Titel >Über die christliche Lehre< behandelt hat, wollen wir ein Gleiches tun, aber nicht nur so kurz gefaßt wie möglich, sondern auch weniger fein und mit größerer Schlichtheit1, wie man sagt ; indem wir das folgende nicht für erste Geister bereiten, wollen wir vielmehr dem einfachen Volk und An­ lagen plebeischer und geringerer Art durch unseren Fleiß zu Hilfe kommen. Was ich daher gleich an erster Stelle vorschreiben mußte, das kann in der Tat sehr leicht und, wie man sagt, für die breite Masse gesagt werden. Was im übrigen den Einfluß 1 1

Horaz, Ars poetica, 304-305. Eigentlich : mit plumperer Minerva.

In Novum Testamentum Praefationes Ceterum quod ad vim attinet, omnium est longe primum ac maximum. Et ut in praecipiendo minimum est negotii, ita in praestando plurimum : nempe ut ad hanc philosophiam non Stoicam aut Aristotelicam, sed plane caelestem ani­ mum afferamus ea dignum, hoc est non tantum purum ab omnibus vitiorum inquinamentis, verum etiam ab omni cupiditatum tumultu tranquillum ac requietum, quo expressius in nobis velut in amne placido aut speculo nitissimo reluceat aeternae illius veritatis imago. Nam si Hippocrates a suis exigit mores sanctos et integros, si Iulius Firmicus in arte superstitiosa non admittit ingenium lucri gloriaeve studio corruptum, quanto magis aequum est nos ad huius divinae sapientiae scholam seu templum verius purgatissimis animis accedere ? Adsit summus ardor dis­ cendi. Non dignatur hoc incomparabile margaritum vel vulgariter amari vel cum aliis diligi. Sitientem requirit animum, et nihil aliud sitientem. Iam hoc sacrum limen adituris procul absit omne supercilium, absit illa veri nocentissima pestis, gloriae fames, absit rixarum parens pertinacia, multo magis caeca temeritas. Cum loca subis religione veneranda, exoscularis omnia, adoras omnia, et quasi nusquam non adsit numen aliquod, ita nihil non revereris. Id tibi multo religiosius faciendum memineris, cum haec divini spiritus adyta subiturus es. Quod datur videre, pronus exosculare, quod non datur, tarnen opertum

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anlangt, so kommt weitaus die erste und größte Bedeutung den Menschen in ihrer Gesamtheit zu. Und wie es beim Vor­ schreiben sehr wenig Mühe braucht, so braucht es sehr viel beim Vorleben des guten Beispieles, um nämlich dieser Philosophie, nicht der stoischen oder der aristotelischen, sondern der schlicht himmlischen, eine Gesinnung entgegen­ zubringen, die ihrer würdig ist, das heißt nicht nur ein Herz, das sich von allem Schmutz des Lasters rein hält, sondern auch eines, das von allem Aufruhr der Begierden frei und ruhig ist, auf daß in uns deutlicher wie in einem besänftig­ ten Strom oder in einem hellschimmernden Spiegel das Bild jener ewigen Wahrheit aufleuchte. Wenn nämlich Hippokrates3 von den Seinen heilige und untadelige Sitten fordert, wenn J ulius Firmicus4 in seiner Kunst der Magie kein Talent zuläßt, das durch Gewinn- und Ruhmsucht verdorben ist, um wieviel mehr ist es dann billig, daß wir in die Schule und den Tempel dieser göttlichen Weisheit mit wahrhaft sauberer Gesinnung eintreten ? Dazu geselle sich hohe Lernbegier. Diese unvergleichliche Perle darf weder in gemeiner Weise geliebt, noch mit anderen in der Liebe geteilt werden. Einen dürstenden Geist fordert sie und einen, der nach nichts anderem dürstet. Denen, die diese heilige Schwelle betreten wollen, sei jeder finstere Stolz fern, ebenso die Ruhm­ sucht, diese Pest, die der Wahrheit am meisten schadet ; fern sei die Starrköpfigkeit, die Mutter aller Streitigkeiten, und noch viel mehr die blinde Unbesonnenheit. Wenn du dich an Orte begibst, die religiöse Ehrfurcht heischen, da küßt du alles, da betest du alles an ; als ob das göttliche Wesen in jedem Winkel wirkte, verehrst du alles. Bedenke, daß du das hier mit noch tieferem religiösem Schauer tun mußt, wo du dich doch anschickst, das innere Heiligtum des göttlichen Geistes zu betreten. Was zu schauen gegeben ist, das küsse in Demut, was nicht gegeben ist, was vielmehr 1 Hippokrates (46o-377), griechischer Arzt, bekannt durch seine hohe Berufsauffassung ; Verkörperung des idealen Arztes. ' Julius Matemus Firmicus, römischer Mathematiker zur Zeit Kon· stantins d. Gr. aus Syrakus, verteidigt im ersten Buch seiner Mathesis die Astrologie; er fordert höchste sittliche Integrität für den Astrologen.

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quicquid est adora procul ac venerare. Absit impia curio­ sitas. Quaedam mysteria vel ob hoc ipsum videre mereberis, quod temetipsum ab illorum conspectu reverenter submo­ veris. Hie primus et unicus tibi sit scopus, hoc votum, hoc unum age, ut muteris, ut rapiaris, ut affleris, ut trans­ formeris in ea, quae discis. Cibus est animi ita demum utilis, non si in memoria ceu stomacho subsidat, sed si in ipsos affectus et in ipsa mentis viscera traiciatur. Ita demum tibi videare profecisse, non si disputes acrius, sed si te senseris alterum fieri, minus elatum, minus iracundum, minus vitae cupidum, si cotidie vitiis decedat aliquid, aliquid accrescat pietati. Iam quod ad eas attinet litteras, quarum adminiculo com­ modius ad haec pertingimus, prima cura debetur perdis­ cendis tribus linguis Latinae, Graecae, Hebraicae, quod constet omnem scripturam mysticam hisce proditam esse. Neque vero mihi protinus hie resilias, amice lector, negotii difficultate ceu clava repulsus. Si non desit praeceptor, si non desit animus, minore paene negotio tres hae linguae discentur, quam hodie discitur unius semilinguae miseranda balbuties, nimirum ob praeceptorum inscitiam. Neque fiagitamus, ut in his usque ad eloquentiae miraculum pro­ veharis, satis est, si ad munditiam et elegantiam, hoc est mediocritatem aliquam progrediare, quod sufficiat ad iudicandum. Nam ut omnes ceteras humanas disciplinas negligamus, nulla ratione fieri potest, ut intelligas quod scriptum est, si sermonis, quo scriptum est, fueris ignarus.

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verhüllt ist, das bete aus der Feme an und verehre. Die frevelhafte Neugier fehle. Gewisse Mysterien wirst du auch deshalb zu schauen gewürdigt werden, weil du dich vor ihrem Anblick scheu zurückgezogen hast. Das sei dein erstes und einziges Ziel, das dein Gebet, das allein betreibe, daß du verwandelt, hingerissen , begeistert und in das um­ gestaltet werdest, was du lernst. Nützliche Speise für den Geist ist es erst dann, wenn es nicht im Gedächtnis wie in einem Magen liegen bleibt, wenn es vielmehr auf alle Regungen und das Innerste des Geistes übergreift. Nur dann sollst du meinen, Fortschritte gemacht zu haben, nicht wenn du scharfsinniger disputierst, sondern wenn du fühlst, daß aus dir ein anderer wird, weniger eingebildet, weniger zornmütig, weniger lebenshungrig, wenn täglich von den Lastern etwas schwindet und etwas zur Frömmigkeit hin­ zuwächst. Nun, was jene Wissenschaften betrifft, mit deren Hilfe wir bequemer dazu gelangen, so schulden wir die erste Sorge der gründlichen Erlernung der drei Sprachen, des Lateini­ schen, des Griechischen und des Hebräischen, weil fest­ steht, daß alle heiligen Schriften in diesen überliefert sind . Weiche mir aber jetzt nicht gleich zurück, freundlicher Leser, ob der Schwierigkeit des Unternehmens, wie von einem Keulenschlag getroffen. Wenn es am Lehrmeister nicht fehlt, wenn es nicht fehlt an der rechten Einstellung, dann können wohl diese drei Sprachen mit fast geringerer Mühe erlernt werden, als sie heute die Erlernung des elen­ den Gestammels einer einzigen Halbsprache vor allem wegen der Unwissenheit der Lehrmeister erfordert. Wir wollen nicht verlangen, daß du in diesen bis zum Wunder der Be­ redsamkeit vordringst, es genügt, wenn du zur „Sauber­ keit" und „Eleganz"6, das heißt zu einer mittleren Sprach­ beherrschung gelangst, die ausreicht, daß man sich ein Urteil bilden kann. Wir wollen von den übrigen gelehrten Disziplinen erst gar nicht reden, du kannst aber auf keinen Fall geschriebene Texte verstehen, wenn du der Sprache, 1

Munditia und elegantia sind Fachausdrücke aus der Rhetorik.

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Neque enim audiendos arbitror istos quosdam, qui cum in sophisticis tricis usque ad decrepitam aetatem computres­ cant, dicere solent : „Mihi satis est interpretatio Hierony­ mi." Sie enim potissimum respondent ii, qui ne Latine quidem scire curant, ut his etiam frustra verterit Hierony­ mus. Ceterum ut ne dicam interim plurimis modis referre, e suis haurias fontibus aliquid an e qualibuscunque lacunis. Quid, quod quaedam ob sermonum idiomata ne possunt quidem ita transfundi in linguam alienam, ut eandem lucem, nativam gratiam, parem obtineant emphasin ? Quid, quod quaedam minutiora sunt, quam ut omnino reddi possint, id quod passim queritur clamitatque divus Hieronymus ? Quid, quod permulta a b Hieronymo restituta temporum iniuria interciderunt, velut euangelia ad Graecam veritatem emendata ? Quid, quod scriptorum vel errore vel temeritate turn olim vitiati sunt libri, turn hodie passim vitiantur? Postremo quid, quod nec ea, quibus Hieronymus haec testituit, satis intelliguntur, si linguas, quarum testimoniis nititur, prorsus ignores ? Quod si semel sufficiebat Hierony­ miana translatio, quorsum tandem attinebat caveri ponti­ ficum decretis, ut veteris instrumenti veritas ab Hebraeo­ rum voluminibus, novi fides a Graecorum fontibus pe­ teretur? Certe iam turn verterat Hieronymus. Denique si haec satis erat, qui postea factum est, ut tot manifestariis ac pudendis erratis lapsi sint primi nominis theologi, id quod apertius est, quam ut vel negari possit vel dissimulari? In quibus est et ipse neotericorum omnium diligentissimus Thomas Aquinas, quem mihi parum propitium esse velim, si aut mentior aut contumeliae causa haec dico. Ne quid

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in der sie geschrieben sind , unkundig bist. Ich glaube näm­ lich nicht, daß man auf jene Leute hören dürfe, die zu sagen pflegen : „Mir genügt die Übersetzung des Hierony­ mus . " Dabei verfaulen sie schließlich in ihren sophistischen Verdrießlichkeiten bis zum zittrigen Alter. So antworten womöglich jene, die nicht einmal darnach trachten, Latein zu beherrschen, so daß für solche selbst Hieronymus ver­ gebens übersetzt hat . Ich möchte mich jetzt im übrigen nicht weiter verbreitern, aus seinen Quellen wirst du wohl etwas wie aus irgendwelchen Wasserlachen schöpfen kön­ nen. Aber gewisse Eigenheiten der Sprachen können nicht einmal so in eine fremde Zunge übersetzt werden, daß die­ selbe Bedeutung, die ursprüngliche Anmut und die gleichen Schwergewichte bewahrt bleiben. Manches ist zudem feiner, als daß es zur Gänze wiedergegeben werden könnte, wo­ rüber auch der heilige Hieronymus allenthalben so bitter klagt. Vieles von Hieronymus Wiederhergestellte ist durch die Ungunst der Zeit zugrunde gegangen, wie etwa die nach dem griechischen Text verbesserten Evangelien. Außerdem wurden durch Irrtum und durch die Blindheit der Schrei­ ber früher sowohl als auch namentlich heute noch allenthal­ ben Bücher verderbt. Schließlich bleiben die Mittel, durch die Hieronymus den Text wiederhergestellt hat, unver­ standen, wenn man die Sprachen überhaupt nicht kennt, auf deren Zeugnis er sich stützt. Wenn nun die Übersetzung des Hieronymus ein für alle Male genügte, wie konnte es dann kommen, daß durch päpstliche Dekrete Vorsichts­ maßnahmen getroffen wurden, daß die Wahrheit des Alten Testaments aus den Buchrollen der Hebräer, daß das Glaubensgut des Neuen aus den Quellen der Griechen zu entnehmen sei ? Wenn diese (die Vulgata) schließlich genügt, wie konnte es dann geschehen, daß sich Theologen ersten Ranges in offensichtliche und peinliche Irrtümer begeben haben, was zu klar ist, als daß es verneint oder weggeleug­ net werden könnte ? Unter ihnen befindet sich sogar j ener Umsichtigste aller neueren Autoren, Thomas von Aquin, der mir nicht sehr gnädig sein sollte, falls ich löge oder dieses nur, um zu schmähen, sagte. Ich möchte nichts

In Novum Testamentum Praefationes interim dicam de ceteris cum hoc haudquaquam conferendis mea quidem sententia. Quod si cuius aetas iam ad hoc praeteriit, is, quod est viri prudentis, suam sortem boni consulat et quoad potest aliena fulciatur industria, modo ne iuvenibus, quibus haec proprie scribuntur, obstrepat. Quamquam ego profecto ne senibus quidem fuerim auctor desperandi, quandoquidem quattuor nominatim recensere possim, mihi familiariter notos, viros iam libris etiam editis celebres, quorum unus duodequinquaginta natus annos, nemo non maior quadraginta prima Graeci sermonis ele­ menta sit aggressus. Porro quo profecerint, ipsi suis testati sunt monumentis. Quod si Catonis exemplum leviter nos movet, ipse divus Augustinus iam episcopus, iam senex ad Graecas litteras puero degustatas quidem sed fastiditas reversus est. Rudolphus Agricola, unicum Germaniae nostrae lumen et omamentum, annum egressus quadra­ gesimum Hebraeas litteras discere nec erubuit, vir in re litteraria tantus, nec desperavit tarn grandis natu. Nam Graecas adolescens imbiberat. Ipse iam undequinqua­ gesimum agens annum ad Hebraicas litteras olim utcunque degustatas cum licet recurro. Nihil est rerum, quod non efficiat humanus animus, modo sibi imperarit, modo im-

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gesagt haben über die anderen, die mit diesem, wenigstens meiner Meinung nach, keineswegs zu vergleichen sind . Wenn einem aber zu diesem neuen Studium die rechten Jahre schon verronnen sind, so möge er, wie es sich für einen klugen Mann geziemt, mit seinem Geschick gut zurecht­ kommen und sich, so gut er kann, mit fremdem Fleiße ab­ helfen und nur nicht den Jungen, für die das eigentlich geschrieben wird, hinderlich im Wege stehen. Gleichwohl möchte ich Greisen keinen Anlaß geber., alle Hoffnung sinken zu lassen, könnte ich doch vier mir persönlich be­ kannte Männer namentlich anführen, Männer, die auch schon durch ihre Publikationen berühmt sind, von denen der eine erst als Achtundvierzigjähriger und keiner unter vierzig Jahren sich die ersten Grundlagen der griechischen Sprache angeeignet hat. Wie weit sie darüber hinaus Fort­ schritte gemacht haben, können sie mit Denkmälern be­ zeugen, die sie sich selbst gesetzt haben. Denn wenn uns schon das Beispiel des Cato8 vielleicht nur geringfügig be­ eindruckt, so ist der heilige Augustinus selbst noch als Bischof und dem Greisenalter nahe zum Griechischen zu­ rückgekehrt, das er als Knabe zwar verkostet, aber ver­ schmäht hatte. Rudolph Agricola7, jene einzigartige Leuchte und Zier unserer deutschen Lande, schämte sich nicht, Hebräisch zu studieren, nachdem er das vierzigste Lebens­ jahr überschritten hatte - und das ein Mann von solcher Bedeutung in der literarischen Welt -, noch verzagte er in diesen Jahren. Das Griechische hatte er sich nämlich schon als junger Mann angeeignet. Ich selbst, wenn es gestattet ist, komme, nun schon neunundvierzigjährig8, wieder auf das Hebräische zurück, das ich einst irgendwie verkostet hatte. Es gibt nichts auf der Welt, was nicht der Menschengeist be-

' Marcus Porcius Cato (234-149), römischer Staatsmann und Schrift­ steller. 7 Rudolf Agricola (Huysman 1443-1485), Humanist, einer der ersten Lehrer des Griechischen in Deutschland. 1 Erasmus rechnet mit 1466 als seinem Geburtsjahr, möglicherweise um drei Jahre zu früh. Vgl. K. A. Meissinger, Erasmus von Rotterdam, 2. Auflage, Berlin 1948, S. 213. Vgl. neuerdings E.-W .Kohls, Das Geburts­ jahr des Erasmus. In : Theologische Zeitschrift 22 ( 1966), S. 96 ft'.

In Novum Testamentum Praefationes pense velit. Et ad hoc ut dixi negotium qualiscunque medio­ critas satis est, dum ea sane absit a temeritate, quae fere solet hoc audacius pronuntiare, quo minus exacte diiudicat. Felicior quidem hac in parte iuventus, at non desperandi senes . Illa plus spei de se praebet, at huic nonnunquam ardor animi praestat, quod aliis non praestat aetatis vigor. Porro sententiam Hilarii et Augustini, qui putant in veteris instrumenti libris nihil requirendum ultra Septuaginta, satis in epistolis suis ipse refellit Hieronymus, et si non refellisset ille, satis refellit insignis ille lapsus Hilarii in hosanna Ambrosia quoque ad eundem impingente lapidem. Porro si rara quaedam ingenii felicitas et alba quod dici solet indoles insignem theologum polliceri videbitur, haud mihi displicet, quod placuit et Augustino, ut moderate degustatis elegan­ tioribus disciplinis instruatur ac praeparetur, nempe dialec­ tica, rhetorica, arithmetica, musica, astrologia, cum primis autem rerum naturalium cognitione velut animantium, arborum, gemmarum, ad haec locorum, praesertim illorum, quos divinae litterae commemorant. Fit enim, ut agnitis regionibus cogitatione sequamur narrationem et animo velut

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wirken könnte, wenn er sich nur selbst befiehlt und ehrlich will. Wie ich schon erwähnte, genügt zu diesem Unternehmen eine gewisse Mittelmäßigkeit, wenn sie nur tatsächlich frei ist von der Unbesonnenheit, die fast gewohnt ist, sich gar kühn zu äußern, ohne vorher kritisch abzuwägen. Besser daran ist diesbezüglich freilich die Jugend ; aber auch Greise sollen nicht verzagen. Jene verspricht an sich mehr, doch leistet diesem bisweilen die Glut der Seele, was den anderen nicht die Kraft des Alters leistet. Die Ansicht des Hilarius und des Augustinus9 fernerhin, daß in den Bü­ chern des Alten Testaments nichts über die Septuaginta Hinausgehendes zu verlangen sei, hat Hieronymus selbst in seinen Briefen zur Genüge widerlegt ; und wenn er sie nicht widerlegt hätte, wäre es durch jenen zur Genüge bekannten Fehler des Hilarius in seinem „Hosanna" geschehen. Aber auch Ambrosius strauchelte über denselben Stein.10 Wenn fernerhin eine gewisse seltene Glücklichkeit der An­ lage, eine heitere Art, wie man zu sagen pflegt, einen her­ vorragenden Theologen zu versprechen scheint, dann miß­ fällt mir nicht, was einst auch Augustinus11 gefallen hat, daß man maßvoll in den unterschätzten schöneren Wissen­ schaften unterrichtet und vorbereitet werde, nämlich in der Dialektik, in der Rhetorik, der Arithmetik, der Musik, der Sternenkunde, namentlich aber auch in der Erkenntnis der Dinge der Natur, wie der Lebewesen, Bäume, Edelsteine, dazu der Orte, vor allem jener, welche die heiligen Schriften erwähnen. So kommt es nämlich, daß wir, nachdem wir die Landschaften studiert haben, der Erzählung in Gedanken folgen und in ihr gleichsam geistig herumwandeln, so • Hilarius von Poitiers (ca. 315-67), Kirchenlehrer, „Athanasius des Westens", schreibt unter Anlehnung an Origenes auch Psalmen· kommentare. Tract. in psalm. l 18, 6; PL 9, 529. Augustinus, Enarr. in psalm. 37,6; PL 36, 399-400 ; Epist. 7 1, 4; PL 33, 243. 1• Hieronymus, Epist. 20 (ad Damasum) ; PL 22, 375 ff. ; Hilarius, Comm. in Mt 21,3 ; PL 9,1036 : „Hosanna" : weil es den Einzug Jesu in Jerusalem behandelt ; Ambrosius, Expos. in Lucam 9,1 5 ; PL 1 5, 1888 . 11 Vgl. Augustinus, De doctrina Christiana II, 16-18; 28-31 ; PL 34, 46-50 ; 55-58.

