In dubio pro reo und Wahrscheinlichkeitsurteile: Eine Untersuchung zur richterlichen Entscheidung unter Anwendung von Prognosenormen, Verdachtsnormen und Schätzklauseln im Strafprozess [1 ed.] 9783161625770, 9783161626449, 3161625773

Auf dem Weg zu seiner Entscheidungsfindung kann das Gericht an vielen Stellen zweifeln. Dann stellt sich die Frage, wer

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: Einführung und Zusammenfassung
A. Einführung
I. Themenfrage
II. Forschungsbedarf (Bedeutung der Themenfrage in Theorie und Praxis)
1. Juristische Wahrscheinlichkeitsurteile
2. Behandlung der Frage in Rechtsprechung und Literatur
III. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
1. Prognosen
a) Prognosen im Ermittlungsverfahren
b) Prognosen im Rahmen der Strafbarkeitsprüfung
c) Prognosen im Sanktionenrecht (Kriminalprognosen)
d) Prognosen im Rahmen der Strafzumessung
2. Verdachtsentscheidungen
3. Schätzungen
B. Zusammenfassung
Zweiter Teil: Grundlegendes
A. Die Struktur des Wahrscheinlichkeitsurteils
I. Die Struktur der Prognoseentscheidung
II. Die Struktur der Schätzung
B. Die In-dubio-Regel
Dritter Teil: Thesen und ihre Begründung im Einzelnen
A. Kein in dubio pro reo ohne Überzeugungspflicht
I. Überblick
II. Grundsatz: fehlende Überzeugung als Auslöser für die In-dubio-Regel
1. Zweifel und Überzeugung
2. Überzeugungspflicht des Richters (§ 261 StPO)
3. Aufklärungspflicht des Richters (§ 244 Abs. 2 StPO) und Erfordernis einer erschöpfenden Beweiswürdigung (§ 261 StPO)
III. Ausnahme: kein in dubio pro reo trotz fehlender Überzeugung bei Wahrscheinlichkeitsnormen
1. Die Herrschaft der Normentatbestände über die In-dubio-Regel
2. Keine Überzeugungspflicht bei Anwendung eines Wahrscheinlichkeitsurteils
a) Überblick
b) Begriff der Wahrscheinlichkeit und Maßgeblichkeit des epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs
aa) Klassischer Wahrscheinlichkeitsbegriff
bb) Wahrscheinlichkeitsbegriff der relativen Häufigkeit
cc) Propensity-Theorie der Wahrscheinlichkeit
dd) Logischer Wahrscheinlichkeitsbegriff
ee) Rational-subjektiver (epistemischer) Wahrscheinlich-keitsbegriff
c) Exkurs: Beurteilungsgrundlage und Perspektive als Faktoren für die (subjektive) Wahrscheinlichkeit im Polizeirecht und im materiellen Strafrecht
IV. Rückausnahme: in dubio pro reo bei Schätzungen
1. Der wahrscheinlich wahre Wert
2. Der Schätzrahmen als einzig denkbares Entscheidungspatt
B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts
I. Überblick
II. Die Prognoseentscheidung als rechtliches Problem
III. Die Bestimmung des Umschlagspunkts durch Auslegung ohne Rückgriff auf die In-dubio-Regel
1. Keine Anwendbarkeit von in dubio pro reo auf Zweifel in Bezug auf Auslegungsfragen
2. Der richtige Bezugspunkt der In-dubio-Regel und die unsaubere Trennung der herrschenden Meinung zwischen Tatsache und Recht
a) Tatsache und Recht
b) Subsumtionsstoff und Gesetzesauslegung
aa) Auslegung des Gesetzes
bb) Wahrnehmung und Erfahrung des Subsumtionsstoffes
c) Gegenstand und Begriff
3. Zum sogenannten „Mittelfeld“ und zur gesetzeswidrigen Lösung von Frisch
4. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Erwartung“
IV. Die Bestimmung des Umschlagspunkts durch Interessenabwägung ohne Rückgriff auf die In-dubio-Regel
1. Keine Anwendbarkeit von in dubio pro reo auf Zweifel in Bezug auf den Ausgang einer Interessenabwägung
a) Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip
b) Das Freiheitsgrundrecht als abwägbares Prinzip
c) Die „Freiheitsvermutung“ als „Prima-facie-Vorrang“ des Freiheitsgrundrechts (in dubio pro libertate)
d) In dubio pro reo als unabwägbare Regel
aa) Geltungsgrund von in dubio pro reo bei der Bestrafung
bb) Sprachliche Feinheiten
cc) Zur Beweislast im Strafprozess
dd) Geltung von in dubio pro reo im Maßregelrecht
2. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Gefahr“
3. Zur unsauberen Lösung der herrschenden Meinung
C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen
I. Überblick
II. Prognoseentscheidung und Schätzung als wissenschafts-theoretisches Problem
1. Der Schluss auf die epistemische Wahrscheinlichkeit
a) Die logische Struktur von Erklärung und Prognose
b) Der Erfahrungssatz
2. Die richterliche Prognose als empirisch beweisbare Tatsachenaussage
a) Abgrenzung zum Werturteil
b) Abgrenzung zur Konkretisierung von deskriptiven unbestimmten Rechtsbegriffen
c) Sprachliche Feinheiten
d) Das Prognosegutachten des Sachverständigen als Prämisse für das Wahrscheinlichkeitsurteil des Richters
aa) Aufgabenverteilung zwischen Gericht und Gutachter
bb) Große und kleine Prognose
III. Kein in dubio pro reo aus Gründen der Dogmatik
1. Die Rechtsnatur von in dubio pro reo als Grund für das „Ob“ der Berücksichtigung von Unsicherheiten
2. Freie Beweiswürdigung im deutschen Strafprozess
3. Entscheidungs- statt Beweis(würdigungs)regel
4. In dubio pro reo und Indizienbeweis
IV. Kein in dubio pro reo aus Gründen der Logik
1. Die induktive Logik als Grund für das „Ob“ der Berücksichtigung von Unsicherheiten
2. Wichtige Symbole der Prädikatenlogik
3. Deduktive Argumente und deterministische Erfahrungssätze
4. Induktive Argumente und statistische Erfahrungssätze
V. Die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie als „Wie“ der Berücksichtigung von Unsicherheiten
1. Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung
a) Axiome der Wahrscheinlichkeit
aa) Normierung
bb) Sicherheit
cc) Additivität
b) Theoreme der Wahrscheinlichkeit
c) Die bedingte Wahrscheinlichkeit
d) Likelihood und A-posteriori-Wahrscheinlichkeit
e) Abhängigkeit und Unabhängigkeit
aa) Unabhängigkeit
bb) Abhängigkeit
cc) Bedingte Unabhängigkeit
2. Die Wahrscheinlichkeitsaxiome und -theoreme als logische Denkgesetze der Beweiswürdigung
a) Axiome als logische Denkgesetze
b) Multiplikationsregel, Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit und Bayes-Regel als logische Denkgesetze
3. Folgen für Indizienbeweis und Prognose
a) Indizienbeweis
b) Prognose
aa) Die Bestimmung der Likelihood
bb) Die Wahl der richtigen Referenzklasse
VI. Gegenüberstellung der hier vertretenen Lösung mit derjenigen von herrschender Meinung und Literatur
1. Zweifelhafte Tatsachengrundlage
a) Ansicht der herrschenden Meinung
b) Forschungsstand in der Literatur und Gemeinsamkeiten mit der eigenen Lösung
2. Unsichere Erfahrungssätze
a) Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit oder an der fachwissenschaftlichen Akzeptanz des Erfahrungssatzes
b) Zweifel aufgrund bloßer Angabe eines Konfidenzintervalls
3. Widersprüchliche Prognosegutachten
Vierter Teil: Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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In dubio pro reo und Wahrscheinlichkeitsurteile: Eine Untersuchung zur richterlichen Entscheidung unter Anwendung von Prognosenormen, Verdachtsnormen und Schätzklauseln im Strafprozess [1 ed.]
 9783161625770, 9783161626449, 3161625773

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Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 196 herausgegeben von

Rolf Stürner

Anna Berger

In dubio pro reo und Wahrscheinlichkeitsurteile Eine Untersuchung zur richterlichen Entscheidung unter Anwendung von Prognosenormen, Verdachtsnormen und Schätzklauseln im Strafprozess

Mohr Siebeck

Anna Berger, geboren 1991; Studium der Rechtswissenschaft in Passau; Rechtsreferendariat in den Oberlandesgerichtsbezirken Nürnberg und München; 2023 Promotion; Rechtsanwältin in München.

ISBN 978-3-16-162577-0 / eISBN 978-3-16-162644-9 DOI 10.1628/978-3-16-162644-9 ISSN 0722-7574 / eISSN 2568-7255 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck aus der Times gesetzt, in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Diese Arbeit wurde von der Fakultät für Rechtswissenschaft an der Universität Regensburg im Wintersemester 2022/2023 als Dissertation angenommen. Schrift­ tum und Rechtsprechung wurden bis Juni 2022 berücksichtigt. Mein erster und besonderer Dank gilt meinem hochgeschätzten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Tonio Walter, Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht. Er hat mich zu diesem Thema ermutigt und mich zu jeder Zeit gefördert und gefordert. Bei Herrn Professor Dr. Jan Bockemühl bedanke ich mich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Bedanken möchte ich mich auch bei meinem geduldigen und verständnisvollen Ehemann, der zu meinem großen Glück ein brillanter Jurist ist und der durch seine ständige Bereitschaft zu anregenden Diskussionen zum Gelingen dieser Arbeit ungemein beigetragen hat. Schließlich bedanke ich mich von ganzem Herzen bei meinen Eltern und meiner Großmutter, die meine Ausbildung ermöglicht und mir zu jeder Zeit bedingungslosen Rückhalt gewährt haben. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. München, im Mai 2023

Anna Berger

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Erster Teil:  Einführung und Zusammenfassung . . . . . . . . . .

1

A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I. Themenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Forschungsbedarf (Bedeutung der Themenfrage in Theorie und Praxis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Juristische Wahrscheinlichkeitsurteile . . . . . . . . . . . . . 2. Behandlung der Frage in Rechtsprechung und Literatur . . . III. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . . . . 1. Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prognosen im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . b) Prognosen im Rahmen der Strafbarkeitsprüfung . . . . . . c) Prognosen im Sanktionenrecht (Kriminalprognosen) . . . d) Prognosen im Rahmen der Strafzumessung . . . . . . . . 2. Verdachtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schätzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

B. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

Zweiter Teil:  Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

A. Die Struktur des Wahrscheinlichkeitsurteils . . . . . . . . . . . . .

15

I. Die Struktur der Prognoseentscheidung . . . . . . . . . . . . . II. Die Struktur der Schätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 18

B. Die In-dubio-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

1 2 3 4 4 4 5 6 8 8 8

VIII

Inhaltsverzeichnis

Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen . . . . .

21

A. Kein in dubio pro reo ohne Überzeugungspflicht . . . . . . . . . .

21

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundsatz: fehlende Überzeugung als Auslöser für die In-dubio-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweifel und Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überzeugungspflicht des Richters (§  261 StPO) . . . . . . . . 3. Aufklärungspflicht des Richters (§  244 Abs.  2 StPO) und Erfordernis einer erschöpfenden Beweiswürdigung (§  261 StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausnahme: kein in dubio pro reo trotz fehlender Überzeugung bei Wahrscheinlichkeitsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Herrschaft der Normentatbestände über die In-dubio-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Überzeugungspflicht bei Anwendung eines Wahrscheinlichkeitsurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begriff der Wahrscheinlichkeit und Maßgeblichkeit des epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs . . . . . . . aa) Klassischer Wahrscheinlichkeitsbegriff . . . . . . . . bb) Wahrscheinlichkeitsbegriff der relativen Häufigkeit . . cc) Propensity-Theorie der Wahrscheinlichkeit . . . . . . dd) Logischer Wahrscheinlichkeitsbegriff . . . . . . . . . ee) Rational-subjektiver (epistemischer) Wahrscheinlichkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Beurteilungsgrundlage und Perspektive als Faktoren für die (subjektive) Wahrscheinlichkeit im Polizeirecht und im materiellen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rückausnahme: in dubio pro reo bei Schätzungen . . . . . . . . 1. Der wahrscheinlich wahre Wert . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Schätzrahmen als einzig denkbares Entscheidungspatt . .

21

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts . . . .

47

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Prognoseentscheidung als rechtliches Problem . . . . . . . III. Die Bestimmung des Umschlagspunkts durch Auslegung ohne Rückgriff auf die In-dubio-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . .

47 47

22 23 23 25 26 26 28 28 30 30 32 33 34 35 39 43 43 45

50

Inhaltsverzeichnis

1. Keine Anwendbarkeit von in dubio pro reo auf Zweifel in Bezug auf Auslegungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der richtige Bezugspunkt der In-dubio-Regel und die unsaubere Trennung der herrschenden Meinung zwischen Tatsache und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatsache und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Subsumtionsstoff und Gesetzesauslegung . . . . . . . . . aa) Auslegung des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wahrnehmung und Erfahrung des Subsumtionsstoffes c) Gegenstand und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zum sogenannten „Mittelfeld“ und zur gesetzeswidrigen Lösung von Frisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Erwartung“ . . . . . . . IV. Die Bestimmung des Umschlagspunkts durch Interessenabwägung ohne Rückgriff auf die In-dubio-Regel . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Anwendbarkeit von in dubio pro reo auf Zweifel in Bezug auf den Ausgang einer Interessenabwägung . . . . . . a) Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip . . . . . . . . b) Das Freiheitsgrundrecht als abwägbares Prinzip . . . . . . c) Die „Freiheitsvermutung“ als „Prima-facie-Vorrang“ des Freiheitsgrundrechts (in dubio pro libertate) . . . . . . . . d) In dubio pro reo als unabwägbare Regel . . . . . . . . . . aa) Geltungsgrund von in dubio pro reo bei der Bestrafung bb) Sprachliche Feinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zur Beweislast im Strafprozess . . . . . . . . . . . . dd) Geltung von in dubio pro reo im Maßregelrecht . . . . 2. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Gefahr“ . . . . . . . . . 3. Zur unsauberen Lösung der herrschenden Meinung . . . . . .

IX 50 51 51 54 55 56 57 58 60 62 62 62 63 64 66 66 70 70 72 73 75

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen . . . . . . . . . . .

78

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prognoseentscheidung und Schätzung als wissenschaftstheoretisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Schluss auf die epistemische Wahrscheinlichkeit . . . . . a) Die logische Struktur von Erklärung und Prognose . . . . b) Der Erfahrungssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die richterliche Prognose als empirisch beweisbare Tatsachenaussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abgrenzung zum Werturteil . . . . . . . . . . . . . . . .

78 80 81 81 83 85 85

X

Inhaltsverzeichnis

b) Abgrenzung zur Konkretisierung von deskriptiven unbestimmten Rechtsbegriffen . . . . . . . . . . . . . . . c) Sprachliche Feinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Prognosegutachten des Sachverständigen als Prämisse für das Wahrscheinlichkeitsurteil des Richters . . . . . . . aa) Aufgabenverteilung zwischen Gericht und Gutachter . bb) Große und kleine Prognose . . . . . . . . . . . . . . . III. Kein in dubio pro reo aus Gründen der Dogmatik . . . . . . . . 1. Die Rechtsnatur von in dubio pro reo als Grund für das „Ob“ der Berücksichtigung von Unsicherheiten . . . . . . . . . . . 2. Freie Beweiswürdigung im deutschen Strafprozess . . . . . . 3. Entscheidungs- statt Beweis(würdigungs)regel . . . . . . . . 4. In dubio pro reo und Indizienbeweis . . . . . . . . . . . . . IV. Kein in dubio pro reo aus Gründen der Logik . . . . . . . . . . 1. Die induktive Logik als Grund für das „Ob“ der Berücksichtigung von Unsicherheiten . . . . . . . . . . . . . 2. Wichtige Symbole der Prädikatenlogik . . . . . . . . . . . . 3. Deduktive Argumente und deterministische Erfahrungssätze . 4. Induktive Argumente und statistische Erfahrungssätze . . . . V. Die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie als „Wie“ der Berücksichtigung von Unsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung . . . . . . . . . a) Axiome der Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . aa) Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Additivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Theoreme der Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . c) Die bedingte Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . d) Likelihood und A-posteriori-Wahrscheinlichkeit . . . . . . e) Abhängigkeit und Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . aa) Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bedingte Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wahrscheinlichkeitsaxiome und -theoreme als logische Denkgesetze der Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . a) Axiome als logische Denkgesetze . . . . . . . . . . . . . b) Multiplikationsregel, Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit und Bayes-Regel als logische Denkgesetze . . . . . . . . . 3. Folgen für Indizienbeweis und Prognose . . . . . . . . . . . a) Indizienbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88 90 91 91 93 94 94 95 101 103 106 107 108 109 112 117 117 117 118 118 119 120 121 122 127 128 129 130 130 130 133 134 134

Inhaltsverzeichnis

b) Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Bestimmung der Likelihood . . . . . . . . . . . . bb) Die Wahl der richtigen Referenzklasse . . . . . . . . . VI. Gegenüberstellung der hier vertretenen Lösung mit derjenigen von herrschender Meinung und Literatur . . . . . . . . . . . . . 1. Zweifelhafte Tatsachengrundlage . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansicht der herrschenden Meinung . . . . . . . . . . . . . b) Forschungsstand in der Literatur und Gemeinsamkeiten mit der eigenen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unsichere Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit oder an der fachwissenschaftlichen Akzeptanz des Erfahrungssatzes . b) Zweifel aufgrund bloßer Angabe eines Konfidenzintervalls 3. Widersprüchliche Prognosegutachten . . . . . . . . . . . . .

XI 134 134 136 140 141 141 142 150 150 151 152

Vierter Teil:  Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Erster Teil

Einführung und Zusammenfassung A. Einführung I. Themenfrage „ ‚Die Notwendigkeit zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit zu erkennen.‘ […] Unsicherheiten belasten […] Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen, und immer stellt sich die Frage: Wer hat die Last des Zweifels zu tragen?“1

Die vorliegende Arbeit widmet sich der Frage, ob die Regel in dubio pro reo auch bei der Anwendung von Normen zu beachten ist, deren Tatbestand ein Wahrscheinlichkeitsurteil verlangt. In diesen Fällen macht das geltende Recht nicht das sichere Vorliegen von Tatsachen zur Voraussetzung für den Eintritt einer Rechtsfolge, sondern es bezieht sich auf einen bestimmten Grad des Möglichen. Ein Beispiel für solche Normen ist §  56 StGB: Diese Vorschrift erlaubt, den Vollzug einer Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn zu erwarten ist – wenn es also wahrscheinlich erscheint –, dass die Verurteilung den Verurteilten auch ohne Strafvollzug in ein Leben ohne Straftaten führen werde. Wahrscheinlichkeitsurteile werden aber auch von Normen verlangt, die eine Schätzung gestatten. So erlaubt etwa §  40 Abs.  3 StGB, bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe einer Geldstrafe die Einkünfte des Verurteilten (und weitere Bemessungsgrundlagen) zu schätzen. Denn schätzen heißt, das Wahrscheinlichste annehmen. Zu klären ist nicht nur, ob die In-dubio-Regel bei der Anwendung solcher Normen Beachtung verlangt, sondern gegebenenfalls auch, wann sie dies tut – und mit welchem Ergebnis.

II. Forschungsbedarf (Bedeutung der Themenfrage in Theorie und Praxis) Forschungsbedarf besteht, weil die oben skizzierte Frage von beträchtlicher Bedeutung ist, die bisher zu findenden Antworten aber deutliche Mängel haben. 1 

Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4.  Aufl. 2018, S.  45 Rn.  B 43 (unter Bezugnahme auf einen Satz, der Immanuel Kant zugeschrieben wird. So etwa auch bei Merkel in Dagger et al. [Hrsg.], Politikberatung in Deutschland, S.  21–23, 21).

2

Erster Teil:  Einführung und Zusammenfassung

Diese Mängel sind keineswegs rein akademischer Natur. Vielmehr sollten schon die eingangs genannten Beispiele der §§  40 und 56 StGB zeigen, dass es um ein Problem geht, das auch praktisch deutlich zu Buche schlägt. 1. Juristische Wahrscheinlichkeitsurteile Die Themenfrage der vorliegenden Untersuchung ist sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht von Bedeutung. Es gibt zahlreiche strafrechtliche Normen, die ein Wahrscheinlichkeitsurteil verlangen und deren Rechtsfolgen den Beschuldigten stark belasten können. Diese Vorschriften lassen sich überall im Strafrecht finden. Oft wird das Wahrscheinlichkeitsurteil nicht ausdrücklich verlangt, sondern die Vorschriften enthalten Formulierungen, die erst bei näherem Hinsehen nach Wahrscheinlichkeiten fragen. Im Einzelnen handelt es sich etwa um den Begriff des Verdachts eines künftigen Verhaltens des Beschuldigten (z. B. Flucht- oder Verdunkelungsverdacht, §  112 Abs.  2 StPO) oder um die Hypothese über ein Urteil des Gerichts (z. B. Verurteilungswahrscheinlichkeit im Rahmen des §  359 Nr.  5 StPO oder des §  153 Abs.  1 StPO). Auch der hinreichende Tatverdacht nach §  170 Abs.  1 StPO fällt darunter, weil auch er eine bestimmte Verurteilungswahrscheinlichkeit bedingt.2 Im Tatbestandsmerkmal der Erwartung oder auch der Gefahr im Strafvollstreckungs- oder Maßregelrecht sowie im Hinblick auf die Strafzumessung lassen sich solche Prognosen (mit Blick in die Zukunft) ebenfalls ausmachen (§§  56 ff. StGB, §§  61 ff. StGB, §  46 Abs.  1 Satz 2 StGB).3 Wahrscheinlichkeitsurteile kommen schließlich im Zusammenhang mit einer Glaubhaftmachung vergangenen Verhaltens vor (§  26 Abs.  2 StPO, §  45 Abs.  2 StPO), denn glaubhaft gemacht ist, was das Gericht für (lediglich) wahrscheinlich hält. Auch der Anfangsverdacht (§  152 Abs.  2 StPO) bezieht sich auf die vergangene Tat und ist deshalb dieser Kategorie zuzuordnen. Wieder andere Normen lassen den Richter Schätzungen vornehmen, wenn die zu entscheidende Frage nicht mit einem schlichten Ja oder Nein zu bewerkstelligen ist, sondern Höhenoder Mengenangaben verlangt. Schätzungsnormen finden sich zum Beispiel im Allgemeinen Teil des StGB, etwa in §  40 Abs.  3 StGB zur Bemessungsgrundlage der Tagessatzhöhe und in §  73d Abs.  2 StGB zur Bestimmung von Taterträgen zu deren Einziehung. Solche Schätzungen sind nach ständiger Rechtsprechung mittelbar aber auch im Bereich des Steuerstrafrechts zulässig (§  370 AO): Die Besteuerungsgrundlagen werden mit Schätzungsmethoden des Besteuerungsver2 

Kölbel in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  170 Rn.  14. Dazu gehören außerdem Vorstellungen über einen hypothetischen Geschehensverlauf, wenn dieser künftige Entwicklungen berücksichtigt. Vor allem im Zusammenhang mit der Geeignetheit und Erforderlichkeit bei Interessenabwägungen (§  34 StGB, §  193 StGB) wird dies relevant. 3 

A. Einführung

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fahrens geschätzt.4 Schätzungen sind in der Regel vergangenheitsbezogen, können sich aber auch auf künftige Größen beziehen. So ist es beispielsweise bei der Schadensschätzung im Rahmen der Interessenabwägung nach §  34 StGB. 2. Behandlung der Frage in Rechtsprechung und Literatur Bedeutung hat die Themenfrage auch, weil auf sie unterschiedliche Antworten denkbar sind – und diese Antworten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Die Frage nach dem Anwendungsbereich der In-dubio-Regel auf Prognose- und Schätzungsnormen hat sich nicht nur für die Rechtsprechung gestellt, sondern wurde als Randfrage bereits in Handbüchern, Dissertationen und anderen Monografien5, aber auch in Aufsätzen6 und Kommentierungen zu einzelnen Normen7 aufgeworfen. Erwähnenswert sind vor allem die Beiträge von Frisch8, der sich eingehend mit strafrechtlichen Prognosenormen auseinandergesetzt hat. Auch solche Monografien, die sich mit Schätzungen beschäftigen9 oder Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen allgemein oder bezogen auf andere Rechtsgebiete untersuchen10, sind einschlägig. Die bisherigen Bemühungen in der Literatur, die Themenfrage zu beantworten, sind aber nur zum Teil gelungen und gehen allesamt nicht in die gebotene Tiefe. Die Lösung der Rechtsprechung und herrschenden Meinung ist insgesamt nur wenig überzeugend und führt zu ungerechtfertigten Ergebnissen. Teilweise ist sie gar unschlüssig und widersprüchlich. 4  Ständige Rspr., etwa BGH, Beschluss v. 06.04.2016 – 1 StR 523/15, NStZ 2016, 728, 729; Schmitz/Wulf in MüKo-StGB Bd.  7, 3.  Aufl. 2019, §  370 AO Rn.  200. 5  Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung, 3.  Aufl. 2019; Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4.  Aufl. 2018; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 5.  Aufl. 2019; Montenbruck, In dubio pro reo, 1985; B. Müller, Anordnung und Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung, 1981; Pollähne, Kriminalprognostik, 2011; Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, 6.  Aufl. 2017; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, 2012; Stree, In dubio pro reo, 1962; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3.  Aufl. 2012; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, 1999. 6  Bruns, JZ 1958, 647 ff.; Schünemann, ZStW 1972, 870 ff.; Terhorst, MDR 1978, 973 ff.; T. Walter, JZ 2006, 340 ff. 7  Sander in Löwe/Rosenberg-StPO Bd.  7, 27.  Aufl. 2021, §  261 Rn.  185, 195; Radtke in LKStGB Bd. 5, 13. Aufl. 2022, Vor § 61 Rn. 55 ff.; Stuckenberg in KMR-StPO, 2019, § 261 Rn. 102. 8  Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983; Frisch, in Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994, S.  55–136. 9  Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, 2010; Huchel, Schätzungen im Steuerstrafverfahren, 1994; Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, 2018. 10  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, 1997; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, 2015.

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III. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands Dass es eine Vielzahl an Normen gibt, die ein Wahrscheinlichkeitsurteil verlangen, wurde oben bereits erwähnt. Insgesamt lassen sich drei Arten von Normen im Strafrecht unterscheiden, die ein Wahrscheinlichkeitsurteil voraussetzen: Prognosenormen, Verdachtsnormen und Schätzklauseln. Prognosenormen verlangen eine zukunftsgerichtete Prognose und man begegnet ihnen konkret im Ermittlungsverfahren und im Rahmen der Strafbarkeitsprüfung, vor allem aber im Sanktionenrecht. Verdachtsentscheidungen verlangen ein Urteil über einen vergangenen oder gegenwärtigen Sachverhalt. Sie spielen ebenfalls im Ermittlungsverfahren eine Rolle, können aber auch sonst während des gesamten Verfahrens auftauchen. Die Unterscheidung zwischen Verdachts- und Prognosenormen richtet sich nicht nach den vom Gesetzgeber verwendeten Begriffen, sondern danach, ob der Blick des Entscheidungsträgers in die Zukunft gerichtet ist (dann Prognose) oder in die Vergangenheit oder Gegenwart (dann Verdacht). Nicht um eine Verdachtsentscheidung (sondern um eine Prognose) geht es deshalb beispielsweise bei dem „Verdacht“ der Verdunkelung (§  112 Abs.  2 Nr.  3 StPO) und dem „hinreichenden Tatverdacht“, der auf die Wahrscheinlichkeit einer künftigen Verurteilung abstellt (§§  170 Abs.  1, 203 StPO). Grundsätzlich sind sämtliche Ausführungen der vorliegenden Arbeit auf alle Normen übertragbar, die ein Wahrscheinlichkeitsurteil verlangen, sofern es dabei um die allgemeine Struktur der Entscheidung geht. Denn diese Struktur ist immer gleich – unabhängig insbesondere davon, wer das Urteil zu fällen hat. Diese Arbeit legt ihr Augenmerk jedoch auf solche Normen, die ein Wahrscheinlichkeitsurteil des Gerichts vorsehen. Denn nur hier kann die Frage nach einer Entscheidung unmittelbar gemäß in dubio pro reo überhaupt auftauchen. 1. Prognosen Vorschriften, die dem Gericht eine Prognose abverlangen, beurteilen einen Sachverhalt der Gegenwart oder Vergangenheit daraufhin, ob mit einem bestimmten künftigen Geschehen zu rechnen sei. Die Rechtsfolge der hierzu zählenden Normen wird also angeknüpft an die Wahrscheinlichkeit, dass künftig ein bestimmter Umstand eintreten oder nicht eintreten werde. a) Prognosen im Ermittlungsverfahren Solche Prognosen sind zwar vor allem aus dem Ermittlungsverfahren bekannt, etwa wenn der Ermittlungsrichter oder Staatsanwalt ein künftiges Verhalten des Beschuldigten zu beurteilen hat (z. B. Flucht- oder Verdunkelungsverdacht, §  112 Abs.  2 StPO) oder wenn die Wahrscheinlichkeit einer späteren Verurteilung ge-

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prüft werden soll (z. B. Verurteilungswahrscheinlichkeit im Rahmen des §  359 Nr.  5 StPO oder des §  153 Abs.  1 StPO). Auch der hinreichende Tatverdacht nach §  170 Abs.  1 StPO bzw. §  203 StPO fällt wie gesagt darunter, weil auch er eine bestimmte Verurteilungswahrscheinlichkeit bedingt.11 Diese Entscheidungen werden allerdings vor Durchführung der Hauptverhandlung und damit vor Abschluss der Beweisermittlung und -würdigung gefällt. Im Falle etwa des §  170 StPO kommt es noch nicht einmal auf eine Prognose durch den Richter an, sondern auf eine Prognose des jeweils handelnden Amtsträgers (Staatsanwalt) im Zeitpunkt der relevanten Handlung (Abschlussverfügung).12 Aufgrund ihrer Vorläufigkeit kommen Prognosen im Ermittlungsverfahren für eine direkte Anwendung der In-dubio-Regel schon grundsätzlich nicht in Betracht. Allenfalls mittelbar kann die In-dubio-Regel hier eine Rolle spielen.13 Aus diesem Grund werden Prognosen im Ermittlungsverfahren hier nicht näher untersucht. Selbstverständlich gelten die allgemeinen Ausführungen dazu, wie sich der Entscheidungsträger sein Wahrscheinlichkeitsurteil bildet und wie sich die Wahrscheinlichkeit zur Überzeugung verhält, dennoch entsprechend. b) Prognosen im Rahmen der Strafbarkeitsprüfung Vorstellungen über einen hypothetischen Geschehensverlauf, der künftige Entwicklungen berücksichtigt, fallen ebenfalls unter den Prognosebegriff. Dies wird vor allem im Zusammenhang mit der Geeignetheit und Erforderlichkeit von Verteidigungshandlungen des Täters nach den §§  32 ff. StGB relevant, weil es hier auf eine „Gefahr“ für den Täter ankommt.14 Nach richtiger Ansicht stellt das Gericht für die Gefahrbeurteilung seine eigene Prognose an. Dabei muss es denjenigen Sachverhalt zugrunde legen, der sich für den Richter nach Abschluss der Beweisaufnahme ergibt, allerdings beschränkt auf alles, was sich bis zum Tatzeitpunkt ereignet hat. Dass es auf diese Richterperspektive ankommt und damit entgegen der herrschenden Meinung nicht auf die Sichtweise eines „objektiven Dritten“, legt Börgers15 überzeugend dar. Das Strafrecht verlangt in diesen Fäl11  BVerfG, Beschluss v. 28.03.2002 – 2 BvR 2104/01, NJW 2002, 2856, 2860; Kölbel in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  170 Rn.  14; Wenske in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  203 Rn.  18. 12  Vgl. BGH, Urteil v. 18.06.1970 – III ZR 95/68, NJW 1970, 1543, 1544, wonach der Staatsanwaltschaft und dem Eröffnungsrichter bei Anwendung der §§  170, 203 StPO ein weiter Beurteilungsspielraum überlassen ist. 13  Moldenhauer in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  170 Rn.  5; Wenske in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  203 Rn.  32; vgl. auch Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  94 f. 14 Vgl. Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  21. 15  Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  57 ff.; genauer dazu unten Teil 3 Kapitel A III 2 c.

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len also eine eigene Prognose des Gerichts, für welche die folgenden Ausführungen Gültigkeit haben. c) Prognosen im Sanktionenrecht (Kriminalprognosen) Im Tatbestandsmerkmal der „Erwartung“ oder auch der „Gefahr“ im Strafvollstreckungs- oder Maßregelrecht steckt ebenfalls das Erfordernis einer Prognose mit Blick in die Zukunft (§§  56 ff. StGB, §§  61 ff. StGB). Diese Normen bilden einen Schwerpunkt in der vorliegenden Untersuchung. Zu lesen ist vielerorts insoweit von Legalprognosen, Sozialprognosen, Rückfall- oder Wiederholungsprognosen, Gefährlichkeitsprognosen oder Kriminalprognosen. Auch von positiven oder negativen, guten oder schlechten sowie von richtigen und falschen Prognosen ist die Rede. Um dem von Pollähne kritisierten „terminologischen Wildwuchs“ vorzubeugen, der bei der Verwendung dieser verschiedenen Begrifflichkeiten für die Prognose entstehen kann, wird hier die von Pollähne16 und Volckart17 vorgeschlagene terminologische Präzisierung übernommen: Danach meint die Kriminalprognose die Vorhersage, ob eine Person künftig eine kriminelle Tat begehen werde oder nicht; diese ist also in den §§  56 ff., 61 ff. StGB angesprochen. Der Begriff der Sozial- oder Legalprognose umfasst hingegen sämtliches gesetzmäßige Verhalten, er beschränkt sich also nicht auf strafrechtlich relevantes Tun. Die Wortwahl ist veraltet, weil der Begriff nicht der gegenwärtigen Rechtslage entspricht, sondern derjenigen von 1953, wonach die Aussetzung der Strafvollstreckung die Erwartung voraussetzte, dass der Täter künftig ein „gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen“ werde.18 Seit 1969 allerdings wird nunmehr die Erwartung vorausgesetzt, dass der Täter „keine Straftaten mehr begehen wird.“19 Damit sind jetzt nur noch kriminelle Taten vom Wortlaut umfasst und aus diesem Grund sollte der Begriff der Sozial- oder Legalprognose in diesem Zusammenhang vermieden werden, weil er weiter ist als der Begriff der Kriminalprognose.20 Die Rückfall- oder Wiederholungsprognose ist ein Sonderfall der Kriminalprognose und meint den Fall, dass eine Person bereits in der Vergangenheit mindestens eine kriminelle Tat begangen hat. Das ist der Regelfall, weil das Strafrecht erst unter dieser Voraussetzung über16  Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221– 258, 223 ff. 17  Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  1 f. 18  §  23 Abs.  2 StGB a. F., Drittes Strafrechtsänderungsgesetz vom 04.08.1953, BGBl. I, S.  735. 19  §  23 Abs.  1 StGB a. F., Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StRG) vom 25.06.1969, BGBl. I, S.  645; siehe auch §  56 Abs.  1 StGB in der heute gültigen Fassung. 20  Vgl. auch BGH, Beschluss v. 11.01.2022 – 6 StR 493/21, BeckRS 2022, 225; Urteil v. 04.11.2021 – 6 StR 12/20, BeckRS 2021, 39177; Beschluss v. 01.07.2020 – 6 StR 106/20.

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haupt einschlägig ist.21 Der Begriff der Gefährlichkeitsprognose hingegen ist irreführend, weil es niemals um eine Gefährlichkeit des Menschen als persönliche Eigenschaft geht.22 Eine Prognose kann lediglich die von einer Person ausgehende Gefahr betreffen, weshalb Pollähne darin zuzustimmen ist, dass der polizeirechtliche Begriff der Gefahrenprognose genauer ist, weil er sich eher an Situationen als an Persönlichkeitsmerkmalen orientiert. Schließlich kann noch zwischen positiven und negativen Prognosen unterschieden werden, womit gesagt werden soll, ob der zu prognostizierende Umstand eintreten (positive Prognose) oder nicht eintreten werde (negative Prognose). Die gleiche Aussage kann auch mit dem Begriffspaar günstig/ungünstig getroffen werden, wobei hier die Aussage, dass der fragliche Umstand eintreten wird, als ungünstige Prognose deklariert wird, sofern an sie eine für den Betroffenen nachteilige Rechtsfolge (beispielsweise eine Maßregel) angeknüpft wird. Günstig ist demnach die Prognose, wenn damit eine für den Betroffenen positive Rechtsfolge verbunden wird, etwa die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung. Das Begriffspaar günstig/ungünstig impliziert, anders als das Begriffspaar positiv/negativ, bereits den Zweck der jeweils zu prüfenden Prognosenorm, und ist daher vorzugswürdig. Das Sanktionenrecht verlangt eine günstige Kriminalprognose, um eine Sanktion abzumildern oder teilweise zurückzunehmen. Die wichtigste Möglichkeit, dies zu tun, ist die bereits erwähnte Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung (§§  56 ff. StGB).23 Weil es in dieser Arbeit nicht um eine eingehende Betrachtung sämtlicher Prognosenormen geht, sondern um die Art und Weise der Bildung eines Wahrscheinlichkeitsurteils ganz allgemein, bezieht sich die Arbeit beispielhaft auf diese Aussetzungsentscheidung gemäß §  56 StGB. Bezüglich jener Vorschriften, die eine ungünstige Prognose voraussetzen, weil sie Maßregeln der Besserung und Sicherung erstmalig oder deren Fortdauer anordnen,24 wird die Arbeit sich beispielhaft mit §  63 StGB auseinandersetzen. Die Unterscheidung zwischen einer richtigen und einer falschen Prognose macht nur dort Sinn, wo geprüft wird, ob das prognostizierte Ereignis entsprechend der vorangegangenen Prognose tatsächlich eingetreten ist oder wie vorhergesagt tatsächlich ausgeblieben ist. Weil durch einen Widerspruch zwischen Vorhersage und späterer Realität allerdings die einmal gemachte Prognose nicht

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Dazu auch Volckart, R&P 2002, 105, 106. Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221– 258, 224; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  39 f. 23  Siehe daneben auch §§  59 ff. StGB, §  69a Abs.  7 StGB, §  67b StGB, §  67d Abs.  2 StGB, §  67c StGB, §  70a StGB, §  36 BtMG, §§  21 ff. JGG, §§  27 ff. JGG, §§  88 ff. JGG, §  14a WStG. 24  Etwa §  56f StGB, §§  61 ff. StGB, §  67g StGB. 22 

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fehlerhaft wird, wenn sie im Zeitpunkt des Prognostizierens vertretbar war,25 gilt es, auch dieses Begriffspaar zu meiden. d) Prognosen im Rahmen der Strafzumessung Auch im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne muss das Gericht prognostizieren, wenn es darum geht, welche Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters zu „erwarten“ sind, §  46 Abs.  1 Satz 2 StGB.26 Streng27 spricht insofern von einer „allgemeinen Wirkprognose“. Auch für diese beanspruchen die nachfolgenden Ausführungen Gültigkeit. 2. Verdachtsentscheidungen Wahrscheinlichkeitsurteile kommen schließlich im Zusammenhang mit einer Glaubhaftmachung vergangenen Verhaltens vor (§  26 Abs.  2 StPO, §  45 Abs.  2 StPO). Auch hier müssen die behaupteten Tatsachen lediglich für wahrscheinlich gehalten werden.28 Auch der Anfangsverdacht im Ermittlungsverfahren (§  152 Abs.  2 StPO) bezieht sich auf die vergangene Tat und ist deshalb dieser Kategorie zuzuordnen. Für diese Verdachtsentscheidung im frühen Stadium zu Beginn der Ermittlungen steht der Staatsanwaltschaft allerdings ein eigener Beurteilungsspielraum zu, welcher durch das mutmaßliche Ergebnis gegebenenfalls durchzuführender Ermittlungen nur ausnahmsweise beeinflusst werden darf. In dubio pro reo kann bereits deshalb an dieser Stelle keine Rolle spielen. Eine Entscheidung nach dieser Regel setzt voraus, dass der Sachverhalt zureichend untersucht ist, damit überhaupt bewertet werden kann, ob der Tatrichter sich bei der vorhandenen Beweislage in einer Hauptverhandlung zu einer Verurteilung durchringen wird können.29 3. Schätzungen Prognosen verlangen dem Gericht ein schlichtes Ja oder Nein ab: entweder es sind weitere Straftaten zu erwarten oder dies ist nicht der Fall. Schätzklauseln hingegen verlangen vom Rechtsanwender Höhen- oder Mengenangaben. So richtet sich beispielsweise die Höhe eines Tagessatzes bei der Verhängung einer Geldstrafe nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters 25  Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221– 258, 225. 26 Dazu Heger in Lackner/Kühl-StGB, 30.  Aufl. 2023, §  46 Rn.  36a; Tenckhoff, Die Wahr­ unterstellung im Strafprozeß, S.  153 ff.; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  2. 27  Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S.  413 Rn.  836. 28  Heil in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  26 Rn.  5. 29  OLG Karlsruhe, Beschluss v. 16.12.2002 – 1 Ws 85/02, BeckRS 2002, 30298476.

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und dabei insbesondere nach seinem Nettoeinkommen (§  40 Abs.  2 StGB). Nach §  40 Abs.  3 StGB muss das Gericht die Einkünfte des Täters, sein Vermögen und andere Grundlagen für die Bemessung eines Tagessatzes für die Verhängung einer Geldstrafe schätzen, wenn diese Grundlagen nicht zufriedenstellend ermittelbar waren. Eine Verurteilung kann auch zur Folge haben, dass vom Täter ein Geldbetrag eingezogen wird, der dem Wert desjenigen entspricht, was er aus einer Straftat erlangt hat, wenn die Einziehung des Gegenstandes selbst (etwa wegen dessen Beschaffenheit) nicht möglich ist, §  73c StGB. Umfang und Wert des Erlangten können dabei ebenfalls geschätzt werden, §  73d StGB. Nicht nur im Kernstrafrecht, auch im Steuerstrafverfahren (Steuerhinterziehung nach §  370 AO) wird geschätzt: Zwar gilt die Schätzklausel des §  162 AO selbst unstreitig nur für das Besteuerungs- und nicht für das Strafverfahren. Das Gericht darf den durch die Finanzbehörde geschätzten zu versteuernden Betrag nicht ohne weiteres übernehmen, sondern hat sich selbst ein Urteil zu bilden (§  261 StPO). Dies hindert das Gericht nach ständiger Rechtsprechung aber nicht daran, eine eigene Schätzung anhand der im Besteuerungsverfahren zulässigen Schätzmethoden vorzunehmen, wenn der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflichten nicht erfüllt hat. Voraussetzung dafür ist die Gewissheit, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, sodass die Schätzung sich allein auf das Ausmaß der verwirklichten Besteuerungsgrundlagen bezieht.30 Daneben lässt die Rechtsprechung auch Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung zu, wenn es um Serienstraftaten oder Vermögensdelikte geht. Diese gesetzlich nicht normierten Schätzbefugnisse sollen nicht Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sein, da das Fehlen eines klaren gesetzgeberischen Willens eine Diskussion über ihre Zulässigkeit insgesamt erforderlich macht und es in dieser Untersuchung nicht um diese Zulässigkeit31, sondern allein um die Methode, also um die Art und Weise gehen soll, wie das Gericht bei einer Schätzung und damit bei der Bildung eines Wahrscheinlichkeitsurteils vorzugehen hat. Nur insoweit geht die Arbeit auf die richterliche Praxis von Schätzungen im Steuerstrafverfahren und zur Ermittlung der Schuldhöhe ein.32 Aus dem gleichen Grund spielt für die vorliegende Arbeit auch die Frage nach der Zulässigkeit von solchen Schätzungen keine besondere Rolle, die nicht aufgrund von „geborenen“ Beweisschwierigkeiten33 erforderlich sind, sondern al30  BGH, Beschluss v. 06.04.2016 – 1 StR 523/15, NStZ 2016, 728, 729; Beschluss v. 06.10.2014 – 1 StR 214/14, NStZ 2015, 281; Beschluss v. 29.01.2014 – 1 StR 561/13, NStZRR 2014, 179; Schmitz/Wulf in MüKo-StGB Bd.  7, 3.  Aufl. 2019, §  370 AO Rn.  199 f. m. w. N. 31  Siehe hierzu ausführlich Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  129 ff.; G. Ott, JA 2005, 453 ff. 32  Siehe unten Teil 3 Kapitel A IV 1. 33  Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  290.

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lein aus prozessökonomischen Gründen sinnvoll erscheinen.1 Geborene Beweisschwierigkeiten umfassen immensurable Faktoren – also jene, die sich einer exakten Berechnung entziehen, wie etwa das fiktive Nettoeinkommen, das einem Täter potentiell zur Verfügung stehen könnte, §  40 Abs.  3 StGB. Außerdem fallen solche Beweisschwierigkeiten darunter, die im Einzelfall unüberwindbar sind, obwohl die gesuchte Größe theoretisch feststellbar ist. Letzteres ist der Fall, wenn ein relevanter Umstand zwar grundsätzlich dem Beweis zugänglich ist, er aber im Einzelfall nicht ermittelt werden kann, weil die Erforschung beispielsweise durch das Steuergeheimnis verhindert wird (§  30 AO).2 Prozessökonomisch motivierte Schätzungen sind Schätzungen, die nicht zwingend notwendig wären, weil eine weitere Sachaufklärung nach §  244 Abs.  2 StPO möglich ist. Sie werden aber als sachdienlich angesehen, weil eine weitere Sachaufklärung unverhältnismäßig erscheint. Diese Arbeit blendet den Streit um ihre Zulässigkeit unter Hinweis auf die vertretenen Ansichten aus und widmet sich allein der Frage, welche Auswirkungen die prozessökonomisch motivierte Schätzung auf die In-dubio-Regel hat.3

B. Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung wird zu dem Ergebnis kommen, dass die In-dubio-Regel im Zusammenhang mit Normen, die ein Wahrscheinlichkeitsurteil verlangen, in nur einem Fall zu beachten ist. Dieser Fall ist der einer gleichen Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Sachverhalte und betrifft ausschließlich Schätzungen:4 Ist zum Beispiel für die Bemessung der Tagessatzhöhe im Rahmen der Festlegung einer Geldstrafe (§  40 StGB) das genaue Nettoeinkommen des Verurteilten unbekannt, allerdings wahrscheinlich (§  40 Abs.  3 StGB), dass das Einkommen mindestens 1.000 Euro beträgt, und ebenso wahrscheinlich, dass dieses Einkommen nicht über 2.000 Euro liegt, während völlig unklar erscheint, wo innerhalb dieses Spektrums das tatsächliche Einkommen liegt, dann sind für das Gericht alle Einkommenshöhen zwischen 1.000 Euro und 2.000 Euro gleich wahrscheinlich – und hat zugunsten des Verurteilten die Bemessung anhand des niedrigsten Werts zu erfolgen. Denn wenn das Gericht mehrere Werte als gleich wahrscheinlich ansieht, braucht es eine Entscheidungshilfe, damit 1 

Eine getrennte Untersuchung nach dem Grund für die Schätzung nehmen Otte und Zopfs vor, Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  59 ff., 85 ff.; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  290 ff. 2  Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  59 ff., 85 ff. 3  Siehe unten Teil 3 Kapitel A IV 2. 4  Dazu Teil 3 Kapitel A IV.

B. Zusammenfassung

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die Festlegung der Tagessatzhöhe nicht willkürlich geschieht. Und eine solche Entscheidungshilfe, die über Zweifel im tatsächlichen Bereich hinweghilft, ist die Regel in dubio pro reo. Darüber hinaus allerdings bleibt eine Entscheidung pro reo dem Gericht verwehrt, wenn vorhandene Zweifel allein darin bestehen, dass Wahrscheinlichkeitsurteile auf Unsicherheiten beruhen, die nie gänzlich ausgeräumt werden können.5 Absolute Gewissheit zu verlangen liefe auf eine Abschaffung der Prognosenormen hinaus und widerspräche damit dem gesetzgeberischen Willen. Volle Überzeugung im Sinne des §  261 StPO muss hier nicht erlangt werden, sodass ihr Fehlen unerheblich ist und nicht zu einer Anwendung der In-dubio-Regel führt. Dieses Ergebnis beruht darauf, dass das Fehlen einer Überzeugung im Sinne des §  261 StPO grundsätzlich die notwendige Voraussetzung für die Anwendung der In-dubio-Regel darstellt, der Gesetzgeber eine Entscheidung pro reo aber aushebeln kann, wenn er die Anforderungen an die Überzeugungsbildung senkt. Und genau das geschieht, wenn eine Norm dem Gericht ein Wahrscheinlichkeitsurteil abverlangt: Die vorliegende Arbeit geht von einem epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff aus, der sich auf das Erkenntnissubjekt bezieht und dessen begründetes Wissen (nicht: bloßen Glauben) widerspiegelt. Ein Wahrscheinlichkeitsgrad meint demnach den Grad, mit dem der Beobachter aufgrund seines vorhandenen Wissens eine Aussage als bestätigt ansieht. „Wahrscheinlichkeit“ ist damit nur etwas quantitativ, nicht aber qualitativ anderes als die richterliche Überzeugung nach §  261 StPO. Unbestimmte Rechtsbegriffe, die ein Wahrscheinlichkeitsurteil fordern, senken also den verlangten Überzeugungsgrad. Aus der qualitativen Vergleichbarkeit von Überzeugung und Wahrscheinlichkeit ergibt sich eine „Herrschaft der Normentatbestände“6 über die In-dubioRe­gel: Wird keine volle Überzeugung des Richters verlangt, kann deren Fehlen auch nicht zu einer Entscheidung nach Beweislastregeln führen. Der Anwendungsbereich der In-dubio-Regel ist also durch die Vorgaben des materiellen Rechts beschränkt. Wenn der Gesetzgeber den normalerweise notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad der vollen Überzeugung durch materiell-rechtliche Vorgaben aushebelt, legt er zugleich fest, welcher unterhalb der Überzeugung liegende Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht werden muss, damit das Gericht die Rechtsfolge der jeweiligen Norm anordnen darf. Damit ist der rechtliche Teil der Entscheidung angesprochen, nämlich die Frage nach dem vom Gesetzgeber vorausgesetzten Wahrscheinlichkeitsgrad. Diese Frage ist ohne Rückgriff auf Beweislastregeln zu lösen. Hier gilt iura novit curia, der Richter muss das Recht selbst kennen. Die 5  6 

Dazu Teil 3 Kapitel A III. T. Walter, JZ 2006, 340, 346.

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Erster Teil:  Einführung und Zusammenfassung

Frage, ob das konkrete Wahrscheinlichkeitsurteil des Gerichts die Anwendung einer Prognosenorm rechtfertigt, betrifft allein den Obersatz im juristischen Syllogismus und darf deshalb nicht mit einem Rückgriff auf die In-dubio-Regel beantwortet werden. Das Problem der gleichen Wahrscheinlichkeit gegenläufiger Sachverhalte bei der Kriminalprognose gem. §  56 StGB ist deshalb ohne die In-dubio-Regel zu lösen. Hier kann bereits durch Auslegung ermittelt werden, ob diese 50-prozentige Wahrscheinlichkeit des günstigen Ereigniseintritts noch von der Norm umfasst sein soll oder nicht (in dubio pro ratione legis). Hier gilt es, die vom Gesetzgeber verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe (etwa der „Gefahr“ oder „Erwartung“) mithilfe der juristischen Methodenlehre auszulegen.7 Hinter dem Begriff der „Gefahr“ verbirgt sich auch eine Abwägungsentscheidung: Je gravierender die zu erwartenden Straftaten sind, umso geringere Anforderungen werden an den Wahrscheinlichkeitsgrad gestellt, denn umso schwerer wiegt das öffentliche Sicherheitsinteresse gegenüber dem individuellen Freiheitsinteresse. Im Rahmen dieser Abwägungsentscheidung ist die abwägungsfeste Beweislastregel in dubio pro reo ebenfalls fehl am Platz. Will man mit der Abwägung einer Regel folgen, so steht hierfür allenfalls die Argumentationslastregel in dubio pro libertate zur Verfügung.8 Der Fall einer gleichen Plausibilität unterschiedlicher Wahrscheinlichkeiten kann hingegen nicht durch Auslegung oder Abwägung gelöst werden.9 Dieser Fall liegt bei der Kriminalprognose vor, wenn das Gericht gute Gründe sowohl für das eine als auch für ein anderes Wahrscheinlichkeitsurteil hat; etwa weil es in Bezug auf die Rückfallgefahr im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Unterbringung in einem Krankenhaus nach §  63 StGB zwei Gutachter gehört hat, die zu unterschiedlichen Prognosen gelangen und beide ihre Prognosen aus Sicht des Gerichts gleich plausibel begründen. Auch dann hat sich das Gericht allerdings nicht gemäß in dubio pro reo für die Prognose zu entscheiden, die für den Beschuldigten günstiger ist (bei §  63 StGB wäre das der niedrigere von zwei Wahrscheinlichkeitsgraden). Vielmehr hat das Gericht beide Sachverständigenprognosen im Wege eines induktiven Argumentationsschrittes zu würdigen und in sein eigenes Wahrscheinlichkeitsurteil als Informationsgrundlage aufzunehmen. Denn bei der Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils handelt es sich – genau wie bei der Überzeugungsbildung – um einen Akt richterlicher Beweiswürdigung. Damit sind auch ähnliche Anforderungen an die Plausibilität des Wahrscheinlichkeitsurteils zu stellen wie an die richterliche Überzeugung: Es bedarf einer tragfähigen, also rationalen Tatsachengrundlage, sodass das Wahrscheinlichkeitsurteil intersubjektiv vermittelbar ist. Das Gericht muss auch Erfahrun7 

Dazu Teil 3 Kapitel B III. Dazu Teil 3 Kapitel B IV. 9  Dazu Teil 3 Kapitel C VI 3. 8 

B. Zusammenfassung

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gen berücksichtigen, die allgemein anerkannt sind. Außerdem müssen auch logische Grundregeln bei der Beweiswürdigung eingehalten werden. Und logisch korrekt ist allein die Berücksichtigung beider Gutachten als Prämissen des induktiven Schließens. Entgegen der herrschenden Meinung gilt gleiches auch für den Fall, dass bestimmte Erfahrungssätze10 oder Tatsachen11 unsicher sind, welche ein Wahrscheinlichkeitsurteil verstärken oder abschwächen würden, wenn sie sicher vorlägen bzw. gälten. Bei den Tatsachen geht es um die Tatsachengrundlage, also den ermittelten Sachverhalt, auf den das Wahrscheinlichkeitsurteil gestützt wird. Beispielsweise bleibt zweifelhaft, ob der zu verurteilende Straftäter trinksüchtig ist oder eine feste Arbeitsstelle hat. Das Gericht muss dennoch überlegen, ob es die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen darf (§  56 StGB). Stünde die Trinksucht zur Überzeugung des Gerichts fest, so würde sie dafür sprechen, dass der Straftäter erneut straffällig wird. Stünde die feste Anstellung des Täters fest, so würde sie dagegen sprechen. Bleibt beides ungewiss, dürfen diese wichtigen Informationen weder pro reo ausgeblendet noch pro reo als wahr unterstellt werden. Stattdessen sind auch sie (ebenso wie die widersprüchlichen Sachverständigenprognosen) mitsamt ihrer Unsicherheit in das Wahrscheinlichkeitsurteil des Gerichts einzustellen. Allein auf die Entscheidung über die Rechtsfolge, nicht aber auf den Umgang mit unsicheren Prämissen darf die In-dubio-Regel angewendet werden (in dubio pro reo iudicandum est). Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass das Wahrscheinlichkeitsurteil unverfälscht und logisch nachvollziehbar zustande kommt. Zudem ist diese Lösung auch aus dogmatischer Sicht allein vertretbar, da nur sie aus der In-dubio-Regel keine dem deutschen Strafprozess fremde Beweiswürdigungsregel macht. Gleiches muss deshalb auch für die unsichere Tatsachengrundlage einer Schätzung (Schätzgrundlage) gelten. Es bleibt festzuhalten, dass die In-dubio-Regel bei Schätzklauseln nur auf das Ergebnis der Schätzung anzuwenden ist und dass sie bei der Kriminalprognose entgegen der herrschenden Meinung überhaupt keine Rolle spielt. Der Richter sollte sich nicht hinter einer oft floskelartigen oder zumindest aus dogmatischen und logischen Gründen unangebrachten Verwendung von in dubio pro reo verstecken, sondern Verantwortung für sein Urteil übernehmen. Wenn dieses zugunsten des Angeklagten ausfällt, sollte das jedenfalls ohne Rückgriff auf eine Beweislastregel begründet werden. Die Rechtsprechung muss ihre oft schwache und ungenaue Argumentation kritisch prüfen und korrigieren. Denn nicht nur das richtige Ergebnis ist wichtig, sondern auch der korrekte Weg dorthin. 10  11 

Dazu Teil 3 Kapitel C VI 2. Dazu Teil 3 Kapitel C VI 1.

Zweiter Teil

Grundlegendes Die Ergebnisse der Untersuchung folgen aus einem konsequenten Nachverfolgen der Implikationen, die sich aus der allgemein anerkannten Rechtsnatur von in dubio pro reo ergeben, wenn man diese mit der besonderen Struktur des Wahrscheinlichkeitsurteils kontrastiert. Deshalb sollen hier zunächst die allgemein anerkannten Wesensmerkmale von in dubio pro reo (dazu unten B) kurz in Erinnerung gerufen und die Struktur des Wahrscheinlichkeitsurteils (dazu sogleich A) grob skizziert werden. Detaillierte Ausführungen zu einzelnen Punkten bleiben den Thesen und ihrer Begründung in Teil 3 der Arbeit vorbehalten.

A. Die Struktur des Wahrscheinlichkeitsurteils Es muss differenziert werden zwischen Prognoseentscheidungen einerseits (dazu sogleich Abschnitt I) und Schätzungen andererseits (dazu Abschnitt II). Die Struktur der Prognoseentscheidung ist dabei maßgebend auch für die Verdachtsentscheidung des Gerichts, weshalb auf letztere nicht gesondert eingegangen werden muss.

I. Die Struktur der Prognoseentscheidung Die Entscheidungsfindung bei der Prognose lässt sich in einen normativen und einen empirischen Gedankenschritt unterteilen:1 Einerseits muss das Gericht ein eigenes Wahrscheinlichkeitsurteil fällen (empirischer Gedankenschritt). Andererseits muss sich das Gericht mit der Frage befassen, welchen Wahrscheinlichkeitsgrad der Gesetzgeber für die Anwendung der jeweiligen Norm voraussetzt (normativer Gedankenschritt) – und daran anknüpfend hat es zu überprüfen, ob sich sein Wahrscheinlichkeitsurteil unter den von der Norm verlangten Wahrscheinlichkeitsgrad subsumieren lässt. 1 

Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S.  112, 115; Pollähne in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  63 Rn.  61; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S.  382 Rn.  775; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  43, 50 f.

