Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden [4., überarbeitete Auflage] 9783110781076, 9783110782462, 9783110782615

On one of the most urgent tasks of politics, often neglected by philosophy, Kant's writing On Perpetual Peace (1795

134 113 2MB

German Pages 226 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Zitierweise und Siglen
Vorwort zur letzten Auflage
1 Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal
2 Zur Geschichte des Friedensbegriffs vor Kant Ein Überblick
3 Die negativen Bedingungen des Friedens
4 Das Problem der Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants
5 „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“
6 Völkerbund oder Weltrepublik?
7 Vom Weltbürgerrecht
8 Von der Garantie des ewigen Friedens
9 Der Thronverzicht der Philosophie. Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant
10 Moral und Politik: Mißhelligkeit und Einhelligkeit
11 Die Stimme der Völker
12 Ausblick: Die Vereinten Nationen im Lichte Kants
Auswahlbibliographie
Personenregister
Sachregister
Zu den Autoren
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Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden [4., überarbeitete Auflage]
 9783110781076, 9783110782462, 9783110782615

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Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden

Klassiker Auslegen

Herausgegeben von Otfried Höffe

Band 1

Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden

4. Auflage

Herausgegeben von Otfried Höffe

ISBN 978-3-11-078107-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078246-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078261-5 ISSN 2192-4554 Library of Congress Control Number: 2023940060 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Getty Images/ullstein bild Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Zitierweise und Siglen

VII

Vorwort zur letzten Auflage

IX

Otfried Höffe 1 Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal

1

Jean-Christophe Merle 2 Zur Geschichte des Friedensbegriffs vor Kant Ein Überblick 21 Hans Saner 3 Die negativen Bedingungen des Friedens

31

Reinhard Brandt 4 Das Problem der Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants

49

Wolfgang Kersting 5 „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“ 63 Otfried Höffe 6 Völkerbund oder Weltrepublik? Reinhard Brandt 7 Vom Weltbürgerrecht

79

97

Pierre Laberge 8 Von der Garantie des ewigen Friedens

109

Volker Gerhardt 9 Der Thronverzicht der Philosophie Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant Monique Castillo 10 Moral und Politik: Mißhelligkeit und Einhelligkeit

141

125

VI

Inhalt

Michael W. Doyle 11 Die Stimme der Völker

161

Otfried Höffe 12 Ausblick: Die Vereinten Nationen im Lichte Kants 199

Auswahlbibliographie 209

Personenregister Sachregister Zu den Autoren

213 215

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Zitierweise und Siglen Kant wird nach der Akademieausgabe zitiert, z. B. VIII 22,8 = Bd. VIII, S. 22, Z. 8. Auf die Friedensschrift (VIII 341–386) wird ohne den Band-Zusatz verwiesen. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (= A) oder der zweiten Auflage (= B) angegeben, z.B. A 413 = 1. Aufl., S. 413. Auf sonstige Literatur wird mit Verfassername und Erscheinungsjahr Bezug genommen. Anfang Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (VIII 107–123) Fak. Der Streit der Fakultäten (VII 1–116) Gemeinspruch Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (VIII 273–313) GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385–463) Idee Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 15–31) KpV Kritik der praktischen Vernunft (V 1–163) KrV Kritik der reinen Vernunft (A: IV 1–252, B: III 1–552) KU Kritik der Urteilskraft (V 165–485) MS Die Metaphysik der Sitten (VI 203–493) Refl. Reflexionen (XIV ff.) Rel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 1–202) RL Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (= 1. Teil der MS: VI 203–372) TL Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (= 2. Teil der MS: VI 373–493) Verkündigung Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (VIII 411–422) Die klassischen Texte der Friedensdiskussion bis 1800 werden in der Regel nicht in den Literaturverzeichnissen der Einzelbeiträge aufgeführt; sie finden sich gesammelt in der Auswahlbibliographie am Ende des Bandes.

https://doi.org/10.1515/9783110782462-001

Vorwort zur letzten Auflage Die Situation ist erstaunlich: Daß die Menschen des Krieges überdrüssig werden und endlich Frieden stiften – denn naturhaft vorgegeben ist er in den uns bekannten Gesellschaften nicht –, daß sie, wie der Prophet sagt (Jesaja 2,4), ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Lanzen zu Winzermessern umschmieden, um endlich einen sowohl umfassenden als auch dauerhaften Frieden einzurichten: dieser Wunsch gehört zu den ältesten Wunschträumen der Menschheit. Trotzdem ist der Friede nie wirklich zu einem Grundbegriff der Philosophie geworden. Die abendländische Geschichte kennt zwar eine reiche Friedensliteratur, und unter ihren Verfassern finden wir durchaus namhafte Philosophen. Von den klassischen Texten der Philosophie trägt aber keiner den Ausdruck „Friede“ im Titel oder ist diesem Thema vorrangig gewidmet. Auch für dieses Defizit dürfte das Hegel-Wort zutreffen, die Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken gefaßt. Daß im Unterschied etwa zu Recht, Staat und Gerechtigkeit, zu Freiheit, Fortschritt, Geschichte und Moral, auch zu Glück, Herrschaft und Macht der Friede nie den Rang eines philosophischen Grundbegriffs gewonnen hat, dieser Umstand legt eine traurige Vermutung nahe: Die Menschheit träumt zwar gern vom Frieden, zumal in Kriegszeiten. Mit dem Frieden ist es ihr aber nie so ernst gewesen, daß sie ihre intellektuellen Kräfte darauf konzentriert und daß sie, wenn schon nicht zu einer dauerhaften Friedensordnung, dann zumindest zu einem großen philosophischen Text gefunden hätte. Allzu häufig, so auch bei Hegel, macht sich sogar das Lob des Krieges breit. Die große Ausnahme bildet Kant mit seiner Abhandlung Zum ewigen Frieden. Zu einer der vordringlichsten, von Philosophen aber vernachlässigten Aufgaben der Politik stellt sie bis heute den wichtigsten klassischen Text dar. Schon aus diesem Grund ist Kant zu den großen Denkern des Politischen zu zählen und verdient gerade dieser Text eine gründliche Lektüre. Dazu kommt, daß der Friedensbegriff in einen engen Zusammenhang mit den genannten Grundbegriffen gestellt wird; nach Kant gehört der Friedensbegriff zu diesem Begriffsfeld untrennbar hinzu. Weder kann eine problembewußte Theorie von Staat und Gerechtigkeit, von Freiheit, Fortschritt usw. auf den Friedensbegriff verzichten noch umgekehrt eine problembewußte Friedenstheorie auf diese anderen Begriffe. Noch eine weitere Überlegung weist auf das besondere Gewicht dieses Textes und den politischen Rang seines Autors hin: Seit einiger Zeit finden sowohl in der Philosophie als auch den zuständigen Nachbardisziplinen Theorien der Gerechtigkeit große Aufmerksamkeit. Bei aller Achtung vor ihrem argumentativen Niveau erinnern diese Theorien aber doch an eine verspätete Eule der Minerva. Denn ihr Thema, die innerstaatliche Gestalt der Gerechtigkeit, hat sich als Prinzip längst https://doi.org/10.1515/9783110782462-002

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Vorwort zur letzten Auflage

durchgesetzt. Es ist der demokratische Verfassungsstaat, der zusammen mit den ihm innewohnenden Reformmöglichkeiten für die entsprechende politische Gerechtigkeit Sorge trägt. Anders sieht es erst mit der Gerechtigkeit der zwischenstaatlichen Beziehungen aus. Für sie, die Gerechtigkeit in der Koexistenz der Staaten, für eine inter- oder supranationale Rechts- und Friedensgemeinschaft, gibt es zwar Ansätze, namentlich die Vereinten Nationen, mehr als Ansätze aber nicht. Für etwas, das politisch gesehen höchst dringlich ist, das aber sowohl in der praktischen Politik als auch der politischen Theorie noch weitgehend fehlt, für die interund supranationale politische Gerechtigkeit, entfaltet nun Kant schon vor 200 Jahren die philosophischen Grundlagen. Zugleich stellt er hinsichtlich der Vereinten Nationen und ihres Vorläufers, des Völkerbundes, ein wichtiges Kapitel der Theoriegeschichte dar. Und für das Völkerrecht gelingt ihm eine radikale Neubegründung; an die Stelle des klassischen Kriegs-Völkerrechts eines Hugo Grotius tritt ein reines Friedens-Völkerrecht. Die Beiträge verfolgen insgesamt ein doppeltes Ziel. Unmittelbar wollen sie den philosophisch entscheidenden Text der neuzeitlichen Friedensdebatte zu lesen helfen; dabei widmen die beiden Einleitungstexte (Kapitel 1–2) dem ideengeschichtlichen Hintergrund einen relativ breiten Raum, weil der Friede nicht zu den philosophischen Grundbegriffen gehört. Mittelbar will der Band sowohl der Philosophie als auch der Öffentlichkeit einen Anstoß geben, endlich auch hinsichtlich der internationalen Rechts- und Friedensordnung eine intensive Grundlagendebatte zu führen. Damit die Debatte nicht bei einer Textexegese stehenbleibt, schließt der Band mit zwei Beiträgen, die auf unterschiedliche Weise zu einer systematischen Diskussion anregen (Kapitel 11–12). Auf diese Weise könnte sich das enthusiastische Wort bewahrheiten, mit dem der junge Literaturkritiker Friedrich Schlegel (1796/1966, 11) seine Auseinandersetzung mit Kant beginnt: „Der Geist, den die Kantische Schrift zum ewigen Frieden atmet, muß jedem Freunde der Gerechtigkeit wohltun, und noch die späteste Nachwelt wird auch in diesem Denkmale die erhabene Gesinnung des ehrwürdigen Weisen bewundern.“ Entstanden ist dieser Band aus Anlaß der 200-Jahr-Feier der Schrift Zum ewigen Frieden. Beim Durchmustern der Literatur fiel auf, daß trotz Hunderter von Beiträgen jene detaillierte Kommentierungsarbeit fehlt, die zu klassischen Texten sonst üblich ist. Der Band enthält daher fast nur Originalbeiträge. Für mannigfache Hilfe bei der Zusammenstellung und Durchsicht der Beiträge, beim Erstellen des Literaturverzeichnisses und der Register danke ich Jean-Christophe Merle und Nico Scarano.

Otfried Höffe

1 Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal 1.1 Kant als politischer Denker Als ein überragender Denker, der dem Gesamtbereich des Theoretischen eine radikale Neubegründung zumutet, erweist sich Kant in einem voluminösen Werk, der Kritik der reinen Vernunft (1781). Seinen Ruhm, auch ein politischer Autor zu sein, ein großer Philosoph und zugleich bedeutender Schriftsteller des Politischen, verdankt er einem Text, der nur gerade zehn Prozent der ersten Kritik umfaßt, der zur Michaelismesse (29. September 1795) veröffentlichten Abhandlung Zum ewigen Frieden. Der geringe Umfang spricht aber nicht etwa gegen das philosophische Gewicht; in der bündigen Kürze tritt vielmehr hohe Virtuosität zutage. Der Text hat vielleicht einen historischen Anlaß, jenen Basler Frieden zwischen Preußen und Frankreich (5. April 1795), durch den Preußen aus dem Revolutionskrieg ausscheidet und seine linksrheinischen Besitzungen vorläufig an Frankreich abtritt. Auf den Anlaß geht Kant aber nicht ein; ohne umständliche Zurüstungen historischer oder systematischer Natur ist er sogleich beim philosophischen Kern der Sache. Wie immer entfaltet er sein Thema mit hohem Problembewußtsein, zudem sehr facettenreich und hier durchaus mit Blick auf konkrete politische Fragen (für die Präliminarartikel vgl. den Beitrag von Saner). Überhaupt sind seine Überlegungen, da von historischen und sozialgeschichtlichen Kenntnissen inspiriert, erfahrungsgesättigt; begrifflich hochdifferenziert sind sie ohnehin. Außerdem kennt sich Kant in der bisherigen Friedensdebatte gut aus, etwa bei den Völkerrechtlern Grotius und Pufendorf, ferner bei Abbé de Saint-Pierre und Rousseau. Er läßt sich aber weder von seinen sozial- noch den ideengeschichtlichen Kenntnissen auf Nebenthemen ablenken. Hinsichtlich der Begriffe, Argumente und des Problembewußtseins verfügt er über eine so überlegene Sicherheit, daß er immer rasch auf das Wesentliche zu sprechen kommt. Das Titelwort „Friede“ klingt zwar nach einem bloßen Teilthema der Politik, sogar nach einem sehr marginalen, da der Friede, wie im Vorwort erwähnt, nicht zu den philosophischen Grundbegriffen gehört. Das Beiwort „ewig“ läßt überdies ein Verkennen der politischen Realität befürchten, erinnert es doch teils an Augustinus’ aeterna pax (De civitate Dei/Über den Gottesstaat XIX 1–13 und 26–28), an jenen Frieden, der erst im „ewigen Leben“ erreichbar sein soll, teils an den seelischen Frieden (Ataraxie) der Epikureer, der – gegen die Politik gleichgültig – auf einen Rückzug aus der Politik hinausläuft. In beiden Fällen würde Kants Rang als politihttps://doi.org/10.1515/9783110782462-003