In Novum Testamentum Praefationes una circumferamur, ut rem spectare videamur, non legere ; simulque non paulo tenacius haerent, quae sie legeris. Iam si gentium, apud quas res gesta narratur sive ad quas scri­ bunt apostoli, non situm modo verum etiam originem, mores, instituta, cultum, ingenium ex historicorum litteris didicerimus, dictu mirum quantum lucis et ut ita dicam vitae sit accessurum lectioni, quae prorsus oscitabunda mortuaque sit oportet, quoties non haec tantum, sed et om­ nium paene rerum ignorantur vocabula, adeo ut nonnun­ quam vel impudenter divinantes vel sordidissimos consulen­ tes dictionarios ex arbore faciant quadrupedem, e gemma piscem. Abunde doctum videtur, si tantum adiecerint : est nomen gemmae, aut species est arboris aut genus animantis. Atqui non raro ex ipsa rei proprietate pendet intellectus mysterii. Nec illud, opinor, inutile fuerit, si theologiae destinatus adolescens diligenter exerceatur in schematis ac tropis grammaticorum rhetorumque, praeludat in fabulis ad allegoriam explicandis, in apologis, in similibus et in his praecipue partibus rhetorices, quae de statibus, de pro­ positionibus, de probationibus, de amplificationibus deque affectibus tractant, quod haec maiorem in modum faciant ad iudicium, quae res in omni studiorum genere valet plurimum. Et quoniam professio theologica magis constat affectibus quam argutiis, quas in ethnicis quoque philo­ sophis ipsi rident ethnici, Paulus in Christiano detestatur, idque non uno in loco, conveniet in hoc genere per aetatem exerceri, quo postea dexterius in theologicis allegoriis tractandis locisque communibus versari possit. ld, ni fallor, viderat Augustinus, cum Licentium suum ad suas Musas, a

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daß es scheint, als ob wir die Sache nicht läsen, sondern sähen ; und zugleich bleibt das, was du liest, nicht weniger nachhaltig hängen. Wenn wir nun von Völkern, bei denen ein Ereignis erzählt wird oder denen die Apostel schreiben, nicht nur die wahre Lage, sondern auch den Ursprung, die Sitten, die Einrichtungen, den Kult und ihre Begabung aus den Schriften der Historiker gelernt haben, so ist es ganz erstaunlich zu sagen, wieviel Licht und sozusagen Leben in die Lektüre kommt, die vorher noch durchaus trocken und tot sein mußte ; wie oft sind aber die Wörter für fast alle Gegenstände unbekannt, so daß man bisweilen, ent­ weder schamlos orakelnd oder die übelsten Wörterbücher konsultierend, aus einem Baum einen Vierfüßer macht und aus einem Edelstein einen Fisch. Es kommt ihnen unge­ mein gelehrt vor, wenn sie solches hinzufügen : Ist Name eines Edelsteines oder Art eines Baumes oder Gattung eines Lebewesens. Aber nicht selten hängt gerade von der Eigen­ art eines Dinges das Verständnis eines Mysteriums ab. Nicht schädlich,glaube ich, wäre es,wenn sich einzurTheo­ logie bestimmter junger Mann eifrig in den Schemen und Tro­ pen der Grammatiker und Rhetoren übte. Er betreibe Vor­ studien in der allegorischen Erklärung von Fabeln, in den „Apologoi" (allegorischen Erzählungen), in Gleichnissen und namentlich in jenen Teilen der Rhetorik, die über Frage­ stand, Vorhaben, Beweisführung, Ausschmückung und über die Affekte handeln ; das befähigt nämlich in höherem Maße zu einem gesunden Urteil, was in jeder Studienrich­ tung sehr viel gilt. Da nun der Beruf des Theologen mehr auf den Affekten als auf Spitzfindigkeiten begründet ist, welche sogar die Heiden bei ihren heidnischen Philosophen beläclieln, Paulus aber bei einem Christen verabscheut und das nicht nur an einer Stelle -, daher wird es vorteil­ haft sein, sich in dieser Art ein Leben lang zu üben ; so tut man sich dann leichter bei der Behandlung theologischer Allegorien und auch gewöhnlicher Textstellen. Wenn ich mich nicht täusche, hatte das Augustinus im Auge, wenn er seinem Licentius11 befiehlt, zu den Musen, die er gerade in u

Augustinus,

De online 1, 8, 23-24i PL 32, 988 f.

In Novum Testamentum Praefationes quibus iam parabat desciscere, reverti iubet, quod eiusmodi studia ad ceteras item litteras ingenium vegetius reddant et succulentius. Alioqui si quis tantum infantibus illis et anxiis ieiunisque praeceptiunculis imbuatur dialectices aut, ut nunc traditur, sophistices, quam ipsam cotidie novis difficultatibus aliam atque aliam reddunt, fit, ut ad con­ tentionem quidem invictus evadat, ceterum in tractandis divinis litteris, deum immortalem, quam videmus istos iacere, frigere, immo quam non vivere ? Cuius rei si quis promptum aliquod argumentum requiret, veteres illos theologos Origenem, Basilium, Hieronymum cum his recentioribus componat, conferat. Videbit illic aureum quoddam ire flumen, hie tcnues quosdam rivulos eosque nec puros admodum nec suo fonti respondentes. Illic in felicissimis hortis affatim expleberis, hie inter spineta dilaceraris ac torqueris. Illic maiestatis plena omnia, hie adeo nihil splendidum, ut multa sordida parumque digna dignitate theologica. Quod si diutius immorandum sit profanis litteris, equidem id fieri malim in his, quae propius affines sint arcanis libris. Neque vero me clam est, quanto supercilio quidam con­ temnant poeticen ceu rem plusquam puerilem, quanto rhetoricen, quanto bonas ut vocant et sunt litteras omnes. Attamen hae nobis insignes illos dedere theologos, quos nunc proclivius est negligere quam intelligere. Parabolis omnia

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Stich lassen wollte, zurückzukehren, denn Studien dieser Art machten den Geist auch für die übrigen Wissenschaften lebendiger und kraftvoller. Andererseits wenn einer bloß in jenen läppischen, peinlichen und mageren Lehrvorschrift­ chen der Dialektik unterwiesen wird, oder wie sie gegen­ wärtig auch tradiert wird, in der Sophistik, welche man infolge neu auftauchender Schwierigkeiten von Tag zu Tag immer wieder verschieden darstellt, so kommt es, daß einer im Streitgespräch freilich ungeschlagen davongeht ; unsterblicher Gott, wie sehen wir sie aber im übrigen bei der Behandlung der heiligen Schriften darnieder­ liegen, vor Kälte erstarren, ja, gar nicht mehr leben ! Wenn einer in dieser Sache nach einem passenden Beleg sucht, dann möge er j ene alten Theologen, einen Origenes1B, Basiliusu, einen Hieronymus mit diesen jüngeren zusam­ mentun und vergleichen. Da wird er sehen, wie dort ge­ wissermaßen ein goldhaltiger Strom ist, hier dagegen gewisse Rinnsale fließen, die durchwegs nicht immer rein sind und ihrer Quelle entsprechen. Dort wirst du in Gärten höchsten Glückes überreich gesättigt, hier verletzt du dich und quälst dich unter Dornengebüschen. Dort ist alles voll der Majestät, hier ist nichts voller Glanz ; viel Schäbiges findest du und weniges, das etwa der Würde der Theologie ent­ spräche. Wenn man schon längere Zeit bei den profanen Wissenschaften verweilen muß, so würde ich in der Tat jene vorziehen, die den heiligen Schriften am nächsten verwandt sind . Mir ist nicht unbekannt, mit welchem Hochmut man in gewissen Kreisen die Dichtkunst als eine mehr als kindische Angelegenheit verachtet, und auch die Rhetorik und alle „guten Wissenschaften", wie man sie nennt und wie sie es tatsächlich sind . Diese schenkten uns aber jene erlauchten Theologen, die man nun eher geneigt ist, links liegen zu lassen, als daß man versuchte, sie zu verstehen. So hat 11 Origenes wurde von Erasmus wegen seiner bibelkritischen und exegetischen Arbeiten besonders geschätzt. u Basilius der Große (ca. 330-79), einer der drei „kappadozischen Väter".

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paene convestivit Christus, id quod poetis est peculiare . Rhetorum schemata in prophetis et Paulinis litteris ostend i t Augustinus. Ipse Paulus poetarum est usus testimoniis . Ubi tandem in his usquam, quod Aristotelem aut Averroem referat ? Ubi primarum et secundarum intentionum, ubi ampliationum ac restrictionum, ubi formalitatum aut quidditatum aut etiam ecceitatum ulla mentio, quibus nunc differta sunt omnia? In ceteris professionibus pulcherrimum est, si suos quisque principes et auctores referat. Vergilius expressit Homerum, Avicenna Galenum, Aristoteles pro argumentis diversos. Cur soli nos ausi sumus a nostrae philosophiae principibus tota ratione desciscere ? Augustinus sibi gratulatur, quod in Platonem potissimum inciderit, non ob aliud, nisi quod huius dogmata propius accedant ad Christi doctrinam et a finitimis proclivius est transitus . Non quod damnem ea studia, quae nunc videmus in publicis scholis solemnia, modo vere tractentur neque sola tarnen. Complectantur et illa pauci, quos aequus amavit Iuppiter, ut verbis utar Vergilianis, nos plebeium instituimus theo-

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Christus fast alles in Parabeln gekleidet, und das ist als poetische Eigenheit anzusehen. Die Figuren der Rhetoren hat schon Augustinusll> bei d en Propheten und in den Paulinischen Briefen nachgewiesen. Selbst Paulus18 be­ nützte das Zeugnis der Poeten. Man wird dort vergeblich nach Hinweisen auf Aristoteles oder auf Averroes suchen. Wo findet sich je eine Erwähnung der primären und sekun­ dären „Intentionen", der „Vertagungen" und „Restrik­ tionen", wo der „ Formalitäten" und „Quidditäten" oder auch der „Ecceitäten"17, von denen heutzutage alles nur so wimmelt. In all den übrigen Disziplinen gilt es als sehr löblich, wenn einer seine Vorgänger und Gewährsmänner zitiert. Vergil erwähnt ausdrücklich den Homer, Avicenna18 den Galen, Aristoteles erwähnt in seiner Beweisführung verschiedene. Warum sollen wir allein es wagen, von den Vorgängern unserer „Philosophie" völlig abzufallen. Augustinus19 beglückwünschte sich selbst, daß er sehr früh auf Plato verfallen sei, und zwar aus keinemanderen Grund, als weil dessen Lehren an die Botschaft Christi überaus nahe herankämen und von Angrenzendem der Übergang leichter vonstatten gehe. Nicht daß ich die Studien ver­ dammte, die wir gegenwärtig in den öffentlichen Schulen als geheiligte Tradition feststellen ; j edoch wenn sie nur ernst, und nicht ausschließlich betrieben würden. Jenes fassen auch nur die wenigen, welche der gerechte Jupiter ge­ liebt hat, um ein Wort von VergilllO zu gebrauchen : einen 11 Augustinus, De doctrina Christiana IV, 7; 20; PL 34,93 ff., 107 ff. 11 A pg 1 7,28 ; l Cor. 15,33 ; Tit l,12. 17 Wie an anderer Stelle ergeht sich auch hier Erasmus in anti­ scholastischer ( antiaristotelischer) Polemik. Vgl. zu formalitas, quid­ ditas Paraclesis, Anm. 43 ; für eceeitas dürfte wohl der von Duns Scotus geformte Begriff der haecuitas zu lesen sein, unter dem der von den Humanisten gering geachtete englische Franziskanerphilosoph das Prinzip der Individuation versteht. 11 Einftußreicher arabischer Philosoph und Arzt (9l1-1037). 11 Augustinus, Confessiones VIII, 2; PL 32,749ff. Vgl. hier auch die Vorliebe der Humanisten für Plato. " Vergil, Aeneis VI, 1 29 f. =

In Novum Testamentum Praefationes logum. Tametsi ut ingenue quod sentio dicam, mihi parum tutum videtur ad theologiam destinato in profanis studiis, praesertim alienioribus consenescere. Fit enim, ut qui palatum ac linguam multo absinthio habent infectam, iis quicquid deinde biberint aut ederint absinthium sapiat, et qui diutius in sole versati sunt, iis deinde quicquid viderint eo sese offert colore, quem ipsi secum in oculis glaucomate vitiatis afferunt. Ita qui bonam vitae partem in Bartholo, in Averroe, in Aristotele, in sophisticis cavillationibus posuerunt, iis divinae litterae non sapiunt id quod sunt, sed quod illi secum afferunt. Etenim ut elegans est fortassis in tractatione divinarum litterarum nonnihil velut exoticis illis opibus obiter aspergere, ita vehementer absurdum vide­ tur, cum rem tractes ab omnia sapientia mundana longe diversissimam, nihil crepare nisi Pythagoram, Platonem, Aristotelem, Averroem et his profaniores auctores, -ad

horum opiniones velut oracula obstupescere. An non istud est Christi philosophiam non condire, sed prorsus aliam reddere ? Quod si quis clamabit absque bis non esse theo­ logum, equidem consolabor meipsum tot insignium virorum exemplis, Chrysostomi, Hieronymi, Ambrosii, Augustini,

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Theologen aus dem Volk wollen wir heranbilden. Um auf­ richtig zu sagen, was ich meine, mir scheint es gleichwohl sehr bedenklich, wenn einer, der für die Theologie bestimmt ist, in den profanen Studien, vor allem in den entfernter gelegenen, alt wird . Es kommt nämlich vor, daß Menschen, deren Gaumen und Zunge von einem Übermaß an Wermut ausgelaugt sind, den Wermut mitschmecken, was immer sie auch später trinken oder essen ; und jenen, die sich allzu­ lange in der Sonne aufhalten, bietet sich alles, was sie ge­ sehen haben, in der Farbe dar, die sie aus sich mit ihren durch den Star geschädigten Augen an die Dinge heran­ tragen.21 Ebenso besitzen die göttlichen Wissenschaften für jene, die einen guten Teil ihres Lebens auf Bartholus22, Averroes, auf Aristoteles und all die sophistische Silben­ stecherei verwendet haben, nicht mehr den Geschmack, der ihnen seinsgemäß zukommt, sondern jenen, den sie von sich aus hineintragen. Wie elegant es auch sein mag, beim Lehren der heiligen Wissenschaften nebenbei etwas aus jenen exotischen Schätzen fallenzulassen, so überaus absurd muß es scheinen, bei der Behandlung einer Sache, die von jeder weltlichen Weisheit meilenweit entfernt ist, nichts anderes als Pythagoras, Plato, Aristoteles, Averroes und noch pro­ fanere Autoren als diese hören zu lassen und ob ihrer Mei­ nungen wie vor Orakeln staunend zu verharren. Soll das noch heißen, daß man die Philosophie Christi bloß würze ? Gibt man sie nicht völlig verändert wieder ? Wenn mir nun einer einwirft, daß ohne diese Autoren kein Theologe sein könne, so tröste ich mich wahrlich durch das Beispiel so vieler berühmter Männer, eines Chrysostomus23, eines Hieronymus, eines Ambrosius, eines Augustinus, schließlich 11 Erasmus weist hier im Vergleich auf erkenntnistheoretische Zu­ sammenhänge hin, die bei John Locke in seiner Lehre von den primä­ ren und sekundären Sinnesqualitäten ihre revolutionäre neuzeitliche Ausformung finden. 11 Bartolo von Sassoferato (1313-1357), fruchtbarer italienischer Rechtsgelehrter ; Haupt einer dialektischen Juristenschule. 11 Johannes Chrysostomus (ca. 347-407), Patriarch von Konstanti­ nopel, einer der bedeutendsten Exegeten des christlichen Altertums.