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Zweiter Teil:  Grundlegendes

Der normative Gedankenschritt umfasst zweierlei: Einerseits muss man sich fragen, was mit „Wahrscheinlichkeit“ im juristischen Sprachgebrauch gemeint ist, also wie es rechtlich einzuordnen ist, wenn der Gesetzgeber dem Gericht ein Wahrscheinlichkeitsurteil (eine Prognoseentscheidung) abverlangt. Richtigerweise muss es um eine epistemische Wahrscheinlichkeit gehen, also um eine Wahrscheinlichkeit, die aussagt, inwiefern das Wissen des Entscheidungsträgers eine bestimmte Aussage bestätigt. Damit reduziert der Gesetzgeber den üblicherweise im Strafverfahren zu erlangenden Grad der vollen Überzeugung (§  261 StPO) auf ein darunter liegendes Maß. „Wahrscheinlichkeit“ ist deshalb qualitativ vergleichbar mit „Überzeugung“ und unterscheidet sich von ihr nur in quantitativer Hinsicht.2 Andererseits gehört auch die Frage nach dem vom Gesetzgeber vorausgesetzten Wahrscheinlichkeitsgrad zum normativen Gedankenschritt – die volle Überzeugung kann es nicht sein, sodass hier ein anderer Wahrscheinlichkeitsgrad zum Tragen kommen muss. Hierbei geht es um eine Wertentscheidung durch das geltende Recht und damit allein um den Obersatz im juristischen Syllogismus („rechtliche Problemkomponente“3 der Prognose). Um zu klären, ob sich das Wahrscheinlichkeitsurteil des Richters unter die Norm subsumieren lässt, muss der gesetzlich geforderte Wahrscheinlichkeitsgrad bestimmt werden. Hierfür muss das Gericht sich überlegen, was mit den vom Gesetzgeber verwendeten Begriffen jeweils gemeint ist. Es geht darum zu bestimmen, wann der epistemische Wahrscheinlichkeitsgrad hoch genug ist, um die Anwendung der jeweiligen Norm zu rechtfertigen. Das geschieht durch Auslegung des Gesetzestextes mithilfe der juristischen Methodenlehre – und teilweise auch mithilfe einer Interessenabwägung durch den Rechtsanwender im Einzelfall. Mit diesem Teil der Entscheidungsfindung wird sich die Arbeit später in Teil 3 Kapitel B genauer beschäftigen. Eine Skala der dabei zu unterscheidenden Wahrscheinlichkeitsstufen hat bereits T. Walter4 aufgestellt:

2 

Siehe dazu näher Teil 3 Kapitel A. Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  8. 4  T. Walter, JZ 2006, 340, 342. 3 

A. Die Struktur des Wahrscheinlichkeitsurteils

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0 % oder nahe 0 %

Unmöglichkeit oder nur abstrakte Möglichkeit

deutlich über 0 % (aber unter 50 %)

Möglichkeit, die weniger wahrscheinlich ist als ihr Gegenteil

50 % oder nahe 50 %

Möglichkeit, die praktisch ebenso wahrscheinlich ist wie ihr Gegenteil

deutlich über 50 % (aber unter 100 %)

überwiegende Wahrscheinlichkeit

100 % oder nahe 100 %

an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit

Diese Skala wird in Teil 3 Kapitel C VI 1 b näher besprochen. Dort wird auch erklärt, warum es sinnvoll ist, Wahrscheinlichkeiten durch Zahlen auszudrücken. Das konkrete Wahrscheinlichkeitsurteil des Gerichts umfasst den empirischen Gedankenschritt der Prognoseentscheidung, denn es beruht auf wahrnehmbaren Tatsachen und anerkannten Erfahrungssätzen. Es betrifft damit im Rahmen der Rechtsanwendung einer Prognosenorm den beweisbaren Subsumtionsstoff. Die Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils ist ein Vorgang der Beweiswürdigung.5 Wie sich das Gericht sein Wahrscheinlichkeitsurteil im Einzelfall bildet, ist eine empirische Frage, die wissenschaftstheoretisch mithilfe der induktiven Logik und der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie zu beantworten sein wird („wissenschaftstheoretische Problemkomponente“6). Soviel sei bereits hier vorweggenommen: Die Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils ist, wie auch die Überzeugungsbildung beim Indizienbeweis, ein Vorgang der induktiven Argumentation. Hierbei wird aus dem Wissen des Entscheidungssubjekts (den Prämissen) ein Schluss gezogen, indem Erfahrungen (erste Prämisse) mit einem tatsächlichen Sachverhalt (zweite Prämisse) verglichen werden: Erfahrungssatz (Prämisse 1) Tatsachengrundlage (Prämisse 2) Zu erklärendes Ereignis (Konklusion)

Um diesen wissenschaftstheoretischen Teil der Entscheidungsfindung soll es später in Teil 3 Kapitel C ausführlich gehen. Dort wird der induktive Schluss von den einzelnen Prämissen auf die epistemische Wahrscheinlichkeit genauer erklärt. An dieser Stelle setzt sich die Arbeit auch damit auseinander, warum die 5  6 

Für Nachweise zu den hier gemachten Ausführungen siehe Teil 3 der Arbeit. Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  8.

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Zweiter Teil:  Grundlegendes

Prognose richtigerweise ein empirischer und – entgegen der herrschenden Meinung – kein rechtlicher Vorgang ist.

II. Die Struktur der Schätzung Der rechtliche Teil der Entscheidungsfindung fällt bei der Anwendung einer Schätzklausel weniger umfangreich aus. Auch hier ist es notwendig, sich vor Augen zu führen, dass eine Schätzung ein Wahrscheinlichkeitsurteil ist und folglich volle Überzeugung nicht erlangt werden kann. Die Ausführungen in Teil 3 Kapitel A gelten deshalb auch für Schätzklauseln. Anders als Prognosenormen halten Schätzklauseln jedoch keine unbestimmten Rechtsbegriffe bereit, die auszulegen wären. Die Frage nach dem geforderten Wahrscheinlichkeitsgrad stellt sich daher nur bei einer Prognoseentscheidung. Die Schätzung selbst ist wiederum ein empirischer Vorgang der Beweiswürdigung. Die Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils hat hier exakt die gleiche Struktur wie im Rahmen einer Prognoseentscheidung. Aus diesem Grund sind die Ausführungen in Teil 3 Kapitel C weitgehend auch auf Schätzungen bezogen.

B. Die In-dubio-Regel In dubio pro reo7 ist eine abwägungsfeste Entscheidungsregel, nach der sich die Beweislastverteilung im Strafprozess richtet, weshalb sie auch als Beweislastregel bezeichnet werden kann. Eine Beweiswürdigungsregel kann darin allerdings nicht gesehen werden. Ihren Geltungsgrund hat die In-dubio-Regel im Rechtsstaatsprinzip, wonach eine Person nur dann bestraft werden darf, wenn sämtliche Strafvoraussetzungen (und darunter insbesondere die Schuld) durch den Staat nachgewiesen werden konnten. Als Entscheidungsregel enthält die In-dubio-Regel die klare Anweisung an das Gericht, dass im Zweifelsfall unter mehreren Handlungsalternativen diejenige zu wählen ist, welche für den Angeklagten am günstigsten ist. In richterlichen Entscheidungen geht es in der Regel um die Wahl zwischen der Anordnung (Handlungsalternative 1) und der Versagung (Handlungsalternative 2) einer Rechtsfolge. Für den Angeklagten am günstigsten ist dann die Nichtanordnung einer negativen Rechtsfolge8 oder die Anordnung einer positiven Rechtsfolge9. Der Rückgriff auf in dubio pro reo verlangt dabei eine 7 

Für Nachweise zu den hier gemachten Ausführungen siehe Teil 3 der Arbeit. T. Walter, JZ 2006, 340, 348; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  270, 308 ff. 9  T. Walter, JZ 2006, 340, 349; so auch Frisch, in Roxin et al. (Hrsg.), FS-Henkel, S.  273– 286, 283; siehe auch BVerfG, Beschluss v. 06.11.1974 – 2 BvR 407/74, MDR 75, 468: „Der Satz ‚in dubio pro reo‘ weist den Richter […] an, wie er zu verfahren hat – nämlich im Sinne 8 

B. Die In-dubio-Regel

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Zweifelssituation, womit gemeint ist, dass das Gericht sich nicht voll vom Vorliegen eines Umstandes überzeugen konnte, auf den es für die Anwendung der entscheidungsrelevanten Norm ankommt. Rechtsprechung und Literatur haben all das bereits erkannt. Aus diesem Grund spart sich die Arbeit genauere Ausführungen zu den angesprochenen Aspekten für die Stellen in der Bearbeitung auf, an welchen sie tatsächlich relevant werden.10 Mit der hier vorgenommenen knappen Zusammenfassung über Wissenswertes zur In-dubio-Regel soll lediglich ein Überblick gegeben und auf diese Weise der Einstieg in die Thematik erleichtert werden.

der den Angeklagten am wenigsten beschwerenden Rechtsfolge […].“; Meyer-Goßner/ Schmitt-StPO, 66.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  26. 10  Zur fehlenden Überzeugung als Voraussetzung für die Anwendung der In-dubio-Regel Teil 3 Kapitel A II; zur Frage nach dem richtigen Bezugspunkt Teil 3 Kapitel B III; zum Geltungsgrund der In-dubio-Regel und zur Beweislast im Strafprozess Teil 3 Kapitel B IV; zum Unterschied zwischen Entscheidungs- und Beweiswürdigungsregel Teil 3 Kapitel C III.

Dritter Teil

Thesen und ihre Begründung im Einzelnen Der Dritte Teil der Arbeit lässt sich in drei Hauptthesen zusammenfassen, die sich jeweils den aufgezeigten Entscheidungskomponenten der Struktur des Wahrscheinlichkeitsurteils zuordnen lassen. Die ersten beiden Hauptthesen knüpfen an die normative Entscheidungskomponente eines Wahrscheinlichkeitsurteils an. Sie befassen sich also mit Schätzungen und Prognoseentscheidungen als rechtlichem Problem. Die erste These wird in Kapitel A ausgebreitet und besagt, dass in dubio pro reo bei Wahrscheinlichkeitsurteilen in der Regel schon deshalb nicht greift, weil es an einer Überzeugungspflicht des Gerichts fehlt und somit keine relevanten Zweifel im Sinne von in dubio pro reo auftauchen können. Die zweite Hauptthese in Kapitel B befasst sich allein mit Prognoseentscheidungen und sagt aus, dass in dubio pro reo dem Gericht nicht bei der Entscheidung hilft, ob sein konkretes Wahrscheinlichkeitsurteil die Rechtsfolge der Prognosenorm auslöst. Die dritte These knüpft mit Kapitel C schließlich an den Vorgang der Beweiswürdigung an, also an den wissenschaftstheoretischen Teil von Schätzung und Prognoseentscheidung. Sie sagt aus, dass in dubio pro reo nicht anwendbar ist auf die Entscheidung des Gerichts, ob und wie unsichere Prämissen in das konkrete Wahrscheinlichkeitsurteil einzustellen sind.

A. Kein in dubio pro reo ohne Überzeugungspflicht I. Überblick Die In-dubio-Regel ist nicht anwendbar auf Entscheidungen, für die der Gesetzgeber das Gericht von seiner Überzeugungspflicht befreit hat – und das tut er im Zusammenhang mit der Forderung nach einem Wahrscheinlichkeitsurteil. In dubio pro reo setzt einen Zweifel voraus („in dubio“), den es in der Regel nur geben kann, wo eine Überzeugungspflicht herrscht. Abschnitt II zeigt, dass das dubium die Kehrseite der richterlichen Überzeugung im Sinne des §  261 StPO darstellt. Vernünftige Zweifel, für die es tatsächliche objektive Anhaltspunkte gibt und die dadurch intersubjektiv vermittelbar sind, schließen diese Überzeugung aus und eröffnen damit grundsätzlich den Anwendungsbereich der

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

In-dubio-Regel. Nun kann der Gesetzgeber diesen Anwendungsbereich allerdings durch gesetzliche Regelungen einschränken. Damit setzt sich Abschnitt III auseinander: Insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber vom Gericht eine volle Überzeugung im Sinne von §  261 StPO überhaupt nicht verlangt, kann umgekehrt deren Fehlen auch nicht zu einer automatischen Entscheidung pro reo führen. Und weil Prognosenormen und Schätzklauseln vom grundsätzlichen Erfordernis der vollen Überzeugung eine Ausnahme machen, indem sie auf eine bloße „Wahrscheinlichkeit“ abstellen, bleibt hier kein Raum für die In-dubio-Regel. Die Unvereinbarkeit von „Wahrscheinlichkeit“ und richterlicher „Überzeugung“ ist nicht unumstritten und muss deshalb an dieser Stelle näher begründet werden. Dabei werden verschiedene Wahrscheinlichkeitsbegriffe auf ihre Vereinbarkeit mit juristischen Einzelfallentscheidungen überprüft und es wird festgestellt, dass allein das Abstellen auf den „epistemischen“ Wahrscheinlichkeitsbegriff, der unter „Wahrscheinlichkeit“ ein quantitatives Minus zur vollen richterlichen Überzeugung versteht, im juristischen Kontext sinnvoll erscheint. Wo das Gesetz ein Wahrscheinlichkeitsurteil voraussetzt, suspendiert es damit insoweit die Überzeugungspflicht des Gerichts. Wahrscheinlichkeit bezeichnet in diesen Fällen einen Überzeugungsgrad und damit ein Maß der Überzeugung, nicht den Gegenstand der Überzeugung. Eine Ausnahme gilt allein für Schätzungen, nämlich für die Entscheidung, welcher Wert innerhalb eines Schätzrahmens dem wahrscheinlich wahren Wert entspricht. Ein Schätzrahmen meint die Situation, in der das Gericht mehrere Werte als gleich wahrscheinlich ansieht. Allein hier besteht ein nicht anderweitig auflösbares Entscheidungspatt, das – um Willkür zu vermeiden – mit in dubio pro reo aufzulösen ist. Das Gericht hat sich damit von allen Werten, die innerhalb des Schätzrahmens liegen, auf denjenigen zu beziehen, der für den Angeklagten am günstigsten ist. Auf diese Besonderheit bei der Anwendung von Schätzklauseln geht Abschnitt IV ein.

II. Grundsatz: fehlende Überzeugung als Auslöser für die In-dubio-Regel Voraussetzung für die Anwendbarkeit der In-dubio-Regel ist das Vorliegen eines Zweifels. Das Gericht zweifelt, wenn es von einem entscheidungsrelevanten Sachverhalt nicht überzeugt ist. Dieser Abschnitt befasst sich mit dem Begriff des Zweifels und demjenigen der Überzeugung und legt dar, wann davon auszugehen ist, dass die Überzeugungsbildung misslungen ist.

A. Kein in dubio pro reo ohne Überzeugungspflicht

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1. Zweifel und Überzeugung Der Wortlaut der In-dubio-Regel (in dubio pro reo) ist sehr überschaubar und enthält nur eine einzige Voraussetzung, nämlich das dubium, den Zweifel. Ganz allgemein meint „Zweifel“ die Unentschiedenheit zwischen mehreren (einander widersprechenden) Möglichkeiten des Handelns oder der Haltung.1 Umschrieben wird der Zweifel auch als das Infragestellen der Richtigkeit eines Sachverhalts aufgrund von unzureichender Kenntnis. Husserl schreibt: „Auch dem […] Zweifels- und Möglichkeitsbewußtsein entspricht ein aktives Verhalten des Ich, zunächst das, was wir im eigentlichen Sinne mit dem Worte ‚Zweifeln‘ (‚ich zweifle, ob es so oder so ist‘) bezeichnen. Dabei handelt es sich […] um ein Uneinswerden des Ich mit sich selbst […]. Das Ich ist nun mit sich uneinig, ist in Zwiespalt mit sich, sofern es bald so, bald so geneigt ist zu glauben. Dieses Geneigtsein bedeutet dann nicht bloß den affektiven Zug der anmutlichen Möglichkeiten, sondern sie muten sich mir als seiend an, und ich gehe bald mit der einen, bald mit der anderen in der Weise eines Mich-entscheidens mit, erteile bald der einen, bald der anderen in einer aktiven Stellungnahme Geltung, freilich immer wieder gehemmt.“2

Der Entscheider sieht also sowohl die eine als auch die andere Handlungsmöglichkeit als durchführbar an.3 Von einem Zweifel des Tatrichters im Strafprozess (dubium oder im Zivilprozess non liquet4) spricht man dann, wenn der Tatrichter sich nicht entscheiden kann, welche Rechtsfolge anzuordnen ist, weil er nicht die notwendige volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch relevanten Tatsache erlangt hat (§  261 StPO), obwohl er mit allen verfügbaren Mitteln versucht hat, den Sachverhalt aufzuklären (§  244 Abs.  2 StPO). Die Überzeugungsbildung des Gerichts muss also misslungen sein, obwohl das Gericht seiner Aufklärungs- und Beweiswürdigungspflicht umfassend nachgekommen ist.5 2. Überzeugungspflicht des Richters (§  261 StPO) Nach dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung entscheidet der Tatrichter nach seiner vollen Überzeugung, §  261 StPO. Diese Überzeugung ist personenbezogen. Das heißt, dem Richter kann nicht vorgeschrieben werden, wann er sie erreicht haben muss. Der Richter darf sich zur Erlangung seiner Überzeugung aber auch nicht lediglich auf ein bloßes Gefühl oder einen Instinkt 1  Brockhaus,

Zweifel, http://brockhaus.de/ecs/enzy/article/zweifel (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023), dort auch zum folgenden Satz; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  272 f. 2  Husserl, Erfahrung und Urteil, S.  365 f. 3 Vgl. Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  273. 4  T. Walter, JZ 2006, 340, 341. 5  Vgl. dazu Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  88 ff.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

verlassen, sondern von ihm wird verlangt, seine Überzeugung nach den Regeln der Logik und der Erfahrungswissenschaft zu bilden. Der Überzeugung liegt demnach ein sich nach objektiven Maßstäben6 richtender, subjektiver Wertungsvorgang zugrunde.7 Subjektiv muss der Tatrichter den festgestellten Sachverhalt für wahr halten, also innere Gewissheit von der Wahrheit der Aussage über den konkreten Sachverhalt erlangen. Da das absolute Wissen um die tatsächliche Wahrheit die menschliche Erkenntnisfähigkeit allerdings übersteigt, kann ein solches auch nicht vom Tatrichter erwartet werden.8 Der eigenverantwortlichen Überzeugungsbildung ist deshalb schon dann genüge getan, wenn die innere Gewissheit des Richters ein Maß erreicht, das keine vernünftigen Zweifel mehr zulässt. Dieses nach der Lebenserfahrung ausreichende Maß an Sicherheit ist erreicht, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte für von der Vorstellung des Richters abweichende Geschehensabläufe vorliegen und alternative Möglichkeiten deshalb lediglich in der Theorie existieren (sog. „Maßstab der Vernunft“9). Wird ein Zweifel jedoch konkret, weil er rational erklärbar und nicht von der Hand zu weisen ist, so kann die notwendige Überzeugung nicht mehr gewonnen werden.10 Zweifel im Sinne der In-dubio-Regel, welche der Überzeugungsbildung entgegenstehen, sind demnach als Kehrseite der Überzeugung11 nur vernünftige Zweifel, für die es tatsächliche objektive Anhaltspunkte gibt und die dadurch konkret und praktisch, mithin intersubjektiv vermittelbar werden.12 T. Walter spricht deshalb zu Recht auch von einem nicht rein psychischen, son6  BGH zu §  286 ZPO, Urteil v. 17.02.1970 – III ZR 139/67, BGHZ 53, 245, 255 f.; zu §  261 StPO, Urteil v. 03.02.1983 – 1 StR 823/82, NStZ 1983, 277; dazu Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  96; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, §  45 Rn.  43; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  278 ff., auch zum folgenden Text. 7  Zur Rechtsprechung G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  88–105; für die strafprozessuale Literatur Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S.  21 f., 117; Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  35 m. w. N., 42 f.; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  11 ff.; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  148 ff.; Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S.  405, 409; zu diesem Verständnis von „Überzeugung“ im Sinne des §  261 StPO siehe auch unten S. 101. 8  BGH, Urteil v. 30.03.2004 – 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238, 240; Tiemann in KKStPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  2. 9  Kunz, ZStW 2009, 572 ff.; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  13. 10  BGH, Urteil v. 28.11.1950 – 2 StR 42/50, NJW 1951, 122; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  12 f. m. w. N.; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  99 ff.; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  282 ff. 11  Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S.  23; Sander in Löwe/Rosenberg-StPO Bd.  7, 27.  Aufl. 2021, §  261 Rn.  8; Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S.  206 f.; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 66.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  26; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  63; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  278 ff. 12  Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  29; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  5 f., 64.

A. Kein in dubio pro reo ohne Überzeugungspflicht

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dern normativ geleiteten Befund.13 Diejenigen abstrakten (theoretischen) Zweifel hingegen, die sich daraus ergeben, dass die absolute Erkenntnis der Wahrheit dem menschlichen Geist verschlossen ist, führen nicht zu Beweislastproblemen; sie sind irrelevant und hindern den Richter nicht an seiner Entscheidung. 3. Aufklärungspflicht des Richters (§  244 Abs.  2 StPO) und Erfordernis einer erschöpfenden Beweiswürdigung (§  261 StPO) Zweifel im Sinne von in dubio pro reo müssen endgültig sein, damit die Ermittlung der Wahrheit als Ziel des Strafprozesses nicht gefährdet wird, indem vorschnell Beweislastregeln zur Anwendung kommen. Das heißt, es muss sich um solche Zweifel handeln, die verbleiben, nachdem das Gericht seiner Aufklärungspflicht aus §  244 Abs.  2 StPO nachgekommen ist und die ermittelten Umstände gemäß §  261 StPO erschöpfend und lückenlos gewürdigt hat; Zopfs spricht insoweit von einer Subsidiarität der In-dubio-Regel.14 Nach dem im Strafprozess geltenden Untersuchungsgrundsatz aus §  244 Abs.  2 StPO muss das Gericht alle denkbaren Schritte unternehmen, um zu einer möglichst zuverlässigen Beweisgrundlage zu gelangen.15 Das bedeutet, das Gericht muss den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln und sämtliche relevanten Tatsachen und Beweismittel zur Aufklärung ausschöpfen. Der Grund für diese (zum Verhandlungsgrundsatz des Zivilverfahrens in Kontrast stehende) Aufklärungspflicht des Strafrichters liegt im Ziel des Strafverfahrens, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen. Dies kann nur dann auf eine gerechte Art und Weise gelingen, wenn der ermittelte Sachverhalt so weit wie möglich mit der Wirklichkeit übereinstimmt (Prinzip der materiellen Wahrheit). Es gilt also, das wirkliche Geschehen festzustellen.16 Dieses Gebot bestmöglicher Sachaufklärung ist dem Gericht nicht nur einfachgesetzlich durch §  244 Abs.  2 StPO aufgetragen, sondern stellt eine unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens (Art.  20 Abs.  3 GG) dar und hat damit (unabhängig davon, ob das Schuldprinzip tangiert ist17 oder es etwa um aufzuklärende strafzumessungserhebliche Tatsachen geht18) Verfassungsrang, weil durch eine Verurteilung in das Freiheitsrecht des Betroffenen eingegriffen wird.19 13  T. Walter, JZ 2006, 340, 347; ihm folgend Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  57 („psychisch-normativer Befund“). 14  Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  273 ff. 15 Vgl. Kindhäuser/Schumann, Strafprozessrecht, S.  247 f. Rn.  19 ff. 16  Zur Ermittlung der Wahrheit im Strafprozess T. Walter, Strafprozessrecht, S.  2 f. Rn.  5. 17  BVerfG, Beschluss v. 26.05.1981 – 2 BvR 215/81, NJW 1981, 1719, 1722. 18  BGH, Urteil v. 30.11.1990 – 2 StR 230/90, NStZ 1991, 182 (ebd.); Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, Rn.  1274, 1301. 19  BVerfG, Beschluss v. 20.10.1977 – 2 BvR 631/77, NJW 1977, 2355; Kammerbeschluss

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Die erhobenen Beweise müssen sodann umfassend und erschöpfend gewürdigt worden sein (§  261 StPO). Das bedeutet, dass sie unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten betrachtet werden müssen. Bestehen beispielsweise für eine festgestellte Tatsache verschiedene Deutungsmöglichkeiten, so muss sich das Gericht mit allen diesen Möglichkeiten auseinandersetzen.20

III. Ausnahme: kein in dubio pro reo trotz fehlender Überzeugung bei Wahrscheinlichkeitsnormen Knüpft das Gesetz eine Rechtsfolge an eine bloße Wahrscheinlichkeit, so suspendiert es damit automatisch das Erfordernis der vollen Überzeugung des Gerichts nach §  261 StPO. In diesem Abschnitt wird gezeigt, dass der Gesetzgeber auf die Überzeugungspflicht durch bestimmte Vorgaben im materiellen Recht verzichten kann und dass er damit den Anwendungsbereich von in dubio pro reo beschränkt. So verfährt er auch, wenn er vom Gericht ein Wahrscheinlichkeitsurteil verlangt. 1. Die Herrschaft der Normentatbestände über die In-dubio-Regel Der Gesetzgeber kann den Anwendungsbereich der In-dubio-Regel einschränken. Die fehlende Überzeugung des Richters von bestimmten Tatsachen reicht dann nicht aus, um gemäß in dubio pro reo zu entscheiden. T. Walter21 spricht deshalb von einer „Herrschaft der Normentatbestände“ über die In-dubio-Regel. Grundsätzlich hat der Gesetzgeber zwei Möglichkeiten, für den Zweifelsfall eine Entscheidung pro reo zu verhindern:22 Er kann einerseits materiell-rechtlich auf bestimmte Tatbestandsmerkmale verzichten. Nimmt eine Rechtsnorm nur auf gewisse Tatsachen Bezug, müssen auch nur diese zweifelsfrei feststehen. Die fehlende Überzeugung vom Vorliegen eines Umstands, der nicht zum gesetzlichen Tatbestand gehört, kann der Anordnung einer (wenn auch für den Angeklagten negativen) Rechtsfolge nicht entgegenstehen, weil etwaige Zweifel dann nicht den Subsumtionsstoff betreffen.

v. 27.01.1987 – 2 BvR 1133/86, NJW 1987, 2662, 2663; Urteil v. 05.02.2004 – 2 BvR 2029/01, NJW 2004, 739, 743; Beschluss v. 30.04.2003 – 2 BvR 2045/02, NJW 2003, 2444, 2445; Kindhäuser/Schumann, Strafprozessrecht, S.  248 Rn.  23; Fehlurteile müssen vermieden werden, Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  2; auch das Schuldprinzip lässt sich nur verwirklichen, wenn die Wahrheit im materiellen Sinn ermittelt wird, Trüg/Habetha in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  244 Rn.  4. 20 Dazu Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  88 ff. 21  T. Walter, JZ 2006, 340, 346. 22  Zum folgenden Text Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  28 ff., 170; T. Walter, JZ 2006, 340, 346; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  285 f., 298 f.

A. Kein in dubio pro reo ohne Überzeugungspflicht

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Andererseits kann die Einschränkung durch prozessuale Vorgaben im materiellen Recht erfolgen, indem durch widerlegbare Vermutungen (so z. B. in §  186 StGB) oder Wahrscheinlichkeitsurteile auf die Überzeugungspflicht des Gerichts (§  261 StPO) verzichtet, seine Aufklärungspflicht (§  244 Abs.  2 StPO) reduziert oder die Entscheidung für verbleibende Zweifel anderweitig geregelt wird. Solche prozessualen Vorgaben berühren also nicht die Frage danach, ob eine Tatsache überhaupt relevant ist; sie bestimmen aber, inwiefern eine relevante Tatsache beweisbedürftig ist und wann ein solcher Beweis erbracht ist. Sie betreffen damit das Verfahren der richterlichen Entscheidungsfindung selbst.23 Reicht die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Umstandes für die Normanwendung aus oder genügt die Schätzung oder Glaubhaftmachung eines gegenwärtigen Umstandes, können Zweifel an genau diesem Umstand per se keine Rolle spielen und folgerichtig sind sie dann auch nicht bis ins Letzte durch weitere Sachverhaltserforschung aufzulösen. „Wahrscheinlichkeit“ bedeutet nämlich nichts anderes als eine unter dem Grad der vollen Überzeugung liegende Unsicherheit (dazu sogleich ausführlich Abschnitt A III 2). Wenn der Gesetzgeber dies ausreichen lässt und mithin keine volle Überzeugung für die Anwendung einer Norm voraussetzt, kann deren Fehlen nicht zur Anwendung von Beweislastgrundsätzen führen, weil dann ein Entscheidungspatt und damit die von der In-dubio-Regel gemeinte Zweifelssituation überhaupt nicht vorliegt. Immer dann also, wenn der Gesetzgeber vom Tatrichter ein Wahrscheinlichkeitsurteil verlangt (also insbesondere eine Prognose24), darf der Tatrichter bei verbleibenden Zweifeln nicht gemäß in dubio pro reo entscheiden.

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So für die Schätzung auch Hellmann, GA 1997, 503, 505. „Die Prognose braucht künftige Straftaten nicht mit Sicherheit erwarten zu lassen […]; Wahrscheinlichkeit genügt. Da die Gefährlichkeitsprognose stets mit Zweifeln belastet ist, gilt der Satz in dubio pro reo insoweit nicht.“, Dreher, StGB, 37.  Aufl. 1977, Vor §  61 Rn.  3; siehe auch van Gemmeren in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  63 Rn.  65 m. w. N.; Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, Rn.  202, 420, 1301; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 66.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  27 (ausführlicher die alte Auflage: „Prognoseentscheidungen beruhen auf Wahrscheinlichkeitsfeststellungen. Deshalb gilt in dubio pro reo hier nicht. Das trifft für […] Entscheidungen zu, bei denen eine Wahrscheinlichkeit genügt […]. Sie liegt zwischen Möglichkeit und Gewißheit; der Zweifel ist ihr immanent.“, Kleinknecht, StPO, 33.  Aufl. 1977, §  261 Rn.  27); Terhorst, MDR 1978, 973, 974 („Dem Ansatz, daß einer Prognose immer auch ein Zweifel immanent ist, kann nicht widersprochen werden.“). 24 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

2. Keine Überzeugungspflicht bei Anwendung eines Wahrscheinlichkeitsurteils a) Überblick „Wer – wie der Jurist – an die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses Konsequenzen knüpft, muß eine Vorstellung davon haben, welchen Inhalt er mit dem Wort ‚wahrscheinlich‘ verbindet.“25

Dennoch gibt es keine allgemein anerkannte und stets gültige Definition der Wahrscheinlichkeit26 und wird in der juristischen Literatur der Wahrscheinlichkeitsbegriff meist unreflektiert gebraucht.27 Und noch nicht einmal über das Bestehen dieser Unsicherheiten im Umgang mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit ist man sich allgemein einig: Während Weitnauer28 behauptet, der Begriff der Wahrscheinlichkeit sei den Juristen vertraut, bemerkt Nell29, dass dieser Begriff ihnen von vornherein Unbehagen bereiten müsse, weil das Denken in Wahrscheinlichkeiten zumindest auf den ersten Blick wie eine Art Fremdkörper in der juristischen Denk- und Entscheidungsweise erscheine. Bourmistrov-Jüttner30 spricht gar von „naiven Vorstellungen“ und zahlreichen Missdeutungen. Auf die Auseinandersetzung mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff in juristischen Entscheidungen kommt es hier aber entscheidend an. Denn die Beantwortung der Frage, ob der Gesetzgeber sich damit begnügt, dass etwas nach dem eigenen Wissensstand nur möglich ist, oder ob er in der Wahrscheinlichkeit eine Tatbestandsvoraussetzung sieht, die zur Überzeugung des Gerichts vorliegen muss, hat große Auswirkungen auf den Umgang mit Zweifeln in diesem Bereich: Stimmen in der Literatur, welche die Wahrscheinlichkeit als materiell-rechtliches objektives Tatbestandsmerkmal auffassen,31 empfinden die Anwendung des 25 

Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  93 Fn.  72 a. E. lesenswerte Darstellung der Vertreter verschiedenster Wahrscheinlichkeitstheorien in der Rechtswissenschaft samt deren Argumenten gibt Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  113 ff. 27  So auch Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  18; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  113. 28  Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S.  3. 29  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  15. 30  Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie und rationale Entscheidungstheorie in Anwendung auf die Rechtspraxis, S. XII. 31 Etwa Bruns, JZ 1958, 647, 648, 650; B. Müller, Anordnung und Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung, S.  133; Radtke in LK-StGB Bd.  5, 13.  Aufl. 2022, Vor §  61 Rn.  59; Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, S.  312 Rn.  405 („Es gibt eine Überzeugung von der Wahrheit und eine Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit; eine volle Überzeugung etwa von einer 51prozentigen oder auch von einer 99,9prozentigen Wahrscheinlichkeit.“); Schünemann, ZStW 1972, 870, 875 ff.; Terhorst, MDR 1978, 973, 974 („Von dieser Erfolgsaussicht im Sinne einer Wahrscheinlichkeit muß der Richter überzeugt sein. Dies bedeutet keine Herabsetzung des Grades der richterlichen Überzeugung in dem Sinne, daß 26  Eine

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Zweifelssatzes als weitaus unproblematischer als diejenigen Autoren, die den Begriff der Wahrscheinlichkeit subjektiv verstehen, eine Überzeugung von einer Wahrscheinlichkeit deshalb ausschließen und das Vorliegen eines Zweifels im Sinne der In-dubio-Regel in diesem Bereich folglich teilweise sogar für unmöglich halten.32 In der Literatur wurden unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsbegriffe und deren allgemeine Verwendbarkeit für juristische Entscheidungen vereinzelt33 bereits näher betrachtet. An diese Arbeiten kann hier angeknüpft werden. Vor allem gilt es dabei, die Frage zu beantworten, „ob Wahrscheinlichkeiten ‚in unserem Kopf ‘ oder ob sie ‚draußen in der Welt‘ existieren.“34 Im ersten Fall kann man die Wahrscheinlichkeit als „subjektiv“ bezeichnen – im zweiten Fall ist sie „objektiv“. Ersteres ist allerdings nicht gleichzusetzen mit „willkürlich“; die subjektive Wahrscheinlichkeit ist vielmehr eine „epistemische“35 Wahrscheinlichkeit, weil sie abhängig ist vom Wissensstand des Beobachters, sie ist auf das Erkenntnissubjekt bezogen. Mit der Verwendung des Begriffes „epistemisch“ soll die Betonung auf dieses Wissen des Beobachters gelegt werden, denn „subjektiv“ darf nicht verwechselt werden mit „Glaube“ oder mit persönlichem Empfinden. „Objektive“ Wahrscheinlichkeit meint hingegen die dem Beobachter gegenüberstehende Wirklichkeit der Außenwelt, und betrifft somit das Erkenntnisobjekt, weshalb sie auch als „ontische“36 Wahrscheinlichkeit bezeichnet wird.37 Die vorliegende Arbeit geht von einem epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff38 aus, der nicht von der Person des Beobachters getrennt werden kann, weil „Wahrscheinlichkeit“ nicht als Gegenstand der äußeren, objektiv wahrnehmbanunmehr statt voller Gewißheit lediglich ein ‚Fürwahrscheinlichhalten‘ ausreichend sei. Lediglich der Gegenstand dessen, was Inhalt oder Bezugspunkt der richterlichen Überzeugung sein muß, ist vorliegend nicht die Wahrheit oder das sichere Wissen, sondern […] eine Wahrscheinlichkeit künftigen Geschehens.“). 32 Etwa Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozess, S.  28 ff.; T. Walter, JZ 2006, 340 ff. 33  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  18 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  95 ff. 34  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  95 f. 35  Epistemologie ist die Erkenntnistheorie, die sich mit dem begründeten Wissen befasst, Brockhaus, Epistemologie, http://brockhaus.de/ecs/enzy/article/epistemologie (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023). 36  Ontologie ist die Wissenschaft vom „Seienden“, Brockhaus, Ontologie, http://brockhaus. de/ecs/enzy/article/ontologie (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023); „ontisch“ meint also „seiend“, d. h. unabhängig vom Bewusstsein existierend. 37  Rosenthal, Wahrscheinlichkeit als Tendenz, S.  9; ihm folgend Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  96. 38 Auch Schweizer spricht von „epistemischer Wahrscheinlichkeit“, Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  125.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

ren Welt verstanden wird, sondern als Internum des Entscheiders. Das Wahrscheinlichkeitsurteil gibt den begründeten Wissensstand des Entscheidungssubjekts wieder, das nicht allwissend ist. Dem Urteilenden stehen nur in einem begrenzten Umfang Informationen zur Verfügung, die er der Entscheidung zugrunde legen kann. Nichtsdestoweniger muss das Urteil zumindest auf einer rationalen Tatsachengrundlage beruhen, mithin intersubjektiv vermittelbar sein. „Wahrscheinlichkeit“ ist damit das Maß, nicht der Gegenstand der Überzeugung. Das bedeutet, dass der Richter beim Wahrscheinlichkeitsurteil nicht von einer gewissen objektiven Wahrscheinlichkeit überzeugt sein muss, sondern dass die Anforderungen an das Maß der richterlichen subjektiven Überzeugung von der Wahrheit39 modifiziert werden – und zwar je nach gesetzlich verlangtem Wahrscheinlichkeitsgrad. „Wahrscheinlichkeit“ ist damit nur etwas quantitativ, nicht aber qualitativ anderes als die richterliche Überzeugung im Sinne des §  261 StPO. Auf einer Skala von 0 bis 140 etwa liegt die volle Überzeugung relativ nahe an der 1, und die Wahrscheinlichkeit irgendwo darunter. Unbestimmte Rechtsbegriffe, die ein Wahrscheinlichkeitsurteil fordern (wie etwa die Begriffe der „Erwartung“ oder der „Gefahr“), enthalten also eine prozessuale Besonderheit: Sie senken den verlangten Überzeugungsgrad auf eine Vorstufe zur vollen Überzeugung41 und beschränken damit im oben genannten Sinn den Anwendungsbereich der In-dubio-Regel. Damit sind auch ähnliche Anforderungen an die Plausibilität des Wahrscheinlichkeitsurteils zu stellen wie an die richterliche Überzeugung: Es bedarf einerseits einer tragfähigen, also rationalen Tatsachengrundlage, sodass das Wahrscheinlichkeitsurteil intersubjektiv vermittelbar ist. Andererseits muss das Gericht auch allgemein anerkannte Erfahrungen berücksichtigen sowie logische Grundregeln bei der Beweiswürdigung einhalten. b) Begriff der Wahrscheinlichkeit und Maßgeblichkeit des epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs aa) Klassischer Wahrscheinlichkeitsbegriff Der klassische Wahrscheinlichkeitsbegriff von Laplace beruht auf dessen deterministischem Weltbild, wonach für ein allwissendes Wesen nichts unbestimmt ist; der exakte Zustand von Welt und Zukunft kann mittels Anwendung der deterministischen Naturgesetze bestimmt werden. Wahrscheinlichkeit kann für La­ 39  Also etwa bei der Prognose davon, dass das zukünftige Ereignis eintreten oder ausbleiben wird. 40  Siehe die Skala auf S.  17, 149. 41  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  96 f., 99.

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place demgemäß nur epistemischer Natur sein.42 Wahrscheinlichkeit wird definiert als „Quotient aus der Anzahl der dem Ereignis günstigen Fälle durch die Gesamtzahl aller gleichmöglichen Fälle“43. Laplace bestimmt mit „Wahrscheinlichkeit“ also das Verhältnis der günstigen Fälle zu allen möglichen Fällen und setzt dabei voraus, dass alle Fälle gleichmöglich sind. Nach dem „Prinzip vom unzureichenden Grund“44 ist das der Fall, wenn es keinen Grund dafür gibt, den einen oder anderen Fall für möglicher zu halten. Bei dem Wurf einer fairen Münze mit zwei Seiten (Kopf und Zahl), wobei das Fallen der Münze auf Kopf günstig sei, ist die Wahrscheinlichkeit für diesen Fall mithin ½ (oder 0,5). „Gleichwahrscheinlich“ heißt nach der dargestellten Definition letztlich nichts anderes als „gleichmöglich“, sodass die Definition zirkulär und damit unbrauchbar ist.45 Auch ist die Definition aller gleichmöglichen Fälle willkürlich und führt zu Widersprüchen immer dann, wenn sich die als möglich erkannten Fälle in einer Situation nicht nur in einer, sondern in zwei verschiedenen Größen ausdrücken lassen, welche in einem nichtlinearen Verhältnis zueinander stehen. Schweizer stellt dies, bezugnehmend auf Salmon46, mit folgendem Beispiel anschaulich dar: „Angenommen, man weiß, dass die Fahrt von A nach B zwischen ein und zwei Stunden dauert, A und B 100 km entfernt voneinander sind, und nichts Weiteres. Das Prinzip vom unzureichenden Grund besagt, dass unter den Umständen die Wahrscheinlichkeit, dass das Auto nach einer bis eineinhalb Stunden in B eingetroffen ist, gleich groß ist wie die Wahrscheinlichkeit, dass das Auto nach eineinhalb bis zwei Stunden in B eingetroffen ist. Das gleiche Problem lässt sich aber auch anders formulieren: Die Durchschnittsgeschwindigkeit des Autos auf der Strecke von A nach B beträgt offensichtlich zwischen 50 km/h und 100 km/h. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen 50 km/h und 75 km/h liegt, ist daher gleich groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass sie zwischen 75 km/h und 100 km/h liegt. Nur widerspricht dies dem ersten Resultat, denn bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 75 km/h müsste das Auto bereits nach einer Stunde und 20 Minuten in B angekommen sein, und es ist daher wahrscheinlicher, dass die Fahrt weniger als eineinhalb Stunden dauert, als dass sie länger als eineinhalb Stunden dauert.“47

Schließlich spricht gegen die Verwendung des klassischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs noch, dass es in der Praxis oft nicht machbar ist, alle möglichen Fälle im Voraus zu definieren.48 Schweizer erkennt in der Annahme der „Gleichmöglich42 

Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  99. Laplace, zit. nach von Mises, Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit, S.  77. 44  Auch „Indifferenzprinzip“ genannt. 45  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  20; Salmon, The foundations of scientific inference, S.  65; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  99. 46  Salmon, The foundations of scientific inference, S.  66 f. 47  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  99 f. 48  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  99. 43 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

keit“ aller Fälle auch eine petitio principii, weil der eigentlich zu beweisende Umstand (nämlich die gleiche Möglichkeit aller Fälle) schlicht behauptet wird, obwohl man sich gerade darüber streiten kann (ist die geworfene Münze tatsächlich fair?).49 bb) Wahrscheinlichkeitsbegriff der relativen Häufigkeit Von Mises50 verzichtet deshalb auf das Erfordernis der gleichgroßen Möglichkeit der fraglichen Ereignisse und beschreibt die Wahrscheinlichkeit als den Grenzwert der relativen Häufigkeit eines Merkmals in einem Kollektiv von (theoretisch) unendlich vielen Wiederholungen. Die Fairness der Münze wird dadurch geprüft, dass sie wiederholt geworfen wird und man dabei zählt, wie oft sie auf Kopf fällt.51 Je länger die Versuchsreihe, je höher also die Anzahl der Münzwürfe, desto weiter nähert sich die Verteilung von Kopf und Zahl an 0,5 an. Weil bei einer unendlich häufigen Wiederholung des Experiments der Anteil an „Kopf“ unendlich nahe an 0,5 herankommt, ist 0,5 hier der Grenzwert der Gesamtzahl an günstigen Ereignissen („Kopf“) geteilt durch die Gesamtzahl der Ereignisse insgesamt. Der hier beschriebene Wahrscheinlichkeitsbegriff verbirgt sich auch hinter der sog. „statistischen Wahrscheinlichkeit“.52 Um eine bestimmte Wahrscheinlichkeit festlegen zu können, wird dadurch allerdings eine sehr lange Versuchsreihe erforderlich. Ist eine solche nicht durchführbar, so kann dieser Wahrscheinlichkeitsbegriff nicht verwendet werden. Für die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von bestimmten Gerichtsurteilen etwa taugt er deshalb nicht, weil es hierbei um Einzelfallbetrachtungen geht, für die er nicht anwendbar ist. Hinzu kommt, dass der Wahrscheinlichkeitsbegriff nach von Mises rein empirisch verstanden werden muss, d. h. er bezieht sich stets auf vergangene Ereignisse. Auch dadurch verliert er insbesondere für juristische Prognosen an Brauchbarkeit. Der juristische Wahrscheinlichkeitsbegriff muss sich auf Einzelfallentscheidungen beziehen und kann deshalb nicht mit dem objektiven Begriff von Mises’ gleichgesetzt werden.53

49  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  100; „Den Fehlschluss der petitio principii begeht, wer einen Satz als bewiesen annimmt, der des Beweises bedürftig ist. Die zu beweisende Behauptung soll selbst als Beweisgrund herhalten.“, Schnapp, Logik für Juristen, S.  227. 50  von Mises, Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit, S.  12, 95. 51  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  100. 52  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  101. 53  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  22 ff.; a. A. Weitnauer, Wahrscheinlichkeit und Tatsachenfeststellung, Karlsruher Forum 1966, S.  3 ff.

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Dass statistische Befunde bei der Kriminalprognose dennoch eine große Rolle spielen,54 steht der Ablehnung einer solchen Wahrscheinlichkeitsdefinition nicht entgegen. Denn Statistiken können die Tatsachengrundlage, aufgrund deren das (einzelfallbezogene und damit nicht statistische) Wahrscheinlichkeitsurteil zu fällen ist, bereichern. Sie können damit auch in der Einzelfallentscheidung Berücksichtigung finden – allein, sie dürfen dabei nicht einzig ausschlaggebend sein, um eine Einzelfallbeurteilung zu gewährleisten und damit rechtsstaatliche Standards zu wahren.55 Erwähnt werden sollte zusätzlich noch, dass die Bestimmung des Grenzwertes stets nur eine Annahme und damit niemals sicher ist. Fällt die Münze unendliche Male auf Kopf (was nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann), dann könnte der Grenzwert auch 1 sein. Damit besagt die Definition der Wahrscheinlichkeit gemäß der relativen Häufigkeitstheorie nichts anderes, als dass die Münze auf lange Sicht relativ wahrscheinlich genauso häufig auf Kopf fällt wie auf Zahl. Der eigentlich zu definierende Begriff der Wahrscheinlichkeit kommt damit in der Definition selbst vor, was diese schon einiger Kritik ausgesetzt hat.56 cc) Propensity-Theorie der Wahrscheinlichkeit Der Propensity-Theorie57 zufolge bezieht sich „Wahrscheinlichkeit“ auf reale Tendenzen in der Natur und trifft damit eine Aussage über das Erkenntnisobjekt, nicht über die epistemische Situation des Erkenntnissubjekts. Diese Interpretation gehört deshalb zu den objektiven Wahrscheinlichkeitsbegriffen, allerdings beschreibt sie keine Häufigkeit eines Ereignisses, sondern eine objektive Einzelfall-Wahrscheinlichkeit. Die Propensity-Theorie geht von Indeterminismus aus, denn ein Umstand kann danach nicht nur epistemisch, sondern ontologisch ungewiss sein. Anlass dazu gab die Entdeckung der Quantenmechanik, in deren Interpretationen es teilweise Prozesse gibt, deren Ausgang selbst bei angenommener Allwissenheit des Beobachters unsicher bleibt. Der Tatrichter wird nicht über solche Prozesse zu entscheiden haben, deren Ausgang stets objektiv unsicher bleibt, die also genuin unbestimmt sind. Die von ihm zu entscheidenden Prozesse betreffen historische Sachverhalte, die entweder bereits tatsächlich geschehen sind (oder nicht), gerade existieren (oder nicht) 54 Dazu

Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S.  386 ff. Rn.  785 ff.; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  6 f.; Volckart, R&P 2002, 105 ff. 55  M. Bock, NStZ 1990, 457, 461; Boetticher et al., NStZ 2019, 553, 558 f.; Pollähne in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  63 Rn.  66; zur Bedeutung von statistischen Erfahrungssätzen für das Wahrscheinlichkeitsurteil unten C IV. 56  Nachweise bei Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  101 Fn.  96. 57 Dazu Popper, BJPS 1959, 25 ff.; Rosenthal, ZPhF 2006, 241 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  103.

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oder künftig eintreten werden (oder nicht). Allein das Wissen des Gerichts über den zu entscheidenden Sachverhalt ist unvollständig. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff der Propensity-Theorie ist deshalb in juristischen Entscheidungen nicht anwendbar.58 dd) Logischer Wahrscheinlichkeitsbegriff In Einzelfallsituationen kommt dem logischen Wahrscheinlichkeitsbegriff Carnaps59 eine größere Bedeutung zu: Dieser beschreibt nicht die Eigenschaft bestimmter Ereignisse, sondern die logische Beziehung von Aussagen zueinander, also den Grad der Bestätigung, den die hypothetische Aussage über ein künftiges Ereignis oder einen ungewissen Sachverhalt durch bestimmte Informationen erhält. „Die Öffnung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs für den Einzelfall sowie für Zukünftiges, Gegenwärtiges und Vergangenes gleichermaßen und die Berücksichtigung der Informationsabhängigkeit des Wahrscheinlichkeitsurteils lassen diesen Ansatz für den Juristen attraktiv erscheinen.“60

Die Hypothese beispielsweise „Der Beschuldigte ist der Täter“ wird u. a. daraufhin überprüft, in welchem Grad sie durch greifbare Informationen untermauert wird. Eine solche Information ist etwa der Aufenthaltsort des Beschuldigten im Zeitpunkt der Tat. Der Wahrscheinlichkeitsgrad beschreibt hier somit nicht die Richtigkeit der Hypothese, sondern lediglich ihre Beziehung zu der Information über den Aufenthaltsort. Der logische Wahrscheinlichkeitsbegriff gehört damit zu den epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriffen, weil er abhängt vom Wissen von der Welt insgesamt, das für jedermann erkennbar ist. Allerdings gibt es aus diesem Grund für jede Aussage auch nur eine einzige vernünftige Wahrscheinlichkeit, das heißt nur einen eindeutigen Grad an Bestätigung, der sämtliche bekannte Informationen berücksichtigt.61 Dadurch ändert sich die Wahrscheinlichkeit der Hypothese je nach zugrunde gelegter Information. Andere Informationen schaffen keinen besseren Bestätigungsgrad, sondern lediglich einen anderen. Ein aussagekräftiges Gesamtergebnis, eine Aussage über die Übereinstimmung der Hypothese mit der Wirklichkeit, kann nicht erlangt werden.62 „Die logische Wahrscheinlichkeit mag für die Beweiswürdigung geeignet erscheinen, erlaubt sie doch anzugeben, wie sehr eine Aussage durch die vorliegende Evidenz bestätigt wird, wobei dieser Bestätigungsgrad nicht vom Wissen des Subjekts abhängt, sondern sich logisch aus 58 

Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  103. Carnap, Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit, S.  20 ff. 60  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  28. 61  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  111. 62  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  31. 59 

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der Beschreibung der Welt ergibt. Die Unmöglichkeit der formalen Erfassung komplexer Lebenssachverhalte in einer logischen Sprache verhindert jedoch jede praktische Anwendung der logischen Wahrscheinlichkeitstheorie.“63

ee) Rational-subjektiver (epistemischer) Wahrscheinlichkeitsbegriff Die dargestellten objektiven Betrachtungsweisen passen allesamt nicht zum juristischen Wahrscheinlichkeitsbegriff im Rahmen von Einzelfallentscheidungen, die mehr als nur eine Informationsgrundlage haben. Dass der Wahrscheinlichkeitsbegriff in juristischen Entscheidungen eine subjektive Komponente haben muss, wird spätestens dann klar, wenn man sich vor Augen führt, dass es bei richterlichen Entscheidungen oft um Aussagen über Vergangenes oder Gegenwärtiges geht. Die in Frage stehende Tatsache liegt dann objektiv definitiv vor oder nicht, ungewiss ist nur die subjektive Kenntnis davon.64 Gleiches gilt – wenn auch vielleicht weniger offensichtlich – auch für prognostische Aussagen über Zukünftiges: Das fragliche Ereignis wird entweder eintreten oder es wird nicht eintreten; dazwischen gibt es in der objektiven Außenwelt nichts. Die Wahrscheinlichkeit kann deshalb nicht einem objektiven Tatbestandsmerkmal, einer („Schluss“-65)Tatsache, gleichgestellt werden, sondern jedes juristische Wahrscheinlichkeitsurteil ist notwendigerweise subjektiv.66 Damit die subjektive Wahrscheinlichkeit sich auf einen bestimmten Einzelfall beziehen kann, ist es notwendig, in ihr weder eine Eigenschaft der beobachtbaren Welt zu sehen noch nur das Pendant zur objektiven Wahrscheinlichkeit (Wissen um objektive Wahrscheinlichkeit, um die relative Häufigkeit). „Wahrscheinlichkeit“ kann also in juristischen Entscheidungen nicht lediglich als subjektive Entsprechung zu objektiven Wahrscheinlichkeiten verstanden werden.67 Der hier vertretene subjektive Wahrscheinlichkeitsbegriff versteht unter „Wahrscheinlichkeit“ vielmehr das Maß der persönlichen Überzeugung davon, dass ein Ereignis eintritt oder eine Aussage wahr ist. Wahrscheinlichkeit wird als Überzeugungsgrad und damit als Maß der Überzeugung verstanden – nicht als ihr Gegenstand.68 Die Überzeugung im Sinne des §  261 StPO ist mithin selbst 63 

Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  112. Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  33. 65  So aber Radtke in LK-StGB Bd.  5, 13.  Aufl. 2022, Vor §  61 Rn.  59. 66  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  54, 74. 67  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  35. 68  So schon Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  105 f.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  104, 125, auch zum folgenden Text; vgl. auch Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  141 Rn.  585 ff., S.  146 Rn.  600 ff.; die Literatur sagt dem Begriff des „Beweismaßes“ mal die eine, mal die andere Bedeutung zu, Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  14; zur Vermeidung von Missverständnissen kommt er in dieser Arbeit daher nicht vor. 64 

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eine epistemische Wahrscheinlichkeit. Das hier gegenständliche Wahrscheinlichkeitsurteil unterscheidet sich von ihr allein durch den Anspruch an den erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad, der hinter demjenigen zurückbleibt, welcher an die Gewissheit (volle Überzeugung) zu stellen ist. Weil das Wissen des Entscheidungsträgers in unterschiedlichem Ausmaß vorhanden sein kann, kann auch die Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung graduell ausgedrückt werden. „Gewissheit ist so verstanden nur der höchste Grad subjektiver Wahrscheinlichkeit, die ‚volle‘ oder ‚sichere‘ Überzeugung, der numerisch ein Wert von 1 (oder 100 %) zugeordnet wird; etwas quantitativ, aber nicht qualitativ anderes als Wahrscheinlichkeit.“69

Dabei geht es allerdings nicht um einen bloßen Glauben, also ein persönliches Empfinden.70 Sondern ausschlaggebend ist das Wissen des Entscheidungssubjekts. Dem Urteilenden stehen nur in einem begrenzten Umfang Informationen zur Verfügung, die er der Entscheidung zugrunde legen kann. Auf diese epistemische Situation bezieht sich der subjektive Begriff der Wahrscheinlichkeit. Es wird also eine Aussage getroffen über das individuelle (unvollkommene) Wissen des Beobachters. Dies gilt nicht nur dann, wenn von vergangenen Ereignissen gesprochen wird, sondern auch im Hinblick auf zukünftige Ereignisse.71 Das subjektive Wissen wird dabei stets beeinflusst von den Erfahrungen, die der Entscheidungsträger macht und gemacht hat. Diese müssen deshalb bei der Frage nach einer bestimmten Wahrscheinlichkeit berücksichtigt werden. Auch juristische Urteile werden auf der Basis der Erfahrung gefällt. Intersubjektiviert werden kann das gefundene Ergebnis, wenn verschiedene Personen ähnliche Erfahrungen gemacht oder die gleichen Informationen zur Hand haben. Abweichende Wahrscheinlichkeitsurteile bleiben natürlich dennoch möglich, müssen aber genauer begründet und können leichter kritisiert werden.72 Wie auch die richterliche Überzeugung i. S. d. §  261 StPO muss die Wahrscheinlichkeit folglich auf einer objektiven Tatsachengrundlage beruhen.73 Weil 69  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  125; so auch schon T. Walter, JZ 2006, 340, 342; zum Vorteil von numerischen Angaben subjektiver Wahrscheinlichkeiten für das richterliche Wahrscheinlichkeitsurteil unten C IV. 70 Missverständlich daher Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  147 f. Rn.  612 (subjektive Wahrscheinlichkeit als „Ausdruck unseres subjektiven Glaubens“). Auch hier gilt es, Missverständnisse zu vermeiden. Darum sollte der Begriff des „Glaubens“ in diesem Zusammenhang nicht verwendet werden. Das gilt umso mehr, als dieser Begriff in der Alltagssprache eine andere Bedeutung hat (siehe unten S. 38). 71  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  33 f.; Schneider in Hassemer et. al., Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9.  Aufl. 2016, S.  341. 72  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  56 f. 73 Vgl. Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  6; Häcker/

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durch diese Vertretbarkeitskontrolle klar wird, dass das Gericht nicht Willkür walten lässt, sondern den eigenen Überzeugungsgrad als eine aus bestimmten plausiblen Gründen allgemein annehmbare Wahrscheinlichkeit darlegen muss, spricht Nell auch von einer normativ-subjektiven Wahrscheinlichkeit.74 Die Festlegung auf einen (der Plausibilitätskontrolle standhaltenden) subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs75, der bei seinen Ausführungen zum Erfordernis einer richterlichen Überzeugung das schlichte Bewusstsein um eine objektiv hohe Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen lässt (so aber das Reichsgericht76), sondern eine darüber hinausgehende persönliche Gewissheit verlangt, also das Überwinden jeder vernünftigen Zweifel. Der Richter muss nach der gesamten Beweislage einen bestimmten Sachverhalt für wahr halten, um seiner Überzeugungspflicht nachzukommen. Die richterliche Überzeugung i. S. d. §  261 StPO oder §  286 ZPO kann mithin als höchstmöglicher Wahrscheinlichkeitsgrad im Sinne einer subjektiven Wahrscheinlichkeit verstanden werden, die aber, um den Anforderungen an die Beweiswürdigung und damit dem Rechtstaatsprinzip (Art.  20 Abs.  3 GG) sowie dem Prinzip des gesetzlichen Richters (Art.  101 Abs.  1 Satz 2 GG) gerecht zu werden, mittels objektiver Tatsachengrundlage und unter Einhaltung von Denkgesetzen und Berücksichtigung von Erfahrungssätzen plausibel dargelegt werden muss. „Rational ist eine Begründung, die durch jedermann, ‚sofern er nur (die für die anstehenden Sachfragen erforderliche) Vernunft hat‘ (Kant), kritisch diskutiert und eingesehen (als akzeptabel hingenommen) werden kann.“77

Spricht man im Zusammenhang mit der Überzeugung des Richters nach §  261 StPO gelegentlich von einer „objektiven Wahrscheinlichkeit“78, die zusätzlich zur subjektiven Gewissheit des Richters gegeben sein muss, so kann damit nichts anderes gemeint sein, als dass die Überzeugung des Richters „objektiv“, das heißt für Dritte aufgrund von anerkannten Erfahrungssätzen und der Einhaltung logischer Grundregeln rational nachvollziehbar und damit vertretbar sein muss.

Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  148 Rn.  618; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  11. 74  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  47 ff. 75  BGH zu §  286 ZPO, Urteil v. 17.02.1970 – III ZR 139/67, BGHZ 53, 245, 255 f.; zu §  261 StPO, Urteil v. 03.02.1983 – 1 StR 823/82, NStZ 1983, 277. 76  RG zu §  286 (ehemals §  259) ZPO, Urteil v. 14.01.1885 – I 408/84, RGZ 15, 338, 339. 77  Herdegen, NStZ 1987, 193, 198; vgl. auch Popper, Logik der Forschung, S.  18. 78  Etwa BVerfG, Beschluss v. 30.04.2003 – 2 BvR 2045/02, NJW 2003, 2444, 2445; BGH, Urteil v. 19.01.1999 – 1 StR 171–98, NJW 1999, 1562, 1564; Eschelbach in BeckOK-StPO, 47. Edition (Stand: 01.04.2023), §  261 Rn.  35 m. w. N.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

„Beruht die richterliche Überzeugung auf einer tatsachengestützten und rationalen Beweisführung, ergibt dies zugleich eine objektiv hohe Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Beweisergebnisses […]. Da die [objektiv] ‚hohe Wahrscheinlichkeit‘ eine dem richtig durchgeführten Erkenntnisprozess immanente, sozusagen zwangsläufige Begleiterscheinung darstellt […], bildet sie auch nur insoweit ein (eigenständiges) objektives Kriterium für eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung […].“79 „In einer Generalisierung bedeutet […] [das Erfordernis der objektiv hohen Wahrscheinlichkeit]: Die Sachverhaltsannahmen des Tatgerichts und seine Beweiswert-Einschätzung müssen im Falle der Verurteilung in den Gründen des tatrichterlichen Urteils […] als das Resultat einer rationalen, intersubjektiv akzeptablen, in hohem Maße plausiblen Argumentation ausgewiesen werden.“80

Versteht man den Begriff der Wahrscheinlichkeit auf die dargelegte Weise, so wird auch der juristische Laie prinzipiell in die Lage versetzt, das Urteil des Richters nachzuvollziehen, weil es auf für die Allgemeinheit plausiblen Gründen beruht und weil die Verwendung der Ausdrucksweise „wahrscheinlich“ auch derjenigen entspricht, die sich ohnehin im Alltag durchgesetzt hat.81 Auch in der alltäglichen Verwendung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit wird diese als „vernünftiger Überzeugungsgrad“ zu verstehen sein.82 Sagt jemand, er halte es für „wahrscheinlich“, dass der kaputte Vorhang von seiner Katze zerrissen wurde, dann will er nicht auf eine objektive Unbestimmtheit hinweisen: Entweder hat die Katze den Vorhang zerrissen, oder sie hat es nicht getan. Ausgedrückt werden soll aber auch nicht ein rein privates Informationsdefizit, also etwas, das ein Außenstehender nicht nachvollziehen kann. Dafür verwendet man eher die Ausdrücke „ich glaube, dass …“ oder „ich bin mir nicht sicher, ob …“. Die Verwendung der unpersönlichen Ausdrucksweise „wahrscheinlich“ zeigt, dass allgemein von jedermann aufgrund von bestimmten Informationen mit einem bestimmten Sachverhalt gerechnet werden kann: Die Katze war allein zu Hause und beim Verlassen der Wohnung durch das Frauchen war der Vorhang noch nicht kaputt – also kann davon ausgegangen werden, dass die Katze den Vorhang zerrissen hat. Und auch im Alltag kann die Wahrscheinlichkeit, verstanden als vernünftiger Überzeugungsgrad, abgestuft werden, indem etwas als „ziemlich wahrscheinlich“, „sehr wahrscheinlich“ oder „höchst wahrscheinlich“ ausgedrückt wird – in der genannten Reihenfolge ergibt sich daraus eine Ordnungsska-

79 

Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  11 m. w. N. Herdegen, NJW 2003, 3513, 3514, der an anderer Stelle einräumt, dass „der Begriff der hohen Wahrscheinlichkeit […] ein Explikandum darstellt, für das ein exakteres Explikat noch nicht gefunden worden ist“, Herdegen, NStZ 1987, 193, 199. 81 Ebenso Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  125. 82  Rosenthal, Wahrscheinlichkeit als Tendenz, S.  16; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  97 f., beide auch zum folgenden Text. 80 

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la, es kann also mitgeteilt werden, ob ein Sachverhalt wahrscheinlicher ist (z. B. „höchst wahrscheinlich“) als ein anderer (z. B. nur „ziemlich wahrscheinlich“). c) Exkurs: Beurteilungsgrundlage und Perspektive als Faktoren für die (subjektive) Wahrscheinlichkeit im Polizeirecht und im materiellen Strafrecht „Art und Ausmaß des Unwissens können aber sowohl nach dem zeitlichen als auch nach dem persönlichen Ausgangspunkt der Betrachtung variieren, so dass der Eintritt eines Schadens in einer bestimmten Situation aus manchen Blickwinkeln mehr oder weniger wahrscheinlich, aus anderen hingegen ausgeschlossen erscheint.“83

An dieser Stelle erscheint ein kleiner Exkurs angebracht, um eventuelle Unsicherheiten auszuräumen, die aus dem Verwaltungsrecht herrühren können: Welche Bedeutung, könnte man sich fragen, hat denn dann die „Anscheinsgefahr“ im Polizeirecht, wenn ohnehin jede Wahrscheinlichkeit als Merkmal von Rechtsnormen subjektiv verstanden werden muss? Richtigerweise wehrt auch der Polizist niemals eine objektiv bestehende Gefahr ab, sondern er handelt aufgrund seines subjektiven Wissens um bestimmte Begebenheiten und aufgrund der daraus gezogenen Schlüsse. Auch im Polizeirecht muss also ein Gefahrenbegriff gelten, der stets auf die subjektive Kenntnis des Prognostizierenden abstellt. Die Unterscheidung zwischen (subjektiver) „Anscheinsgefahr“ und „wirklicher“ bzw. „objektiver“ Gefahr, die im Polizeirecht gemacht wird, ist damit aber dennoch nicht hinfällig.84 Selbstverständlich kann es auch bei dieser „objektiven Gefahr“ nach oben Gesagtem nicht um eine der Außenwelt angehörende und damit vom Betrachter unabhängig existierende Gefahr gehen. Es ändert sich nicht der zugrunde gelegte Wahrscheinlichkeitsbegriff insgesamt, sondern lediglich die Informationsgrundlage und damit auch die Perspektive: Der „Anscheinsgefahr“ geht es um die Gefahrbeurteilung aus Polizistenperspektive im Zeitpunkt der Handlung (ex ante) und damit um ein Wahrscheinlichkeitsurteil unter Berücksichtigung von lediglich solchen Informationen, die dem Polizisten im Zeitpunkt seiner Handlung bekannt waren. Die herrschende Meinung stellt dabei nicht auf den tatsächlich handelnden Polizisten ab, sondern auf einen gewissenhaften, besonnenen und sachkundigen Amtswalter, den sie sich in die Situation des handelnden Polizisten hineindenkt.85 Die „wirkliche“ Gefahr meint hingegen das Wahrscheinlichkeitsurteil des Richters (ex post), der über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu urteilen hat. Dem Richter stehen sämtliche Informatio83 

Erb in MüKo-StGB Bd.  1, 4.  Aufl. 2020, §  34 Rn.  75. So aber Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, S.  86 ff.; weitere Nachweise bei Paeffgen, GA 2014, 638, 642. 85  Becker et al., Öffentliches Recht in Bayern, Teil 3 Rn.  137; Paeffgen, GA 2014, 638 (ebd.). 84 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

nen zur Verfügung, die bis zum Zeitpunkt seiner Entscheidung ermittelt werden konnten.86 Weil das Wissen des Entscheidungsträgers damit von demjenigen Wissen abweicht, das der Polizist hatte, kann auch sein Wahrscheinlichkeitsurteil, also die Beurteilung der Frage, ob eine Gefahr vorlag oder nicht, anders ausfallen als dasjenige des handelnden Polizisten. Der Begriff der „Anscheinsgefahr“ behält damit seine Daseinsberechtigung, sofern man damit lediglich diesen Perspektivwechsel ausdrücken will und sich aber grundsätzlich darüber einig ist, dass es um eine „objektive“ Wahrscheinlichkeit nach den objektiven Wahrscheinlichkeitstheorien nicht gehen kann. Eine andere Frage ist es, ob man die Gefahrbeurteilung aus der subjektiven Perspektive des Polizisten oder aus derjenigen eines gedachten sachkundigen Amtswalters (Anscheinsgefahr) ausreichen lässt, um das Verwaltungshandeln zu rechtfertigen, selbst wenn unter Berücksichtigung sämtlicher verfügbarer (also auch der dem Polizisten nicht bekannten) Informationen im Zeitpunkt der Handlung die Möglichkeit eines Schadenseintritts verneint werden müsste. Bei dieser Frage kommt es nun aber nicht mehr auf den Wahrscheinlichkeitsbegriff als solchen an, sondern auf Recht- und Zweckmäßigkeitserwägungen.87 In den Begriff der „Gefahr“, den der Gesetzgeber verwendet (vgl. Art.  11 Abs.  1 Satz 2 des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes), kann jedenfalls die Anscheinsgefahr (Polizistenperspektive) nicht ohne weiteres hineingelesen werden. Dieser Wortlaut stellt wohl auf die Richterperspektive ab. Denn der Gesetzgeber kann – wie es an anderer Stelle geschieht – durchaus unterscheiden zwischen einer „Gefahr“ (Richterperspektive) und einem „Gefahrenverdacht“ oder „Tatverdacht“.88 Hier kommt es dann für die Rechtmäßigkeit nicht mehr auf das Wahrscheinlichkeitsurteil des Tatrichters an, sondern auf dasjenige der handelnden Behörde, also der Staatsanwaltschaft, des Ermittlungsrichters oder des Polizeibeamten.89 86  Hier kann man sich nun noch darüber streiten, ob all diese Informationen auch tatsächlich vom Gericht berücksichtigt werden dürfen oder ob eine Beschränkung der Informationsgrundlage notwendig ist. Diese Frage wird sogleich auf S. 42 mit Bezug auf das materielle Strafrecht beantwortet, die Antwort hat für das Polizeirecht aber gleichfalls Gültigkeit. 87  Für das Abstellen auf die Anscheinsgefahr und damit für ein sog. „Irrtumsprivileg“ des Staates wird etwa vorgetragen, dass das staatliche Gewaltmonopol seine friedensstiftende Funktion nur dann ausreichend erfüllen kann, wenn der Bürger polizeiliches Handeln auch dann zu dulden hat, wenn (nur) aus Polizistenperspektive eine Gefahr zu bejahen ist. Andernfalls hätte die Polizei außerdem das Risiko einer Fehlprognose zu tragen, müsste also beispielsweise Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung leisten. Dann würden viele Polizisten aus Sorge darum, ob die Gefahr später auch vom Richter bejaht würde, nicht mehr rechtzeitig eingreifen, was kontraproduktiv vor dem Hintergrund der Staatsaufgabe Gefahrenabwehr sei, Becker et al., Öffentliches Recht in Bayern, Teil 3 Rn.  135; Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  137 ff. 88  Etwa §  102 StPO, §  127 Abs.  2 StPO, §  170 StPO, §  203 StPO. 89  Frister, Strafrecht AT, §  14 Rn.  14 f. Damit ist zugleich die Frage geklärt, dass auch der

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„Eine Gefahr, die für den wissenden Beobachter keine Schadensträchtigkeit aufweist, sollte man sich schon sprachlich eigentlich genieren, eine ‚Gefahr‘ zu nennen. […] Umgekehrt liegt ja eine ‚Gefahr‘ auch dann vor, wenn sie von Hoheitsträgern nicht als solche bemerkt wird.“90

Auch im materiellen Strafrecht hat sich das Gericht etwa im Rahmen der Rechtfertigungstatbestände zu fragen, ob die Tat zur Abwehr einer Gefahr erforderlich war, §§  32 ff. StGB. Dass es im Rahmen der Prüfung des objektiven Rechtfertigungstatbestandes nicht auf die Sicht des Täters ankommt (vergleichbar mit der „Anscheinsgefahr“ im Polizeirecht), sondern auf diejenige des Tatrichters, sollte einleuchten, wenn man berücksichtigt, dass jeder Rechtfertigungstatbestand auch eine subjektive Seite hat, bei deren Prüfung das Wissen des Täters noch ausreichend Berücksichtigung findet.91 Auch der „objektive Dritte“ kann nicht Maßstab für die Gefahrenbeurteilung sein,92 weil dessen Kenntnis nicht allgemein bestimmbar und damit zu unbestimmt ist93 und weil dadurch die Grenzen verwischt würden zwischen dem objektiven und subjektiven Tatbestand, indem das Sonderwissen des Täters bereits auf der Ebene des objektiven Rechtfertigungstatbestandes berücksichtigt werden müsste, um unbillige Ergebnisse zu vermeiden.94 Die Verwischung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand zöge eine Vermengung von Rechtfertigung und Putativrechtfertigung nach sich.95 Das Gefahrurteil des Täters (Putativrechtfertigung) muss sich aber einer klaren Kontrolle unterziehen lassen, die auf einer genaueren Situationsanalyse beruht (objektive Rechtfertigung). Denn diese Situationsanalyse, die auf der Kenntnis sämtlicher bekannter Umstände beruht, soll nach dem Willen des Gesetzgebers darüber entscheiden, ob die Gefahr bejaht werden kann oder nicht. Eine mehr oder weniger willkürlich auf eine bestimmte Tatsachenbasis beschränkte Beobachterperspektive kann nicht ausschlaggebend sein.96 Eine unanBegriff des „Gefahrenverdachts“ seine Daseinsberechtigung hat, obwohl auch er auf den ersten Blick eine doppelte Subjektivierung beinhaltet: Sowohl der „Verdacht“ als auch die „Gefahr“ können nach obiger Definition der Wahrscheinlichkeit nur subjektiv verstanden werden, also bezogen auf das Wissen des Entscheidungssubjekts. Auch hier wiederum ist aber die richtige Perspektive entscheidend – einerseits kommt es auf die handelnde Behörde an, andererseits auf das urteilende Gericht. 90  Paeffgen, GA 2014, 638, 650 f., Hervorhebung auch im Original. 91  Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  87; Frister, Strafrecht AT, §  14 Rn.  7; T. Walter in LK-StGB Bd.  1, 13.  Aufl. 2020, Vor §  13 Rn.  155. 92  So aber die h. M., etwa Heger in Lackner/Kühl-StGB, 30.  Aufl. 2023, §  34 Rn.  2; Kühl, Strafrecht AT, §  8 Rn.  44 f. m. w. N.; dazu auch Roxin, Strafrecht AT Bd.  1, §  11 Rn.  40, §  16 Rn.  16; Wessels et al., Strafrecht AT, S.  147 Rn.  464. 93  Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  73 ff. 94  Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  76 ff.; vgl. auch Frister, Strafrecht AT, §  14 Rn.  8 ff. 95  Erb in MüKo-StGB Bd.  1, 4.  Aufl. 2020, §  34 Rn.  80. 96  Erb in MüKo-StGB Bd.  1, 4.  Aufl. 2020, §  34 Rn.  78.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

gemessene Belastung des gewissenhaften Notstandstäters wird dadurch ausgeschlossen, dass er aufgrund des unverschuldeten Erlaubnistatbestandsirrtums straflos bleibt.97 Schließlich bleibt noch die Frage zu klären, ob das Gericht sämtliche im Beurteilungszeitpunkt bekannte Informationen (das Wissen der gesamten Menschheit) zu berücksichtigen hat oder ob es die Gefahr auf einer beschränkten Informationsgrundlage dergestalt zu beurteilen hat, dass lediglich diejenigen Tatsachen Berücksichtigung finden, die im Zeitpunkt der Handlung wirklich vorlagen. Ausgeblendet wird im zweiten Fall also vor allem die Erkenntnis, ob es ohne das Eingreifen des Handelnden tatsächlich später zu einem Schadenseintritt gekommen wäre. Für den zuletzt genannten Lösungsansatz spricht, dass man sonst von einer Prognose, also einem Wahrscheinlichkeitsurteil im dargestellten Sinne bei der Gefahrbeurteilung kaum mehr sprechen könnte, sondern es sich dann vielmehr um eine Diagnose handelte. Eine Prognose ist eine Annahme über die zukünftige Entwicklung eines Sachverhalts, wohingegen eine Diagnose der Überprüfung von Sachverhaltsmerkmalen dient, die in der Vergangenheit gegeben waren oder gegenwärtig vorliegen.98 Berücksichtigte man die später eingetretene Verletzung, so müsste man zwangsläufig eine Gefahr als bevorstehenden Schadenseintritt bejahen. Das Strafgesetzbuch setzt aber voraus, dass es auch solche Gefahren gibt, die nicht notwendig zu einem Schaden führen; andernfalls wäre ihre Beurteilung bedeutungslos.99 Eine Auslegung des Begriffs der „Gefahr“ dahingehend, auch den späteren Schadenseintritt mit zu berücksichtigen, geht offensichtlich am allgemeinen Verständnis dieses Phänomens vorbei,100 denn ein Gefahrenurteil beruht ja gerade auf dem Unwissen über den weiteren Verlauf des Geschehens.101 Das hier dargestellte Problem der richtigen Perspektive existiert bei der Kriminalprognose (§§  56 ff., 63 ff. StGB) nicht, weil hier von vornherein klar ist, wer prognostiziert – nämlich der Tatrichter. Dass der Richter sich sachverständiger Hilfe bedienen kann, ändert daran nichts: Das Gericht muss trotz eines etwaigen Gutachtens, das ein Sachverständiger etwa zur Frage des Rückfallrisikos erstellt hat, selbst prognostizieren (siehe auch unten C II 2 d). Die Arbeitsverteilung zwischen dem Gericht und den Sachverständigen ist damit klar geregelt.102 Der Sachverständige kann dem Gericht allenfalls einen Teil der Beweisaufnahmear97 

Erb in MüKo-StGB Bd.  1, 4.  Aufl. 2020, §  34 Rn.  82. Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  34. 99  Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  58 f. 100  Erb in MüKo-StGB Bd.  1, 4.  Aufl. 2020, §  34 Rn.  77. 101  Erb in MüKo-StGB Bd.  1, 4.  Aufl. 2020, §  34 Rn.  75. 102  BVerfG, Urteil v. 05.02.2004 – 2 BvR 2029/01, NJW 2004, 739, 743; Boetticher et al., NStZ 2019, 553, 554 f. 98 

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beit abnehmen, so wie es auch sonst im Rahmen der Beweisaufnahme üblich ist. Weil die eigentliche „Arbeit“ der Entscheidungsfindung damit dem Gericht verbleibt, lehnt Pollähne es zu Recht ab, überhaupt von „Arbeitsteilung“ zwischen Richter und Sachverständigem zu sprechen.103 Andererseits wird bei der Kriminalprognose auch über die richtige Beurteilungsgrundlage nicht diskutiert: Verlangt der Gesetzgeber dem Tatrichter eine Prognose ab, so kann diese, wenn sie im Zeitpunkt des Prognostizierens vertretbar war, nach allgemeiner und richtiger Ansicht nicht nachträglich falsch werden, selbst wenn eine nachträgliche Diagnose ergibt, dass der vorhergesagt Fall nicht eingetreten ist.104

IV. Rückausnahme: in dubio pro reo bei Schätzungen Nach bisher Gesagtem macht der Gesetzgeber bei Wahrscheinlichkeitsnormen eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die fehlende Überzeugung des Gerichts zu einer Anwendung von in dubio pro reo führt. Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Es gibt eine wichtige Rückausnahme, die bisher allgemein noch nicht ausreichend Beachtung findet. Gemeint ist der Schätzrahmen als Entscheidungspatt bei der Anwendung von Schätzklauseln wie beispielsweise §  40 Abs.  3 StGB. Zwar ist Gegenstand der Schätzung nach richtiger Ansicht der wahrscheinlich wahre Wert und nicht etwa ein für den Beschuldigten möglichst günstiger Wert (dazu Abschnitt 1). Aber wenn dieser wahrscheinlich wahre Wert sich im Einzelfall nur dem Rahmen nach bestimmen lässt und innerhalb dieses Rahmens jeder Wert gleich wahrscheinlich erscheint, so liegt ein Entscheidungspatt vor, das allein gemäß in dubio pro reo aufgelöst werden kann (dazu Abschnitt 2). 1. Der wahrscheinlich wahre Wert Auch bei der richterlichen Schätzung spielt in Bezug auf richterliche Zweifel nicht die Frage nach dem „Ob“ eine Rolle, sondern nur diejenige nach dem „Wie“. Zweifel am geschätzten Betrag der Einkünfte des Täters (§  40 Abs.  3 StGB) können deshalb nicht per se zu einer Entscheidung pro reo führen. Im Unterschied zur Prognose bezieht sich das zu fällende Wahrscheinlichkeitsurteil hier allerdings nicht auf den Eintritt eines bestimmten künftigen Ereignisses, sondern auf Quantitäten der Gegenwart oder Vergangenheit, also konkrete Grö-

103  Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221– 258, 228 ff. 104  Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221– 258, 225.

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ßenangaben.105 Das Gericht muss sich darauf festlegen, welcher Sachverhalt am wahrscheinlichsten ist. Es geht nicht darum, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines bestimmten Ereignisses zu bestimmen, sondern darum, den wahrscheinlich wahren Wert von etwas anzunehmen – beispielsweis das der Höhe nach wahrscheinlichste Einkommen des Täters (§  40 Abs.  3 StGB). Zunächst hat das Gericht den Sachverhalt so weit wie möglich zu erforschen (§  244 Abs.  2 StPO) und zu versuchen, sich vom tatsächlichen Einkommen des Täters eine Überzeugung zu bilden (§  261 StPO).106 Kann sich das Gericht dann aber nicht von einem bestimmten Wert überzeugen (etwa weil die Angaben des Angeklagten unzureichend sind107), darf es diesen Wert schätzen, also ausnahmsweise den Wert annehmen, der dem wahren Wert am wahrscheinlichsten entspricht. Der vorhandene Zweifel am Schätzergebnis ist dann unschädlich, er soll lediglich so weit wie möglich minimiert werden. Das Gericht darf also keinen anderen als den angenommenen Schätzbetrag für wahrscheinlicher halten. Insoweit ist auch bei der Schätzung der erforderliche Überzeugungsgrad reduziert, §  261 StPO wird eingeschränkt.108 Und weil das so ist, besteht auch kein Bedürfnis für eine Entscheidung pro reo. Der wahrscheinlich wahre (geschätzte) Wert muss nicht derjenige sein, der für den Angeklagten am günstigsten ist.109 Das gilt nicht nur für die hier relevanten gesetzlich normierten Schätzbefugnisse, sondern muss auch für sonstige Schätzmöglichkeiten des Gerichts beachtet werden. Fehlerhaft oder zumindest sprachlich missglückt ist es deshalb, wenn die herrschende Meinung110 in Bezug auf Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung (etwa bei der Aburteilung von Serienstraftaten) meint, das Gericht müsse sich von einem „Mindestschuldumfang“ überzeugen und die darüber hinausgehende nicht zu seiner Überzeugung feststehende Schuld gemäß in dubio 105 

Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  11. Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  7 f. m. w. N. 107  Fischer, StGB, 70.  Aufl. 2023, §  40 Rn.  19. 108  Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  119 f., 123; Hellmann, GA 1997, 503, 505; G. Ott, JA 2005, 453, 454; Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  66, 71; Rüsken in Klein-AO, 14.  Aufl. 2018, §  162 Rn.  1; T. Walter, JZ 2006, 340, 344; a. A. (Möglichkeit der Überzeugung aufgrund einer nur wahrscheinlichen Richtigkeit) Huchel, Schätzungen im Steuerstrafverfahren, S.  121. 109  BGH, Urteil v. 20.04.1989 – 4 StR 73/89, juris Rn.  6 = NStZ 1989, 361; Fischer, StGB, 70.  Aufl. 2023, §  40 Rn.  19; Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  70 f.; Radtke in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  40 Rn.  121; Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, Rn.  1308; Volk, in Hirsch et al. (Hrsg.), FS-Kohlmann, S.  579–589, 581 f. 110  BGH, Urteil v. 12.08.1999 – 5 StR 269/99, NStZ 1999, 581; Beschluss v. 06.04.2016 – 1 StR 523/15, NStZ 2016, 728, 729 f.; Beschluss v. 20.12.2016 – 1 StR 505/16, BeckRS 2016, 121213, Rn.  17; Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  381; Sander in Löwe/Rosenberg-StPO Bd.  7, 27.  Aufl. 2021, §  261 Rn.  197. 106 

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pro reo als nicht vorhanden ansehen.111 Richtigerweise kann es auch hier einen „Mindestwert“, der sicher erreicht ist, gar nicht geben, denn eine Schätzung setzt bereits begrifflich voraus, dass der angenommene Betrag gerade nicht sicher ist, also der wahre Betrag sowohl nach oben als auch nach unten abweichen kann.112 Hätte man eine (Mindest-)Überzeugung erreicht, so bräuchte man den Rückgriff auf eine Schätzung nicht, weil dann schon die vorangehende Sachaufklärung Erfolg gehabt hätte. Gleiches gilt auch für die Schätzung im Steuerstrafverfahren. Falsch ist es deshalb, wenn die herrschende Meinung113 verlangt, das Gericht müsse sich hier davon überzeugen, dass die Schätzung zutreffend sei und nicht zu hoch ausfalle und dass insoweit die In-dubio-Regel gelte. Entgegen dieser herrschenden Meinung kann es nicht um die „Überzeugung des Gerichts von der Richtigkeit der Schätzung“ gehen. Sehr wohl geht es nämlich auch hier – bereits begriffsnotwendig – um die wahrscheinlich richtige Schätzung, also um den wahrscheinlich wahren Wert, und nicht um einen für den Beschuldigten möglichst günstigen Wert. Die Schätzung im Steuerstrafverfahren muss deshalb nicht zwangsläufig niedriger ausfallen als im Besteuerungsverfahren.114 2. Der Schätzrahmen als einzig denkbares Entscheidungspatt Dass das Abstellen auf den zahlenmäßig geringsten (also tätergünstigsten) Wert unzulässig ist, wenn dieser nicht zugleich auch der wahrscheinlichste Wert ist, führt jedoch nicht zu einem absoluten Ausschlussgrund für die In-dubio-Regel. Auf eine Entscheidungsregel angewiesen bleibt das Gericht nämlich dann, wenn auch die Schätzung nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt. Das ist immer dann der Fall, wenn eine Punktwertschätzung nicht möglich ist, der wahrscheinlichste Wert also nicht festgelegt werden kann, sondern ein Schätzrahmen das Ergebnis der Schätzung bildet, also ein Bereich, innerhalb dessen jeder Wert gleich wahrscheinlich erscheint:115 Beispielsweise muss der Richter im Steuerstrafverfahren die vergangenen Einkünfte des wegen Steuerhinterziehung (§  370 AO) angeklagten Täters schät111  Ablehnend

auch Zopfs, StV 2000, 601, 602. Hellmann, GA 1997, 503, 504; G. Ott, JA 2005, 453, 454; T. Walter, JZ 2006, 340, 344. 113  BGH, Beschluss v. 19.07.2007 – 5 StR 251/07, BeckRS 2007, 12687; Beschluss v. 19.04.2007 – 5 StR 549/06, NStZ 2007, 595; Urteil v. 05.05.2004 – 5 StR 139/03, NStZ-RR 2004, 242 m. w. N.; Urteil v. 12.08.1999 – 5 StR 269/99, NStZ 1999, 581; Beschluss v. 04.02.1992 – 5 StR 655/91, BeckRS 1992, 6446; Schmitz/Wulf in MüKo-StGB Bd.  7, 3.  Aufl. 2019, §  370 AO Rn.  200. 114  So aber Schmitz/Wulf in MüKo-StGB Bd.  7, 3.  Aufl. 2019, §  370 AO Rn.  200 m. w. N.; Volk, in Hirsch et al. (Hrsg.), FS-Kohlmann, S.  579–589, 586 ff. 115  Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  72, 209 ff.; T. Walter, JZ 2006, 340, 344; vgl. auch Rüsken in Klein-AO, 14.  Aufl. 2018, §  162 Rn.  1, Rn.  6. 112 

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zen. Die Summe der verschwiegenen Einkünfte liegt sodann zwischen 50.000 Euro und 100.000 Euro, sodass ein Betrag darunter oder darüber weniger, alles dazwischen aber gleich wahrscheinlich ist. Dann stellt sich die Frage, welcher Betrag dem Urteil zugrunde gelegt werden kann. Zweifel bestehen lediglich noch hinsichtlich der Auswahl eines der gleich wahrscheinlichen Werte. Der Richter muss diese Auswahl treffen – er kann sich ein non liquet nicht erlauben. Normativ lässt sich die Frage, welcher Wert innerhalb des Schätzrahmens der weiteren Betrachtung zugrunde zu legen ist, nicht klären, denn die Suche nach dem wahrscheinlich wahren Wert ist kein rechtlicher Vorgang, sodass es einen „richtigen“ Wert nicht gibt.116 Also braucht der Richter eine Entscheidungshilfe. Im genannten Beispiel muss der Richter deshalb gemäß in dubio pro reo von dem geringsten Betrag, das heißt von einem Einkommen in Höhe von 50.000 Euro ausgehen. Nur auf diese Weise kann vermieden werden, dass eine in der Natur der Schätzung liegende Unsicherheit zu einer willkürlichen Entscheidung zulasten des Angeklagten führt.117 Dieses Ergebnis leuchtet unmittelbar ein, wenn die Schätzung aufgrund von unüberwindbaren Beweisschwierigkeiten notwendig ist oder dann, wenn sich die relevanten Faktoren einer exakten wertmäßigen Berechnung entziehen, sodass durch eine weitere Sachaufklärung gemäß §  244 Abs.  2 StPO der Schätzrahmen nicht weiter eingegrenzt werden kann.118 Die In-dubio-Regel bleibt für die genannte Zweifelssituation aber auch dann anwendbar, wenn die Schätzung allein prozessökonomisch motiviert ist, weitere Ermittlungen also nicht von vornherein aussichtslos, sondern allenfalls wenig praktikabel erscheinen – dies jedenfalls dann, wenn man mit der herrschenden Meinung119 solche Schätzungen als Ausnahme von der Amtsaufklärungspflicht des §  244 Abs.  2 StPO überhaupt zulässt, um einen unverhältnismäßig hohen Ermittlungsaufwand zu vermeiden. Unter dieser Prämisse kann ein relevanter Zweifel im Sinne der In-dubio-Regel bejaht werden, wenn das unsichere Schätzergebnis das Produkt von sämtlichen Aufklärungsbemühungen ist, die noch als prozessökonomisch angesehen werden kön116  Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  71; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  289 mit Nachweisen für die Gegenansicht (Schätzergebnis als rechtlicher Vorgang). 117  Hellmann, GA 1997, 503, 507; Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  72 ff., 88 f.; T. Walter, JZ 2006, 340, 344; a. A. (keine Anwendung der In-dubio-Regel) Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  290 ff. 118 Dazu Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  59 ff. 119  BVerfG, Beschluss v. 01.06.2015 – 2 BvR 67/15, NStZ-RR 2015, 335 (ebd.); siehe dazu Metz, NStZ-RR 2016, 46 (ebd.); BGH, Beschluss v. 10.11.2009 – 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635, 636 Rn.  5, 9; OLG Celle, Urteil v. 24.05.1982 – 1 Ss 106/82, NJW 1984, 185, 186; Radtke in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  40 Rn.  119; Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, Rn.  142.

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts

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nen.120 Es ist allerdings zu bedenken, dass dieses wohl der herrschenden Meinung entsprechende Ergebnis nicht mit dem Willen des Gesetzgebers vereinbar ist. Danach sollte die Schätzbefugnis des §  40 Abs.  3 StGB die Amtsaufklärungspflicht des Richters eigentlich unberührt lassen. Schätzungen, die lediglich den Zweck haben, besonders schwierige oder zeitraubende Feststellungen zu umgehen, wollte er nicht zulassen.121

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts I. Überblick Die In-dubio-Regel ist nicht anwendbar auf die Entscheidung des Gerichts, ob sein konkretes Wahrscheinlichkeitsurteil die Rechtsfolge einer Prognosenorm auslöst. Welches Maß der Überzeugung diesen Umschlagspunkt markiert, ist vielmehr im Wege der Auslegung (dazu Abschnitt III) und vereinzelt im Wege einer zusätzlichen eigenen Interessenabwägung des Gerichts (dazu Abschnitt IV) zu ermitteln. Der Grund liegt in der eingangs in Teil 2 Kapitel A bereits angesprochenen Struktur der Entscheidungsfindung bei der Prognose, weshalb auf diese sogleich in Abschnitt II näher einzugehen ist. Dabei steht von den beiden Entscheidungskomponenten nicht die wissenschaftstheoretische, sondern die rechtliche im Vordergrund.

II. Die Prognoseentscheidung als rechtliches Problem Zur Erinnerung: Die Entscheidungsfindung bei der Anwendung einer Prognosenorm ist zweigeteilt. Sie umfasst einen normativen und einen empirischen Gedankenschritt. Empirisch ist die Frage danach, welcher Wahrscheinlichkeitsgrad – konkret – vorliegt. Darum geht es in Kapitel C. Normativ ist hingegen die Frage danach, welcher Wahrscheinlichkeitsgrad – generell – die Rechtsfolge einer Prognosenorm auslöst. Darum soll es jetzt gehen. 120 

Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  74 f. Schätzung als ultima ratio, BT-Drucks. V/4095, S.  21; diese Vorstellung des Sonderausschusses wird weitgehend ignoriert; gegen die Zulässigkeit von Schätzungen aus prozessökonomischen Gründen aber auch Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  120 f.; Hellmann, GA 1997, 503, 511 ff.; Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  67 ff. Für die Unzulässigkeit von prozessökonomisch motivierten Schätzungen spricht insbesondere, dass der Richter andernfalls dazu neigen könnte, solche Umstände auszublenden, die eine hinreichend sichere Beurteilung nicht erlauben, vgl. Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  291 Fn.  123, der die Frage offenlässt. 121 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Indem der Gesetzgeber beispielsweise in §  63 StGB oder §  56 StGB den normalerweise notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad der vollen Überzeugung durch materiell-rechtliche Vorgaben suspendiert hat, hat er zugleich Vorgaben dazu gemacht, welcher unterhalb der Überzeugung liegende Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht werden muss, damit das Gericht die Rechtsfolge der jeweiligen Norm anwenden darf. Diesen Vorgaben liegt eine Wertentscheidung zugrunde, die den betroffenen Interessen zu einem angemessenen Ausgleich verhilft. Es geht um die Frage, wie hoch das Risiko einer Fehleinschätzung sein darf, und damit um die Entscheidung darüber, welches Interesse schutzwürdiger ist – das Freiheitsinteresse des Einzelnen oder das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit. Das Risiko falscher Negativer wird gegen das Risiko falscher Positiver abgewogen, um zu bestimmen, wann der epistemische Wahrscheinlichkeitsgrad eine günstige Prognose zu einer ungünstigen Prognose werden lässt (oder umgekehrt) und damit hoch genug ist, um die Anwendung der jeweiligen Norm zu rechtfertigen. „Falsche Positive“ sind Probanden, die fehlerhaft als rückfallgefährdet eingestuft werden, „falsche Negative“ werden unzutreffend als nicht rückfallgefährdet eingestuft. Das Gericht will beispielsweise wissen, ab welchem Wahrscheinlichkeitsgrad im Rahmen des §  63 StGB (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) davon auszugehen ist, dass der Angeklagte rückfällig wird. Unterhalb dieser Grenze besteht zwar möglicherweise auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit des zu prognostizierenden Verhaltens, das heißt hier liegt beispielsweise die Rückfallwahrscheinlichkeit des Probanden nicht zwingend bei 0 Prozent. Aber die Wahrscheinlichkeit ist (noch) nicht hoch genug, um die Maßregel anzuordnen. Umgekehrt ist oberhalb der gesetzlichen Grenze die Wahrscheinlichkeit des zu prognostizierenden Ereignisses nicht zwingend eine absolute Gewissheit (100 Prozent), aber sie ist (schon) hoch genug für die Anordnung der Maßregel.122 Volckart nennt diese Grenze den „Umschlagspunkt“123, in der internationalen Prognosewissenschaft sagt man „cutting score“ oder „cutoff“-Wert.124 „Beim Einzelnen geht es um das Entweder-oder. Entweder wir befürchten […] eine neue rechtswidrige Tat oder wir befürchten sie nicht […]. Es ist also eine Entschließung notwendig, ob das Ergebnis als günstig oder als ungünstig beurteilt wird. Der Prognostiker muß dafür wissen, wie weit ‚günstig‘ für ihn reicht bzw. reichen darf und wo ‚ungünstig‘ beginnt, also wo der Umschlagspunkt (‚cutting score‘) vom einen zum anderen liegt.“125

122 

Pollähne, Kriminalprognostik, S.  237. Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  41 f., 43, 51. 124  Pollähne, Kriminalprognostik, S.  237. 125  Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  41; siehe auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S.  382 Rn.  775. 123 

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts

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Je nach Normzweck kann eine höhere oder niedrigere Wahrscheinlichkeit zur Anordnung der jeweiligen Rechtsfolge erforderlich sein. Im Gesetzeswortlaut ist diese Wertentscheidung deshalb jeweils verborgen hinter den vom Gesetzgeber zur Umschreibung eines Wahrscheinlichkeitsurteils verwendeten Begriffen. Das Gericht muss sich für jede Wahrscheinlichkeitsnorm überlegen, was damit gemeint ist. Die vom Gesetzgeber zur Umschreibung eines Wahrscheinlichkeitsurteils verwendeten Begriffe sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die nicht aus sich selbst heraus verständlich sind und deshalb ausgelegt werden müssen.126 „Daß derartige Erfordernisse der Erläuterung bedürfen, ist offensichtlich. Der Begriff der ‚Gefahr‘ gehört zu den unklarsten und schillerndsten Begriffen der Rechtsdogmatik überhaupt. Und auch wann von einer ‚Erwartung‘ im Sinne des Gesetzes gesprochen werden kann, versteht sich nicht von selbst, sondern ist konkretisierungsbedürftig.“127

Teilweise hat der Gesetzgeber die notwendige Abwägung selbst so detailliert vorgenommen, dass sich allein durch Auslegung des Gesetzestextes bestimmen lässt, welcher Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht werden muss. Mit dieser Aufgabe des Rechtsanwenders, Prognosenormen auszulegen, beschäftigt sich Abschnitt III. Teilweise ergibt eine Gesetzesauslegung aber auch, dass der Gesetzgeber die Interessenabwägung dem Rechtsanwender im Einzelfall überlassen hat. Dann muss das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls selbst entscheiden, wo der Umschlagspunkt liegt. Abschnitt IV beschäftigt sich mit dieser Interessenabwägung des Gerichts. Unabhängig davon, ob sich der Umschlagspunkt bereits aus einer Auslegung des Gesetzestextes ergibt oder ob zu dessen Festlegung eine eigene Interessenabwägung durch den Entscheidungsträger erforderlich ist, bleibt es dabei, dass der Satz in dubio pro reo hier nicht ausgesprochen werden darf. „Mit der Erkenntnis, daß es sich hierbei um Rechtsanwendung und nicht um Tatsachenermittlung handelt […], erweisen sich alle Zweifel am Zweifelssatz als unbegründet. Der Satz ‚in dubio pro reo‘ hat mit der Festlegung des Umschlagspunkts rein gar nichts zu tun […].“128

Stattdessen sollte man von in dubio pro ratione legis einerseits (Auslegung) und von in dubio pro libertate andererseits (Interessenabwägung) sprechen. Dass dies nicht das Gleiche ist, zeigen die folgenden Abschnitte dieses Kapitels.

126  Montenbruck, In dubio pro reo, S.  102; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  40; T. Walter, JZ 2006, 340, 342. 127  Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, S.  7. 128  Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  51.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

III. Die Bestimmung des Umschlagspunkts durch Auslegung ohne Rückgriff auf die In-dubio-Regel 1. Keine Anwendbarkeit von in dubio pro reo auf Zweifel in Bezug auf Auslegungsfragen Die In-dubio-Regel greift nicht, wenn der Richter sich fragt, ob die im Einzelfall bestehende epistemische Wahrscheinlichkeit den gesetzlichen Anforderungen der Prognosenorm entspricht. Die normative Komponente der richterlichen Prognose fällt vollständig aus dem Anwendungsbereich der In-dubio-Regel heraus. Die oben skizzierte Entscheidung über den Umschlagspunkt, ab dem eine günstige zu einer ungünstigen Prognose wird, hat der Gesetzgeber in weiten Teilen vorweggenommen, sodass eine allgemeingültige Auslegung des Gesetzestextes die erforderliche Wahrscheinlichkeitsstufe vollständig aufdeckt. So hat der Gesetzgeber beispielsweise für die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung gemäß §  56 StGB umfassend geregelt, welcher Wahrscheinlichkeitsgrad hinsichtlich der künftigen Straffreiheit des Betroffenen erreicht werden muss, damit sie gerechtfertigt ist – unabhängig von den genauen Umständen des Einzelfalls. Der Grund dafür, dass in dubio pro reo bei der Gesetzesauslegung keine Rolle spielt, liegt darin, dass der Richter reine Auslegungsfragen selbst beantworten muss. Er darf sich dabei keiner Entscheidungsregel bedienen, sondern allein der juristischen Methodenlehre. Im Zweifel hat er sich also insbesondere am Gesetzeszweck zu orientieren (teleologische Auslegung), sodass sich auch sagen lässt: Es gilt weder in dubio pro reo noch in dubio contra reum, sondern schlicht in dubio pro ratione legis.129 Hält man sich daran, gibt es stets nur zwei mögliche Entscheidungsalternativen: Liegt der vom jeweiligen Tatbestand geforderte Wahrscheinlichkeitsgrad vor, so muss die daran geknüpfte Rechtsfolge angeordnet werden. Anderenfalls bleibt sie aus.130

129  Zur Geltung dieses „lapidaren“ Satzes im Öffentlichen Recht Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S.  243; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  193 Fn.  38. 130  So bereits T. Walter, JZ 2006, 340, 342; vgl. auch Montenbruck, In dubio pro reo, S.  105 ff. (Aussetzungsentscheidung), 131 ff. (Maßregelanordnung); dass für diese Auslegungsfrage der Rückgriff auf in dubio pro reo verwehrt ist, wird auch für Prognosen im Rahmen der Strafbarkeitsprüfung gesehen: „Ein non liquet in einer Rechtsfrage (um eine solche geht es hier ja) ist hier vielmehr ebenso wenig anzuerkennen wie in anderen Zusammenhängen, das Gericht muss sich vielmehr definitiv zu einer Entscheidung durchringen […].“, Erb in MüKo-StGB Bd.  1, 4.  Aufl. 2020, §  34 Rn.  294.

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts

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2. Der richtige Bezugspunkt der In-dubio-Regel und die unsaubere Trennung der herrschenden Meinung zwischen Tatsache und Recht Die hier vertretene Auffassung, dass die Auslegung des Gesetzestextes ohne Rückgriff auf die In-dubio-Regel zu erfolgen hat, entspricht zwar der ganz herrschenden Meinung. Deren Begründung ist allerdings nicht präzise genug. Im Folgenden soll deshalb eine Ungenauigkeit ausgeräumt werden, die der herrschenden Meinung bei der Bestimmung des Bezugspunkts der Regel in dubio pro reo unterläuft. Für die Frage nach dem richtigen Bezugspunkt der In-dubio-Regel nimmt die herrschende Meinung nämlich eine Trennung zwischen Tatsachenfragen (in dubio pro reo anwendbar) und Rechtsfragen (in dubio pro reo nicht anwendbar) vor, die es so nicht gibt. Die vorliegende Arbeit schließt sich deshalb einer Literaturmeinung an, die dies erkannt und das Gegensatzpaar umformuliert hat in „Gegenstand und Begriff“ oder auch „Sachverhalt und Auslegung“. Statt Tatsachen- und Rechtsfragen voneinander abzugrenzen gilt es nämlich vielmehr, Ober- und Untersatz des juristischen Syllogismus sauber auseinanderzuhalten, also die Auslegung des Gesetzestextes einerseits (in dubio pro reo nicht anwendbar) und die Ermittlung des Subsumtionsstoffes andererseits (in dubio pro reo anwendbar). a) Tatsache und Recht Die Frage danach, an welchen Umständen oder Verhältnissen das Gericht zweifeln muss, damit die In-dubio-Regel Anwendung findet, beantwortet die ganz herrschende Meinung wie folgt: Tatsachenfeststellungen seien im Gegensatz zu rechtlichen Würdigungen der Beweisaufnahme zugänglich. Nur für den Fall, dass das Gericht an Tatsachen zweifelt, solle deshalb in dubio pro reo gelten. Auf die Klärung von Rechtsfragen hingegen solle die Regel nicht anwendbar sein.131 Nicht nur im Straf-, sondern auch im Zivilprozessrecht ist man sich einig, die Beweislast könne nur Unklarheiten im Tatsachenbereich, nicht aber Rechtsfragen klären.132

131  Für

diese allg. Ansicht Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  119; Huber, JuS 2015, 596, 598; Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, 3.  Aufl. 2018, §  261 Rn.  53. 132  Für den Strafprozess Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  185 f.; Volk, NStZ 1983, 423 (ebd.); für den Zivilprozess BGH, Urteil v. 26.10.1983 – IV a ZR 80/82, NJW 1984, 721 f.; Prütting in MüKo-ZPO Bd.  1, 6.  Aufl. 2020, §  286 Rn.  99; die Trennbarkeit von Tat- und Rechtsfrage wird zumeist im Revisionsrecht diskutiert, hat aber auch für das hier zu behandelnde Problem Bedeutung; zu den verschiedenen Zusammenhängen, in denen das „Trennungsproblem“ eine Rolle spielt Scheuerle, AcP 1958, 1 ff.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Das Reichsgericht hat den Tatsachenbegriff in §  186 StGB umschrieben als „etwas Geschehenes oder Bestehendes […], das zur Erscheinung gelangt und in die Wirklichkeit getreten und daher dem Beweise zugänglich ist.“133 Allgemein wird die „Tatsache“ auch folgendermaßen definiert: „Tatsache bedeutet im juristischen Sprachgebrauch – im Gegensatz zum Rechtsbegriff – einen sinnlich wahrnehmbaren oder feststellbaren Zustand oder Vorgang, der einem Nachweis bzw. Beweis zugänglich ist. Tatsachen sind zB Veränderungen an Sachen, menschliche Handlungen, auch geistige oder seelische Zustände wie Kenntnis bestimmter Vorgänge, Wille zu bestimmten Handlungen. Die Tatsachen bilden die Grundlage der Subsumtion und damit der Rechtsanwendung. Einfache Rechtsbegriffe (zB Eigentum, Mietverhältnis) werden wie Tatsachen behandelt, wenn sie zwischen den Parteien oder Beteiligten außer Streit stehen.“134

Diese Definition impliziert zweierlei: Im Gegensatz zu einem Rechtsverhältnis sei eine Tatsache einerseits sinnlich wahrnehmbar oder feststellbar und dadurch beweisbar; andererseits sei sie stets unumstritten. Diese Abgrenzung ist indes problematisch, beschreibt sie doch einen Gegensatz, den es so nicht gibt.135 Richtig ist zwar, dass die Beweisbarkeit eine Eigenschaft von Tatsachenaussagen ist,136 die diese von Werturteilen unterscheidet. Werturteile sind nämlich wissenschaftlich nicht überprüfbar, denn sie beruhen im Gegensatz zu Tatsachenurteilen nicht entscheidend auf Wahrnehmungen. Werturteile können deshalb nicht durch Beobachtungen und Experimente bestätigt oder falsifiziert werden, sondern verleihen nur der persönlichen Überzeugung desjenigen Ausdruck, der das Werturteil ausspricht.137 Von Rechtsverhältnissen kann die Tatsache durch dieses Attribut allerdings nicht abgegrenzt werden: Auch Rechtsfolgen und Rechtsverhältnisse sind beweisbare Gegebenheiten. Gemäß §  293 ZPO kann ein entsprechender Beweis im Zivilprozess sogar erhoben werden. Dass diese Beweismög133  134 

che“.

135 

RG, Urteil v. 21.12.1920 – II 1214/20, RGSt 55, 129, 131. Groh/Werner in Weber (Hrsg.), Creifelds Rechtswörterbuch, 26. Edition 2021, „Tatsa-

T. Walter, JZ 2006, 340, 345; ihm folgend Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  54 ff., 169 ff.; beide auch zum folgenden Text. 136  Tatsachen sind sinnlich wahrnehmbar in die Wirklichkeit getretene Geschehnisse oder Zustände, die dem Beweis zugänglich sind, RG, Urteil v. 23.03.1908 – III 66/08, RGSt 41, 193, 194; Urteil v. 21.12.1920 – II 1214/20, RGSt 55, 129, 131; BGH, Urteil v. 28.06.1994 – VI ZR 252/39, NJW 1994, 2614, 2615 m. w. N. zu dieser st. Rspr.; siehe auch Fischer, StGB, 70.  Aufl. 2023, §  186 Rn.  2; Hilgendorf in LK-StGB Bd.  10, 13.  Aufl. 2023, §  185 Rn.  4; Rege/Pegel in MüKo-StGB Bd.  4, 4.  Aufl. 2021, §  186 Rn.  5 mit Nachweisen zur Rspr. des BVerfG; Valerius in BeckOK-StGB, 57. Edition (Stand: 01.05.2023), §  186 Rn.  2; T. Walter, Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, S.  61 ff.; zu der umstrittenen Frage, ob auch Zukünftiges unter den Tatsachenbegriff fällt, siehe unten C II 2. 137  Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  7; siehe auch T. Walter, Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, S.  63 f.; näher zu den Werturteilen unten C II 2 a.

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts

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lichkeit nur für ausländisches Recht gilt, liegt lediglich daran, dass deutsches Recht dem Gericht bekannt zu sein hat (iura novit curia). Damit zählen auch Rechtsfolgen und Rechtsverhältnisse zu den Tatsachen. Zwar mag es sich dabei nicht um natürliche Tatsachen handeln, die als solche prinzipiell wahrgenommen werden können. Aber auch institutionelle Tatsachen, also gesellschaftlich strukturierte Sachverhalte, die einen Akt geistigen Verstehens erfordern, sind Fakten „innerhalb der Welt des hier und jetzt rechtlich Geltenden.“138 Auch das zweite Abgrenzungsmerkmal überzeugt nicht: Nicht jede tatsächliche Gegebenheit ist unumstritten und umgekehrt lässt sich nicht über jedes Rechtsverhältnis streiten. Letzteres wird nach herrschender Meinung insbesondere in Bezug auf den Tatsachenbegriff des §  186 StGB auf komplizierte Weise dahingehend gelöst, dass unstreitige Rechtsverhältnisse „wie Tatsachen behandelt“ werden sollen (siehe oben).139 Einfacher wäre es, diese wirklich existenten und nachprüfbar bestehenden – wenn auch juristisch konstruierten140 – Gegebenheiten unmittelbar in den Tatsachenbegriff einzubeziehen. Und dass es umstrittene Tatsachenfragen gibt, lässt sich bereits mit einem Hinweis auf solche Tatbestandsmerkmale veranschaulichen, die dem Richter einen Beurteilungsspielraum einräumen. Dazu zählen beispielsweise jene Fragen, zu deren Klärung das Gericht sich normalerweise sachverständiger Hilfe bedient. Etwa betrifft die Frage danach, ob ein Täter im Einzelfall „zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist“ (§  69 Abs.  1 Satz 1 StGB), eine tatsächliche Eigenschaft141 des Täters, die im Beweisverfahren mittels tatrichterlicher (Beweis-)Würdigung142 zu klären ist; dennoch können zwei Sachverständige bei der Beurteilung zu unterschiedlichen (wenn auch jeweils gut vertretbaren) Ergebnissen kommen. Dieser Umstand macht aus der Beurteilung kein Werturteil. Insgesamt ist sie nämlich nach wie vor beweisbar – wenn auch nur bis zu einem bestimmten Toleranzbereich.143

138  Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  105; so auch Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S.  33; zur Einstufung von Rechtsbehauptungen als Tatsachenaussagen Hilgendorf, Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht, S.  208 ff.; T. Walter, Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, S.  66 ff. (Rechtsauskünfte sind Tatsachenurteile, wenn sie – wenn auch nur in den Grenzen des Vertretbaren – nachprüfbar und damit beweisbar sind). 139  Vgl. auch Kargl in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  186 Rn.  26. 140 Vgl. Busse, Juristische Semantik, S.  263 f. 141  Fischer, StGB, 70.  Aufl. 2023, §  69 Rn.  14. 142  Heger in Lackner/Kühl-StGB, 30.  Aufl. 2023, §  69 Rn.  6a. 143  T. Walter, Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, S.  65; T. Walter, JZ 2006, 340, 345; siehe auch Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  54 f.; zur Charakterisierung von Prognosen als Tatsachenurteile unten C II 2.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

b) Subsumtionsstoff und Gesetzesauslegung Eine strikte Trennung zwischen Tatsache und Recht ist folglich nicht möglich und eignet sich schon gar nicht zur Festlegung des Bezugspunkts der Zweifelsregelung. Richtigerweise sollte unterschieden werden zwischen demjenigen, was beweisbar ist, und demjenigen, was allenfalls begründbar ist. Um das Ziel der herrschenden Meinung, die Anwendbarkeit der In-dubio-Regel auf das Beweisbare zu beschränken, widerspruchsfrei zu erreichen, ist eine Umformulierung des Gegensatzpaares vorzunehmen:144 Mit „Tatsachen“ sind eigentlich sämtliche Umstände gemeint, die denjenigen Sachverhalt betreffen, der zum Subsumtionsstoff gehört. Denn dieser ist beweisbar. Die „Rechtsfrage“ meint hingegen die Frage nach der korrekten Auslegung des Gesetzestextes sowie nach einer möglichen Rechtsfortbildung. Dass die herrschende Meinung dies auch eigentlich vor Augen hat, wenn sie von „Rechtsfragen“ spricht, wird durch ihre Erklärung deutlich, Rechtsfragen seien durch Auslegung zu lösen.145 Auch der BGH hat die Feststellung von Tatsachen von der Gesetzesauslegung abgegrenzt: „Der […] Grundsatz, daß im Zweifel zugunsten des Angekl. zu entscheiden ist, […] bezieht sich nur auf die Feststellung von Tatsachen und ist im Bereich der Gesetzesauslegung […] nicht anwendbar.“146

Es geht also um die Feststellung des faktischen Geschehens einerseits und um die Deutung von Rechtssätzen (Gesetz oder Rechtsprechung) andererseits.147 Subsumtionsstoff und Gesetzestext lassen sich am einfachsten voneinander abgrenzen, wenn man sich die Rechtsanwendung als das vor Augen führt, was sie ist, nämlich als einen logischen Syllogismus, bestehend aus Obersatz, Untersatz und Schlussfolgerung:148

144  T. Walter, JZ 2006, 340, 354 f.; ihm folgend Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  45; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  54 ff., 169 f. 145 Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  119; Hecker in Schönke/Schröder-StGB, 30.  Aufl. 2019, §  1 Rn.  51; Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  345; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  71 f. 146  BGH, Beschluss v. 16.12.1959 – 4 StR 484/59, NJW 1960, 540, 541. 147  Vgl. zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage im Revisionsrecht Rüßmann, in Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S.  242–270, 250, 256; dazu auch Jacobs in Stein/Jonas-ZPO Bd.  6, 23.  Aufl. 2018, §  546 Rn.  7; Knauer/Kudlich in MüKoStPO Bd.  3/1, 2019, §  337 Rn.  5; Krüger in MüKo-ZPO Bd.  2, 6.  Aufl. 2020, §  546 Rn.  2 f. 148  Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  91 ff., auch zum folgenden Text; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  18 ff., Rüßmann, in Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S.  242–270; Schnapp, Logik für Juristen, S.  11 ff.

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts Obersatz:

Wenn der Tatbestand T in einem Sachverhalt verwirklicht ist, gilt die Rechtsfolge R.

Untersatz:

Der Sachverhalt S verwirklicht T, d. h. er ist ein ,,Fall“ von T.

Schlussfolgerung:

Für S gilt R.

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Der Obersatz wird durch einen allgemeinen Rechtssatz gebildet, also durch eine Verhaltensregel, die – wie etwa eine Rechtsnorm – in sprachliche Form gebracht wurde. Der Untersatz besteht aus der Unterordnung eines konkreten Sachverhalts unter den Tatbestand dieses Rechtssatzes (sog. „Subsumtion“). Die Schlussfolgerung zeigt, dass die im Rechtssatz genannte Rechtsfolge für den konkreten Sachverhalt gilt. Die Subsumtion, also die Gewinnung des Untersatzes, erfolgt wiederum aus einem logischen Schluss: Obersatz:

Der Tatbestand T ist vollständig gekennzeichnet durch die Merkmale M1, M2, M3.

Untersatz:

S weist die Merkmale M1, M2, M3 auf.

Subsumptionsschluss:

Der Sachverhalt S verwirklicht T, d. h. er ist ein ,,Fall“ von T.