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Otfried Höffe

scher Denker geschmälert; beide Befürchtungen treffen aber nicht zu. Das Beiwort „ewig“ verweist weder auf eine jenseitige Welt noch auf einen Rückzug in die Innerlichkeit; es meint eine bestimmte Qualität des Diesseits: einen Frieden ohne jeden Vorbehalt, den Frieden schlechthin (vgl. Erster Präliminarartikel). Von diesem Friedensbegriff her gelingt es, das Wesentliche der gesamten politischen Philosophie abzuhandeln; Kants Friedensbegriff ist ein zutiefst politischer Begriff. Das gilt um so mehr, als Kant mit guten Gründen die politische Philosophie als Rechts- und Staatsphilosophie versteht. So erlangt der Friedensbegriff bei einem großen Philosophen den Rang eines philosophischen Grundbegriffs denn doch. Vom Friedensbegriff her bringt Kant nicht nur sowohl die Innen- wie die Außenpolitik zur Sprache. In den drei Definitivartikeln behandelt er auch die drei allein denkbaren Grundbeziehungen des Politischen: (1) die Beziehung von Individuen innerhalb einer Rechtsgemeinschaft, des Einzelstaates (Staatsrecht), (2) die Beziehung von Einzelstaaten in einer jetzt inter- oder supranationalen Rechtsgemeinschaft (Völkerrecht) und (3) eine vielfach vernachlässigte Beziehung, die von Individuen zu fremden Einzelstaaten (Weltbürgerrecht). Auf diese Weise skizziert Kant – fast so nebenbei – die Grundzüge einer vollständigen Theorie des öffentlichen Rechts. Zugleich entwickelt er die Utopie, genauer: das Ideal, das für die internationale Politik entscheidend ist, jene wahrhaft globale Friedensordnung, die sich in einer alle Einzelstaaten umspannenden Rechtsordnung verwirklicht. Schließlich diskutiert er im Anhang ein bis heute aktuelles Problem, die für die Politik charakteristische Theorie-Praxis-Frage: die Vereinbarkeit von („theoretischer“) Moral und („praktischer“) Politik. Mit diesem Themenfeld und seiner argumentativ überlegenen Behandlung erweist sich Kant als großer politischer Denker. Und in der Art der Darstellung zeigt er sich als bedeutender Schriftsteller des Politischen: durch den sehr weitgehenden Verzicht auf Fachtermini und besonders durch die Form eines Friedensvertrages. Der Vertrag vermittelt nämlich eine hohe Suggestion, die Utopie bzw. das Ideal erscheint als problemlos realisierbar. Kant nimmt an den damaligen Friedensverträgen Maß. Nach ihrem Muster legt er ein Vertragswerk vor, bestehend aus sechs Präliminarartikeln, drei Definitivartikeln einschließlich zwei Zusätzen und einem (zweiteiligen) Anhang. Mit feiner Ironie bringt er sogar, allerdings erst in der zweiten Auflage (1796), einen Geheimartikel unter. Er hat aber nichts anderes zum Inhalt als die Forderung, jede Geheimhaltung zu unterlassen und statt dessen „über die allgemeinen Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung“ eine freie und öffentliche Diskussion zu erlauben. Angesichts der Praxis internationaler Politik ist diese Forderung durchaus revolutionär, vergleichbar mit der kopernikanischen Wende, die die Kritik der reinen Vernunft für die Erkenntnis- und Gegenstandstheorie unternimmt. Sowohl im Geheimartikel als auch im Anhang II stellt Kant der damals vorherrschenden

1 Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal

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Geheimdiplomatie das Prinzip Öffentlichkeit (Publizität) entgegen; und zum Zweck, dieses Prinzip zu verwirklichen, fordert er Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Der Geheimartikel setzt sich auch mit dem Philosophenkönigssatz auseinander. Im fünften Buch der Politeia (473c–d) sagt Platon: „Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber sich aufrichtig und gründlich mit Philosophie befassen …, so gibt es kein Ende des Unheils für die Staaten.“ Während nach Platon „politische Macht und Philosophie in eins zusammenfallen“ sollen, übt sich nach Kant die Philosophie in zweifacher Bescheidenheit. Einerseits verzichtet sie auf jede öffentliche Gewalt, da deren Besitz ihre Aufgabe und Kompetenz „unvermeidlich verdirbt“, weshalb sich die „Gelehrten“, wie Kant in diesen Wochen an Kiesewetter schreibt, nicht „mit den Politikern vom Handwerk verbrüdern“ sollten (15.10.1795: Briefe XII 45). Zum anderen beansprucht die Philosophie weder Sonderrechte noch besondere Fähigkeiten; nichts mehr halte sie sich zugute als eine allgemeinmenschliche Kompetenz: das „freie Urteil der Vernunft“ (369). Auf diese Weise demokratisch geworden, ist die Philosophie zu etwas fähig, was selbst Fachvertreter – freilich zu Unrecht – ihr neuerdings absprechen. Eine Philosophie, die sich auf kein professionelles Expertentum beruft, sondern lediglich auf „die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“ (KrV B 780), übt ein Richteramt über die menschliche Kultur aus. Mehr noch: Sie versteht sich sogar auf eine dafür zuständige Gesetzgebung. Um die damit angesprochene judikative oder (im ursprünglichen Sinn des Wortes) kritische Funktion übernehmen zu können, ist freilich eine zweite Bedingung zu erfüllen. Die Aussagen der Philosophie müssen sich für kulturspezifische und umständebedingte Unterschiede offenhalten. Auch dieser Bedingung genügt Kant. Auf die Frage, wie in Europa damals der Friede genau zu stiften war, läßt er sich nicht ein. Er stellt zwar ein unbedingt gültiges Gebot auf, den kategorischen Friedensimperativ, und formuliert ihn in Form eines Vertrages. Er bietet aber keinen ausbuchstabierten Rechtstext, sondern nur einen Vernunftsvertrag, der für den ewigen Frieden lediglich die Prinzipien formuliert. In dem „lediglich“ steckt jedoch nicht etwa ein Mangel, sondern ein Vorzug, eben die zweite Bedingung: Für das konkrete politische Urteil ist ein Philosoph nicht kompetenter als jeder andere wohlinformierte und überlegte Bürger. Kant tut gut daran, die entsprechenden Urteile ihnen bzw. den sie repräsentierenden Politikern und deren Fachberatern, den Juristen, zu überlassen (vgl. „Zweiter Zusatz“). Er selbst beschränkt sich auf eine Art philosophischer, des näheren: moralphilosophischer Gesetzgebung. Dabei löst er sich von der Bindung an einen bestimmten Kulturraum und an eine historische Situation und kann uns deshalb bis heute als ein systematischer Gesprächspartner helfen.

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Otfried Höffe

Kants Forderung an die Politik, sie solle den Rat von Philosophen einholen, verlangt nicht, Philosophen als Politikberater einzustellen. Warum auch sollten Philosophen klüger oder weiser sein als andere Akademiker oder Nichtakademiker? Gefragt werden sollen nicht Personen, sondern „Maximen“, also Grundsätze, und zwar jene, die die „Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens“ betreffen (368). Nun laufen diese Grundsätze auf die rechtsmoralischen Prinzipien menschlicher Koexistenz hinaus, die wir heute der politischen Gerechtigkeit zuordnen. Die Kantische Version des Philosophenkönigssatzes beinhaltet also nichts anderes als eine Verpflichtung der Politik auf elementare Gerechtigkeitsprinzipien. Insgesamt behandelt die Schrift fünf größere, relativ selbständige Themenkreise. Zusammen mit der Fähigkeit, die Themenkreise in einer wohlüberlegten Komposition ineinander zu verzahnen, bekräftigt dieser Themenreichtum, daß Kant nicht bloß ein Rechts- und Staatsphilosoph ist, sondern auch einer der großen politischen Denker: 1. Die „Präliminarartikel“ wenden sich an politische Akteure, an Staatsoberhäupter, Regierungen oder Parlamente. Sie benennen nämlich Rechtsverletzungen, die zum Zweck der Friedensstiftung teils sofort („strenge Verbotsgesetze“), teils nur möglichst bald („Erlaubnisgesetze“) aufzugeben sind. In der zweiten Möglichkeit, einer „Befugnis des Aufschubs“ (vgl. Kap. 4), deutet sich eine Theorie an, die bis heute ein Desiderat ist, die Theorie einer Kritik an einer übereilten Politik, die gerade wegen ihrer Übereilung (grund‐)falsche Maßnahmen trifft. 2. Die „Definitivartikel“ skizzieren die Grundzüge einer in den drei Teilen – Staatsrecht, Völkerrecht, Weltbürgerrechtvon der nicht kriegssüchtigen Republik – vollständigen Theorie des öffentlichen Rechts. Sie enthalten den Kern der Kantischen Theorie des Friedens, seine moralischen und deshalb auch apriorischen Bedingungen der Möglichkeit. Als Adressat sind weniger soziale Systeme anzunehmen als Rechts- und Staatsordnungen und die für sie verantwortlichen Entscheidungsträger: Verfassungsgeber und Regierungen sowie die sie autorisierenden Staatsvölker. 3. Der erste Zusatz („Von der Garantie des ewigen Friedens“) erweitert die Theorie des ewigen Friedens; auf die moralische Rechtstheorie des Friedens folgt eine teleologische Naturtheorie. Unter Rückgriff auf Gedanken der geschichtsphilosophischen Abhandlungen und der Kritik der Urteilskraft entwirft Kant eine Sozialgeschichte der Menschheit, die lediglich von der menschlichen Natur und doch zugleich vom Frieden als Endzweck bestimmt ist. Die Adressaten bilden einerseits Rechts- und Staatsordnungen, hier im Sinn von sozialen Systemen, und deren „naturnotwendige“ Entwicklung, andererseits sowohl Politiker als auch Politiktheoretiker, insofern sie ihr Desinteresse an einer globalen

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Friedensordnung nicht länger mit deren Unrealisierbarkeit entschuldigen können. Der zweite Zusatz („Geheimer Artikel zum ewigen Frieden“) zum Verhältnis von Philosophie und politischer Macht und 5. der zweiteilige Anhang zum Thema „Moral und Politik“ lassen sich auf eine Theorie-Praxis-Diskussion ein. Kant greift das Motiv des Vorspanns auf, die Konkurrenz von Philosophen, die „einen süßen Traum träumen“, und Staatsleuten, die sich ihrer Weltkunde rühmen (343). Er zeigt, daß beide Seiten, die politische Philosophie und die praktische Politik, miteinander kompatibel sind, vorausgesetzt, man wahrt den Vorrang der Philosophie qua Theorie der Moral. Dort, wo der Vorrang gewahrt wird und die Politik sich Grundsätzen der Moral unterwirft, spricht Kant von einem politischen Moralismus; die Politik verpflichtet sich hier auf moralische Grundsätze und überantwortet nur deren konkrete Realisierung der Weltkunde und (politischen) Klugheit. Im Gegensatz dazu gibt sich der politische Amoralismus – wir würden von einem Machiavellismus reden – nur den „Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre“ hin (375). – Adressat dieser Überlegungen sind sowohl die Politiker (einschließlich der sie autorisierenden Völker) als auch die Politiktheoretiker (einschließlich der Philosophen).

1.2 Das Defizit vor Kant Eine Rechtsordnung, die alle Menschen und ihre drei Grundbeziehungen umfaßt, darf sich universal nennen. Da Philosophen gern über das Universale sprechen und da, mit Platon und Aristoteles angefangen, über Recht und Staat bzw. die Politik fast alle großen Philosophen nachdenken, erwartet man zur Theorie einer derart universalen Rechtsgemeinschaft eine Fülle von Beiträgen. Diese Erwartung wird bemerkenswerterweise enttäuscht. Platon sieht durchaus jene Gefahr, die zu „internationalen“ Verwicklungen führen kann, daß nämlich ein Staat – bei ihm: eine Polis – wegen der Begehrlichkeit ihrer Bürger expandieren will. Die Gefahr veranlaßt ihn aber nicht, eine politische Einheit zu erfinden, die die einzelnen Einheiten übergreift: eine große Polis oder inter-politische Rechtsgemeinschaft. Eingeführt wird statt dessen ein neuer Stand, das Militär (Politeia II 373e–374a). Selbst das Grundmuster aller politischen Utopie, die von Platon und Aristoteles stammenden Entwürfe einer idealen Politik, befassen sich nicht einmal mit einer gesamtgriechischen Rechtsgemeinschaft, geschweige denn mit den Beziehungen nach außen, zu Persien etwa oder Karthago. Allerdings könnte bereits Aristoteles’ Brief an Alexander die Vision eines Weltstaates mit einer einzigen Verfassung und Regierung sowie ohne Krieg formuliert

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haben; der Brief ist allerdings nur in Arabisch überliefert und in seiner Echtheit umstritten (vgl. Stern 1968, 7 f.). Wenn der Gedanke nicht von Aristoteles selbst stammen sollte, zeugt er aber wenigstens vom kosmopolitischen Denken der Stoa, etwa des Zenon (vgl. Stern 1968, 61 f.). Das Desiderat bemerken wir auch bei den großen Werken der Neuzeit, bei Hobbes’ Leviathan (obwohl er sich als universale Friedenstheorie versteht!), bei Lockes Second Treatise an Government und bei Rousseaus Contrat social. Während Europa von Kriegen überzogen wird, lesen wir – zum Beispiel bei Locke, Kap. XVI – zu einer Theorie des Krieges bemerkenswerte Ansätze, hingegen fehlt die Theorie für eine internationale Friedensgemeinschaft. Die große Ausnahme bildet Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Die Sicherheit ihrer Gedankenführung läßt auf eine längere Beschäftigung mit diesem Thema schließen. Der gewöhnliche Kant-Leser entdeckt als politischen Denker Kant erst in dessen Spätphase. Der gründliche Leser findet einen der Grundbegriffe, den der Republik, schon in der Kritik der reinen Vernunft (B 372 ff.). Selbst die erste einschlägige Veröffentlichung, die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784, 7.–9. Satz), erscheint mehr als ein Jahrzehnt vor der Friedensschrift, und sie erscheint sogar vor Kants erster Ethik, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Später folgen Hinweise in den kurzen Texten Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) und Verkündigung … eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1797), ferner, jetzt ausführlicher, der dritte, dem Völkerrecht gewidmete Teil der Abhandlung Über den Gemeinspruch (1793). Und nach der Friedensschrift erscheinen die Rechtslehre (1797, §§ 53–62 und „Beschluß“) und der Streit der Fakultäten (2. Abschn.). Dazu kommen zwei Texte, die selbst manchen Kant-Kenner überraschen dürften. Den Grundgedanken, „ein weltbürgerliches Ganzes, d. i. ein System aller Staaten“, lesen wir auch in der Kritik der Urteilskraft (1790), hier unter dem Titel „Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems“ (§ 83). Und die Religionsschrift (1793) spricht im Ersten Stück, III., vom Zustand eines „ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Friedens“ (VI 34). Während die anderen Philosophen durch Schweigen auffallen, bildet also bei Kant der durch eine internationale Rechtsgemeinschaft zu garantierende Friede ein Grundmotiv nicht nur des politischen, sondern des gesamten Denkens. Natürlich gibt es Vorläufer; und sie schreiben durchaus beachtenswerte und auch tatsächlich beachtete Texte. Etwa erscheint am Ende des 17. Jahrhunderts in Großbritannien aus der Feder von William Penn, dem Quäker und Gründer von Pennsylvania, der Essay Towards the Present and Future Peace in Europe (1693). Eine Generation vorher schickt Comenius, Bischof der böhmischen Brüdergemeinde, den in Breda versammelten „Englischen und Niederländischen Friedensgesandten“ eine Tischvorlage, die Schrift Angelus Pacis, den Friedensengel (1667). Wieder eine Ge-