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denique Clementis, immo Petri et Pauli, qui ista non solum non calluerunt, verum etiam damnant aliquoties. Illud magis ad rem pertinuerit, ut tirunculo nostro Christi dogmata tradantur in summam redacta idque potissimum ex euangeliis, mox apostolorum litteris, ut ubique certos habeat scopos, ad quos cetera conferat, velut illa, ut exempli causa paucula notem, Christum novum in terris instituisse populum, qui totus e caelo penderet et omnibus huius mundi praesidiis diffisus alio quodam modo dives esset, alio sapiens, alio nobilis, alio potens, alio felix et contemptu rerum omnium rerum felicitatem consequeretur. Qui nesciret invidiam, nimirum oculo simplici, qui nesciret libidinem, ut suapte sponte eunuchus, qui pudorem huma­ num non sentiret, qui quo maior esset, hoc magis se sub­ mitteret omnibus, qui ad infantulorum simplicitatem ac puritatem veluti renatus esset, qui volucrum ritu in diem viveret, cui vita vilis esset, mors optanda, qui nec tyran­ nidem timeret nec mortem nec satanam unius Christi praesidio fretus. Qui nesciret ne lacessitus quidem vel irasci vel maledicere, qui et de male merentibus bene mereri studeret, intra quos summa esset concordia, nec alia prorsus quam membrorum eiusdem corporis inter se, inter quos mutua caritas omnia faceret communia. Qui sie viveret, ut sal et lux esset orbis, quique sie ageret, ut ad extremum illum diem semper esset velut accinctus ac paratus. Indi­ candum et illud paucis, ut nihil praetermiserit Christus, ad versus quod sua doctrina non praemunierit suos. In quibus oporteat collocare felicitatem, docuit in monte, quibus factis paranda sit immortalitas, docuit in parabola iudicii sub

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eines ClemensM, ja sogar eines Petrus und Paulus, die jene nicht nur nicht gekannt haben, sondern sogar des öfteren verdammen. Das gehört vielmehr zur Sache, daß unserem Neuling die Lehren Christi - auf das Wesentliche beschränkt - dar­ geboten werden, und zwar zuerst aus den Evangelien, dann aus den Briefen der Apostel. Er muß allenthalben sichere Grundpfeiler haben, auf die er das übrige beziehen kann ; um nur weniges als Beispiel anzuführen : Christus habe auf der Erde ein neues Volk eingesetzt, das gänzlich vom Him­ mel abhänge und, allem Schutz dieser Welt mißtrauend, auf eine gewisse andere Weise reich sei, anders klug, anders vornehm, anders mächtig, anders glücklich, und das durch Verachtung aller Dinge das Glück an den Dingen erjage ; ein Volk, das den Neid nicht kennt, das begabt ist mit einem arglosen Auge ; das die fleischliche Gier nicht kennt, gleich­ sam verschnitten aus freier Wahl ; das die Menschenfurcht nicht spürt ; das sich um so demütiger allen unterwirft, je größer es ist ; das zur Einfalt und Reinheit der Kinder gleichsam wiedergeboren ist ; das nach der Art der Vögel von einem Tag auf den anderen lebt ; dem das Leben wohl­ feil ist und der Tod erwünscht ; das weder einen Tyrannen noch den Tod noch den Satan fürchtet, einzig im Ver­ trauen auf den Schutz Christi ; das nicht einmal gereizt zu zürnen und zu fluchen weiß ; das sich bemüht, daß j enen, die Böses verdienen, Gutes zuteil wird ; unter denen dann die größte Eintracht herrscht wie unter Gliedern desselben Leibes, bei denen die gegenseitige Liebe alles gemeinsam macht ; das so lebt, daß es Salz und Licht der Erde ist ; das so handelt, daß es den Jüngsten Tag immer gleichsam um­ gürtet und bereit erwartet. Auch das ist noch den wenigen kundzutun, daß Christus nichts übersehen habe, wovor er nicht durch seine Lehre die Seinen bewahrt hätte. Worauf man seine Glückseligkeit bauen müsse, lehrte er auf dem Berg ; durch welche Werke das ewige Leben zu bereiten sei, H

Clemens von Rom, dritter Nachfolger des Apostels Petrus, be­

rühmt durch seinen Korintherbrief aus dem Jahre 96.

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persona haedorum et ovium. Quomodo se gerere debeant erga fratres, a quibus offensi sint, quomodo erga infirmos, quomodo erga ethnicos, quomodo adversus hostes et perse­ cutores, quomodo erga praefectos malos aut impios. Deinde admonendus, ut diligenter observet totum illum Christi circulum et orbem, quomodo natus, quomodo educatus, quomodo adoleverit, qualis fuerit erga parentes et agnatos, quomodo ingressus euangelizandi negotium; quam varius in edendis miraculis, quam varius in responsis. Ut plebis miseretur, in Pharisaeos et scribas inclamat, in ementes ac vendentes et flagello saevit. Et ut caerimonias ubique contemnit, ita fidem unice semper exigit. Quaedam velut ignoravit, veluti de Caesaris imagine. Ad quosdam ultro accessit, ad quosdam gravatim ivit, quosdam ultro sibi adiunxit, quosdam sequi volentes non admisit. Herodi nihil respondit, Pilato pauca, quemadmodum et Annae Caiphaeque. Cum primis observandum, quibus rebus se praeparaverit ad extremum illud certamen, quomodo se gesserit in morte, quomodo sepultus sit, quomodo resurre­ xerit. Nihil enim in his, quod non admirabilem habeat pietatis doctrinam, si quis attentius observet et in his pervestigandis philosophetur. Iam non satis est circum­ spicere, quomodo iuxta sensum historicum, tropologicum, allegoricum, anagogicum diversis in rebus varie reluceat aeterna veritas, verum etiam in singulis horum qui gradus sint, quae differentiae, quae tractandi ratio. Quot modis

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lehrte er unter dem Bild von Böcken und Schafen in seiner Parabel vom Gericht; dazu, wie man sich verhalten müsse gegen Brüder, von denen man beleidigt worden ist, wie gegen Kranke, gegen die Heiden, wie gegen Feinde und Ver­ folger, wie gegen böse und ruchlose Vorsteher.25 Hierauf muß einer dazu geführt werden, daß er umsich­ tig den ganzen Lebenskreis Christi studiert, wie er geboren, erzogen, herangewachsen, wie er sich gegen Eltern und Verwandte verhielt, wie er die Aufgabe der Evangelien­ verkündigung auf sich nahm, wie vielfältig er beim Wirken seiner Wunder, wie schlagfertig er bei seinen Antworten war. Wie er sich des Volkes erbarmt, gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten aufschreit und gegen Käufer und Ver­ käufer mit der Geißel wütet. Und wie er allenthalben die Zeremonien verachtet, so fordert er immer einzig den Glau­ ben. Wie er gewisses nicht wußte und wie er sich in der Frage des Kaiserbildes verhielt. Zu gewissen Menschen ging er aus freien Stücken, zu gewissen nur schwer, gewisse ver­ band er sich aus freien Stücken, gewisse, die ihm folgen wollten, nahm er nicht an. Dem Herodes antwortete er nichts, dem Pilatus wenig, ebenso dem Annas und Kai­ phas. Vor allem ist zu beachten, wie er sich auf den letzten Streit vorbereitete, wie er sich im Augenblick des Todes verhielt, wie er begraben wurde und wieder auferstand. Nichts findet sich nämlich in diesen Tatsachen, das nicht eine bewunderungswürdige Lehre der Frömmigkeit böte, wenn einer gar aufmerksam achtgibt und bei ihrer Durch­ forschung philosophierend nachsinnt. - Es wird wohl noch nicht genügen, sich umzusehen, wie nach dem historischen, wie nach dem übertragenen, dem allegorischen, dem „anagogischen"

(tiefer hervorgeholten) Sinn die ewige

Wahrheit mannigfaltig in verschiedenen Gegenständen auf­ leuchtet, sondern auch ins einzelne gehend, welche Stufen, welche Unterschiede es gibt und welche Methode man veru Vgl. dazu Mt 6,22 ; 19, 1 2 ; Lk 12,4-5 ; Mt 20,26-27; Mt 18,3 ; 6,26; Röm 8,38f.; Mt 5,38 ff.; 1Kor 12,25-27; Mt 5, 13f. ; Mt 24,42 ff. ; Mt 25,31 ff.

In Novum Testamentum Praefationes tractat Origenes a deo tentatum Abraham? In historia ver­ sans quos tarnen locos invenit? Ut ne dicam, quod idem typus pro varietate rerum, ad quas accommodatur, pro diversitate temporum velut aliam accipit figuram, veluti porcorum siliquae ad opes, ad voluptates, ad honores, ad mundanam eruditionem possunt accommodari. Et tarnen adhuc versaris in tropologia. Quin tota parabola potest ad Iudaeorum populum et gentes applicari. Sunt, quae ad discipulos et illa tempora proprie pertineant, sunt, quae ad universos, quaedam dantur illorum temporum affectibus, nonnulla ceu per ironiam ridentur. Verum si quis haec conetur adhibitis exemplis explanare, res non unius erit voluminis. Admonendus, ut apposite condiscat citare divinae scrip­ turae testimonia, non e summulis aut contiunculis aut collectaneis nescio quibus iam sescenties aliunde alio commixtis ac refusis, sed ex ipsis fontibus, nec imitetur quosdam, quos non pudet oracula divinae sapientiae detor­ quere ad alienos sensus, aliquoties et ad contrarios. Sunt, qui secum afferunt decreta et his servire cogunt sacram scripturam, cum ex hac petenda sint animi decreta. Sunt, qui eam ad publicos affectus ac mores pertrahunt, et cum hinc sumendum sit, quid fieri oporteat, huius patrocinio

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wendet. Auf wie viele Weisen behandelt doch Origenesss die Prüfung Abrahams durch Gott? Wie viele Stellen findet er aber da, bloß in der geschichtlichen Ebene ver­ weilend? Um nicht zu sagen, daß derselbe Typus je nach der Verschiedenheit der Gegenstände, an die er angepaßt wird, je nach den verschiedenen Zeitumständen gleichsam eine neue Gestalt annimmt, so wie die Schoten der Schweine27 auf die die Reichtümer, die Lüste, die Ehren und die welt­ liche Bildung angewandt werden können. Und doch ver­ weilst du noch in der „Tropologie"28• Warum kann nicht die ganze Parabel auf das Volk der Juden und die Heiden angewendet werden? Es gibt Dinge, die eigentlich nur für die Jünger und ihre Zeiten, dann aber solche, die für alle gelten; gewisse sind bestimmt für den geistigen Zustand jener Zeiten, manches wird wie in Ironie belächelt. Sollte jedoch einer mit Angabe von Beispielen das zu erklären versuchen, so wird er für diese Aufgabe mit einem Band nicht das Auslangen finden. Dabei muß die Mahnung ausgesprochen werden, daß der Schüler anstellig die Zeugnisse der Heiligen Schrift zu zitieren lerne,

nicht aus irgendwelchen Zusammen­

fassungen, Predigten oder Sammlungen, die schon dutzend­ mal von anderer Seite her vermischt und wieder zurück­ gegossen worden sind, sondern aus den Quellen selbst. Er möge nicht gewisse Personen nachahmen, die sich unter­ stehen, die Wahrworte der göttlichen Weisheit in einen fremden Sinn, manchmal sogar ins Gegenteil zu verdrehen. Es gibt solche, die vorgefaßte Ansichten mit sich herum­ tragen und die Heilige Schrift zwingen wollen, diesen zu dienen, wo doch von ihr aus alle menschlichen Ansichten überprüft werden müssen. Es gibt solche, die sie mit Ge­ walt nach den allgemeinen Anschauungen und Sitten strecken wollen; und obwohl man von da ableiten müßte, was zu geschehen hat, decken sie durch die schützende 11

In Genesim homilia 8; PG 12, 203ff. Parabel vom verlorenen Sohn Lk 1 5,16. 11 Vgl. die Lehre von den „Tropen", den Redewendungen, der bildlichen und metaphorischen Sprechweise. 17

In Novum Testamentum Praefationes tuentur id, quod vulgo fit. Iam est occultius quidem, sed hoc ipso nocentius depravandi genus, cum abutentes divinae scripturae vocabulis ecclesiam interpretamur sacerdotes, mundum laicos Christianos, interim, quod de Christianis dictum est, monachis accommodantes, gladios utramque dicionem, cum quod de cultu divino dictum est, ad solas caerimonias deßectimus, quod de sacerdotis officio, ad solas preculas utcunque dictas trahimus. Idque quo certius fiat, non sat habeat quattuor aut quinque decerpsisse verbula, circumspiciat, unde natum sit quod dicitur, a quo dicatur, cui dicatur, quo tempore, qua occasione, quibus verbis, quid praecesserit, quid consequatur. Quandoquidem ex hisce rebus expensis collectisque deprehenditur, quid sibi velit quod dictum est. Si primum curaris, ut id facias quam op­ time, postea fiet, ut et facile facias. Annotanda est et theo­ logici sermonis proprietas. Nam habet spiritus ille divinus suam quandam linguam et scriptores illi sacri, et cum Graece scribunt, multum referunt ex proprieta,te sermonis Hebraici. Atque hinc multis errandi ansa. Quod nunc dicturus, haud scio an praecipuam allaturum sit utilitatem, si quis dextre praestiterit. ld est huiusmodi, ut locos aliquot theologicos aut tibi pares ipse aut ab alio quopiam traditos accipias, ad quos omnia quae legeris veluti in niDe falso Credita et Ementita Constantini Donatione Declarati0Über die christliche Lehre< schreibt, indem er als Beispiel das folgende J ohanneszitat anführt : Im Anfang war das Wort bei Gott, und Gott war. Und das Satzzeichen da­ zwischengesetzt, folgt es weiter : Dieses Wort war am An­ fang bei Gott. Diese Leseweise nennt er häretisch, und zwar von jenen verfochten, die leugnen, daß das Wort Gottes Gott sei. Das gleiche gilt für jenes Zitat, das bei Paulus im Brief an die Römer steht : Wer soll gegen die Auserwählten Gottes Anklage erheben?atl Was von dieser Stelle an folgt, gibt, wenn es nicht als Frage gelesen wird, nicht nur einen häretischen, sondern geradezu einen gotteslästerlichen Sinn. Auf obige magst du gleichsam antworten : Gott ist es, der rechtfertigt. Hierauf : Wer ist, der verdammt ? Darauf magst du wiederum antworten : Christus Jesus, der gestorben ist. Derselbe, der verletzt ist durch die Doppeldeutigkeit der paulinischen Sprache, wenn er sagt : Gottes „Torheit" ist weiser als die Menschen•, will lieber so wiedergeben : Denn

" Augustinus, De doctrina Christiana III, 2,3 ; PL 34,66. Es handelt sich um die Erklärung von Joh 1,1 ff. 11 Röm 8,33-34. Augustinus, ibidem III, 3,6 ; PL 34,67 f. Die Beweis­ führung ist nur im weiteren Zusammenhang der Römerbriefstelle so schlüssig, wie Erasmus tut. Paulus spricht dort in der Bildsprache des Gerichtswesens davon, daß denAuserwählten nichts von der Liebe Christi trennen könne, wenn Gott für ihn als Zeuge und Anwalt eintrete. „Wer wird uns von der Liebe Christi trennen? Schwierigkeiten? Bedrängnis? Hunger? Blöße? Gefahr? Verfolgung? oder das Schwert?" Röm 8,35f. Darauf wäre natürlich die Antwort „Gott" oder„Christus"blasphemisch. 11 1 Kor 1,25. Augustinus, ibidem II, 13,20 ; PL 34,45. Die Stelle wird klarer mit dem griechischen Text zusammen, wo statt des „homi­ nibus" „-r(;)v clv&p6nc.>v" als Genetivus Comparationis steht, dessen

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hominis, quod alioqui videri potuerit incertum, dandine casu dictum esset hominibus an auferendi. Atque haec et alia bis ferme consimilia multis verbis illic annotavit vir tantus, quae nihil negotii sit animadvertere, etiam si nullus moneat. Quid si is legisset tot portenta mendarum a nobis prodita sublataque, tot crassissimas discussas tenebras, tot sensus praepostere, non solum ambigue redditos suae restitutos integritati, an non hunc laborem nostrum utris­ que manibus complexus fuisset ? Quaedam autem tanta brevitate sunt annotata, ut ni nostram annotatiunculam ad locum ipsum conferas, non sis animadversurus, quid voluerim. Nam quod complusculis locis occurrent eadem, id data opera factum est, quo consuleremus lectori vel parum memori vel inquirendi laborem fugitanti. Et sane nonnihil vereor, ne quemad­ modum multos est offensura novitas, ita e diverso exsistant, quibus hoc ipsum displiceat quicquam esse, quod conveniat cum veteri interprete. Aliis nihil probatur, quod sit diver­ sum, aliis ineruditum videtur, quod non tota ratione pugnet ac dissideat. Rursus alios offendit sermo paulo purior ac Latinior, nempe hos, qui nihil acutum iudicant, nisi quod prodigiosis scateat soloecismis. Alii contra fastidiunt, quicquid non refert Ciceronianum illum nitorem. Nos in hoc opere ut non affectavimus eloquentiam, ita munditiem, si

3. Apologia • Rechtfertigung

das Törichte von seiten Gottes ist weiser als die Weisheit des Menschen, weil andererseits wieder unsicher scheinen wird, ob man wohl das „hominibus", d. i. „Menschen", im „Gebefall" oder im „Nehmefall" gebraucht. Das und anderes sehr Ähnliche merkte dort der so bedeutende Mann in zahlreichen Äußerungen an, was zu erkennen keiner Mühe bedarf, auch wenn einen niemand daran gemahnt. Was nun, wenn dieser die so vielen monströsen Fehler ge­ lesen hätte, die von uns aufgedeckt und behoben wurden, die allergröbsten vertriebenen Finsternisse, die vielen Be­ deutungen, die verkehrt, nicht nur zweideutig, wiederge­ geben waren und nun in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederhergestellt sind ? Hätte er da nicht unsere Arbeit mit beiden Händen aufnehmen müssen ? Manches aber ist in solcher Kürze angemerkt, daß du kaum erkennen wirst, was ich wollte, wenn du nicht gleich an der Stelle unsere kleine Anmerkung berücksichtigst. Wenn nun an mehreren Stellen dasselbe aufscheint, so haben wir uns dieser Mühe deshalb unterzogen, um auch einem Leser mit schlechterem Gedächtnis und einem, der die Mühe des Nachschlagens scheut, helfen zu können. Allein ich fürchte nicht wenig, daß viele gewissermaßen an der Neuheit Anstoß nehmen werden, und daß ebenso im Gegenteil andere auftreten, denen das mißfällt, was immer es auch sein mag, weil es mit einem alten Interpreten über­ einstimmt. Von den einen wird nichts gebilligt, was ver­ schieden erscheint, von den anderen wird als unwissen­ schaftlich angesehen, was nicht in jeder Hinsicht wider­ streitet und abfällt. Ferner nehrilen die einen Anstoß an einer etwas gepflegteren Sprache und Latinität, und zwar jene, die nichts als schwerwiegend beurteilen, was nicht über­ reichlich von grammatikalischen Fehlverbindungen wim­ melt. Andere fühlen sich wiederum angeödet, wenn sie etwas nicht an den ciceronianischen Glanz erinnert. Zwar haben wir in diesem Werk Beredsamkeit nicht angestrebt, aber

Entsprechung nun im Lateinischen nicht nur als Ablativus Com­ parationis, sondern auch als Dativ verstanden werden könnte.