Dabei werden Begriffe von engerem Umfang149 („Unterbegriff“) solchen von weiterem Umfang („Oberbegriff“) logisch untergeordnet, indem man feststellt, dass sämtliche Merkmale des Oberbegriffs in dem Unterbegriff wiederkehren. Damit dies funktioniert, muss einerseits der Oberbegriff definiert (siehe aa) und andererseits der Sachverhalt für den Untersatz ermittelt werden (siehe bb). aa) Auslegung des Gesetzes Dazu gilt es zunächst, den Oberbegriff zu definieren, bis am Ende Merkmale benannt werden, die nicht mehr weiter definiert werden müssen, sondern wahrgenommen oder erfahren werden können (erste Prämisse der Subsumtion). In der Rechtswissenschaft ist also durch Auslegung des von der Norm verwendeten Wortes herauszufinden, welcher Sachverhalt oder Umstand gemeint ist, welcher 149  Der Unterbegriff ist enger, weil er zusätzlich zu den Merkmalen des Oberbegriffs noch mindestens ein weiteres Merkmal aufzeigt.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Sachverhalt sich also unter die Norm subsumieren lässt. Um die Bedeutung eines Ausdrucks zu erkennen, den eine Norm zur Umschreibung des Tatbestandes verwendet, muss der Rechtsanwender „decodieren“150, das heißt den von der Norm (vom Gesetzgeber, von der Rechtsprechung oder einer Lehrmeinung) gemeinten Sachverhalt entschlüsseln, wobei er sich der juristischen Methodenlehre bedient. Dabei spielen auch sprachtheoretische (vor allem semantische) Überlegungen eine Rolle, sodass die Gesetzesauslegung immer zugleich eine semantische Tätigkeit ist.151 Koch/Rüßmann152 sprechen deshalb nicht von „Auslegung“, sondern von „semantischer Interpretation“. Normauslegung ist einer empirischen Überprüfung nicht zugänglich, sondern bedarf einer argumentativen, rechtlichen Würdigung durch eine rechtsgelehrte Person. Hier gilt der Grundsatz, dass dem Gericht das Recht bekannt zu sein hat: Das römische Prinzip iura novit curia besagt, dass der Tatrichter die rechtliche Würdigung eines festgestellten Sachverhalts selbst vornehmen und etwaige Zweifel in diesem Bereich ausräumen muss, ohne auf in dubio pro reo zurückzugreifen. Das Gericht ist auch unabhängig von in dubio pro reo nicht verpflichtet, sich für die mildeste Auslegung zu entscheiden:153 Die Auslegungsregel in dubio mitius („im Zweifel das Mildere“) findet im deutschen Strafrecht keine Anwendung.154 Wenn eine Auslegung zulasten des Angeklagten ausfällt, so ist sie zulässig, sofern sie kunstgerecht ist, also die allgemeinen Auslegungsregeln beachtet. bb) Wahrnehmung und Erfahrung des Subsumtionsstoffes Der Untersatz hingegen ist die Aussage, dass die im Tatbestand des allgemeinen Rechtssatzes genannten Merkmale in dem konkreten Lebensvorgang sämtlich verwirklicht sind. Nicht der Sachverhalt als Lebensvorgang selbst wird also unter einen Oberbegriff subsumiert, sondern eine Aussage über diesen Sachverhalt, eine Aussage über Fakten (ein „singulärer empirischer Satz“155). Um diese Aussage machen zu können, muss der konkrete Sachverhalt auf das Vorliegen der 150 

Wank, Die juristische Begriffsbildung, S.  84. Busse, Juristische Semantik, Berlin 2.  Aufl. 2010; vgl. auch Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S.  205 ff.; Sieckmann, Logik juristischer Argumentation, S.  24 f., 29; Schneider, Grundlagen der Kriminalprognose, S.  43; Wank, Die juristische Begriffsbildung, S.  125. 152  Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  24. 153  T. Walter, JZ 2006, 340, 346. 154 Jedenfalls nicht als Auslegungsregel, Hecker in Schönke/Schröder-StGB, 30.  Aufl. 2019, §  1 Rn.  51; im Rahmen der Wahlfeststellung, die hier nicht weiter interessiert, liest man hingegen durchaus davon, siehe etwa Baur, JA 2018, 569 (ebd.); Sander in Löwe/RosenbergStPO Bd.  7, 27.  Aufl. 2021, §  261 Rn.  241. 155  Rüßmann, in Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S.  242–270, 267. 151 Dazu

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fraglichen Merkmale hin überprüft werden (zweite Prämisse der Subsumtion). Diese Sachverhaltserforschung erfolgt in der Regel durch eigene oder fremde Wahrnehmung oder durch bestimmte Erfahrungen. Die Richtigkeit einer Sachverhaltsannahme kann man also entweder direkt einsehen oder sich erschließen.156 Damit gehört der Sachverhalt zur beweisbaren Tatsachenwelt und damit zum Anwendungsbereich der In-dubio-Regel; mit der Besonderheit allerdings, dass er nicht allein außersprachliche Wirklichkeit umfasst, sondern auch „soziale, durch menschliche Handlungsweisen und Lebensverhältnisse gestiftete Wirklichkeit, und schließlich institutionelle, durch das System des Rechts überhaupt erst hervorgebrachte Wirklichkeit.“157 Umfasst sind damit also auch die nur aufgrund juristischer Regelungen bestehenden (und damit konstruierten) Rechtsbeziehungen wie etwa eine Vertragsbeziehung, die Rechte und Pflichten nach sich zieht.158 c) Gegenstand und Begriff Indem man sich den Bezugspunkt der In-dubio-Regel anhand des juristischen Syllogismus erarbeitet, kann man die Probleme der herrschenden Meinung vermeiden. Auch mithilfe der Semantik kann die Unterscheidung zwischen demjenigen, was Bezugspunkt der In-dubio-Regel sein soll, und demjenigen, was nicht Bezugspunkt dieser Regel sein soll, verdeutlicht werden. Die Semantik beschäftigt sich als Teilbereich der Linguistik mit der Bedeutung von Ausdrücken. Sie grenzt einen realen Gegenstand gegen das zu seiner Beschreibung verwendete Zeichen und die damit verbundene Bedeutung ab. Dieses Verhältnis wird in Form des sog. „semantischen Dreiecks“ dargestellt:159 Begriff

Zeichen

Gegenstand

156  Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  150 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  277; Rüßmann, in Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S.  242–270, 268; Schnapp, Logik für Juristen, S.  93 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S.  75 f. 157  Busse, Juristische Semantik, S.  263. 158  Siehe dazu bereits oben S. 53. 159  Bekannt wurde das semantische (oder: semiotische) Dreieck durch Ogden/Richards, Die Bedeutung der Bedeutung, S.  18; vgl. Wank, Die juristische Begriffsbildung, S.  10 ff., 124 ff., dort auch zu folgendem Text; siehe auch Busse, Semantik, S.  24 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  128 ff.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Um seine Gedanken mitzuteilen, verwendet der Mensch „Zeichen“ (Symbole, Ausdrücke), die das Gedachte umschreiben. Solche Zeichen sind etwa Bilder oder – wie in der Rechtswissenschaft – Wörter. Der „Gegenstand“160 steht für alles, „was Sache ist“, also all das, was tatsächlich vorliegt, woran wir denken oder worauf wir uns beziehen. Hier liegt der Anwendungsbereich der In-dubioRegel. Gemeint ist die Tatsachenwelt, die reale Umstände, Sachverhalte und Ereignisse umfasst. Der Mensch, der an einen Gegenstand dieser außersprachlichen Realität denkt, stellt sich dabei ein bestimmtes Bild vor. Der „Begriff“161 steht für dieses Bild, also dafür, „was gemeint ist“. Hier kommt die juristische Methodenlehre zur Anwendung, mit deren Hilfe das vom Gesetzgeber Gemeinte ermittelt wird.162 3. Zum sogenannten „Mittelfeld“ und zur gesetzeswidrigen Lösung von Frisch Fragt sich das Gericht, welchen Wahrscheinlichkeitsgrad die jeweilige Prognosenorm verlangt, so zweifelt es nicht am Subsumtionsstoff, sondern an der sich an normativen Gesichtspunkten orientierenden Anwendbarkeit der Prognosenorm insgesamt. Durch Auslegung und damit ohne Rückgriff auf die In-dubioRegel lassen sich deshalb auch diejenigen Situationen lösen, in welchen der Richter bei seiner Prognose nur zu 50 Prozent sicher ist, dass das zu prognostizierende Ereignis eintreffen werde. In diesem Fall ist das Gericht zwar völlig ahnungslos, weil kein Ereignis wahrscheinlicher ist als sein Gegenteil. Aber auch dieses Ergebnis ist ein Wahrscheinlichkeitsurteil, das den Tatbestand entweder erfüllt oder eben nicht. Der Subsumtionsstoff selbst ist auch hier nicht zweifelhaft, sondern zweifelhaft ist allein, ob die 50-prozentige Wahrscheinlichkeit eines Ereigniseintritts ausreicht, um die Rechtsfolge der jeweiligen Prognosenorm anzuwenden. Und dies ist wiederum – wie oben dargelegt – ein Problem, dem mit der juristischen Methodenlehre zu begegnen ist und nicht mit einer Entscheidungsregel. Die 50-prozentige Wahrscheinlichkeit wird in der Literatur unter dem Stichwort des sogenannten „Mittelfelds“ diskutiert. Der Begriff wurde von Frisch163 geprägt und die Unanwendbarkeit von in dubio pro reo für diese „Zweifelssitua160  Oder: „der Referent“, „das Bezugsobjekt“, „das Ding“, Ogden/Richards, Die Bedeutung der Bedeutung, S.  16 ff. 161  Oder: „die Bedeutung“, „der Gedanke“, „der Bezug“, Busse, Semantik, S.  32 ff.; Ogden/ Richards, Die Bedeutung der Bedeutung, S.  18; Wank, Die juristische Begriffsbildung, S.  10. 162 Auch T. Walter spricht von „ ‚Gegenstand und Begriff‘ oder ‚Sachverhalt und Auslegung‘ “ und will die In-dubio-Regel nur auf den Gegenstand bzw. den Sachverhalt anwenden, T. Walter, JZ 2006, 340, 345; vgl. auch Adomeit/Hähnchen, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, S.  22 Rn.  33. 163  Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, S.  39 ff.; zu diesem Begriff auch Dünkel/

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tion“ von der Literatur bereits erkannt.164 Eine tiefergehende Ausführung erübrigt sich deshalb. Allein von Frisch selbst will die vorliegende Untersuchung sich an dieser Stelle distanzieren. Zwar will auch er die Mittelfeldproblematik normativ und ohne Rückgriff auf die In-dubio-Regel lösen.165 Die Anwendung der In-dubio-Regel stelle ein „wenig adäquates Verfahren“ dar, das den Gesetzeszweck missachten würde. Frisch fordert aber stattdessen vom Richter eine umfassende Interessenabwägung. Es komme nur darauf an, welche Rechtsfolge verantwortet werden könne. Dabei müssten die jeweiligen Normen teleologisch interpretiert werden. Inhaltlich bleibt es damit zwar bei der gleichen Ausgangsfrage danach, wie der Richter mit Risikosachverhalten (mit der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts) umzugehen, wie er sie also zu bewerten hat.166 Bei der exemplarischen Anwendung seiner Leitlinien für eine Gesetzesinterpretation (etwa Normzweck und betroffene Interessen) auf das Maßregelrecht und die Strafaussetzung zur Bewährung orientiert sich Frisch allerdings überhaupt nicht mehr am Blick in die Zukunft, er lehnt es also ab, die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten überhaupt zu berücksichtigen, geschweige denn, darauf allein abzustellen. Die von Frisch vorgeschlagene Lösung ist deshalb nicht mit dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut vereinbar (woran sich Frisch selbst nicht stört) und damit abzulehnen. Die Risikoabwägung muss zudem richtigerweise schon deshalb die konkrete Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten berücksichtigen, weil nur auf diese Weise die weitest mögliche Ausschöpfung des tatsächlichen Sachverhalts erfolgt (§  244 Abs.  2 StPO), die wiederum gewährleistet, dass die Entscheidung auch einzelfallgerecht ist.167 Die von Frisch vorgeschlagene Lösung leidet zusätzlich noch an anderen Mängeln, die M. Bock168 und Horstkotte169 anschaulich Pruin in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  57 Rn.  113; Streng, in Dölling (Hrsg.), Die Täter-Individualprognose, S.  97–127, 109. 164  Morgenstern in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  66a Rn.  61; Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4.  Aufl. 2018, S.  47 Rn.  B 48; Schneider, Grundlagen der Kriminalprognose, S.  43 f.; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  31; Stree, In dubio pro reo, S.  96; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S.  408 Rn.  824; T. Walter, JZ 2006, 340, 342. 165  Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, S.  51 ff., 164 f.; Frisch, in Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, S.  55–136. 166  So T. Walter, JZ 2006, 340, 343; vgl. auch Schneider, Grundlagen der Kriminalprognose, S.  35. 167  Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S.  111 f., siehe auch Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  245: „Die Möglichkeit kann aber auch nicht, weil sie nur eine Möglichkeit ist, ignoriert werden. Der notwendige Ausgleich kann nur über die Berücksichtigung des Wahrscheinlichkeitsgrades geschaffen werden.“ 168  M. Bock, NStZ 1990, 457, 459 ff. 169  Horstkotte, MschrKrim 1986, 332, 338 f.

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darstellen. Beispielsweise stellt Frisch fokussiert auf eine Persönlichkeitsstruktur ab und vernachlässigt die Spezialprävention. 4. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Erwartung“ Was unter einer „Erwartung“ künftig straffreien Verhaltens (§  56 Abs.  1 StGB) zu verstehen ist, lässt sich durch Auslegung ermitteln. Einer eigenen Interessenabwägung des Gerichts bedarf es bei der Entscheidung über die Aussetzung der Strafe zur Bewährung dagegen nicht.170 Der Gesetzgeber hat die Abwägung von Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit und Freiheitsinteresse des Betroffenen selbst vorgenommen, sodass diese nicht mehr durch das Gericht zu leisten ist: Die verschiedenen Absätze des §  56 StGB stufen die Voraussetzungen an die Strafaussetzung ab und lassen eine Aussetzung im Übrigen nur bei einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren zu (§  56 Abs.  2 Satz 1 StGB). Besonders schwere Straftaten mit einem darüber liegenden Strafrahmen fallen somit automatisch aus dem Anwendungsbereich der Norm heraus. Allerdings führt das bei jeder freiheitsbeschränkenden Maßnahme zu berücksichtigende Verhältnismäßigkeitsprinzip dazu, dass die Befürchtung der Begehung von bloßen Bagatelldelikten der Erwartung künftiger Straffreiheit (§  56 Abs.  1 StGB) nicht entgegensteht – obwohl der Wortlaut der Norm eine solche Einschränkung nicht vorsieht.171 Wie hoch die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit nun sein muss, damit von einer „Erwartung“ gesprochen werden kann, ist umstritten. Nach richtiger Ansicht muss aber bereits eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent172 genügen. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe kann also bereits dann zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn der Richter sich über die zukünftige Straffreiheit vollkommen im Unklaren ist (etwa weil genauso gewichtige Hinweise dafür wie dagegen sprechen). Es muss deshalb der Rechtsprechung und herrschenden Meinung widersprochen werden, die verlangt, dass die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit größer ist als diejenige neuer Straftaten (Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent).173 Zwar ergibt sich das Ausreichen einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit noch nicht allein aus dem Gesetzeswortlaut, weil der Begriff 170  BT-Drucks. I/3713, S.  26 ff.; BT-Drucks. IV/650, S.  197 f.; BT-Drucks. V/4094, S.  10 f.; BT-Drucks. V/4095, S.  24. 171  Für diese h. M. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S.  111; Groß in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  56 Rn.  3, 18; Kinzig in Schönke/Schröder-StGB, 30.  Aufl. 2019, §  56 Rn.  16. 172  Zu den grundsätzlich denkbaren Wahrscheinlichkeitsstufen siehe S.  17, 149. 173  Für diese h. M. BGH, Beschluss v. 13.08.1997 – 2 StR 363/97, NStZ 1997, 594; Fischer, StGB, 70.  Aufl. 2023, §  56 Rn.  4a; Heger in Lackner/Kühl-StGB, 30.  Aufl. 2023, §  56 Rn.  8; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S.  110 f.; Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, Rn.  204 f.; Stree, In dubio pro reo, S.  109 ff.

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der „Erwartung“ so ungenau ist, dass sich ein genauer Wahrscheinlichkeitsgrad daraus nicht entnehmen lässt.174 Allgemein versteht man darunter lediglich (irgend-)einen „Zustand des Wartens“ oder (irgend-)eine „vorausschauende Vermutung“,175 also die „gedankliche Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse oder Entwicklungstendenzen“176. Der Gesetzeszweck hingegen ist eindeutig. Denn Zweck der Strafaussetzung zur Bewährung ist es, die Vollstreckung von Freiheitsstrafen zu vermeiden, wenn man ihrer zu Abschreckungszwecken nicht bedarf, wenn sich der Verurteilte also „schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird“ (§  56 Abs.  1 StGB). Um diesen Zweck zu erreichen, muss die Strafaussetzung bereits dann erfolgen, wenn die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten genauso hoch ist wie die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit. Denn nur dann kann garantiert werden, dass unnötige Freiheitsstrafen wirklich vermieden werden.177 Wird der notwendige Wahrscheinlichkeitsgrad nicht erreicht, so kann die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Weil die herrschende Meinung entgegen der hier vertretenen Auffassung die 50-prozentige Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit nicht genügen lässt, setzt sie in dieser Konstellation der völligen Ahnungslosigkeit die Strafvollstreckung konsequent „contra reum“ nicht zur Bewährung aus.178 Die herrschende Meinung erkennt dabei erfreulicherweise,179 dass die In-dubio-Regel für diesen Fall nicht anwendbar ist, sondern sich die Unanwendbarkeit der Norm allein aus deren Wortlaut und Zweck ergibt.

174  Frisch, in Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, S.  55–136, 113. 175  Duden, Erwartung, https://www.duden.de/rechtschreibung/Erwartung (zuletzt aufgerufen am 28.05.2023). 176 Brockhaus, Erwartung, https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/erwartung-psychologie (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023). 177  Frisch, in Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, S.  55–136, 112; T. Walter, JZ 2006, 340, 342; vgl. mit weiteren Argumenten Terhorst, MDR 1978, 973, 975 f.; vgl. auch Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S.  837. 178  Für §  56 StGB BGH, Urteil v. 22.11.1991 – 2 StR 225/91, juris Rn.  15 = StV 1992, 106; Beschluss v. 28.02.1990 – 3 StR 28/90, juris Rn.  4 = BGHR StGB §  56 Abs.  1 Sozialprognose 13; Hubrach in LK-StGB Bd.  5, 13.  Aufl. 2022, §  56 Rn.  12; Stree, In dubio pro reo, S.  112; dazu Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  101 ff.; ebenso für Entlassungs- und Aussetzungsentscheidungen im Maßregelrecht OLG Köln, Beschluss v. 15.02.1955 – Ws 31/55, BeckRS 9998, 122156 Leitsatz 3 = NJW 1955, 682; Bruns, JZ 1958, 647, 651; Heger in Lackner/Kühl-StGB, 30.  Aufl. 2023, §  61 Rn.  5; Radtke in LK-StGB Bd.  5, 13.  Aufl. 2022, Vor §  61 Rn.  60 ff.; Stree, In dubio pro reo, S.  108. 179 Das ist nicht selbstverständlich, denn im Rahmen der Gefahrenprognose wendet die h. M. durchaus fälschlicherweise die In-dubio-Regel an, siehe unten B IV 3.

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IV. Die Bestimmung des Umschlagspunkts durch Interessenabwägung ohne Rückgriff auf die In-dubio-Regel 1. Keine Anwendbarkeit von in dubio pro reo auf Zweifel in Bezug auf den Ausgang einer Interessenabwägung Die In-dubio-Regel ist auch dann nicht anwendbar, wenn der Rechtsanwender die Prognosenorm nicht nur auslegen muss, sondern selbst die betroffenen Interessen abwägen und damit hinsichtlich des erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrads eine Einzelfallentscheidung treffen muss. Die notwendige Interessenabwägung zur Bestimmung des Umschlagspunkts, der eine positive Prognose zu einer negativen werden lässt, ist etwa dann vom Gesetzesanwender im jeweiligen Einzelfall selbst anzustellen, wenn es um die Beurteilung einer „Gefahr“ geht – so etwa im Rahmen der Maßregelanordnung nach §  63 StGB. Hierbei darf der Tatrichter sich genauso wenig einer Entscheidungsregel bedienen wie im Rahmen einer Gesetzesauslegung. Er hat sich stattdessen an den für Abwägungsentscheidungen maßgeblichen Prinzipien zu orientieren, die das Verfassungsrecht bereithält. Dazu zählt insbesondere das Freiheitsgrundrecht aus Art.  2 GG. Prinzipien wie dieses Freiheitsgrundrecht sind nämlich gegeneinander abwägbar. Das ist eine Eigenschaft, die der Regel in dubio pro reo nicht zukommt, was sie von vornherein für Abwägungsentscheidungen unbrauchbar macht. Es gilt daher, streng zwischen Regeln und Prinzipien zu unterscheiden. Wird der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad so, wie er durch Interessenabwägung festgelegt wurde, nicht erreicht, so muss die Ablehnung einer Unterbringungsanordnung richtigerweise schlichtweg darauf gestützt werden, dass das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen der Rechtsfolgenanordnung im Weg steht. Das Ergebnis, dass das konkrete Wahrscheinlichkeitsurteil des Gerichts nicht hoch genug ausfällt, um die Rechtsfolge der Gefahrenprognosenorm anzuordnen, kann also nur darauf zurückzuführen sein, dass das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen eine höhere Wahrscheinlichkeit verlangt. Mit einer durch eine Regel vorgegebenen Entscheidung pro reo hat dies nichts zu tun. a) Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip Gemäß der Prinzipientheorie von Dworkin und Alexy gibt es einen logischen Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien.180 Folgende logische Eigenschaften machen danach eine Unterscheidung der beiden Rechtsnormtypen möglich: 180  Alexy, Theorie der Grundrechte, Neudruck der Ausgabe von 1985, 5.  Aufl., Frankfurt/M. 2006; Dworkin, Bürgerrechte ernst genommen, Frankfurt/M. 1984; zu Dworkin und Alexy siehe auch Heinold, Die Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, Berlin 2011, dort insbes. S.  302 ff., 308 ff. zum folgenden Text; dazu auch Larenz/Canaris, Methodenlehre

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Prinzipien (und Grundsätze181) sind zunächst Normen, die eine Wertung enthalten und fordern, dass diese Wertung im Einzelfall berücksichtigt und interpretiert wird. Prinzipien können gegeneinander abgewogen werden, können sich also im Einzelfall gegen andere Prinzipien als bloße Gründe für Entscheidungen durchsetzen, müssen dies aber nicht unbedingt in jedem Fall auch tun. Außerdem haben Prinzipien keine starre Rechtsfolge, sondern sie sind lediglich bei der Entscheidung als sog. Optimierungsgebote zu berücksichtigen. Damit „erlauben sie noch keine Entscheidungslösung, sondern sind nur eine Entscheidungshilfe.“182 Regeln hingegen gelten entweder ganz oder gar nicht („Alles-oder-Nichts-Anwendbarkeit“). Ist eine Regel anzuwenden, so wird unter sie subsumiert und die Rechtsfolge der Regel wird bei erfolgreicher Subsumtion angeordnet. Regeln erlauben eine Ja-Nein-Entscheidung: sie sind konkret und anwendungsbezogen, müssen nicht mehr interpretiert werden. Regeln gelten, das heißt sie schreiben ein Verhalten zwingend vor und können daher miteinander in Konflikt geraten – in diesem Fall muss entweder die Geltung einer der konfligierenden Regeln verneint werden oder es muss eine Ausnahme zu einer der Regeln eingeführt werden. Prinzipien hingegen haben keine unumstößliche Geltung, sondern (nur) ein gewisses Gewicht; sie können daher auch nicht miteinander konfligieren, sondern allenfalls kollidieren. Im Kollisionsfall werden Prinzipien abgewogen; das unterlegene Prinzip tritt sodann zurück – es verliert dabei aber nicht sein Gewicht. Auch mit Regeln können Prinzipien nicht konfligieren. Prinzipien können aber zu Ausnahmen von Regeln führen oder eine Regel aufheben, falls Regeln untereinander in Konflikt geraten. Nach Alexy gilt das Abwägungsgesetz: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muß die Wichtigkeit der Erfüllung eines anderen sein.“183 b) Das Freiheitsgrundrecht als abwägbares Prinzip Zu den abwägbaren Prinzipien gehören nach Alexy insbesondere die in der Verfassung verankerten Grundrechte, wie Freiheit (Art.  2 GG) und Gleichheit (Art.  3 GG).184 Die Freiheit des Betroffenen darf vom Staat nicht ohne weiteres eingeschränkt werden – sie muss aber auch nicht um jeden Preis gewahrt werden. Erder Rechtswissenschaft, S.  303; Möllers, Juristische Methodenlehre, S.  306 f. Rn.  11 ff.; Porscher, RW 2010, 349, 349 f.; Schulz, Normiertes Misstrauen, S.  246 ff., 250 ff. 181  Die Begriffe „Prinzip“ und „Grundsatz“ werden synonym gebraucht, vgl. Möllers, Juristische Methodenlehre, S.  306 Rn.  11; Brockhaus, Grundsatz, https://brockhaus.de/ecs/enzy/ article/grundsatz-allgemein (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023). 182  Möllers, Juristische Methodenlehre, S.  307 Rn.  12. 183  Alexy, Theorie der Grundrechte, S.  146. 184  Nachweis bei Schulz, Normiertes Misstrauen, S.  251 Rn.  128.

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forderlich ist eine Abwägung der miteinander in Konflikt geratenen Interessen „Freiheit“ des Einzelnen und „Sicherung“ der Allgemeinheit. Bereits bei der Gesetzgebung, aber natürlich auch bei der Gesetzesanwendung durch den Richter muss dem Freiheitsgrundrecht ausreichend Beachtung geschenkt werden. Anschaulich formuliert das Bundesverfassungsgericht: „Das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutsverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. […]. Materiell fordert das Übermaßverbot, die Sicherungsbelange und den Freiheitsanspruch des Untergebrachten im Einzelfall abzuwägen […]. Der Richter hat im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen. […]. Der Einfluss des […] Freiheitsanspruchs stößt jedoch dort an Grenzen, wo es nach Art und Maß der von dem Untergebrachten drohenden Gefahren vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Untergebrachten in [die] Freiheit zu entlassen […].“185

Weder der Freiheitsanspruch des Einzelnen noch das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit stellt für sich genommen eine strenge Regel auf, die stets zu befolgen ist. Als Prinzipien wollen beide Interessen allerdings stets gebührend beachtet werden. Im Einzelfall kann ihre Abwägung sehr unterschiedlich ausfallen: Sowohl die Vorherrschaft des Freiheitsanspruchs vor der allgemeinen Sicherheit als auch umgekehrt der Triumph der Sicherheit über die individuelle Freiheit sind mögliche Abwägungsergebnisse. c) Die „Freiheitsvermutung“ als „Prima-facie-Vorrang“ des Freiheitsgrundrechts (in dubio pro libertate) Dabei gilt allerdings die sogenannte „Freiheitsvermutung“186, wonach man sich im Falle einer Kollision des Freiheitsrechts mit einem anderen Prinzip nach ersterem zu richten hat, sofern gleich gute Gründe dafür wie dagegen sprechen. Das Freiheitsgrundrecht genießt nach Alexy „Prima-facie-Vorrang“. Prinzipien seien auf gewisse Weise in ihrem Rang geordnet und namentlich das Freiheitsgrundrecht habe einen höheren Rang und damit mehr Gewicht als andere Prinzipien. Im Falle einer Prinzipienkollision mit Begründungspatt setze es sich deshalb durch.187 Dieser Prima-facie-Vorrang ist eine Vermutung, die dem ersten An-

185 

BVerfG, Urteil v. 05.02.2004 – 2 BvR 2029/01, NJW 2004, 739, 742. BVerfG, Urteil v. 22.03.1983 – 1 BvR 154/81, NJW 1983, 2627; Marschner et. al., Freiheitsentziehung und Unterbringung, 6.  Aufl. 2019, S.  54 f. Rn.  114. 187  Alexy, Theorie der Grundrechte, S.  516 ff.; Braum, ZRP 2004, 105, 107; Möllers, Juristische Methodenlehre, S.  339 Rn.  21; Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4.  Aufl. 2018, S.  45 f. Rn.  B 45; Schulz, Normiertes Misstrauen, S.  250 f. 186 

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schein nach (prima facie188) für eine bestimmte Rechtslösung spricht, nämlich für eine Lösung zugunsten des Freiheitsrechts des Betroffenen. „Vermutung“ ist damit in der Weise zu verstehen, dass ein Sich-Durchsetzen des Freiheitsrechts des Betroffenen solange angenommen wird, bis das Überwiegen eines anderen Interesses begründet wurde.189 Eine Vermutung kann widerlegt werden, von der gemachten Annahme darf – im Unterschied zu einer strengen Vorrangregel – abgewichen werden. Um dieser Bedeutung des Freiheitsrechts gerecht zu werden, müssen die Voraussetzungen für die Anordnung und Aufrechterhaltung freiheitsentziehender Maßnahmen möglichst konkret gestaltet sein sowie im Einzelfall zweifelsfrei vorliegen. Dazu gehört auch die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Das Bundesverfassungsgericht erklärt: „In der genannten Entscheidung190 ist ebenfalls schon klargestellt worden, Einschränkungen der persönlichen Freiheit seien in den gesetzlich vorgesehenen Fällen stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen [und] […] der Richter [sei] zu einer besonders sorgfältigen Prüfung der Unterbringungsvoraussetzungen aufgerufen […]. Hiermit stimmt die […] Auffassung überein, Freiheitsentziehungen dürften nur angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn keine Zweifel am Vorliegen sämtlicher gesetzlicher Voraussetzungen bestünden (in dubio pro libertate […]).“191

Die Aussage in dubio pro libertate stammt aus dem römischen Recht und stellt heute lediglich klar, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen legitimiert werden müssen. Sie betont also lediglich die Notwendigkeit von (gesetzlich) geregelten Eingriffsbefugnissen und die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, welche sich aus der Freiheitsvermutung ergeben:192 „Der Prima-facie-Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit deckt sich weitgehend mit der ‚grundsätzlichen Freiheitsvermutung‘ des Bundesverfassungsgerichts und dem Grundsatz 188 

Lat.: „erstes Gesicht“, d. h. dem ersten Anschein nach oder auf den ersten Blick. Möllers, Juristische Methodenlehre, S.  3 Rn.  88. 190  BVerfG, Beschluss v. 07.10.1981 – 2 BvR 1194/80, NJW 1982, 691. 191  BVerfG, Beschluss v. 22.03.1983 – 1 BvR 154, 82, NJW 1983, 2627; siehe auch Marschner et. al., Freiheitsentziehung und Unterbringung, 6.  Aufl. 2019, S.  54 f. Rn.  114. 192  Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  32 m. w. N.; vgl. auch Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S.  192. Ursprünglich betraf die Aussage in dubio pro libertate nur die Frage, ob jemand Sklave war oder nicht, Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, S.  103. Im Zweifel wurde angenommen, eine Person sei kein Sklave, sondern frei. Im heutigen Öffentlichen Recht wurde in dubio pro libertate anfangs zur Verfassungsinterpretation herangezogen. Gesetze waren danach verfassungskonform (v. a. im Hinblick auf die Freiheitsrechte des Individuums) auszulegen, Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S.  190; Möllers, Juristische Methodenlehre, S.  164 Rn.  17, S.  215 Rn.  40; Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4.  Aufl. 2018, S.  45 Rn.  B 45. 189 Vgl.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

‚in dubio pro libertate‘.“193 Die Wendung in dubio pro libertate kann somit als „Argumentationslastregel“ bezeichnet werden, die lediglich schlagwortartig die Begründungslast oder Argumentationslast für staatliche Eingriffe widerspiegelt, die sich aus der Anerkennung der allgemeinen Handlungsfreiheit ergibt.194 Eine Argumentationslastregel sagt aus, dass die vom Rechtsanwender gewünschte Rechtsfolge methodisch überzeugend begründet werden muss, um eintreten zu können.195 Die begründungsbedürftige Ausnahme ist nicht das Freiheitsinteresse des Einzelnen, dieser muss seine Freiheitssphären gegenüber dem Staat nicht unter Beweis stellen. Sondern begründet werden müssen die staatlichen Eingriffe in die Freiheitssphären des Einzelnen, mithin das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit.196 Das Grundgesetz legt die Werterelation fest, die zwischen Staat und Bürger besteht und diese Werterelation bestimmt sich (im Öffentlichen Recht, aber auch unter Anwendung der Maßregelvollzugsgesetze) zuvörderst nach den freiheitlichen Rechten des Bürgers. Nach der Ausgangsvermutung soll sich jeder Mensch in Freiheit selbst bestimmen dürfen. Freiheitsbeschränkung soll nur dort zulässig sein, wo sie zur Erhaltung des Einzelnen oder zum Schutz der Gesellschaft unerlässlich ist.197 Es wird also streng darauf geachtet, dass sämtliche Voraussetzungen einer freiheitsentziehenden Maßregel vorliegen, bevor diese angeordnet werden kann. d) In dubio pro reo als unabwägbare Regel Der Ausspruch in dubio pro reo enthält eine abwägungsfeste Regel und kein abwägbares Prinzip. Dieser Umstand macht in dubio pro reo für Abwägungsentscheidungen (wie die Frage danach, ob eine „Gefahr“ bejaht werden kann) unanwendbar. aa) Geltungsgrund von in dubio pro reo bei der Bestrafung Dass der Ausspruch in dubio pro reo eine abwägungsfeste Regel enthält und kein Prinzip, ergibt sich aus seinem Geltungsgrund. Die Frage danach, warum bestimmte Zweifelsfälle gerade pro reo und nicht anders zu lösen sind, wird in

193 

Alexy, Theorie der Grundrechte, S.  517, Rechtschreibung angepasst. Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  70; von Heintschel-Heinegg in BeckOKStGB, 57. Edition (Stand: 01.05.2023), §  1 Rn.  58; Stuckenberg, JA 2000, 568, 571; vgl. auch Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, S.  428 ff. 195  Möllers, Juristische Methodenlehre, S.  31 Rn.  90. 196  Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  70; siehe auch Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S.  190, dort auch zum folgenden Text. 197  Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  69 f. 194 

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts

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Praxis und Literatur nach wie vor unterschiedlich beantwortet.198 Nach richtiger Ansicht199 liegt der Geltungsgrund der In-dubio-Regel im verfassungsrechtlich verankerten Rechtsstaatsprinzip (vgl. Art.  20 Abs.  3 GG). Danach hat sich die staatliche Gewalt an Recht und Gesetz zu halten. Das bedeutet insbesondere, dass der Staat die Grundrechte der Bürger und deren Bedeutung achten muss – dabei vor allem das Freiheitsgrundrecht des Individuums (Art.  2 Abs.  2 Satz 2 GG) und die Menschenwürdegarantie (Art.  1 Abs.  1 GG):200 Die Menschenwürde ist unantastbar. Die In-dubio-Regel soll dies sicherstellen, indem sie gewährleistet, dass immer dann zugunsten des Angeklagten zu entscheiden ist, wenn andernfalls seine Menschenwürde in Frage gestellt würde. Zunächst ist die Freiheitsvermutung zu beachten (siehe oben b und c), wonach der Staat Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht des Bürgers rechtfertigen muss. Aufgrund der besonderen Eingriffsintensität von Kriminalstrafen, welche die Freiheit des Betroffenen nicht nur einschränken, sondern sie diesem (vorübergehend) vollkommen entziehen, ist zur Rechtfertigung eine besonders gute Be198  Eine nähere Auseinandersetzung mit den vertretenen Meinungen findet sich bei Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  48 ff.; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  41 ff.; folgende Auffassungen werden vertreten: Sarstedt will die In-dubio-Regel aus den strafrechtlichen Verbotsnormen unmittelbar herleiten, Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, S.  272 Rn.  383; teilweise wird die Geltung der In-dubio-Regel auch auf die Unschuldsvermutung (Art.  6 Abs.  2 EMRK) gestützt, A. Müller, AO-StB 2004, 156 (ebd.); Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn.  272 (zusätzlich §§  244 Abs.  2, 261 Abs.  1 StPO); Stree, In dubio pro reo, S.  17 (zusätzlich Schuld- und Rechtsstaatsprinzip); nach anderer Ansicht liegt der Geltungsgrund der In-dubio-Regel im Schuldprinzip, Fischer in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, Einl. Rn.  50; Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  80 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S.  352 f.; H. Peters, In dubio pro reo, S.  98; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, §  45 Rn.  56; Stree, In dubio pro reo, S.  17 (zusätzlich Unschuldsvermutung und Rechtsstaatsprinzip); G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  87 Fn.  4; Zopfs wiederum meint, das Warum von in dubio pro reo sei auf Gewohnheitsrecht zurückzuführen, Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  328 ff. (beachte aber ders., S.  263: Rechtfertigung „mit rechtsstaatlichen Grundsätzen“); nach richtiger Ansicht liegt der Geltungsgrund für in dubio pro reo im Rechtsstaatsprinzip, dazu Teil 3 Fn.  199. 199  BGH, Beschluss v. 19.02.1963 – 1 StR 318/62, NJW 1963, 1209, 1210; Beulke, Strafprozessrecht, S.  29 Rn.  25 (zusätzlich Unschuldsvermutung); Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  45; Frisch, in Roxin et al. (Hrsg.), FS-Henkel, S.  273– 286, 284 f.; Hamm, Die Revision in Strafsachen, S.  18 Rn.  42; Kamps/Wulf, DStR 2003, 2045, 2050; Mann/Mann, ZStW 1964, 264, 277; Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung, Teil 1, Rn.  198 Fn.  350; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  48 ff.; Schwabenbauer, NStZ 2014, 495, 496; Sontheimer, DStR 2014, 357, 360; Stree, In dubio pro reo, S.  15 (zusätzlich Unschuldsvermutung und Schuldprinzip); T. Walter, JZ 2006, 340, 345; a. A. Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  53 f.; Sax, in Spendel (Hrsg.), FS-Stock, S.  143–169, 161. 200  Mann/Mann, ZStW 1964, 264, 275 ff.; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  48 ff.; T. Walter, JZ 2006, 340, 345.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

gründung notwendig. Dazu gehört insbesondere, dass ein Strafausspruch nur erfolgen darf, wenn seine gesetzlich festgelegten Voraussetzungen bejaht werden können (in dubio pro libertate). Die Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht gewährleistet den nötigen Respekt gegenüber der individuellen Freiheit. „Das Strafrecht ist […] nicht irgendein öffentliches Recht, und seine Eingriffe in Freiheit, Eigentum und das Persönlichkeitsrecht sind nicht irgendwelche Eingriffe, sondern ausgesucht unangenehm, […] sogar die schärfsten Waffen des Staates.“201

In Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes wird diese besondere Rechtfertigungspflicht des Staates dann, wenn es um eine Bestrafung geht, zu einer strengen Beweislastverteilung202 zugunsten des betroffenen Bürgers und zulasten des Staates. Die Bestrafung eines Unschuldigen würde einen Konflikt mit der Menschenwürde bedeuten, weil die Bestrafung einen sozialethischen Vorwurf enthält: „In einem Rechtsstaat, dem die Würde des Menschen oberstes Schutzgut ist, muss davon ausgegangen werden, dass sich der einzelne Mensch grundsätzlich in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung verhält; will der Staat ein Verhalten bestrafen, das auf normwidriger Willensbildung […] beruht, so muss er die gesetzlichen Voraussetzungen vollumfänglich nachweisen – sonst würde der Beschuldigte zum bloßen Objekt der staatlichen Gewalt herabgesetzt. Denn die Verurteilung eines tatsächlich Unschuldigen wird als eine der denkbar schwersten Ungerechtigkeiten empfunden, der das wesentlich geringere Übel gegenübersteht, dass aufgrund mangelnder Erfüllbarkeit der staatlichen Nachweispflicht ein tatsächlich Schuldiger unbestraft bleiben kann.“203

Das dem Rechtsstaatsprinzip immanente Gerechtigkeitsgebot fordert hier im Zweifel eine Entscheidung pro reo.204 Der Bürger darf nur bestraft werden, wenn das Vorliegen sämtlicher Umstände nachgewiesen werden kann, auf die es für eine Bestrafung ankommt, also vor allem die Schuld des Betroffenen,205 aber auch Prozessvoraussetzungen, die eine ordentliche Strafverfolgung gewährleisten sollen.206 Dass der Schuldnachweis überhaupt erforderlich ist, ergibt sich da201 

T. Walter, JZ 2006, 340, 345. Zur Beweislast im Strafprozess unten B IV 1 d cc. 203  Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  51. 204  Frisch, in Roxin et al. (Hrsg.), FS-Henkel, S.  273–286, 285, Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  52. 205  „Ursprünglich wird der Satz, daß Zweifel im Tatsächlichen dem Angeklagten nicht zum Nachteil sein dürfen, sondern zu seinen Gunsten ausschlagen müssen, im Recht des Schuldbeweises angewendet. Da nur der wirklich Schuldige Strafe verwirklicht, muß straflos ausgehen, wessen Schuld nicht zweifelsfrei feststeht und wer daher möglicherweise unschuldig ist.“, BGH, Beschluss v. 19.02.1963 – 1 StR 318/62, NJW 1963, 1209 (ebd.); dazu Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  263. 206  Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  126 ff.; zu der Frage, ob in 202 

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bei aus dem Schuldprinzip, das – wie die In-dubio-Regel selbst – auf das Rechtsstaatsprinzip unter besonderer Berücksichtigung der Menschenwürdegarantie zurückzuführen ist.207 Als Beweislastregel stellt in dubio pro reo daneben klar, dass es der Staat ist, der den Nachweis für die Schuld zu erbringen hat. „Zwar ist […] das Schuldprinzip nicht der Geltungsgrund des Zweifelssatzes. Aber ihre gemeinsame Wurzel, das Rechtsstaatsprinzip, verlangt sowohl, dass Strafe an den gesetzlichen Nachweis der Schuld gebunden sein muss (Schuldprinzip), als auch dass für diesen gesetzlichen Nachweis die Beweislast auf Seiten des Staates liegt (Zweifelssatz).“208

Die In-dubio-Regel enthält somit eine Handlungsanweisung an das Gericht für den Fall, dass es an einer für den Strafausspruch notwendigen Voraussetzung fehlt. Diese Handlungsanweisung ist strikt und ausnahmslos einzuhalten, weil andernfalls der Beschuldigte zum Objekt staatlichen Handelns degradiert würde. Eine Abwägung findet im Anwendungsbereich von in dubio pro reo nicht statt. Im Falle fehlender Gewissheit hat das Gericht stets zugunsten des Angeklagten zu entscheiden. In dubio pro reo ist folglich eine Regel. Diese Regel ist übrigens auch nicht überflüssig, nur weil sie sich unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten lässt. Das aufgeklärte, rechtsstaatliche Verständnis unseres heutigen Rechtssystems hat sich in den letzten Jahrhunderten erst entwickelt und war nicht immer selbstverständlich. Es ist deshalb und auch mit Rücksicht auf mehr Rechtssicherheit wichtig, positive Regeln zu formulieren, die dieses Bewusstsein aufrechterhalten und verfestigen. Eindrücklich erklärt Zopfs: „In gleicher Weise müßte dann auch z. B. §  136a StPO als überflüssig bezeichnet werden, da dessen Inhalte sich auch im strafprozessualen ‚Fair-Trial-Prinzip‘ wiederfinden.“209

Es ist nach allem gar wünschenswert, dass die Regel in dubio pro reo in der einfachgesetzlichen Strafprozessordnung festgeschrieben wird. dubio pro reo für Verfahrensvoraussetzungen gilt, siehe auch T. Walter, Strafprozessrecht, S.  43 f. Rn.  124–129. 207  Zum Schuldprinzip als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips BVerfG, Beschluss v. 25.10.1966 – 2 BvR 506/63, NJW 1967, 195, 196; Adam et al., NStZ 2017, 7, 7 f.; Radtke in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, Vor §  38 Rn.  14; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  49 f.; vgl. auch Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  59 Fn.  103, S.  177, 259; auch die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, BVerfG, Urteil v. 26.03.1987 – 2 BvR 589/79, 2 BvR 740/81, 2 BvR 284/85, NStZ 1987, 421 (ebd.); zur Bedeutung der Menschenwürdegarantie für das Schuldprinzip in der Rechtsprechung des BVerfG Adam et al., NStZ 2017, 7, 7 f.; vgl. auch Frisch, NStZ 2013, 249, 250. 208  Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  53; kritisch Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  53 f. 209  Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  333.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

bb) Sprachliche Feinheiten Weil es sich bei in dubio pro reo um eine Regel handelt, sollte auch ausschließlich von der „In-dubio-Regel“ gesprochen und die Wortwahl der herrschenden Meinung vermieden werden, wonach häufig von einem „Zweifelssatz“210, dem „(Zweifels-)Grundsatz“ oder „Prinzip“ in dubio pro reo die Rede ist.211 Besonders ungenau ist die in den zitierten Stellen zu findende Aussage, dass der „Zweifelsgrundsatz“ eine Entscheidungsregel sei.212 cc) Zur Beweislast im Strafprozess Teile der Literatur213 bezeichnen die In-dubio-Regel aufgrund der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Beweislastverteilung auch als Beweislastregel.214 Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass Beweislastfragen im 210  Als

„Satz“ lässt sich die In-dubio-Regel fraglos bezeichnen, vgl. zum Verhältnis der Begriffe „Rechtssatz“ und „Regel“ auch Möllers, Juristische Methodenlehre, S.  307 Rn.  14; jedoch wird in der vorliegenden Arbeit auch dieser Begriff vermieden, um Missverständnisse zu vermeiden, die aufgrund seiner Ähnlichkeit zu dem Begriff „Grundsatz“ auftauchen können. 211  So bereits die Titel einiger Werke: Arzt, Ketzerische Bemerkungen zum Prinzip in dubio pro reo, Berlin/New York 1997; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, Baden-Baden 1999; ebenfalls von einem Grundsatz oder Prinzip sprechen beispielsweise: Fischer, StGB, 70.  Aufl. 2023, §  1 Rn.  34; Huber, JuS 2015, 596 (ebd.); Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  45; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 66.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  26; Stuckenberg, JA 2000, 568 (ebd.); Streng in MüKo-StGB Bd.  1, 4.  Aufl. 2020 §  20 Rn.  29; Tiemann in KKStPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  81; Werner in Creifelds, Rechtswörterbuch, 26. Edition 2021, „in dubio pro reo“; auch die Rechtsprechung verwendet diese Wortwahl: BVerfG, Beschluss v. 17.07.2007 – 2 BvR 496/07, NStZ-RR 2007, 381; BGH, Urteil v. 21.10.2008 – 1 StR 292/08, NStZ-RR 2009, 90. 212  Ähnlich ungenau auch Stree in der Einleitung seines Werkes: Stree, In dubio pro reo, S.  8 („Grundsatz“), 9 („Grundregel“). 213  J. Bock, Begriff, Inhalt und Zulässigkeit der Beweislastumkehr im materiellen Strafrecht, S.  39 ff.; Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  44; Klein, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast im Steuerrecht und im Strafverfahren, S.  23; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S.  129; Moser, In dubio pro reo, S.  64 ff.; Schwabenbauer, NStZ 2014, 495, 499 f.; Stuckenberg, JA 2000, 568, 569; Stuckenberg in KMR-StPO, 2019, §  261 Rn.  85; T. Walter, JZ 2006, 340, 341; Volk, JuS 1975, 25, 27; Volk, NStZ 1983, 423; ähnlich schon Glaser, Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozess, S.  88; vgl. auch Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  186 f. Fn.  935, S.  199 („Beweislastfolgenregel). 214  Neben der allgemein geläufigen Bezeichnung als Entscheidungsregel, dazu unten C III 3. Schwabenbauer hat überzeugend dargelegt, dass der Unterschied nur ein begrifflicher ist. Denn in jedem Fall ist in dubio pro reo eine prozessuale Handlungsanweisung an das Gericht nach abgeschlossener Beweiswürdigung, Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  20 ff.; siehe auch Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  307, 330; zum prozessualen Charakter der In-dubio-Regel auch BGH, Beschluss v. 08.05.2017 – GSSt 1/17, NStZ

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Strafprozess aufgrund der geltenden Untersuchungsmaxime (§  244 Abs.  2 StPO) von vornherein nicht auftreten könnten, sodass die Verwendung des Begriffs der Beweislast nur im Zivilprozess (wo der Verhandlungsgrundsatz gelte) angebracht sei.215 Denn neben der damit angesprochenen formellen (subjektiven) Beweislast, die – größtenteils216 – tatsächlich nur in Prozessen auf Grundlage des Verhandlungsgrundsatzes eine Rolle spielen kann,217 ist stets auch die materielle (objektive) Beweislast zu beachten. Diese regelt Situationen, die auch im Rahmen eines strafrechtlichen Prozesses denkbar sind. Die objektive Beweislast bestimmt, welche Partei im Falle der Beweislosigkeit die daraus entstehenden Nachteile tragen muss, also dann, wenn ein Beweis nicht erbracht werden und damit ein Sachverhalt nicht abschließend aufgeklärt werden kann (non liquet-Situation218, dubium219).220 Dabei kann es entweder darum gehen, ungünstige Rechtsfolgen auf sich nehmen zu müssen, oder aber darum, dass günstige Folgen ausbleiben.221 Das Vorliegen von Voraussetzungen eines Straftatbestandes kann nach Ausschöpfung aller prozessual zulässigen Beweismittel ungewiss bleiben, sodass trotz Geltung der Untersuchungsmaxime eine Regel notwendig ist, der 2018, 41, 43; J. Bock, Begriff, Inhalt und Zulässigkeit der Beweislastumkehr im materiellen Strafrecht, S.  82 ff.; Stuckenberg, JA 2000, 568, 569; vgl. auch Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  199 Fn.  1007 („strafprozessuale Beweislast“); vgl. auch Beulke, Strafprozessrecht, S.  29 Rn.  25 (sowohl materiell-rechtlicher als auch prozessualer Charakter); a. A. (rein materiell-rechtlicher Charakter) Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  47; Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, S.  297 Rn.  383; vgl. auch Rosenberg, Die Beweislast, S.  80 f. 215  So aber Hamm, Die Revision in Strafsachen, S.  389 Rn.  955; Hippel, Der deutsche Strafprozess, S.  384; H. Peters, In dubio pro reo, S.  63 ff.; Sax, in Spendel (Hrsg.), FS-Stock, S.  143– 169, 164; Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung, Teil 1, S.  204 Rn.  366 f.; die Einwände gegen den Beweislastbegriff im Strafverfahren hat jüngst Gräbener zusammengefasst, Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  22 ff.; vgl. auch F. Stein, JuS 2016, 896, 897. 216 Per se kann die formelle Beweislast auch in Prozessen ohne Verhandlungsgrundsatz nicht ausgeschlossen werden, Arzt, Ketzerische Bemerkungen zum Prinzip in dubio pro reo, S.  16; T. Walter, JZ 2006, 340 (ebd.); ihm folgend Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  13 f.; Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  193 f.; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  21 f.; a. A. (per definitionem keine formelle Beweislast im Strafprozess) Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  23 f. 217  Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  186; Foerste in Musielak/VoitZPO, 18.  Aufl. 2021 §  286 Rn.  33. 218  Foerste in Musielak/Voit-ZPO, 18.  Aufl. 2021 §  286 Rn.  32; Prütting in MüKo-ZPO Bd.  1, 6.  Aufl. 2020, §  286 Rn.  96; diese Bezeichnung wird auch im Strafprozess verwendet, etwa BGH, Urteil v. 27.06.2001 – 3 StR 136/01, NStZ 2001, 609. 219  Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  186; Schwabenbauer, NStZ 2014, 495, 499; T. Walter, JZ 2006, 340, 341. 220 Zur objektiven Beweislast Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  190 f. 221  Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  8.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

sich der Richter bei seiner Entscheidung bedienen kann.222 Im Falle einer Zweifelssituation trägt folglich der Staat die (materielle) Beweislast, das heißt, er muss die Nachteile auf sich nehmen, die daraus entstehen, dass eine entscheidungserhebliche Tatsache nicht sicher festgestellt werden kann.223 dd) Geltung von in dubio pro reo im Maßregelrecht Im Maßregelrecht (§§  61 ff. StGB) geht es nicht um Bestrafung, sondern um Gefahrenabwehr. Dem Betroffenen wird in Bezug auf diese Gefahren kein sozialethischer Vorwurf gemacht, sondern es wird versucht, die Allgemeinheit vor künftigen Rechtsverletzungen zu schützen. Mangels sozialethischen Vorwurfs wird die Menschenwürde des Betroffenen nicht berührt. Das Schuldprinzip greift aus diesem Grund hier nicht ein. Maßregeln sind von der Schuld des Betroffenen unabhängig.224 Eine Ausnahme bildet die Voraussetzung einer schuldhaften Anlasstat für die Anordnung der Sicherungsverwahrung (§  66 Abs.  1 Nr.  1 StGB). Auch die In-dubio-Regel gilt im Maßregelrecht nicht allumfassend. Der Zweck der Maßregeln der Besserung und Sicherung liegt in der Besserung gefährlicher Täter sowie im Schutz der Allgemeinheit vor diesen Tätern. Die Maßregeln sind das Reaktionsmittel des Staates gegen den schuldlosen225 Täter. Sie greifen aber in das Freiheitsrecht des Betroffenen ein. Deshalb dürfen sie nur dann angeordnet werden, wenn der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist, wenn also die Allgemeinheit vor weiteren erheblichen rechtswidrigen Taten geschützt werden muss. Statt auf die Schuld des Täters wird also auf die Gefahr künftiger Straftaten abgestellt. Unter Beachtung des Rechtsstaatsprinzips und der Freiheitsvermutung gilt für die Anordnung einer Maßregel aber zunächst, dass die tatsächlichen Voraussetzungen der Maßnahme zweifelsfrei vorliegen müssen. Denn Maßregeln wie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§  63 StGB) greifen genauso tief in die Freiheit des Betroffenen ein wie 222 

J. Bock, Begriff, Inhalt und Zulässigkeit der Beweislastumkehr im materiellen Strafrecht, S.  34 ff.; Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  8 f., 12 ff.; Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  186 ff.; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  23 f.; T. Walter, JZ 2006, 340, 344; Volk, JuS 1975, 25, 26 Fn.  11; Volk, NStZ 1983, 423; Volk, NStZ 1996, 105, 106. Die objektive Beweislast ist damit unabhängig von den jeweils geltenden Verfahrensgrundsätzen zu beachten, Prütting in MüKoZPO Bd.  1, 6.  Aufl. 2020, §  286 Rn.  103 ff. 223  T. Walter, JZ 2006, 340, 341; ders., Strafprozessrecht, S.  3 Rn.  5; ähnlich Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  190; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S.  18; Rosenberg, Die Beweislast, S.  24; Stuckenberg, JA 2000, 568, 569. 224  Fischer, StGB, 70.  Aufl. 2023, Vor §  61 Rn.  1; van Gemmeren in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  61 Rn.  1; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S.  83 ff., alle auch zum folgenden Text. 225  Ausnahme: Sicherungsverwahrung, s. o.

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts

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die Strafe.226 Vor allem die (wenn auch nicht immer schuldhafte, jedoch zumindest rechtswidrige) Anlasstat, deren Vorliegen für die Anordnung einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme vorausgesetzt wird, muss deshalb zweifelsfrei feststehen.227 So verlangt etwa §  63 Satz 1 StGB: „Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§  20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§  21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn […] [der Täter] für die Allgemeinheit gefährlich ist.“

Der Wortlaut des §  63 Satz 1 StGB knüpft zwingend an eine begangene und rechtswidrige Tat an. Damit sind die Maßregeln – trotz ihres weitestgehend präventiven Charakters – Reaktionen auf in der Vergangenheit begangenes Unrecht. Diese Tatsache unterscheidet die Maßregeln von der Gefahrenabwehr im Polizeirecht und legitimiert ihre Intensität. Tatbestandliche Voraussetzung der Maßregelanordnung ist aber nicht die sichere Begehung künftiger Straftaten. Voraussetzung ist nur eine dahingehende Gefahr. Und Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist neben der In-dubio-Regel oder dem Schuldprinzip auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz,228 der eine Interessenabwägung des Entscheidungsträgers verlangt, bei der Beurteilung einer „Gefahr“ namentlich zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Einzelnen einerseits und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit andererseits. Weil es im Maßregelrecht auf diese Interessenabwägung ankommt und mangels sozialethischen Vorwurfs gegenüber dem Betroffenen auch ankommen darf, ist kein Raum für eine strenge Regel. Es gilt stattdessen, betroffene Prinzipien miteinander ins Verhältnis zu setzen. 2. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Gefahr“ Für die Bestimmung der „Gefahr“ orientiert sich der Umschlagspunkt also nicht ausschließlich an einem vom Gesetzgeber stets gleichermaßen verlangten Wahrscheinlichkeitsgrad, sondern zudem am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.229 Wie dargelegt ist dieser aufgrund des Rechtsstaatsprinzips (Art.  20 Abs.  3 GG) bei jeder das Freiheitsgrundrecht (Art.  2 Abs.  2 Satz 2 GG) betreffenden Entscheidung zu beachten.230 Für die Anordnungsentscheidungen nach den §§  61 ff. StGB 226  Etwa BGH, Beschluss v. 08.07.1999 – 4 StR 269/99, NStZ 1999, 611, 612; vgl. Boetticher et al., NStZ 2019, 553, 559; Kassebaum, NStZ 2020, 253 (ebd.). 227  Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  163; vgl. auch Radtke in LK-StGB Bd.  5, 13.  Aufl. 2022, Vor §  61 Rn.  56. 228  Zum Verhältnis von Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Frisch, NStZ 2013, 249 ff. 229  Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, S.  204 ff. Rn.  368 ff. 230  Siehe auch Boetticher et al., NStZ 2019, 553, 558; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S.  277.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

hat der Gesetzgeber die ohnehin von Verfassungs wegen einzuhaltende Verhältnismäßigkeit in §  62 StGB sogar ausdrücklich verankert und ihr damit besonderen Nachdruck verliehen. Die Risikoentscheidung wird auf diese Weise zwar von der jeweiligen gesetzlichen Regelung gesteuert und hat sich an deren Zweck zu orientieren, sie wird vom Gesetzgeber aber nicht abschließend vorgegeben.231 Neben dem (epistemischen) Wahrscheinlichkeitsgrad künftiger Straftaten (also dem quantitativen Aspekt des Risikos) müssen deshalb auch Variablen aus dem Tatsachenbereich berücksichtigt werden, wie die Schwere der zu erwartenden Taten (qualitativer Aspekt des Risikos) und eine ggf. bereits zurückgelegte Vollzugsdauer. Die „Gefahr“ impliziert – ähnlich dem Gefahrenbegriff im Öffentlichen Recht232 – eine vom Richter selbst vorzunehmende Abwägungsentscheidung. Hier kann sich deshalb der verlangte Wahrscheinlichkeitsgrad von Fall zu Fall ändern – je nachdem, in welchem Verhältnis die betroffenen Rechtsgüter (der Freiheitsanspruch des Betroffenen und das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit) im Einzelfall nach Maßregel und zu erwartenden Straftaten zu gewichten sind.233 Ähnlich liegt der Fall bei §  57 Abs.  1 Nr.  2 StGB („verantwortet werden kann“): Im Gegensatz zu §  56 Abs.  1 StGB (oben B III 4) ist hier eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des Strafvollzugs für das künftige Leben des Verurteilten und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit anzustellen.234 Und auch im materiellen Strafrecht (etwa im Rahmen des §  34 StGB) ist die „Gefahr“ stets als etwas Relatives zu verstehen, denn nur so kann dem Umstand Rechnung getragen werden, dass nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern auch Größe und Art des drohenden Schadens die Interessengewichtung ganz erheblich beeinflussen.235 231 

Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S.  115 f.; Schneider, Grundlagen der Kriminalprognose, S.  34; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn.  775; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  44 f., 49; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, S.  203 f. Rn.  366. 232 Dazu Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  228 (Prognoseentscheidung als „normale“ Abwägungsentscheidung, die den Faktor Wahrscheinlichkeit berücksichtigt). 233  van Gemmeren in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  63 Rn.  62, 67; vgl. auch BTDrucks. IV/650, S.  209 (Unterbringungsanordnung), 214 (Sicherungsverwahrung). 234  BT-Drucks. 13/9062, S.  9; BGH, Beschluss v. 25.04.2003 – 1 AR 266/03, NStZ-RR 2003, 200; Groß in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  57 Rn.  16 f.; vgl. auch Terhorst, MDR 1978, 973, 976 f. 235  Für ein relatives Gefahrenverständnis im materiellen Strafrecht Erb in MüKo-StGB Bd.  1, 4.  Aufl. 2020, §  34 Rn.  84 ff.; Neumann in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  34 Rn.  39; Roxin, Strafrecht AT Bd.  1, §  16 Rn.  14; Rudolphi, in Dornseifer (Hrsg.), GS-Kaufmann, S.  371–398, 385; Schaffstein, in Frisch/Schmid (Hrsg.), FS-Bruns, S.  89–106, 105; a. A. Rotsch, in Saliger et al. (Hrsg.), FS-Neumann, S.  1009–1022, 1018 f.; Zieschang in LK-StGB Bd.  3, 13.  Aufl. 2019, §  34 Rn.  60.