1 Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal

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neration früher, mitten im Dreißigjährigen Krieg (1635), arbeitet der Herzog von Sully den großen Plan (Grand Dessein) einer „allgemeinen sehr christlichen Republik“ aus, deren gemeinsame Angelegenheiten durch einen Senat von sechzig Mitgliedern geleitet und deren Streitigkeiten durch einen obersten Gerichtshof geschlichtet werden sollten. In der Tradition gilt der Text zwar als Plan Heinrichs IV., tatsächlich hat ihn Sully verfaßt. Mehr als ein Jahrhundert davor, während sich in Deutschland die konfessionellen Spannungen verschärfen und zum Schmalkaldischen Krieg hindrängen, lesen wir aus der Feder Sebastian Francks Das Krieg büchlin des frides (1539). Noch früher schreibt Erasmus eine Klage des Friedens, der bei allen Völkern verworfen und niedergeschlagen wurde (1517). Und im Mittelalter ragt mit dem Defensor Pacis (Der Verteidiger des Friedens: um 1324) Marsilius von Padua heraus. Außerdem darf man nicht Dantes Monarchia (um 1310) vergessen, auch nicht die Pläne von Pierre Dubois und von Georg v. Podiebrad, dem König von Böhmen, und vor allem nicht das für das christliche Staatsdenken wichtigste Werk, Augustinus’ De civitate Dei (bes. XIX 10–13 und 26–28). Schließlich ist für die griechische Antike exemplarisch an Platon zu erinnern, an die erste Stufe im Rahmen einer vierteiligen Polisgenese (Politeia II 369b–372c). Neu ist der Friedensgedanke nicht; er ist auch so naheliegend, so „natürlich“ für den Menschen, daß es keinen Autor geben dürfte, der den Gedanken irgendwann schlicht erfindet. (Zur Begriffs- und Ideengeschichte vgl. Dietze 1989, 7–58 und Janssen 1975; auch ter Meulen 1917 ff., ferner Archer 1983 und Chaunu 1994; für die wichtigsten Texte seit der Renaissance s. v. Raumer 1953). In Kants eigenem Jahrhundert gibt es vor allem den Abbé (also Weltgeistlichen) Castel de Saint-Pierre (1658–1743), der auf dem Utrechter Friedenskongreß als Sekretär der französischen Bevollmächtigten amtet. Sein nicht besonders origineller, aber vieldiskutierter Entwurf , das Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe (1713–17), wird von niemand Geringerem als Rousseau (1756/61 und 1756/82) ausführlich exzerpiert und kommentiert; allerdings gehen in dessen politische Philosophie, den Contrat social, entsprechende Gedanken nicht ein. Und von anderen, etwa Voltaire in De la paix perpétuelle (1769), wird der Plan als eine weltfremde Schwärmerei verlacht. Gelacht wird freilich nicht über die Friedensidee selbst, sondern über die Hoffnung, den ewigen Frieden durch eine politische Institution, eine internationale Föderation, erreichen zu können. Voltaire vertraut ganz auf eine fortschreitende Aufklärung. Gegen politische Institutionen skeptisch – oder muß man sagen: gegen deren Wert blind –, verläßt er sich auf wachsende Toleranz und auf den Druck einer veränderten öffentlichen Meinung. Charakteristisch für Kant ist also nicht der Friedensgedanke selbst, sondern erst das genaue Profil, das er ihm gibt. Dazu gehört etwas, das für die Friedenspläne von Dante über Dubois und Podiebrad bis zu Sully nicht zutrifft: Kant verfolgt

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Otfried Höffe

keinerlei politische Interessen. Weiterhin entwickelt er eine rein philosophische Argumentation: Erasmus’ und Francks Berufung aufs Neue Testament ist Kant ebenso fremd wie Augustins Verlagerung des ewigen Friedens ins Jenseits. Nirgendwo bei Kant tauchen religiöse Motive auf; in der zitierten Stelle aus der Religionsschrift wird der Friedensgedanke nachdrücklich als philosophischer Chiliasmus bezeichnet und einem theologischen entgegengesetzt. Weiterhin erkennt Kant unter Verzicht auf jede „Schwärmerei“ das Grundelement des Politischen, den Konflikt, an. Nicht erst dort, wo „eitel Liebe und Freundschaft“ herrschen, nicht im ewigen Nirgendwo der Konfliktfreiheit, siedelt er den Frieden an, sondern in einer bestimmten Art, mit Konflikten umzugehen. Damit verbindet sich ein weiteres Element: Kant nimmt eine klare Begrenzung vor; bestimmt lediglich zum Schutz von Leben und Freiheit, ist der von ihm diskutierte Friede eine Rechtsaufgabe. Andere Begrenzungen schiebt er dagegen souverän beiseite. Was die Menschheit bislang an Frieden kannte, war wie eine kleine Insel im großen Meer von Gewalt und Krieg; es war sowohl zeitlich wie räumlich begrenzt. Wo es einen Hausfrieden, vielleicht sogar Burgfrieden gab, fehlte der Landfrieden; wo dieser herrschte, fehlte der länderübergreifende Friede; und selbst dort, wo die internationale Perspektive in den Blick trat, dachte man nicht an einen „ökumenischen“, wahrhaft alle Länder und Kulturen übergreifenden Frieden. Im Banne der Konfessionsspaltung und anderer innereuropäischer Kriegsprobleme denken Kants Vorläufer nur an Europa, und hier – fast – nur an die christlichen Staaten. Noch Solowjew wird in der Kurze(n) Erzählung vom Antichrist (1900, hrsg. v. L. Müller 5 1984, 54) von „der friedlichen Zusammenarbeit“ nur „aller christlichen Völker und Staaten“ sprechen. Allenfalls setzt man wie beispielsweise Abbé Saint-Pierre gnädig hinzu, dem ewigen Friedensbund für die „24 christlichen Staaten von Europa“ „könnten sich womöglich auch die mohammedanischen Fürsten anschließen“. Kant da- gegen verteidigt einen sowohl globalen als auch umfassenden, einen ebenso zeitlich wie räumlich universalen Frieden. Schon diese Elemente machen verständlich, warum erst Kants Text und keiner der Vorläufer den Rang eines im exemplarischen Sinn repräsentativen, eines wahrhaft klassischen Werks der Politischen Philosophie erhält. Es ist kein Zufall, daß Kants Entwurf zum berühmtesten Friedensplan aufsteigen wird. Die Verbindung von wahrhafter Globalität mit der politischen Neuerung von damals, der Republik, schafft den politisch kühnsten Plan. Darüber hinaus legt Kant den philosophisch weitaus gründlichsten Text vor. Außerdem bildet der Friedensgedanke kein Gelegenheitsmotiv, sondern einen unverzichtbaren Teil der Kantischen Philosophie. Nicht bloß der Rechts- und Staatsphilosophie gibt der Friedensgedanke die Vollendung, sondern auch der Geschichtsphilosophie und dem (in der Kritik der Urteilskraft abgehandelten) teleologischen Teil der Naturphilosophie.

1 Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal

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1.3 Eine moralisch gebotene Utopie Unter den Diagnosen für unsere Zeit lautet nicht die unwichtigste auf Erschöpfung der utopischen Energien. Ob wir an den Rechts- und Verfassungsstaat, an den Sozialstaat oder lieber an die Idee der Herrschaftsfreiheit denken – wir sehen verschiedene Gründe und trotzdem das gleiche Resultat: die Ideale der Politik haben an Glanz verloren. Nicht anders ergeht es der Technik. Man erwartet von ihr mancherlei Hilfe und Erleichterung; man braucht sie aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit; die Kraft aber, über die von Bacon und Descartes bis noch zur frühen Kritischen Theorie die Utopien der Techniken verfügten, die Fähigkeit, eine insgesamt bessere Zukunft zu verheißen, haben sie längst eingebüßt. Auch von Kunst und Literatur gehen kaum utopische Impulse aus. Einen Gauguin, der uns in die Südsee entführt und dort in die maison du jouir geleitet, suchen wir vergeblich, ebenso einen Chagall, der uns die Augen für die Welt des Heils schon im Diesseits öffnet. Trotzdem sei, bevor man resigniert in ein „Zeitalter nach der Utopie“ sich fügt, ein leiser Zweifel erlaubt. Vielleicht versiegen nicht die utopischen Energien, sondern haben sich nur gewisse Themen erschöpft. Der Rechts- und Verfassungsstaat ist – im Prinzip – verwirklicht. Im Sozialstaat und in anderer Weise in der Technik entdecken wir Züge von Ambivalenz. Und vom Ideal, das sich im philosophischen Diskurs von selbst versteht, der Herrschaftsfreiheit, sieht inzwischen sogar die Kritische Theorie ein, daß man es als Gesellschaftsprinzip lieber an den demokratischen Verfassungsstaat bindet. Um erneut utopische Energien freisetzen zu können, muß man sich allerdings die Bedingungen überlegen, unter denen Utopien aufleben. Daß jede Gesellschaft gewisse Hoffnungen braucht, diese vage Einsicht reicht nicht aus. Eine gute Chance bieten Probleme, deren Gewicht uns in Angst versetzt und zu denen man nicht nur kleine und kleinliche Lösungen sucht; neue Energien weckt erst ein großer Entwurf. Gegenüber der beklemmenden Erfahrung des Krieges heißt die große Lösung: „Die Menschen werden des Krieges satt.“ Genau diese Lösung vertritt die Schrift Zum ewigen Frieden. Nicht bloß einen Beitrag zum politischen Denken leistet sie; sie enthält auch eine Sozialutopie, und diese ist aus zwei Gründen bis heute attraktiv. Attraktiv ist einmal, daß Kant jenem resignativen Verlust von Hoffnungen und Visionen entgegentritt, der dem Leben jeden Glanz nimmt und die Welt verarmen läßt. Attraktiv ist die Friedensschrift aber nicht bloß, weil sie überhaupt noch utopische Energien freisetzt. Der gefährlichste Gegner jeder Utopie ist eine pragmatische Skepsis, die die große Lösung der beklemmenden Probleme für unrealisierbar hält oder zum Hirngespinst erklärt. In diesem Sinne schreibt schon ein zeitgenössischer Rezensent, Friedrich Wilhelm v. Schütz, ehemals ein leidenschaftlicher Anhänger der revolutionären Ideen: „der Gedanke eines ewigen Frie-

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dens“ ist „nicht fähig, auf Realität Anspruch zu machen“ (nach Dietze/Dietze 1989, 299). Gegen diese Befürchtung setzt sich nur durch, wer über die Schwierigkeiten nicht naiv hinwegsieht, sondern sich desselben Vorzugs wie der Gegner, nämlich eines nüchternen Problembewußtseins rühmen kann. Die große, utopische Lösung besteht nicht in jener eschatologischen Vision, die grundsätzlich unrealisierbar ist und daher ein beständiges Nirgendwo und Niemals bedeutet. Das Ziel liegt im realisierbaren Noch-Nicht; es heißt besser „Ideal“ als „Utopie“. Kant selbst sieht die Gefahr der Nichtrealisierbarkeit, spricht er doch gleich zu Beginn von einem „süßen Traum“, den nur die Philosophen „träumen“ (343). Wie vorher schon Rousseau im Extrait du projet de paix perpétuelle (Œuvres complètes III 589) zieht er die Möglichkeit in Betracht, das Ziel sei „bloß chimärisch“ (368, 19), also ein Hirngespinst, und gibt sich erst zufrieden, wenn er am Ende diese Möglichkeit ausscheiden und anstatt dessen sagen kann, der ewige Friede sei gerade „keine leere Idee“ (386). Die Frage, ob ihm der entsprechende Nachweis gelungen ist, läßt sich nicht schon in der Einleitung beantworten. Einige Gesichtspunkte, die die Realisierungschance steigen lassen, kann man aber vorab benennen. Ein erster der Realisierbarkeit freundlicher Gesichtspunkt: Kant legt keine umfassende soziale Utopie vor. Vergleicht man seinen Text mit Platon, mit dessen erster Polis-Stufe (Politeia II 369b–372c), so sieht man, daß er nicht einmal ein umfassendes Friedensideal verteidigt. In Platons Elementarpolis leben die Menschen nicht nur mit ihren Mitmenschen in Frieden, sondern auch mit sich und mit den Göttern, vielleicht auch mit der Natur (vgl. Höffe 32002, Kap. 8.3). Kant läßt dagegen viele Friedensdimensionen beiseite. Während Platon den sozialen Frieden an den inneren oder persönlichen Frieden bindet, kommt Kant ohne eine derart weitreichende Bindung aus; er siedelt den ewigen Frieden im Bereich des Rechts an und definiert ihn unabhängig von persönlichen Einstellungen. Ausgespart bleibt also (1) der Friede des Menschen mit sich, der innere oder persönliche Friede, außerdem (2) dessen Erweiterung oder Vertiefung, der religiöse Friede in oder mit Gott, ferner (3) der Friede in und mit der Natur, der ökologische Friede, und (4) der seit Augustinus so wichtige kosmische Friede, bei dem innerhalb einer hierarchisch aufgebauten Weltordnung jedes Ding den ihm zukommenden Platz einnimmt (De civitate Dei XIX 12 f.). Übrig bleibt nur (5) der soziale Friede. Selbst diese Dimension erfährt ein bescheidenes Verständnis. Im Deutschen ist der Ausdruck „Friede“ mit „frei“, „freien“ und „Freund“ verwandt. Von der indogermanischen Wurzel pri – lieben, schonen – abgeleitet, meint Frieden „ursprünglich einen Zustand der Liebe und Schonung, wobei freilich das Moment aktiver gegenseitiger Hilfe und Stütze stärker betont ist als das einer gefühlsmäßigen Bindung und Zuneigung“ (Janssen 1975, 543). Später verengt sich die Bedeutung auf (6) einen negativen sozialen Frieden und meint nur das (zumeist zeitlich befristete und räumlich begrenzte) Aussetzen der Gewalttätigkeit. Kants (7) politi-