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In Novum Testamentum Praefationes

qua in promptu fuit, non respuimus. Non offenditur deus soloecismis, at idem non delectatur. Odit superbam elo­ quentiam, fateor, at multo magis superciliosam et arrogan­ tem infantiam. Nos toleramus istorum balbutiem, ferant ipsi vicissim nostram qualemcunque dicendi mediocritatem. Verum ut aliquando finiam, quemadmodum ingenue fateor esse permulta, quae doctius tractari potuissent, ut non infitias eo locis aliquot me dormitasse lassum, ita res ipsa, ni fallor, indicabit me post Laurentium Vallam, cui non hac tantum in parte debent bonae litterae, post Iacobum Fabrum, virtutis omnis et litterarum antistitem, nec sine causa versatum in hoc negotio nec sine fructu. Bene valeto, lector amice, et si quid adhuc desideras, a praefa­ tione, quam Annotationibus praefixi, petito. APOLOGIAE FINIS

3. Apologia Rechtfertigung •

IIS

wir wollten doch stilistische Sauberkeit, wo sie auf der Hand lag, nicht verschmähen. Durch grammatikalische Fehlver­ bindungen wird Gott nicht beleidigt, er hat aber auch keine Freude daran. Er haßt hochmütige Beredsamkeit, ich gestehe es, viel mehr aber finstere und arrogante Wortkargheit. Wir ertragen das Gestammel der einen, die anderen wiederum mögen unsere gewisse Mittelmäßigkeit im Ausdruck geduldig hinnehmen. Damit ich aber endlich schließe - wie ich zwar freimütig bekenne, daß es sehr vieles gäbe, was man gar gelehrt hätte behandeln können, wie ich nicht leugne, daß ich an einigen Stellen lässig war und geschlafen habe, so wird, wenn ich mich nicht täusche, die Sache selbst für mich reden : In der Nachfolge des Laurentius Valla87, dem die guten Wissen­ schaften nicht nur in dieser Hinsicht verpflichtet sind, in der Nachfolge des Jacobus Faber38, jenem Meister aller Tugend und Gelehrsamkeit, habe ich mich mit dieser Arbeit weder ohne Grund noch ohne Erfolg abgemüht. Lebe wohl, ge­ neigter Leser, und wenn du noch etwas wünschest, so erbitte es von dem Vorwort, welches ich den >AnmerkungenÜ ber die christliche LehreÜ ber die göttlichen Namen< nannte, und wiederum in einem Büchlein mit dem Titel >Ü ber die mystische Theo­ logieTheologische Unterweisungen< und wiederum in seinem Werk > Ü ber die symbolische Theologie< -. Desungeachtet wollen wir doch ein Gleiches tun, nicht nur knapper gefaßt, sondern auch weniger fein und mit größerer Schlichtheit8, wie man sagt ; weil wir ja das Folgende nicht für erste Geister bereit­ stellen, sondern dem ungebildeten Volk und Anlagen ge­ ringerer Art durch unseren Fleiß zu Hilfe kommen wollen. Was ich daher gleich an erster Stelle vorschreiben mußte, das kann in der Tat sehr leicht und, wie diese sagen, für die „breite Masse" formuliert werden. Was im übrigen den Nutzen anlangt, so liegt das Schwergewicht zweifellos zu­ erst bei den Menschen in ihrer Gesamtheit. Und wie es beim Vorschreiben sehr wenig Mühe braucht, so braucht es beim Vorleben des guten Beispieles viel, um dieser Philosophie, nicht der stoischen oder peripatetischen, sondern der schlicht himmlischen eine Gesinnung entgegenzubringen, die ihrer würdig ist ; nicht nur ein Herz, das sich von allem Schmutz des Lasters rein hält, sondern auch eines, das in allem Aufruhr der Begierden soweit wie möglich frei und ruhig ist, auf daß in uns deutlicher wie in einem besänftig­ ten Fluß oder einem glatten und gereinigten Spiegel das Bild jener ewigen Wahrheit aufleuchte. Wenn nämlich Hippokrates von seinen Schülern heilige und untadelige 1

PL 34, 1 5-122. Vgl. PG 3 ; gemeint ist der um etwa 500 n. Chr. anzusetzende Pseudo-Dionysius Areopagita, Verfasser einfiußreicher mystischer Schriften. Die Schrift >Uber die symbolische Theologie< dürfte wohl nie tatsächlich existiert haben. Vgl. LThK 3, S. 403. 8 Vgl. >MethodusÜ ber die christliche LehreNaturalis Historiauscipientis rnagi­ straturn, qui rnagistratui gerendo non sit idoneus. Idern fiat in apologis, in sirnilibus, de quibus a nobis nonnihil est proditurn, turn in his praecipue partibus rhetorices, quae tractant de statibus, de propositionibus, de probationibus, de arnplificationibus, de quibus accuratissirne tractat Fabius, deque gerninis affectibus, alteris, quos �&l) vocant, rnitioribus, alteris acrioribus, quos 7ta&l) dicunt, de quibus nerno diligentius scripsit Aristotele, quod harurn rerurn

Theologische Methodenlehre oder jenes überaus verworrene Büchlein über die hebräi­ schen Namen. Gewisse Leute finden für alles einzig und allein mit dem >KatholikonÜber die christliche LehrecB9 ausführlichst darüber gehandelt hat. Zuerst also muß, wie es scheint, die Zeit kommen, die der Epoche Christi vorangeht; als nächste folgt die Zeit, da das Licht des Evangeliums zwar noch nicht aufging, aber dennoch schon herannahte und sich ankündigte, so daß die Schatten des früheren Gesetzes spärlicher wurden, so wie wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist, sich aber dem Aufgang nähert und der Himmel sich allgemach weiß­ lich färbt. Damals war es noch genug, durch die Taufe des Johannes benetzt und zur Buße für ein höheres Leben auf­ gerufen zu werden ; genug war es, daß die Zöllner ermahnt wurden, nichts außer dem, was ihnen aufgetragen war zu fordern, genug war es, die Soldaten zu ermahnen, daß sie niemandem Gewalt antun, niemanden berauben, daß sie vielmehr mit ihrem Sold zufrieden seien. Nicht, daß das schon rechtfertigte oder zu wahren Christen machte, nur weniger schlecht sollte es die Menschen machen und sie für die bald folgende Predigt Christi vorbereiten. Niemals lehrte näm­ lich Johannes, man dürfe nicht schwören, seine Frau nicht entlassen, man müsse das Kreuz auf sich nehmen, sich um den Feind ein Verdienst erwerben; das, was im eigentlichen Sinne zu Christen macht, war Christus vorbehalten. Viel­ leicht gehört in diese Zeit die erste Predigt der Jünger, als ihnen befohlen wurde, nach dem Beispiel des Johannes zur Buße aufzurufen, die Nähe des Reiches Gottes anzukündi­ gen und von Christus zu schweigen. Auch weiß ich nicht, ob nicht die Taufe, mit der sie damals tauften, dieser Art war, denn auch die Apostel tauften damals, obwohl Christus selbst, nach dem Zeugnis des JohanneslCI, nieman­ den taufte; nicht eindeutig verraten uns die kanonischen Schriften, ob jemand von Christus getauft worden ist. " II, roff. ; PL 34, 71 ff. " Jo 4, 2.

1 88

Ratio

Christo iam late miraculis ac doctrina clarescente terrarum orbi, cum sie euangelica doctrina proferretur, ut tarnen legis observatio non interdiceretur, quod tempus complectitur et post datum spiritum sanctum rudis adhuc et nascentis ecclesiae primordia. Videntur autem ad hoc quaedam peculiariter attinere, velut omnes illae parabolae: de colonis vineae, qui domini filium occiderant, de nuptiis et excusan­ tibus invitatis, item quae de suppliciis et afflictionibus praedicatorum Christus praedicit ac fortassis quae praecipit de tollenda cruce, de excutiendo pedum pulvere, de nemine salutando in via, de fugiendo a civitate in civitatem, de relinquendo patre ac matre et uxore, de beatitudine castrantium se propter regnum dei, de vendendis possessioni­ bus ac renuntiando omnibus affectibus, de subinde mu­ tando loco, postremo quae de signis dicta sunt eos qui cre­ derent secuturis. Alioqui Christiani non essemus hodie, quos haec signa constat non esse secuta. Quamquam ex superioribus illud ad nos pertinet, quod ubicunque inciderit necessitas, hoc animo iubeamur habere quicquid habemus carum, ut parati simus ob Christi gloriam relinquere. Ad idem tempus pertinet et illud, quod in Actis apostolorum per Iacobum ac Petrum decemitur, ut qui ex gentibus ad Christum sese contulissent, abstinerent a suffocato et a san-

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Wenn es beliebt, soll der dritte Abschnitt der sein, da Christus schon weithin durch Wunder und Lehre auf dem ganzen Erdkreis leuchtete und die evangelische Lehre so vorgetragen wurde, daß dennoch die Beobachtung des Gesetzes nicht untersagt war, welche Zeit auch die Anfänge der noch nicht entfalteten und im Werden begriffenen Kirche nach der Sendung des Heiligen Geistes umfaßt. Da­ zu scheint aber gewisses in besonderer Weise zu gehören, z. B. alle folgenden Parabeln91: Über die Pächter des Wein­ gartens, die den Sohn des Herrn getötet hatten, über die Hochzeit und die Geladenen, die sich entschuldigen, ebenso was Christus über die Hinrichtungen und Bedrängnisse der Prediger voraussagt, und vielleicht was er befiehlt bezüglich des Kreuztragens, über das Abschütteln des Staubes von den Füßen, daß man niemanden grüßen soll auf dem Weg, über das Fliehen von Stadt zu Stadt, daß man Vater und Mutter und Frau verlassen müsse, über die Glückseligkeit derer, die sich um des Himmelreiches willen entmannenH, daß man den Besitz verkaufen93 und alle Leidenschaften verleugnen solle, wie man darauf den Ort wechseln müsse und schließlich, was über die Zeichen gesagt ist, die denen folgen werden, die glauben. Auf andere Weise können wir heute keine Christen sein, wenn nicht feststeht, daß uns diese Zeichen gefolgt sind. Gleichwohl betrifft uns auch Folgendes aus dem Vorhergehenden: Wo immer sich die Notwendigkeit ergibt, wird uns befohlen, wir sollten das uns teure Eigentum in der Gesinnung besitzen, daß wir bereit sind, es um der Ehre Christi willen zu verlassen. Zum selben Zeitabschnitt gehört auch das, was in der Apostelgeschichte von Jacobus und Petrus entschieden wird, daß die sich des Erstickten und des Blutes ent­ halten, die sich vom Heidentum zu Christus bekehrt haben"; 11 Zum Folgenden Mt 21, 33 ff., Mt 22, 2 ff., Mt 10, 1 7 f. II Mt 19, 12. 11 Mt 19, 2 1 . " Apg 15, 2o ff. E s handelt sich hier u m die sgn . Jacobusklausel, den Kompromißvorschlag, der anläßlich des Apostelkonzils in Jerusalem (50 n. Chr.) zwischen der Pauluspartei und den Foiderungen der Judaisten vermitteln sollte.

Ratio guine, quorum neutrum apud nos habetur nefarium. Siqui­ dem datum est hoc invincibili Iudaeorum pertinaciae, qui­ bus convenire non poterat cum incircumcisis, si nihil habuissent omnino Iudaismi. Fortassis idem sentiendum de scandalo, cui turn religiose cesserunt apostoli, cum adhuc tenerum esset euangelium, regnaret Judaismus et paganis­ mus. An non ridiculus esset hodie, qui coram Iudaeis ab­ stineret a carnibus suillis, ne quid illos offenderet ? Atqui hoc aliquamdiu factitatum est ab apostolis. Proinde mihi quidem frigidae videntur illae quaestiones, quas divus Augustinus movet in quadam epistola, quarum haec una est : an fas sit Christiano haurire aquam e fonte sive e puteo, in quem delapsae sint carnes idolis immolatae ? Paulus prae­ cipit, ut episcopi suas uxores ac liberos bene gubernent ; nunc et hypodiaconis ius habendi uxores interdicitur. Pau­ lus vult uxorem fidelem manere cum infideli marito, Augustinus et Ambrosius diversum sentiunt, et hodie secus iudicat ecclesia. Paulus non vult servum Christianum ab hero ethnico discedere nisi manumissum, secus hodie decre­ tum est. Sunt id genus alia permulta, quae pro temporum illorum usu instituta post oblitterata sunt aut mutata, veluti de caerimoniis sacramentorum pleraque. Complura turn non observata, quae nunc iubemur observare, quod genus sunt dies festi et fortassis haec , qua nunc utinam tarn salubriter uteremur, quam utimur passim, secreta ad­ missorum confessio. Nam per universum terrarum orbem

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ihren Frevel würden wir heute als unbedeutende Sache ansehen. Denn das ist als Zugeständnis für die unüber­ windliche Hartnäckigkeit der Juden aufzufassen, die mit den Unbeschnittenen unmöglich zu einer Übereinkunft gekommen wären, wenn diese überhaupt nichts vom Judaismus angenommen hätten. Vielleicht muß man das­ selbe empfinden bezüglich des Ärgernisses, dem damals die Apostel aus religiöser Scheu ausgewichen waren, da doch das Evangelium noch zart war und Judaismus und Heiden­ tum noch regierten. Würde sich heute nicht einer lächerlich machen, wenn er sich vor Juden des Schweinefleisches ent­ hielte, um sie ja nicht zu verletzen? Und doch wurde das einmal von den Aposteln geübt. Von hier aus erscheinen mir freilich jene Fragen abgeschmackt, die der heilige Augustinus in einem Brief96 anschneidet und von denen eine so lautet: Ist es einem Christen erlaubt, Wasser aus einer Quelle oder einem Brunnen zu trinken, in den Götzen­ opferfleisch gefallen war? Paulus befiehlt, daß die Bischöfe ihre Frauen und Kinder gut lenken98 ; heute ist sogar den Subdiakonen das Recht, Frauen zu haben, untersagt. Paulus will, daß eine gläubige Frau bei ihrem ungläubigen Mann bleibt97, Augustinus und Ambrosius vertreten eine andere Meinung98, und auch heute urteilt die Kirche anders. Paulus will nicht, daß ein christlicher Sklave vom heidnischen Herrn weggeht, es sei denn, er werde freige­ lassen; anders ist heute entschieden. Hieher gehört noch vieles andere, das nach der Sitte jener Zeit eingeführt, später getilgt und geändert wurde, wie das meiste von den Zeremonien der Sakramente. Einiges wurde damals nicht beobachtet, was wir nun beobachten müssen; hieher gehören die Festtage und vielleicht das geheime Schuld­ bekenntnis; würden wir es ebenso nutzbringend ge­ brauchen, wie wir es überall gebrauchen. Da nun die 16 „

Epistolae 47, 4 (ad Publicolam) ; PL 33,

1 Tim 3, 2 ff. 97 1 Kor 7, 13.

186.

11 Augustinus, De fide et opere, c. 16, 28; PL 40, 216; De coniug. adult; 1, 1 ff. ; PL 40, 451 ff. Ambrosiaster in 1 Kor 7, 1 5 ; PL 17, 231 .

Ratio

propagata iam et constabilita Christi religione, quam im­ peratores armis suis non persequebantur, ut solebant, sed tuebantur, nec depraedabantur opes ecclesiae, sed accumu­ labant (sit enim hoc, si videtur, quartum tempus), pro mutato rerum statu novae leges sunt inductae, quarum aliquot viderentur cum Christi decretis pugnare, n isi distinctione temporum scripturas in concordiam redigamus. Iam quintum tempus facere licebit ecclesiae prolabentis ac degenerantis a pristino vigore Christiani spiritus, ad quod opinor pertinere, quae dicit dominus in euangelio, quod abundante iniquitate refrigescet caritas multorum; ad haec futuros qui dicerent: ecce hie est Christus, ecce illic. Hoc tempus designasse videtur Paulus scribens Timotheo: Novis­ simis diebus instabunt tempora periculosa, et erunt homines se ipsos amantes, cupidi, elati, superbi, blasphemi, parenti­ bus non oboedientes, ingrati, scelesti, sine affectione, sine pace, criminatores, incontinentes, immites, sine benignitate, proditores, protervi, tumidi, caeci, voluptatum amatores magis quam dei, habentes speciem quidem pietatis, virtu­ tem autem eius abnegantes. Sed ne tanta temporum, personarum ac rerum varietas involvat lectorem, non abs re fuerit universum Christi

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Religion Christi schon über den ganzen Erdkreis ver­ breitet und gefestigt ist und die Kaiser sie nicht mehr mit ihren Waffen verfolgen, wie sie es gewohnt waren, sondern sie beschützen und nicht das Vermögen der Kirche plün­ dern, sondern es vermehren (das soll nämlich, wie wir meinen, der vierte Zeitabschnitt sein), sind in Anbetracht der veränderten Sachlage neue Gesetze eingeführt worden, von denen einige mit den Bestimmungen Christi in Wider­ streit zu sein scheinen, wenn wir nicht mit der Unterschei­ dung der Zeiten den Gleichklang der Schrift wiederher­ stellen. Es wird erlaubt sein, schon den fünften Zeitab­ schnitt für eine Kirche zu finden, die von der altehrwürdigen Kraft des christlichen Geistes abgleitet und entartet. Darauf, glaube ich, bezieht sich, was der Herr im Evangelium sagt, daß durch das Übermaß der Bosheit die Liebe der Vielen erkalten wird99 ; dazu kommen jene, die sagen wer­ den: Siehe, hier ist Christus, siehe, dort.100 Diese Zeit scheint Paulus bezeichnet zu haben,

wenn er an Timotheus

schreibt: In den letzten Tagen werden schlimme Zeiten hereinbrechen. Da werden die Menschen selbstsüchtig sein ; geldgierig, prahlerisch, hochmütig, schmähsüchtig ; den Eltern ungehorsam, undankbar, gottlos ; lieblos, treulos, verleumderisch ; zügellos, grausam, gemein ; verräterisch, frech, aufgeblasen und blind. Sie werden die Lust mehr lieben als Gott. Sie geben sich wohl den Schein der Frömmigkeit, lassen aber deren Kraft vermissen.101 Damit aber eine so große Mannigfaltigkeit der Zeiten, der Personen und der Dinge den Leser nicht zu sehr in Anspruch nehme, wird es wohl nicht unangebracht sein, das gesamte 11

Mt 24, 12. Mt 24, 23. 101 2 Tim 3, 1 ff. Die Idee der heilsgeschichtlichen Epochen geht bis ins A. T. zurück (vgl. etwa das Buch Daniel) ; vgl. die einschlägigen Artikel „Heilsgeschichte", „Zeit", „Kairos", „Chiliasmus" u . a in LThK. Konkrete Ausformungen seiner Gedanken konnte Erasmus in jeder zeitgenöSsischen Weltchronik vorfinden. Bemerkenswert ist, daß Erasmus fünf Perioden (und nicht wie üblich sieben) kennt. Außer­ dem beachte man den deutlichen Hinweis auf Notwendigkeit einer „reformatio" der Kirche im gegenwärtigen Stadium. ioo

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Ratio

populum in tres circulos dividere, quorum omnium tarnen unicum sit centrum, Christus Iesus, ad cuius simplicissimam puritatem pro sua cuique virili enitendum est omnibus. Neque enim oportet scopum suo movere loco, quin potius omnes mortalium actiones ad scopum dirigendae. Primum autem circulum teneant, qui, quoniam velut in vices Christi successerunt, Christo proximi sunt, illi semper adhaerentes ac sequentes agnum quocumque ierit, quales sunt sacerdo­ tes, abbates, episcopi, cardinales ac summi pontifices. Hos oportet quam maxime puros esse a rerum mundanarum contagio,

cuiusmodi

sunt voluptatum amor,

pecuniae

studium, ambitio, vitae aviditas. Horum est Christi puri­ tatem ac lucem e proximo haustam in secundum circulum transfundere, qui principes habet profanos, quorum tarnen arma legesque suo quodam modo Christo serviunt, sive dum necessariis ac iustis bellis profligant hostem publicamque tuentur tranquillitatem, sive dum legitimis suppliciis coercent facinorosos. Tertium circulum promiscuo vulgo dare licebit ceu crassissimae huius orbis, quem fingimus, parti, sed ita crassissimae, ut nihilo secius ad Christi corpus pertineat, quamquam in singulis circulis ordinem aliquem imaginari licet. Etenim cum sacerdoteS' sacrificiis litant deo, cum pabulo sermonis euangelici pascunt populum, cum puris precibus cum deo colloquuntur cumque pro salute gregis interpellant, aut cum domi secretis studiis meditlm­ tur, quo populum reddant meliorem, nimirum in purissima circuli sui parte versantur. Ceterum dum principum affecti­ bus obsecundant, ne provocati graviores excitent tragoedias, dum infirmorum imbecillitati multa concedunt inviti, ne ad deteriora prolabantur, in extrema circuli sui versantur ora,