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts

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Kokott236 will auch Abwägungsfragen gemäß in dubio pro reo entscheiden, weil sie in der In-dubio-Regel nicht ausschließlich eine Beweislastregel, sondern auch eine „Argumentationsmaxime“ für normative Fragen sieht. Grund dafür seien die betroffenen Grundrechte, die sowohl im Rahmen tatsächlicher Zweifel als auch im Rahmen von Interessenabwägungen die entscheidende Rolle spielten, sodass eine Anwendung von in dubio pro reo als Auslegungsmaxime im Ergebnis die gleiche Folge habe wie eine grundrechtskonforme Interessenabwägung. Richtigerweise greift hier allerdings ausschließlich die Argumentationslastregel in dubio pro libertate,237 die (im Gegensatz zur Beweislastregel in dubio pro reo) das Ergebnis der Entscheidung nicht abschließend festlegt, sondern nur die Pflicht zur Darlegung der Eingriffsnotwendigkeit hervorhebt (siehe oben B IV 1 c). Mit der herrschenden Meinung238 ist deshalb eine „Gefahr“ i. S. d. §§  61 ff. StGB in der Regel erst dann zu bejahen, wenn die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten zumindest eine überwiegende Wahrscheinlichkeit ist, also wenn sie bei mehr als 50 Prozent liegt. Das entspricht der vierten Stufe der auf S.  17 und S.  149 vorgestellten Wahrscheinlichkeitsskala. Eine „hochgradige“ Gefahr ist hingegen nicht unbedingt erforderlich.239 3. Zur unsauberen Lösung der herrschenden Meinung „Aber wenn eine Aufgabe sachgerecht erfüllt werden soll, dann muß der, der die Aufgabe zu erfüllen hat, möglichst vollständig über sie unterrichtet sein. Wer seine Verantwortung nicht kennt, kann ihr von vornherein nicht gerecht werden. Man sollte nun meinen, daß die Gerichte heutzutage […] diese ihre Verantwortung nicht nur erkennen, sondern sich auch zu ihr bekennen. Oft mag dies in der Tat so sein; aber wir machen öfters auch die Erfahrung, daß die Richter ihre Verantwortung verschleiern, sei es nun, daß sie selbst diese Verantwortung nicht oder nicht voll erkennen, sei es, daß sie sich nur nicht zu ihr bekennen.“240

Rechtsprechung241 und herrschende Meinung in der Literatur242 erkennen diese Feinheiten nicht. Sie differenzieren nicht sauber zwischen dem Prinzip in dubio 236  Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, S.  186. 237  Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4.  Aufl. 2018, S.  47 Rn.  B 48; Stree, In dubio pro reo, S.  96 ff. 238  Für die h. M. BVerfG, Beschluss v. 08.12.2011 – 2 BvR 2181/11, NJW 2012, 513, 514; BGH, Urteil v. 22.04.2015 – 2 StR 393/14, NStZ-RR 2015, 306, 307; Beschluss v. 18.11.2013 – 1 StR 594/13, NStZ-RR 2014, 75, 77; Heger in Lackner/Kühl-StGB, 30.  Aufl. 2023, §  63 Rn.  5; Kinzig in Schönke/Schröder-StGB, 30.  Aufl. 2019, §  63 Rn.  17; Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, Rn.  419 f. 239  BGH, Beschluss v. 27.06.2007 – 2 StR 135/07, BeckRS 2007, 11916. 240  Schmidhäuser, in Roxin et al. (Hrsg.), FS-Henkel, S.  229–238, 231. 241  BGH, Urteil v. 18.02.1954 – 3 StR 824/53, NJW 1954, 846 a. E. 242 Etwa Bruns, JZ 1958, 647, 650 f.; Fischer, StGB, 70.  Aufl. 2023, Vor §  61 Rn.  3; Heger

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

pro libertate und der Regel in dubio pro reo und entscheiden deshalb – dogmatisch verfehlt und überflüssigerweise243 – gemäß in dubio pro reo, wenn der geforderte Wahrscheinlichkeitsgrad künftiger Straftaten für eine Maßregelanordnung (§§  61 ff. StGB) nicht vorliegt, weil er 50 Prozent nicht übersteigt. Die Unterbringungsanordnung habe dann gemäß in dubio pro reo zu unterbleiben, denn die In-dubio-Regel sei hier, wo die Rechtsfolge an die Voraussetzung einer dem Täter ungünstigen Prognose geknüpft sei (Gefahrenprognose), auf das Prognoseurteil anwendbar. Damit verhält sich die herrschende Meinung widersprüchlich zu ihrer eigenen Behandlung der In-dubio-Regel im Rahmen der Aussetzungsentscheidung nach §  56 StGB (oben B III 4), wo eine Entscheidung gemäß in dubio pro reo (richtigerweise) abgelehnt wird. Untersucht man die Entscheidungsbegründungen der herrschenden Meinung dort, wo sie gemäß in dubio pro reo entscheidet, genauer, so muss man feststellen, dass die Entscheidung eigentlich normativ, nämlich mit Blick auf Sinn und Zweck des jeweiligen Gesetzes und unter Berücksichtigung der betroffenen Interessen gefällt wird. Grund dafür, dass pro reo entschieden wird, ist nämlich überhaupt kein Beweispatt, sondern der Umstand, dass die herrschende Meinung zur Maßregelanordnung (etwa bei der Unterbringungsanordnung nach §  63 StGB) normativ eine überwiegende Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten verlangt und diese Voraussetzung bei einer niedrigeren Wahrscheinlichkeit nicht gegeben ist. Es wird also auch von der herrschenden Meinung die notwendige Auslegung und Abwägung in nicht zu beanstandender Weise vorgenommen – dann aber wird das Ergebnis geradezu floskelartig mit in dubio pro reo zusammengefasst. In der Sache handelt es sich damit um eine korrekte Berücksichtigung des Ausspruchs in dubio pro libertate, nicht um eine Anwendung der Regel in dubio pro reo. Besonders deutlich wird das bei den Ausführungen von Stree, auf den von der herrschenden Meinung häufig verwiesen wird. Deshalb ist es sinnvoll, sich den genauen Wortlaut seiner Argumentation vor Augen zu führen. Zunächst wägt Stree die betroffenen Interessen ab und berücksichtigt dabei auch die Argumentationslastregel in dubio pro libertate: „Ist eine Sicherungsmaßnahme auch dann anzuordnen, wenn sich weder die Wahrscheinlichkeit noch die Nichtwahrscheinlichkeit, die bloße Möglichkeit, voraussagen läßt und mithin in Lackner/Kühl-StGB, 30.  Aufl. 2023, §  61 Rn.  4; B. Müller, Anordnung und Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung, S.  132 ff.; Kinzig in Schönke/ Schröder-StGB, 30.  Aufl. 2019, Vor §  61 Rn.  9; Drenkhahn/Morgenstern in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  66 Rn.  222; Radtke in LK-StGB Bd.  5, 13.  Aufl. 2022, Vor §  61 Rn.  56–59; Stree, In dubio pro reo, S.  96 ff.; eine zusammenfassende Darstellung der h. M. findet sich auch bei Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  102 f. 243 Ähnlich Schneider, Grundlagen der Kriminalprognose, S.  45 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S.  409 f. Rn.  828.

B. Kein in dubio pro reo zur Bestimmung des Umschlagspunkts

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ungewiß ist, ob eine vorbeugende Gefahrenabwehr erforderlich ist? […] Eine sachgerechte Lösung läßt sich indessen nur unter Abwägung der Gründe finden, die eine Maßregel der Sicherung und Besserung rechtfertigen und auf denen der Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ beruht. Die Rechtfertigung der sichernden Maßnahmen gründet sich auf deren Sicherungsfunktion. Wer aller Wahrscheinlichkeit nach die Rechtsordnung mißachtet und seine äußere Freiheit zu erheblichen Angriffen auf strafrechtlich geschützte Rechtsgüter benutzen wird, hat als sozialverpflichtetes Gemeinschaftsmitglied keinen staatlicherseits zu respektierenden Anspruch auf Freiheit. Soweit deren Einschränkung erforderlich ist, um den Gefahrenherd abzuschirmen […], steht sie mit rechtsstaatlichen Prinzipien im Einklang. Mangelt es an diesen Erfordernissen, so verliert der Eingriff seine Berechtigung. […] Läßt sich nun weder die Berechtigung noch die Nichtberechtigung für eine Freiheitseinschränkung sicher ermitteln, so würde ein dennoch vorgenommener Eingriff unter Umständen eine Ungerechtigkeit enthalten. […] Zur Wahrung der Rechtsordnung ist ein Eingriff in die individuelle Freiheitssphäre zwar zur Gefahrenabwehr unerläßlich, nicht jedoch schon zwecks Abwehr einer eventuellen Gefahr. D. h., eine Sicherungsmaßregel ist nur dann für erforderlich zu erachten, wenn die Gefährlichkeit des Angeklagten erwiesen, wenn also zukünftiges Verhalten wahrscheinlich ist. Außer den allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen spricht hierfür die Ausgangsvermutung für den Menschen (in dubio pro libertate).“244

Bis dahin ist an den Ausführungen inhaltlich nichts auszusetzen. Dann aber fasst Stree das Ergebnis missverständlich zusammen, indem er sich auf eine Regel zugunsten des Angeklagten bezieht: „Wie bei der Feststellung vergangener und gegenwärtiger Tatsachen entscheidet das (subjektive) Urteil des Richters. […] Fällt seine Wahrscheinlichkeitsprognose zuungunsten des Angeklagten aus, so steht der Anordnung nichts im Wege. Hat er Zweifel, kann er weder eine günstige noch eine ungünstige Voraussage abgeben, so hat er zugunsten des Angeklagten von der Sicherungsmaßnahme abzusehen. Diese Regel greift grundsätzlich Platz, soweit sich die Erforderlichkeit nach dem Verhalten bemißt, das vom Angeklagten in Zukunft wahrscheinlich zu erwarten ist.“245

Die dogmatisch untragbare Begründung der Entscheidung mit in dubio pro reo durch die herrschende Meinung ist wohl auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die herrschende Meinung stets davon spricht, der Tatrichter müsse „von der künftigen Gefährlichkeit des Angeklagten überzeugt“246 sein, als handelte es sich bei der Gefährlichkeit (Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten) um ein objektiv wahrnehmbares Tatbestandsmerkmal. Gemeint ist aber nichts anderes, als dass die Maßregelanordnung unterbleiben muss, wenn der nötige Wahrscheinlichkeitsgrad nicht erreicht werden kann. Stuckenberg hat das erkannt:

244 

Stree, In dubio pro reo, S.  96 f. Stree, In dubio pro reo, S.  98, Hervorhebungen nicht im Original. 246  BGH, Urteil v. 18.02.1954 – 3 StR 824/53, NJW 1954, 846 a. E.; zu weiteren Nachweise für die abzulehnende h. M. siehe Teil 3 Fn.  31. 245 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

„Formulierungen, der Richter müsse ‚von einer Wahrscheinlichkeit/Gefahr überzeugt sein‘ oder ein ‚sicheres Urteil über die Wahrscheinlichkeit abgeben‘ […], können nur ausdrücken, dass das Wahrscheinlichkeitsurteil methodisch zuverlässig gebildet wurde.“247

Die missglückte Formulierung der „Überzeugung von der Gefährlichkeit“ beruht aber nach Zopfs248 auch darauf, dass man häufig noch immer unreflektiert an Autoren wie Bruns249 anknüpft, die einen objektiven (und aus diesem Grunde abzulehnenden) Wahrscheinlichkeitsbegriff vertreten, also davon ausgehen, dass „Wahrscheinlichkeit“ eine objektiv feststellbare Größe der Außenwelt darstellt.

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen I. Überblick Die In-dubio-Regel ist nicht anwendbar auf die Entscheidung des Gerichts, ob und wie unsichere Prämissen in das konkrete Wahrscheinlichkeitsurteil einzustellen sind. Das bedeutet, dass das Vorliegen dieser unsicheren Prämissen nicht pro reo als gegeben angenommen werden darf, wenn die Prämissen für den Angeklagten günstig sind. Sind sie für den Angeklagten ungünstig (zum Beispiel, weil ihr Vorliegen die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten erhöhen würde), so müssen sie dennoch berücksichtigt und dürfen nicht pro reo bei der weiteren Entscheidung ausgeblendet werden. Unsichere Prämissen sind vielmehr stets in die Entscheidungsfindung einzustellen, dabei aber entsprechend ihrem Unsicherheitsfaktor zu gewichten. Erklären lässt sich dies wiederum mit der bereits mehrfach (etwa Teil 2 Kapitel A) angesprochenen Struktur der Entscheidungsfindung bei der Anwendung einer Wahrscheinlichkeitsnorm. Nachdem es in Teil 3 Kapitel B noch um die rechtliche Entscheidungskomponente ging, beschäftigt sich die Untersuchung nun näher mit dem wissenschaftstheoretischen Teil der Entscheidungsfindung. Die These, dass in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen nicht gilt, lässt sich einerseits dogmatisch begründen, denn andernfalls würde die Entscheidungsregel in dubio pro reo als Beweiswürdigungsregel missbraucht – solche Regeln sind dem deutschen Strafprozess aber seit langem fremd. Mit der Unanwendbarkeit von in dubio pro reo aus dogmatischer Sicht befasst sich Abschnitt III. Für die hier vertretene These sprechen zum anderen auch Gründe der induktiven Logik. Das Gericht bildet sich sein konkretes Wahrscheinlichkeitsurteil nach der Logik einer induktiven Argumentation. Und im Rahmen eines induktiven 247 

Stuckenberg in KMR-StPO, 2019, §  261 Rn.  102. Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  103. 249  Bruns, JZ 1958, 647, 651, 653. 248 

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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Arguments muss die Tatsachengrundlage nicht zur Gewissheit des Entscheidungsträgers feststehen. Ein induktives Argument wird nicht dadurch verfälscht, dass es auf unsichere Prämissen gestützt wird. Im Gegenteil – es wird genauer. Die Unanwendbarkeit von in dubio pro reo aus logischen Gründen ist Thema von Abschnitt IV. Beide Argumente haben ihren Ursprung darin, dass das Wahrscheinlichkeitsurteil immer eine beweisbare Tatsachenaussage ist – und damit entgegen der herrschenden Meinung auch bei der Prognose, weshalb die Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils auch dort ein Vorgang der Beweiswürdigung ist. Die Beweiswürdigung ist frei (von Beweiswürdigungsregeln), hat aber die Regeln der (u. a. induktiven) Logik zu beachten. Zunächst gilt es deshalb, in Abschnitt II logische Struktur und Rechtsnatur des Wahrscheinlichkeitsurteils als Tatsachenaussage näher zu erläutern. Dabei wird auch auf die einzelnen Prämissen des Wahrscheinlichkeitsurteils (Tatsachengrundlage, Erfahrungssatz und Sachverständigengutachten) näher eingegangen. Schließlich bleibt die Frage zu klären, wie genau es funktioniert, sich mithilfe von unsicheren Prämissen ein Urteil zu bilden, das rational nachvollziehbar ist. Darum soll es in Abschnitt V gehen, der sich mit den Regeln der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie auseinandersetzt. Diese mathematischen Regeln stellen nämlich (wie auch die Regeln der induktiven Logik) Denkgesetze dar, die das Gericht bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen hat. Nur die mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung bietet eine Erklärung dafür, wie Unsicherheiten sich gegenseitig beeinflussen müssen, damit der Entscheidungsträger, der seine Entscheidung auf Wahrscheinlichkeiten stützt, sich insgesamt nicht irrational verhält. Abschließend setzt sich Abschnitt IV mit der herrschenden Meinung und Literatur auseinander, die über unsichere Prämissen gemäß in dubio pro reo entscheiden will. Es wird der Verstoß von Rechtsprechung und herrschender Meinung gegen geltendes Strafprozessrecht und gegen die logischen Grenzen der freien Beweiswürdigung dargestellt und auch gezeigt, inwiefern der hier (und vereinzelt auch in der Literatur) vertretene Lösungsansatz nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis von demjenigen der herrschenden Meinung abweicht. Dazu setzt sich die vorliegende Untersuchung mit den verschiedenen Unsicherheiten auseinander, die bei der Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils auftreten können: unsichere Tatsachengrundlage, unsichere Erfahrungssätze, Unsicherheiten im Zusammenhang mit Sachverständigengutachten. Dass unsichere Prämissen bei der Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils zu berücksichtigen sind, gilt durchweg für sämtliche Unsicherheiten, die einem hier begegnen können: Manchmal können keine sicheren Aussagen getroffen werden über die Lebensverhältnisse des Verurteilten und damit über die Tatsachengrundlage des Wahr-

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

scheinlichkeitsurteils. Dann bleibt zum Beispiel unklar, ob der Angeklagte trinksüchtig ist. Oder das Gericht weiß nicht sicher, was im Vorleben des Täters geschehen ist oder wie er sich nach der Tat verhalten hat. Interessieren wird sich das Gericht im Rahmen einer Prognoseentscheidung etwa für ein straffreies Verhalten während der Verfahrensdauer, die Loslösung des Täters von seinem schädlichen Milieu, seine etwaige Reue oder Schadenswiedergutmachung, die Teilnahme an einem Nachschulungskurs für Verkehrsdelinquenten, die Therapie für Drogentäter oder die Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis.250 Ebenso kann der Erfahrungssatz unsicher sein, auf den das Gericht zur Bildung seines Wahrscheinlichkeitsurteils zurückgegriffen hat. Das ist dann der Fall, wenn das Gericht an der Vertrauenswürdigkeit des Erfahrungssatzes zweifelt oder wenn er in der einschlägigen Fachwissenschaft nicht allgemein akzeptiert, sondern umstritten ist. Auch hier sollten sich die bestehenden Unsicherheiten im Wahrscheinlichkeitsurteil widerspiegeln. Außerdem sind die Prämissen unsicher, wenn der Richter mehr als einen Gutachter hinzugezogen hat und diese Gutachter zu unterschiedlichen Prognoseergebnissen kommen, obwohl sie ihren Untersuchungen den gleichen Befund zugrunde gelegt haben. Zum Beispiel geht Gutachter 1 von einem Rückfallrisiko von 50 Prozent aus und Gutachter 2 von einem Rückfallrisiko von 70 Prozent. Der Richter muss sich dann nicht auf das für den Angeklagten günstigere Gutachten stützen, sondern er hat beide Gutachten zu berücksichtigen, sofern er sie beide für fachwissenschaftlich fundiert und damit akzeptabel hält. Die Unsicherheit des Gerichts besteht dann darin, dass die Methoden beider Gutachter sich bewährt haben und ihre jeweiligen fachlichen Meinungen vertretbar sind, sodass keines der Gutachten aus rationalen Gründen verworfen werden kann.

II. Prognoseentscheidung und Schätzung als wissenschaftstheoretisches Problem „Während sich die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie als solche nicht damit befasst, woher die Überzeugungen kommen, die mit ihrer Hilfe widerspruchsfrei kombiniert werden können, muss eine erkenntnistheoretische Methode eine Aussage dazu machen, woher die durch das Subjekt zu kombinierenden Überzeugungen legitimerweise stammen dürfen. Dies gilt für die Wissenschaftstheorie wie für die juristische Beweiswürdigung.“251

In diesem Abschnitt wird die Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils näher beschrieben. Dabei geht es sogleich in Abschnitt 1 allgemein um die logische Struktur des Wahrscheinlichkeitsurteils, also um den Schluss von den einzelnen 250  251 

nal.

Schall in SK-StGB Bd.  2, 9.  Aufl. 2016, §  65 Rn.  22–30. Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  350, Hervorhebungen auch im Origi-

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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Prämissen auf die epistemische Wahrscheinlichkeit. Die Ausführungen hierzu gelten für sämtliche Wahrscheinlichkeitsurteile gleichermaßen. Dass sie auch für Prognosen als Spezialfall eines Wahrscheinlichkeitsurteils Gültigkeit beanspruchen, wird in Abschnitt 2 gezeigt: Es gilt hier nämlich noch darzulegen, dass die Prognose (entgegen der herrschenden Meinung) eine Tatsachenaussage ist, genau wie jedes andere Wahrscheinlichkeitsurteil auch. 1. Der Schluss auf die epistemische Wahrscheinlichkeit a) Die logische Struktur von Erklärung und Prognose Nach bisher Gesagtem ist das Wahrscheinlichkeitsurteil ein Urteil darüber, inwiefern das Wissen des Entscheidungssubjekts eine Aussage bestätigen kann. Unmittelbar wahrnehmbar ist die Wahrscheinlichkeit als Internum des Beobachters also nicht. Das Wahrscheinlichkeitsurteil wird vielmehr gebildet, indem aus dem Wissen des Entscheidungssubjekts (den Prämissen) ein Schluss gezogen wird. Dabei werden Erfahrungen, die allgemein oder zumindest dem Gericht bekannt sind (Prämisse 1 – die „Erfahrungssätze“ oder „nomologische Prognosebasis“) mit einem bestimmten, tatsächlichen Sachverhalt (Prämisse 2 – die „Tatsachengrundlage“, „Tatsachenbasis“ oder „ontologische Prognosebasis“) verglichen:252 Erfahrungssatz (Prämisse 1) Tatsachengrundlage (Prämisse 2) Zu erklärendes Ereignis (Konklusion)

Diese Darstellung entspricht nicht nur der logischen Struktur eines erklärenden Arguments, also der Untersuchung, ob ein gegebenes Ereignis Wirkung einer vergangenen Ursache ist (wissenschaftliche Erklärung). Auch ein prognostisches Argument (wissenschaftliche Vorhersage eines in der Zukunft liegenden Ereignisses) hat diese logische Struktur, kommt also mithilfe von Erfahrungssatz und Tatsachengrundlage zustande.253 „Begründungstheoretisch gesehen stellt das Er252  Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  35 m. w. N.; Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S.  341 ff.; Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  12 f.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  350; vgl. für die Schätzung auch OLG Jena, Beschluss v. 12.02.2009 – 1 Ss 160/08, BeckRS 2009, 11600; OLG Brandenburg, Beschluss v. 23.11.2009 – 1 Ss 104/09, BeckRS 2010, 20224; Albrecht in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  40 Rn.  49 f.; Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  71; Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  100; Radtke in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  40 Rn.  121; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  289. 253 Zur These der strukturellen Identität von Erklärung und Prognose Herberger/Simon,

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

schließen von Ereignissen unabhängig davon, ob diese in der Vergangenheit vorgekommen sein sollen oder in der Zukunft vorkommen können, stets die gleichen Anforderungen.“254 Die dargestellte Struktur gilt deshalb einerseits für den Indizienbeweis. Dieser wird in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht unter den Begriff des „Wahrscheinlichkeitsurteils“ gefasst, weil er den Schluss von einer Hilfstatsache255 auf eine solche Haupttatsache256 ermöglicht, die wiederum am Ende zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen muss,257 wohingegen das Wahrscheinlichkeitsurteil im hier gemeinten Sinne eine gewisse, unter dem Grad der vollen Überzeugung i. S. d. §  261 StPO liegende Wahrscheinlichkeit meint. Andererseits gilt die dargestellte Struktur auch für Prognosen. Der Unterschied zwischen Erklärungen und Prognosen liegt nach hier vertretener Auffassung lediglich darin, dass Prognosen auch ohne Ursachen auskommen, sofern sie auf Erkenntnis- oder Vernunftgründen beruhen.258 Ursachen sind Realgründe oder Seinsgründe, also Ereignisse, die auf Grund einer Gesetzmäßigkeit das zu erklärende Ereignis tatsächlich hervorrufen – wohingegen unter Erkenntnis- oder Vernunftgründen alle Daten zu verstehen sind, aufgrund deren es vernünftig ist, das Vorausgesagte anzunehmen. Stegmüller ist darin zuzustimmen, dass die Prognose nicht auf Gründen beruhen muss, die für die erwartete Folge ursächlich sind, sondern auch auf Gründen beruhen darf, welche die erwartete Folge lediglich rational erklären können. Eine wissenschaftliche Vorhersage ist also die Untersuchung, ob ein gegebenes Ereignis eine künftige Wirkung rational begründen kann. Stegmüller liefert ein simples und ebenso eindrucksvolles Beispiel, wenn er zeigt, dass ein Arzt aufgrund bestimmter Symptome des Patienten (erhöhter Blutdruck u. a.) rational darauf schließen kann, dass der Patient demnächst hohes Fieber bekommen wird (Prognose), obwohl die Symptome nicht ursächlich sind Wissenschaftstheorie für Juristen, S.  367 f.; Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  12; Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  1 (1974), S.  153 ff. 254  Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  208. 255  Oder auch „Indiztatsache“ oder „Indiz“. Gemeint ist der Sachverhalt, von dem aus auf das Gegebensein der Haupttatsache geschlossen werden kann. 256  Gemeint ist die zu beweisende rechtserhebliche (d. h. vom Gesetzeswortlaut als Voraussetzung für die Normanwendung vorgesehene) Tatsache, also im Strafrecht das Tatbestandsmerkmal. 257 Zum Indizienbeweis Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  150 ff. Rn.  621 ff. 258  So auch Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  1 (1974), S.  153 ff.; Brunn hingegen fasst den Begriff der Prognose enger und verlangt auch für diese einen Ursachenzusammenhang: „Wie groß ist die Gewissheit (Wahrscheinlichkeit), dass ein erwartbares Ereignis eintreten wird und auf einer in Betracht zu ziehenden Ursache beruhen wird?“, Brunn, NJOZ 2014, 361, 366, Hervorhebung auch im Original.

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für das Fieber, sondern allenfalls mit dem Fieber auf der gleichen Ursache, nämlich einer bestimmten Krankheit beruhen. Das hohe Fieber lässt sich mithin nicht auf die Symptome als Ursache zurückführen (Erklärung), dennoch ist seine Prognose rational und damit akzeptabel.259 Ebenso rechtfertigt der Barometerfall die Sturmprognose, ohne für den Sturm ursächlich zu sein,260 und rechtfertigt die Vorhersage eines Astronomen die eigene Voraussage einer Sonnenfinsternis, ist aber ebenfalls nicht für diese ursächlich.261 b) Der Erfahrungssatz Es genügt also zur Bildung eines Wahrscheinlichkeitsurteils nicht, eine bestimmte vorhandene Sachlage zu ermitteln (Prämisse 2). Vielmehr ist zusätzliches empirisches Wissen erforderlich, nämlich Erfahrungssätze (Prämisse 1) – das sind zunächst abstrakte Regeln, die aus der Beobachtung von Einzelfällen und -entwicklungen gebildet wurden:262 „Erfahrung“ ist das durch Anschauung, Wahrnehmung oder Empfindung gewonnene Wissen als Grundlage der Erkenntnis.263 Zugleich müssen diese Erfahrungen für vergleichbare Fälle Geltung beanspruchen. Sie müssen also die Erwartung rechtfertigen, dass nicht beobachtete Fälle sich genauso verhalten wie die beobachteten. Eine Beobachtung, die nur ein einziges Mal gemacht wurde und dann nie wieder, ist zwar ebenfalls eine Erfahrung im Sinne eines Erlebnisses, aus dem man etwas lernen kann – allerdings wird der Lerneffekt umso größer, je häufiger eine entsprechende Erfahrung gemacht wird. „Erfahrung“ wird deshalb auch umschrieben als wiederholte Wahrnehmung von Objekten und Erkenntnissen. Statistische Erhebungen im Sinne der relativen Häufigkeit sind daher wichtiger Bestandteil der Basis, aufgrund deren das Wahrscheinlichkeitsurteil zu fällen ist. Sie können aber das Wahrscheinlichkeitsurteil 259  Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  1 (1974), S.  175 f. 260  Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  1 (1974), S.  193. 261  Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  1 (1974), S.  194 f. 262 Hierzu und zum folgenden Text v. a. Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  349 ff., 368 ff., 375 ff., 378 ff.; F. Stein, Das private Wissen des Richters, S.  20 ff.; siehe auch Börgers, Studien zum Gefahrurteil im Strafrecht, S.  35; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  52; zur Notwendigkeit von Erfahrungswissen speziell bei der Prognose etwa Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, S.  12; Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221–258, 241 f.; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  5 ff. 263 Brockhaus, Erfahrung, https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/erfahrung-tieren (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023); Duden, Erfahrung, https://www.duden.de/rechtschreibung/Erfah rung (zuletzt aufgerufen am 28.05.2023).

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

selbst nie ersetzen, sondern allenfalls zu einer subjektiven natürlichen Vermutung führen. Auch sind sie nicht die einzigen Quellen von Erfahrungssätzen. In Betracht kommen daneben auch wissenschaftliche Theorien, eigene oder fremde Erfahrungen, die allgemeine Lebenserfahrung sowie Alltagstheorien und kulturelles Wissen. Derjenige, der den Erfahrungssatz bekundet oder anwendet, muss nicht selbst Zeuge der den Erfahrungssatz begründenden Einzelfälle gewesen sein, das heißt, er muss sie nicht selbst unmittelbar wahrgenommen haben. Der Richter darf aber auch sein privates Wissen über Erfahrungssätze in den Prozess einbringen.264 Erfahrungssätze sind nach ihrer Rechtsnatur weder Tatsachenaussagen noch Rechtssätze, haben aber mit beiden Phänomenen Gemeinsamkeiten.265 Als abstrakte Regeln bilden Erfahrungssätze einen Obersatz, der für eine Vielzahl von Fällen Gültigkeit beansprucht und nicht lediglich eine Aussage über ein Einzelfallereignis trifft. Gleichzeitig sind Erfahrungssätze allerdings empirisch beweisbar, weil sie auf wahrnehmbaren Einzelereignissen beruhen.266 Aufgrund erstgenannter Wenn-dann-Struktur gleicht die Anwendung eines Erfahrungssatzes derjenigen eines Rechtssatzes. Die Beweisbarkeit der Erfahrungssätze hingegen ist eine Eigenschaft, die sie mit reinen Tatsachenaussagen267 teilen. Weil ein Erfahrungssatz im Gegensatz zu einer Tatsache keine Aussage über ein sinnlich wahrnehmbares Einzelereignis trifft, sondern nur eine allgemeine Regel aufstellt, enthält er – trotz seiner Beweisbarkeit – keine Tatsachenaussage im engeren Sinn, also keinen „singulären (empirischen) Satz“268. Erfahrungssätze sind aber (trotz ihrer Obersatzstruktur) auch keine Rechtssätze: Rechtssätze sind nur solche Allsätze269, die (zusätzlich zu ihrer Gültigkeit für eine Vielzahl von Fällen) eine Geltungsanordnung treffen,270 das heißt sie beanspruchen eine zwingende Geltung. Das dürfen sie, weil sie eine Wertentscheidung des Gesetzgebers oder des 264  BGH, Urteil v. 16.05.1991 – III ZR 125/9, NJW 1991, 2824, 2825; Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  13. 265 Zu den folgenden Ausführungen Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  83 ff. 266  „Erfahrungen entstehen durch die von der Umwelt auf die menschlichen Sinne ausgeübten Reize, die im menschlichen Gehirn einen Nervenprozess, die Empfindung, hervorrufen. Der Sinnesreiz und die menschliche Empfindung werden vom menschlichen Gehirn miteinander verknüpft und begründen gemeinsam die persönliche Wahrnehmung. […] Lediglich sinnlich wahrnehmbare Ereignisse können Reize auf das Gehirn ausüben und wahrgenommen werden. Daher liegen den Erfahrungen stets Tatsachen zugrunde […].“, Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  43. 267  Zum Tatsachenbegriff siehe S. 52, 86. 268  Siehe oben S. 56. 269  Zu dem Ausdruck „Allsatz“ siehe unten S. 109. 270  Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  71.

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Richters enthalten, der sie aufstellt. Dabei müssen keine empirischen Daten, sondern allgemeine Rechtsprinzipien oder höherrangiges Recht beachtet werden. Rechtssätze können deshalb nicht richtig oder falsch sein, sondern allenfalls ungerecht, unbillig oder unzweckmäßig. Nur unter solchen Gesichtspunkten kann die Gültigkeit eines Rechtssatzes also in Frage gestellt werden; durch Beweis widerlegbar sind sie hingegen nicht. Im Unterschied dazu können Erfahrungssätze richtig oder falsch sein und ihre Aussagekraft ist anhand empirischer Daten überprüfbar. Sie enthalten keine Wertung, sondern lediglich eine empirische Aussage. Sie beanspruchen auch keine zwingende Geltung und ihr ursprünglich vielleicht korrekter Inhalt kann im Laufe der Zeit falsch werden, wenn sich die Gegebenheiten ändern.271 2. Die richterliche Prognose als empirisch beweisbare Tatsachenaussage Die Ausführungen zur Bildung eines Wahrscheinlichkeitsurteils gelten auch für richterliche Prognosen, denn auch sie sind – wie alle anderen Wahrscheinlichkeitsurteile – Tatsachenaussagen. Daran ändert (entgegen der herrschenden Meinung) der Umstand nichts, dass sie Aussagen über zukünftige Sachverhalte treffen. a) Abgrenzung zum Werturteil Prognosen als Aussagen über künftige Ereignisse sind nach ganz herrschender Meinung Werturteile und damit Meinungsäußerungen.272 Begründet wird dies allerdings lediglich mit dem Hinweis, zukünftige Ereignisse seien nicht auf die gleiche Weise beweisbar wie vergangene oder gegenwärtige Ereignisse. Richtigerweise sind Prognosen aber (genauso wie Aussagen über Vergangenes oder Gegenwärtiges) Tatsachenaussagen.273 Man kann die eine Prognose einfordernden Begriffe der „Erwartung“ oder „Gefahr“ (sog. „Erfahrungsbegriffe“274) deshalb auch nicht mit anderen unbestimmten Rechtsbegriffen (die ein Werturteil enthalten) gleichsetzen.

271 

Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  109. Etwa BGH, Beschluss v. 22.12.1981 – 5 AR (Vs) 32/81, NStZ 1982, 173 (ebd.); Urteil v. 08.10.2014 – 1 StR 359/13, NStZ 2015, 89, 90; Gräbener, ZStW 2022, 218, 234; Heger in Lackner/Kühl-StGB, 30.  Aufl. 2023, §  186 Rn.  3; Rege/Pegel in MüKo-StGB Bd.  4, 4.  Aufl. 2021, §  186 Rn.  6; Perron in Schönke/Schröder-StGB, 30.  Aufl. 2019, §  263 Rn.  9. 273  Wie hier Fischer, StGB, 70.  Aufl. 2023, §  186 Rn.  2; Hilgendorf, Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht, S.  143 ff.; T. Walter, Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, S.  61 ff.; Valerius in BeckOK-StGB, 57. Edition (Stand: 01.05.2023), §  186 Rn.  3. 274  Bachof, JZ 1955, 97, 100. 272 

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Geschehnisse, die in der Zukunft liegen, sind nämlich (entgegen der herrschenden Meinung275) ebenso wie gegenwärtige oder vergangene Ereignisse Tatsachen, sodass eine Aussage über Zukünftiges eine Aussage über Tatsachen ist.276 Tatsachen sind nach einhelliger Meinung konkrete, sinnlich wahrnehmbar in die Wirklichkeit getretene (und damit beweisbare), nach Raum und Zeit bestimmte Geschehnisse oder Zustände der Außenwelt und des menschlichen Seelenlebens.277 Wahrnehmbar und damit beweisbar sind aber auch zukünftige Umstände. Zwar sind sie nicht (wie Gegenwärtiges oder Vergangenes) direkt beobachtbar und damit nicht unmittelbar wahrnehmbar; sie sind aber – wie gerade in Abschnitt 1 dargelegt – aus wahrnehmbaren Fakten mit Hilfe von Erfahrungssätzen mittelbar erschließbar. Die unmittelbar wahrnehmbare Tatsachenbasis erlaubt es, auch die Prognose auf ihre Übereinstimmung mit der Realität (adaequatio intellectus et rei278) hin zu überprüfen.279 Darüber hinaus kommt es für das Erfordernis der „Beweisbarkeit“ nicht auf eine aktuelle, sondern allein auf eine grundsätzliche Beweismöglichkeit an.280 Für die Beweisbarkeit einer Kriminalprognose spricht zudem, dass das Gericht sich beim Prognostizieren sachverständiger Hilfe bedienen kann, was denklogisch nur im Tatsachenbereich möglich ist, nicht aber dann, wenn es auf eine Meinungsäußerung oder ein Werturteil des Richters ankommt.281 Nur dann, wenn man dies anerkennt und die Prognosen mithin als Tatsachenaussagen begreift, können auch die logischen Probleme vermieden werden, denen die herrschende Meinung begegnet:282 Beispielsweise ist der Satz „Morgen wird es regnen“ nach herrschender Meinung ein Werturteil. Schon zwei Tage später aber soll die Aussage „Gestern hat es geregnet“ zu einer Tatsachenaussage geworden sein – obwohl sie sich auf den gleichen Zustand bezieht, nämlich auf 275  Nach

h. M. ist nur dasjenige eine Tatsache, was eine geschichtliche Existenz hat, also was ist oder war, RG, Urteil v. 21.12.1920 – II 1214/20, RGSt 55, 129, 131; OLG Brandenburg, Urteil v. 02.09.1998 – 1 U 4–98, NJW 1999, 3339, 3341; Heger in Lackner/Kühl-StGB, 30.  Aufl. 2023, §  186 Rn.  3 m. w. N.; Rege/Pegel in MüKo-StGB Bd.  4, 4.  Aufl. 2021, §  186 Rn.  5; zur h. M. auch Hilgendorf, Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht, S.  114. 276  So auch Foerste in Musielak/Voit-ZPO, 18.  Aufl. 2021, §  284 Rn.  2. 277  Zum Tatsachenbegriff bereits oben S.  51; zur Beweisbarkeit als Eigenschaft von Tatsachen etwa BGH, Urteil v. 28.06.1994 – VI ZR 252/93, NJW 1994, 2614, 2615 (m. w. N.); Perron in Schönke/Schröder-StGB, 30.  Aufl. 2019, §  263 Rn.  8. 278  Zur Wahrheit als Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand bzw. Übereinstimmung einer Aussage mit dem wirklichen Sachverhalt Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, S.  5 f. 279  Hilgendorf in LK-StGB Bd.  10, 13.  Aufl. 2023, §  185 Rn.  4; Hilgendorf, Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht, S.  113 ff., 143 ff. 280  Valerius in BeckOK-StGB, 57. Edition (Stand: 01.05.2023), §  186 Rn.  3. 281  Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  50. 282  Hilgendorf, Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht, S.  145.

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das Regenwetter an einem bestimmten Tag und an einem bestimmten Ort. Dabei unterscheiden sich beide Äußerungen allein durch den Zeitfaktor – einmal wird die Aussage vor dem genannten Ereignis getroffen, und einmal danach. Die herrschende Meinung müsste es also für möglich halten, dass allein durch diesen Zeitfaktor eine Aussage von einem Werturteil zu einer Tatsachenaussage wird. Die Unterscheidung zwischen Werturteilen und Tatsachenaussagen richtet sich aber eigentlich allein danach, ob der jeweiligen Aussage eine Bewertung in positiver oder negativer Hinsicht innewohnt oder ob sie rein deskriptiv und damit beweisbar ist:283 Die Unbestimmtheit eines Rechtsbegriffs ist nur dann mit Wertungen auszufüllen, wenn dem Rechtsanwender ein „Akt der inneren Stellungnahme“ abverlangt wird, also ein positives oder negatives Urteil, nämlich darüber, ob ein bestimmter Sachverhalt erstrebenswert oder zu vermeiden ist, ob er billigenswert oder nicht billigenswert oder gegenüber einem anderen Sachverhalt vorzugswürdig oder hinter diesen zurückzusetzen ist.284 Ein Begriff, der ein solches Werturteil enthält, drückt also stets selbst eine Norm aus und ist deshalb ein normativer Begriff.285 Darunter fällt beispielsweise die Frage nach einem Verstoß gegen „Treu und Glauben“ (§  242 BGB) oder gegen die „guten Sitten“ (§  138 BGB, §  826 BGB). Auch die Beurteilung einer Handlung als „verwerflich“ (§  240 Abs.  2 StGB) oder die Rechtfertigung einer Maßnahme mit „Gründen des Wohls der Allgemeinheit“ (§  31 Abs.  2 BauGB) enthält ein solches Werturteil.286 In diesen Fällen enthält das Urteil die Aussage, dass das betreffende Verhalten oder der in Frage stehende Sachverhalt aus allgemein anerkannten moralischen Gründen oder von Rechts wegen (also unter Berufung auf die Maßstäbe der Rechtsordnung und insbesondere auf verfassungsrechtliche Vorgaben) die entsprechende Bewertung verdient.287 Deskriptiv ist ein (unbestimmter) Begriff hingegen dann, wenn er eine tatsächliche Begebenheit neutral umschreibt. Er enthält damit eine reine Tatsachenaussage.288 Eine Wertung in dem Sinne, dass etwas gut oder schlecht sei, kann man hier nicht ausmachen. Die eine Prognose fordernden Begriffe der „Erwartung“ oder „Gefahr“ sind solche rein deskriptiven Begriffe, die auf einer Erfahrung und 283 

T. Walter, Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, S.  64. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  111. 285  Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S.  37. 286  Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S.  111 f.; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S.  37. 287  Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  111 f. 288  Zur Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Begriffen Engisch, Einführung in das juristische Denken, S.  160 f.; Engisch, in Engisch/Maurach (Hrsg.), FS-Mezger, S.  127–163, 140 ff.; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S.  31 ff.; Puppe, NStZ 2012, 409 ff. 284 

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nicht auf einer Wertung beruhen.289 Und die Aussage, dass es regnen wird bzw. dass es geregnet hat, enthält keine Wertung dahingehend, ob man sich über den Regen freut oder ob man ihn verabscheut. Es wird vollkommen wertungsfrei allein das Wetter beschrieben – und zwar auch dann, wenn es um eine Wettervorhersage geht. Für die Beurteilung einer „Gefahr“ hat Puppe dies anschaulich dargelegt: „[…] Der Begriff der Gefahr […] hat insofern eine wertende Komponente, als man von einer Gefahr nur dann spricht, wenn das Ereignis, auf das sich das Gefahrurteil bezieht, negativ bewertet ist. Ist es positiv bewertet, so nennt man die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts eine Chance. Aber wir können die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Ereignisses begrifflich von seiner negativen oder positiven Bewertung trennen und erhalten dann den vagen quantitativen Begriff der Wahrscheinlichkeit.“290

b) Abgrenzung zur Konkretisierung von deskriptiven unbestimmten Rechtsbegriffen Auch Frisch erkennt, dass es sich bei der Prognose nicht um ein Werturteil handelt – dennoch versteht er die Prognose auch nicht als Tatsachenurteil, weil er davon ausgeht, die zum Prognostizieren verwendeten Erfahrungssätze konkretisierten die Prognosenormen und damit den je geforderten Wahrscheinlichkeitsgrad: „Die allgemeinen Sätze, die besagen, welche Konstellationen bestimmte Wahrscheinlichkeiten ‚erbringen‘, sind recht besehen nichts weiter als Instrumente einer Konkretisierung der je verlangten Wahrscheinlichkeiten. Sie sagen, welche konkreten, d. h. durch bestimmte wahrnehmbare Merkmale charakterisierten Lebenssachverhalte hinter dem Erfordernis einer bestimmten Wahrscheinlichkeit stehen und damit dem Normbefehl unterworfen werden. Sie haben – mit anderen Worten – eine ganz entsprechende Funktion wie z. B. jene Wertvorstellungen, die den Begriff der ‚guten Sitten‘ oder des ‚geringen Wertes‘ ausfüllen. Sie sind nur anderen Inhalts – nicht wert-, sondern erfahrungsorientiert.“291

Damit stellt Frisch den empirischen Charakter der Prognose insgesamt in Frage: „Der Eindruck der Zugehörigkeit der Prognose zur Tatfrage entsteht offensichtlich dadurch, daß es hier um die Beurteilung von Fakten im Lichte des Erfahrungswissens geht. Die Notwendigkeit einer Beurteilung von Faktoren nach Maßgabe der Erfahrung scheint die Prognose als zukunftsgerichtetes Seitenstück der – vergangenheits- oder gegenwartsbezogenen – Tatsachenfeststellung auszuweisen. Doch der erste Eindruck trügt. Erfahrungssätze haben im Gesamtvorgang der Rechtsanwendung verschiedene Bedeutungen. Sie dienen nicht nur – wie bei der Tatsachenfeststellung – dazu, im Wege eines Hypothesenauschlußverfahrens festzustellen, ob 289  Als rein beschreibenden Begriff versteht auch Engisch den Begriff der Wahrscheinlichkeit, Engisch, in Engisch/Maurach (Hrsg.), FS-Mezger, S.  127–163, 144 f.; Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S.  97, 99. 290  Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S.  35 f. 291  Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, S.  14.

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ein bestimmter der Norm unterfallender tatsachenartiger Sachverhalt […] zur Wirklichkeit gehört, also Tatsache ist. Erfahrungswissen und Erfahrungssätze haben auch eine wichtige zweite Funktion: Sie füllen die Norm inhaltlich aus, konkretisieren diese. Der Verweis auf Erfahrungssätze hat hier eine ganz ähnliche Funktion wie der Verweis auf bestimmte Wertvorstellungen – etwa auf die ‚guten Sitten‘ oder auf bestimmte Bräuche. Die Erfahrungssätze geben der Norm erst Kontur: Durch die Inbezugnahme des Erfahrungswissens oder bestimmter Erfahrungssätze in der Norm wird der Anwendungsbereich der Norm festgelegt.“292 „Die Prognosestellung […] ist damit reine Rechtsfrage, nämlich ein spezifischer Typus fallbezogener, erfahrungsfundierter Normkonkretisierung.“293

Richtig ist daran aber lediglich, dass Erfahrungssätze zwei unterschiedliche Funktionen erfüllen können: Einerseits können sie zur Feststellung des subsumierbaren Sachverhalts beitragen, also zur Bildung des Satzes „S weist die Merkmale M1, M2, M3 auf“.294 Andererseits können sie die Anwendbarkeit der Norm als solche beeinflussen, also den Satz „Der Tatbestand T ist vollständig gekennzeichnet durch die Merkmale M1, M2, M3“. Die Hauptfunktion von Erfahrungssätzen zielt allerdings darauf ab, den Schluss auf einen bestimmten tatsächlichen Sachverhalt zu ermöglichen, der nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, aber im Verfahren festgestellt werden muss, weil er zum Subsumtionsstoff gehört (sog. „Subsumtionstatsachen“).295 In diesem Fall helfen Erfahrungssätze also bei der Bildung eines Tatsachenurteils. Diese bekannte Funktion haben Erfahrungssätze auch beim Indizien- und Anscheinsbeweis, weil es dabei ausschließlich um die Bildung einer Aussage über tatsächliche Begebenheiten geht.296 Weil es aber auch bei der Prognose um eine solche Aussage über tatsächliche Begebenheiten geht (oben a), muss auch für die Prognose gelten, dass Erfahrungssätze zur Bildung dieses Tatsachenurteils beitragen und nicht die Prognosenorm konkretisieren. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die zweite Funktion von Erfahrungssätzen (die allgemeingültige Konkretisierung des Anwendungsbereiches einer Norm) insbesondere bei unbestimmten Gesetzesfassungen (also unbestimmten deskriptiven Rechtsbegriffen und Generalklauseln297) zur Geltung ge292 

Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, S.  173. Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, S.  174. 294  Siehe oben S. 55. 295  Seiter, in Grunsky (Hrsg.), FS-Baur, S.  573–594, 574. 296  Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  95 f.; Doukoff, SVR 2015, 245 ff.; Hainmüller, Der Anscheinsbeweis und die Fahrlässigkeitstat, S.  24 f.; Häcker/ Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  150 ff. Rn.  621 ff.; Huber, JuS 2016, 218 ff.; Volk, NStZ 1996, 105 ff. 297  Siehe dazu näher Engisch, Einführung in das juristische Denken, S.  159 f., 176 f., 179; Rüthers et al., Rechtstheorie, §  5 Rn.  185, §  23 Rn.  836; Wank, Juristische Methodenlehre, §  13 Rn.  1. 293 

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langt298 und dass es sich bei den die Prognose fordernden Begriffen um solch unbestimmte Begriffe handelt. Denn im Unterschied zu anderen unbestimmten deskriptiven Rechtsbegriffen wie der „Verkehrssitte“ oder dem „Handelsbrauch“, die einer abschließenden Definition nicht zugänglich sind, muss bei der Prognose kein dem Begriff immanenter Leitgedanke einzelfallabhängig konkretisiert werden. Wie oben unter Teil 2 Abschnitt A I bereits dargelegt ist die rechtliche Frage danach, welcher Wahrscheinlichkeitsgrad verlangt wird, strikt zu trennen von der Frage danach, wann diese Wahrscheinlichkeit bejaht werden kann.299 Und Erfahrungssätze sind nur für die zweite Frage relevant. Sie sind deshalb bei der Prognose keine „Hilfsmittel der Gesetzesauslegung“, „Rechtsanwendungshilfen“ oder „Hilfsmittel bei der rechtlichen Beurteilung“,300 sondern allein Hilfsmittel für den Schluss von einer einzelfallabhängigen Tatsachengrundlage auf tatsächliche Umstände, sie beeinflussen also allein die richterliche Überzeugungsbildung als solche und nicht den Anwendungsbereich einer Norm – genauso wie beim Indizienbeweis. c) Sprachliche Feinheiten Was die Wortwahl betrifft, so sollte man nur diese außerrechtliche Entscheidungskomponente als „eigentliche Prognose“ bezeichnen, denn erst hier geht es um die Vorhersage eines künftigen Ereignisses301, und der Gesetzgeber302 versteht unter einer „Prognose“ eine „Erwartung“ (künftiger Straftaten) und damit eine empirische Wahrscheinlichkeitsaussage. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist die „Prognose“ darüber hinaus nicht nur (irgend-)eine Vorhersage, sondern eine wissenschaftlich begründete Vorhersage einer künftigen Entwicklung.303 298 Dazu

Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  100 ff.; Foerste in Musielak/Voit-ZPO, 18.  Aufl. 2021, §  284 Rn.  3 f.; Jesch, AöR 1957, 163 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  37 ff., 113; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S.  112 ff.; Rüßmann, in Alexy et al. (Hrsg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, S.  357–367, 366; Seiter, in Grunsky (Hrsg.), FS-Baur, S.  573–594, 574 f.; F. Stein, Das private Wissen des Richters, S.  39 ff.; Wank, Juristische Methodenlehre, §  13 Rn.  1 f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S.  58 ff., 80 f. 299  Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  50; vgl. Volk, NStZ 1996, 105, 106. 300  So aber bei der Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen, siehe Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  79, 100; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  109. 301  Vgl. auch Frisch, in Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, S.  55–136, 75 f.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  222. 302  BT-Drucks. V/4094, S.  11. 303  Brockhaus, Prognose, https://brockhaus.de/ecs/julex/article/prognose (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023).

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Insofern drücken sich einige Autoren, die sich mit der richterlichen Kriminalprognose beschäftigt haben, zumindest missverständlich aus. Beispielsweise unterscheidet Volckart zwar zwischen Wahrscheinlichkeitsaussage und normativem Teil der Kriminalprognosenormen;304 als das „eigentliche Prognoseurteil“ bezeichnet er allerdings nicht die Wahrscheinlichkeitsaussage, sondern die normative Bestimmung des Umschlagspunkts.305 Eine ähnliche Formulierung findet man in den im Jahr 2006 veröffentlichten Mindestanforderungen für Prognosegutachten: „Auch die vom Gesetz geforderte Gefahrenprognose, also das Urteil, ob sie […] ausreichend günstig […] ist oder nicht, ist ausschließlich ein normativer Prozess.“306 Das ist natürlich nur ein begriffliches, kein inhaltliches Problem. Um Verwirrung zu vermeiden oder zumindest um die ohnehin im Bereich der Kriminalprognose bestehende Verwirrung nicht unnötig zu verstärken, sollte als „Prognose“ oder „Wahrscheinlichkeitsurteil“ aber weder die normative Entscheidungskomponente bezeichnet werden noch der objektive Vorgang der Sachverhaltsfeststellung (Tatsachengrundlage). Allein für die Schlussfolgerung des Gerichts aus der zuvor festgestellten Tatsachengrundlage, also für die epistemische Wahrscheinlichkeitsaussage, sollte der Begriff der „Prognose“ verwendet werden. d) Das Prognosegutachten des Sachverständigen als Prämisse für das Wahrscheinlichkeitsurteil des Richters Neben den bereits angesprochenen Prämissen des Wahrscheinlichkeitsurteils (Erfahrungssatz und Tatsachengrundlage) gibt es bei der richterlichen Kriminalprognose noch eine weitere Prämisse, die nicht vernachlässigt werden darf: das Prognosegutachten des Sachverständigen. Auch dieses Gutachten trägt zur Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils des Gerichts bei. aa) Aufgabenverteilung zwischen Gericht und Gutachter „Hat der […] Richter die Hilfe eines ärztlichen Sachverständigen in Anspruch genommen […], so muß er sich bewußt sein, daß er Aussagen oder Gutachten des Sachverständigen selbstständig zu beurteilen hat. Der Richter leitet dessen Tätigkeit nicht nur (vgl. §  78 StPO), er hat auch die Prognoseentscheidung selbst zu treffen; er darf sie nicht dem Sachverständigen überlassen […].“307 304 

Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  5 ff., 43, 50 f. Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  51. 306  Boetticher et al., NStZ 2006, 537, 540; vgl. auch die missglückte Formulierung bei Groß in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  56 Rn.  59: „Die Kriminalprognose […] und […] sind wertende Zuordnungen, für die keine Beweisregel zutreffen kann, für die vielmehr der Satz ‚iura novit curia‘ gilt.“ 307  BVerfG, Beschluss v. 08.10.1985 – 2 BvR 1150/80, 2 BvR 1504/82, NJW 1986, 767, 768; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 07.10.1981 – 2 BvR 1194/80, NJW 1982, 691, 692. 305 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Ein wichtiges Indiz für die Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils bei der Kriminalprognose ist das Prognosegutachten des Sachverständigen. Da das Gericht nicht immer das notwendige Erfahrungs- und Fachwissen hat, um das künftige Verhalten eines Menschen vorherzusagen, kann es sich auf die Aussage eines Sachverständigen stützen.308 Hierdurch wird die eigene Vorhersage rational und intersubjektiv vermittelbar. Der dazugehörige Erfahrungssatz würde dann etwa lauten: „Wann immer ein für den fraglichen Bereich ausgebildeter Sachverständiger ein Ereignis voraussagt, so wird dieses Ereignis eintreten.“309 Natürlich ist in der Praxis die Einholung eines Gutachtens die Ausnahme, weil die Tatrichter für die meisten strafrechtlichen Prognoseentscheidungen (etwa die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung nach §  56 StGB) selbst über die erforderliche Sachkunde verfügen (vgl. §  244 Abs.  4 Satz 1 StPO).310 In komplizierteren Fällen hingegen verlangt das Gesetz sogar ausdrücklich die Hinzuziehung eines Sachverständigen. Das ist insbesondere bei der Entscheidung über eine freiheitsentziehende Maßregel so (§§  80a, 81, 246a, 415 Abs.  5 StPO). Insgesamt hat ein Sachverständiger drei Aufgaben, um dem Gericht die notwendige Sachkunde zu vermitteln, wenn es diese nicht selbst hat:311 Dazu gehört zunächst die bereits angesprochene Beurteilung von Tatsachen, die bei der Prognose etwa durch eine Wahrscheinlichkeitsaussage mittels klinischer Prognosemethoden erfolgt. Außerdem gehört noch die Referierung von Erfahrungswissen zu den Aufgaben des Sachverständigen, also etwa die Angabe statistischer Wahrscheinlichkeiten. Die dritte Aufgabe ist schließlich die Feststellung von Befundtatsachen. Der Sachverständige hilft dem Gericht also mit seinen erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten einerseits bei der Ermittlung der prognoserelevanten Tatsachen und vermittelt ihm andererseits die notwendige Sachkunde für die Bewertung dieser Tatsachen. Die sich anschließende rechtliche Bewertung hingegen ist alleinige Aufgabe des Gerichts. Es wird auch nicht die Prognose des Gutachters an die Stelle der Prognose des Gerichts gesetzt, sondern die gutachterliche Aussage ist lediglich eine Prämisse für das Wahrscheinlichkeitsurteil des Gerichts, sie erweitert dessen Tatsachengrundlage. Der Sachverständige ist damit lediglich „Gehilfe des Richters“312, er kann diesem 308 

Boetticher et al., NStZ 2019, 553 (ebd.). Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  1 (1974), S.  194 f. 310  Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221– 258, 228. 311 Dazu Boetticher et al., NStZ 2019, 553, 554; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  1501; König, R&P 2010, 67 ff.; Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  249; Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221–258, 229 f.; Steinke, NStZ 1994, 16 (ebd.); Stinshoff, Die operative Fallanalyse im Strafprozess, S.  108 ff. 312  BGH, Urteil v. 24.06.1952 – 1 StR 130/52, NJW 1952, 899, (ebd.); Urteil v. 08.03.1955 309 Vgl.

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aber nicht dessen Verantwortung abnehmen313 – gleichzeitig muss der prognostizierende Richter sich an der Prognose des Sachverständigen orientieren und darf davon nur abweichen, wenn er dies transparent macht und nachvollziehbar begründen kann.314 bb) Große und kleine Prognose Wie genau der Sachverständige zu seinem Prognosegutachten kommt, ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. An dieser Stelle kann deshalb auf die in der Literatur bereits vorhandenen Ausführungen zu den unterschiedlichen Prognosemethoden verwiesen werden.315 Hier soll nur eine sprachliche Unstimmigkeit ausgeräumt werden, die man immer wieder liest: Grundsätzlich unterscheidet man zwischen intuitiver, statistischer und klinischer Prognosemethode, wobei hinter der sogenannten „intuitiven Prognosemethode“ eigentlich keine wissenschaftliche Methode steckt, weil die Prognose in diesem Fall lediglich eine unsystematische Voraussage darstellt, die auf Alltagstheorien und dem Erfahrungswissen des Gerichts beruht und keinen fachwissenschaftlichen Hintergrund hat.316 Wenn in der Praxis von einer „intuitiven Prognose“ die Rede ist, so ist damit aber nicht wirklich gemeint, dass das Wahrscheinlichkeitsurteil auf bloßer Intuition fußt, also auf einem automatischen, schnellen, anstrengungslosen und weitgehend unbewussten Prozess der Informationsverarbeitung, der in einem Gefühl resultiert, das ein Urteil oder eine Entscheidung beeinflussen kann.317 Denn auch die „intuitive Prognose“ beruht auf Erfahrungswissen, und zwar auf dem Erfahrungswissen des Gerichts. Gemeint ist also eigentlich, dass das Gericht sich ohne Hinzuziehung eines Wissenschaftlers selbst sein Prognoseurteil bildet.318 Dabei hat das Gericht aber die Lo– 5 StR 49/55, NJW 1955, 840, 841; Urteil v. 07.06.1956 – 3 StR 136/56, NJW 1956, 1526, 1527. 313  Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  1607; Hadamitzky in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, Vor §  72 Rn.  1; Trüg/Habetha in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  244 Rn.  74; Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221–258, 228 ff. 314  Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  1609; Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  250, 314; vgl. auch Steinke, NStZ 1994, 16 (ebd.). 315  Dazu etwa Boetticher et al., NStZ 2009, 478 ff.; Dünkel/Pruin in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  57 Rn.  115 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S.  385 ff. Rn.  781 ff.; Pollähne, Kriminalprognostik, S.  145 ff.; zum Streit über die Basisrate etwa König, R&P 2010, 67, 69 f.; Pollähne in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  63 Rn.  66. 316  Dünkel/Pruin in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  57 Rn.  116; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S.  385 f. 317  Zur dieser Definition von „Intuition“ Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  257. 318 Vgl. Radtke/Scholze in MüKo-StGB Bd.  7, 4.  Aufl. 2022, §  21 JGG Rn.  24; Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, Rn.  201.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

gik des prognostischen Denkvorgangs zu beachten und nachprüfbare Tatsachen zugrunde zu legen. Volckart unterschiedet deshalb sinnvollerweise nicht zwischen intuitiver und wissenschaftlicher Prognose, sondern zwischen „großer Prognose“ (das Gericht bedient sich sachkundiger Unterstützung) und „kleiner Prognose“ (das Gericht prognostiziert allein).319

III. Kein in dubio pro reo aus Gründen der Dogmatik In diesem Abschnitt soll es zunächst um die dogmatischen Gründe gehen, die gegen eine Anwendung von in dubio pro reo auf Zweifel in Bezug auf die Prämissen des empirischen Wahrscheinlichkeitsurteils sprechen, bevor Abschnitt IV die logischen Gründe darlegt. Aus dogmatischer Sicht ist es die Rechtsnatur der In-dubio-Regel, die sie für unsichere Prämissen unanwendbar macht. 1. Die Rechtsnatur von in dubio pro reo als Grund für das „Ob“ der Berücksichtigung von Unsicherheiten Die Regel in dubio pro reo ist eine Entscheidungs- bzw. Beweislastregel und keine Beweiswürdigungsregel. Ihre Anwendung darf deshalb nicht dazu führen, dass einzelne zweifelhafte Tatsachen als gegeben unterstellt oder vollständig ausgeblendet werden. Nur die Entscheidung über den Rechtsfolgenausspruch selbst, die das Gericht zu treffen hat, darf und muss zugunsten des Angeklagten ausfallen. Wenn das Gericht also beispielsweise nicht davon überzeugt ist, dass der wegen Mordes an seiner Frau Angeklagte tatsächlich der Täter war, so ist er freizusprechen. Es wird dabei aber nicht gemäß in dubio pro reo unterstellt, dass der Angeklagte sicher nicht der Täter war, sondern es wird lediglich gemäß in dubio pro reo das Urteil dergestalt gefällt, dass ein Freispruch zu erfolgen hat. Die Zweifel an der Täterschaft werden nicht zugunsten des Angeklagten ausgeräumt, sondern sie bleiben bestehen. Allein die Entscheidung selbst fällt aufgrund der bestehenden Zweifel zugunsten des Angeklagten aus. Bei diesem einfachen Beispiel wird das auch niemand bestreiten. Das entspricht der ganz herrschenden Meinung. Schwieriger wird es, wenn das Gericht nicht erst an der Täterschaft des Angeklagten als solcher zweifelt (also an der zu beweisenden Haupttatsache), sondern an einzelnen zur Täterschaft führenden Indizien, also an Hilfstatsachen, die nicht selbst unmittelbare Tatbestandsmerkmale sind, sondern die lediglich mittelbar auf Tatbestandsmerkmale wie die Täterschaft schließen lassen. Auch hier gilt aber: Allein die Entscheidung über den Rechtsfolgenausspruch in ihrer Gesamtheit, nicht bereits die Beweiswürdigung fällt bei fehlender Überzeugung des Ge319 

Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  59 f.