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scher, näherhin rechtlicher Begriff des Friedens läßt nun die ersten vier Dimensionen ganz beiseite und stellt sich zwischen den umfassenden sozialen Begriff und seine extreme Verengung. Einerseits erfolgt das Aussetzen der Gewalttätigkeit sowohl ohne jeden Fristvorbehalt als auch ohne jede territoriale Beschränkung; außerdem kommt ein Moment aktiver Hilfe hinzu. Andererseits beschränkt sich diese auf eine einzige Aufgabe, die Sicherung des Rechts. Nach dem negativen Friedensbegriff der Definitivartikel soll Rechtssicherheit herrschen. Im Begriff des Rechts ist schon ein zweiter realisierungsfreundlicher Gesichtspunkt angesprochen: Kant verzichtet auf die Idylle der Konfliktfreiheit. Nach dem einschlägigen anthropologischen Begriff, den Kant im Ersten Zusatz der Friedensschrift bestätigt, nach der „ungeselligen Geselligkeit“, gehören zum Menschen Leidenschaften, die wie „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“ an sich zwar „nicht liebenswürdig“ sind, als „Widerstand“ gegen den „Hang zur Faulheit“ aber die Menschen „aus der Rohigkeit zur Kultur“ führen (Idee, 5. Satz). Kant läßt Konflikte durchaus gelten, er schließt „nur“ die Gewalt als Mittel der Konfliktregelung aus. Der Erste Zusatz enthält einen weiteren realisierungsfreundlichen Gesichtspunkt, die „große Künstlerin Natur“, die sich der natürlichen Zwietracht der Menschen bedient, um „Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen“ (360): Aus durchaus selbstsüchtigen Motiven schließen sich die Menschen zu einzelnen Staaten zusammen, die zwar untereinander zunächst Krieg führen, auf Dauer aber, und zwar aus Handelsinteressen, in Frieden untereinander leben. Ein vierter realisierungsfreundlicher Gesichtspunkt: Nach dem Vorbild von Thomas Morus’ Utopia gibt es im 16. und 17. Jahrhundert eine Fülle von Staatsromanen. Weil sie die soziale und politische Einbildungskraft auf Reisen schicken, nennen sie sich zu Recht „voyages imaginaires“, fiktive Reisen. Davon setzt sich Kant nachhaltig ab. Im Vorspann spricht er zwar von einem „süßen Traum“; geträumt wird er aber vom Philosophen, also von jemandem, dessen Metier der Begriff und das grundlegende Argument ist. Bei Kant geht nicht mehr die Einbildungskraft auf Reise, sondern die Vernunft, des näheren die praktische, sogar die reine praktische Vernunft. Da sie der Moral entspricht, ist der ewige Friede nicht etwa von außen, beispielsweise von der Vorsehung zu erwarten. Er ist auch nicht auf die (ewig) ferne Endzeit, das Eschaton, zu verschieben; er ist vom Menschen selber, überdies hier und jetzt zu stiften. Die Friedensstiftung hat den Rang einer rechtsmoralischen Pflicht (vgl. 356, 4; 362, 9; 364, 9; 378, 19–22). Vorliegt jener kategorische Rechtsimperativ, den man den kategorischen Friedensimperativ nennen kann. Dort, wo aktuell Krieg geführt wird, kann das Ende des Krieges durchaus Hoffnungen wecken. Die wirklich große Hoffnung, jene, die für alle Menschen neue Energien freisetzt, wäre dies aber nicht. Denn jeder Krieg ginge rasch vorüber, wenn die eine Seite nachgäbe und die Bedingungen der anderen Seite akzeptierte.

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Nach dem berühmten Herrschaft-Knechtschafts-Kapitel aus der Phänomenologie des Geistes beginnt die Bildung des menschlichen Selbstbewußtseins als Kampf um Anerkennung. Dieser Kampf, auf Leben und Tod geführt, endet zwar in einem „Ende aller Hostilitäten“, aber auch in der extremen Asymmetrie von Herr und Knecht. Außerdem gehen die Feindseligkeiten nur deshalb zu Ende, weil eine Seite der Todesfurcht nachgibt und sich rechtzeitig unterwirft; der Friede steht unter dem Vorbehalt, daß eine Seite das Überleben als dominantes Gut anerkennt. Eine derartige Anerkennung ist jedoch keineswegs die Regel. Die konfessionellen Bürgerkriege der frühen Neuzeit und die vielen späteren Bürgerkriege zeigen deutlich genug: Zum Zweck der religiösen Freiheit oder der politischen Selbstbestimmung oder der kulturellen Identität, von niederrangigen Gütern ganz zu schweigen, weil man also andere Güter als das Überleben für dominant hält, kämpfen beide Seiten oft bis zu einer Erschöpfung der Kräfte, und der schließliche Friede ist von einer Friedhofsruhe nicht fern. Auch deshalb besteht zwischen Herr und Knecht ein „Friede unter Vorbehalt“, weil der Knecht sein „knechtisches Bewußtsein“, das Überleben als dominantes Ziel, überwinden und sich gegen den Herrn auflehnen kann. Grundsätzlich aufgehoben wird der Vorbehalt erst dort, wo nicht länger die Gewalt entscheidet, sondern deren Aufhebung, das Recht. Da sich im bloß positiven Recht die Gewalt verstecken kann, kommt es nicht auf irgendein Recht, sondern auf das moralische, das gerechte Recht an. Eine davon bestimmte Gesellschaft einzurichten ist eine Verbindlichkeit, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, es liegt tatsächlich ein kategorischer Rechtsimperativ vor. Seiner Struktur nach besteht er aus zwei Stufen. Zunächst ist das gerechte Recht zu definieren; erst dann kann man für seine gewaltfreie Durchsetzung sorgen. Dort liegt ein kategorischer Rechtsimperativ im engeren Sinn vor, der Imperativ, moralisch begründete Rechte wie die Menschenrechte anzuerkennen. Hier dagegen handelt es sich um die Forderung, das gerechte Recht nicht mit partikularer Macht, sondern mittels gemeinsamer, „öffentlicher“ Gewalten durchzusetzen. Nun spricht Kant bei den öffentlichen Gewalten von einem Staat. Die gegenüber dem ersten Rechtsimperativ nur subsidiäre Stufe, der eigentliche Friedensimperativ, fällt mit dem kategorischen Staatsimperativ, mit der Forderung, zur Durchsetzung moralischer Rechte einen Staat einzurichten, zusammen. Relativ zu moralischen Rechten gebietet er eine gewaltfreie Konfliktlösung. (Der Sache nach vertritt Kant einen kategorischen Staatsimperativ z. B. in 378, 19–22, und 386, 27–29.) Von der bloßen Selbstverteidigung abgesehen (345), ist der „Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt“ (356). Die Rede von einem kategorischen Friedensimperativ bleibt ein wenig zu modifizieren. Der ewige Friede ist zwar kategorisch geboten. Während aber der Zweite Definitivartikel den Friedenszustand zur „unmittelbaren“ Pflicht erklärt (356, 4),

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sieht Kant im „Anhang“ genauer, daß die Pflicht sich direkt nur auf diese zwei Stufen richtet: auf eine Anerkennung des gerechten Rechts, auf den kategorischen Rechtsimperativ im engeren Sinn, und auf die nichtpartikulare Organisation der Anerkennung, auf den kategorischen Staatsimperativ. Der vorbehaltlose, der ewige Friede ist kein direkter Zweck, besteht er doch in nichts anderem als in jenem Zustand, der aus der Anerkennung des doppelten Imperativs hervorgeht. In diesem Sinn sagt Kant im Anschluß an das Neue Testament: „Trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohltat des ewigen Friedens) von selbst zufallen“ (378, 5–7). Vom römischen Militärtheoretiker Vegetius (4. Jh. n.Chr.) stammt das Motto, dem viele Staaten der Welt folgen: „Si vis pacem, para bellum.“ (Wenn du den Frieden willst, so rüste für den Krieg.) In der Sache setzt Kant an dessen Stelle: „Si vis pacem, para iustitiam.“ (Wenn du den Frieden willst, so sorge für Gerechtigkeit.)

1.4 Zur Wirkung Kants Text erfährt eine ungewöhnlich rasche und intensive Rezeption. Während sich die Kritik der reinen Vernunft erst sechs Jahre nach Erscheinen einer zweiten Auflage erfreut, erlebt die Abhandlung Zum ewigen Frieden, obwohl sie in doppelt so vielen, nämlich 2000 Exemplaren gedruckt wird, binnen weniger Wochen einen Nachdruck von 1500 Exemplaren; und die zweite Auflage kommt schon im nächsten Jahr auf den Markt. Nicht das wohl bedeutendste Werk der neuzeitlichen Philosophie, eben die Kritik der reinen Vernunft, sondern erst die Friedensschrift wird zum großen literarischen Erfolg. Noch zu Kants Lebzeiten, in den knapp zehn Jahren bis 1804, erscheinen zehn weitere Ausgaben. Ein zusätzliches Dutzend folgt bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges; in den nächsten vierzig Jahren werden mindestens noch zwanzig weitere Ausgaben veröffentlicht (v. Raumer 1953, 162), zu denen später eine Reihe zusätzlicher Ausgaben hinzutreten. Dem Text geht natürlich der Ruhm seines Autors voran, das Ansehen, das ein Verfasser genießt, dem die Neuzeit so überragende Werke verdankt wie die Kritik der reinen Vernunft und die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, wie die zweite und die dritte Kritik und die Religionsschrift. Und Kant kennt seinen Wert. Für die Kritik verlangt er pro Druckbogen vier (Vorländer 1992, 3.2, 81 f.), für den Ewigen Frieden zehn Taler (Brief vom 13.8.1795 an den Verleger Nicolovius: Briefe XII 35). Als politischer Denker war Kant aber noch nicht annähernd so bekannt. Zwar hatte man die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht gelesen und die Abhandlung Über den Gemeinspruch, deren zweiter Teil sich mit dem Staatsrecht und deren dritter Teil sich mit dem Völkerrecht befaßt. Eine systema-

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tische Philosophie der Politik, verstanden als Theorie von Recht und Staat, enthält aber erst die Friedensschrift. Nicht nur gedruckt wird der Text, sondern auch übersetzt, etwa ins Französische, Englische, Dänische und Polnische, später noch in viele andere Sprachen, z. B. auch ins Hebräische, 1976, ins Bulgarische, 1977, sowie ins Arabische, 1985. Vor allem wird der Text viel gelesen und intensiv diskutiert. Die engeren Freunde und Anhänger Kants – Kiesewetter etwa und Erhard, Stäudlin und Sophie Mereau, eine „Professorin in Jena“ – melden sich in Briefen. Noch wichtiger sind die Besprechungen, zum Teil von hochkompetenter Feder verfaßt, die in Deutschland und im benachbarten Ausland erscheinen und die den Text rühmend, gelegentlich sogar enthusiastisch vorstellen. (Vgl. die Auswahl bei Buhr-Dietzsch 1984, 61 ff.) Ob der Text wie mehrheitlich positiv beurteilt wird oder wie bei Wilhelm v. Humboldt zurückhaltend („Im Ganzen kann ich die Schrift nicht sehr wichtig nennen“: an Schiller, 30.10.1795; ähnlich am 11.12.1795) – in Intellektuellenkreisen scheint er Tagesgespräch gewesen zu sein; und führende Vertreter des revolutionären Frankreich sehen Kant als einen der ihren an (vgl. Azouvi/ Bourel 1991, 65–83). Noch rascher als die deutschen Gazetten reagiert Paris. Noch bevor eine von Kant gutgeheißene französische Übersetzung erscheint – übrigens zur selben Zeit in Königsberg, bei Nicolovius, dem Verleger der deutschen Ausgabe, und in Paris, bei Jansen und Perrouneau – im vierten Jahr der „einen und unteilbaren Republik“, am 13. „nivôse“, dem 3. Januar 1796 der alten Zeitrechnung, schreibt ein Anonymus in der Gazettè Nationale, ou Le Moniteur Universel: „Le célèbre Kant, cet homme qui a produit en Allemagne dans les esprits une révolution … vient d’étayer du poids de son nom la cause de la constitution républicaine“: „Der berühmte Kant, der in Deutschland eine geistige Revolution zustande gebracht hat, die derjenigen gleicht, die die Gebrechen des Ancien régime in Frankreich mußten geschehen lassen, dieser Mann hat sich mit dem Gewicht seines Namens der Sache der republikanischen Verfassung angenommen.“ (Ein Brief vom 9. 3.1796 an Schiller „enttarnt“ übrigens den Verfasser; es ist der in Paris geborene Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber.) In der Tat: Während in Paris deutsche Intellektuelle wie Wilhelm von Humboldt nur, aber auch immerhin als „Revolutionstouristen“ anwesend waren, geht Kants Beitrag weit darüber hinaus. Vor allem mit dem Ersten Definitivartikel – „Die bürgerliche Verfassung soll republikanisch sein“ – setzt Kant der jungen Republik ein Denkmal. Er setzt es freilich nach seinem Metier, also more philosophico. Die Friedensschrift entwickelt, was der Rezensent „le républicanisme non de la France, mais du monde entier“ nennt. Nationalstaatliche Perspektiven sind Kant fremd; der Philosoph transformiert das in Frankreich zwar exemplarisch, aber nur partikular realisierte Ideal in ein wahrhaft globales Ideal, in das einer Weltrepublik.