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Volk Christi in drei Kreise aufzuteilen, die alle aber einen Mit­ telpunkt haben, Christus Jesus, nach dessen überaus einfacher Reinheit alle, jeder für seine Person, streben müssen. Nicht darf das Ziel von seinem Platz entfernt werden, vielmehr müs­ sen alle Handlungen der Sterblichen auf das Ziel ausgerichtet werden. Den ersten Kreis aber sollen jene innehaben, die, weil sie gleichsam die Stelle Christi eingenommen haben, Christus am nächsten sind, jenem immer anhangend und dem Lamme folgend, wohin es geht; das sind die Priester, die Äbte, die Bischöfe, die Kardinäle und die Päpste. Diese müssen sich möglichst rein von der Berührung mit welt­ lichen Dingen halten, wozu gehören: die Liebe zu den Lüsten, das Verlangen nach Geld, der Ehrgeiz, die Lebens­ gier. Es ist ihre Aufgabe, die Reinheit und das Licht Christi aus nächster Nähe zu schöpfen und in den zweiten Kreis auströmen zu lassen, der die weltlichen Fürsten umfaßt, deren Waffen und Gesetze auf ihre Weise Christus dienen, sei es, daß sie in notwendigen und gerechten Kriegen den Feind niederschlagen und die öffentliche Ruhe schützen, sei es, daß sie Lasterhafte durch gesetzliche Strafen in die Knie zwingen. Den dritten Kreis dürfen wir dem gemeinen Volk zuweisen, gleichsam dem gröbsten Teil des Kreisschemas, das wir bilden, aber dergestalt am gröbsten, daß er nichts­ destoweniger zum Leibe Christi gehört, obwohl man sich innerhalb der einzelnen Kreise eine Rangordnung vorstellen darf. Denn wenn die Priester Gott Opfer darbringen, wenn sie das Volk mit dem Futter der evangelischen Verkündi­ gung nähren, wenn sie in reinen Gebeten mit Gott sprechen und wenn sie für das Heil der Herde Fürsprache einlegen, oder wenn sie daheim in der Abgeschiedenheit der Studien meditieren, damit sie das Volk besser machen könnten, dann bewegen sie sich vorzüglich im reinsten Teil ihres Kreises. Wenn sie im übrigen dem Willen der Fürsten willfahren, um nicht durch Herausforderung noch schwerere Tragödien heraufzubeschwören, wenn sie der Hinfälligkeit der Schwachen wider Willen vieles nachsehen, damit diese nicht in einen noch schlimmeren Zustand hineinschlittern, dann bewegen sie sich am äußersten Rand ihres Kreises ; zu

Ratio ad quam tarnen non aliter sese demittunt, nisi ut alios ad se rapiant, non ut ipsi fiant deteriores. Inter elementa, quibus infimus hie mundus constat, suus cuique locus est, sed ignis qui proximum orbi lunari locum obtinet, cum in summa sui parte purissimus sit ac liquidissimus caelique naturae simillimus, tarnen in aeris confinio seipso crassior est. Aer item in summa sui circuli margine simillimus igni, in infima parte, qua confinis est aquae, crassescit. Fortassis idem de aqua terraque dici potest. Atque interim ignis, cui praecipua vis ad agendum, paulatim omnia rapit ad se et quoad licet in suam transformat naturam. Terram spiritibus attenua­ tam vertit in aquam, aquam eliquatam vertit in aerem, aerem extenuatum in se transformat. Confinia serviunt transformationi non in deterius, sed in melius. Sie et Christus ad discipulorum imbecillitatem sese frequenter accommo­ dabat. Sie Paulus multa indulgebat Corinthiis distinguens interim, quae domini nomine proponeret perfectis et quae suo nomine condonaret infirmis, hac spe tarnen, ut profice­ rent. Proinde cum summi pontifices condonationibus et indulgentiis, ut vocant, segnes aut fortasse desperationi proximos erigunt ac fovent, donec ad meliora proficiant, non versantur in summa circuli sui parte. Iidem dum legibus cavent de decimis praedialibus ac personalibus extorquendis,

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diesem lassen sie sich aber aus keinem anderen Grunde herab, als um die anderen an sich zu reißen, nicht um selber schlechter zu werden. Unter den Elementen102, aus denen die unterste Welt hier besteht, hat jedes seinen Platz, je­ doch ist das Feuer, welches den dem Mondkreis nächsten Platz einnimmt, zwar in seinem obersten Teil ungemein rein und klar, der Natur des Himmels am ähnlichsten, unmittelbar an der Grenze zum „aer", zur Dunstschicht, aber dichter. Ebenso ist auch die Dunstschicht am obersten Saum ihres Kreises dem Feuer sehr ähnlich, wird aber im untersten Teil, wo sie an das Wasser angrenzt, auch zu­ sehends dichter. Vielleicht kann dasselbe auch von Wasser und Erde gesagt werden. Aber das Feuer, dem eine vor­ zügliche Kraft zur Tätigkeit gegeben ist, reißt vorerst alles nach und nach an sich und verwandelt es in seine Natur, soweit es kann. Die Erde, welche durch Winde verdünnt wurde, wandelt es in Wasser, das ganz flüssig gewordene Wasser wandelt es in Dunst und den verdünnten Dunst verwandelt es in sich hinein. Das Benachbarte dient der Verwandlung nicht zum Schlechteren, sondern zum Bes­ seren. So hat sich auch Christus häufig der Schwäche seiner Jünger angepaßt. So mußte auch Paulus den Korintherntoa vieles verzeihen, indem er allerdings unterschied, was er im Namen des Herrn den Vollkommenen vorlegte, und was er in seinem Namen den Schwachen, freilich mit der Hoffnung auf Besserung, verzieh. Wenn daher die Päpste mit Nachlässen und Ablässen, wie sie es nennen, die Mutlosen oder die der Verzweiflung Nahen aufrichten und trösten, bis sie etwa Fortschritte im Guten machen würden, verweilen sie nicht im obersten Teil ihres Kreises. Wenn sie sich mit Gesetzen über Eintreibung von Grund- und Kopfsteuern befassen, 102 Das Folgende muß nach der Elementenlehre und dem Weltbild des Altertums verstanden werden : Die Welt ist aus vier Elementen zu­ sammengesetzt, die sich über Erde, Wasser, Luft und Feuer nach oben hin immer mehr verdünnen und verfeinern. Die Luftschicht selbst be­ steht wiederum aus der dem Wasser verwandten, tieferen Dunstschicht, dem aeY, dem Aufenthaltsort der Geister und Lemuren, und dem aether, der verdünnten, klaren Luftschicht, in der die Götter leben. 101 1 Kor 2, 6 ft'.

Ratio de usu pallii redimendo, de annatis, ut appellant, exigendis, de patrimonio Petri, ut vocant, armis vindicando, de subigen­ dis bello Turcis deque aliisinnumeris, ut donemus eos tractare rem ad communem vitam necessariam aut certe utilem, nemo tarnen dixerit eos versari in eo, quod proprium est philosophiae caelestis. Atque haud scio, an summi ponti­ fices, etiam si maxime velint, possint ita moderari leges suas, quas ad communem hominum vitam edunt, ut per omnia Christi decretis respondeant. Christus, ut purissimus ille fons omnis lucis et innocentiae, praecepit ea, quae caelum sapiant. Pontifices homines, et hominibus infirmis, atque adeo varie infirmis, pro tempore praescribunt, quod videtur expedire. Proinde fieri non potest, quin in horum quoque placitis interdum insint quaedam, quae sapiant h umanos affectus et in quibus innocentiam Christi desideres. Porro quemadmodum ignis infima pars liquidior est aeris summa parte, ita par est, ut quod in pontificum constitutio­ nibus crassissimum est, propius tarnen accedat ad Christi simplicitatem, quam quod in Caesarum aut magistratuum legibus est maxime divinum. Nam hi, quoniam in hisce rebus versantur, quae cum infima faece quaeque cum sordi­ dis mundi negotiis coniunctae sunt, argumento suo respon­ deant oportet. Neque enim horum legibus fit statim, ut boni

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über die Art, wie man sich das Recht des Palliums1°' kauft, über das Einfordern der Annaten106, wie sie es nennen, über das Patrimonium Petri10•, wie man sagt, das man mit Waffengewalt schützen müsse, über die Türken, die man mit Kriegsgewalt zu bezwingen habe und vieles unzählige andere, so daß wir zugeben, daß sie eine für das gewöhn­ liche Leben notwendige und sicherlich nützliche Sache be­ treiben, so wird niemand behaupten, daß diese sich in dem bewegen, was der himmlischen Philosophie eigentümlich ist. Ich weiß aber auch nicht, ob die Päpste, auch wenn sie sehr wollten, ihre Gesetze, die sie für das gewöhnliche Leben der Menschen erlassen, so einrichten könnten, daß sie in allem den Vorschriften Christi entsprechen. Christus, die aller­ reinste Quelle allen Lichtes und der Unschuld, hat das befoh­ len, was den Geschmack des Himmels in sich hat. Die Päpste befehlen als Menschen auch für schwache Menschen, und für sehr verschieden schwache, den Zeitumständen entspre­ chend, was förderlich scheint. Daher ist es unumgänglich not­ wendig, daß sich in ihren Dekreten auch manchmal gewisse befinden, die auf die menschlichen Leidenschaften Rücksicht nehmen, in denen du dir aber die Unschuld Christi wünschen würdest. Wie ferner derunterste Teil des Feuers leichter ist als der oberste Teil der Dunstschicht, so gilt auch, daß das, was in den Bestimmungen der Päpste am gröbsten ist, dennoch näher an die Einfachheit Christi herankommt, als was in den Gesetzen der Kaiser und Behörden am göttlichsten ist. Denn diese müssen ihrem Stoff entsprechen, weil sie sich doch in den Dingen aufhalten, die mit dem untersten Bodensatz, die mit den schmutzigen Geschäften der Welt verbunden sind. Denn durch ihre Gesetze kommt es nicht IN Das Pallium gehört zu den wichtigsten Amtsinsignien eines Erz· bischofs ; es wurde vom Papst persönlich verliehen ; der zur Aufbrin· gung der beträchtlich hohen Palliumgelder von Erzbischof Albrecht von Mainz ausgeschriebene Ablaß wurde mit Anlaß für Luthers Thesen. 1 91 A nnaten· waren Geldleistungen an die römische Kurie im Zu­ sammenhang mit der Verleihungen von Pfründen ; sie waren im Laufe des späten Mittelalters sehr in Verruf gekommen. 1" Der Kirchenstaat.

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Ratio

simus, sed ut interim minus mali. Proinde si quid geritur aut constituitur ab his, quod nonnihil degeneret a Christi decretis, etiam atque etiam cave, ne Christianae philoso­ phiae purissimum fontem cum horum qualibuscunque lacunis commisceas. Debent humanae leges ab hoc arche­ typo peti. Ab eodem lumine legum humanarum scintillae sumuntur, sed aliter reh�cet aetemae veritatis fulgor in levi tersoque speculo, aliter in ferro, aliter in limpidissimo fonte, aliter in lacuna turpida. Haec ideo dicta sunt, ne caelestem Christi philosophiam hominum vel legibus vel disciplinis vitiemus. Maneat intac­ tus ille scopus, sit illibatus unicus ille fons, servetur illa vere sacra ancora doctrinae euangelicae, ad quam in tanta rerum humanarum caligine confugere liceat. Absit ut nobis obscuretur illa Cynosura, ne non sit certum aliquod signum, ad quod in tantis errorum undis involuti recto cursui resti­ tuamur. Ne moveatur haec columna, ut sit, cui innixi ad­ versus huius mundi vim semper in deterius et prolabentis et rapientis

obsistamus.

Maneat

solidum

illud

et

nullis

opinionum flatibus aut persecutionum procellis cessurum fundamentum,

cui tuto bonus architectus superstruat

aurum, argentum et lapides pretiosos, quod exustis hu­ manarum commentationum stipulis fenoque nihilo secius perduret structura meliori. Homines labi possunt, Christus en-are nescit. Neque protinus reice, quod ab istis praescribi­ tur, sed circumspice, quis praecipiat, quibus praecipiat, quo tempore, qua occasione, denique quo animo praecipiatur. Sed in primis, an quod praescribitur congruat cum euan­ gelica doctrina, an sapiat referatque vitam Christi. Spiri­ tualis omnia diiudicat, inquit Paulus, ipse a nemine

Theologische Methodenlehre

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sogleich, daß wir gut, sondern daß wir einstweilen weniger schlecht werden. Wenn daher von denen etwas behan­ delt oder beschlossen wird, was etwa von den Geboten Christi abweicht, dann hüte dich nur, die reinsten Quellen der Philosophie Christi mit ihren wie immer beschaffenen Pfützen zu vermischen. Es müssen die menschlichen Ge­ setze von diesem Urtyp her abgeleitet werden. Von diesem Lichte müssen die Fünklein der menschlichen Gesetze übernommen werden; allein anders leuchtet der Glanz der ewigen Wahrheit in einem glatten, abgewischten Spiegel wider, anders auf Eisen, anders in einem kristallklaren Quell, anders in einer schmutzigen Pfütze. Das wurde deshalb gesagt, damit wir nicht die himm­ lische Philosophie Christi, sei es mit Gesetzen oder mit Menschensatzungen, verderben. Unberührt bleibe jenes Ziel, ungetrübt sei jene einzige Quelle, bewahrt werde jener wahrhaft heilige Anker der evangelischen Lehre, zu der man in einem so großen Dunkel menschlichen Getues Zu­ flucht nehmen kann. Möge uns jenes Nordgestirn nicht ver­ dunkelt werden und das sichere Zeichen nicht fehlen, bei dem wir, in diese Wogen des Irrtums gehüllt, den rechten Kurs wiederfinden werden. Niemals wanke diese Säule, damit wir, auf sie gestützt, gegen die Kraft dieser Welt, die ständig zum Schlechteren gleitet und reißt, Widerstand leisten. Es bleibe die sichere Grundfeste, die keinem Hauch der Meinungen oder den Stürmen der Verfolgung weichen wird; auf ihr hat in aller Festigkeit der gute Baumeister Gold, Silber und Edelsteine aufgebaut, sie besteht, auch wenn das Heu und das Stroh menschlichen Studierens verbrannt ist, nichtsdestoweniger in noch besserer Art wei­ ter. Menschen können straucheln, Christus kann nicht irren. Daher verwirf nicht, was von denen vorgeschrieben wird, aber bedenk, wer vorschreibt, wem er vorschreibt, zu welcher Zeit, bei welchem Anlaß, schließlich in welcher Ab­ sicht vorgeschrieben wird, aber vor allem, ob die Vor­ schriften mit der evangelischen Lehre übereinstimmen, ob sie auf das Leben Christi eingehen und es wiedergeben. Der Geistesmensch beurteilt alles, sagt Paulus, er selbst abe r

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diiudicandus. Quod si ad leges humanas Christi dogmata detorqueantur, quaeso te, quae spes iam reliqua est ? Multo minus etiam, si ad cupiditates hominum deßectatur divina philosophia, et, iuxta Graecorum proverbium, Lesbia nobis fiat regula. Quod dictum est de legibus ab hominibus institutis, idem arbitror esse sentiendum de scriptis veterum ac recentium doctorum, quorum nulli sie addictos esse oportet, ut nefas esse ducamus alicubi dissentire ; quod hodie factitant com­ plures, quorum hie adeo se addixit Thomae placitis aut Scoti decretis, ut malit et falsa tueri quam ab horum dog­ matis latum, ut aiunt, digitum discedere, cum auctores ipsi nolint sibi tantum tribui. Immo cum Augustinus, vir tarn insignis, non aliter legi velit suos libros, quam ipse legere solitus est aliorum quamlibet celebrium, nimirum non cum necessitate credendi, sed cum libertate iudicandi, ut ipsius utar verbis, et tarnen hoc par est illis tribuere, praesertim quos praeter egregiam eruditionem et vitae sanctimonia et antiquitas ipsa commendat, ut benigne interpretemur quod scripserunt, et sicubi manifestius lapsi sunt, quam ut dissimulari possit, reverenter ab illis dissentiamus, non insectantes conviciis humanos lapsus, sed quoad licet attenuantes atque purgantes. Neque secus sentiendum de dogmatis scholasticis, habeant illa sane pondus suum in

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darf von niemandem beurteilt werden.107 Wenn nun die Lehren Christi zu menschlichen Gesetzen verdreht werden, dann frage ich dich, welche Hoffnung bleibt dann noch? Und noch viel weniger, wenn sich die göttliche Philosophie zu den Begierden der Menschen herabbeugt und nach dem griechischen Sprichwort die Ansprüche „lesbisch "108 werden. Was über die von Menschen eingerichteten Gesetze ge­ sagt wurde, dasselbe, glaube ich, muß man von den Schrif­ ten alter und neuer Lehrer halten, von denen wir keinem so verfallen sein dürfen, daß wir es für ein Verbrechen halten, irgendwo anderer Meinung zu sein. Diesbezüglich mühen sich da viele ab. Von ihnen hat sich mancher dergestalt den Bestimmungen des Thomas und den Beschlüssen des Scotus verschrieben, daß er lieber auch Falsches aufrecht­ hält, als von ihren Lehren auch nur einen Fingerbreit, wie man sagt, abzuweichen, wo doch die Autoren selbst sich nicht solches Gewicht zumessen wollen. Will doch auch Augustinus, ein so bedeutender Mann, seine Bücher nicht anders gelesen wissen, als wie er selbst gewohnt war, die anderer, auch noch so Berühmter, zu lesen, ganz und gar nicht mit einer Notwendigkeit zu glauben, sondern mit der Freiheit zu urteilen1oe, um seine eigenen Worte zu gebrau­ chen. Ein gleiches gilt denn auch besonders für die, bei denen neben der hervorragenden Gelehrsamkeit und Heilig­ keit ihres Lebens auch noch das Alter empfiehlt, daß wir gütig interpretieren, was sie geschrieben haben; sind sie aber irgendwo zu offensichtlich gestrauchelt, als daß es verheimlicht werden könnte, dann laßt uns in Ehrfurcht von ihnen abrücken, nicht um menschliches Versagen mit Vorwürfen zu verfolgen, sondern um, wenn es geht, dieses abzuschwächen und zu reinigen. Nicht anders darf man es mit den scholastischen Lehren halten; mögen sie doch

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107 1 Kor 2, 15, 108 Das griechische Sprichwort „meta Usbion öd6n" bedeutet soviel, wie sich auf einen zweitrangigen Wert einlassen, wörtlich : sich nach einem Sänger aus Lesbos richten. Das Gegenteil dazu wären „lydische Ansprüche". Vgl. dazu die Parallelstelle >Paraclesis x.«@w dicimus: habeo gratiam. Non est commune, quod illi pro eodem dicunt: o!8cx x.«@w, id est: novi gratiam aut µeµvljaoµcxL X.«@Lv, id est: meminero gratiam, pro eo, quod Latine dicere­ tur: referam gratiam. Emendate dicitur Graecis: ii..cx&ev �ev(acxc; ciyyei..ou�, qui insciens accepit angelos hospitio; at non item Latine: latuit accipiens angelos. Iam apostoli, tametsi Graece scripserunt, tarnen non parum referunt ex proprietate sermonis Hebraici. Porro Septuaginta, qui veteris instrumenti libros nobis Graece tradiderunt, per­ multa referunt ex Hebraici sermonis proprietatibus, quae fere sunt ab Hieronymo mutata, qui veterem sustulit trans­ lationem, quam in opere de locutionibus adducit Augustinus (si quis velit illius gustum capere), adeo ut qui sit eius ser­ monis rudis, etiamsi probe Graece calleat, non assequatur aliquoties sententiam loquentis. Cuius generis sunt, ut unum aut alterum exemplum docendi gratia producam, iurat in caelo pro eo quod erat: iurat per caelum, et credit in eo pro eo quod erat: fiduciam habet in illo, et confitetur in eo: confitetur sive agnoscit illum, in hoc cognoscent, in gladio