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richts zugunsten des Angeklagten aus. Und weil sich die richterliche Überzeugung i. S. d. §  261 StPO nur auf solche Umstände beziehen muss, die zum Tatbestand einer Norm gehören, führen Zweifel an einzelnen Indizien nur dann zu einer Entscheidung pro reo, wenn sie auf das Gesamtergebnis durchschlagen, wenn sie also dazu führen, dass das Gericht sich von der Tat insgesamt keine Überzeugung verschaffen konnte. Die In-dubio-Regel greift erst nach abgeschlossener Beweiswürdigung ein. Eine Entscheidung pro reo ist nur angebracht, wenn das Gericht an unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsachen zweifelt. Die einzelnen unsicheren Indizien bleiben in jedem Fall zweifelhaft, auch sie werden (genau wie eine zweifelhafte Haupttatsache) weder als gegeben unterstellt (wenn tätergünstig) noch vollkommen bei der Beweiswürdigung ausgeblendet (wenn täterungünstig). Dass die In-dubio-Regel erst nach abgeschlossener Beweiswürdigung eingreift, ist schon lange nichts Neues mehr für die Rechtswissenschaft. Und doch verstößt die ganz herrschende Meinung zu Prognose- und Schätzurteilen gegen diese allgemein anerkannte Ordnung und damit gegen geltendes Strafprozessrecht in besonders auffälliger Weise, wenn sie gemäß in dubio pro reo Unsicherheiten in Bezug auf die Tatsachengrundlage einer Prognose oder einer Schätzung beseitigt. Rechtsprechung und herrschende Meinung machen hier aus der Entscheidungsregel in dubio pro reo eine Beweiswürdigungsregel, obwohl es solche Regeln im modernen deutschen Strafprozess nicht gibt und auch nicht geben darf, wie ein Ausflug in die Geschichte des Beweisrechts zeigen wird. Denn eine Regel, die besagt, dass eine Tatsache so zu behandeln sei, als sei sie gegeben oder als sei sie definitiv nicht gegeben, ist eine Beweiswürdigungsregel. Die Beweiswürdigung ist ein von formalen Beweisregeln freier, logischer und auf Erfahrung beruhender Vorgang der Reflexion. Dem Gericht wird also nicht vorgeschrieben, wie es einzelne Beweise zu würdigen hat (dazu sogleich Abschnitt 2). Die In-dubio-Regel ist keine formale Beweisregel, sie hat eine vollkommen andere Rechtsnatur (dazu unten Abschnitt 3). Bereits deshalb dürfen Zweifel in Bezug auf die Prämissen des Wahrscheinlichkeitsurteils nicht unter Anwendung der In-dubio-Regel überwunden werden – ebenso wenig, wie sie in Bezug auf einzelne Indizien beim Indizienbeweis überwunden werden dürfen (dazu unten Abschnitt 4). 2. Freie Beweiswürdigung im deutschen Strafprozess Die In-dubio-Regel kann dem Gericht nicht vorschreiben, wie es einzelne Prämissen des Wahrscheinlichkeitsurteils zu bewerten hat. Denn nach dem im heutigen Strafprozess geltenden Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist zum Beweis die subjektiv-persönliche Gewissheit des jeweils entscheidenden Richters

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erforderlich und genügend.320 Diese Gewissheit ist dabei kein bloßes Gefühl oder ein Instinkt, sondern ein logischer und auf allgemeiner Erfahrung beruhender Vorgang der Reflexion. Wenn der Tatrichter also gemäß §  261 StPO nach seiner freien Überzeugung entscheidet, dann ist er nicht an Vorschriften gebunden, die festlegen, wann ein Umstand als bewiesen anzusehen ist.321 Er muss allein den Regeln der Logik und der Erfahrung folgen. Das war nicht immer so. Um zu zeigen, was freie Beweiswürdigung bedeutet, ist es sinnvoll, darzulegen, was sie nicht bedeutet: Bis zum späten Mittelalter war das deutsche Strafverfahren als Anklageverfahren ausgestaltet und von formalen Beweismitteln (Beweisregeln) geprägt.322 Der Beweis für eine Straftat galt als erbracht, wenn seine äußere Form eingehalten wurde. Eine freie Beweiswürdigung fand hingegen nicht statt.323 So konnte die Schuld des mutmaßlichen Delinquenten beispielsweise durch Gottesurteil, im Zweikampf oder mittels Eides zweifelsfrei festgestellt werden.324 Das bedeutet, dass die Schuld des Verdächtigten als gegeben betrachtet wurde, wenn ein formaler Beweis gelang, also beispielsweise ein entsprechender Eid geleistet wurde. Beweisregeln ließen keinen Raum für persönliche Zweifel des entscheidenden Richters, sondern sie führten stets zu klaren Ergebnissen. Dies änderte sich erst durch die Rezeption des römischen und kanonischen Rechts im 15. und 16. Jahrhundert, das vor allem in der Constitutio Criminalis Carolina325 seinen Eingang fand.326 Die Carolina sah zwei formal gleichberechtigte Möglichkeiten vor, ein Strafverfahren einzuleiten: die Privatklage und die Einleitung von Amts wegen, wobei der Schwerpunkt auf dem zuletzt genannten Weg lag.327 Nach Einleitung wurde das Verfahren als amtlich betriebener Inquisitionsprozess durchgeführt, der aus dem Kirchenrecht kam und sich auch im 320 

Küper, Die Richteridee, S.  294, auch zum folgenden Satz. Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  49. 322  Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S.  38 ff. §  29, S.  76 §  65; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  7; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  120 ff. 323  Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S.  38 ff. §  29, S.  76 §  65; vgl. T. Walter, JZ 2006, 340, 341. 324  Holtappels, Die Entwicklungsgeschichte des Grundsatzes „in dubio pro reo“, S.  20 f.; Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S.  39 §  29, S.  76 §  65; zu den einzelnen Beweismitteln G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  43 ff. 325  Constitutio Criminalis Carolina Kaiser Karls V. von 1532 (CCC), beruhend auf der bambergischen Halsgerichtsordnung von Johann Freiherr von Schwarzenberg, vgl. dazu Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S.  107 ff. §§  86 ff. 326  Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  7; Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S.  107 f. §  86. 327  Bechtel, ZJS 2018, 20, 24 f. 321 

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weltlichen Strafverfahren durchgesetzt hatte.328 Der Inquisitionsprozess hatte die magischen, formalen Beweismittel in den Hintergrund gedrängt und durch rationale Erkenntnismittel (etwa Zeugenbeweis und Geständnis, wenn auch durch Folter erzwungen) ersetzt.329 Da die Ermittlung der materiellen Wahrheit in den Vordergrund gelangt war, war das formale Beweisrecht abgelöst worden durch eine materielle Beweiswürdigung.330 Noch immer aber galt die Schuld des Angeklagten bei Bestätigung der Tat durch zwei Zeugen oder Geständnis des Angeklagten als erwiesen. Beweisregeln gab es mithin noch, frei war die Beweiswürdigung mitnichten.331 Lagen die Beweismittel vor, so erbrachten sie den vollen positiven Beweis für die Tat, die dem Angeklagten vorgeworfen wurde (positive Beweistheorie).332 Der Richter war dann gezwungen, auch gegen seine persönliche Überzeugung zu verurteilen.333 Mangelte es an den vorgenannten Beweisen, so war eine Verurteilung des Angeklagten nicht möglich. So beispielsweise, wenn es nur einen Tatzeugen gab oder lediglich Indizien vorlagen, weil zwei Zeugen nicht die Haupttat selbst bestätigten, sondern nur Hinweise gaben.334 Der (in Ermangelung von Beweisen) nicht überführte Angeklagte konnte dann gefoltert und so zu einem Geständnis gezwungen werden, das die Verurteilung wiederum rechtfertigte.335 Nachdem die Folter seit Beginn des 19. Jahrhunderts abgeschafft war336, mussten die Gerichte das schwierige Problem lösen, auch ohne ein durch Folter 328 

Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S.  241; zur Entwicklung bis dahin Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  123 ff. 329  Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S.  86 ff. §  70 ff.; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  47 ff. 330  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  49; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  50 f., 59; Wesel, Geschichte des Rechts, S.  386.; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  133 f. 331  Bechtel, ZJS 2018, 20, 26; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  136. 332  Frisch, ZIS 2016, 707, 708. 333  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  50. 334  G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  57. 335  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  49; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  57 f.; Wesel, Geschichte des Rechts, S.  386; vgl. auch Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S.  91 ff. §  74 ff., S.  126 f. §  108. Blieb das Geständnis aus, blieben die Zweifel also bestehen, so war zugunsten des Angeklagten ein Freispruch zu erteilen. Gab es allerdings belastende Indizien, die für sich allein (formal) die Verurteilung zwar nicht rechtfertigten, aber auch der Unschuld entgegenstanden, so konnte die Verpflichtung zum Reinigungseid oder eine außerordentliche Strafe (Verdachtsstrafe; nicht peinliche Strafe, z. B. Landesverweis) ausgesprochen werden, Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  7 ff.; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  247 ff. 336  Die Anwendung der Folter wurde durch König Friedrich II. von Preußen am 3. Juni 1740 im Zuge der Aufklärung verboten. Später folgten ihm andere deutsche Monarchen, sodass die Folter zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr praktiziert wurde, Holtappels, Die Ent-

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

erzwungenes Geständnis als formales Beweismittel zu einer Verurteilung zu kommen. Da selten zwei klassische Zeugen ein Verbrechen beobachteten und kaum noch ein vermeintlicher Straftäter ein Geständnis ablegte, wurden nun Ungehorsams- und Lügenstrafen eingesetzt (Tricks, mit denen die Justiz versuchte, auch ohne Folter ein Geständnis zu erlangen); vor allem aber wurde von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, bei fehlendem Geständnis die sog. Verdachtsstrafe (außerordentliche Strafe) zu verhängen, die im Vergleich zur ordentlichen Strafe milder ausfiel.337 Nach einer Order Friedrichs II. vom 27. Juni 1754 konnten die Angeklagten auch ohne Vorliegen der klassischen Beweismittel ordentlich verurteilt werden, nämlich dann, wenn Indizienbeweise vorlagen, die keinen Zweifel an der Schuld der Angeklagten ließen, wenn also „nichts weiter als ihr eignes Geständniß fehlt[e]“.338 Im Falle von „größte[m] Verdacht“ und Umständen, die die Tat „zum höchsten wahrscheinlich“ machten konnte die außerordentliche Strafe verhängt werden. Je nach Indizien wurde nach Abschaffung der Folter folglich entweder ordentliche Strafe oder außerordentliche Strafe verhängt oder aber auf Reinigungseid (Straflosigkeit nach Beschwörung der Unschuld durch den Angeklagten) oder „Entbindung von der Instanz“ (vorläufiger Freispruch ohne Rechtskraft, also mit Möglichkeit einer späteren Prozessfortführung)339 erkannt.340 Die Wahrheitsfindung im 18. Jahrhundert war geprägt vom Vernunftbild der Aufklärung. Nach Kant bedeutet Aufklärung den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, also aus dem „Unvermögen, sich seines Verstandes […] zu bedienen.“341 Erkenntnis sollte danach statt durch Überlieferungen oder autoritäre Vorgaben durch Benutzung des eigenen Verstandes und durch rational-vernünftiges Denken gefunden werden.342 Der Richter allerdings sollte aus Sicht der Aufklärer343 als Sprachrohr des Gesetzes fungiewicklungsgeschichte des Grundsatzes „in dubio pro reo“, S.  63 f.; Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S.  269 §  253, S.  279 ff. §§  259 f.; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  9. 337  Holtappels, Die Entwicklungsgeschichte des Grundsatzes „in dubio pro reo“, S.  64 f.; Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S.  271 §  253; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  10; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  51; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  61 ff. 338  Reskript zitiert bei G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  62 f., dort auch zum folgenden Text; vgl. Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  10. 339  G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  64. 340  Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  10. 341  Kant, in Zehbe (Hrsg.), Was ist Aufklärung?, S.  55–61, 55. 342  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  51. 343  Montesquieu (1698–1755), Cesare Beccaria (1738–1794), Gaetano Filangieri (1752– 1788), vgl. Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  52 ff.

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ren, das Gesetz also anwenden, aber nicht auslegen oder ändern. Sein Urteil sollte logisch-schematisch aus der (den Idealen der Aufklärung entsprechenden) Norm gefolgert werden. Zwar war die Zeit für das Prinzip einer völlig freien richterlichen Beweiswürdigung deshalb noch nicht reif.344 In der Zeit der Aufklärung wurde aber die Gefahr, aufgrund einer positiven Beweistheorie auch Unschuldige zu verurteilen, erkannt.345 Nach der Lehre von der negativen Beweistheorie, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde,346 sollte der Richter deshalb nicht mehr weiterhin gezwungen werden, den Angeklagten bei Vorliegen der klassischen Beweismittel (z. B. Geständnis, s. o.) zu verurteilen. Vielmehr sollte eine Verurteilung erst dann möglich sein, wenn neben den klassischen Beweismitteln zusätzlich noch eine subjektive richterliche Überzeugung von der geschehenen Tat und der Schuld des Täters gegeben war. Zu den gesetzlichen Beweisanforderungen kam das Erfordernis der individuellen Überzeugung des Richters hinzu.347 Da auf die klassischen Beweise zur Vermeidung von Willkürentscheidungen durch die Richter weiterhin nicht verzichtet wurde, spricht Frisch von einer „halbe[n] Freiheit“ der Richter.348 Die negative Beweistheorie wurde im 19. Jahrhundert Grundlage des geltenden deutschen Rechts.349 Dadurch verbesserte sich zwar die Stellung des Angeklagten im Prozess merkbar; es fehlten aber häufig die erforderlichen gesetzlichen Beweise. Oft war die richterliche Gewissheit aufgrund anderer erdrückender Beweise vorhanden, das reichte aber zur Verurteilung nicht. Die Folge war dann eine „Entbindung von der Instanz“.350 Aufgrund dieser Schwäche und weil die Angst vor richterlicher Willkür kleiner wurde,351 fingen Kritiker an, eine völlig freie Beweiswürdigung zu verlangen, also die Aufhebung der Bindung des Richters an gesetzliche Beweisregeln.352 In Frankreich wurde schließlich mit der Einführung des Geschworenengerichts im Jahr 1791 die gesetzliche Beweistheorie durch eine freie Beweiswürdigung abgelöst; von den Geschworenen konnte das Einhalten gesetzlicher Beweisregeln 344 

G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  65. Frisch, ZIS 2016, 707, 708 mit Nachweisen. 346 Bei Filangieri, System der Gesetzgebung, S.  257, 272; aufgenommen durch Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S.  132. 347  Frisch, ZIS 2016, 707, 708; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  65 ff. 348  Frisch, ZIS 2016, 707, 708. 349  G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  66. 350  G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  67; zur „Entbindung von der Instanz“ oben S. 98. 351  Die richterliche Unabhängigkeit wurde im 19. Jahrhundert Teil vieler europäischer Verfassungen, vgl. die Bayerische Verfassung von 1818 (dort Titel VIII §  3). 352  G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  67; für die Kritiker u. a. Jarcke, NACR 1826, 97, 100 ff.; Möhl, ZStrVerf 1844, 184 ff.; weitere Nachweise bei Küper, Die Richteridee, S.  233 ff. 345 

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nicht gefordert werden. Sie wurden außerdem – im Gegensatz zu den Richtern – nicht für bestechlich gehalten, sodass ihnen eine willkürliche Entscheidung nicht zugetraut wurde.353 Die Geschworenen sollten eine persönliche innere Überzeugung erlangen („avez-vous une intime conviction?“).354 An die Stelle des Richters, der sich bei der Beweiswürdigung an gesetzliche Regeln zu halten hatte, aber nahezu frei war in Wahl und Ausgestaltung der Strafe, trat ein Geschworener, der bei der Überzeugungsbildung völlig frei war und nur hinsichtlich Tatbestand und Rechtsfolge das Gesetz zu beachten hatte.355 In Deutschland setzte sich die freie Beweiswürdigung trotz anfänglicher Kritik356 im Laufe des 19. Jahrhunderts durch. Die philosophisch geschulten Strafrechtswissenschaftler, unter ihnen v. a. Jarcke und später Mittermaier,357 hatten gesehen, dass Beweisregeln bei der Würdigung von Beweisen nicht helfen konnten. Vielmehr komme es auf verschiedenartige und komplexe Erfahrungswerte an, die nicht auf autoritäre gesetzliche Beweisregeln zu kürzen seien, denn diese „unwandelbaren logischen Gesetze“358 gälten bereits aufgrund ihrer inneren Überzeugungskraft.359 „Wo hinreichende Erkenntnisgründe vorhanden sind […], da ist der Mensch die Wahrheit anzunehmen verpflichtet.“360 Die Wahrheit sei dann festgestellt, wenn die richterliche Überzeugung auf die eigene sinnliche Wahrnehmung und den Schluss von bekannten Tatsachen auf unbekannte gestützt werden könne. Weder die Gewissheit des Richters noch die des Geschwo353 Vgl.

Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S.  108; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  55 f. 354  Den Geschworenen wurde vor der Entscheidung eine Instruktion vorgelesen, welche die zitierte Frage enthielt. Die intime conviction wurde später in den Code d’instruction criminelle (1808) übernommen, Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  57; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  68 f. 355  Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S.  105; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  57. 356  Nach der Lehre vom „Totaleindruck ohne Reflexion“ hielt man die Beweiswürdigung des Richters für eine reflektive Tätigkeit, wohingegen man den Geschworenen eine solche Reflexion nicht zutraute und davon ausging, dass sie durch reine Anschauung zu ihrem Ergebnis kämen, G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  69 f.; zur Kritik u. a. Feuerbach, Über die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren Frankreichs, S.  418 f.; Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S.  119 f.; die Skepsis bestand hauptsächlich gegenüber einer Jury aus Geschworenen. Da die freie Beweiswürdigung nach damaliger Sicht untrennbar an das Geschworenengericht gebunden war, war auch sie von der Kritik umfasst, vgl. Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  216 ff. 357  Jarcke, NACR 1826, 97, 100 ff.; Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S.  65 ff.; vgl. auch Savigny, GA 1858, 469, 471 ff.; vgl. zur Verbreitung der Auffassung von Jarcke auch Küper, Die Richteridee, S.  224; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  60. 358  Jarcke, NACR 1826, 97, 107. 359  Frisch, ZIS 2016, 707, 709; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  50 f. 360  Jarcke, NACR 1826, 97, 108.

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renen beruhe damit auf einem bloßen Instinkt oder auf einem unreflektierten Totaleindruck. Es gehe vielmehr um eine Frage nach den Gründen, die zur Überzeugung führen; das Prüfen und Abwägen dieser Gründe sei ein logischer Vorgang der Reflexion. Es verbreitete sich die Auffassung, dass auch der von Beweisregeln befreiten Überzeugungsbildung der Geschworenen logisches Denken vorausgehen und dass auch sie sich auf objektive Gründe stützen müsse.361 Die Voraussetzungen für eine freie Beweiswürdigung auch des Berufsrichters waren damit geschaffen.362 Der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung wurde in Deutschland zwischen 1846 und 1850 – ohne ausschließliche Geltung für die nun ebenfalls vorgesehenen Schwurgerichte – in den Partikularstaaten flächendeckend eingeführt363 und später in der Reichsstrafprozessordnung von 1877364 verankert. Gleichzeitig mit der freien Beweiswürdigung und den Schwurgerichten wurden neben der Staatsanwaltschaft auch die Grundsätze über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens eingeführt, die notwendig waren, um gerichtliche Willkür zu vermeiden und damit eine freie Beweiswürdigung zu sichern.365 Dadurch konnte an der freien Beweiswürdigung schließlich sogar nach Abschaffung der Geschworenengerichte im Jahr 1924 festgehalten werden.366 Der Schwerpunkt des Verfahrens lag nun auf dem Hauptverfahren. Der heimliche, schriftliche Inquisitionsprozess war von einem Strafprozess abgelöst worden, auf dem das heutige Strafverfahren beruht.367 3. Entscheidungs- statt Beweis(würdigungs)regel „Während aber Beweislastvorschriften mit der Sachverhaltsfeststellung nichts zu tun haben und unmittelbar den Inhalt des Rechtsspruches festlegen, nehmen Beweisregeln den Weg über dessen tatsächliche Voraussetzungen. Sie schreiben vor, aus einer bestimmten Beweislage – das können feststehende oder auch zweifelhafte Tatsachen sein – auf ein bestimmtes Beweisergebnis zu schließen, lassen es also gar nicht erst zur Beweislastfrage kommen.“368

361  Jarcke, NACR 1826, 97, 101; vgl. Küper, Die Richteridee, S.  223 f.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  59. 362  Küper, Die Richteridee, S.  224; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  60. 363  Zuerst mit dem Gesetz für das Kammergericht und das Kriminalgericht zu Berlin v. 17.07.1846 (dort §  19) und der Verordnung für Preußen v. 03.01.1849 (dort §  22); vgl. Frisch, ZIS 2016, 707, 709 Fn.  16 mit Nachweisen zur Partikulargesetzgebung der Länder; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  11; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  74. 364  Dort §  260, heute §  261 StPO. 365  G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  74. 366  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  61. 367  G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  75. 368  Volk, JuS 1975, 25, 26 f.

102

Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Eine Beweisregel ist nach allem eine Regelung, die das Bewiesensein einer ungewissen Tatsache verbindlich festlegt.369 Die Anwendung der In-dubio-Regel hingegen führt nicht dazu, dass das Gericht aus einem tatsächlich zweifelhaften Sachverhalt einen sicheren Sachverhalt macht, indem es die für den Angeklagten günstige Sachverhaltsvariante unterstellt. Einer solchen Einstufung als Beweisregel370 wird – wie soeben gesehen richtigerweise – entgegengehalten, dass die Annahme von Beweisregeln im deutschen Strafprozess mit dem geltenden Grundsatz der freien Beweiswürdigung sowie mit dem Amtsermittlungsgrundsatz des §  244 Abs.  2 StPO unvereinbar ist.371 Wo Beweisregeln gelten, kann ein Beweis nicht frei gewürdigt werden, weil immer festgelegt ist, ob er unter bestimmten Voraussetzungen als erwiesen anzunehmen ist oder nicht. Mit der herrschenden Meinung372 ist die Interpretation von in dubio pro reo als Beweisregel deshalb abzulehnen. Die In-dubio-Regel beeinflusst nicht bereits die richterliche Auswertung der vorgebrachten Beweise, indem sie tatsächliche Ungewissheiten ausräumt (also Sachverhalte fingiert). Sie greift erst nach abgeschlossener Beweiswürdigung ein373 und ermöglicht damit eine Entscheidung in Fällen, in denen der Richter nicht die von §  261 StPO geforderte Überzeugung erlangen konnte. Bei verbleibenden Zweifeln des Richters am Vorliegen bestimmter Tatsachen soll die Entscheidung – und zwar nur die Entscheidung – zugunsten des Angeklagten ausfallen: in dubio pro reo iudicandum est (im Zweifel ist für den Angeklagten zu entscheiden).374 An dieser Stelle ist „entscheidend […], daß ein […] Verständnis […] [von in dubio pro reo] als Aufforderung zur – wörtlich gemeinten – Feststellung der dem Angeklagten günstigen Tatsachen […] nicht ge-

369 

Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  28 m. w. N. Dafür noch RG, Urteil v. 02.10.1918 – I 409/18, RGSt 52, 319 (ebd.); RG, Urteil v. 31.03.1931 – I 589/590/30, RGSt 65, 250, 255; K. Peters, Strafprozeß, S.  287 f.; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage im Strafrecht, S.  42, 94. 371  Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  13 ff.; vgl. auch Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  10; Frisch, in Roxin et al. (Hrsg.), FS-Henkel, S.  273–286, 274 f.; Volk, JuS 1975, 25, 26 f.; T. Walter, JZ 2006, 340, 341. 372  Für die h. M. BGH, Urteil v. 17.03.2005 – 4 StR 581/04, NStZ-RR 2005, 209 (ebd.); Urteil v. 27.06.2001 – 3 StR 136/01, NStZ 2001, 609 (ebd.); Eder, Beweisverbote und Beweislast im Strafprozess, S.  184 Fn.  914; Fischer in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, Einl. Rn.  50; Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S.  208; T. Walter, Strafprozessrecht, S.  178 Rn.  553. 373  BVerfG, Beschluss v. 16.05.2002 – 2 BvR 665/02, NJW 2002, 3015; BGH, Urteil v. 21.10.2008 – 1 StR 292/08, NStZ-RR 2009, 90; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 66.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  26; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  63; T. Walter, JZ 2006, 340, 341. 374  So der vollständige Wortlaut der Rechtsregel, Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, S.  103. 370 

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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billigt werden kann.“375 „Die tatsächliche Ungewißheit bleibt; gesichert wird lediglich die eindeutige Rechtsentscheidung.“376 Auch die missverständlichen Formulierungen des BGH, dass der für den Angeklagten günstigere Sachverhalt „unterstellt“ werden müsse, von dem günstigen Sachverhalt „auszugehen“ sei oder dieser der Entscheidung „zugrunde zu legen“ sei, müssen vermieden werden – selbst wenn damit eigentlich das Richtige gemeint sein mag.377 Die Rechtsfolge der Beweislastregel „beschränkt sich auf die Wirkung der konkreten Sachentscheidung.“378 Überwiegend wird von der In-dubio-Regel deshalb als Entscheidungsregel gesprochen.379 4. In dubio pro reo und Indizienbeweis Die In-dubio-Regel ist also eine Regel, die nur die Wahl der Rechtsfolge vorgibt, nicht aber den Weg der Beweiswürdigung selbst. Entsprechend dieser Funktion der In-dubio-Regel als Entscheidungs- und gerade nicht als Beweisregel werden beim Indizienbeweis die einzelnen Elemente der Beweiswürdigung (die Indiztatsachen380) mitsamt ihrer Ungewissheit in die Beweiswürdigung eingestellt; die In-dubio-Regel wird nicht auf Zweifel in diesem Bereich angewendet.381 „Eine Entscheidung ‚pro reo‘ kann aber doch auch hier nur geboten sein, wenn der zweifelhafte Umstand Auswirkungen auf die Entscheidung selbst hat […]. Anderenfalls würde der Zwei375 

Frisch, in Roxin et al. (Hrsg.), FS-Henkel, S.  273–286, 275. Volk, NStZ 1983, 423 (ebd.). 377 Vgl. Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  308 mit zahlreichen Nachweisen für die Rechtsprechung des BGH; von einer Unterstellung wird auch in der Standardliteratur häufig gesprochen, etwa Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  65. 378  Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, S.  27; siehe dort auch S.  46 mit weiteren Argumenten gegen eine Bezeichnung von in dubio pro reo als Beweisregel. 379  BVerfG, Beschluss v. 16.05.2002 – 2 BvR 665/02, NJW 2002, 3015; BGH, Urteil v. 21.10.2008 – 1 StR 292/08, NStZ-RR 2009, 90; Urteil v. 12.10.2011 – 2 StR 202/11, NStZ-RR 212, 88; Urteil v. 16.08.2012 – 3 StR 180/12, NStZ-RR 2013, 20; Fischer in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, Einl. Rn.  50; Miebach, NStZ-RR 2015, 297, 298; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 66.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  26; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  63; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  307 m. w. N. In der Entscheidungstheorie ist eine Entscheidung die Auswahl einer von mehreren möglichen Handlungsalternativen; die Entscheidungsregel bestimmt, welche Handlungsalternative aus einer Alternativmenge auszuwählen ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, Laux et al., Entscheidungstheorie, S.  3, 36; zur Anwendbarkeit der Entscheidungstheorie auf juristische Entscheidungen Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  349 ff. 380  Zu den Begrifflichkeiten bereits oben Teil 3 S. 82 Fn.  255. 381  Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  45 f.; Foth, NStZ 1996, 423 (ebd.); Liebhart, NStZ 2016, 134, 135; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  84; T. Walter, JZ 2006, 340, 347 f.; Volk, NStZ 1983, 423 (ebd.); Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  276 ff. 376 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

felssatz zu einer Regel, die bereits die Beweiswürdigung selbst beeinflußt, was dem Wesen des Grundsatzes jedoch nicht gerecht würde.“382

Es wäre also nur konsequent, in gleicher Weise auch mit einer unsicheren Schätzoder Prognosegrundlage zu verfahren. Es entspricht schließlich der ganz herrschenden Meinung, dass es rechtsfehlerhaft ist, Sachverhaltslücken unabhängig vom restlichen Sachverhalt zugunsten des Angeklagten zu schließen: „Der Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung von der Täterschaft zu gewinnen vermag. Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anzuwenden […]. Das Landgericht hat bereits einen rechtsfehlerhaften Ansatz gewählt, indem es der Auffassung war, es könne ‚Sachverhaltslücken‘ jeweils unabhängig vom restlichen Sachverhalt gemäß dem Zweifelssatz zugunsten des Angeklagten schließen. Denn hierdurch hat es die Betrachtung auf diejenigen Beweisanzeichen verengt, denen es eine unmittelbare Aussagekraft für das jeweilige Sachverhaltselement beigemessen hat. Das Landgericht hätte statt einer isolierten Beweiswürdigung für einzelne Sachverhaltselemente eine Gesamtbewertung aller be- und entlastenden Beweisanzeichen mit dem ihnen jeweils zukommenden Beweiswert vornehmen müssen. Die gebotene Gesamtbetrachtung aller festgestellten Umstände hätte dem Tatgericht möglicherweise eine sichere Überzeugung […] vermitteln können. Denn erst die Würdigung des gesamten Beweisstoffs entscheidet letztlich darüber, ob der Richter die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt.“383

Zweifel in Bezug auf bloße Hilfstatsachen können demnach bestehen bleiben und müssen nicht mit der In-dubio-Regel aus der Welt geschafft werden, da sie nicht zwangsläufig auf das Ergebnis durchschlagen. Der Richter hat nämlich die Möglichkeit und aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes (§  244 Abs.  2 StPO) auch die Pflicht, unter Rückgriff auf andere Indizien seine Überzeugung vom Gesamtgeschehen dennoch zu erlangen.384 Entlastende Indizien dürfen also nicht einfach als bewiesen angesehen werden, wenn das Gericht diesbezüglich zu einem non liquet kommt. Sie sind mitsamt ihrer Ungewissheit in die Gesamtwürdigung einzustellen.385 Belastende Indizien müssen ebenfalls mit der ihnen zukommenden Unsicherheit berücksichtigt werden, sie dürfen also nicht pro reo aus der Gesamt382 

Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  278. BGH, Urteil vom 01.06.2016 – 1 StR 597/15, juris Rn.  30–32; siehe auch BGH, Urteil v. 27.06.2001 – 3 StR 136/01, NStZ 2001, 609. 384  Liebhart, NStZ 2016, 134, 135; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  84; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  276 f. 385  BGH, Urteil v. 21.10.2008 – 1 StR 292/08, NStZ-RR 2009, 90; Urteil v. 09.06.2005 – 3 StR 269/04, NJW 2005, 2322; Urteil v. 04.03.2004 – 3 StR 218/03, NJW 2004, 1259; Urteil v. 27.06.2001 – 3 StR 136/01, NStZ 2001, 609; Huber, JuS 2015, 596, 597; Liebhart, NStZ 2016, 134, 136; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 66.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  29; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  84. 383 

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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würdigung herausgenommen werden. Das gilt für den Beweisring386, bei dem von mehreren Indizien jedes für sich auf die zu beweisende Haupttatsache hinweist, uneingeschränkt. Allein das Ausgangsglied einer Beweiskette muss mit Sicherheit feststehen.387 Bei einer Beweiskette sind mehrere Indizien voneinander abhängig, sie weisen also nicht jedes für sich auf die Haupttatsache hin, sondern das eine weist auf das andere hin und erst das letzte Indiz weist auf die Haupttatsache, sodass mehrere Schlussfolgerungen nötig sind: Am Tatort werden DNA-Spuren gefunden (Ausgangstatsache). Diese stammen (wahrscheinlich) vom Angeklagten (Schlussfolgerung 1). Also war der Angeklagte (wahrscheinlich) am Tatort (Schlussfolgerung 2). Somit war der Angeklagte (wahrscheinlich) der Täter (Schlussfolgerung 3, Haupttatsache). Zur Sicherheit feststehen muss hier nur, dass DNA-Spuren gefunden wurden. Die Unsicherheiten in Bezug auf alle anderen Indizien (hier: DNA stammt vom Angeklagten und Anwesenheit des Angeklagten am Tatort) müssen berücksichtigt werden, es darf nicht pro reo davon ausgegangen werden, dass die DNA von einer anderen Person stammt oder dass der Angeklagte nicht am Tatort war. Wenn es aber für den Indizienbeweis allein richtig ist, auch unsichere Indizien bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen, so muss gleiches auch für Prognose- oder Schätzurteile gelten.388 Denn die Überzeugungsbildung funktioniert bei Indizienbeweis und Wahrscheinlichkeitsurteil auf die gleiche Art und Weise: Die für den Indizienbeweis notwendige Überzeugung (§  261 StPO) und die für Prognosen und Schätzungen ausschlaggebende epistemische Wahrscheinlichkeit unterscheiden sich nicht in ihrer Qualität, sondern nur in der Quantität des Überzeugungsgrades voneinander (oben A III 2) und die Struktur von Erklärung und Prognose ist grundsätzlich die gleiche (oben C II 1). Auch beim Indizienbeweis beruft man sich auf einen Erfahrungssatz und prüft mit seiner Hilfe, ob das Indiz (die Tatsachengrundlage) den Schluss auf den überzeugungsrelevanten Tatumstand trägt.389 Indizien sind Tatsachen, deren Vorliegen das Gesetz nicht voraus386  Zum Unterschied zwischen Beweisring und Beweiskette Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  160 ff. Rn.  667 ff.; Huber, JuS 2016, 218 ff. 387  BGH, Beschluss v. 15.12.2016 – 2 StR 379/16, NStZ-RR 2017, 88; Beschluss v. 21.04.2016 – 2 StR 435/15, BeckRS 2016, 11403; Urteil v. 05.11.2015 – 1 StR 327/14, NStZRR 2015, 83; Urteil v. 25.11.1998 – 3 StR 334–98, NStZ 1999, 205, 206; Urteil v. 26.05.1999 – 3 StR 110/99, BeckRS 1999, 30060815; Grünewald, in Barth (Hrsg.), FS-Honig, S.  53–68, 59; Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rn.  892, 899 ff.; Liebhart, NStZ 2016, 134, 136, dort auch zum folgenden Beispiel; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  84; Velten in SKStPO Bd.  5, 5.  Aufl. 2016, §  261 Rn.  93; a. A. (insgesamt keine Berücksichtigung von unsicheren belastenden Indiztatsachen) etwa BGH, Urteil v. 31.10.1989 – 1 StR 419/89, NStZ 1990, 121. 388  Zu der entsprechenden Ansicht in der Literatur unten C VI 1 b. 389 Zum Indizienbeweis Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  150 ff.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

setzt, mit deren Hilfe aber auf die vom Gesetz vorausgesetzten entscheidungserheblichen Tatsachen geschlossen werden kann. Die zuletzt genannten entscheidungserheblichen Tatsachen beziehen sich auf die Tatbestandsmerkmale einer Norm, sie sind die „Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden“ (§  267 Abs.  1 Satz 1 StPO). Die Indizien sind hingegen die „anderen Tatsachen“ (§  267 Abs.  1 Satz 2 StPO), aus denen der Beweis mithilfe von Erfahrungssätzen gefolgert werden kann. Ist der Erfahrungssatz deterministisch, so ist der Schluss logisch zwingend, wenn das Indiz feststeht. So liegt es beispielsweise mit Naturgesetzen wie der Erkenntnis, dass ein Mensch nicht an zwei Orten zugleich sein kann: Wenn sicher feststeht, dass T im Tatzeitpunkt in seinem Büro war (Indiz), kann er nicht gleichzeitig am Tatort gewesen sein. Ist der Erfahrungssatz hingegen (wie meist) statistischer Natur, so ist auch der Schluss induktiv und damit nicht zwingend. Es geht dann wie beim Wahrscheinlichkeitsurteil darum, eine Aussage darüber zu treffen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die vorhandenen Prämissen eine bestimmte Annahme bestätigen. Diese Wahrscheinlichkeit erhöht sich mit jedem Indiz, das für die fragliche Annahme spricht (dazu noch ausführlich unten C IV 4). Auch beim Indizienbeweis ist es Sache des Tatrichters, Bedeutung und Gewicht einzelner Indizien in der Gesamtwürdigung zu bewerten. Hier wie dort ist nicht allein die Wahrscheinlichkeit des einzelnen Indizes ausschlaggebend, sondern auch das Gewicht, das der Richter dem jeweiligen Indiz zuspricht.390

IV. Kein in dubio pro reo aus Gründen der Logik Nachdem die Unanwendbarkeit von in dubio pro reo aus dogmatischer Sicht geklärt wurde, soll es nun noch um die logischen Gründe gehen, die gegen eine Anwendung der In-dubio-Regel auf Zweifel in Bezug auf die unsicheren Prämissen des Wahrscheinlichkeitsurteils sprechen. Dabei ist es vor allem erforderlich, sich mit der induktiven Logik näher zu befassen, also damit, wie genau das epistemische Wahrscheinlichkeitsurteil überhaupt zustande kommt.

Rn.  621 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.  126; Liebhart, NStZ 2016, 134 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 66.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  25. 390  BGH, Urteil v. 11.06.2013 – 5 StR 124/13, NStZ-RR 2013, 277; Urteil v. 09.06.2005 – 3 StR 269/04, NJW 2005, 2322; Liebhart, NStZ 2016, 134, 137 f.; Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  85.

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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1. Die induktive Logik als Grund für das „Ob“ der Berücksichtigung von Unsicherheiten Dass die moderne Beweiswürdigung ein rationaler, von Vernunft geprägter Denkvorgang ist, bei dem nicht gegen die Gesetze der Logik verstoßen werden darf, wurde bereits gezeigt (oben C III 2) und ist heute auch unbestritten. Logische Regeln werden auch sonst in jeder Disziplin angewandt, in der es ums Argumentieren und darum geht, Schlüsse zu ziehen und diese zu begründen.391 Diese Denkgesetze der Logik beinhalten vor allem die formale, also klassische (aristotelische) Logik, und dabei insbesondere die Schlussregeln der Lehre vom klassischen Syllogismus.392 Daneben sind aber auch „moderne“ Formen der Logik zu beachten, wie etwa die mathematische Logik.393 Das Gericht darf in jedem Fall nicht eine schlichte (unbegründete) Behauptung aufstellen, sondern muss logisch fundiert argumentieren. Ein Argument ist ein mit Worten zum Ausdruck gebrachter Schluss, der aus einer Konklusion und den Gründen besteht, die zur Stützung der Konklusion angeführt werden (den Prämissen). Im Unterschied zu einer einfachen Behauptung ist die Konklusion also begründet, wodurch der gezogene Schluss kritisch analysiert und auf seine Gültigkeit überprüft werden kann.394 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass das Wahrscheinlichkeitsurteil der Logik eines induktiven Arguments folgt, und welche Auswirkungen dies hat. Für die Ausführungen in diesem Kapitel wurde grundlegend auf die Arbeit von Mummenhoff395 zurückgegriffen, der sich selbst zwar nicht zur In-dubio-Regel verhält, da er sich auf den Kausalitätsnachweis im Zivilprozess konzentriert. Weil die Logik der Überzeugungsbildung aber im Strafprozess die gleiche ist, sind seine Ausführungen auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit übertragbar. Mummenhoff setzt sich mit dem Unterschied von Deduktion und Induktion auseinander und kommt zu dem Schluss, dass Unsicherheiten in Bezug auf die Prämissen des induktiven Arguments Beachtung finden sollten.396

391 

Salmon, Logik, S.  5. Juristen lesenswert etwa Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, Frankfurt/M. 1980; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 4.  Aufl., Göttingen 2019; Salmon, Logik, Stuttgart 1983; Schnapp, Logik für Juristen, 7.  Aufl., München 2016; T. Walter, Kleine Rhetorikschule für Juristen, 2.  Aufl., München 2017. 393 Dazu Hilbert/Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, 6.  Aufl., Berlin u. a. 1972; Schnapp, Logik für Juristen, S.  3 ff.; Tarski, Einführung in die mathematische Logik, 5.  Aufl., Göttingen 1977. 394  Salmon, Logik, S.  8 ff., Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  84 ff. 395  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, Köln u. a. 1997. 396  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  94 f., 102, 109 f. 392 Für

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

2. Wichtige Symbole der Prädikatenlogik Die im Folgenden erläuterte prädikatenlogische Ausdrucksweise zählt in der Mathematik zum Standardrepertoire. Sie wird daneben zur Darstellung juristischer Sachverhalte verwendet397 und spielt auch in der vorliegenden Arbeit eine Rolle. In der Sprache der Mathematik wird eine Wahrscheinlichkeit auf folgende Weise dargestellt: P(A) = r Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass A vorliegt, ist r. Wobei P (oder auch „Pr“) die Wahrscheinlichkeit meint (englisch: probability) und r den zahlenmäßigen Wert dieser Wahrscheinlichkeit. A ist der Umstand (die Aussage, das Ereignis), um den es geht. Nun kann man auch sagen: P(¬A) = r Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass A nicht vorliegt, ist r. Das verwendete Zeichen ¬ ist die Negierung eines Merkmals, also sein Nichtvorkommen. Es gibt immer zwei Möglichkeiten: Entweder liegt das Merkmal vor (A) oder es liegt nicht vor (¬A). Will man die Wahrscheinlichkeit dafür ausdrücken, dass zwei Umstände gleichzeitig gegeben sind, sagt man: P(A ∧ B) = r oder auch P(A & B) = r Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass A und B vorliegen, ist r. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der eine und/oder398 der andere Umstand gegeben ist, lautet: P(A ∨ B) = r Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass A oder B oder beide vorliegen, entspricht r. 397  Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S.  7 ff.; Rüßmann, in Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S.  242–270, 247; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  89 ff. 398  Das Symbol ∨ wird im einschließenden Sinne verstanden. Zur hier gewählten Übersetzung des Symbols mit „und/oder“ siehe Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  90.

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Wichtig für die vorliegende Arbeit ist auch noch der Allquantor ∀, mit dem ausgedrückt wird, dass für alle Elemente einer Menge eine bestimmte Regel gilt:399 ∀x (…) Für alle x gilt (…). Verwendet man nun noch das Symbol →, um zwei Aussagen in dem Sinne zu verknüpfen, dass die eine Aussage die andere Aussage impliziert,400 so erhält man beispielsweise: ∀x (A → B) Für alle x gilt, wenn A vorliegt, dann ist auch B gegeben. Dieser letzte Satz stellt einen sogenannten „Allsatz“ dar, also einen allgemeingültigen (weil für alle x geltenden) Satz. Juristen kennen solche Sätze als deterministische Erfahrungssätze (dazu sogleich in Abschnitt 3).401 3. Deduktive Argumente und deterministische Erfahrungssätze Argumente können deduktiv oder induktiv gültig sein. Ein Argument ist deduktiv gültig, wenn seine Konklusion immer, d. h. zwingend (mit logischer Notwendigkeit) wahr ist, wenn die Prämissen des Arguments wahr sind.402 Ein deduktives Argument lässt sich auch in der oben erklärten prädikatenlogischen Schreibweise darstellen: ∀x (A → B)

Für alle x gilt, wenn A vorliegt, dann ist auch B gegeben.

A

A liegt vor.

B



Also ist auch B gegeben.

Ein solcher Schluss ist mithilfe eines deterministischen Erfahrungssatzes möglich. Die Struktur eines deterministischen Erfahrungssatzes ist damit diejenige eines „Allsatzes“ (Wenn-dann-immer).403 Das bedeutet, dass deterministische 399  Neben dem hier verwendeten Symbol (ein auf den Kopf gestelltes „A“) wird der Ausdruck „für alle x gilt (…)“ auch durch ein auf den Kopf gestelltes „V“ dargestellt: ∧x (…). Dieses Symbol verwendet beispielsweise Rüßmann, in Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S.  242–270. 400  Das Symbol → materiale Implikation, Subjunktion oder Konditional genannt. 401  Rüßmann, in Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S.  242–270, 268 f. 402  Zum Folgenden Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  11 ff., 77 ff.; Salmon, Logik, S.  33 ff., 41 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  84 ff. 403  Neben einer empirischen Behauptung kann auch eine Sprachregel oder eine Rechtsregel

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Erfahrungssätze ausnahmslos gelten. Ein Beispiel ist der Erfahrungssatz, dass jedes Säugetier ein Herz hat: Jedes Säugetier hat ein Herz. Alle Pferde sind Säugetiere. Jedes Pferd hat ein Herz.

Sofern es wahr ist, dass jedes Säugetier ein Herz hat (Prämisse 1) und alle Pferde Säugetiere sind (Prämisse 2404), dann ist es zwingend wahr, dass jedes Pferd ein Herz hat (Konklusion). Ein zwingend logischer Schluss auf das zu erklärende Ereignis ist nur möglich, wenn beide Prämissen unter allen Umständen wahr sind. Denn nur dann ist die Wahrheit der Prämissen (100-prozentige Wahrscheinlichkeit) übertragbar auf die Wahrheit der Konklusion; nur dann steht diese als selbstständiges Datum neben den Prämissen, ist also am Ende von ihnen unabhängig wahr.405 Ob die Prämissen die behaupteten Erfahrungen oder Tatsachen korrekt wiedergeben, ist eine erkenntnistheoretische, nicht aber eine logische Frage. Deterministische Erfahrungssätze schränken die freie Beweiswürdigung des Richters ein. An wissenschaftlich begründete Erfahrungssätze (z. B. Blutgruppenbestimmung, Blutalkoholwertbestimmung) ist das Gericht gebunden. Hier ist für eine tatrichterliche Überzeugungsbildung kein Raum mehr, weil die Erfahrungssätze ähnlich wie Naturgesetze mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit stets zutreffend sind und deshalb für jedermann Geltung besitzen.406 Solche wissenschaftlich begründeten Erfahrungssätze werden nicht nur

einen Allsatz darstellen. Zu der hier dargestellten Struktur eines Allsatzes, insbesondere eines Erfahrungssatzes Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  53 f.; Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S.  95, 344 f., 358 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  277 ff., 283 ff.; Rüßmann, in Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S.  242–270, 250 f.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  385. 404  In dem Beispiel stellt die zweite Prämisse ebenfalls einen Erfahrungssatz dar. Will man eine Aussage über einen Einzelfall treffen, dann muss (wie oben dargelegt) stattdessen an dieser Stelle die Tatsachengrundlage angeführt werden. Zum Beispiel: Jedes Säugetier hat ein Herz, A ist ein Säugetier, A hat ein Herz. 405  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  78. 406  BVerfG, Beschluss v. 27.06.1994 – 2 BvR 1269/94, NJW 1995, 125, 126; BGH, Beschluss v. 07.06.1979 – 4 StR 441/78, NJW 1979, 2318, 2319; Urteil v. 09.02.1957 – 2 StR 508/56, NJW 1957, 1039 (ebd.); Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  28; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  352; Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  52 f.

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„deterministische“407, sondern auch „gesicherte“408, „zwingende“409, „strikte“ oder „nomologische“410 Erfahrungssätze, „Erfahrungsgesetze“411 oder „Gesetze der Erfahrung“412 genannt. Erklärungen mithilfe von deterministischen Erfahrungssätzen sind deduktiv-nomologische Erklärungen.413 Von einem deterministischen Erfahrungssatz darf das Gericht nur abweichen, wenn es eingehend begründet, warum er nicht wissenschaftlich gesichert sei (weil der Stand der Wissenschaft sich geändert habe) und sich dabei auf anerkannte fachwissenschaftliche Quellen stützt.414 Für die Falsifikation eines deterministischen Erfahrungssatzes genügt grundsätzlich bereits ein einziger widersprechender Erfahrungsbericht, weil bereits dann kein zwingender Zusammenhang zwischen den Merkmalen mehr angenommen werden kann.415 Für die Kriminalprognose müsste ein deduktives Argument etwa so lauten: Alle verurteilten alkoholabhängigen Straftäter werden rückfällig. T ist ein verurteilter Straftäter. T ist alkoholabhängig. T wird rückfällig.

Wenn die Prämissen „Alle verurteilten alkoholabhängigen Straftäter werden rückfällig“ und „T ist ein verurteilter alkoholabhängiger Straftäter“ wahr (zu 100 Prozent wahrscheinlich) wären, so wäre auch die Aussage „T wird rückfällig“ logisch zwingend wahr. Dann wäre eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung (§  56 StGB) für alkoholkranke Straftäter stets zu verneinen, weil die Prognose immer ungünstig ausfiele. Wenn der Erfahrungssatz aber nicht deterministisch ist (also keine absolute, die Beweiswürdigung des Richters insoweit beschränkende Geltungskraft hat), oder wenn man nicht weiß, ob die Tatsachengrundlage wirklich sicher vorliegt, dann ist kein logischer Schluss möglich, es kann also keine Aussage über die Wahrheit der Schlussfolgerung getroffen werden. Und selbstverständlich ist es nicht so, dass alle verurteilten alkoholkranken Straftäter unbedingt zu einem späteren Zeitpunkt erneut eine Straftat begehen. Der Erfahrungs407 

Trüg/Habetha in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  244 Rn.  23. Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  68 ff. 409  Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  103. 410  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  13. 411  BGH, Beschluss v. 23.10.2018 – II ZR 189/17, IBRRS 2018, 4219. 412  BVerfG, Beschluss v. 27.06.1994 – 2 BvR 1269/94, NJW 1995, 125, 126. 413  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  13. 414  Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  53. 415  Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  55. 408 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

satz aus diesem Beispiel ist deshalb in Wirklichkeit nicht zwingend wahr. Einen solchen deterministischen Erfahrungssatz gibt es in der Kriminologie nicht. Es gibt keinen allgemeingültigen Satz, der sagt, dass ein Täter unter bestimmten Bedingungen immer rückfällig wird, und auch keine Prognosemethode, die so gut wäre, dass man absolute Gewissheit erlangen könnte.416 Das gilt nicht nur für die Kriminalprognose, sondern ist auch sonst bei der Beweiswürdigung der Regelfall. Aus diesem Grund funktioniert der deduktive Schluss hier in der Regel auch nicht. Unsicherheiten in Bezug auf die Prämissen (Werden wirklich alle verurteilten alkoholabhängigen Straftäter rückfällig? Ist T überhaupt alkoholkrank?) dürfen nicht bestehen, denn sonst darf der Schluss „T wird rückfällig“ nicht gezogen werden: „Die Prämissen der deduktiv-nomologischen Erklärung müssen zur Überzeugung des Rechtsanwenders feststehen. Andernfalls ist ihm der logische Schluß verwehrt.“417 Unsicherheiten in Bezug auf die Prämissen müssten erst ausgeschlossen werden, sodass man (zumindest aus rein logischer Sicht418) über eine Anwendung der In-dubio-Regel nachdenken könnte. Aber wie erwähnt gibt es für die Kriminalprognose ohnehin keine Möglichkeit eines deduktiven Schlusses, weil dieser bereits an der Existenz eines deterministischen Erfahrungssatzes scheitert. 4. Induktive Argumente und statistische Erfahrungssätze Weil man bei der Beweiswürdigung häufig mit Prämissen arbeiten muss, deren Wahrheitswert nicht bekannt ist, kommt dem induktiven Argument eine größere Bedeutung zu. Beim induktiven Schließen ist die Konklusion nicht zwingend (d. h. nicht mit logischer Notwendigkeit) wahr, wenn die Prämissen wahr sind, sondern sie ist nur wahrscheinlich wahr:419 416  „Sich um die Verbesserung der Kriminalprognostik zu bemühen, sollte selbstverständlich sein, hinreichend treffsicher wird sie jedoch nicht werden (können), um ruhigen Gewissens […] kriminalprognostisch determinierte Entsch[eidungen] über ggf. langfristige […] Freiheitsentziehungen zu treffen.“, Pollähne in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  63 Rn.  66; vgl. auch Dünkel/ Pruin in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  57 Rn.  121 („Im Bereich der klinisch-statistischen Methode hat sich der sog. HCR-20 Beurteilungsbogen im Bereich der Gewaltdelinquenz relativ gut bewährt.“, Hervorhebung nicht im Original); Ostendorf/Bartsch in NK-StGB, 6.  Aufl. 2023, §  56 Rn.  19 („Es sind Prognosetafeln auf Basis kriminologischer Erkenntnisse entwickelt worden, über die allerdings im Einzelfall gestritten wird.“, Hervorhebung nicht im Original); Maukisch, NVZ 1992, 264, 269 („Die prognostische Effizienz ‚klinisch‘ urteilenden Vorgehens ist […] keineswegs besser, häufig schlechter als die Effizienz statistischer Vorhersagemodelle.“). 417  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  90; vgl. auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  285 f. 418  Dann stünden immer noch die unter C III erwähnten dogmatischen Bedenken entgegen! 419  Zum Folgenden Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  11 ff., 77 ff.;

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Jedes der bisher beobachteten Pferde hat ein Herz gehabt. Das ist ein Pferd. Das Pferd hat ein Herz.

Auch wenn es wahr ist, dass jedes bisher beobachtete Pferd ein Herz gehabt hat (Prämisse 1) und dass man ein Pferd vor sich hat (Prämisse 2), so ergibt sich daraus nicht zwingend notwendig, dass auch dieses Pferd ein Herz hat. Denn die erste Prämisse trifft nur eine Aussage über die bisher beobachteten Pferde und nicht über alle Pferde. Die Tatsache aber, dass bisher alle anderen Pferde ein Herz gehabt haben, spricht stark dafür, dass auch dieses Pferd eines haben wird. Deshalb ist die Konklusion wahrscheinlich wahr. Damit hat der induktive Schluss – im Gegensatz zum deduktiven Schluss – „wahrheitserweiternde“ Wirkung. Die induktive Wahrscheinlichkeit meint dabei den Grad, mit dem die vorhandenen Informationen (Prämissen 1–2) die Schlussfolgerung („Das Pferd hat ein Herz“) bestätigen.420 Sie bezieht sich damit auf die Stärke der in einer Argumentation geführten Beweiskette (also hier auf die Stärke der Prämissen 1–2) und nicht auf einzelne Behauptungen („Das Pferd hat ein Herz.“). Auf diese einzelne Behauptung bezieht sich aber wiederum die epistemische Wahrscheinlichkeit im oben in Kapitel A III 2 dargestellten Sinn. Die epistemische Wahrscheinlichkeit einer Behauptung („Das Pferd hat ein Herz.“) ist damit die induktive Wahrscheinlichkeit der Argumentation, welche die einzelne Behauptung als Konklusion hat und deren Prämissen aus allen Beobachtungen bestehen, die unseren Wissensstand repräsentieren: „Es ist korrekt, von ‚der induktiven Wahrscheinlichkeit eines Arguments‘ zu sprechen, aber es ist unkorrekt, von ‚der induktiven Wahrscheinlichkeit eines Aussagesatzes‘ zu sprechen. Und da ja die Prämissen und die Konklusion eines Arguments Aussagesätze sind, ist es unkorrekt von ‚der induktiven Wahrscheinlichkeit einer Prämisse‘ oder ‚einer Konklusion‘ zu sprechen. […] Es muß also einen Wahrscheinlichkeitstyp geben, der sich – anders als die induktive Wahrscheinlichkeit – auf Aussagesätze statt auf Argumente anwenden läßt. Nennen wir Wahrscheinlichkeiten dieses Typs ‚epistemische Wahrscheinlichkeiten‘, weil der griechische Wortstamm ‚episteme‘ Wissen bedeutet und die epistemische Wahrscheinlichkeit eines Aussagesatzes bzw. der durch ihn ausgedrückten Aussage von der Beschaffenheit unseres relevanten Wissensschatzes oder Wissensfundus abhängt.“421

Weil sich der Wissensstand des Entscheidungsträgers verändern kann, wird die epistemische Wahrscheinlichkeit je nach verfügbarer Information angepasst. Die epistemische Wahrscheinlichkeit entspricht der induktiven Wahrscheinlichkeit Salmon, Logik, S.  33 ff., 163 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  84 ff.; ­Skyrms, Einführung in die induktive Logik, S.  15 ff. 420  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  23. 421  Skyrms, Einführung in die induktive Logik, S.  43 f.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

desjenigen Arguments, das als Prämissen sämtliche Informationen enthält, welche die Person im entscheidenden Zeitpunkt zur Verfügung hat: „Die epistemische Wahrscheinlichkeit eines Aussagesatzes kann somit von Person zu Person unterschiedlich sein und sich von einem Zeitpunkt zum anderen ändern, da ja einerseits verschiedene Leute zur selben Zeit verschieden viel wissen können und andererseits ein und dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten verschieden viel wissen kann. […] Beispielsweise mag die epistemische Wahrscheinlichkeit des Aussagesatzes ‚Pegasus wird dieses Rennen gewinnen‘ für einen Fan auf der Zuschauertribüne eine andere sein als für Pegasus‘ Jockey, und zwar aufgrund ihrer Wissensunterschiede bezüglich der für den Sieg im Rennen relevanten Faktoren.“422

Ein anderes Beispiel soll dies noch einmal verdeutlichen:423 30 % aller verurteilten Straftäter werden rückfällig. T ist ein verurteilter Straftäter. T wird rückfällig.

Mit 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit wahr!

Mit einem Wahrscheinlichkeitsgrad von 30 Prozent bestätigen die vorhandenen Informationen (die Prämissen „30 Prozent aller verurteilten Straftäter werden rückfällig“ und „T ist ein verurteilter Straftäter“) die Aussage „T wird rückfällig.“ Damit wird mit einem Wahrscheinlichkeitsgrad von 30 Prozent von der Wahrheit dieser Aussage ausgegangen. Wenn wir nun erfahren, dass 10 Prozent der verurteilten männlichen Straftäter rückfällig werden und dass T männlich ist, bestätigen die vorhandenen Informationen die Aussage „T wird rückfällig“ nicht mehr zu 30 Prozent, sondern zu etwa 10 Prozent: 30 % aller verurteilten Straftäter werden rückfällig. 10 % der verurteilten männlichen Straftäter werden rückfällig. T ist ein verurteilter Straftäter. T ist ein Mann. T wird rückfällig.

422 

Mit 10-prozentiger Wahrscheinlichkeit wahr!