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Wenige Tage nach der Gazettè Nationale, am 14. Januar, melden sich die hochangesehenen Göttingische(n) Anzeigen von gelehrten Sachen zu Wort. Es folgen die Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes, die Gothaische(n) gelehrte(n) Zeitungen und die Allgemeine Literaturzeitung, ferner die Zeitschrift Deutschland, die Litteratur-Tidning und der Neue Niedersächsische Merkur. Auf die Phase der Rezensionen folgt bald jene „klassische deutsche Friedensdiskussion um 1800“ (Dietze 1989, hier 58), die sich zu großen Teilen als Auseinandersetzung und Fortbildung Kantischer Gedanken liest. Diese zweite Phase der Wirkungsgeschichte beginnt mit einem Text, der im Philosophischen Journal einer „Gesellschaft Teutscher Gelehrter“ erscheint; er stammt aus der Feder von einem der beiden Herausgeber. Niemand Geringerer als Johann Gottlieb Fichte schreibt (1795/1966, 221), daß „die Leichtigkeit und Annehmlichkeit des Vortrags“ nicht dazu verleiten dürfte, der Hauptidee der Schrift „nicht die Wichtigkeit beizumessen, die sie unseres Erachtens hat“, nämlich „daß sie im Wesen der Vernunft liege, daß die Vernunft schlechthin ihre Realisation fordere, und daß sie sonach auch unter die zwar aufzuhaltenden, aber nicht zu vernichtenden Zwecke der Natur gehöre“. (Hier, in den „Zwecken der Natur“, klingt Kants Zusammenhang der Friedensidee mit der teleologischen Urteilskraft an.) Auch wenn Fichte sich nur vornimmt, zur Erläuterung „einige Worte hinzuzusetzen“, weicht er doch in zwei Punkten von Kant ab. Zum einen setzt er der exekutiven Gewalt einen ,anderen Magistrat‘, ein Ephorat, an die Seite; zum anderen sagt er vielleicht deutlicher als Kant, daß der Völkerbund „zur Erhaltung des Friedens“ doch „lediglich ein Mittelzustand“ ist und das wahre Ziel in einem „Völkerstaate“ liegt (s. u. Kap. 6). Im selben Jahr wie Fichte greift Friedrich Schlegel zur Feder. Im „Versuch über den Begriff des Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden“ zündet er ein polemisches Feuerwerk an Kants These an, Demokratie sei notwendig ein Despotismus, und der Republikanismus dürfe sich nur auf allmählichere Reformen herausbilden. Im Anschluß an die schon im „Vorwort“ zitierte enthusiastische Wertschätzung Kants beginnt er eine Auseinandersetzung, in deren Verlauf er sich stärker von Kant absetzt, hält er doch dessen Definitionen von rechtlicher Freiheit und Gerechtigkeit nur für ein „Minimum“. Das – freilich unerreichbare – Maximum würde „aller Herrschaft und Abhängigkeit ein Ende machen“ (1966, 13; Dietze/Dietze 1989, 162 f.). Schlegel will also sowohl im innerstaatlichen als auch zwischenstaatlichen Bereich jegliche Herrschaft eliminieren; Kants Völkerbund stellt er eine herrschaftsfreie Weltgesellschaft freier und gleicher Völker entgegen. Zwei Jahre nach Fichte und Schlegel meldet sich der junge Joseph Görres zu Wort. Allerdings verkennt er den genuin moralischen Rang des Friedensgedankens; bei Görres wird aus dem kategorischen Rechtsprinzip ein nur sozialpragmatisches Gebot. Man könnte schon glauben, Görres sei viel eher von dem Utilitaristen

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Bentham beeinflußt, wären dessen Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen dauernden Frieden (1786) nicht erst viel später, nach Benthams Tod (dann als Principles of International Law) herausgegeben worden (1843). Görres schreibt jedenfalls, was Benthams Gedanken des kollektiven Wohlergehens entspricht: „Der Zweck jedes Friedens ist Völkerbeglückung, das erste Requisit, um diesen Zweck zu erreichen, Dauer. Ein Frieden, der … den Völkern für ihre ganze unbegrenzte Existenz ihren Wohlstand verbürgt, nur ein solcher kann seinen Namen sich mit Rechte anmaßen“ (Görres 1798, zit. nach Dietze/Dietze 1989, 315). Dagegen dient nach Kant der Friede weder dem Überleben der Bürger noch ihrem Wohlergehen, sondern lediglich dem Recht. Nur über das Recht vermittelt, treten auch die anderen Zwecke in den Blick. Ob Görres, Schlegel oder Humboldt, der im genannten Brief an Schiller einen „zu grell durchblickenden Demokratismus“ konstatiert: schon damals hatten also deutsche Intellektuelle mit Kants republikanischem Grundgedanken Schwierigkeiten, mit den auf das Recht und unmittelbar auf nichts anderes als das Recht verpflichteten öffentlichen Gewalten. Schlegel, Fichte, Görres – ist es erstaunlich, daß alle drei Verfasser jung, zwei sogar bemerkenswert jung sind? Schlegel schreibt seinen Text im Alter von 23, Görres von 21 Jahren; nur Fichte ist für die damalige Sturm- und Drangperiode schon ein „etwas älterer Herr“, ein Dreißigjähriger nämlich. Ist es nur die intellektuelle Jugend, die sich für politische Utopien freihält? Andere der noch „jugendlichen Intellektuellen“ dieser Zeit, Schelling etwa und Wilhelm v. Humboldt, nehmen aber den Gedanken der internationalen Rechts- und Friedensordnung nicht auf. Und Hegel vertritt schon im Naturrechtsaufsatz (1802/03) die Gegenposition, die nicht nur den Frieden, sondern auch den Krieg für „absolut notwendig“ hält. In der Tradition schottischer Moralphilosophen, zum Beispiel Adam Smith, nach dem „unter dem gewitterschweren Himmel des Krieges und des Aufruhrs die kraftvolle Strenge der Selbstbeherrschung am besten“ gedeiht (Theory of Moral Sentiments 1759, Teil III, Kap. 3), sieht Hegel den Krieg in Verbindung mit der „sittliche(n) Gesundheit der Völker“ und behauptet vom ewigen Frieden, er würde die Völker in eine „dauernde Stille“ versetzen (Werke II 481 f.). Knapp zwei Jahrzehnte später, in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), wird er im § 324 diesen Gedanken mit Nachdruck wiederholen. (Zu Kants Friedensschrift s. auch § 333 f.) Ein anderer Philosoph, der sich gegen Kant scharf absetzt, ist Friedrich Gentz, ehemals ein Schüler Kants, mit seinen Bemerkungen zum Gemeinspruch aber dessen Kritiker. Gentz verfaßt zwar ein Traktat Über den ewigen Frieden (1800). Von Edmund Burkes konservativer Kritik an der Französischen Revolution beeinflußt – immerhin übersetzt er den Text ins Deutsche –, verwirft er aber schon den Grundpfeiler Kants, den Republikanismus. Nicht nur in der Blütezeit der Philosophie, dem Deutschen Idealismus, spielt – vom frühen Fichte abgesehen (Grundlage des Naturrechts 1796, 2. Anhang) – der

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Gedanke einer globalen Friedensordnung so gut wie keine Rolle. Auch im wichtigsten Text der Rechts- und Staatsphilosophie, verfaßt von einem „Kantianer“ sogar, in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971), sucht man eine Theorie der internationalen Rechtsgemeinschaft vergeblich. Ebenso vermißt man sie in Rawls’ späterem Werk Political Liberalism (1993; anders erst Rawls 1993a). Erstaunlicherweise trifft dasselbe auf jene Theorie zu, die im Jahrhundert zweier Weltkriege und ungezählter Regionalkriege utopische Energien freizusetzen beansprucht. Ob wir Bloch oder Marcuse lesen, ob Horkheimer, Adorno, selbst Habermas’ Rechtsphilosophie (1992) – zum Thema internationale Friedensordnung fällt die Kritische Theorie durch ihr beharrliches Schweigen auf. Das Defizit hat übrigens sowohl in der Kritischen Theorie als auch bei Rawls einen mehr als nur kontingenten Grund. Zu kurz kommt bei ihnen, woran sich die einschlägige Theorie anschließt, die Legitimation öffentlicher Gewalten: die Staatsethik. In den spezifisch rechtsphilosophischen Werken spielt zwar das Völkerrecht eine Rolle, so etwa in Radbruchs Rechtsphilosophie (1932, § 28), ferner in Kelsens Reiner Rechtslehre (1934, 1960, Kap. VII) und in Harts The Concept of Law (1961, Kap. X). Erstaunlicherweise fehlt aber selbst hier das Thema des globalen Friedens. (Von Kelsen gibt es allerdings einen Zeitschriftenaufsatz: The Strategy of Peace, 1944.) Dem Hegelwort, daß die Eule der Minerva ihren Flug nicht vor Einbrechen der Dämmerung beginne, gibt dieser Befund in einem nicht spekulativen, sondern durch und durch trivialen Sinn Recht. Zu lebensweltlich dringenden Problemen bietet die Philosophie so wenig Vorarbeiten an, daß es nicht verwunderlich ist – man sehe mir die Randbemerkung nach –, daß zu den entsprechenden Problemen der internationalen Politik die Intellektuellen, sofern sie sich überhaupt auf die Probleme einlassen, mehr moralisierend reagieren als diskursiv. In der vorangehenden Skizze der Vorgeschichte und ersten Wirkungsgeschichte deuten sich schon Fragen an, die sich einer über die bloße Interpretation hinausgehenden, systematischen Diskussion der Kantischen Friedensschrift stellen. Heben wir zum Abschluß der Einleitung vier Fragen heraus: Erste Frage: Görres’ Umdeutung zeigt, daß sich der Zweck des ewigen Friedens nicht von selbst versteht. Die Völkerbeglückung oder, nüchterner formuliert, das Wohlergehen der Menschen dürfte für viele eine plausiblere Motivation, vielleicht sogar Legitimation einer sowohl internationalen wie dauerhaften Friedensordnung darstellen. Finden sich bei Kant überzeugende Gründe, die dagegen sprechen? Oder neutral formuliert: Was ist die für die Friedensordnung angemessene Legitimationsgrundlage? Die zweite Frage tut sich im Spannungsfeld von Abbé de Saint-Pierre, Voltaire und Schlegel auf: In welcher Form ist der Friede durchzusetzen: durch politische Institutionen, wie Saint-Pierre sagt, durch bloße Aufklärung, wie ihm Voltaire entgegenhält, oder, wie Schlegel will, durch und in Herrschaftsfreiheit? Anders

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formuliert: Braucht auch der zwischenstaatliche Frieden, was wir beim innerstaatlichen Frieden anerkennen, öffentliche Gewalten, also eine gewisse Staatlichkeit, oder kann er – vielleicht sogar: soll er – darauf verzichten? Sowohl an die erste wie die zweite Frage schließt sich die dritte Frage an: Für welche Aufgaben ist die internationale Rechtsordnung zuständig; für welche „Staatsaufgaben“ trägt sie die Verantwortung? Schließlich die vierte Frage: Sind moralische Anstrengungen für die internationale Friedensordnung vonnöten, wenn deren Errichtung doch schon durch die Natur garantiert ist?

Literatur Archer, Clive 1983: International Organizations. London. Azouvi, François/Bourel, Dominique 1991: De Königsberg à Paris. Le réception de Kant en France (1788–1804). Paris. Buhr, Manfred/Dietzsch, Steffen (Hrsg.) 1984: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1796–1800. Leipzig. Chaunu, Pierre (Hrsg.) 1994: Les fondements de la paix. Des origines au début du XVIIIe siècle. Paris. Dietze, Walter 1989: Abriß einer Entwicklungsgeschichte der Friedensidee vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution. In: Dietze/Dietze (Hrsg.) 1989, 7–58. Dietze, Anita/Dietze, Walter (Hrsg.) 1989: Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800. Leipzig/Weimar. Habermas, Jürgen 1992: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt/M. Hart, Herbert L. A. 1961: The Concept of Law. New York/London; dt. Der Begriff des Rechts. Frankfurt/M. 1973. Höffe, Otfried 2001: „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie. Frankfurt/M.; engl. Kant’s Cosmopolitan Theory of Law and Peace, übers. v. A. Newton. Cambridge 2006. Höffe, Otfried 2002: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. 2. Aufl. München. Höffe, Otfried 32002: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat. Frankfurt/ M. Huber, Ludwig Ferdinand 1796: Brief an Friedrich Schiller vom 9. 3.1796. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 36/1. Weimar 1972, 148. Janssen, Wilhelm 1975: Art. „Friede“. In: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart, 543–591. Kelsen, Hans 21960: Reine Rechtslehre. Wien. Kelsen, Hans 1944: The Strategy of Peace. In: The American Journal of Sociology 49, 381–389. Meulen, Jacob ter 1917–1940: Der Gedanke der Internationalen Organisation in seiner Entwicklung. Bde. 1, 2/1, 2/2. Den Haag. Radbruch, Gustav 31932: Rechtsphilosophie. Leipzig; auch in: Gesamtausgabe. Hrsg. v. A. Kaufmann. Bd. 2. Heidelberg 1993, 206–450.

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2 Zur Geschichte des Friedensbegriffs vor Kant Ein Überblick

2.1 Antike und Mittelalter Die griechische eirênê wie auch die römische Göttin Pax sind eng mit ihrer jeweiligen Kultur verbunden. Ein tugendhaftes agrarisches Leben, das auf Grundwerten wie Ius, Fides, Iustitia, Pietas und Aequitas, kurz: auf einer gerechten Rechts- und Staatsordnung beruht, bildet das Fundament der Pax Romana; Friede als innere Eintracht ist gleichbedeutend mit dem – durch verschlungene Hände symbolisierten – Zusammenhalten (Concordia) der Römer. Im römischen Selbstverständnis sichert dieses Zusammenhalten die Felicitias (Glückseligkeit). Dabei bleibt die zwischenstaatliche Perspektive außer acht. Während Cicero, im Anschluß an Aristoteles (Politik, Buch II, 1267a, 26–38; Buch VII, 1534a–1535a), die Lehre vom gerechten Krieg im Fall der Vergeltung eines Unrechts oder der Selbstverteidigung – allerdings noch unter der Bedingung einer vorherigen Kriegserklärung – formuliert (De re publica III, 23; zur Überlieferung im Mittelalter vgl. Thomas v. Aquin, Summa theologica IIa, Ilae q. 40, art. 1), dehnt sich das römische Kaisertum durch Eroberungskriege aus. Unter Kaiser Augustus (63 v.Chr.–14. n.Chr.) erhält Pax einen zweiten – engeren – Sinn: sie wird zum dauerhaften Kriegsende, das die Concordia nach innen, als die bürgerliche Eintracht, und nach außen, als das Ende einer Eroberungsphase, herstellt. Unter Augustus erreicht nämlich das Römische Reich einen friedlichen Höhepunkt, d. h. eine allmähliche innere Stabilisierung und relative äußere Sicherheit (securitas); am 4. Juli 13 v.Chr. verordnet der Römische Senat die offizielle Feier der Ara Pacis Augustae (Augustus’ Friedensaltar) auf dem Marsfeld. Für das Gedeihen der Pax Romana, für diese sogenannte Pax Augusta, wird der Kaiser verehrt.Von ihr ist die Pax Augusti, der einmalige Akt, mit dem ein Krieg vom Kaiser beendet wird, zu unterscheiden. Symbol der letzteren ist die Göttin Pax, die eine Ansammlung von Waffen verbrennt. Allerdings besteht zugleich Sallusts oder Valerius Maximus’ Auffassung, wonach der Friede nur im Schutz der Waffen gedeiht. Diesen zwei Dimensionen des Friedens, der auf einer gerechten Rechtsordnung beruhenden inneren Eintracht und dem Zustand bloßer Krieglosigkeit, fügt das Mittelalter noch eine dritte, davon unterschiedene Friedensauffassung hinzu. Diehttps://doi.org/10.1515/9783110782462-004