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allein. Im übrigen besitzt das Hebräische Sprechformen, die sich zu allermeist von den beiden anderen unterscheiden. Es ist uns gemeinsam mit den Griechen, wenn wir sagen: Wir tun jemandem gut, der in einem Belang Gutes verdient hat; nicht in gleicher Weise ist aber gemeinsam, was jene „eypathein", nennen, das heißt „gut leiden", für das, was heißen müßte „eine Wohltat empfangen". Gemeinsam ist mit jenen, was wir für „echo charin" sagen: Ich sage Dank. Nicht ist aber gemeinsam, was jene für dasselbe sagen: „oida charin", das heißt: Ich weiß Dank. Oder „mem­ nesomai charin", das heißt: Ich werde des Dankes gedenken, für das, was man lateinisch ausdrückt: Ich werde Dank ab­ statten.Fehlerfrei heißt es griechisch: „elathen xenisas aggeloys": „der, ohne es zu wissen, Engel als Gast aufge­ nommen hat"317; aber lateinisch ist das nicht dasselbe: „Er war verborgen, als er Engel aufnahm." Obwohl die Apostel griechisch geschrieben haben, bringen sie dennoch nicht wenig aus der Eigentümlichkeit der hebräischen Sprache. Sogar die Septuaginta, die uns die Bücher des Alten Testamentes auf griechisch überliefert hat, bringt viel in den Eigentümlichkeiten der hebräischen Sprache; diese wurden von Hieronymus, der die alte Übertragung318 hinfällig machte, weithin abgeändert; sie führt Augu­ stinus in seinem Werk >Über die RedensartenVetus LatinaVulgata< des Hieronymus. 118 In heptateuchum locutionum libri septem ; PL 34, 485-546. 11•

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percussit: per hoc cognoscent, gladio percussit, ero illi in patrem, erit mihi in filium: ero illi pater, erit mihi filius, duos et duos pro: binos, magis fortior est nobis: fortior est nobis, mulier si fuerit viro alienigenae pro eo quod erat: si nupserit viro alienigenae, homo homo pro: quisquis, viri viri pro: cuiuscumque viri, quae fecit virtutem eorum pro: quae fecit exercitibus illorum. Nam hoc arbitratus est Augu­ stinus ad Hebraicum idioma pertinere, cum mihi videatur idiomatis Graecanici. Hebraicum est pronomen ex super­ vacuo addere: Beatus populus, cuius dominus deus eius; ostendit pro: fecit, bonas bonas pro: valde bonas; Maria Cleophae pro: Maria uxor Cleophae, Iacobus Alphaei: Iacobus Alphaei filius eclipsis est familiaris Hebraeis. Item omnis caro pro: omnes homines, centum animae pro centum hominibus, verbum pro facto: quid verbum hoc fecisti nobis?; honor pro subsidio, misericordia pro beneficentia. Porro quod usu venit in his, quae versa sunt ex sermone Hebraico, idem accidit in his, quae translata sunt ex ser­ mone Graeco, quoties interpres illius linguae reddit idioma. Verum huius generis formas aliquot sparsim indicavimus in Annotationibus, quas scripsimus in Novum Testamentum. Et Aurelius Augustinus libris aliquot idem egit, quibus titulus est de locutionibus. Quamquam in hoc argumento felicius ille versari poterat, si quod annotavit ex Hebraeo­ rum potius quam Graecorum fontibus hausisset. Exstant et annotationes Titanii, Graeci scriptoris, ut apparet neoterici in hoc ipso genere.

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sie im Schwerte: dadurch erkennen sie, mit dem Schwerte schlug er sie; ich werde ihm zum Vater sein, er wird mir zum Sohn sein: ich werde ihm Vater, er wird mir Sohn sein; zwei und zwei für: je zwei; mehr stärker ist er als wir: stärker ist er als wir; wenn die Frau einemfremden Mann war für: wenn sie einen fremden Mann heiratete; Mensch Mensch für: wer immer; Männer Männer für: die Männer einer jeden; was er hinsichtlich ihrer Heeresmacht vollbrachte für: was er an ihren Heeren vollbrachte.320 Das, glaubt nur Augustinus,321 sei auf das hebräische Idiom zurückzuführen, mir scheint es allerdings das griechische zu sein. Dagegen ist es hebräisch, ein Fürwort überflüssig hinzuzufügen: Selig das Volk, dessen der Herr sein Gott ist;H2 er zeigte für: er machte; gute gute für: sehr gute; Maria Cleophae für: Maria, die Frau des Kleophas, Jacobus Alphaei: Jacobus, der Sohn des Alphäus, ist eine den Hebräern vertraute Eklipse. Ebenso alles Fleisch für: alle Menschen, hundert Seelen für hundert Menschen; Wort für Tat: Was ist das Wort, das du uns getan hast?323 Ehre für Hilfe, Erbarmen für Wohltat. Was ferner dort üblich wird, wo aus der hebräischen Sprache übersetzt ist, das geschieht auch da, wo aus der griechischen Sprache übertragen ist, sooft der Übersetzer jener Sprache das Idiom wiedergibt. Aber die Sprachformen dieser Art haben wir des öfteren verstreut in den Anmerkungen an­ geführt, die wir zum Neuen Testament geschrieben haben. Auch Aurelius Augustinus hat dasselbe in seinem Werk mit dem Titel >Über die Redensarten< des öfteren gemacht. Gleichwohl hätte er sich in dieser Sache mit mehr Erfolg betätigen können, wenn er seine Anmerkungen lieber aus den hebräischen Quellen als aus den griechischen geschöpft hätte. Dazu existieren die Anmerkungen des Titanius*, eines griechischen Schriftstellers, augenscheinlich eines Neulings gerade in diesem Fache. 110

Deut. u, 3 f. Locutiones V; PL 34, 533. 111 Ps 143, 15. iu :i Sm 1, 4. IH Die Pemnlichkeit des griechisch schreibenden Humanisten konnte nicht identifiziert werden. 111

Ratio Iam aliis quoque tropis frequenter explicatur düficultas. Nam quod Matthaeus et Marcus prodiderunt latrones, qui cum Christo erant crucifixi, conviciatos ei fuisse, cum Lucas tradat alterum dumtaxat id fecisse, sie explicat nodum Augustinus, ut dicat esse hepow numeri, latrones dictum pro latro. Rursus Christum triduo fuisse in sepulcro per synecdochen explicat, quemadmodum et illud, quod apud Marcum post tres dies resurrecturus scribitur, cum diluculo tertii diei resurrexerit. Quoties autem explicato hyperbati anfractu sensus obscuritatem discutiunt et Origenes et Chrysostomus et Hieronymus et Augustinus. Hos, opinor, non legerat insig­ nis Scotista quidam, qui nuper in publica contione salsissi­ me, ut ipsi visum est, derisit mei similes, qui laborarent in commonstrando sermonis ordine : „Iam olim", inquiens, „ex Alexandro Grammatico didici construere." Quin et hyperbole non raro succurrit, velut illic : Ascen­ dunt usque ad caelos, et descendunt usque ad abyssos, cum

Theologische Methodenlehre Auch in anderen Wendungen werden schon häufig die Schwierigkeiten geklärt. Denn wenn Matthäus und Markus berichten, die Schächer, die mit Christus gekreuzigt waren, hätten ihn zusammen gelästert, während Lukas überliefert, nur einer habe das getan, so löst Augustinus111 den Knoten dermaßen, daß er sagt, „heterösin" sei zwar Plural, „die Schächer" stehe aber für „einen Schächer". Dann, daß Christus drei Tage im Grabe gewesen sei, erklärt er mit Synekdoche828, wie auch den Umstand, daß von ihm bei Markus geschrieben steht, er werde nach drei Tagen wieder auferstehen, obwohl er am Morgen des dritten Tages schon auferstanden ist. Wie oft aber zerstreuen auch Origenes, Chrysostomus, Hieronymus und Augustinus die Dunkelheit einer Bedeu­ tung, indem sie die Umschweife eines Hyperbatons•7 auf­ lösen. Diese, glaube ich, hatte jener gewisse vorzügliche Skotist nicht gelesen, der neulich vor aller Öffentlichkeit sehr witzig, wie ihm schien, meinesgleichen verspottete, weil wir uns um das Aufzeigen der sprachlichen Ordnung bemühten : „Zu konstruieren", sagte er, „habe ich schon lange von Alexander, dem Grammatiker,a18 gelernt." Ja, sogar eine Hyperbel129 kommt nicht selten vor wie zum Beispiel : Sie steigen hinauf bis zu den Himmeln, und sie steigen hinab in Abgrundtiefen830, obwohl der Psalmist 111 111

De consensu evangelistarum III, 16, 53 ; PL 34t II90. Rhetorische Figur, ähnlich der Metonymie, bei der der engere Begrifi' statt des umfassenden {pars pro toto) und umgekehrt (totum pro parte) gewählt wird. Findet auch für Zahlenangaben Verwendung (etwa 1000 für sehr viele). Die Erklärung ist hier nicht gerechtfertigt. Sie würde für den vorhergehenden Fall zutreffen. Die antike Zählweise rechnet auch schon den Bruchteil eines Tages als Tag. 11 7 Rhetorische Figur, Abweichung von der ,,gewöhnlichen" gram· matikalischen Wortstellung, Sperrung zur Erzielung besonderer Effekte. Z.B. „Der Worte sind genug gewechselt". 111 Alexander de Villa Dei (um u70- um 1250), Verfasser des viel· verbreiteten Grammatiklehrbuches (Doctrinale) der mittelalterlichen Latinität, das von den Humanisten als barbarisch bekämpft wurde. Vgl. K. Schrems in: LThK 1, 309· 111 „Übertreibung", eine rhetorische Figur, die man nicht wörtlich nehmen darf. -Ps lo6, 26.

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vehementem tempestatem undarum intelligi vellet psal­ mista. Neque continuo mendacium est, quod ultra veri fidem dicitur, sed in hoc adhibetur tropus, ut acrior et ardentior sit oratio. Ac ne quis absurdum putet in divinis libris hyperboles meminisse, facit hoc non raro Origenes, facit Chrysostomus, facit Augustinus et Hieronymus. Huius generis sunt illa: Facilius est camelum per foramen acus transire quam divitem intrare in regnum caelorum, cum nihil aliud intelligi vellet quam esse difficillimum, ut dives obtemperet euangelicae doctrinae. Item apuc;l Lucam, ubi parabola iubet ad convivium adhiberi debiles, caecos et claudos, nihil aliud significatur quam abiectos et calamito­ sos esse sublevandos beneficio gratuito. Rursum ubi pro­ hibet, ne quem inter viam salutent apostoli, cum hoc volu­ erit intelligi non committendum eis, ut ob humanos afiectus ullis dispendüs euangelii negotium remorentur. Ubi vetat, ne peram aut baculum tollant in viam, sensit eos his praesidiis liberos esse oportere, quibus vulgus se munit iter initurum. Neque enim dubium, quin apostoli peras et baculos habuerint, cum Paulus et lacemam et bibliothecam reliquerit Troade. Ubi suos iubet liliorum exemplo vivere, sentire voluit abiciendam anxiam sollicitudinem reponendi in posterum commeatus. Ubi iubet praeberi maxillam laevam percutienti dexteram, quirl aliud vult, quam non referendam illatam iniuriam? !dem sentiendum, opinor, de relinquenda tunica ei, qui pallium abstulerit, et ultro ambu­ lando bis mille passus cum eo, qui ad semel mille compu-

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einen heftigen Meeressturm verstanden haben will. Auch ist es nicht gleich Lüge, was über die Glaubwürdigkeit einer Wahrheit hinaus gesagt wird, vielmehr wird dazu eine Redewendung genommen, daß das Wort schärfer und ein­ dringlicher herauskommt. Damit aber keiner glaube, es sei absurd, in den heiligen Schriften an eine Hyperbel zu den­ ken, so tut das nicht selten Origenes, so tut das Chrysosto­ mus, so tun das Augustinus und Hieronymus. Hieher ge­ hört das Folgende: Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Himmelreich.831, wo er doch nichts anderes erkannt haben wollte, als daß es sehr schwer ist, daß ein Reicher der evangelischen Lehre ge­ horche. Ebenso soll bei Lukas, wo die Parabel befiehlt, daß die Schwachen, die Blinden und die Lahmen zum Gastmahl beizuziehen seien, nichts anderes bezeichnet werden, als daß die Verstoßenen und die Unglücklichen durch eine ihnen erwiesene Wohltat zu fördern seien. Wenn er andrerseits verbietet, daß die Apostel jemanden unterwegs grüßen, wollte er damit nur zu verstehen geben, daß sie nicht zu­ lassen dürften, daß aus menschlichen Erwägungen die Sache des Evangeliums irgendwie nachteilig verzögert werde. Wo er verbietet, daß sie weder Beutel noch Stab auf den Weg mitnehmen, wußte er wohl daß sie von all den Hilfsmitteln frei sein müssen, mit denen das Volk sich aus­ rüstet, wenn es auf Reisen geht. Auch besteht kein Zweifel daß die Apostel Taschen und Stäbe gehabt haben, wo doch Paulus in Troas Mantel und Bibliothek zurückgelassen hatte.832 Wo er den Seinen befiehlt, nach dem Beispiel der Lilien zu leben, wollte er zu verstehen geben, daß man die ängstliche Sorge, Vorräte für später zurückzulegen, auf­ geben müsse. Wo er befiehlt, dem, der die linke Wange schlägt, die rechte hinzuhalten, was will er da anderes, als daß man ein erlittenes Unrecht nicht vergelten dürfe? Ähnlich müsse man, glaube ich, verstehen, daß man die Tunika dem zurückläßt, der den Mantel genommen hat, und daß man freiwillig zwei Meilen mit dem geht, der einen Al Mt 19, 24. „, 2 Tim 4, 13.

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lisset. Ubi negat esse suum discipulum, qui non oderit patrem et matrem, plus dixit quam intelligi voluit, neque enim sensit habendos odio parentes, sed omnes affectus post habendos negotio pietatis ac salutis. Ubi iubet ungi faciem oleo, ne videamur ieiunare, nihil aliud sentit, quam in bene­ factis non captandam ostentationem. Nam arbitror aposto­ los non solitos ungere faciem, cum ieiunarent. Origenes indi­ cat hyperbolen esse, quod in Genesi scriptum legimus: Lavit in vino stolam suam et in sanguine uvae pallium suum. Quis enim abluit vestes suas in vino? Verum his ver­ bis nihil aliud intelligi voluit quam insignem et exuberan­ tem agri fertilitatem. Idem hyperbolen esse putat, quod Paulus scripsit Romanorum fidem praedicatam in universo mundo, cum multis esset ignota regionibus. Divus Augusti­ nus in epistola ad Publicolam, quae inter ceteras numero censetur centesima quinquagesima quarta, putat in illis verbis Christi, quibus prohibet, in totum ne iuremus, neque per caelum neque per terram neque per aliud quicquam, hyperbolen esse; plus enim dixit quam sensit, qua vehemen­ tius deterreret a periurio. Augustini verba, si quis requirat, subscribam: Si tarnen illud nos adhuc movet, quod in novo testamento dictum est, ne omnino iuremus. Quod quidem mihi propterea dictum videtur, non quia verum iurare peccatum est, sed quia peierare immane peccatum est, a qua nos lange esse voluit, qui omnino ne iuremus admonuit. Hactenus ille. Veluti cum interminamur pueris, ne natent,

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zu einer Meile genötigt hat. Wenn er sagt, es sei einer nicht sein Jünger, der nicht Vater und Mutter haßt, dann hat er mehr gesagt, als er verstanden wissen wollte; er kann näm­ lich nicht der Auffassung sein, daß man die Eltern hassen müsse, sondern nur, daß alle Gefühle erst nach der Sache der Frömmigkeit und des Heiles kommen dürften. Wo er das Gesicht mit Öl zu salben befiehlt, damit wir nicht zu fasten scheinen, meint er nichts anderes, als daß man bei guten Handlungen nicht die Schaustellung suchen dürfe. Ich glaube nämlich, daß die Apostel nicht den Brauch übten, ihr Gesicht zu salben, wenn sie fasteten. Origenes sagt, es sei eine Hyperbel, was wir in der Genesis geschrie­ ben finden : Er wusch im Wein sein Gewand und im Traubenblut seinen Mantel.833 Wer wäscht schon seine Kleider in Wein? Vielmehr wollte er in diesen Worten nichts anderes verstanden wissen als die auffallende und über­ schäumendeFruchtbarkeit desAckers. Dieser glaubt auch,SM es sei eine Hyperbel, wenn Paulus geschrieben hat, der Glaube der Römer sei in der ganzen Welt gepriesen worden, wo er doch vielen Gegenden unbekannt war. In seinem Brief an Publicola, der der Zahl nach als hundertvierund­ fünfzigster unter den übrigen gerechnet wird, meint Augu­ stinus, daß in den Worten Christi eine Hyperbel vorliege, wenn er uns gebietet, überhaupt nicht zu schwören, weder beim Himmel noch bei der Erde noch bei sonst etwas; er sagte nämlich mehr, als er meinte, auf daß er um so ent­ schiedener vom Meineid abschrecke. Die Worte des Augu­ stinus will ich, falls sie einer haben möchte, anführen: Wenn uns aber das, was im Neuen Testament gesagt steht, immer noch bewegt, so mögen wir überhaupt nicht schwören. Das scheint mir freilich deshalb gesagt, nicht weil wahr zu schwören eine Sünde ist, sondern weil das falsch Schwören eine schreckliche Sünde sei, von der er uns so weit weg haben wollte, daß er uns ermahnt, überhaupt nicht zu schwören.aaa Soweit jener. Wenn wir Knaben einu. Origenes, In Genesim homilia 17, 8; PG 12, 26o B. - Origenes, In epistolam ad Romanos 1, 9; PG 141 855. A1 Augustinus, Epistolae 47, 2 ; PL 33, 184f.