Skyrms, Einführung in die induktive Logik, S.  44; siehe auch Salmon, Logik, S.  165. Die verwendeten Zahlen sind ausgedacht und sollen nur der Veranschaulichung dienen. Weitere Beispiele, die nicht aus dem juristischen Bereich stammen, bei Skyrms, Einführung in die induktive Logik, S.  43 ff. 423 

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In diesem Beispiel hat sich die epistemische Wahrscheinlichkeit geändert. Die induktive Wahrscheinlichkeit des erstgenannten Arguments hingegen hat sich nicht geändert, sondern mithilfe der zusätzlichen Information ist ein anderes induktives Argument entstanden, das mehr Prämissen hat. Der Unterschied zwischen induktiver und epistemischer Wahrscheinlichkeit liegt also darin, dass die induktive Wahrscheinlichkeit eines Arguments sich nicht von Person zu Person oder von Zeit zu Zeit ändert, sondern allein auf der Beweiskraft der Prämissen des jeweiligen Arguments beruht. Das dargestellte Beispiel zeigt auch, dass ein Schluss induktiv ist, wenn er mithilfe eines Erfahrungssatzes zustande kommt, der (anders als ein deterministischer Erfahrungssatz) nicht wissenschaftlich gesichert ist. Einen solchen Schluss erlauben also insbesondere statistische Erfahrungssätze. Der Argumentationsschritt, mit welchem eine Behauptung aus einer statistischen Gesetzesaussage abgeleitet wird, wird deshalb auch induktiv-statistische Erklärung genannt.424 Der statistische Erfahrungssatz ist im Gegensatz zum deterministischen Erfahrungssatz eine unsichere Prämisse, er liefert für die Konklusion „T wird rückfällig“ also nur teilweise eine Stütze, das heißt der Schluss ist logisch nicht zwingend, aber aufgrund der vorhandenen Informationen plausibel. Die Konklusion ist hier nicht abtrennbar von den Prämissen, sondern nur aufgrund der Prämissen erklärbar, also nur sinnvoll, solange beides miteinander in Relation gebracht wird.425 Die Stärke des Arguments richtet sich danach, wie hoch der Wahrscheinlichkeitsgrad ist. Ein deduktiv-nomologischer Schluss stellt den obersten Grenzbereich dar (Wahrscheinlichkeit von 1 oder 100 Prozent) und entspricht damit dem idealen Grenzfall einer induktiv-statistischen Wahrscheinlichkeit.426 Auch ein statistischer Erfahrungssatz lässt sich schließlich in der oben erklärten prädikatenlogischen Schreibweise darstellen. Dazu wird die Implikation → durch die Angabe einer Prozentzahl ergänzt:427 ∀x (A

30 %

B)

Für alle x gilt, wenn A gegeben ist, dann ist mit 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit auch B gegeben. Oder: In 30 Prozent der Fälle, in denen A vorliegt, liegt auch B vor. Beim induktiven Schluss wird nicht der Anspruch gestellt, eine Aussage über die Wahrheit der Schlussfolgerung zu treffen. Gefragt ist nur nach einer Aussage 424 

Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  14. Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  78 f. 426  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  15 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  392. 427  Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S.  349. 425 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

über den Grad, mit welchem die vorhandene Information die Schlussfolgerung bestätigt. Deshalb macht es aus denklogischen Gründen nichts aus, wenn auch unsichere Informationen mit einfließen, sofern sie irgendwie relevant erscheinen. Es führt sogar zu einer exakteren Wahrscheinlichkeitsaussage, die eher dem Kenntnisstand des Entscheidungsträgers entspricht. Aus diesem Grund ist der Minderheitsmeinung in der Literatur428 auch zuzustimmen, wenn sie davon spricht, dass eine Unterdrückung von Zweifeln in Bezug auf die Prämissen das Wahrscheinlichkeitsurteil verfälschen würde. Es besteht sogar die zwingende logische Notwendigkeit, jeden Unsicherheitsfaktor zu berücksichtigen, um einen Denkfehler zu vermeiden.429 Die Unsicherheit über eine Hilfstatsache darf also nicht dazu führen, dass man die Prämisse aus der Beweisführung ausschließt. Der Entscheidungsträger muss sich vielmehr dazu äußern, wie groß die jeweilige Unsicherheit ist, wie hoch also etwa der Beweiswert der Hilfstatsache ist, und muss dies im Rahmen der induktiven Argumentation berücksichtigen. Die induktive Logik verlangt einen einheitlichen Vorgang der Beweiswürdigung, der sämtliche Faktoren berücksichtigt, die für die Bestimmung der induktiven Wahrscheinlichkeit Relevanz haben. Vereinfacht lautet das logische Denkgesetz also: Überzeugung (und damit auch epistemische Wahrscheinlichkeit) muss im Lichte neuer (auch unsicherer) Information angepasst werden. Was für Unsicherheiten in Bezug auf die Tatsachengrundlage gesagt wurde, gilt folglich auch für unsichere Erfahrungssätze, denn auch diese sind Prämissen im induktiven Argument.430 Erfahrungssätze sind zwar keine Tatsachen, aber man kann auch sie wie Tatsachen ermitteln431, weshalb hier ähnliche Unsicherheitsfaktoren bestehen. Das gilt gerade für indeterministische Erfahrungssätze, die keine unumstößliche Erkenntnis beinhalten, wie es der Fall ist bei statistischen, kriminalistischen oder forensischen Erfahrungsregeln. Denn indeterministische Erfahrungssätze haben keine Allgemeingültigkeit und gehen deshalb in ihrer Bedeutung nicht über gewöhnliche Indizien hinaus.432 Welche Auswirkungen diese Erkenntnis hat, wird später in Abschnitt VI gezeigt.

428 

Dazu unten C VI. Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  94 f., 102, 108 ff., 144. 430  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  106 ff., auch zum folgenden Text; siehe auch Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht, S.  230 Rn.  375 („[…] Erfahrungssätzen kommt die Bedeutung von Indizien zu […].“); Bruns, ZZP 1978, 64, 67 („Stellt sich das Problem der Wertung eines solchen Erfahrungssatzes, so verlängert sich die [Beweis-] Kette.“). 431  Zu den Gemeinsamkeiten von Erfahrungssätzen und Tatsachen oben C II 1 b. 432 Vgl. Tiemann in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  261 Rn.  54. 429 

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V. Die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie als „Wie“ der Berücksichtigung von Unsicherheiten Nach den bisherigen Ausführungen sollte einleuchten, dass die In-dubio-Regel nicht über unsichere Prämissen hinweghelfen kann, sondern dass diese in das Wahrscheinlichkeitsurteil des Gerichts Eingang finden müssen. Damit ist allerdings nur geklärt, ob Unsicherheiten zu berücksichtigen sind. Wie das geschehen soll, wird dieser Abschnitt zeigen. Dabei spielt die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie eine wichtige Rolle. 1. Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung „Viele Juristen werden jetzt sagen, das alles sei aber sehr kompliziert. Das stimmt absolut, aber deshalb ist es doch richtig. Und wenn Fehlurteile vermieden werden sollen, muss man diese Zusammenhänge erkennen und verstehen.“433

Die sogleich dargestellten Kolmogorov-Axiome gelten auch für den hier vertretenen epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff, sie sind bei der Beweiswürdigung des Gerichts als logische Denkgesetze zu berücksichtigen (dazu unten Abschnitt 2). In der juristischen Literatur werden die Axiome beispielsweise von Schweizer434, aber auch schon von Koch/Rüßmann435 anschaulich und für den Juristen gut verständlich dargestellt. Daneben werden die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie natürlich in zahlreichen Werken der Fachliteratur behandelt.436 a) Axiome der Wahrscheinlichkeit In der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie spielt der in Kapitel A III 2 dargestellte Streit über die richtige Definition von „Wahrscheinlichkeit“ keine Rolle. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff bleibt hier undefiniert, man charakterisiert ihn lediglich durch die zwingende Geltung der sog. Kolmogorov-Axiome437 – eine formale Einschränkung für den rationalen Umgang mit Wahrscheinlich­ keiten. Ein Axiom ist ein keines Beweises bedürftiger (da unmittelbar einleuchtender) Grundsatz.438 Die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie baut 433 

Risse, NJW 2020, 2383, 2386. Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  89 ff. 435  Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  296 ff. 436 Etwa Mürmann, Wahrscheinlichkeitstheorie und Stochastische Prozesse, Berlin/Heidenberg 2014; Strick, Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung, Wiesbaden 2018. 437  Die Axiome sind nach dem russischen Mathematiker Andrei Nikolaevich Kolmogorov (1903–1987) benannt, vgl. Kolmogorov, Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Berlin 1933. 438 Brockhaus, Axiom, https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/axiom-philosophie (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023). 434 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

also lediglich einen reinen Kalkül auf, der den Wahrscheinlichkeitsbegriff als undefinierten Grundbegriff enthält, wodurch dieser unterschiedlichsten Interpretationen zugänglich bleibt:439 „Diese axiomatischen Konstruktionen können als abstrakte formale Systeme der reinen Mathematik betrachtet werden. Ein formales System […] besteht aus einer Menge von Formeln. Einige dieser Formeln werden herausgegriffen und als primär angesehen; sie werden als Axiome bezeichnet. Die übrigen Formeln des Systems – die Theoreme – lassen sich auf rein formalem Wege aus den Axiomen ableiten. Die Axiome sind innerhalb des Systems unbewiesen und unbeweisbar, ihnen wird keine Bedeutung zugewiesen. Das formale System als solches befasst sich nur mit den deduktiven Beziehungen zwischen den Formeln; Wahrheit und Falschheit sind ohne Bedeutung für die Formeln. Solche Systeme mit undefinierten primären Begriffen werden als uninterpretiert bezeichnet. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung lässt sich als ein formales System begreifen, in dem der einzige undefinierte primäre Begriff derjenige der Wahrscheinlichkeit ist. Psychologisch betrachtet wird das formale System mit Rücksicht auf mögliche Bedeutungen für die primären Begriffe konstruiert, aber logisch betrachtet sind diese Überlegungen nicht Teil des formalen Systems.“440

aa) Normierung Das erste Axiom A1 lautet, dass die Wahrscheinlichkeit einer Aussage oder eines Ereignisses immer in einem Intervall von 0 bis 1 liegt:441 0 ≤ P(A) ≤ 1 Man spricht hier von einer „Normierung“ des Wahrscheinlichkeitsmaßes auf ein Intervall von 0 bis 1. Den genauen Wahrscheinlichkeitswert umschreibt man umgangssprachlich häufig mit Prozentzahlen (z. B. eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent), wobei sich der Wahrscheinlichkeitsgrad auch hier stets im Bereich von 0 Prozent bis 100 Prozent bewegen muss. Zum Rechnen eignet sich eine Skala von 0 bis 1 allerdings besser, weil sie einfacher und damit praktikabler ist. bb) Sicherheit Das zweite Axiom A2 lautet, dass der höchste Wert 1 auf der Skala für ein sicher eintretendes Ereignis steht und damit einem Wahrscheinlichkeitsgrad von 100 Prozent entspricht: P(Ω) = 1 439  Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  295; Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  4, Halbband 1, S.  129 ff. 440  Salmon, The foundations of scientific inference, S.  57 (Übersetzung der Verfasserin), Hervorhebungen auch im Original. 441  Zur Erläuterung der verwendeten Symbole siehe Kapitel C IV 2.

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Das große Omega Ω steht für die Menge aller möglichen Ereignisse und entspricht daher dem sicher eintretenden Ereignis, da immer (also mit 100-prozentiger Sicherheit) eines der möglichen Ereignisse eintreten wird. A2 kann auch durch die Vereinigung eines Ereignisses mit seinem Komplement ausgedrückt werden: P(A ∨ ¬A) = 1 Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass A entweder gegeben ist oder nicht gegeben ist, ist 1. cc) Additivität Nach dem dritten und letzten Axiom A3 entspricht bei zwei Aussagen oder Ereignissen, die inkompatibel sind (also sich gegenseitig ausschließen) die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das eine oder das andere Ereignis eintritt, der Summe der für das jeweilige Einzelereignis geltenden Wahrscheinlichkeiten: P(A ∨ B) = P(A) + P(B) In einem Venn-Diagramm442 kann diese Regel und die fehlende gemeinsame Teilmenge von A und B grafisch veranschaulicht werden:

A

B

Die Mengen A und B entsprechen der Wahrscheinlichkeit, dass A oder B eintritt. Wenn A und B hingegen eine gemeinsame Teilmenge haben, also logisch kompatibel sind, statt sich gegenseitig auszuschließen, so gilt: P(A ∨ B) = P(A) + P(B) – P(A ∧ B) Zur grafischen Veranschaulichung dient erneut ein Venn-Diagramm:

A B 442  Mengendiagramm, benannt nach dem englischen Logiker John Venn (1834–1923); zu Venn-Diagrammen und der Logik der Mengen auch Salmon, Logik, S.  121 ff.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Die gemeinsame Teilmenge von A und B muss einmal in der Formel subtrahiert werden, da sie jeweils in A und B vorkommt und nicht doppelt gezählt werden darf. b) Theoreme der Wahrscheinlichkeit Aus diesen Axiomen ergeben sich einige Theoreme,443 deren Geltung für die vorliegende Untersuchung ebenfalls von Bedeutung ist. Theoreme sind mathematische Sätze, die sich, wie oben bereits erwähnt, rein logisch aus den dargestellten Axiomen ableiten, also mit ihrer Hilfe beweisen lassen. Insbesondere das erste Theorem T1 ist hier interessant. Es besagt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses addiert mit der Wahrscheinlichkeit seines Gegenteils stets 1 (bzw. 100 Prozent) ergibt, weil diese Wahrscheinlichkeiten sich gegenseitig ausschließen (d. h. sie sind inkompatibel) und weil eine von beiden Möglichkeiten zutreffen muss (d. h. sie sind erschöpfend):444 P(A) = 1 – P(¬A) und P(¬A) = 1 – P(A) P(A) + P(¬A) = 1 Im Unterschied zu dem oben dargestellten Axiom A2 geht es dem Theorem T1 nicht nur um die allgemeine Annahme, dass die Zahl 1 für ein sicheres Ereignis steht – sondern um die Annahme, dass die Addition der Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Ereignisses mit der Wahrscheinlichkeit seines Nichteintritts stets zu diesem Ergebnis führt. Ein weiteres Theorem T2 sagt aus, dass die Wahrscheinlichkeit des unmöglichen Ereignisses 0 beträgt: P(A ∧ ¬A) = 0 Die Wahrscheinlichkeit, dass A zugleich gegeben ist und nicht gegeben ist, entspricht 0.

443 Dazu 444 Vgl.

Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  298. Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  134.

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c) Die bedingte Wahrscheinlichkeit Das Gericht wird sich in der Regel dafür interessieren, wie wahrscheinlich es ist, ob eine bestimmte Ursache dafür verantwortlich ist, dass eine bestimmte Folge eingetreten ist (Indizienbeweis) – oder dafür, wie wahrscheinlich es ist, dass angesichts einer bestimmten Tatsache eine bestimmte Folge eintreten wird (Prognose).445 Beim Indizienbeweis wird dabei von einer beobachteten Folge auf eine nicht beobachtete Ursache geschlossen. Bei der Prognose wird von einer beobachteten Tatsache (nicht unbedingt: Ursache446) auf eine nicht beobachtete Folge geschlossen. Mit der Sprache der Wahrscheinlichkeitsmathematik kann man auch sagen, es geht um eine bedingte Wahrscheinlichkeit, weil man für das Vorliegen des einen Merkmals ein anderes Merkmal voraussetzt.447 Eine bedingte Wahrscheinlichkeit wird folgendermaßen dargestellt: P(A|B) = r oder auch P(A, B) = r A und B sind die beiden Merkmale, über deren Zusammenhang eine Aussage gemacht wird. Der senkrechte Strich | (bzw. das Komma) bedeutet „unter der Voraussetzung von …“. Die „Wenn“-Komponente wird dabei hinter der „Dann“-Komponente aufgeführt, ausgesprochen sagt man also: Die Wahrscheinlichkeit für A unter der Bedingung B beträgt r. Oder: Wenn B vorliegt, dann ist r die Wahrscheinlichkeit dafür, dass A vorliegt. Stattdessen ist auch folgende Schreibweise geläufig: PB(A) = r Hier wird die „Wenn“-Komponente B tiefgestellt und zuerst genannt, gefolgt von der „Dann“-Komponente A in Klammern. Die bedingte Wahrscheinlichkeit bringt zum Ausdruck, dass die Merkmale A und B in einem gewissen Zusammenhang stehen. Liegt der Wert r dabei unter 1, 445  Für den Indizienbeweis Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  389; allgemein zu Erklärung und Prognose Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  1 (1974), S.  153 ff. 446  Siehe oben Teil 3 Fn.  258. 447 Zur bedingten Wahrscheinlichkeit Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  287; Strick, Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung, S.  19; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  91 ff.

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so bedeutet dies, dass der Zusammenhang nur für einen Teil aller Fälle gilt. Ausgedrückt wird dann ein statistischer Erfahrungssatz: P(Nichtraucher|Frau) = 0,79 oder auch PFrau(Nichtraucher) = 0,79 Die (statistische) Wahrscheinlichkeit, auf eine Nichtraucherin zu treffen, wenn man sich mit einer deutschen Frau verabredet, liegt bei 0,79.448 d) Likelihood und A-posteriori-Wahrscheinlichkeit Bei bedingten Wahrscheinlichkeiten muss man genau auf die richtige Formulierung achten. Der Anteil der Nichtraucher unter den Frauen (nichtrauchende Frauen) ist nicht gleich dem Anteil der Frauen unter den Nichtrauchern (weibliche Nichtraucher).449 P(Frau|Nichtraucher) = 0,54 oder auch PNichtraucher(Frau) = 0,54 Die (statistische) Wahrscheinlichkeit, auf eine Frau zu treffen, wenn man sich mit einem deutschen Nichtraucher verabredet, liegt bei 0,54. Ebenso ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer Kollision zweier Fahrzeuge der Schulterblick unterlassen wurde, nicht gleich der Wahrscheinlichkeit, dass eine Kollision erfolgt bei Unterlassung des Schulterblicks.450 P(¬Schulterblick|Kollision) ≠ P(Kollision|¬Schulterblick) Die zuletzt genannte Wahrscheinlichkeit einer Kollision ist die sogenannte Likelihood, also die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass eine (unbeobachtete) Folge 448  Beispiel

bei Strick, Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung, S.  18 f., beruhend auf Daten des statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2013 über Raucher und Nichtraucher in der Gesamtheit der Einwohner Deutschlands mit einem Alter von über 15 Jahren. 449  Siehe wiederum Strick, Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung, S.  18 f. 450  Zu diesem Beispiel und zu den folgenden Ausführungen Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  388 f.

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eintritt unter der Voraussetzung, dass eine bestimmte Tatsache beobachtet wird. Diese Wahrscheinlichkeit ist für eine Prognose relevant.451 Die Wahrscheinlichkeit hingegen, dass eine Kollision auf einen unterlassenen Schulterblick zurückzuführen ist, ist die sogenannte A-posteriori-Wahrscheinlichkeit, also die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass eine (unbeobachtete) Ursache für eine beobachtete Folge verantwortlich ist. Bekannt ist normalerweise die Likelihood P(B|A), die einen statistischen Erfahrungssatz ausdrückt.452 Die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit P(A|B) hingegen muss mithilfe einer mathematischen Formel, nämlich mit der Bayes-Regel erschlossen werden.453 Dieser nach Thomas Bayes454 benannte mathematische Satz aus der Wahrscheinlichkeitstheorie lässt es zu, bedingte Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Er lautet: P(A|B) =

P(A) × P(B|A) P(B)

Diese Regel ist in der Mathematik unumstritten und nur auf den ersten Blick kompliziert. Eigentlich handelt es sich lediglich um die wahrscheinlichkeitstheoretische Formulierung und Formalisierung von Überlegungen, die jede Person intuitiv anstellt, wenn sie Schlüsse aus Erfahrungen zieht.455 Die Bayes-Regel wird verständlicher, wenn man sie sich selbst herleitet. Zur Herleitung kann man die Wahrscheinlichkeiten mithilfe eines Baumdiagrammes darstellen. Angenommen, man macht Urlaub und bittet einen Freund, während der eigenen Abwesenheit eine Pflanze zu gießen.456 Die Wahrscheinlichkeit P(A) dafür, dass der Freund dieser Bitte zuverlässig nachkommt, liegt bei 70 Prozent, also 0,7. Folglich – die Wahrscheinlichkeiten müssen insgesamt 1 ergeben457 – liegt die Wahr451 Vgl. Risse, NJW 2020, 2383, 2387 Fn.  26; zur Likelihood auch Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  143. 452  Erfahrungssätze, die auf empirischen Daten beruhen, beziehen sich normalerweise auf die Likelihood Pr(Folge|Ursache), „weil man das Indiz bei (nicht) gegebener Ursache beobachten kann, die Frage, ob die Ursache gegeben ist, wenn die Folge beobachtet wird, aber nicht der Sinneswahrnehmung zugänglich ist.“, Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  389. 453  Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  171 ff. Rn.  713 ff.; Laux et al., Entscheidungstheorie, S.  347 ff., 350 ff.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  50 ff., 54 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  132 ff., 351 ff. 454 Vgl. Bayes, Versuch zur Lösung eines Problems der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leipzig 1908. 455  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  52. 456  Dieses Beispiel von Strogatz eignet sich sehr gut zur Veranschaulichung und wurde bereits von Schweizer aufgegriffen, Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  133 Fn.  314. 457  Siehe zu diesem Theorem bereits oben S. 120.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

scheinlichkeit P(¬A) dafür, dass der Freund das Gießen vergisst, bei 30 Prozent, also 0,3. Ohne Wasser wird die Pflanze mit einer Wahrscheinlichkeit P(B|¬A) von 0,9 sterben, folglich mit einer Wahrscheinlichkeit P(¬B|¬A) von 0,1 überleben. Wird die Pflanze gegossen, kann sie mit einer Wahrscheinlichkeit P(B|A) von 0,2 sterben und überlebt mit einer Wahrscheinlichkeit P(¬B|A) von 0,8. Daraus ergibt sich:

B ¬A Pflanze wird nicht gegossen

Pflanze stirbt

¬B Pflanze stirbt nicht

B A Pflanze wird gegossen

Pflanze stirbt

¬B Pflanze stirbt nicht

Man kennt also in diesem Beispiel die relative Häufigkeit P(B|¬A) dafür, dass eine ungewässerte Pflanze stirbt, d. h. dafür, dass die beobachtete Tatsache (nicht gießen) eine bestimmte Folge (Pflanze stirbt) nach sich zieht. Kommt man nun aber aus dem Urlaub zurück und sieht, dass die Pflanze tot ist, dann interessiert die Wahrscheinlichkeit P(B|¬A) nicht. Denn die Pflanze ist ja bereits gestorben. Interessant ist dann vielmehr, warum sie gestorben ist, also ob ihr Tod auf die Unzuverlässigkeit des Freundes zurückzuführen ist oder nicht. Es geht dann um die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit P(¬A|B) dafür, dass die Pflanze gestorben ist, weil sie nicht gegossen wurde. Diese Wahrscheinlichkeit ist aber bisher unbekannt, sie ergibt sich nicht unmittelbar aus dem dargestellten Baumdiagramm. Zur Berechnung von P(¬A|B) muss man das Baumdiagramm umstellen:

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C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

¬A B A

¬A ¬B A

In diesem zweiten Baumdiagramm findet sich nun die gesuchte Wahrscheinlichkeit P(¬A|B), auch wenn wir den Wert noch nicht kennen. Berechnen lässt sich mit dem ersten Baumdiagramm die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sowohl ¬A (Pflanze nicht gegossen) als auch B (Pflanze gestorben) gleichzeitig vorliegen. Denn für Baumdiagramme gilt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Pfades dem Produkt der Wahrscheinlichkeiten längs dieses Pfades entspricht (Pfadmultiplikationsregel).458 Die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl ¬A als auch B vorliegen, berechnet man durch Multiplikation der Wahrscheinlichkeit, dass ¬A vorliegt mit der Wahrscheinlichkeit, dass B vorliegt, wenn ¬A gegeben ist: P(¬A) × P(B|¬A) = P(¬A ∧ B) 0,3 × 0,9 = 0,27 Gehören zu einem Ereignis B mehrere Pfade (d. h. kann das Ereignis B am Ende mehrerer Pfade stehen), so wird die totale Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses mit der Summe der Wahrscheinlichkeiten der zugehörigen Pfade bestimmt 458  Mürmann, Wahrscheinlichkeitstheorie und Stochastische Prozesse, S.  102; Strick, Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung, S.  24.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

(Pfadadditionsregel).459 Dadurch erhält man einen Wert, der auch für das zweite Baumdiagramm relevant ist: P(¬A ∧ B) + P(A ∧ B) = P(B) (0,3 × 0,9) + (0,7 × 0,2) = 0,27 × 0,14 = 0,41 Die relative Häufigkeit dafür, dass die Pflanze stirbt (unabhängig davon, ob sie gegossen wurde oder nicht), beträgt also 41 Prozent. Unter nochmaliger Anwendung des Theorems T1 kommt man folglich zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Pflanze überlebt, 59 Prozent betragen muss.

¬A B A

¬A ¬B A Auch für das zweite Baumdiagramm gilt die Pfadmultiplikationsregel: Und weil

P(B) × P(¬A|B) = P(B ∧ ¬A) P(¬A ∧ B) = P(B ∧ ¬A) P(¬A) × P(B|¬A) = P(B) × P(¬A|B)

459  Mürmann, Wahrscheinlichkeitstheorie und Stochastische Prozesse, S.  103; Strick, Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung, S.  24.

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C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

lässt sich nun die gesuchte Wahrscheinlichkeit berechnen, wenn die Gleichung zur Bayes-Regel umgestellt wird: P(¬A) × P(B|¬A) = P(¬A|B) P(B) 0,27 = P(¬A|B) 0,41 0,66 = P(¬A|B)

¬A B A

¬A ¬B A

Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Freund die Pflanze nicht gegossen hat, wenn die Pflanze tot ist, liegt also bei 66 Prozent. e) Abhängigkeit und Unabhängigkeit Die Rechnung mit bedingten Wahrscheinlichkeiten im Beweisrecht funktioniert nur, wenn die einzelnen Wahrscheinlichkeiten voneinander unabhängig sind oder wenn (wie im Pflanzen-Beispiel) bekannt ist, inwiefern die Wahrscheinlichkeiten sich beeinflussen, wenn ihre gegenseitige Abhängigkeit sich also beziffern

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

lässt.460 Abschließend müssen deshalb noch die mathematischen Begriffe der Unabhängigkeit und Abhängigkeit definiert werden.461 aa) Unabhängigkeit Wenn das Eintreten des einen Ereignisses (oder die Wahrheit der einen Aussage) keinen Einfluss hat auf die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des anderen Ereignisses (oder die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit der anderen Aussage), so sind die beiden Ereignisse (oder Aussagen) voneinander unabhängig. Dann lassen sich keinerlei Schlüsse aus der Wahrscheinlichkeit des einen Ereignisses auf die Wahrscheinlichkeit des anderen Ereignisses ziehen. Die Wahrscheinlichkeit von A unter der Bedingung B ist dann gleich der Wahrscheinlichkeit von A total: P(A|B) = P(A) Umgekehrt ist in diesem Fall auch die Wahrscheinlichkeit von B unabhängig von der Wahrscheinlichkeit von A, weil in der bereits bekannten Formel P(A|B) ersetzt werden kann durch P(A): P(B|A) =

P(A ∧ B) P(A|B) × P(B) P(A) × P(B) = = = P(B) P(A) P(A) P(A)

Die ebenfalls bereits bekannte Multiplikationsregel P(A) × P(B|A) = P(A ∧ B) kann entsprechend vereinfacht werden, sodass die stochastische Unabhängigkeit mit der folgenden Formel definiert wird: P(A) × P(B) = P(A ∧ B)

460 Vgl. Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  162 Rn.  675 ff., S.  167 Rn.  694, S.  177 Rn.  738 ff.; Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021, 1041 ff.; Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  99 f.; Neuhaus in Müller et al. (Hrsg.), MAH Strafverteidigung, 2.  Aufl. 2014, §  62 Rn.  43; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  149 f. 461 Dazu Mürmann, Wahrscheinlichkeitstheorie und Stochastische Prozesse, S.  103 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  93 ff.

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bb) Abhängigkeit Sind die Ereignisse hingegen voneinander abhängig, so beeinflussen sich ihre Wahrscheinlichkeiten gegenseitig, weshalb gilt: P(A|B) ≠ P(A) Ein Ereignis (oder eine Aussage) B ist dann relevant für die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Ereignisses (oder der Wahrheit der Aussage) A, weil sich die Wahrscheinlichkeit für A ändert (erhöht oder vermindert), wenn B vorliegt. In diesem Fall bleibt es für die Multiplikationsregel zwingend bei P(A) × P(B|A) = P(A ∧ B) und deshalb ist es notwendig, die bedingte Wahrscheinlichkeit P(B|A) zu kennen. Kennt man lediglich die totalen Wahrscheinlichkeiten P(A) und P(B), kann man die übrigen Wahrscheinlichkeiten nicht berechnen. Erkennen lässt sich dies wiederum gut anhand des Baumdiagramms:462

B ¬A ¬B

B A ¬B

462 

Die verwendeten Zahlen stammen aus dem Beispiel auf S. 126.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

P(B) = P(¬A ∧ B) + P(A ∧ B)463 P(B) = (0,3 × P(B|¬A)) + (0,7 × P(B|A)) 0,41 = (0,3 × P(B|¬A)) + (0,7 × P(B|A)) cc) Bedingte Unabhängigkeit Zwei Ereignisse (oder Aussagen) A und B können auch bedingt unabhängig sein, nämlich unter der Bedingung, dass ein drittes Ereignis C gegeben ist. Dann beeinflusst die Wahrscheinlichkeit von A diejenige von B nur unter der Voraussetzung nicht, dass C vorliegt: P(A ∧ B|C) = P(A|C) × P(B|C) Die Wahrscheinlichkeit, dass A und B vorliegen, kann dann, wenn C vorliegt, mithilfe der Produktregel ausgerechnet werden, indem die Wahrscheinlichkeit von A gegeben C mit der Wahrscheinlichkeit von B gegeben C multipliziert wird. 2. Die Wahrscheinlichkeitsaxiome und -theoreme als logische Denkgesetze der Beweiswürdigung a) Axiome als logische Denkgesetze Die dargestellten Axiome (und mit ihnen die Theoreme) der Wahrscheinlichkeitsrechnung sind auch für die subjektive Wahrscheinlichkeit und mithin für die juristische Entscheidungsfindung im Rahmen einer rationalen Beweiswürdigung anzuwenden. Denn einerseits ist die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie mit jeder speziellen Auffassung über Wahrscheinlichkeit verträglich, weil die Mathematik „Wahrscheinlichkeit“ nicht definiert.464 Und andererseits muss auch die subjektive Wahrscheinlichkeit plausibel und damit rational begründbar sein. „Die Überzeugung des Richters ist eine ‚conviction raisonée‘, keine von jeglichen Regeln freie ‚conviction intime‘. Sie darf daher nicht gegen die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie verstoßen.“465 Damit ist die subjektive Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses beispielsweise abhängig davon, inwieweit das gegenteilige Ereignis möglich ist. Die Möglichkeiten verschiedener Hypothesen müssen also zusammengefasst 463 

Zum Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit S.  125 f. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  4, Halbband 1, S.  129 ff.; dazu bereits oben C V 2 a. 465  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  129; zu den Anforderungen an ein rationales Wahrscheinlichkeitsurteil bereits oben A III 2 b ee. 464 

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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eine Summe von 1 ergeben, wenn sich die Hypothesen gegenseitig ausschließen.466 Begründet wird der sonst drohende Rationalitätsverstoß mithilfe des Wettverhaltens einer rational denkenden Person, die kein Wettsystem akzeptiert, bei dem man notwendigerweise Verlust oder Gewinn macht. Ausgangspunkt ist demnach die „faire Wette“: Eine Person, die grundsätzlich bereit ist, eine Wette einzugehen (die also etwa dazu bereit ist, trotz ihrer Ungewissheit um Geld zu spielen), tut dies immer dann, wenn sie die Wette für „fair“ hält. „Fair“ empfindet sie eine Wette dann, wenn die Wettquote es ist. Die Wettquote ist der Anteil am Gesamteinsatz aller Spieler, den der Wettende erhält. Sie ist fair, wenn es für den Wettenden gleichgültig ist, welche Seite der Wette er einnimmt. Dies wiederum hängt ab vom Wetteinsatz und der jeweiligen Erfolgswahrscheinlichkeit. Hält man beispielsweise Eintritt und Nichteintritt des Ereignisses, um das gewettet wird, für gleich wahrscheinlich, so empfindet man die Wette dann als fair, wenn der Wetteinsatz für beide Seiten gleich hoch ist, also zwei gegeneinander wettende Personen gleich viel setzen müssen. Hält man hingegen den Eintritt des einen Ereignisses für wahrscheinlicher, so muss der Wetteinsatz entsprechend angepasst werden – auf das wahrscheinlichere Ereignis wird man mehr setzen als auf das unwahrscheinlichere Ereignis. Nehmen wir zum Beispiel an, es wird darum gewettet, ob es morgen regnet oder nicht.467 Geht man von einer Wahrscheinlichkeit von 0,25 davon aus, dass es tatsächlich regnen wird, so wird man – bei einem Gesamteinsatz von vier Euro – lediglich einen Euro setzen, wenn man auf „es wird regnen“ wettet, und drei Euro, wenn man auf „es wird nicht regnen“ wettet, weil letzteres entsprechend wahrscheinlicher ist, nämlich im Verhältnis 0,75 zu 0,25. Schließt eine Person nun allerdings unter Verletzung von Axiom A2 und Theorem T1 eine Wette ab, indem sie von Wahrscheinlichkeitswerten für die verschiedenen möglichen Ergebnisse ausgeht, die in Summe nicht 1 ergeben, so würde diese Person eine Wette als „fair“ akzeptieren und folglich eingehen, die ihr einen sicheren Verlust einbringt. Solche Wetten werden in der englischsprachigen Literatur „dutch books“ genannt. Denn Wetten wurden damals in ein kleines Handbuch eingetragen und „to dutch a bet“ sagte man, wenn ein Glücksspieler 466  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  107 ff., 126 ff.; Skyrms, Einführung in die induktive Logik, S.  257 ff., beide auch zum folgenden Text; vgl. auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  295; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  47 ff.; Salmon, The foundations of scientific inference, S.  64; a. A. aber Shackle, Decision, Order and Time in Human Affairs, S.  47 ff.; dazu Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  39 ff.; ob und in welchem Grad man es für möglich hält, dass es morgen regnet, hängt nach Shackle nicht davon ab, für wie unmöglich man das gleiche Ereignis hält. 467  Zu diesem Beispiel Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  107.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

insgesamt mehrere Wetten einging und so auf alle Pferde bei einem Rennen setzte, dass er das Spiel insgesamt ganz sicher gewann (sein Wettpartner also unter allen Umständen verlor).468 Nach dem sog. Dutch Book Argument geht eine Person beispielsweise beim Wurf einer Münze mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel davon aus, dass die Münze auf „Kopf“ fällt. Sie geht außerdem mit einer Wahrscheinlichkeit von ebenfalls nur einem Drittel davon aus, dass die Münze auf „Zahl“ landet.469 Die Münze muss entweder auf „Kopf“ oder auf „Zahl“ landen, es können nicht beide Ergebnisse zeitgleich eintreten. Eine dritte Möglichkeit gibt es außerdem nicht – der Münzwurf wird nicht gezählt, wenn die Münze nicht auf eine Seite fällt, sondern auf dem Rand stehen bleibt. Bei einem Glücksspiel wird ein gewisser Geldbetrag auf eines der Ereignisse gesetzt, den man mit einer Prämie wieder zurückerhält, wenn genau dieses Ereignis eintritt. Andernfalls ist der Einsatz verloren. Bei einem Gesamteinsatz von drei Euro würde unser Spieler also zwei Euro darauf setzen, dass die Münze nicht auf „Kopf“ landet (weil er von einer Wahrscheinlichkeit des Ereignisses „Kopf“ von nur 1/3 ausgeht). Landet die Münze doch auf „Kopf“, verliert der Spieler die gesetzten zwei Euro. Landet die Münze auf „Zahl“, erhält der Spieler seine zwei Euro zurück, inklusive einer Prämie von einem Euro. Gleichzeitig müsste unser Spieler allerdings zwei Euro darauf setzen, dass die Münze nicht auf „Zahl“ landet (weil er von einer Wahrscheinlichkeit des Ereignisses „Zahl“ von ebenfalls nur 1/3 ausgeht). Landet die Münze doch auf „Zahl“, verliert der Spieler wiederum die gesetzten zwei Euro. Landet die Münze auf „Kopf“, enthält der Spieler seine zwei Euro inklusive einer Prämie in Höhe von einem Euro zurück. Weil der Spieler in unserem Beispiel beide Wetten als „fair“ betrachtet, geht er sie beide ein. Dies bedeutet einen sicheren Verlust für ihn: Landet die Münze auf „Kopf“, so gewinnt er zwar die zweite Wette und erhält eine Prämie von einem Euro – er verliert aber zugleich die erste Wette und damit zwei Euro. Sein Verlust ist also insgesamt größer als sein Gewinn. Das gleiche passiert, wenn die Münze auf „Zahl“ landet: Der Spieler gewinnt dann die erste Wette und erhält eine Prämie von einem Euro – er verliert aber die zweite Wette und damit wiederum zwei Euro. Keine rational handelnde Person würde ein solches Wettsystem akzeptieren. Es gibt auch noch andere Rechtfertigungen dafür, dass persönliche Überzeugungsgrade, um als rational bezeichnet werden zu können, den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen. Für die vorliegende Arbeit ist es ausreichend, an dieser Stelle auf die Zusammenschau weiterer Argumente bei 468 

Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  108 Fn.  130; Skyrms, Einführung in die induktive Logik, S.  289. 469  Zu diesem Beispiel Salmon, The foundations of scientific inference, S.  64.

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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Schweizer470 zu verweisen, der darauf hinweist, dass diese Argumente teilweise wohl für einen Juristen schwer verständlich seien, weil ihm das zum Verständnis nötige Wissen an formaler Logik und Mathematik fehle. b) Multiplikationsregel, Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit und Bayes-Regel als logische Denkgesetze Die Berücksichtigung der Axiome (und Theoreme) der Wahrscheinlichkeitsmathematik allein ist aber noch nicht ausreichend. Damit ist nämlich nur gesagt, dass bestimmte Kombinationen von Wahrscheinlichkeitsurteilen verworfen werden müssen. Ob das einzelne Wahrscheinlichkeitsurteil vernünftig und damit intersubjektiv vermittelbar ist, lässt sich damit hingegen nicht überprüfen. Dazu bedarf es einer Regel, die einen Zusammenhang zwischen dem Wahrscheinlichkeitsurteil und dem Wissen des Erfahrungssubjekts, also dessen Erfahrungen, herstellt. Die hierzu notwendige Regel ist die Bayes-Regel, wobei zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit wie oben gesehen auch die Multiplikationsregel sowie der Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit heranzuziehen sind.471 Damit ist die Anwendung der oben dargestellten mathematischen Grundregeln zur Wahrscheinlichkeitsberechnung der wesentliche Ansatz der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie, weil damit ausgedrückt werden kann, wie sich der Grad der Überzeugung ändern muss, wenn sich das Wissen des Entscheidungsträgers ändert.472 Diese mathematischen Regeln stellen also logische Denkgesetze dar, die bei der Beweiswürdigung beachtet werden müssen, damit das Urteil am Ende logisch erklärbar und damit plausibel ist. Zwar muss das Gericht nicht wie ein Mathematiker anfangen, exakt zu rechnen;473 aber das Gericht kann der Mathematik zumindest entnehmen, dass und wie Wahrscheinlichkeiten sich gegenseitig beeinflussen und damit die epistemische Wahrscheinlichkeit insgesamt verändern. 470 

Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  110 f. m. w. N. Die meisten deutschsprachigen Autoren, die sich mit der Frage beschäftigt haben, befürworten die Anwendung der Bayes-Regel – wenn auch nicht als starre, mathematische Regel, sondern als rationales Modell der Beweiswürdigung. Kritiker hingegen zielen darauf ab, dass eine exakte Berechnung von Wahrscheinlichkeiten im Rahmen von juristischen Entscheidungen nicht möglich sei und dass durch eine Mathematisierung insbesondere des Strafprozesses ein Verlust an Menschlichkeit zu befürchten sei. Zum Stand der Wissenschaft Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  170 f. Rn.  709 ff. m. w. N.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  50 f., 53 m. w. N.; Rüßmann, in Alexy et al. (Hrsg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, S.  383–394; Schweizer, Kognitive Täuschung vor Gericht, S.  148 ff. m. w. N. 472  Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  53, 56; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  108. 473  Siehe Teil 3 Fn.  471 sowie unten C VI 1 b. 471 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

3. Folgen für Indizienbeweis und Prognose a) Indizienbeweis Der Indizienbeweis ist die Erklärung einer nicht beobachteten Ursache durch eine beobachtete Folge. Zwei unsichere Indizien, die auf die gleiche Haupttatsache hinweisen (sog. Beweisring), verstärken sich dabei gegenseitig. Die Berechnung erfolgt nach dem Satz von Bayes. Zwei unsichere Indizien hingegen, unter denen das eine auf das andere verweist und erst das zweite auf die Haupttatsache (Beweiskette), schwächen sich gegenseitig. Die Berechnung erfolgt hier mithilfe der Multiplikationsregel.474 b) Prognose aa) Die Bestimmung der Likelihood Bei einer Prognose, also der Voraussage eines künftigen Ereignisses, stellt es sich etwas anders dar. Hier ist nicht die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit ausschlaggebend, sondern die totale Wahrscheinlichkeit. Hierfür relevant ist die Likelihood, also die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Folge eintreten wird, wenn bestimmte Umstände gegeben sind. Die epistemische Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Folge eintreten wird, entspricht dabei in der Regel der hierfür bekannten statistischen Wahrscheinlichkeit (also der objektiven Wahrscheinlichkeit im Sinne einer relativen Häufigkeit), sofern die statistische Wahrscheinlichkeit sich auf die jeweils relevante Referenzklasse bezieht, also auf eine Klasse von Fällen, die mit dem zu entscheidenden Einzelfall vergleichbar sind. Die Likelihood wird also durch die Wahl der richtigen Referenzklasse bestimmt. Daraus ergeben sich die folgenden drei Prämissen des Bayes’schen Syllogismus, die erfüllt sein müssen, um von einer statistischen Wahrscheinlichkeit auf die epistemische Wahrscheinlichkeit zu schließen:475 1. Die relative Häufigkeit der Eigenschaft Q in der Klasse R ist γ. 2. Der zu entscheidende Einzelfall ai ist ein Mitglied aus der Klasse R (i = 1, 2, …, n).

474 

Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  171 ff. Rn.  713 ff.; Liebhart, NStZ 2016, 134, 134 f.; Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  92 ff.; Neuhaus in Müller et al. (Hrsg.), MAH Strafverteidigung, 2.  Aufl. 2014, §  62 Rn.  39 ff.; Risse, NJW 2020, 2383 ff.; vgl. auch Huber, JuS 2016, 218, 220 (der allerdings statt von der Bayes-Regel von einer „Art Additionsregel“ spricht). 475  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  351 ff., 386, 391; vgl. auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  303 ff., 325; Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  101; Salmon, Logik, S.  176 ff.

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3. Die Wahrscheinlichkeit, dass ai die Eigenschaft Q aufweist, ist für mich gleich groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass jedes andere Mitglied der Klasse R die Eigenschaft Q aufweist. Die erste Prämisse setzt einen statistischen Erfahrungssatz voraus. Wenn keine statistischen Erfahrungssätze bekannt sind, weil es an beobachteten relativen Häufigkeiten fehlt, ist auch das Abstützen auf das eigene oder auf fremdes Wissen sowie auf Alltagstheorien zulässig, selbst wenn dies unter anderem aufgrund von gesellschaftlichen Vorurteilen und Fehleinschätzungen riskant ist und ein großes Fehlerpotential aufweist. Wenn verlässlichere Quellen nicht vorhanden sind, dann bleibt dem Gericht nichts anderes übrig. Die Alltagstheorie ist dann die beste verfügbare rationale Beweisgrundlage. Alltagstheorien beruhen ebenfalls auf Erfahrung, allerdings sind sie nicht wissenschaftlich fundiert, weil sie nicht auf einer systematischen und der empirischen Überprüfung zugänglichen Vorgehensweise beruhen, sondern Kenntnisse, Vorstellungen, Erfahrungen und Maximen wiedergeben, die von Mitgliedern der Gesellschaft im alltäglichen Leben als selbstverständlich und als wechselseitig verfügbar aufgefasst werden. Weil das Revisionsgericht Erfahrungssätze (und dabei insbesondere solche, die auf Alltagswissen gestützt werden) überprüfen kann, ist das Risiko auch vertretbar.476 Die zweite Prämisse verlangt, dass der zu entscheidende Einzelfall zur Klasse derjenigen Fälle zählt, über die der statistische Erfahrungssatz eine Aussage trifft – der Einzelfall muss also die gleichen Merkmale aufweisen. Die dritte Prämisse besagt, dass der Einzelfall keine darüberhinausgehenden Merkmale haben darf, die das Ereignis, über das eine Aussage getroffen werden soll, in diesem speziellen Fall wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher erscheinen lassen als in allen anderen Fällen der Referenzklasse. Denn sonst müsste man den Einzelfall einer anderen Referenzklasse zuordnen, die wiederum alle relevanten Merkmale des Einzelfalls aufweist. 30 % aller verurteilten Straftäter werden rückfällig. T ist ein verurteilter Straftäter. T wird rückfällig.

Mit 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit wahr!

Dass 30 Prozent aller verurteilten Straftäter rückfällig werden, ist ein (ausgedachter) statistischer Erfahrungssatz. Weil T ein verurteilter Straftäter ist, gehört er zur Gruppe aller verurteilten Straftäter, er ist also ein Mitglied dieser Gruppe. Geht man nun davon aus, dass T keine weiteren Merkmale aufweist, die seinen 476  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  398 ff.; vgl. auch Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  21 f.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

späteren Rückfall wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich erscheinen lassen, als dies beim Rest der Gruppe aller verurteilten Straftäter der Fall ist, so darf man davon ausgehen, dass auch T mit 30-prozentiger (epistemischer) Wahrscheinlichkeit rückfällig wird. Weiß man nun aber, dass T nicht nur ein verurteilter Straftäter ist, sondern dass er zudem ein Mann ist, so kann man sich fragen, ob dieses Merkmal einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit künftiger Rückfälligkeit hat. Kennt man einen Erfahrungssatz, der besagt, dass lediglich 10 Prozent aller verurteilten männlichen Straftäter rückfällig werden, so muss man diese Frage bejahen. Dann aber kann man aus dem statistischen Erfahrungssatz „30 Prozent aller verurteilten Straftäter werden rückfällig“ nicht mehr auf die epistemische Rückfallwahrscheinlichkeit von T schließen, weil T ein zusätzliches für die Beurteilung relevantes Merkmal („männlich“) aufweist. Dann ist die dritte Prämisse des Bayes’schen Syllogismus nicht erfüllt. Um dennoch eine Aussage über die Rückfallwahrscheinlichkeit von T zu treffen, muss man auf eine andere Referenzklasse zurückgreifen, nämlich auf diejenige aller männlichen verurteilten Straftäter. 30 % aller verurteilten Straftäter werden rückfällig. 10 % der verurteilten männlichen Straftäter werden rückfällig. T ist ein verurteilter Straftäter. T ist ein Mann. T wird rückfällig.

Mit 10-prozentiger Wahrscheinlichkeit wahr!

bb) Die Wahl der richtigen Referenzklasse Die dritte Prämisse des Bayes’schen statistischen Syllogismus lässt sich in der Regel schwer rechtfertigen. Denn in der juristischen Praxis hat man es mit Einzelfallentscheidungen zu tun, sodass es meist gerade an der „Typizität“ eines Geschehensablaufs fehlt. Dann wird es schwierig sein, eine Referenzklasse zu bilden, die viele gemeinsame Merkmale mit dem Einzelfall aufweist und zugleich mehrheitlich die umstrittene Eigenschaft hat. Denn je mehr Merkmale in die Betrachtung einbezogen werden, desto größer wird die Gefahr, dass eine statistische Aussage gar nicht mehr möglich ist.477 Aus diesem Grund hält Frisch478 477 

Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  61. Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, S.  110 f.; im Jahr 1983 allerdings, als das hier zitierte Werk von Frisch erschienen ist, wurde statistische Risikoeinschätzung im Rahmen von Prognoseentscheidungen allgemein noch als „Magie“ betrachtet; das ist heute anders, seit 478 

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statistische Verfahren auch für „wertlos“. Dem kann nicht zugestimmt werden: Schlüsse auf den Einzelfall sind dennoch gerechtfertigt, weil die einzige Alternative diejenige wäre, vollständig auf den Bezug auf die Referenzklasse und damit auf die beste verfügbare Information zu verzichten. Umso schwieriger ist es aber, die maßgebliche Referenzklasse zu bestimmen. Die richtige Lösung für das Problem gibt es nicht. Die Wahl einer Referenzklasse lässt sich nicht mechanisch ableiten. Dennoch muss man sich entscheiden. Hier kommt es dann auf die Argumentation des Entscheidungsträgers an.479 Gruppenstatistische Erkenntnisse werden dann nicht unkritisch übernommen, sondern individuelle Fähigkeiten und Lebenssituationen werden ausdrücklich beachtet. Diese individuelle Fallbetrachtung ist es, die ein rechtmäßiges Wahrscheinlichkeitsurteil von einem solchen unterscheidet, welches sich in einer standardisierten Aussage über ein gruppenspezifisches Risiko erschöpft. Die Wahl einer bestimmten Referenzklasse muss intersubjektiv nachvollziehbar sein – und das ist sie, wenn ihre Gründe offengelegt werden. Dann kann der Gedankengang des Entscheidungsträgers nachverfolgt und darüber diskutiert werden, ob die persönliche Überzeugung auch im Einzelfall gerechtfertigt ist. Nur diese Nachvollziehbarkeit von Informationsgrundlage und Datenselektion macht eine Überprüfung möglich. Auf diese Weise können statistische Erfahrungssätze zwar keine eindeutigen Schlüsse zulassen; sie geben aber immerhin eine Antwort auf die Frage, ob es plausibel ist, dass ein fragliches Ergebnis eintritt.480 Wenn die Rechtsprechung in solchen Fällen die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls verlangt, fasst Schweizer481 dies unter Berufung auf Reichenbach482 als Aufforderung dazu auf, die engste Referenzklasse zu wählen, also diejenige, welche die meisten gemeinsamen Merkmale mit dem Einzelfall aufweist und dennoch groß genug ist, um Aufschluss über die relative Häufigkeit des fraglichen Merkmals geben zu können. Die durch den Erfahrungssatz aufgestellte Hypothese wird jedenfalls umso stärker und kommt umso näher an den Einzelfall heran, je mehr gemeinsame Merkmale das Kollektiv aufweist.483 Die Klasse aller männlichen verurteilten statistische Prognoseinstrumente immer mehr an Akzeptanz gewinnen und allgemein anerkannt ist, dass sie bei fachgerechter Anwendung dazu beitragen können, die Risikoeinschätzung zu verbessern, Boetticher et al., NStZ 2009, 478, 479. 479  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  354 ff., 363 ff., 367, 397; vgl. auch ­Boetticher et al., NStZ 2009, 478 ff.; De Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, S.  255; alle auch zum folgenden Text. 480 Vgl. Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  63. 481  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  363 ff., 368, 387 f.; vgl. auch Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  96; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  305 f. 482  Reichenbach, The Theory of Probability, S.  374. 483  Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  60 f.; Mummenhoff,

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Straftäter beispielsweise ist eine Unterklasse (echte Teilklasse) der Klasse aller verurteilten Straftäter und damit enger als diese. Weil man aber in der Wirklichkeit viele relevante Eigenschaften des Individuums gar nicht kennt und eine Einordnung in die richtige, wirklich absolut vergleichbare Referenzklasse damit unmöglich ist, kommt es allein auf den Kenntnisstand des Entscheidungssubjekts an. Eine Referenzklasse ist demnach „epistemisch homogen“, wenn man nichts über das Individuum weiß, das die Bildung einer weiteren Unterklasse ermöglichen würde. „Diese Information über die relative Häufigkeit in einer epistemisch homogenen Referenzklasse für den Schluss auf die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass das interessierende Merkmal im Einzelfall vorliegt, zu nutzen, ist vernünftig, wenn es bessere Informationen nicht gibt.“484

Die Aufgabe des Richters ist es also insbesondere, die richtige Referenzklasse zu ermitteln, soweit ihm dies möglich ist. Hat er eine Referenzklasse gefunden, die zumindest epistemisch homogen ist und gibt es keine weitere Möglichkeit mehr zur Sachverhaltsaufklärung (§  244 Abs.  2 StPO), so darf er seine Überzeugung mithilfe der epistemisch homogenen Referenzklasse bilden. Im Gegensatz dazu kann ein verfügbarer Erfahrungssatz allerdings auch mit einem solchen Erfahrungssatz konkurrieren, der auf einer völlig unterschiedlichen Referenzklasse beruht. Dann ist die eine Referenzklasse also nicht wie bisher eine Teilklasse der anderen Referenzklasse, sondern die Klassen beziehen sich auf jeweils völlig unterschiedliche Merkmale. In einem solchen Fall lässt sich nicht unmittelbar aus der einen oder aus der anderen statistischen Wahrscheinlichkeit auf die epistemische Wahrscheinlichkeit schließen, weshalb empfohlen wird, sich einer Entscheidung zu enthalten, wenn es keinen Erfahrungssatz gebe, der sich auf eine Kombination sämtlicher Merkmale beziehe.485 Begründet wird das wie folgt: Konkurrierende Erfahrungssätze mit unterschiedlichen Bezugsklassen verhielten sich wie in der Mathematik Aussagen zu verschiedenen Zufallsexperimenten, und nur im Rahmen ein und desselben Zufallsexperiments seien die dargestellten Regeln der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie gültig. Die jeweiligen (statistischen) Wahrscheinlichkeitswerte aus den unterschiedlichen Erfahrungssätzen dürften demnach weder miteinander verErfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  55; Risthaus, Erfahrungssätze im Kennzeichenrecht, S.  321 ff. Rn.  768–772. 484  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  397; vgl. auch Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  59 f. 485  Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, S.  73; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  304 ff.; Risthaus, Erfahrungssätze im Kennzeichenrecht, S.  316 Rn.  749; Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, S.  21; Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  1 (1983), S.  784, 816 f.

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knüpft werden, noch dürfe nur einer der verfügbaren Erfahrungssätze isoliert angewendet werden. Auch dürfe man nicht von einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit ausgehen; das dürfe man nur, wenn man absolut gar nichts wisse.486 Es sei vielmehr nur ein solcher Erfahrungssatz anzuwenden, der sämtliche Merkmale berücksichtige. Das wissenschaftstheoretische Schulbeispiel des schwedischen Lourdes-Pilgers kann dies verdeutlichen: Man will herausfinden, welcher Religion eine Person wahrscheinlich angehört. Bekannt ist nur, dass diese Person die schwedische Nationalität besitzt und dass sie nach Lourdes gepilgert ist. Man kennt Erfahrungssätze, wonach 90 Prozent aller Lourdes-Pilger katholisch, jedoch 90 Prozent aller Schweden nicht katholisch sind. Beide Erfahrungssätze beziehen sich auf völlig unterschiedliche Merkmale und führen zu unverträglichen Aussagen, wenn man sie auf den Beispielsfall anwendet. Denn es kann nicht stimmen, dass unsere Person sowohl mit überwiegender Wahrscheinlichkeit katholisch und zugleich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht katholisch ist. Man müsste also erst einen Erfahrungssatz finden, der sich nicht nur auf Schweden und auch nicht nur auf Pilger, sondern auf schwedische Pilger bezieht. Nur dieser könnte dann Rückschlüsse auf den Einzelfall geben. In Anbetracht des Entscheidungszwangs allerdings, dem sich der Tatrichter ausgesetzt sieht, ist dies in der Rechtswissenschaft keine praktikable Lösung. Sinnvoller erscheint es, im Rahmen des induktiven Argumentationsschrittes die beiden vorhandenen Erfahrungssätze danach zu bewerten, welcher für die im Moment interessierende Frage mehr Relevanz hat („inhaltliche Plausibilitätsbetrachtung“487): „Idealerweise wüsste man, wie viele der schwedischen Lourdes-Pilger Katholiken sind, aber diese Information fehlt. Aufgrund unserer Lebenserfahrung wissen wir aber, dass Leute nach Lourdes pilgern, weil sie katholisch sind, nicht weil sie schwedisch sind. Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der Pilgerfahrt und dem Glauben, nicht aber zwischen der Pilgerfahrt und der Staatsangehörigkeit. Daher ist es vernünftig – wenn auch wie gesagt nicht logisch zwingend – anzunehmen, dass der schwedische Lourdes-Pilger mit großer Wahrscheinlichkeit katholisch ist, wie die meisten anderen Lourdes-Pilger.“488

Sicher führt das argumentative Begründen des Vorzugs des einen Erfahrungssatzes vor dem anderen zwangsweise dazu, dass einzelne Umstände im Ergebnis unberücksichtigt bleiben. Das macht die Entscheidung des Gerichts aber nicht angreifbar, sofern offen dargelegt wird, dass man sich zunächst über sämtliche 486 

Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  358 ff. Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  54 f.; dazu Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.  1 (1974), S.  816 f. 488  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  366 f. 487 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Einzelfallumstände bewusst wurde, entsprechende Erfahrungssätze gesucht und sogar gefunden hat, diese aber aus nachvollziehbaren Gründen als weniger aussagekräftig befunden hat als den schlussendlich für die Entscheidung herangezogenen Erfahrungssatz. Dieser Vorzug des einen vor dem anderen Erfahrungssatz ist ein Umstand, der im induktiven Argumentationsschritt Berücksichtigung finden muss. Die Wahl der richtigen Referenzklasse ist auch dann problematisch, wenn mehrere Erfahrungssätze mit gleicher Bezugsklasse zur Verfügung stehen, die eine unterschiedliche relative Häufigkeit implizieren. Dann nämlich muss eine der statistischen Hypothesen zugunsten der anderen verworfen werden. Hierbei spielt insbesondere der sog. Likelihood-Vergleich eine große Rolle: Um zu überprüfen, welcher Erfahrungssatz zu verwerfen ist, muss wiederum an eine Wahrscheinlichkeit angeknüpft werden, nämlich an die Wahrscheinlichkeit des gefundenen Stichprobenresultats unter der Geltung der statistischen Hypothese. Mit anderen Worten: Man fragt danach, wie wahrscheinlich es jeweils ist, dass unter Geltung der statistischen Hypothese 1 oder der statistischen Hypothese 2 tatsächlich bei einer Stichprobe das fragliche Ereignis eintritt. Sodann vergleicht man diese beiden Likelihoods miteinander und verwirft diejenige Hypothese, deren Likelihood kleiner ist. Wie dies genau funktioniert, ist für die vorliegende Arbeit nicht bedeutsam, weshalb insofern auf die Ausführungen von Koch/Rüßmann489 und Mummenhof490 verwiesen wird.

VI. Gegenüberstellung der hier vertretenen Lösung mit derjenigen von herrschender Meinung und Literatur In diesem Abschnitt setzt sich die Untersuchung mit der herrschenden Meinung auseinander, die sich – dogmatisch und logisch falsch – gemäß in dubio pro reo über Unsicherheiten im Bereich der Prämissen des Wahrscheinlichkeitsurteils hinweghilft. Es soll dabei auch gezeigt werden, wie sich die hier gefundene Lösung im Ergebnis von derjenigen der herrschenden Meinung unterscheidet. Außerdem geht die Arbeit in diesem Abschnitt auf Stimmen in der Literatur ein, die erkannt haben, dass die Lösung der herrschenden Meinung fehlerhaft ist. Es können grundsätzlich drei Szenarien voneinander unterschieden werden, in welchen es zu Unsicherheiten im Bereich der Prämissen eines Wahrscheinlichkeitsurteils kommen kann: Einerseits kann die Tatsachengrundlage unsicher sein. Damit befasst sich Abschnitt 1. Andererseits können auch die Erfahrungssätze unsicher sein, worum es in Abschnitt 2 geht. Oder es kann der bereits erwähnte 489  490 

Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  335 ff. Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  51 ff.