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ser dritte, wahre Friede entspricht einer kosmischen Ordnung, wonach alle Lebewesen schließlich in Gott versöhnt und vereinigt sein sollen. Er kann nur mit dem Vermögen und dem Willen erreicht werden, jedem Wesen die richtige Stelle in der hierarchischen Weltordnung zuzuweisen (vgl. Augustinus, De Civitate Dei XIX, 13). Und Thomas von Aquin schreibt: „der wahre Friede kann nur in den Guten sein und nur in bezug auf die [wahren] Güter“ (Summa theologica II 2, qu. 29, art. 2). Als Gottesordnung soll also der Friede einerseits der Zeit enthoben, d. h. eine Pax aeterna (ewiger Friede) sein und andererseits nicht nur die Handlungen, sondern auch die Seele der Menschen betreffen, die die wahren Güter erkannt haben muß. Dies hat folgende Konzequenzen: 1. Dem ewigen, geistlichen Frieden gegenüber gilt jeder irdische zeitliche Friede als grundsätzlich nur unvollkommenes Abbild. Guilhelmus de Lancea (Diaetae salutis 7.6) spricht von einer „pax mala“ (einem schlechten Frieden) bzw. „pax falsa“ (einem falschen Frieden). 2. Andererseits ist auch dieser irdische Friede nur innerhalb der Grenzen einer Rechtsgemeinschaft zu finden; er wird etwa von Nikolaus von Kues als „schmutziger Friede“ verpönt, der ein Zusammenstimmen vieler zu etwas Bösem ist, wie z. B. der Verband zwischen Pilatus und Herodes: das Recht ist von der Gerechtigkeit untrennbar (Predigt am Tage der Geburt des Herrn, § 11). Darüber hinaus sei noch an das Wort Christi erinnert, er komme nicht, um den Frieden zu bringen (Mt. X 34). Nun treten im Mittelalter vielfältige Paces speciales (Sonderfrieden) auf, die auf eine bestimmte Zeit (etwa Gottesfriede) bzw. auf ein bestimmtes Gebiet (z. B. Landfriede, Stadtfriede) oder auch auf manche Leute (etwa Hausfriede) beschränkt sind. Nun wird es für den Christen eine zentrale Aufgabe, einen allgemeingeltenden, wenn auch nur zeitlichen Frieden herzustellen. Ahnlich wie bei Cicero, so läßt auch Thomas von Aquin als einzigen Zweck eines Kriegs gelten, den zeitlichen Frieden der öffentlichen Angelegenheiten zu erhalten. Nach Marsilius von Paduas Defensor Pacis (1324) ist ein solcher Friede sogar die nötige Voretappe der völligen Entfaltung der Humanität, somit auch der Erreichung des geistlichen Friedens im Diesseits sowie des ewigen kosmischen Friedens im Jenseits. Dieser Gedanke des kosmischen Friedens, der alle Dinge umfaßt, aber erst im Jenseits erfüllt sein soll, geht auf die Tradition des Augustinischen De Civitate Dei (XIX, 13) zurück. 3. Der zeitliche Friede ist kein Zweck an sich, sondern macht ein auf die Gemeinschaft der Seelen ausgerichtetes Gebot Gottes aus und kann anderen Geboten Gottes untergeordnet sein. Ein Christ soll z. B. bereit sein, auf ein ihm durch die iustitia verliehenes strenges Recht (ius strictum) zu verzichten, wenn die caritas (christliche Nächstenliebe) als höhere Stufe der Gerechtigkeit es von ihm verlangt. (vgl. Comenius, Angelus Pacis)

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Da eine Rechtsgemeinschaft im mittelalterlichen Gerechtigkeitsverständnis nur auf einer Erkenntnis der wahren Güter beruhen kann, darf ein solcher allgemeingültiger Friede im Gegensatz zur Pax Augusta keine Nicht-Christen – Muslimen oder Ketzer – umfassen. Mit ihnen läßt sich nur ein Waffenstillstand, allgemeiner gesagt: ein Friede der zweiten Art, ein Zustand der bloßen Gewaltlosigkeit, erreichen. Schon hieraus erklärt sich das lange Festhalten des Mittelalters an der in Wahrheit nur nominellen Herrschaft des Römischen Kaisers Deutscher Nation bzw. des Papstes, wie es sich etwa noch in Dantes Monarchia (1310) zugunsten des Kaisers und in Campanellas Monarchia Messiae (1633) bzw. in Dubois’ De Recuperatione Terre Sancte (1306) zugunsten des Papstes findet. Mehr noch: Unter dem Druck der Kreuzzüge, zuletzt unter Papst Leo X. (1513–1521) setzt sich die Einsicht durch, daß für deren Durchführung die Aufrechterhaltung des Friedens unter den christlichen Staaten – bei Dubois auch mit dem byzantinischen Kaiser – vonnöten sei. Darum wird immer wieder an Friedensgerichte, Fürsten- und Staatenkongresse gedacht, die die europäischen Staaten hätten vereinen sollen.

2.2 Reformation und Naturrecht Während der Renaissance stellen manche Humanisten die Legitimität eines Kriegsbündnisses gegen die Ungläubigen in Frage und äußern den Wunsch nach einer säkularisierten europäischen Friedensordnung: Erasmus (Querela pacis undique gentium ejactae profligataeque, 1517) verpönt den Krieg gegen das türkische Reich; er plädiert statt dessen für die Möglichkeit einer Rechtsprechung unter Staaten. Erst nach Gelingen der Reformation wird ein allgemeiner Friede ohne Berufung auf religiöse Wahrheiten ins Auge gefaßt. Zwar verwendet der erste Artikel des Westfälischen Friedensvertrages noch im Jahre 1648 die Formel einer „pax christiana universalis perpetua“; doch geht etwa das katholische Kirchenrecht nicht in die neu entstehende Rechtsordnung ein. Zum sozialgeschichtlichen Element der Teilung der Christenheit kommt das naturrechtliche Element mit dessen Menschenbild hinzu. Suárez (De Charitate, Disp. XIII: De Bello, 1621) erklärt einen Religionskrieg gegen die Türken für unerlaubt und plädiert für einen Frieden mit ihnen. Laut Grotius’ De Jure Belli ac Pacis (1625) beschränkt kein Naturrecht den Frieden auf die Christen, vielmehr soll es sich auf die ganze Menschheit erstrecken. Dies hat zwei Folgen: 1. Man versteht unter dem inneren Frieden nicht mehr wie im Mittelalter einen Frieden im menschlichen Gewissen, sondern einen weltlichen Frieden. So trennt Martin Luther sehr streng die Aufgabe des Christen von der Aufgabe des Juristen (Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam

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schuldig sei, 1523, 79 E). Der von den Juristen gestiftete Friede gilt nicht mehr als bloßes Abbild des geistlichen Friedens; der Friede wird zunehmend als Sicherheit gedacht. Um diese zu garantieren, liefert Hobbes seine bekannte Theorie der Staatsautorität (Leviathan, 1651). Der Friede wird zum Zustand der Gewaltlosigkeit. Dabei versteht man unter Gewaltlosigkeit nicht nur die momentane Abwesenheit von Gewalt, sondern auch den Schutz vor dem immer bleibenden Risiko eines Kriegs eines jeden gegen jeden. 2. Der Friede ist nur im Rahmen eines schützenden Staates vorstellbar, so daß sich die von der christlichen Solidarität abgekoppelten Staaten wie Menschen im Naturzustand befinden, unter denen weder Regeln noch Friede herrschen. Während das Problem des Friedens im Staat in der Philosophie an Bedeutung verliert, stellt sich den politischen Denkern nun die Frage nach dem zwischenstaatlichen Frieden um so schärfer. Der auf der innerstaatlichen Ebene erfolgreiche Lösungsvorschlag der modernen Philosophie, die Idee des Gesellschaftsvertrags, mußte daher allmählich auf das zwischenstaatliche Niveau übertragen werden. Damit beschäftigt sich eine andere Variante des naturrechtlichen Denkens, deren größte Vertreter Grotius, Pufendorf und Wolff sind. Im Gegensatz zu Hobbes will sie auch die zwischenstaatlichen Beziehungen juristisch regeln. Vico nennt in De universi juris uno principio et fine uno (1720) die Grundlage dieser Auffassung, indem er erklärt, daß alle Staaten der Welt einer großen Republik angehören. In dieser Universalgemeinschaft oder civitas maxima sind laut Wolffs Ius Naturae (1758) die Selbstvervollkommnung und die gemeinsame Förderung der allgemeinen Wohlfahrt geboten. Nicht nur im Naturzustand, sondern auch in und zwischen ausgebildeten Staaten soll die allgemeine Wohlfahrt vorangetrieben werden. Nach außen verbietet das sogenannte „Völkerrecht“ bewaffnete Interventionen wie Eroberungskriege und allgemein Kriege, die nicht die Herstellung einer gerechten und friedlichen Situation erstreben. Für die Handelsfreiheit, von der sich nicht nur viele frühe Wirtschaftswissenschaftler (vgl. etwa Melons Essai politique sur le commerce, 1734, oder Boisguilberts Dissertation sur la nature des richesses, 1712) in ihrer Zeit den Frieden erwarteten, argumentiert Wolff nicht aus Gründen der Wirksamkeit (wie später Quesnay oder auch Adam Smith), sondern aus rechtlichen, die civitas maxima betreffenden Gründen. Allerdings hält das Naturrecht an einem wesentlichen Unterschied zwischen der Staatsordnung und den zwischenstaatlichen Beziehungen fest: Während die privaten Kriege völlig zu beenden seien, indem der Staat über die Konflikte unter Bürgern entscheide, stritten in den äußeren, öffentlichen Kriegen souveräne Staaten gegeneinander, ohne daß es eine obere Zwangsinstanz, einen Schiedsrichter gebe, deren Einsatz nicht von der Zustimmung der Konfliktparteien abhinge. Für Grotius wäre ein Weltstaat unmöglich zu regieren. Bodins Einwände gegen den Gedanken eines Weltstaates (Sechs Bücher über den Staat, 1576, Buch I, Kap. 10;

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Buch V, Kap. 1) faßt Grotius in das Bild eines Schiffes, das sich nicht steuern läßt (Vom Recht des Krieges und des Friedens, Buch II, Kap. 22, § 13). Darum muß das Zwangsrecht im Fall der Nicht-Einhaltung der naturrechtlichen Verpflichtung von jedem berechtigten Staat selber ausgeübt werden. So unterscheidet sich die naturrechtliche Auffassung von der Hobbesschen nur relativ. Der wesentliche Unterschied liegt darin, daß das Naturrecht ein ius belli ist, d. h. 1. eine Regelung für die Beendigung oder die Vermeidung des Krieges darstellt (das ius ad bellum wird streng beschränkt und geregelt) und 2. für die Einhaltung der natürlichen Pflichten auch im Kriegszustand (ius in bello) plädiert: 1. Um den Krieg zu beenden, bieten sich drei Weisen an: das Colloquium (Diskussion), das Compromissum (Schiedsspruch) und die Fortuna (Zufall); letztere wird von Grotius naturrechtlich disqualifiziert. Vor allem zieht er dem Kriegsanfang strenge legitimatorische Grenzen: nur im Fall der Selbstverteidigung oder der Verletzung eines unter Staaten abgeschlossenen Vertrags darf der Krieg erklärt werden. Außerdem soll die Kriegserklärung öffentlich sein und muß Rechenschaft über die Gründe abgeben. Somit schreibt schon Grotius vor, was Kant systematisch begründen wird. Wie später bei Kant soll bei Grotius ein Friedensvertrag nicht nur den Krieg beenden, sondern auch dessen Ursache ausrotten, so daß der Keim eines künftigen Krieges nicht fortbestehen kann. 2. Im Krieg selber müssen strenge Regeln gelten: das gegebene Wort soll gehalten, die weiße Fahne respektiert und eine Möglichkeit zur Kapitulation vor der Feuereröffnung angeboten werden. Erniedrigende oder gar grausame Behandlungen der Feinde sowie jedes der menschlichen Freiheit und Würde zuwiderlaufende Verhalten werden durch das Naturrecht wie später durch Kants Präliminarartikel verurteilt. Auch wenn das Naturrecht eine Rechtsordnung unter Staaten durch das Völkerrecht entwirft, hängt deren Durchsetzung völlig vom guten Willen der einzelnen Staaten ab. Um die Zwangs- und Sicherheitsgarantie, die der Staat in jedem Land leistet, auch unter den Staaten zu stiften und damit den Frieden zu gewährleisten, werden Pläne einer internationalen Ordnung entworfen. Diese sind von zweierlei Art: Sie wollen den Frieden entweder durch ein pragmatisches Gleichgewicht unter den Staaten oder durch eine rechtsphilosophisch begründete internationale Organisation stiften.