- Gen 49,

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dicimus: „Si vel aspexeris lacum, occidam te." Quam inter­ pretationem si recipimus, consimili ratione explicabuntur et illa: Ne divertas ab uxore ; ne resistas malo ; ne irascaris; vehementer enim vult suos abesse ab iniusto divortio, qui­ bus divertendi ius in totum ademit. Procul abesse vult ab inferenda iniuria, quos ne laesos quidem vult ulcisci sese. Nimium abesse vult ab homicidio, a conviciis, ab ira iniqua, quos nullo modo vult ira commoveri. Iam quod Ioannes in euangelii sui calce scripsit totum mundum non fore capacem librorum, qui de Christo scribendi forent, Cyrillus et Chry­ sostomus ingenue fatentur hyperbolen esse. Horum poste­ rior homilia in Matthaeum tricesima quinta putat hyper­ bolen subesse in his Christi verbis: Quod in tenebris vobis dico, dicite in lumine, et quod in aure auditis, praedicate super tecta. Neque enim Christus quicquam locutus est furtim aut in aurem aut apostoli umquam praedicarunt in tectis ; sed quod paucis in Palaestina dictum erat, in aurem et in tenebris dictum vocat, prae comparatione lucis et bucinae euangelicae, quae mox per apostolos apud univer-

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schärfen wollen, daß sie nicht baden sollen, sagen wir zum Beispiel: „Wenn du den See nur anschaust, werde ich dich umbringen." Wenn wir so interpretieren, erklärt sich auch das Folgende auf ähnliche Weise: Scheide dich nicht von deiner Frau; widersteh nicht dem Bösen; zürne nicht.aae Nachdrücklich wollte er nämlich, daß die Seinen nichts mit einer ungerechten Ehescheidung zu tun haben, wenn er ihnen zur Gänze das Recht auf Scheidung nimmt. Er will, sie sollten nichts mit dem Zufügen eines Unrechtes zu tun haben, ja nicht einmal eine Verletzung sollten sie rächen. Es ist ihm sehr darum zu tun, daß die, welche er auf keine Weise durch Zorn erregt sehen will, nichts mit Totschlag, Schmähung und bösem Zorn zu tun haben. Wenn dann Johannes am Schluß seines Evangeliums schrieb, daß die ganze Welt die Bücher nicht fassen könnte, die man über Christus schreiben müsse, gestehen Cyrillusaa7 und Chryso­ stomusaaa freimütig, daß dies eine Hyperbel sei. Des letzteren fünfunddreißigste Homilie zu Matthäus macht glaubhaft, daß auch in den folgenden Worten Christi eine Hyperbel vorliegt: Was ich euch im Finstern sage, das kündet ihr im Licht; was euch ins Ohr geflüstert wird, das predigt auf den Dächern.339 Christus hat nämlich auch nichts verstohlen ins Ohr geflüstert; auch haben die Apostel niemals auf den Dächern gepredigt; vielmehr, was in Palästina wenigen gesagt worden war, nennt er ins Ohr und in der Finsternis gesagt im Vergleich zum Licht und zur evangelischen Posaune, die bald durch die Apostel bei allen 111 Mt 5, 32 ; 39; 22. Die Stelle Mt 5, 32 von der Ehescheidung zitiert Erasmus in freiem, verkürztem Latein. Im folgenden liegt bei ihm der Ton auf „iniusto", „ungerechte Ehescheidung". Es spiegelt sich hier wie an anderer Stelle die Unsicherheit in der Erklärung der „Ehebruchs­ klausel" Mt 5, 32 und 19,9,die dann namentlich durch die Reformation praktische Bedeutung erlangte. Erasmus drückt sich aber wiederum sehr vorsichtig aus, er rührt das Problem nur an, ohne es eigentlich zu entschei­ den. Die angeführten Sätze würden heute nicht mehr als Hyperbeln gedeutet werden. •n Cyrillus, In Ioannis Evangelium XII, fin. ; PG 74, 756. 111 Von Erasmus ungenau zitiert. 111 Mt lo, 27. Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 35, 2 ; PG 57, 399.

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sas orbis nationes, apud summos et infimos eluxit et in­ sonuit. Opinor et hyperbolen, cum prohibet, ne quem voce­ mus patrem in terris, praeterea cum ait nec iota nec api­ culum unum legis omittendum, qui non impleatur, intelli­ gens nihil omnino praetereundum ex promissis divinis, quae constare possunt, etiamsi apices aliquot sublati fuerint. Sed huius quoque generis aliquot exempla commonstravimus in Annotationibus, quibus Novum Testamentum explanavi­ mus. His cognata sunt illa, quae an tropis constent, nescio, certe ad vulgarem sensum accommodanda sunt potius quam ad vivum, ut aiunt, exigenda. Veluti cum prohibet omnino iurare, sentit non esse iurandum ut vulgus deierabat ob quaslibet causas. Cum prohibet sollicitum esse de crastino, sentit iuxta vulgi morem, qui ceu deo diffisus anxie torque­ batur cura futuri temporis. Cum prohibet resistere malo, sentit malum non esse propulsandum malo, ut vulgus hominum solet ; alioqui licet reprehendere peccantes, licet et coercere. Cum prohibet, ne vocentur rabbi, sentit, ne Pharisaeorum more, qui supercilio turgebant ob hunc titulum. Cum prohibet in precibus multiloquium, sentit non esse precandum iuxta quorundam exemplum, qui existima­ bant deum multitudine vocum capi magis quam affectu mentium ; alioqui legimus et Christum orasse prolixe. Sie iubet non irasci, sentiens iram vulgarem, quae tendit ad iniuriam. Sie damnat eum, qui fratri suo dixerit: fatue,

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Völkern der Erde, bei Hohen und Niedrigen erstrahlt und erklungen sind. Ich halte es auch für eine Hyperbel, wenn er verbietet, irgend jemanden auf Erden Vater zu nennen ; dann, wenn er sagt, daß weder ein Jota noch ein Häkchen vom Gesetz so unterschlagen werden dürfe, das nicht erfüllt würde; er versteht das so, daß überhaupt nichts von den göttlichen Verheißungen übergangen werden dürfe; diese können aber feststehen, auch wenn einige Häkchen weggenommen würden. Aber einige Beispiele dieser Art haben wir auch in den Anmerkungen aufgezeigt, mit denen wir das Neue Testament erklärt haben. Mit diesen verwandt sind jene Ausdrücke, von denen ich nicht weiß, ob sie als Redewendungen anzusprechen sind. Sicherlich muß man sie im volkstümlichen Sinn verstehen. Nicht wollen sie, wie man sagt, auf den lebendigen Sinn hin gepreßt werden. Wenn er das Schwören ganz und gar ver­ bietet, so meint er, man dürfe nicht schwören, so wie die Leute bei jeder beliebigen Gelegenheit schwerste Eide schwören. Wenn er verbietet, sich Sorge um das Morgen zu machen, meint er das nach der Art der Leute, die gleichsam Gott mißtrauen und sich ängstlich in der Sorge um die Zukunft abquälen. Wenn er verbietet, dem Bösen zu widerstehen, meint er, man dürfe Böses nicht durch Böses zu vertreiben trachten, wie es das einfache Volk für ge­ wöhnlich tut; ansonsten ist es erlaubt, die Sünder zurecht­ zuweisen; es ist sogar erlaubt, sie zu zwingen. Wenn er ihnen verbietet, sich Rabbi nennen zu lassen, dann meint er, daß sie es nicht nach der Art der Pharisäer tun sollten, die diesen Titel mit hochgeschwellter Brust trugen. Wenn er das Viele-Worte-Machen beim Gebet verbietet, dann meint er, man solle nicht nach dem Beispiel gewisser Leute beten, die Gott mehr durch einen Schwall von Worten als durch ihre Herzensgesinnung zu gewinnen glaubten. Andrerseits lesen wir, daß auch Christus lang andauernd gebetet hat. .Ähnlich befiehlt er, nicht zu zürnen, indem er den gewöhn­ lichen Zorn meint, der zur Ungerechtigkeit führt. So ver­ urteilt er auch den, der zu seinem Bruder du Tor sagtMO, "' Mt 5, 22.

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sentiens, qui, quod vulgo solet, contumeliae gratia id fecerit. Alioqui Christus ipse motus ira legitur, atque alibi suos discipulos et Paulus Galatos stultos appellat, sed arguens, non incessens. Habet et pietas iram suam, habet et caritas sua convicia. Huiusmodi ferme sunt, cum apud Matthaeum ait: Misericordiam volo et non sacrificium, omnino sacrificium volebat, quod ipse indixerat ; sed prius est praestare misericordiam quam offerre sacrificium. Rur­ sum cum ait: Doctrina mea non est mea, suam negat esse, quam patri ut homo ferebat acceptam. Rursum cum ait nondum fuisse spiritum, quod Iesus nondum esset glori­ ficatus, non sentit simpliciter non fuisse spiritum, sed in apostolis nondum apparuisse spiritum illum euangelicum. Quin et ipse sermo Latinus habet sua quaedam idiomata, quae parum attentis aut minus eruditis imponunt aliquoties. Quod genus est illud apud Marcum capite quinto, cum ab archisynagogo venire dicuntur, qui ab illius aedibus ad illum venirent ; quem locum habemus iam olim depravatum ab iis, qui non agnoscebant Latinae linguae proprietatem, qua dicimus: ad me ibimus pro eo quod erat: ad domum meam. Ceterum addubites forsitan, an in apostolicis et euangelicis litteris reperire liceat ironiam, cum dubium esse non possit, quin in vetere testamento reperiatur. Nimirum libri Regum tertii capite decimo octavo Elias irridens prophetas Baal : Clamate, inquit, voce maiore, deus enim est, et forsitan loquitur, aut in diversorio est aut in itinere,

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indem er den meint, der das, wie es gewöhnlich geschieht, in verächtlicher Absicht tut. Andrerseits liest man von Chri­ stus selbst, daß er sich zum Zorn hinreißen ließ, und auch Paulus nennt die Galater an einer Stelle dumm, aber nicht

um sie anzugreifen, sondern um sie zu überführen.341 Es hat auch die Frömmigkeit ihren Zorn und die Liebe ihre Schmähungen. Ungefähr auf dieser Linie befindet er sich, wenn er bei Matthäus sagt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer.342 Natürlich wollte er das Opfer, das er selber an­ geordnet hatte ; aber vor der Darbringung des Opfers kommt die Übung der Barmherzigkeit. Wenn er wiederum sagt: Meine Lehre stammt nicht von mir.8'3, dann will er sagen, daß nicht von ihm stammt, was er als Mensch vom Vater empfangen hatte. Wenn er wiederum sagt, daß der Geist noch nicht gewesen sei, weil Jesus noch nicht in seine Herr­ lichkeit eingegangen war, dann meint er nicht einfachhin, daß der Geist nicht existiert habe, sondern daß sich in den Aposteln jener Geist desEvangeliums noch nicht gezeigt habe. Ja, selbst die lateinische Sprache hat ihre eigenen Idiome, durch welche die nicht recht Aufmerksamen oder weniger Gebildeten gelegentlich hinters Licht geführt werden. Hieher gehört die Stelle bei Markus im fünften Kapitel, wo jene angeblich vom Synagogenvorsteher kom­ men, die in Wirklichkeit von seinem Haus kamen. Diese Stelle wurde schon früher einmal von jenen verdorben, die die Eigentümlichkeit der lateinischen Sprache nicht ver­ standen, in der wir sagen: „Wir werden zu mir kommen" statt: „in mein Haus". - Im übrigen könntest du vielleicht zweifeln, ob sich in den Schriften der Apostel und Evangeli­ sten Ironie fände, obwohl kein Zweifel bestehen kann, daß sich diese sogar im Alten Testament findet. Im achtzehnten Kapitel des dritten Buches der Könige verspottet Elias die Baalspropheten in grober Weise: Ruft recht laut, sagt er, er ist ja em Gott. Vielleicht hat er etwas zu besprechen oder er ist beiseite gegangen oder verreist. Vielleicht schläft er H l Lk 24, 25 ; Gai. 3, 1 ; 3· HI Mt 9, 13; 12, 7.

au Jo 7, 16.

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aut certe dormit, ut excitetur. Potest et in his verbis Christi accipi ironia : Dormite iam et requiescite iuxta Theophylacti Bulgariensis episcopi sententiam. Rursum apud Paulum epistolae prioris ad Corinthios capite sexto : Contemptiores qui sunt, hos ad iudicandum constituite per ironiam dictum videri potest, praesertim cum sequatur : Ad pudorem vestrum dico. Fortassis et illa Christi verba non multum absunt ab ironia : Non est bonum sumere panem filiorum et proicere canibus. Nec illa : Non veni ad vocandum iustos, sed peccatores ; neque enim vere sensit eos esse iustos, sed exprobrat, quod sibi iusti viderentur. Sunt et aliae figurae complures verborum ac sententia­ rum, quae ad compositionem aut gravitatem aut iucundi­ tatem orationis faciunt, sine quibus ut constet sensus scripturae mysticae, tarnen efficiunt, ut iucundius atque efficacius influant in animos nostros ac felicius tractentur tradanturque. Eas divus Augustinus non gravatus est multis verbis indicare in libris sacris in opere, cui titulus de doc­ trina Christiana. De omnibus diligenter tradiderunt Dona­ tus ac Diomedes, sed his diligentius Quintilianus libro Rhetoricarum Institutionum nono. At ne quis hanc litteraturae partem fastidiat ut grammaticam ac trivialem, Augustinus in opere de doctrina Christiana iubet non in-

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auch und muß erst aufwachen.344 Ironie kann man auch an­ nehmen in den folgenden Worten Christi : Schlafet nur und ruht euch aus !345 nach der Meinung des bulgarischen Bischofs Theophylaktos348• Wiederum kann bei Paulus im sechsten Kapitel des ersten Briefes an die Korinther folgendes ironisch aufgefaßt werden : Stellt die zu Richtern auf, die sonst in der Gemeinde nichts zu sagen haben.347 Noch dazu, wo er fortfährt : Euch zur Schande sage ich das. Vielleicht kommen auch die folgenden Worte Christi der Ironie nahe : Es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hündlein hinzuwerfen.348 Ebenso : Ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder.341 Er glaubt nämlich nicht wirklich, daß diese gerecht seien, vielmehr schilt er sie, weil sie sich gerecht vorkommen. Es gibt aber noch einige andere Wort- und Satzfiguren, die bei der Gestaltung zur Würde oder zur Lieblichkeit der Rede beitragen. Zwar kann der Sinn der Heiligen Schrift auch ohne sie bestehen, sie bewirken jedoch, daß sie lust­ betonter und wirksamer in unser Gemüt hineinfließen und mit mehr Erfolg behandelt und weitergegeben werden. Augustinus hat sich nicht der Mühe entzogen, darauf mit vielen Worten in seinem Werk >Über die christliche LehreTimaioS< und >PhilebosRati0De theologicis allegoriis< : Eine Schrift dieses Titels von Erasmus ist nicht erhalten.

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plex est, quomodo iuxta tropologicum, qui ad mores et vitam communem pertinet, quomodo iuxta allegoricum, qui capitis ac totius corporis mystici tractat arcana, quo­ modo iuxta anagogicum, qui caelestem attingit hierarchiam, diversis in rebus varie reluceat aeterna veritas (nam ad hunc modum video quosdam dividere), verum etiam con­ siderandum erit, in singulis horum qui gradus sint, quae differentiae, quae tractandi ratio. Quot modis tractat Ori­ genes Abraham a deo tentatum, et in historia versans quos tarnen locos invenit. Ut ne dicam interim, quod typus pro varietate rerum, ad quas accommodatur, pro diversitate temporum velut aliam accipit figuram: sicut porcorum siliquae, quibus perditus ille filius cupit explere ventrem famelicum, ad opes, ad voluptates, ad honores, ad munda­ nam eruditionem possunt accommodari; et tarnen adhuc versaris in tropologia. Quin tota parabola potest ad Iuda­ eorum populum ac gentes illius temporis applicari. Gentes resipiscunt et recipiuntur, obmurmurant Iudaei, placat utrosque pater communis. Iam ex personarum, quibus accommodatur parabola, temporumque varietate nova paene facies sermonis nascitur, qua de re nonnihil attigimus in superioribus. Porro in tractandis allegoriis felicissimus artifex est Origenes, sedulus magis quam felix Ambrosius, si quis forsitan requirat exemplum, quod imitetur, nisi quod uterque immodicus est ac plerumque iniquior historico sensui quam par est. Quin et illud in primis admonendus est theologiae candi­ datus, ut apposite citare condiscat sacrae scripturae testi-

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i st, wie nach dem tropologischen, übertragenen, der sich auf die Sitten und das gewöhnliche Leben bezieht, wie nach dem allegorischen, der etwa die Geheimnisse des Hauptes und des ganzen mystischen Leibes behandelt, wie nach dem anagogi­ schen, mystischen Sinn, der sich etwa an die himmlische Hierarchie heranwagt'13, die ewige Wahrheit sich in verschie­ denen Dingen wiederspiegelt (auf diese Weise sehe ich nämlich manche einteilen} ; man muß aber auch beachten, welche Abstufungen es dann im einzelnen gibt, welche Unterschiede, und wie die Vorgangsweise sein muß. Auf wie viele Weisen behandelt Origenesm die Versuchung Abra­ hams durch Gott ; aber obwohl er in der Geschichte ver­ weilt, welche Stellen findet er doch da ! - Um es endgültig zu sagen : Der geistige Gehalt nimmt je nach der Mannig­ faltigkeit der Dinge, auf die er bezogen wird, je nach den verschiedenen Zeiten gleichsam eine neue Gestalt an. So können die Schoten der Schweine, mit denen der verlorene Sohn seinen hungrigen Bauch anfüllen wollte, auf den Reichtum, die Lust, die Ehren, die weltliche Bildung ange­ wendet werden. Und doch hältst du dich noch im Bereich der übertragenen Sprechweise auf. Ja, die ganze Parabel kann sogar auf das Volk der Juden und auf die Heiden jener Zeit angewendet werden. Die Heiden bekehren sich und werden begnadigt, die Juden murren, beide besänftigt sie der gemeinsame Vater. Aus der Verschiedenheit der Personen und der Zeiten, auf die die Parabel angewendet wird, nimmt die Erzählung ein nahezu neues Gesicht an, worüber wir oben einiges angedeutet haben. In der Behand­ lung der Allegorie ist weiterhin Origenes der glücklichste Künstler, mehr fleißig als erfolgreich ist Ambrosius, wenn einer ein Beispiel zur Nachahmung verlangt ; abgesehen davon, daß beide sich zu wenig mäßigen und dem historischen Sinn meistens abgeneigter sind, als es sich gebührte. Aber auch darin soll der Kandidat der Theologie vor allem unterwiesen werden, daß er die Zeugnisse der Heiligen ui Gemeint ist die Engelwelt in Anspielung an das klassische Werk des Dionysius Areopagita. •u Origenes, In gen. hom. 8 ; PG 12, 203ff.