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Fall eintreten, dass mehrere Wahrscheinlichkeiten gleich plausibel erscheinen, weil das Gericht sich sachverständiger Hilfe bedient und die beiden hinzugezogenen Sachverständigen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Mit dieser Unsicherheit befasst sich Abschnitt 3. 1. Zweifelhafte Tatsachengrundlage a) Ansicht der herrschenden Meinung Die herrschende Meinung geht davon aus, Zweifel in Bezug auf die einzelnen Prämissen des Wahrscheinlichkeitsurteils könnten unter Anwendung der In-dubio-Regel gelöst werden, weil es bei der Feststellung der Tatsachengrundlage um das Vorliegen von dem Beweis zugänglichen tatsächlichen Merkmalen gehe, die den Bezugspunkt für die In-dubio-Regel bildeten (siehe oben B III 2). Die herrschende Meinung blendet daher unsichere täterungünstige Tatsachen aus und fingiert unsichere tätergünstige Tatsachen, womit sie gegen die aufgezeigten dogmatischen und logischen Grenzen der Beweiswürdigung verstößt. Diesen Fehler begeht die herrschende Meinung dabei sowohl in Bezug auf die Tatsachengrundlage einer Schätzung491 als auch in Bezug auf diejenige einer Prognose492. Pollähne493 bezeichnet es außerdem als „rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit“, belastende Maßnahmen nur auf einer zweifelsfrei ermittelten Entscheidungsgrundlage zu treffen. Unsichere Tatsachen seien nicht mehr als ein „dubioser Verdacht“, der „wertlos“ sei und daher unberücksichtigt bleiben müsse. Volckart erkennt sogar die damit einhergehende Wahrheitseinbuße und will die In-dubio-Regel trotzdem anwenden: 491  BGH, Urteil v. 20.04.1989 – 4 StR 73/89, NStZ 1989, 361; Hellmann, GA 1997, 503, 507; Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  75 f. m. w. N.; Radtke in MüKoStGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  40 Rn.  121; Volk, in Hirsch et al. (Hrsg.), FS-Kohlmann, S.  579– 589, 581 f. 492  BGH, Beschluss v. 20.09.2000 – 5 StR 391/00, wistra 2000, 464; Beschluss v. 22.07.1992 – 2 StR 293/92, BGHR §  56 Abs.  1, Sozialprognose 24; BayObLG, Urteil v. 21.12.1993 – 4 St RR 143/93, StV 1994, 186; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 30.07.1997 – 1 Ws 113/97, NStZ-RR 1999, 241; Gräbener, ZStW 2022, 218, 236 ff.; Groß/Kett-Straub in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  56 Rn.  59; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S.  116; Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221–258, 238 ff.; Pollähne/Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, S.  24 Rn.  72; Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4.  Aufl. 2018, S.  46 Rn.  B 46–47; Pollähne, Kriminalprognostik, S.  206 ff.; Stree, In dubio pro reo, S.  91 ff.; Tenckhoff, Die Wahrunterstellung im Strafprozeß, S.  156; Tondorf, Psychologische und psychiatrische Sachverständige im Strafverfahren, S.  82 f.; Terhorst, MDR 1978, 973 (ebd. Fn.  1); Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  22. 493  Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4.  Aufl. 2018, S.  46 Rn.  B 46–47; Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221–258, 235 f., 239 f.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

„Ein Erfahrungswissenschaftler wird bei seiner wissenschaftlichen Arbeit […] in der Bemühung, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen, von dem Sachverhalt ausgehen, der für ihn die größte Chance der Richtigkeit hat. Bei der Kriminalprognose darf so nicht vorgegangen werden. Merkmale, die sich bei der Prognose für den Probanden ungünstig auswirken, müssen feststehen. Merkmale, die sich für ihn günstig auswirken, brauchen nur möglich zu sein. […] Bei der Kriminalprognose geht es nicht um den Probanden, der dieser wahrscheinlich ist, sondern um den, der er zu seinen Gunsten betrachtet sein könnte.“494

Streng hat bereits darauf hingewiesen, dass die herrschende Meinung durch diese Praxis erreichen will, dem wenig gefährlichen Täter, der den Regelfall darstellt, möglichst weitgehend die Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung (§  56 StGB) zu ermöglichen. Dieses kriminalpolitische Ziel sei zwar nachvollziehbar, aber dogmatisch nicht zureichend begründet und verfassungsrechtlich nicht legitimiert, „denn der Gesetzgeber hat insoweit den ihm zustehenden Regelungsspielraum nicht verlassen, so daß eine Durchgriffsmöglichkeit auf das Rechtsstaatsprinzip und den dort verankerten Erforderlichkeitsgrundsatz nicht begründet werden kann“.495 b) Forschungsstand in der Literatur und Gemeinsamkeiten mit der eigenen Lösung Begrüßenswerterweise wurden in der Literatur vereinzelt bereits die Probleme erkannt, denen die herrschende Meinung sich aussetzt. So findet sich etwa der Hinweis, die In-dubio-Regel könne hier nicht gelten, weil sie eine Entscheidungsregel und keine Beweiswürdigungsregel sei. Damit sind die in Abschnitt III aufgezeigten dogmatischen Bedenken gegen die Anwendbarkeit von in dubio pro reo angesprochen. Zopfs496 erklärt, eine Entscheidung zugunsten des Angeklagten werde der In-dubio-Regel nicht gerecht, denn diese gebe als Entscheidungsregel lediglich vor, wie der Entscheidungsträger sich bei Zweifeln zu entscheiden habe, nicht aber, wie er bestimmte Umstände zu bewerten habe. Und weil Zweifel an der Tatsachengrundlage nicht unbedingt auf das Prognoseergebnis durchschlagen müssten, sei die Entscheidung pro reo im Bereich der Tatsachengrundlage voreilig und überflüssig. Schließlich halten Schäfer/Sander/van Gemmeren497 der Anwendung von in dubio pro reo noch entgegen, dass eine Anwendung der In-dubio-Regel der herrschenden Praxis beim Indizienbeweis widerspreche: Hier, bei der Schuldfeststellung, werde die In-dubio-Regel näm-

494 

237.

495 

Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  22; vgl. auch Gräbener, ZStW 2022, 218,

Streng, in Dölling (Hrsg.), Die Täter-Individualprognose, S.  97–127, 116. Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  304. 497  Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, Rn.  204 f., 420, 1301. 496 

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lich auch nicht auf einzelne Tatsachen angewandt, sondern komme erst nach abgeschlossener Beweiswürdigung zum Tragen. Was die in Abschnitt IV aufgezeigten logischen Bedenken anbelangt, so fehlt es bisher an einer ausführlichen Begründung in der Literatur. Zum Teil kann man zwar lesen, Unsicherheiten müssten berücksichtigt werden, um einen Plausibilitätsverlust zu vermeiden.498 Auch wird darauf hingewiesen, dass die Anwendbarkeit der In-dubio-Regel auf Unsicherheiten im Bereich der Tatsachengrundlage dazu führen würde, die Anforderungen des Gesetzgebers zu unterlaufen, die dieser an den Tatrichter stellt.499 Viel tiefer gehen die Ausführungen bisher aber nicht: So haben etwa Montenbruck500, Jescheck/Weigend501 und T. Walter502 erkannt, dass eine Anwendung von in dubio pro reo die Prognose verfälschen würde. Sie alle bilden dazu in ähnlicher Form ein Beispiel, das sich auf die Prognose im Rahmen des §  56 StGB bezieht. Es geht also um die Entscheidung, ob die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden soll: Bei dem Täter eines Drogendelikts kann nicht aufgeklärt werden, ob er sich endgültig abgewandt hat von der ihn negativ beeinflussenden Rauschgiftszene, und es bleibt ungewiss, ob er seine begonnene Entzugstherapie durchhalten wird. Auch ist es zwar möglich, aber äußerst unwahrscheinlich, dass die neue Partnerin des Täters auf diesen eine stabilisierende Wirkung hat. Zudem gibt es gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Täter eine neue Arbeitsstelle finden wird, dies steht aber ebenfalls nicht zur Überzeugung des Gerichts fest. Würde man nun dem BGH folgend alle Ungewissheiten pro reo durch Gewissheit ersetzen, so käme man zwingend zu einer hohen Wahrscheinlichkeit künftig straffreier Führung, sodass die Vollstreckung der Strafe auszusetzen wäre. Der Tatrichter müsste also annehmen, dass die Beziehungen des Angeklagten zur Drogenszene nicht fortdauerten. Auch die Drogensucht müsste verneint werden, obgleich ihre Heilung noch ungewiss ist. Eine stützende Partnerin hingegen müsste unterstellt werden, ebenso die neue Arbeitsstelle. Die Unterstellung ungewisser Tatsachen verzerre das Ergebnis in Richtung einer günstigen Prognose, dabei seien die tatsächlich bestehenden Unsicherheiten doch gerade charakteristisch dafür, dass die Prognose eigentlich unsicher sei, also gerade nicht eindeutig positiv. Das Problem ist nach Jescheck/Weigend nur dadurch zu lösen, dass man die In-dubio-Regel bei einer Prognoseentscheidung überhaupt nicht anwendet, sondern Unge498 

van Gemmeren in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  63 Rn.  65. Schall in SK-StGB Bd.  2, 9.  Aufl. 2016, §  56 Rn.  20. 500  Montenbruck, In dubio pro reo, S.  100 f. 501  Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S.  836 f. 502  T. Walter, JZ 2006, 340, 343; ihm folgend auch Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, S.  127 f.; Schwabenbauer, Der Zweifelssatz im Strafprozessrecht, S.  31 ff. 499 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

wissheiten bestehen lässt, also eine Entscheidung auf unsicherer Tatsachengrundlage fällt. Montenbruck und T. Walter haben auch eine Vorstellung, wie dies ungefähr aussähe: Der Richter solle die unsicheren Basistatsachen zwar berücksichtigen, allerdings lediglich gemäß ihrem aussageschwachen oder -starken Nachweisgrad und entsprechend ihrer Bedeutung für das zu prognostizierende Ereignis. Unsicherheiten in Bezug auf Basistatsachen müssten also stets in dem Wahrscheinlichkeitsurteil selbst aufgehen. Denn die ein Wahrscheinlichkeitsurteil fordernde Norm präge auch die Mindestanforderungen an die Tatsachenbasis. Verdächtigungen und Vermutungen in diesem Bereich könnten folglich ausreichen, um eine Prognose positiv oder negativ werden zu lassen. In obigem Beispiel müsste also darauf abgestellt werden, dass die neue Partnerin wahrscheinlich nicht bodenständig ist und deshalb den Täter wahrscheinlich nicht stützen kann, dass der Täter aber wahrscheinlich eine neue Arbeitsstelle finden wird. Jeweils wäre dabei auch zu berücksichtigen, wie stark diese Wahrscheinlichkeit sei. Der erstgenannte Umstand würde die Prognose dann in eine negative Richtung ziehen, der zuletzt genannte hingegen in eine positive. Die Frage nach der Beziehung zur Drogenszene müsste mangels aussagekräftiger Erkenntnisse offenbleiben. Ein weiteres simples Beispiel503 soll die unterschiedliche Behandlung von unsicheren Prämissen durch die herrschende Meinung einerseits und die eigene Auffassung, die mit der Minderheitsmeinung in der Literatur übereinstimmt, andererseits zahlenmäßig verdeutlichen. Der Entscheidungsträger hat die Information, dass 10 Prozent der verurteilten Straftäter und 80 Prozent der verurteilten Straftäter mit Alkoholsucht rückfällig werden. Außerdem ist bekannt, dass T, dessen Rückfallrisiko es zu beurteilen gilt, verurteilt ist. Nicht sicher weiß der Entscheidungsträger hingegen, ob T Alkoholiker ist – er vermutet es aber: 10 % aller verurteilten Straftäter werden rückfällig. 80 % aller verurteilten Straftäter mit Alkoholsucht werden rückfällig. T ist ein verurteilter Straftäter. T ist vermutlich Alkoholiker. T wird rückfällig.

503 

x % plausibel

Die verwendeten Erfahrungssätze sind frei erfunden.

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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Nach der Auffassung der herrschenden Meinung liegt das Rückfallrisiko des T bei nur 10 Prozent, weil die herrschende Meinung die unsichere Information zugunsten des Angeklagten vollständig ausklammert: 10 % aller verurteilten Straftäter werden rückfällig. 80 % aller verurteilten Straftäter mit Alkoholsucht werden rückfällig. T ist ein verurteilter Straftäter. T ist vermutlich Alkoholiker. T wird rückfällig.

10 % plausibel

Richtigerweise liegt das Rückfallrisiko aber zwischen 10 Prozent und 80 Prozent, je nachdem, wie unsicher man sich über die Alkoholsucht ist. Je nachdem also, wieviel Beweiskraft das Gericht der unsicheren Aussage gibt: 10 % aller verurteilten Straftäter werden rückfällig. 80 % aller verurteilten Straftäter mit Alkoholsucht werden rückfällig. T ist ein verurteilter Straftäter. T ist vermutlich Alkoholiker. T wird rückfällig.

10–80 % plausibel

Geht man von einem Unsicherheitsfaktor von 0,75 aus, so ergibt sich eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 60 Prozent (0,75 x 0,8 = 0,6): 10 % aller verurteilten Straftäter werden rückfällig. 80 % aller verurteilten Straftäter mit Alkoholsucht werden rückfällig. T ist ein verurteilter Straftäter. T ist vermutlich Alkoholiker. T wird rückfällig.

60 % plausibel

75 %

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Mit der Produktregel rechnen (beim Indizienbeweis) auch Häcker/Schwarz und Velten: „Wenn zum Beispiel die Eigenschaft eines Angeklagten als Halter eines Autos mit 50 % feststeht, wenn sodann weiter die Wahrscheinlichkeit, dass im Einzelfall der jeweilige Halter sein Auto gefahren ist, bei 70 % liegen sollte, dann liegt schließlich die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte tatsächlich gefahren ist, bei 35 %.“504

Dass durch die Beantwortung eines non liquet im Bereich der Tatsachengrundlage mit in dubio pro reo die Prognoseentscheidung insgesamt in eine bestimmte Richtung vorentschieden wird, erkennen auch Streng505 und Schall506. Die Anwendung der In-dubio-Regel führe dazu, die Prognoseanforderungen des Gesetzes abzusenken, denn durch eine fingierte Faktenlage werde eine tatsächlich nicht begründete Erwartung künftiger Straffreiheit (§  56 StGB) entscheidungsleitend. Unsicherheiten bei der Sachverhaltsaufklärung dürften nicht zugunsten des Täters und damit zulasten der Sicherheit der Allgemeinheit verschoben werden, weil damit ein Prognoseergebnis erzielt würde, das der gesetzlichen Risikoverteilung widerspreche. Dass grundsätzlich auch eine unsichere Tatsachengrundlage das Ergebnis einer positiven oder negativen Prognose tragen könne, sei selbstverständlich. Sei die Sachlage so offen, dass sie nur zu einer höchst unsicheren Prognose führte, so müsse die normative Frage, ob diese Prognose den vom Gesetz gestellten Anforderungen an den Rechtsbegriff der positiven Prognose gerecht werde, eben verneint werden. Schäfer/Sander/van Gemmeren507 weisen darauf hin, dass die Beurteilungsgrundlage zu schmal würde, wenn man alle negativen Umstände außer Betracht ließe, die nicht mit absoluter Sicherheit festgestellt werden könnten. Die Qualität der Prognose hänge nämlich (wie auch das Bundesverfassungsgericht508 in ande504  Velten in SK-StPO Bd.  5, 5.  Aufl. 2016, §  261 Rn.  93; dieser hat sich dabei orientiert an Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S.  163 Rn.  682 ff. 505  Streng, in Dölling (Hrsg.), Die Täter-Individualprognose, S.  97–127, 115 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S.  408 f. Rn.  825 (aber nur für tätergünstige Faktoren; täterungünstige Umstände will Streng ausklammern, vgl. ders., S.  409 Rn.  827). 506  Schall in SK-StGB Bd.  2, 9.  Aufl. 2016, §  56 Rn.  20. 507  Schäfer et al., Praxis der Strafzumessung, Rn.  420, 1301; van Gemmeren in MüKo-StGB Bd.  2, 4.  Aufl. 2020, §  63 Rn.  65, §  64 Rn.  56. 508  BVerfG, Urteil v. 10.02.2004 – 2 BvR 834/02 u. 1588/02, NJW 2004, 750, 758: „Die Qualität der Prognose hängt entscheidend von der Breite der Prognosegrundlage ab. Die Pro­ gnose verliert an Plausibilität, wenn sie nur einen schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit zur Grundlage hat.“; noch eindrücklicher BVerfG, Beschluss v. 26.08.2013 – 2 BvR 371/12, NJW 2013, 3228 Rn.  48: „Bleibt das Bemühen des Richters um Zuverlässigkeit der Prognose trotz Ausschöpfung der zu Gebote stehenden Erkenntnismittel mit großen Unsicherheiten behaftet, so hat auch dies Eingang in seine Bewertung zu finden.“; so auch BGH, Urteil v. 22.07.2010 – 3 StR 156/10, BeckRS 2010, 21364 Rn.  22.

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rem Zusammenhang schon erklärte) entscheidend davon ab, wie breit diese Grundlage sei. Beruhe sie lediglich auf einem schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit, so sei sie wenig plausibel. Auch Zopfs spricht davon, dass nur mittels Berücksichtigung von Unsicherheiten im Bereich der Tatsachengrundlage ein möglichst sachgerechtes Ergebnis erzielt werden könne und dass andernfalls die Prognoseanforderungen des Gesetzes unterlaufen würden. Zopfs geht diesen Schritt nicht nur für die Tatsachengrundlage einer richterlichen Prognose509, sondern auch für diejenige einer richterlichen Schätzung510: Die In-dubio-Regel dürfe auch auf eine unsichere Schätzgrundlage nicht angewendet werden, um diese nicht zu verfälschen. Die Schätzung könne sonst deutlich hinter dem wirklichen Wert zurückbleiben. Dass die Schätzung nur auf diese Weise der Realität besonders nahekommt, muss auch Otte eingestehen,511 der auch die strukturelle Ähnlichkeit des Denkprozesses bei Schätzung und Indizienbeweis erkennt.512 Otte erachtet jedoch im Ergebnis die Anwendung der In-dubio-Regel dennoch als notwendig, weil er keinen Weg erkennt, wie genau Unsicherheiten in die Betrachtung eingestellt werden können. Seiner Meinung nach ist nicht klar, nach welchen Kriterien bestehende Zweifel gewichtet und berücksichtigt werden sollten. Dieses Argument kann aber nicht überzeugen. Denn die Beweiskraft einzelner Hilfstatsachen zu benennen ist nun einmal Aufgabe des Tatrichters und ein großer Aufwand rechtfertigt nicht den Verstoß gegen wissenschaftstheoretische Erkenntnisse und logische Denkgesetze,513 zumal da es willkürlich erscheint, ein Urteil zu fällen, ohne sich mit einzelnen Indizien erschöpfend auseinandergesetzt zu haben. Schließlich gibt es noch diejenigen, welche die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie in der Rechtswissenschaft als Fremdkörper ansehen, weil Wahrscheinlichkeiten hier nicht exakt beziffert werden könnten. Eine solche Bezifferung könnte den falschen Anschein einer objektiv bestehenden Wahrscheinlichkeit hervorrufen. Auch könnten dem Gericht Fehler unterlaufen, wenn es einzelne Beweise falsch gewichte. So heißt es bereits beim Bundesgerichtshof zur Frage, ob bei der Würdigung von Indiztatsachen im Zivilverfahren eine Wahrscheinlichkeitsberechnung anhand der Bayes-Regel angestellt werden könne: „Im Rahmen der Würdigung von Indizien wird der Tatrichter allerdings die unangefochtenen logischen und mathematischen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht verletzen dürfen. Er wird dazu aber im allgemeinen, insbesondere wenn […] keine einigermaßen gesicherten empirischen statistischen Daten zur Verfügung stehen, im Rahmen der von ihm vorzuneh509 

Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  303 f. Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, S.  294. 511  Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  75 f. 512  Otte, Schätzungen im Rahmen der Schuldfeststellung, S.  71. 513  So auch Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  95. 510 

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menden Beweiswürdigung nicht sogenannte Anfangswahrscheinlichkeiten in Prozentsätzen ausweisen und mit diesen dann Berechnungen anstellen müssen. Sicherlich kann es häufig nützlich sein, sich über die Tragfähigkeit und das Gewicht der einzelnen Indizien genauere Rechenschaft abzulegen und vielleicht auch einmal anhand von Berechnungsformeln das Ergebnis zu überprüfen. Andererseits besteht die Gefahr, daß bei wie häufig ungesicherter empirischer Grundlage für die Annahme sogenannter Anfangswahrscheinlichkeiten ein solches Verfahren zu überdies manipulierbarer Scheingewißheit führen kann.“514

Diese Auffassung findet sich vermehrt auch in der Literatur wieder.515 Auch dies ist aber keine Rechtfertigung für das vollkommene Ausblenden logischer Konzepte. Die Mathematik soll hier vor allem ein logisches Gerüst liefern, mit dessen Hilfe das Gericht die Auswirkung einzelner Gegebenheiten auf sein epistemisches Wahrscheinlichkeitsurteil erklären kann. Sie soll helfen, den logischen Denkvorgang zu verdeutlichen.516 Niemand verlangt vom Tatrichter, komplizierte Rechenaufgaben mit exakten Wahrscheinlichkeitsgraden zu bewältigen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung bleibt auch dann eine logische Stütze für eine intersubjektiv verständliche Beweiswürdigung, wenn Wahrscheinlichkeiten nicht quantifizierbar (also numerisch konkretisierbar auf einer Skala von 0 bis 1 bzw. von 0 bis 100) sind, sondern nur qualitativ517 oder komparativ518 umschrieben werden können. Neben Mummenhoff519 hat das auch Schweizer bereits festgestellt: „Das vorstehend Gesagte behält seine Gültigkeit, wenn man den Schritt zu einer numerischen Repräsentation der Überzeugungsgrade nicht machen will. Die numerische Repräsentation ermöglicht aber erst die Überprüfung, ob die Überzeugungsgrade eines Subjekts den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen, denn nur sie hat die nötige Präzision, die Inkohärenzen aufzudecken, die durch das gleichzeitige Halten bestimmter Überzeugungen entstehen.“520 514 

BGH, Urteil v. 28.03.1989 – VI ZR 232/88, NJW 1989, 3161, 3162. Cohen, in Tillers (Hrsg.), Probability and inference in the law of evidence, S.  113–128, 123; Frisch, in Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, S.  55–136, 84 ff.; Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, S.  68 ff.; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S.  196 Fn.  74; Gottwald, in Frankhauser et al. (Hrsg.), FS-Sutter-Somm, S.  125–136, 128 ff.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  36; Schwab, in Holzhammer (Hrsg.), FS-Fasching, S.  451–462, 454; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  178; vgl. auch Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S.  35 f. 516  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  104 ff., 130 f. 517 Umschreibung der Wahrscheinlichkeit mit Worten statt Zahlen, also zum Beispiel: „hohe Wahrscheinlichkeit“. 518  Umschreibung des Verhältnisses der Wahrscheinlichkeit mit einer anderen Wahrscheinlichkeit, zum Beispiel: „Wahrscheinlichkeit, die mehr ist als eine bloße Möglichkeit“ oder „Wahrscheinlichkeit, die größer ist, als die Wahrscheinlichkeit eines anderen Ereignisses“, vgl. Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S.  38. 519  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  93. 520  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  129. 515 

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Auch Grünebaum521 betont, dass es numerische Wahrscheinlichkeitsaussagen zwar nicht geben könne, dass man aber dennoch zur Verdeutlichung des Denkvorgangs Prozentangaben verwenden dürfe, weil die Wahrscheinlichkeitsaussage dadurch nicht zu etwas systematisch anderem werde. Man müsse sich aber stets der Unschärfe dieser Zahlen bewusst bleiben, um sie nicht mit objektiven Wahrscheinlichkeiten zu verwechseln. T. Walter522 spricht sich in diesem Sinne ebenfalls für die Verwendung von Zahlen aus, lässt dabei aber die Angabe eines Rahmens genügen, weshalb lediglich zwischen fünf Wahrscheinlichkeitsstufen zu unterscheiden sei, wobei die fünfte Stufe der Überzeugung im Sinne des §  261 StPO entspreche: 0 % oder nahe 0 %

Unmöglichkeit oder nur abstrakte Möglichkeit

deutlich über 0 % (aber unter 50 %)

Möglichkeit, die weniger wahrscheinlich ist als ihr Gegenteil

50 % oder nahe 50 %

Möglichkeit, die praktisch ebenso wahrscheinlich ist wie ihr Gegenteil

deutlich über 50 % (aber unter 100 %)

überwiegende Wahrscheinlichkeit

100 % oder nahe 100 %

an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit

Dieser Vorschlag kann unwidersprochen angenommen werden. Auf diese Weise ist es möglich, die epistemische Wahrscheinlichkeit unter diejenige zu subsumieren, die der Gesetzgeber verlangt, weil auch er keine weitergehende Differenzierung vornimmt. Gleichzeitig kann mithilfe dieser Stufen der logische Denkprozess nachvollzogen werden. Eine genauere Konkretisierung der epistemischen Wahrscheinlichkeit ist nicht zwingend notwendig. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und statt eines solchen Rahmens zur Vereinfachung der Ausdrucksweise den jeweiligen Mittelwert annehmen. Man müsste dann nur unterscheiden zwischen (1) nahe 0 Prozent, (2) nahe 25 Prozent, (3) nahe 50 Prozent, (4) nahe 75 Prozent und (5) nahe 100 Prozent. Für die logische Überprüfung des richterlichen Urteils würde dies vermutlich ausreichen. Da man dann allerdings wiederum Gefahr läuft, die eigentliche Unschärfe der Wahrscheinlichkeitsangabe zu verdecken, wird in der vorliegenden Arbeit von diesem Schritt abgesehen.

521  522 

Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, S.  204 Rn.  367. T. Walter, JZ 2006, 340, 342.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

2. Unsichere Erfahrungssätze a) Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit oder an der fachwissenschaftlichen Akzeptanz des Erfahrungssatzes Das Postulat, sämtliche Unsicherheitsfaktoren zu berücksichtigen, hat auch zur Folge, dass nicht nur Erfahrungssätze berücksichtigt werden dürfen, die aufgrund ihres statistischen Charakters unsicher sind (Unsicherheit des Erfahrungssatzes oder auch Beweiskraft, die der Erfahrungssatz hat, wenn er zutrifft523). Vielmehr können auch solche Erfahrungssätze berücksichtigt werden, bezüglich deren Vertrauenswürdigkeit (sprich: empirischer Bestätigung524) oder fachwissenschaftlicher Akzeptanz sich der Richter unsicher ist (Unsicherheit über den Erfahrungssatz oder auch Wahrscheinlichkeit, dass der Erfahrungssatz überhaupt zutrifft).525 Dem Vorschlag von Schweizer, einem Erfahrungssatz Geltung zuzuschreiben, den der Entscheidungsträger nicht unbedingt als 100-prozentig korrekt anerkennt, sondern beispielsweise lediglich zu 80 Prozent (= Sicherheit über den Erfahrungssatz in Höhe von 80 Prozent), ist deshalb zuzustimmen: „Wenn ich mir zu 80 % sicher bin, dass 90 % aller Autofahrer, die einem anderen Autofahrer hinten auffahren, schuldhaft gehandelt haben, dann kann ich mir (nur) zu 72 % sicher sein, dass ein Auffahrunfall auf ein Verschulden des Auffahrenden zurückzuführen ist.“526

Hier findet die Produktregel (oben S.  125) Anwendung: 0,8 × 0,9 = 0,72 Auch T. Walter ist diesen Weg bereits gegangen: 523 Wobei

selbstverständlich auch ein solcher Erfahrungssatz zu berücksichtigen ist, der eine besonders niedrige statistische Wahrscheinlichkeit angibt, Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  110 ff. 524  Wann ein statistischer Erfahrungssatz als korrekt angesehen werden kann, hängt stark von seinen Erhebungsdaten und deren Aussagekraft ab. Repräsentativ wird eine statistische Erhebung durch eine möglichst große Probandengruppe. Es kommt also vor allem auf die Größe des Untersuchungskollektivs an. Je mehr Individuen untersucht werden, umso aussagekräftiger ist das Ergebnis für die gesamte Zielgruppe. Im Gegensatz zum deterministischen Erfahrungssatz kann der statistische dabei nicht einfach dadurch falsifiziert werden, dass eine einzige Beobachtung gemacht wird, die der Hypothese widerspricht, vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  332 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  387, 393; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  10 ff.; zur Überprüfbarkeit von deterministischen Erfahrungssätzen Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S.  330 f. 525  Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, S.  82 f., 105 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  391 ff.; vgl. auch U. Stein, in Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, S.  233–266, 245. 526  Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  393.

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„Man kann sagen: ‚Ich halte es nur zu 50 % für möglich […], daß jener Umstand mit 80 % Wahrscheinlichkeit eintreten werde.‘ Doch dann läßt sich gleich und besser sagen: ‚daß jener Umstand eintreten werde, halte ich nur für 40 %ig möglich.‘ “527

0,5 × 0,8 = 0,4 Gegen die Berücksichtigung unsicherer Erfahrungssätze spricht auch nicht die Gefahr, dass solche Erfahrungssätze einer etwaigen Überprüfung vielleicht nicht standhalten, weil ihre Validität vom Tatrichter fehlerhaft eingeschätzt wurde. Denn die epistemische Wahrscheinlichkeit wird nur dann realitätsnah wiedergegeben, wenn das Gericht dieses Risiko eingeht. Dieses Risiko ist auch vertretbar, weil es die Möglichkeit gibt, die Validität des Erfahrungssatzes durch die Revisionsinstanz überprüfen zu lassen.528 b) Zweifel aufgrund bloßer Angabe eines Konfidenzintervalls Nach Meier ist die In-dubio-Regel bei statistischen Prognoseverfahren529 grundsätzlich auch auf die mathematische Schlussfolgerung anzuwenden, die aus den ermittelten Prognosefaktoren gezogen werden kann. Praktische Relevanz habe das allerdings nur bei der Angabe von Konfidenzintervallen, wie beispielsweise einer Rückfallwahrscheinlichkeit zwischen 56 und 60 Prozent. Die In-dubio-Regel zwinge in dieser Situation dazu, im Zweifel von der für den Täter günstigsten Variante (also von 56 Prozent) auszugehen.530 So sieht das auch Pollähne: „Aber bereits die jeweilige Wahrscheinlichkeit muss für den Richter zweifelsfrei feststehen, so dass er – je nach Fragestellung ‚pro reo‘ – von dem günstigeren möglichen Wahrscheinlichkeitsgrad auszugehen hat […].“531

Dem Beispiel von Meier ist zunächst entgegenzuhalten, dass es sich wohl bei einem Konfidenzintervall der dargestellten Größe (56 Prozent bis 60 Prozent) 527 

T. Walter, JZ 2006, 340, 342, Hervorhebungen auch im Original; vgl. auch ebd., S.  343 („Wahrscheinlichkeitsurteil über ein Wahrscheinlichkeitsurteil“); ähnlich auch Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung, S.  182 („Grad der Sicherheit, mit der das Bestehen eines Satzes bestimmten Inhalts anerkannt werden kann“); Risthaus, Erfahrungssätze im Kennzeichenrecht, S.  325 Rn.  781 („Bei der Anwendung eines Erfahrungssatzes […] ist neben der Zuverlässigkeit, also der Wahrscheinlichkeitsquote, auch die Genauigkeit der Quote zu berücksichtigen.“); a. A. aber Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S.  196 Fn.  74. 528 Vgl. Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S.  398 ff.; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, S.  69. 529  Dazu oben in Teil 3 Fn.  315. 530  Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S.  117. 531  Pollähne, in Barton (Hrsg.), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, S.  221– 258, 239.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

schon nicht um eine echte Zweifelssituation handelt. Denn wie oben auf S. 149 dargelegt müssen nur fünf Wahrscheinlichkeitsstufen voneinander abgegrenzt werden. Mitnichten ist stets eine exakte Wahrscheinlichkeitsangabe erforderlich, um eine klare Entscheidung treffen zu können. Ein Intervall zwischen 56 Prozent und 60 Prozent kann der Wahrscheinlichkeitsstufe der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“, deren Mittelwert bei etwa 75 Prozent liegt, zugeordnet werden. Schließlich müssen hier die gleichen Grundsätze gelten, wie sie es auch für andere Unsicherheiten tun: Sind alle Prozentangaben zwischen 56 und 60 Prozent gleich wahrscheinlich, so entspricht dies nach hier vertretener Auffassung dem Problem, das sich auch bei der Anwendung einer Schätzklausel stellt, wenn mehrere Werte eines Schätzrahmens gleich wahrscheinlich sind (siehe dazu Teil 3 Kapitel A IV 2). 3. Widersprüchliche Prognosegutachten Die Aufgabe eines Sachverständigen, der das Gericht bei seinem Prognoseurteil unterstützt, wurde oben bereits dargelegt (Abschnitt C II 2 d aa). Danach erweitert das Gutachten des Sachverständigen die Tatsachengrundlage des richterlichen Wahrscheinlichkeitsurteils, es stellt also eine weitere Prämisse im induktiven Argumentationsschritt dar. Hat das Gericht beispielsweise die Aussage eines Sachverständigen gehört, nach dessen fachkundiger Ansicht die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte künftig erneut straffällig wird, bei 50 Prozent liegt, so sähe der logische Weg zum epistemischen Wahrscheinlichkeitsurteil des Gerichts so aus: Wenn der befragte Sachverständige ein Ereignis voraussagt, so wird dieses Ereignis mit der vorausgesagten Wahrscheinlichkeit eintreten. Das Prognosegutachen des befragten Sachverständigen ergibt eine Rückfallwahrscheinlickeit von 50 %. T wird rückfällig.

Mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit wahr!

Ein solcher Schluss ist dann notwendig, wenn das Gericht nicht die eigene Sachkunde und die notwendigen Erfahrungen besitzt, um selbst zu prognostizieren.532 Denn andernfalls hat das Gericht sein eigenes epistemisches Wahrscheinlichkeitsurteil aufgrund des sonstigen Beweisergebnisses zu fällen (§  261 StPO). Möglich ist der dargestellte Schluss, wenn das Gericht die Prognose des Sach532 Vgl.

K. Peters, Strafprozeß, S.  365.

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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verständigen zumindest detailliert nachvollzogen hat. Die Prämissen für dessen Wahrscheinlichkeitsurteil dürfen dem Tatrichter also nicht unklar, fragwürdig oder unzutreffend erscheinen.533 Zu beachten ist weiter, dass der dargestellte Schluss nicht logisch zwingend ist. Es handelt sich also auch hier nicht um ein deduktives, sondern um ein induktives Argument, weil es keinen gesicherten Erfahrungssatz dahingehend gibt, dass ein bestimmter Sachverständiger immer richtig liegt. Nun kommt es vor, dass das Gericht nicht nur einen Sachverständigen befragt, sondern zwei. Das kann im Hinblick auf die Aufklärungspflicht des Gerichts (§  244 Abs.  2 StPO) insbesondere dann sinnvoll oder gar notwendig sein, wenn besondere Sachkunde erforderlich ist, um eine Prognose zu erstellen und das Gericht diese Kenntnis nicht hat. Auch dann, wenn die Beurteilung mit einem hohen Fehlerrisiko behaftet ist (wie es bei der Kriminalprognose häufig der Fall ist) oder wenn die zur Beurteilung führenden Methoden wissenschaftlich kontrovers diskutiert werden, ist die Einholung eines zweiten Gutachtens der richtige Weg.534 Zwei Sachverständige kommen dann nicht immer zum gleichen Ergebnis, die jeweils vorausgesagten Rückfallwahrscheinlichkeiten (Kriminalprognose) können sich also durchaus widersprechen. Denn der Sachverständige ist grundsätzlich frei darin, Informationen zu erheben und deren Relevanz zu bewerten, solange er sich an bestimmte methodische Vorgaben hält, die dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechen.535 Die „kritische Diskussion der Experten“536 endet beispielsweise im folgenden Fall kontrovers: Um die Rückfallgefahr des Täters als Voraussetzung für die Unterbringung in einem Krankenhaus nach §  63 StGB einschätzen zu können, hat der Richter zwei Sachverständige befragt und unterschiedliche Aussagen erhalten. Gutachter 1 hält weitere Straftaten des Täters für lediglich genauso möglich wie die künftige Straffreiheit. Die Chancen stehen danach also bei 50 Prozent. Gutachter 2 kommt hingegen zu einem Rückfallrisiko von 70 Prozent, also zu einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Beide Gutachter haben ihr Ergebnis aufgrund gleicher Befunde ermittelt und beide Gutachten sind gleich plausibel. Es wurden also unterschiedliche, aber jeweils valide und nachvollziehbare Erfahrungssätze angewendet. Argumentative Vorteile für die eine oder andere Seite sind nicht ersichtlich – obwohl das Gericht alle Aufklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft, also insbesondere beide Sachverständige zum Inhalt auch des jeweils anderen Gutachtens angehört hat. 533 Vgl.

Krehl in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  244 Rn.  57. Krehl in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  244 Rn.  58. 535  Boetticher et al., NStZ 2019, 553, 557; Boetticher et al., NStZ 2006, 537, 544. 536  Krehl in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  244 Rn.  58. 534 

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Die herrschende Meinung entscheidet auch in diesem Fall zugunsten des Angeklagten. So heißt es beim BGH: „Grundsätzlich ist es nicht zu beanstanden, wenn der Richter, dem zwei widersprüchliche Gutachten vorliegen und der hinsichtlich der zu beurteilenden Fragen nicht selbst über Sachkunde verfügt, der dem Angeklagten günstigeren Meinung folgt. Vorrangig muß der Richter sich aber bemühen, die Widersprüche aufzuklären […].“537

Das bedeutet: Zunächst muss das Gericht dem Gebot bestmöglicher Sachverhaltserforschung nachkommen und überprüfen, warum sich die Gutachter widersprechen (§  244 Abs.  2 StPO). Wenn sie von der gleichen Tatsachengrundlage ausgehen, jeweils kompetent sind (weder der eine noch der andere also mehr Erfahrung oder das größere Sachwissen hat) und fachwissenschaftlich akzeptierte Methoden verwenden oder entsprechende Meinungen vertreten, dann liegt der Grund für die Abweichung in verschiedenen wissenschaftlichen Grundüberzeugungen oder Schulmeinungen. In diesem Fall soll das Gericht nach der Rechtsprechung des BGH gemäß in dubio pro reo nur das für den Angeklagten günstigere Gutachten seinem Wahrscheinlichkeitsurteil zugrunde legen. In dem oben gebildeten Beispielsfall wäre dies das Ergebnis von Gutachter 1, also die 50-prozentige Wahrscheinlichkeit. Diese reicht nach der Rechtsprechung nicht, um die Maßregel anzuordnen (siehe oben Kapitel B IV 2). Diese Entscheidung nach Beweislastregeln ist nach bisher Gesagtem abzulehnen. Auch hier ist darin ein Verstoß gegen die logischen Denkgesetze zu sehen. Für den Gutachter kann nichts anderes gelten als für andere Prämissen, denn auch er stellt mit seiner Aussage lediglich eine Prämisse im induktiven Schluss des Richters dar. Richtig ist zwar zunächst, dass der fachliche oder methodische Meinungsstreit der Gutachter offenzulassen ist, dass das Gericht sich also keine eigene fachwissenschaftliche Meinung bilden und danach entscheiden darf. Denn der Richter hat die beiden Sachverständigen ja gerade deshalb eingeschaltet, weil ihm das notwendige Fachwissen fehlt, um selbst eine Sachentscheidung zu treffen. Ein Urteil über den Wert der einzelnen Gutachten bleibt ihm damit verwehrt.538 Richtig ist auch, dass die Auflösung der wissenschaftlichen Meinungsverschiedenheit 537  BGH, Beschluss v. 31.07.1996 – 1 StR 247/96, NStZ-RR 1997, 42, 43; so für den Zivilprozess auch BGH, Urteil v. 23.09.1986 – VI ZR 261/85, NJW 1987, 442 („[…] dann hat der Tatrichter […] zu prüfen, ob […] er […] keiner der vertretenen Ansichten den Vorzug zu geben vermag mit der Folge, daß die Sachverständigenfrage zuungunsten der beweisbelasteten Partei zu entscheiden ist.“); so für den Strafprozess auch Deckers in Müller et al. (Hrsg.), MAH Strafverteidigung, 2.  Aufl. 2014, §  81 Rn.  16; Krehl in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  244 Rn.  58; K. Peters, Strafprozeß, S.  364 f. 538  So auch K. Peters, Strafprozeß, S.  365: „Auf keinen Fall kann der Richter als Nichtsachgebildeter eine Sachentscheidung über den Wert des Gutachtens treffen. Nur dann, wenn der

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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nicht durch ein drittes „Ober-Gutachten“539 geschehen kann. Ein zusätzlicher Sachverständiger würde das Dilemma nicht beseitigen. Er kann nur dann helfen, wenn er etwas zur Sachaufklärung beitragen kann.540 Das wäre nur dann der Fall, wenn er beurteilen könnte, inwieweit die von den Gutachtern angewendeten Methoden fachwissenschaftlich akzeptiert sind oder inwieweit die Gutachter gleich kompetent sind und sich auf die richtige Tatsachengrundlage gestützt haben. Bei der Beweiswürdigung müssen aber, um logische Fehler zu vermeiden, beide Gutachten berücksichtigt werden, und zwar wiederum entsprechend ihrem Beweiswert.541 Dieser ist um einen Faktor von 0,5 vermindert, wenn die von den Sachverständigen verwendeten Methoden oder die von ihnen vertretenen Schulmeinung in genau gleichem Maße in der Fachwissenschaft angesehen sind. Für obiges Beispiel ergibt sich dann folgende Rechnung, an deren Ende eine Gesamt-Rückfallwahrscheinlichkeit von 60 Prozent steht: 0,5 × 0,5 + 0,5 × 0,7 = 0,25 + 0,35 = 0,6 Das Prognosegutachen von Gutachter 1 ergibt eine Rückfallwahrscheinlickeit von 50 %. Die von ihm verwendete Prognosemethode ist vertretbar, aber es gibt noch eine weitere akzeptierte Methode, nämlich die von Gutachter 2. Das Prognosegutachen von Gutachter 2 ergibt eine Rückfallwahrscheinlickeit von 70 %. Die von ihm verwendete Prognosemethode ist vertretbar, aber es gibt noch eine weitere akzeptierte Methode, nämlich die von Gutachter 1. T wird rückfällig.

Mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit wahr!

Richter in dem umstrittenen Fragenkreis eigene Kenntnisse und Erfahrungen besitzt, kann er sich für oder gegen einen der Gutachter entscheiden.“ 539  Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  313. 540  Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 21.10.2020 – 2 BvR 2473/17, BeckRS 2020, 28690; BGH, Urteil v. 21.11.1969 – 3 StR 249/68, NJW 1970, 523; Deckers in Müller et al. (Hrsg.), MAH Strafverteidigung, 2.  Aufl. 2014, §  81 Rn.  16; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn.  1610; Krehl in KK-StPO, 9.  Aufl. 2023, §  244 Rn.  68; Miebach in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  261 Rn.  313; Trüg/Habetha in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  246a Rn.  28. 541  Vgl. auch Trüg/Habetha in MüKo-StPO Bd.  2, 2016, §  246a Rn.  28: „Hat das Gericht mehrere Sachverständige beauftragt, die zu abweichenden Ergebnissen gelangen, gelten die allgemeinen Grundsätze, wonach das Gericht in den schriftlichen Urteilsgründen, neben der Wiedergabe der Ausführungen der Sachverständigen, die Gründe seiner Entscheidung sorgfältig darzulegen hat.“; vgl. auch Schmidt-Recla in Laufs/Kern/Rehborn, ArztR-HdB, 5.  Aufl.

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Dritter Teil:  Thesen und ihre Begründung im Einzelnen

Entlang einem Pfad wird multipliziert (oben S.  125). Die Multiplikationsregel führt deshalb dazu, dass das eine Gutachten die Aussage über den Rückfall des Täters zu etwa 25 Prozent bestätigt und das andere Gutachten zu etwa 35 Prozent. Gemeinsam bestätigen sie die Aussage unter Anwendung der Additionsregel zu 60 Prozent. Die Einzelwahrscheinlichkeiten sind miteinander zu addieren (siehe oben S.  126), weil die beiden Gutachten unterschiedliche „Pfade“ im Baumdiagramm darstellen, die zum gleichen Ergebnis („künftig erneut straffällig“) führen: künftig erneut straffällig Gutachten 1 künftig straffrei

künftig erneut straffällig Gutachten 2 künftig straffrei

Die Beweiskraft der beiden Gutachten darf auf 0,5 festgesetzt werden, wenn diese gleich akzeptabel und anerkannt sind, wenn es also keinen Grund dafür gibt, das eine Gutachten dem anderen vorzuziehen. Insgesamt muss die Beweiskraft unter Beachtung des ersten Theorems T1 (oben C V 1 b) stets 1 ergeben (bzw. 100 Prozent). Denn der Wissenschaftler kann für sein Prognosegutachten die Methoden nicht durcheinanderwürfeln, sondern entweder die Methode des ersten Gutachters oder die Methode des zweiten Gutachters verwenden. Gibt es in der Wissenschaft daneben noch eine weitere vertretbare Methode, auf deren Grundlage dem Gericht allerdings kein Gutachten für den Einzelfall vorliegt, so darf diese Methode für die Bestimmung der Beweiskraft ausgeblendet werden. Denn dem Gericht steht diesbezüglich keine Information zur Verfügung, die es im induktiven Schluss berücksichtigen könnte. 2019, §  119 Rn.  9 Fn.  31: Das Gericht könne nicht nur von sachverständigen Gutachten abweichen, wenn es von ihrer Richtigkeit nicht überzeugt sei, sondern müsse dies sogar.

C. Kein in dubio pro reo bei unsicheren Prämissen

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Wenn das eine Gutachten nun die herrschende Meinung widerspiegelt und das andere eine zwar nicht so häufig vertretene, aber dennoch durchaus annehmbare Meinung oder Methode in der Kriminologie, dann kann auch dies gewichtet werden. Noch einmal sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass nicht zwangsläufig mit exakten Zahlen gearbeitet werden muss. Es müsste aber insgesamt die herrschende Meinung höher gewichtet werden, zum Beispiel mit 0,75. Vertritt Gutachter 1 aus unserem Beispiel diese herrschende Meinung, so bekäme man insgesamt ein 55-prozentiges Rückfallrisiko: 0,75 × 0,5 + 0,25 × 0,7 = 0,55 künftig erneut straffällig Gutachten 1 künftig straffrei

künftig erneut straffällig Gutachten 2 künftig straffrei

Ob dieses Rückfallrisiko ausreicht, um die Maßregel anzuordnen, ist wiederum eine normative Frage, die das Gericht selbst zu beantworten hat.

Vierter Teil

Schlussbetrachtung Die Untersuchung hat ergeben, dass die In-dubio-Regel im Rahmen einer richterlichen Prognoseentscheidung keinen Anwendungsbereich hat. Der Umstand, dass der Blick in die Zukunft denklogisch mit Zweifeln behaftet ist, führt nicht zwingend zu einer für den Angeklagten günstigen Prognose. Auch darf die Frage nach dem vom Gesetzgeber verlangten Wahrscheinlichkeitsgrad künftiger Straftaten nicht mit in dubio pro reo beantwortet werden. Denn die Entscheidung, ob die richterliche Prognose im Einzelfall zur Normanwendung führt, kann dem Gericht nicht durch eine Entscheidungsregel abgenommen werden. Schließlich dürfen auch bei der Bildung des Wahrscheinlichkeitsurteils (der eigentlichen Prognose) einzelne Prämissen des induktiven Schlusses nicht (wenn tätergünstig) als wahr unterstellt oder (wenn täterungünstig) ausgeblendet werden, wenn sie tatsächlich unsicher sind. Vielmehr sind sie mitsamt ihrer Unsicherheit bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Dieses Ergebnis wurde gefunden, indem die Struktur der Prognoseentscheidung mit ihren beiden Komponenten (rechtliche und außerrechtliche Entscheidungskomponente) genauer analysiert und mit dem Anwendungsbereich und der Rechtsnatur der In-dubio-Regel verglichen wurde. Dabei haben die Methoden der Gesetzesauslegung und Interessenabwägung durch den Rechtsanwender eine wichtige Rolle gespielt, aber vor allem auch die Notwendigkeit zur Berücksichtigung logischer Denkgesetze durch das Gericht im Rahmen der ansonsten freien Beweiswürdigung. In diesem Zusammenhang war es auch erforderlich, sich damit auseinanderzusetzen, was „Wahrscheinlichkeit“ im juristischen Sprachgebrauch bedeutet und inwiefern sich induktive Logik und mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie auf das Urteil des Gerichts auswirken. Für die richterliche Schätzung muss das gefundene Ergebnis ebenso gelten. Hier gibt es aber ausnahmsweise dann einen denkbaren Anwendungsbereich für die In-dubio-Regel, wenn das Gericht nicht zu einer Punktwertschätzung kommt, sondern nur einen Schätzrahmen angeben kann, wenn also mehrere Schätzwerte nach Auffassung des Gerichts gleich wahrscheinlich sind. Das ist zum einen notwendig, um eine willkürliche Entscheidung zu verhindern. Zum anderen ist es aber auch zulässig, da weder dogmatische noch logische Bedenken gegen eine Anwendung von in dubio pro reo in diesem Zusammenhang sprechen.

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Vierter Teil:  Schlussbetrachtung

Die vorliegende Arbeit zeigt, dass die herrschende Meinung oftmals missglückte Formulierungen gebraucht, die zu falschen Schlüssen führen. So kann das Gericht von einer Wahrscheinlichkeit im juristischen Sinn niemals überzeugt sein, weil Überzeugung und (subjektive) Wahrscheinlichkeit nichts qualitativ Unterschiedliches sind, sondern lediglich verschiedene Grade auf der gleichen Skala der Überzeugungsbildung. Auch eine Mindestüberzeugung von gewissen Umständen kann es nicht geben, wenn das Urteil durch Schätzung zustande kommt, weil Überzeugung und Wahrscheinlichkeitsurteil (Schätzung) sich gegenseitig ausschließen. Außerdem ist in dubio pro reo richtigerweise kein abwägbares Prinzip, sondern eine abwägungsfeste Regel. Eine Interessenabwägung, deren Ausgang in den Urteilsgründen geradezu floskelartig mit in dubio pro reo umschrieben wird, erweckt den Anschein, das Gericht habe gemeint, an ein bestimmtes Ergebnis gebunden zu sein, und habe deshalb den Ausgleich der betroffenen Rechtsgüter nicht in der gebotenen Weise durchgeführt. Schließlich meint die Prognose richtigerweise das Tatsachenurteil über künftige Sachverhalte, nicht die rechtliche Bewertung dieses Urteils. Es gelten für sie daher (bis auf den Grad der erforderlichen Überzeugung von der Haupttatsache) die gleichen prozessualen Maßgaben wie für den Indizienbeweis. Insgesamt geht es um viel mehr als nur um sprachliche Feinheiten. Die herrschende Meinung verstößt zugunsten des Angeklagten gegen geltendes Strafprozessrecht und gegen die logischen Denkgesetze der Beweiswürdigung, indem sie gemäß in dubio pro reo eine ungewisse Tatsachengrundlage in einen sicheren Sachverhalt verwandelt oder sich nur auf eines von mehreren verfügbaren sich widersprechenden Gutachten über die Rückfallgefahr des Probanden stützt. Sie verkennt dabei die Grundsätze der Beweiswürdigung des heute geltenden Rechts, die frei ist von Beweiswürdigungsregeln, in deren Rahmen das Gericht sich aber an die Denkgesetze der Logik halten muss. Die herrschende Meinung wird der Rechtsnatur von in dubio pro reo als Entscheidungs- und Beweislastregel nicht gerecht. Ihre Urteilsbegründungen sind dogmatisch bedenklich und logisch unhaltbar.

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Stichwortverzeichnis Abwägung – Abwägung 49, 74, 76 – Abwägungsentscheidung 12, 74 – Abwägungsfrage 75 – Interessenabwägung 16, 49, 62, 73, 75 Additionsregel  126, 156 Amtsermittlungsgrundsatz  102, 104 Anscheinsbeweis  89 Argumentationslast  66 Argumentationslastregel  66, 75, 76 Argumentationsmaxime  75 Aufklärungspflicht  25, 27 Ausgangsvermutung  66 Auslegung  12, 16, 49, 50, 51, 54, 55, 56, 58, 60, 76 Auslegungsmaxime  75 Axiom  117, 118, 119, 130, 133 Begründungslast  66 Begründungspatt  64 Bewährung  1, 7, 50, 61, 92, 142, 143 Beweiskette  105, 134 Beweislast  18, 68, 70, 71 Beweislastregel  69, 70 Beweispatt  76 Beweisring  105, 134 Beweiswürdigungsregel  78 Deduktion  107 Deduktiv  109, 111 Denkgesetze  107, 116, 117, 133, 147, 154 Deterministisch  106, 109 Diagnose  42 Einziehung  9 Entscheidung – Entscheidungsfindung  15, 47, 78 – Entscheidungshilfe 10, 46 – Entscheidungspatt 22, 27, 43

– Entscheidungsregel 18, 78, 94, 103, 142 – Entscheidungsstruktur 18 – Prognoseentscheidung 15, 17 – Verdachtsentscheidung 15 Epistemisch  11, 16, 22, 29, 34, 36, 48, 50, 74, 81, 91, 105, 106, 113, 116, 117, 134, 138, 148, 149 Erfahrung – Erfahrung 57, 81 – Erfahrungssatz 79, 81, 83, 88, 115, 116, 122, 135, 150 Erklärung  81 Erwartung  2, 6, 12, 30, 60, 61, 85, 87, 90 Freiheit – Freiheit 63, 72 – Freiheitsanspruch 64, 74 – Freiheitsbeschränkung 66 – Freiheitsgrundrecht 62, 64, 67, 73 – Freiheitsinteresse 48, 66 – Freiheitsrecht 64, 65, 72 – Freiheitsvermutung 64, 65, 67, 72 Gefahr – Anscheinsgefahr 39, 40 – Gefahr 2, 5, 6, 7, 12, 30, 39, 40, 42, 62, 72, 73, 74, 85, 88 – Gefahrenabwehr 72, 73 – Gefahrenprognose 7, 76, 91 – Gefahrenverdacht 40 – Gefährlichkeit 77, 78 – Gefährlichkeitsprognose 6, 7 – Objektive  39 – Rückfallgefahr 153 – Subjektive  39 Geldstrafe  1, 8, 9, 10 Glaubhaftmachung  2, 8 Grundsatz  63 Gutachten  42, 91, 92, 152

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Stichwortverzeichnis

Gutachter  12, 153 Häufigkeit, relative  32, 134, 140 Indeterministisch  116 Indiz – Indiz 104 – Indizienbeweis 17, 82, 89, 90, 95, 103, 105, 121, 134, 142, 146, 147 – Indiztatsache 103 In dubio contra reum  50 In dubio mitius  56 In dubio pro libertate  12, 49, 65, 66, 68, 76 In dubio pro ratione legis  12, 49, 50 In dubio pro reo  18 Induktion  107 Induktiv  12, 13, 17, 78, 79, 106, 107, 109, 112, 115, 139, 152, 154 Interessenabwägung  16, 49, 62, 73, 75 Iura novit curia  11, 53, 56 Konfidenzintervall  151 Likelihood  122, 134, 140 Logik – Induktive 17, 78, 79, 106, 116 – Mathematische 107 Maßregel  7, 62, 72, 73, 76, 92 Mathematik  108, 118, 123, 130, 133, 148 Menschenwürde  67, 68, 72 Mittelfeld  58, 59 Mittelwert  149 Multiplikationsregel  125, 133, 156 Non liquet  23, 46, 71 Pfadadditionsregel  126 Pfadmultiplikationsregel  125 Prädikatenlogik  108 Prämisse  55, 57, 78, 79, 81, 94, 107, 141 Prinzip  62, 63, 66, 73 Prinzipientheorie  62 Produktregel  146, 150 Prognose – Falsche 7 – Gefahrenprognose 7, 76, 91 – Gefährlichkeitsprognose 6, 7

– Günstige 7 – Kriminalprognose 6, 12, 42, 43, 91, 153 – Legalprognose 6 – Negative 7, 62 – Positive 7 – Prognose 2, 4, 5, 6, 15, 42, 43, 81, 85, 88, 90, 121, 141, 143 – Prognoseentscheidung 15, 17 – Prognosegrundlage 104 – Prognosegutachten 91, 92 – Prognosemethode 92, 93, 112 – Prognosenorm 4, 47, 58, 62 – Prognoseurteil 76, 91 – Richtige 7 – Rückfallprognose 6 – Sachverständigenprognose  12 – Sozialprognose  6 – Ungünstige 7, 48, 50 – Wiederholungsprognose 6 Propensity-Theorie  33 Rechtsfrage  51, 54 Rechtsstaatsprinzip  18, 67, 68, 69, 70, 72, 73 Referenzklasse  135, 136, 140 Regel – Argumentationslastregel 66, 75, 76 – Bayes-Regel  123, 127, 133, 147 – Beweislastregel 18, 69, 70, 94, 103 – Beweisregel 96, 102, 103 – Beweiswürdigungsregel 18, 78, 94, 142 – Entscheidungsregel 18, 78, 94, 103, 142 – Logische 107 – Regel 62, 66, 69, 70, 73 Rückfallrisiko  42, 153 Sachverständigengutachten  79 Sachverständigenprognose  12 Sachverständiger  42, 53, 91, 92, 93, 152, 153 Schätzung – Prozessökonomische 10 – Punktwertschätzung 45 – Schätzbefugnis  9 – Schätzgrundlage  13, 104, 147 – Schätzklausel  4, 8, 9, 18, 43, 152 – Schätzmethode  9 – Schätzrahmen  22, 43, 45, 46

Stichwortverzeichnis – Schätzung  1, 2, 10, 15, 18, 22, 43, 45, 141, 147 Schuld – Schuldfeststellung  9 – Schuldprinzip  69, 72 Semantik  57 Semantisch  56 Sicherheitsinteresse  48, 74 Sicherungsbedürfnis  73, 74 Sicherungsverwahrung  72 Statistisch  115, 122, 134, 135, 136, 150, 151 Steuerstrafverfahren  9 Strafzumessung  8 Subsumtion  55, 57 Subsumtionsstoff  51, 54, 89 Subsumtionstatsachen  89 Syllogismus  12, 16, 51, 54, 57, 107 Tatsache – Tatsache 51, 52, 53, 54, 86 – Tatsachenaussage 52, 79, 81, 85 – Tatsachenfeststellungen 51 – Tatsachenfrage 51 – Tatsachengrundlage 12, 79, 81, 91, 105, 141 – Tatsachenurteil 52, 88, 89 – Tatsachenwelt 57 Theorem  120, 130, 133 Überzeugung – Freie 96 – Überzeugung 16, 22, 23, 35, 37, 149 – Überzeugungsbildung 107 – Überzeugungsgrad 11, 22, 35 – Überzeugungspflicht  21, 22 – Volle 11, 16, 27, 30, 36 Umschlagspunkt  48, 49, 50, 62, 73 Unterbringung  72, 76, 153 Untersuchungsgrundsatz  25, 71 Verdacht – Anfangsverdacht 2, 8 – Fluchtverdacht 4 – Gefahrenverdacht 40 – Tatverdacht 2, 5, 40 – Verdacht 2, 4

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– Verdachtsentscheidung 4, 8, 15 – Verdachtsnorm 4 – Verdunkelungsverdacht 4 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz  65, 73 Verhältnismäßigkeitsprinzip  60 Verhandlungsgrundsatz  25, 71 Vermutung  64 Vorhersage  81, 90 Wahrnehmung  57, 83 Wahrscheinlichkeit – A-posteriori- 123 – Epistemische 11, 16, 22, 29, 34, 36, 48, 50, 74, 81, 105, 106, 113, 116, 117, 134, 148, 149, 151, 152 – Gleiche 10, 12 – Induktive 113, 116 – Klassische 30 – Logische 34 – Mathematische 108 – Objektive  29, 33, 37, 78 – Ontische  29 – Rückfallwahrscheinlichkeit 153 – Statistische  32, 33, 92, 122, 134 – Subjektive  29, 35, 37, 130 – Totale 125, 133 – Verurteilungswahrscheinlichkeit 2, 5 – Wahrscheinlichkeit 16, 27, 28, 30, 38 – Wahrscheinlichkeitsbegriff  28, 29 – Wahrscheinlichkeitsberechnung 133 – Wahrscheinlichkeitsgrad 11, 15, 16, 36, 37, 48, 49, 50, 73, 74, 88, 118 – Wahrscheinlichkeitsmathematik 121, 133 – Wahrscheinlichkeitsrechnung 79, 118, 130, 148 – Wahrscheinlichkeitsskala 16, 30, 75, 118, 148 – Wahrscheinlichkeitsstufe 16, 50, 149, 152 – Wahrscheinlichkeitstheorie 17, 79, 117, 130, 147 – Wahrscheinlichkeitsurteil 1, 2, 17 Werturteil  52, 85, 88 Wette  131 Zweifel  19, 21, 23, 24