2.3 Friedenspläne und deren Kritiker Auch wenn die Idee des europäischen Gleichgewichts, die sich gegen die kaiserlichen und päpstlichen Neigungen für eine Universalmonarchie richtet, schon bei Humanisten wie Francesco de Vitoria zu finden ist, entwickelt sie sich vor allem aus der vornehmlich in Frankreich, aber auch in den reformierten Staaten zu findenden

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pragmatischen Absicht, dem Expansionismus von Kaiser Karl V., d. h. der Vorherrschaft Österreichs und Spaniens, entgegenzutreten. Dabei sollten alle Länder Europas ungefähr die gleiche Machtfülle erhalten, damit kein Krieg, sondern Harmonie entstehe. Allerdings wird diese Idee oft entweder (a) mit dem Aufbau einer nationalen Einheit verknüpft (etwa in Leibniz’ Securitas publica, 1670, Sämtliche Schriften, 4. Reihe, Bd. 2, mit der Idee eines deutschen Bündnisses gegen Ludwig XIV., oder in den späten Jahren Leibniz’ mit dem Römischen Reich Deutscher Nation als der die Souveränität der einzelnen deutschen Staaten nicht aufhebenden oberen Instanz; vgl. Observation sur le projet d’une paix perpétuelle de Mr. l’Abbé de SaintPierre, 1715), oder (b) mit dem Gedanken der Einflußnahme einer vorherrschenden Macht, die dazu fähig ist, dieses Gleichgewicht gegen Imperialisten zu schützen; so erhält z.B. in Sullys Mémoires des sages et royales Oeconomies d’Estat, domestiques, politiques et militaires de Henri de Grand, 1638 (einem von Sully wegen der Publikumswirksamkeit Heinrich IV. zugeschriebenen Friedensplan) Frankreich sozusagen die Vormundschaft über die anderen Länder des Systems des Gleichgewichts. Hier läßt sich wohl eine versteckte Hegemonie entlarven. Crucés Le nouveau Cynée mißt seinerseits eher dem Papst die entscheidende Rolle bei. Da die Konzeption des Friedens durch das Gleichgewicht unter den Ländern zwangsläufig eine neue Aufteilung Europas erfordert und ein führendes Land für die Erhaltung des Gleichgewichts vorsieht, kann sie zu einem verdeckten Imperialismus führen, der leicht Anlaß für einen Krieg bietet, wie Saint-Pierre betonen wird. Dies zeigt sich bei Richelieus Testament politique (1689) am deutlichsten, der dieses Gleichgewicht in Europa durch eine intensive Aufrüstung Frankreichs, eine Art Abschreckungstheorie, unterstützen will. Crucé und Sully haben das Verdienst, zum ersten Mal Pläne für nicht-religiöse internationale Institutionen zur Friedenserhaltung zu fassen. In diesem sind bei Crucé die verschiedenen Staaten Europas nach ihrer Bedeutung geordnet – die geistlichen Mächte, sprich: zuerst der Papst und im Gegensatz zu den Kreuzzugsprojekten der türkische Sultan, bekommen die ersten Ränge; dann folgen in einer Völkerversammlung, die als Schiedsrichter mit Zwangsbefugnissen ausgestattet ist, die weltlichen Mächte: in der Reihenfolge die Könige Frankreichs, Spaniens usw. Sully sieht eine neue Teilung Europas und ein zweistufiges System von mehreren, jeweils für einen Teil Europas zuständigen Regionalräten und einem allgemeinen Berufungsrat vor, die alle Konflikte dieser „christlichen Republik“ zu schlichten haben. Dennoch sind sowohl bei Crucé wie bei Sully nicht Völker, sondern Könige vertreten; außerdem wird auf die bestehende Macht jedes Staats bei der Verleihung eines Rangs in diesem System geachtet. Im 18. Jahrhundert werden Friedenspläne entwickelt, die zwar von Crucé, Sully und anderen den Gedanken einer internationalen Organisation übernehmen, diese aber nicht als pragmatisches Kalkül eines Machtgleichgewichts, sondern als Rechtsordnung denken. Die ersten Pläne sind allerdings religiös motiviert: W. Penns

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Essay towards the present and future Peace in Europe (1693) und Bellers’ – ein Religionsgenosse Penns – Some reason for an european State (1710) durch ihr religiöses Quäker-Bekenntnis, durch die Vorstellung einer brüderlichen Freundschaft unter Menschen als Grundlage eines friedenstiftenden Staatenkongresses (Penn ist der Begründer von Pennsylvania und nannte die Hauptstadt Philadelphia), und SaintPierres Projet pour rendre la paix perpéttuelle en Europe (1713) durch seine katholische Nächstenliebe. Dennoch argumentieren sie alle unter Annahme des Eigeninteresses als Triebfeder der Fürsten und der Menschen. Saint-Pierre sagt, daß, wie der Eintritt in die Rechtsgemeinschaft zwar die natürliche Freiheit der Individuen begrenzt, sie aber zugleich sichert, es auch für jeden Staat vorteilhaft ist, einer höherstufigen Rechtsgemeinschaft beizutreten. Bellers behauptet, daß die aus dem Frieden resultierende Abrüstung die Gewalt der Fürsten stärken würde; Penn will die Souveränität der einzelnen Staaten völlig erhalten, während Saint-Pierre das Recht des Staatenkongresses auf Einmischung in innere Angelegenheiten nur im Fall einer Revolution und zwecks Erhaltung der Verfassungsform anerkennt. Das Projekt Penns stützt sich aber nicht nur auf die Brüderlichkeit, sondern zugleich auf Zwangseinrichtungen, etwa auf die Verpflichtung der einzelnen Staaten, ihre Macht für die Durchsetzung der Entscheidungen einzusetzen; nicht zuletzt das Verbot, sich bei den Entschlüssen und Schiedssprechungen des Kongresses im Konfliktfall zu enthalten, soll Intrigen vermeiden. Als Beweis der Durchführbarkeit ihrer Projekte führen Penn, Bellers und Saint-Pierre das Vorbild konföderalistischer Staaten wie der Niederlande, der Schweiz oder auch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation an. Nach dem Muster des Gesellschaftsvertrags traut Saint-Pierres Plan nicht dem Gleichgewicht unter Staaten oder freiwillig abgeschlossenen und stets zu widerrufenden Verträgen, sondern will vielmehr um des ewigen Friedens willen jeden Staat zwingen, dem Staatenkongreß beizutreten und Geld und Soldaten zur Verfügung zu stellen. Noch immer in Analogie mit den Individuen soll jedem Staat eine Stimme verliehen werden, wie groß er auch immer sein möge. Wie in einem Verfassungsstaat werden manche sogenannte Grundartikel des Staatenkongresses für unveränderbar erklärt, während andere wichtige mit qualifizierter Mehrheit (Zweidrittelmehrheit) und weitere mit einfacher Mehrheit zu ändern sind. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wird immer wieder die Handelsfreiheit verlangt, indem der Merkantilismus und die Handelsschranken als kontraproduktiv, d. h. als Ursache der Armut und der Kriege angeklagt werden (etwa Boisguilbert, Melon, Hume, Turgot, Mably). Andererseits plädiert man für die Toleranz in Meinungsund Glaubensangelegenheiten. Damit erhofft sich z. B.Voltaire die Abschaffung vieler Ursachen von inneren und äußeren Kriegen. Manche Denker glauben, daß die Freiheit allein, d. h. ohne internationale Zwangseinrichtungen, die Ausrottung des Krieges mit sich bringen kann. Benthams A Plan for an universal and perpetual

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peace (verfaßt 1786–1789, veröffentl. 1843) schlägt z. B. einen Abrüstungsvertrag und einen internationalen Gerichtshof vor. Seiner Meinung nach bedürfen sie keiner Zwangsanstalt, da alle Staaten ein Interesse daran haben. Denn die Handelsfreiheit und die Abschaffung der durch die Aufrüstung verursachten Steuerlast sowie die Publizität der Debatte in dieser Anstalt, in der alle Staaten vertreten sind, stellen offensichtlich schon für jeden Staat einen Vorteil dar. Die Staaten haben selbst zu bestimmen, mit wieviel Truppen jeder von ihnen dem Gerichtshof Hilfe leisten solle. Es ist dann nur ein kurzer Schritt, in den mit Zwangsbefugnis ausgestatteten Organisationen Saint-Pierres und Benthams eine Beschränkung der Freiheit, ein unwirksames Mittel für den Frieden oder gar ein Risiko der Welttyrannei zu sehen. Wittich (Dissertatio juris gentiumet publici, de tuendo aequilibrio Europae, 1723) hält es für ungerecht, daß auf diejenigen, die dem Bündnis nicht beitreten oder ihren Austritt erklären, Zwang ausgeübt werden soll. Rousseau sieht in einem Staatenkongreß eine unvermeidbare Souveränitätskollision zwischen den einzelnen Staaten, da die Souveränität sich nicht verteilt: ein Staatenkongreß würde die Staaten ihrer Freiheit berauben und wird daher auch von keinem Staat akzeptiert (vgl. Jugement sur le projet de paix perpétuelle, 1756). So müssen die Staaten bei Rousseau im Naturzustand des Krieges bzw. der Kriegsbereitschaft eines jeden gegen jeden verbleiben (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, 1754). Seiner Ansicht nach ist der Krieg unter Staaten ein unvermeidliches Übel, da sich die Staaten miteinander vergleichen müssen und von widerläufigen Interessen getrieben werden (Fragments sur la guerre, § 3). Wünschenswerter als ein Friedensplan wäre deshalb nach Rousseau ein jus in bello auf die Weise des Naturrechts (Emile, 1762, V): Bündnisse und Schutzverträge können immer nur regional und gegen andere Staaten zustande kommen (Extrait du projet de paix perpétuelle de l’Abbé de Saint-Pierre, 1756); die Handelsfreiheit führt nicht zum Weltfrieden, sondern vielmehr zum Handelskrieg, so daß Rousseau für eine wirtschaftliche Autarkie eintritt (Project de constitution pour la Corse, 1765, veröffentl. 1861). Ein den Frieden in Europa stiftender Staatenkongreß würde nur den Status quo anerkennen und den Übergang der bestehenden Staatsordnungen zur Demokratie verhindern. Diderots und d’Alemberts Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1780, Art. „Guerre“) vertritt sogar die Meinung, der Krieg sei nicht nur unvermeidlich, sondern mache auch die menschliche Gattung stärker: er erwecke die Tugend und schütze gegen die Trägheit. Diese Idee entspricht auch Leibniz’ Auffassung, nach der der Weltfriede nicht mehr die Weltharmonie darstellt, sondern ihr untergeordnet sein soll. Leibniz unterscheidet zwischen dem ius strictum (strengem Recht), das gebietet, den Frieden zu sichern und niemandes Rechte zu verletzen (Codex diplomaticus, 1693, § XIII), und der universellen oberen Gerechtigkeit, die Konflikte erfordert; in der von Gott einge-

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richteten bestmöglichen Welt impliziert die erwünschte Vervollkommnung der Monaden zugleich ein Konkurrenzverhältnis zwischen ihnen. Das Streben nach Harmonie – die Koexistenz möglichst weitentwickelter Monaden – ist mit Unruhe verbunden (vgl. Confessio philosophi, Sämtliche Schriften und Briefe, 6. Reihe, Bd. III). Insoweit sind nur begrenzte Interessenbündnisse, aber kein ewiger Friede möglich. Leibniz (Codex diplomaticus) spricht schon von dem Spruch der holländischen Herberge, den Kant am Anfang von Zum ewigen Frieden erwähnt: nur auf dem Friedhof sei der ewige Friede zu finden! Die Französische Revolution übernimmt z.T. die Meinung der Vertreter der Handels-, Berufs- und Religionsfreiheit. Nur partikuläre Interessen (die Machtvergrößerung des Königs im Merkantilismus bzw. die Privilegien des Adels im Fall der Nicht-Zugänglichkeit mancher Berufe für die Nichtadeligen bzw. die Dogmen der Kirche) verhindern das harmonische Zusammenleben der Menschen. Sie verursachen immer wieder Bürgerkriege und Eroberungskriege, die zu verpönen sind. Die für die bisherigen Kriege verantwortlichen Institutionen sollen deswegen abgeschafft werden. Dazu ist aber eine Revolution, ein Bürgerkrieg gegen den Despotismus vonnöten. Um des ewigen Friedens willen ist ein letzter, im naturrechtlichen Sinne gerechter Krieg erforderlich; aber nicht mehr ein Krieg von Staaten gegeneinander, sondern von den Unterdrückten gegen die Unterdrücker, von den rechtlich Verletzten gegen den rechtlich Verletzenden. Nun ist dieser Bürgerkrieg selbstverständlich ein Weltbürgerkrieg und erzielt nicht den Staatsfrieden, sondern den ewigen Menschheitsfrieden (vgl. Cloots: La République universelle, 1792; J. G. Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, 1793; J. Madison: Universal Peace, 1792). Dieser Friedensgedanke rief bekanntlich nicht nur in Frankreich erhebliche Begeisterung hervor, die z.T. dazu führte, daß die alliierten Monarchen Europas den Krieg gegen die Französische Revolution erklärten und damit eine mehr als zwanzigjährige Kriegsperiode in Europa begannen, in der die Revolutionsgedanken sich zu verbreiten und durchzusetzen versuchten. In dieser Periode ist der Anlaß von Kants Zum ewigen Frieden, der Basler Friede, nur ein Waffenstillstand im Kantischen Sinne gewesen.

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3 Die negativen Bedingungen des Friedens 3.1 Einleitung: Anlaß, Form und Titel der Schrift Am 5. April 1795 wurde nach langen Verhandlungen der Baseler Friede zwischen Frankreich und Preußen geschlossen. Durch ihn schied Preußen aus der antirevolutionären Koalition mit Österreich und England aus, die seit über drei Jahren gegen Frankreich Krieg führte. Es brach damit die diplomatische Isolierung Frankreichs auf und trat ihm überdem die linksrheinischen Besitzungen ab. Weil es damit seine Pflichten als Stand des Habsburgischen Kaiserreichs verletzte, war der Friede sehr umstritten. Er wurde vor allem in Preußen und Frankreich zum Teil enthusiastisch begrüßt, aber im Reich, das den Krieg noch zwei Jahre weiterführte, als Verrat empfunden. Kant sagt nirgends, daß diese Ereignisse der Anlaß zu seiner Friedensschrift gewesen seien, weshalb es zuweilen bezweifelt (Klemme 1992, XI) oder gar resolut bestritten wird (z. B. Berkemann 1972, 126). Aber Jachmann berichtet im „Zwölften Brief“ seiner Biographie (1804), daß Kant oft den Wunsch geäußert habe, Preußen möge sich nicht in die Angelegenheiten Frankreichs einmischen, und daß er sich „innig“ darüber gefreut habe, „als dieser Wunsch erfüllt wurde“ (Groß 1912, 175). Der Friedensschluß war nicht nur – auch an Kants Tisch – Tagesgespräch, sondern er löste überdem eine ganze Flut von Publikationen aus. Otto Tschirch, der beste Kenner der „öffentlichen Meinung“ im damaligen Preußen, hat allein in der Preußischen Staatsbibliothek (Berlin) und der Sächsischen Landesbibliothek (Dresden) über 80 Flugschriften aus den Jahren 1795 und 1796 zum Baseler Frieden gefunden (Tschirch I 1933, 64). Schriften über den möglichen Austritt Preußens aus dem Krieg gab es indes schon früher. Etwa Wieland plädierte 1794 in mehreren Publikationen für den Frieden (Dietze/Dietze 1989, 59 ff.). Es ist fast sicher, daß Kant sie gelesen hat. Kaum etwas spricht also gegen die Annahme, daß der Baseler Friede der Anlaß zur Friedensschrift war, am wenigsten die relativ kurze Zeitspanne von vier Monaten zwischen dem Friedensschluß und der Ankündigung der fertigen Schrift an den Verleger Nicolovius (13. 8.1795; XII 35). Wenn Kant etwas durchdacht hatte, schrieb er es zuweilen unglaublich schnell nieder, z. B. die Kritik der reinen Vernunft nach eigenem Zeugnis „in etwa 4 bis 5 Monaten“ (X 338). Da das Erdenken des Friedens bei ihm nicht erst 1795 einsetzte, sondern schon eine längere Geschichte hatte und übrigens in der gebildeten Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts eine reiche Tradition (Dann 1970, 100 ff.), dürfte es ihm nicht allzu schwergefallen sein, auf das Zeitereignis sofort