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monia, non e summulis aut elenchis aut sordidis contiun­ culis aut aliis id genus collectaneis iam sescenties aliunde alio confusis ac refusis, sed ex ipsis fontibus. Nec imitetur quosdam, quos non pudet oracula divinae sapientiae vio­ lenter detorquere ad alienos sensus, aliquoties et ad con­ trarios. Id ne fiat, prima sit cura librorum omnium veteris novique testamenti sententiam ex priscis illis interpretibus perdiscere. Audivi quosdam in palaestris Sorbonicis non vulgariter exercitatos, qui in frequentissima contione multa philosophabantur non intellecto themat�, quod ex more proposuerant, ne ad litteram quidem, ut vocant, magnoque pudore doctorum hominum tumultuabantur extra oleas, ut est in Graecorum proverbio, currentes. Sunt, qui secum afferunt sua decreta et vulgaribus opinionibus infecti bis servire cogunt arcanam scripturam, cum ex hac potius petenda sint animi decreta. Quod eleganter admonet Hila­ rius libro de trinitate primo, cui optimus divinorum voluminum lector est, qui dictorum intelligentiam exspec­ tet ex dictis potius quam imponat et rettulerit magis quam attulerit neque cogat id videri dictis contineri, quod ante lectionem praesumpserit intelligendum. Sunt, qui eam ad publicos affectus ac mores pertrahunt, et cum huic regulae servire conveniat, ubi deliberatur, quid oporteat fieri, huius patrocinio tuentur id, quod vulgo fit. !am est occultius quidem, sed hoc ipso nocentius depra­ vandi genus, cum abutentes divinae scripturae vocabulis

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Schrift richtig zitieren lerne, nicht aus Sammelwerkehen, Inhaltsverzeichnissen, schäbigen Predigten oder derartigen Kollektaneen, die schon zum tausendstenmal von wo anders her durch anderes vermischt und wieder vermischt worden sind, sondern aus den Quellen selbst. Er möge nicht jene nachahmen, die sich nicht schämen, die Worte der ewigen Weisheit gewaltsam in einen ihnen fremden Sinn, manch­ mal sogar in den gegenteiligen zu verdrehen. Damit das nicht geschieht, muß es die erste Sorge sein, die Lehre aller Bücher des Alten und des Neuen Testaments aus jenen alten ehrwürdigen Interpreten zu lernen. Ich hörte einige in den Ringschulen der Sorbonne nicht gewöhnlich Geübte, die in vollbesetztem Vortragssaal viel zusammenphiloso­ phierten, ohne das Thema, das sie nach ihrer Gewohnheit gestellt hatten, auch nur im buchstäblichen Sinn, wie sie sagen, verstanden zu haben, und so lärmten sie zur großen Schande der gelehrten Welt, indem sie fortwährend über das Ziel hinausschossen, wie man im griechischen Sprich­ wort sagt. Es gibt solche, die ihre Lehrsätze mit sich herumtragen und, von pöbelhaften Meinungen angesteckt, die heilige Schrift diesen dienstbar machen wollen, obwohl doch eher aus ihr die Lehrsätze des Geistes abzuleiten wären. Dazu ermahnt in schöner Weise Hilariusüi in seinem ersten Buch über die Trinität. Nach ihm ist jener der beste Leser der göttlichen Schriften, der das Verständnis der Worte eher von den Worten erwartet, als daß er sie hineinlegte, der mehr wiedergibt, als daß er herantrage, und der keinen Zwang ausübt, sodaß in den Worten enthalten zu sein scheint, was er sich vor der L�ktüre als zu erkennen ange­ maßt hat. Es gibt solche, die dieses (Verständnis) nach den öffentlichen Leidenschaften und Sitten strecken ; obwohl es richtig wäre, dieser Regel zu dienen, decken sie, wo man überlegt, was geschehen müßte, mit ihrer Autorität, was gemeinhin geschieht. Es gibt aber noch eine zwar geheimere, aber dadurch noch schädlichere Art zu verfälschen, wenn wir die Worte der Heiligen Schrift mißbrauchen und die Kirche, welche c a H ilarius, De trinitate I, 18; PL 10, 38.

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ecclesia.m, quae Christi corpus est, interpretamur sacerdotes, mundum, quo vocabulo mali affectus designantur, inter­ pretamur laicos Christianos, perinde quasi hi ad ecclesia.m non pertineant, interim quod de Christianis omnibus est dictum, proprie monachis accommodantes, in mundo ponentes, quos Christus selegit e mundo, et velut a mundo semotos iudicantes, qui non aliter sunt extra mundum quam renes extra corpus animantis ; cum quod de cultu divino dictum est, ad solas caerimonias deßectimus, quod de sacerdotis officio, ad solas preculas utcumque dictas trahimus. Interim tota dissertione vis fit sacris litteris, et putribus fundamentis inanis aedificii moles imponitur. Proinde qui recte volet uti scripturis, non sat habeat quattuor aut quinque decerpsisse verbula, quin potius cir­ cumspiciat, unde natum sit quod dicitur. Frequenter enim huius aut illius loci sensus ex superioribus pendet. Perpen­ dat, a quo dicatur, cui dicatur, quo tempore, qua occasione, quibus verbis, quo animo, quid praecesserit, quid conse­ quatur. Quandoquidem ex hisce rebus expensis collectisque deprehenditur, quid sibi velit quod dictum est. In bis haec quoque servanda regula, ut sensus, quem ex obscuris verbis elicimus, respondeat ad orbem illum doc­ trinae Christianae, respondeat ad illius vitam, denique res­ pondeat ad aequitatem naturalem. Sie enim Paulus suadens Corinthiis, ut mulieres velatae precentur, viri contra nudo capite, naturam ipsam adducit in argumentum. Hoc loco subindicandus est error eorum, qui e sacris voluminibus, in quibus pro temporum, rerum ac personarum varietate

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der Leib Christi ist, als die Priester deuten und die Welt, mit welchem Wort die bösen Leidenschaften bezeichnet werden, als die christlichen Laien ; als ob diese nicht zur Kirche gehörten, wenden wir dann bisweilen das, was von allen Christen gesagt wurde, im eigentlichen Sinne nur auf die Mönche an ; wir versetzen jene in die Welt, die Christus sich von der Welt ausgesondert hat, und wir hal­ ten die für getrennt von der Welt, die sich nicht anders außerhalb der Welt befinden, als wie die Nieren außerhalb des lebenden Körpers sind. Ein gleiches gilt, wenn wir, was vom göttlichen Kult gesagt ist, ausschließlich von den Zere­ monien verstehen, und, was von der Amtspflicht des Prie­ sters, ausschließlich auf irgendwie heruntergesagte Gebet­ chen beziehen. Mittlerweile wird den heiligen Schriften durch völlige Auflösung Gewalt angetan, und auf morsche Funda­ mente wird die Last eines leeren Gebäudes gesetzt. Wer daher die Schriften richtig benützen will, hat nicht genug getan, wenn er sich vier oder fünf Wörtchen herausgesucht hat, ohne sich lieber umgesehen zu haben, aus welchem Zusammenhang das, was gesagt wird, erwachsen ist. Häufig hängt nämlich der Sinn dieser oder jener Stelle vom Vor­ hergehenden ab. Man überlege, von wem es gesagt wird, zu wem es gesagt wird, zu welcher Zeit, bei welcher Gelegen­ heit, mit welchen Worten, mit welcher Absicht ; man über­ lege, was vorangegangen ist, was nachfolgt. Denn von der Erwägung und Erstellung dieser Gesichtspunkte hängt es ab, wie eine Stelle verstanden sein will . In diesen Dingen ist auch die Regel zu beachten, daß der Sinn, den wir aus dunklen Worten hervorlocken, mit dem geschlossenen Kreis der Lehre Christi übereinstimmt, übereinstimmt auch mit seinem Leben, übereinstimmt schließlich auch mit dem natürlichen Anstand. So führt nämlich auch Paulus die Natur selbst als Argument ins Feld, wenn er den Korinthem'18 rät, die Frauen sollten verschleiert beten, die Männer dagegen mit bloßem Haupte. An dieser Stelle muß der Irrtum jener angeprangert werden, die aus den heiligen Büchern, in denen je nach der Unter'11 I Kor n, 4fJ.

Ratio diversa narrantur, tantum eas particulas decerpunt, quae ad ipsorum faciunt affectus, cum humanam legem nullus in­ telligat, nisi qui singula illius capite perpenderit. Audi ser­ monem divinum, sed totum audi. Episcopus es, delectat te, quod Petro dixit Christus : Et tibi dabo claves regni cae­ lorum ; sed attendito, quod eitlem a cruce revocanti dictum est : Vade retro, satana, non sapis, quae dei sunt, sed quae hominum. Memento, quod eitlem dictum est : Tu me se­ quere. Summus es pontifex, iuvat dici vicarium Christi, sed interim in mentem veniat exemplum Christi, mors Christi, in cuius affectum succedat oportet, qui succedit in vices ac titulum. Sacerdos es, placet tibi, quod dictum est apostolis : Quorum remiseritis peccata, remittunter eis. Sed adverte quod praecessit : Accipite spiritum sanctum, attende, quod iisdem est dictum : Ite et docete omnes gentes. Delectat, quod ait Paulus presbyteros duplici honore dignos, sed adde, quod addit ille : qui bene praesunt. Applicas in tuum commo­ dum, quod in veteris testamenti libris iubentur decimae dari Levitis, sed adde, quod dari iubentur iis, qui a sortibus divisae terrae fuerant exclusi, dari iubentur iis, qui semper assistebant sacris et huic uni rei vacabant, dari iubentur iis,

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schiedlichkeit der Zeit, der Dinge und der Personen Ver­ schiedenes erzählt wird, nur die Abschnitte auswählen, die ihren Leidenschaften entgegenkommen ; und doch kann man auch ein menschliches Gesetz nicht richtig verstehen, wenn man nicht seine Kapitel im einzelnen durchdacht hat. Höre das Wort Gottes, aber höre es ganz. Du bist Bischof, es freut dich, was Christus zu Petrus gesagt hat : Und dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben. 417 Aber paß auf, was er ihm sagte, als dieser ihn vom Kreuz zurück­ halten wollte : Hinweg von mir, Satan ! Du hältst es nicht mit Gott, sondern mit den Menschen.418 Denke daran, was ihm gesagt wurde : Du folge mir.'19 Du bist Papst, es ist schön für dich, du wirst Stellvertreter Christi genannt, aber kommt dir auch das Beispiel Christi, der Tod Christi in den Sinn, in dessen Geist nachfolgen muß, wer in Titel und Stellung nachfolgt ? Du bist Priester, es gefällt dir, daß von den Aposteln gesagt wurde : Wem ihr die Sünden nachlasset, denen sind sie nachgelassen.'20 Aber denke daran, was dem voraus gegangen ist : Empfanget den Heiligen Geist.'11 Beachte, was denselben gesagt wurde : Gebet hin und lehret alle Völker.'11 Er freut sich, daß Paulus sagt, die Priester seien doppelter Ehre wert, aber füge hinzu, was jener hinzufügt : . . . , die ihr Amt gut verwalten.'23 Du wen­ dest es zu deinem Vorteil an, daß in den Büchern des Alten Testaments befohlen wird, den Leviten Zehente zu geben, aber füge hinzu, daß sie denen gegeben werden mußten, die bei der durch das Los erfolgten Aufteilung des Landes aus­ geschlossen waren, die immer im Heiligtum dienten und für u7 Mt 16, 1 8 Auch Erasmus weiß natürlich, daß die zitierte Stelle seit der ältesten Zeit, wenigstens seit Beginn des 3. Jh., in der katholi­ schen Exegese auf den Bischof von Rom, den Nachfolger Petri, gedeu­ tet wurde. Ostentativ bringt er die Stelle mit dem Bischofsamt allgemein in Zusammenhang. UI Mk 8, 33. UI }o 211 19• '11 Jo 20, 23. Hl Jo 201 22. '11 Mt 28, 19. HI l Tim 5, 17. .

Ratio quorum pars erat dominus deus. Ab his rebus quantum absunt, qui nunc plus quam decimas exigunt a plebe. Cristas erigimus, quod sacerdotes regale genus dixerit Petrus ; at multis non venit in mentem iisdem praestandum esse, quod dixit Christus : Vos estis sal terrae, vos estis lux mundi. Places tibi, quia tibi quoque dictum imaginaris, quod Christus dixit Petro : Pasce oves meas ; sed interim memento, qui hoc dixit, ter esse stipulatum amorem sui et amorem eximium. Ait enim : Diligis me plus his. Praesides aliis episcopis, verum iuberis et amore praecellere, iuberis exemplo summi pastoris omnium incolumitatem vitae tuae dispendio tueri. Gaudes tibi locum in terris esse Christo proximum, at memento tuum esse officium, ut sis illi et vitae sanctimonia proximus. Ad eum modum si sacris litteris utemur, turn demum erunt nobis salutiferae. Quidam impudenter scripturam divinam trahunt ad sen­ sum alienissimum, velut is, qui quod dictum est de tentoriis hostium apud Habacuc : Turbabuntur pelles terrae Madian, detorsit ad Bartholomaeum excoriatum, quod habet historia, licet ea fide careat ; aut is, qui quod habetur in libro Iudith : Gyrantes vallem venerunt ad portam, stultis-

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diese Sache ausschließlich freigestellt waren. Sie mußten jenen gegeben werden, deren Anteil Gott der Herr war. Wie weit entfernt davon sind jene, die nun mehr als die Zehen­ ten vom Volk fordern. Uns schwillt der Kamm, daß Petrus die Priester ein königliches Geschlecht'" genannt hat; allein vielen kommt es nicht in den Sinn, daß dieselben auch leisten müßten, was Christus gesagt hat : Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt.ill Es gefällt dir, weil du dir einbildest, daß auch zu dir gesagt worden ist, was Christus dem Petrus sagte : Weide meine Lämmer !'11 Aber erinnere dich mittlerweile : Der das gesagt hat, der hat sich dreimal die Liebe, die restlose Liebe ausbedungen. Er sagt nämlich : Liebst du mich mehr als diese?'17 Du hast den Vorrang vor den anderen Bischöfen, aber man befiehlt dir, auch in der Liebe voranzuleuchten, man befiehlt dir, unter Einsatz deines Lebens das Heil aller nach dem Bei­ spiel des obersten Hirten zu wahren. Du freust dich, weil dir auf Erden ein Platz ganz in der Nähe Christi zukommt, aber bedenke, es ist deine Amtspflicht, daß du ihm auch in der Heiligkeit des Lebens am nächsten bist. Wenn wir die heiligen Schriften in dieser Weise gebrauchen, dann werden sie uns schließlich das Heil bringen. Manche entfremden die Heilige Schrift in schamloser Weise ihrem ursprünglichen Sinn, wie der, welcher den Aus­ spruch beim Propheten Habakuk über die Zelte der Feinde verdreht : In Furcht sind die Häute des Landes Ma­ dian.'28 und ihn mit der Häutung des Bartholomäus in Zu­ sammhang bringt ; darüber weiß die Geschichte zu erzählen, sie entbehrt aber jeder Glaubwürdigkeit. Oder der, welcher das „sie durchquerten das Tal und kamen an das Stadt&H l Petr 2, 9. Es ist auffallend, daß Erasmus die klassische Beleg· stelle für das Priestertum des ganzen Gottesvolkes, das Laienpriester· turn, das von den Reformatoren und auch von ihm selbst an anderer Stelle besondere Beachtung erfährt, unrichtig auf das hierarchische Priestertum allein anwendet. "' Mt 5, 13 f. "' Jo 21, 17. "' ]o 21, 15· • u Hab 3, 7.

Ratio sime defiexit ad argumenta quattuor librorum Petri Lom­ bardi, qui scripsit sententias theologicas. Quodque in hoc etiam est subtilius, vult in iisdem verbis allusum esse ad ipsius nomen et agnomen. Haec non referrem, nisi ipsi suas naenias evulgassent neque deessent, qui talia serio lectitent. Sunt, qui ludant verbis scripturae divinae, ac veluti fit in centonibus poetarum, ad alienum sensum ceu per iocum abutuntur. Quod aliquoties facit divus Bernardus, venuste magis quam graviter, meo quidem iudicio. Sie enim imbi­ berat vir ille praeclarus sacras litteras, ut nusquam non occursarent. Nam quod hodie quidam, si quando festivi student videri, verba mystica depravant ad iocos scurriles, non solum indoctum est verum etiam impium et supplicio dignum. Impingit hoc Hieronymus Origeni, quod aliquoties vim faciat scripturis, opinor, ut nos prorsus abducat a littera plerumque sterili. Quin potius nemo ferme veterum non alicubi torquet, quoties cum adversario dimicant, atque ipse etiam Hieronymus, quod uno in loco propemo­ dum fatetur. In his igitur cautius observandum, num qua

vis facta sit verbis sacris, nisi si quis fas esse putat id facere, quoties capiendus est hostis aut a vitiis deterrendus in­ firmorum animus. Mihi videtur rectissimum, ut caste, ut opportune sacris verbis utamur. Si primum curaris, ut id facias quam optime, postea fiet, ut et facile facias. Id cum ubique praestari velim,

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tor"'29 aus dem Buche Judith in sehr törichter Weise auf die Argumente der vier Bücher des Petrus Lombardus mit seinen theologischen Sentenzen umdeutet. Und was darin schon allzu spitzfindig ist : Er will in diesen Worten Anspielungen sogar auf seinen Vor- und Zunamen sehen. Ich würde das nicht berichten, wenn nicht sie selbst ihre Ammen­ märchen verbreitet hätten und jene nicht fehlten, die solches allen Ernstes lesen. Es gibt Leute, die mit den Worten der Heiligen Schrift spielen und sie, wie es mit den zusammen­ geflickten Gedichten geschieht, gleichsam im Scherz für einen fremden Sinn mißbrauchen. Das macht gelegentlich auch der heilige Bernhard, mehr mit Anmut als mit Würde, wie ich glaube. Jener berühmte Mann hatte nämlich die heiligen Schriften derart in sich verarbeitet, daß sie ihm bei keiner Gelegenheit fehlten. Daß nämlich heute gewisse Leute, wenn sie witzig scheinen wollen, geheiligte Worte zu skurrilen Späßen verkehren, ist nicht nur ungebildet, son­ dern auch gottlos und verdammenswert. Hieronymus'30 kreidet dem Origenes an, daß er gelegentlich den Schriften Gewalt antue, um uns geradewegs vom meist unfruchtbaren Buchstaben abzuziehen, wie ich glaube. Ja, fast keiner von den Alten verdreht nicht auch gelegentlich den Sinn, wenn er mit einem Gegner zu kämpfen hat, wie selbst auch Hieronymus431, der das an einer Stelle geradezu gesteht. In diesen Dingen muß man vorsichtig darauf achten, ob den heiligen Worten Gewalt angetan wird - es sei denn, einer glaubt, daß es sein Recht ist, so zu tun, sooft man einen Feind schlagen oder den Sinn der Schwachen von den Lastern abschrecken muß. Mir scheint es das richtigste, daß wir die heiligen Worte sauber, daß wir sie angemessen benützen. Wenn du dich zuerst bemüht hast, daß du das so gut wie möglich tust, dann wird es sich auch geben, daß du es mit Leichtigkeit tust. Obwohl ich will, daß das überall eingehalten wird, Hi

Jdt 13, 1 2 . Vgl. Hieronymus, Commentarium i n Jeremiam 2 7 , 3-4 ; 882 C, 884 B. 411 Die Stelle konnte nicht eruiert werden. 00

PL

24,

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maxime tarnen praestare convenit, ubi res est cum ad­ versariis nostrae religionis, aut ubi refellitur falsitas et asseritur veritas, aut ubi mysticae scripturae sensus enar­ ratur. Fit enim alioqui, ut non solum non evincamus quod astruimus, verum etiam risui simus adversario ; et tarnen mea sententia nusquam magis peccatum est a veteribus. Huius generis arbitror, quod Ambrosius libro de spiritu sancto secundo capite sexto ex loco, qui est apud Paulum in epistola ad Philippenses capite tertio : Qui spiritu servimus deo ratiocinatur adversus Arianos spiritum sanctum aperte deum dici, connectens has duas voces 7tVE:U!J.IX't'' et .ß.e:, cum Graeco sermone magis exprimatur sensus diversus, videlicet nos colere deum non corporeis victimis ac caerimoniis, sed spiritu, praesertim cum spiritui non addatur suus articulus, qui in tempore videbatur addendus, si sensisset de spiritu illo divino. Rursus quod idem enarrans locum, qui est in epistola Pauli ad Timotheum secunda capite secundo : In domo autem magna non solum sunt vasa etc., magno sto­ macho reicit et exsibilat interpretationem Novatiani, qui magnam divitis domum interpretatus sit mundum, qui constat ex bonis ac malis, et ad hoc evincendum adducit

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muß man das doch besonders einhalten, wo es um einen Handel mit den Gegnern unserer Religion geht, oder wo der Irrtum verworfen und die Wahrheit behauptet wird, oder wo der Sinn der Heiligen Schrift dargelegt wird. Es kommt nämlich zuweilen vor, daß wir nicht nur nicht beweisen können, was wir behaupten, sondern daß wir sogar unserem Gegner zum Gespött werden. Und doch wurde meiner Meinung nach nirgends von den Alten mehr gesündigt. Hieher gehört, glaube ich, was Ambrosius in seinem zweiten Buch >Über den Heiligen GeistCopia verborum ac rerum