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zu reagieren – allerdings in einer grundsätzlichen Weise, die den bloßen Anlaß weit hinter sich ließ. Kant bringt seine Friedensschrift in die literarische Form eines Friedensvertrages. In völkerrechtlichen Vertragswerken des 17. und 18. Jahrhunderts ging zuweilen dem definitiven Friedensvertrag ein „Präliminarvertrag“ voraus, in dem sich die Parteien über die Bedingungen für die Beendigung des Kriegszustandes und für den Abschluß des späteren endgültigen Friedensvertrages einigten. Analog zu dieser Usanz bilden die Präliminarartikel den Präliminarvertrag, die Definitivartikel mit den Zusätzen und Anhängen den Definitivvertrag. Kant vereinigt aber beide Verträge in einem, innerhalb dessen die Präliminarartikel die negativen und die Definitivartikel die positiven Bedingungen des künftigen Friedens nennen, während die Zusätze und Anhänge von dessen Gefährdungen und Sicherungen handeln. Man könnte diese Form ästhetisch für einen genialen Einfall halten. In der Form eines Friedensvertrages vom Frieden zu sprechen bedeutet, Materie und Form zur Deckung zu bringen und dieser Schrift einen Abglanz von Kunst zu verleihen. Sie ist denn auch zweifellos ein gediegenes, ein besonders geglücktes Werk Kants. Aber sprechen nicht alle Friedensverträge vom Frieden? Müßte man somit nicht allen zubilligen, in ähnlicher Weise wie Kants Schrift Kunstwerke zu sein? Der Unterschied liegt auf der Hand: Verträge wie etwa der Baseler Friedensvertrag fixieren rechtlich den Ausgang eines bestimmten Krieges. Kants Friedensschrift ist nicht ein Vertrag dieser Art, auch nicht ein Mustervertrag für Friedensverträge. Er will nicht bloß einen bestimmten Krieg in einen Frieden auf Zeit überführen, sondern den Krieg in den Frieden. Er ist der ursprüngliche Vertrag, der jeden partikularen Rechtszweck bestimmter Situationen überschreitet hin auf den letzten Zweck des ganzen „öffentlichen Menschenrechts überhaupt“ (360). Er ist gleichsam der Vertrag der Verträge: die „Legitimationsgrundlage für jeden Vertrag“ und somit auch „für alle in der Geschichte der Menschheit möglichen Friedensverträge zwischen Staaten“ (Geismann 1983, 369). – Der Baseler Friede wurde also Kant zum Anlaß, einen ganz anderen Frieden zu denken, und die Form des völkerrechtlichen Vertrages wurde ihm zur Metapher für einen Vertrag, den es noch nie gegeben hat. Damit läßt sich verstehen, weshalb Kant seine Schrift im Untertitel einen „philosophischen Entwurf“ nennt: Ein Vertrag von nicht mehr endlichen Rechtszwecken kann kein rechtlicher Vertrag sein, ja überhaupt kein Vertrag. Er ist vielmehr eine philosophische Idee in der Form eines Vertrags, die auf die „transzendental rechtliche Natur des Friedens“ (Freudenberg 1967, 68) hinweist. „Entwurf “ aber hat im Kantischen Sprachgebrauch weder die weite Bedeutung von „Vorarbeit“, „Skizze“ oder „Umriß“, denen noch eine „Ausführung“ folgen könnte oder sollte, noch die enge von „Plan“ oder gar „Programm“, sondern an den

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entscheidenden Stellen die spezifische von „Erdenken einer möglichen Wirklichkeit aus transzendentalen Prinzipien a priori“. So beschreibt er in der Kritik der reinen Vernunft (B XIII), wie den großen Naturforschern ein Licht aufgegangen sei: „Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, da sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse …“ (III 10). Dieses Vorgehen des Denkens, das Einheit nach Gesetzen in die Vielheit bringt und erst dadurch Wirklichkeit verstehen läßt, ist im Bereich der praktischen Vernunft nicht anders, weder beim Erdenken eines „Leitfadens der Geschichte“, wo Kant den transzendentalen Historiker ausdrücklich mit Kepler und Newton vergleicht (VIII 18), noch beim Erdenken eines möglichen ewigen Friedens aus Rechtsprinzipien. – Der Untertitel „philosophischer Entwurf“ ist nicht ganz so bescheiden, wie er alltagssprachlich klingen mag, sondern mit dem Anspruch verbunden: Hier wird der Weg zum Frieden verstehbar gemacht, weil ihn die Vernunft selbst nach ihrem Entwurf aufzeigt. Kant leitet seine Friedensschrift mit einer Clausula salvatoria, einer Schutzklausel, ein, die den Charakter einer ironischen öffentlichen Verwahrung in eigener Sache angesichts der drohenden Zensur hat, aber zugleich geschickt und witzig die Protagonisten zweier entgegengesetzter Formen des ewigen Friedens vorstellt. „Zum ewigen Frieden“, so sagt er, heiße eine „satirische“ Inschrift auf dem Schild eines holländischen Gasthauses, „worauf ein Kirchhof gemalt war“. Man wisse bloß nicht, wem diese Kirchhofsruhe zugedacht sei: ob allen „Menschen überhaupt“ oder „besonders“ den Staatsoberhäuptern, „die des Krieges nie satt werden können“, oder „gar nur“ den Philosophen, „die jenen süßen Traum träumen“ (343). Das Bild vom Friedhof, das Kant offenbar von Leibniz übernommen hat (Cavallar 1992, 21 f.), taucht im 6. Präliminarartikel wieder auf: Wenn der Krieg zum Ausrottungskrieg verkomme – und diese Tendenz liegt für Kant in allen „ehrlosen“ (346) Formen der Kriegsführung, dann werde der ewige Friede „nur auf dem großen Friedhofe der Menschengattung stattfinden“ (347). Der ewige Friede als horror vacui einerseits und als „letztes Ziel des ganzen Völkerrechts“ (VII 158) andrerseits: das sind die beiden Pole, innerhalb deren Politik gemacht wird. Die Macher sind die „praktischen Politiker“, die, angeblich „weltkundig“ (343) und klug, in Wahrheit aber der„Klügelei“ (385) verfallen, von „Erfahrungsgrundsätzen“ ausgehen; die theoretischen Politiker dagegen sind jene ebenfalls vermeintlichen „Schulweisen“, in Wahrheit aber Philosophen in weltbürgerlicher Absicht, die den süßen Traum vom ewigen Frieden träumen und diesen dann aus ganz anderen Grundsätzen denken. Die persönliche Verwahrung gegen die drohende Zensur spielt sarkastisch mit dem Szenario der Exposition: Wenn man im Lager der praktischen Politiker ohnehin die „sachleeren Ideen“ eines Philosophen für so harmlos und ungefährlich

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halte, daß man ihn „seine elf Kegel auf einmal werfen lassen“ (343) könne, so möge man doch auch die Konsequenz aufbringen, „hinter seinen auf gut Glück gewagten und öffentlich geäußerten Meinungen nicht Gefahr für den Staat zu wittern“ (ibid.). Natürlich wußte er, daß er mit dieser Konsequenz nicht rechnen durfte und daß es für die Zensur drei neuralgische Punkte gab: Äußerungen in religiösen Belangen – denen er ohnehin, nachdem am 1. Oktober 1794 eine vom Justizminister Wöllner unterzeichnete Königliche Kabinettsordre an ihn ergangen war, auf Zeit abgeschworen hatte –; kritische Äußerungen in landespolitischen Fragen – denn ein neues Zensuredikt vom März 1792 bestimmte, daß „jeder Tadel der inneren Verwaltung und der Landesgesetze bestraft werden sollte“ (Cavallar 1992, 14) – und kaum verhülltes Lob für Frankreich; denn der Jakobinerverdacht war das Gespenst, das im Lande umging. Wie gefährlich ihm die „Parteilichkeit“ (VII 85) für Frankreich, deren Allgegenwart er selbst 1797 noch für gewiß hielt, und die Kritik an der preußischen Gesetzgebung, an der Armee und an der Verwaltung werden konnten, wußte er. Er unterzog sich diesen Schikanen in der Haltung eines gehorsamen, nun aber auch „klugen“ Staatsbürgers. Niemand kann geradezu bemessen, welche Auswirkungen die Drohung der Zensur auf Kants Friedensschrift im einzelnen hatte. Die beste Hypothese ist, daß der Satz noch immer galt, den er viele Jahre zuvor (1766) an Mendelssohn geschrieben hatte: „Zwar denke ich vieles mit der allerklarsten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit, was ich niemals den Mut haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen, was ich nicht denke.“ (X 69)

3.2 Die Präliminarartikel im ganzen Die Präliminarartikel machen umfangmäßig etwa den achten Teil der Friedensschrift aus. Sie stellen, mit Ausnahme der relativ langen Schlußanmerkung über Erlaubnisgesetze, kaum Interpretationsprobleme. In der Kant-Literatur wurden sie deshalb bis heute nur selten eingehend erörtert, nämlich bei Williams (1983, 245–253) mit überwiegend historischem, bei Geismann (1983, 369–376) mit ausschließlich rechtsphilosophischem und bei Cavallar (1992, 100–132) gleichermaßen mit historischem und rechtsphilosophischem Interesse. Trotz dieses Schattendaseins sind sie in zweifacher Hinsicht wichtig: Systematisch gesehen bilden sie den negativen Teil von Kants Philosophie des Friedens, und pragmatisch gesehen greifen nur sie konkret in den politischen Alltag ein. Sie nennen nämlich das, was sofort unterlassen werden müßte, falls der Friede à la longue nicht auf dem Friedhof der Menschheit stattfinden soll. Weil nur sie unmittelbar wehtun, verlangte ihre Formulierung vielleicht mehr politischen Mut als die der „süßen Träume“ von der nicht kriegssüchtigen Republik, vom Völkerbund und vom Weltbürgerrecht.

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In einer Vorarbeit hat Kant die Präliminarartikel wie folgt skizziert: „Vom ewigen Frieden. Mittel dazu. 1) Keine alten Ansprüche reservieren. 2) Keine unabhängigen Länder erobern. 3) Keine stehende Armee (perpetuus miles) zu halten. 4) Keinen Schatz zu sammeln. 5) Keine Staatsschulden zu machen. – Das sind negative Mittel.“ (XXIII 155) – Das unter 1) genannte Verbot ist in der Druckfassung an erster Stelle geblieben und als Verbot der „geheimen Vorbehalte … zu einem künftigen Kriege“ (VIII 343) präzisiert worden. Das 2. Verbot der Vorarbeit wurde in der Druckfassung in zwei Verbote aufgeteilt, deren eines (Artikel 2) verbietet, Staaten wie eine persönliche Habe zu erwerben, und deren anderes (Artikel 5) verschärfend untersagt, sich in die Verfassung und Regierung anderer Staaten überhaupt gewalttätig einzumischen. Das 3. Verbot der Vorarbeit wurde an gleicher Stelle in die Druckfassung übernommen. Das 4. ging in den Kommentar zum 3. Präliminarartikel ein, und das 5.Verbot der Vorarbeit wurde zum 4. der Druckfassung. Zusätzlich hat Kant in die Druckfassung ein Verbot aller Kriegshandlungen aufgenommen, die das wechselseitige Vertrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen, so daß die Präliminarartikel schließlich die Verbote umfassen: 1. der geheimen Kriegsvorbehalte bei Friedensschlüssen, 2. der privatrechtlichen Erwerbung von Staaten, 3. der stehenden Heere, 4. der Staatsverschuldung in Beziehung auf äußere Konflikte, 5. der gewaltsamen Einmischung in andere Staaten, 6. der ehrlosen Kriegshandlungen. Kant verbindet die Verbote argumentativ kaum miteinander. Er gibt keine Systematik, sondern nur eine nachträgliche Gruppierung nach den Typen der Verbotsgesetze. Jedem Artikel fügt er einen kurzen Kommentar bei, der zuweilen in der Argumentation ziemlich sprunghaft ist und gelegentlich weitere Verbote nennt, die nicht weniger wichtig sind als das im Titel genannte. Einen konsequenten Versuch der rechtsphilosophischen Systematisierung hat Geismann gemacht (1983, 369), aber nicht ohne in gewisse Verlegenheiten zu geraten. Das Verbot der stehenden Heere kommt nämlich in Kants Rechtslehre nicht vor, sondern ist eine Besonderheit der Friedensschrift. Wie geht man also damit systematisch um? Man verbirgt es in einer Fußnote und verwandelt es im Text zu einem Gebot der„Bereitschaft zu wechselseitiger und allgemeiner Abrüstung“ (a.a.O., 371), oder man spricht, wie Cavallar, der Geismanns Systematisierung für „sinnvoll“ (a.a.O., 103) hält und sie deshalb übernimmt, von einem Verbot des „militärischen Hoch- und Wettrüstens“ (a.a.O., 100). Daß die Systematisierung mißlingen muß, hat einen einfachen Grund: Die Präliminarartikel sind nicht als rechtsanalytische Herleitungen entstanden, sondern als Einsprüche der Vernunft gegen die vorherrschende politische Praxis. Daß sie rechts- und moralphi-

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losophische Implikationen enthalten und zuweilen auch aus ihnen argumentieren, versteht sich, darf aber nicht ihre pragmatische Dimension unterschlagen. Für unsere Interpretation der einzelnen Präliminarartikel wählen wir die Reihenfolge 1, 6, 5 (leges strictae), 2, 3, 4 (leges latae). Die Artikel 1 und 6 öffnen gemeinsam den Raum, innerhalb dessen die Verbote ausgesprochen werden: Der Wille zum Frieden soll bedingungslos sein (1) – aber die Staaten stehen noch im Naturzustand zueinander, in dem der Krieg weiterhin möglich bleibt (6). In diesem rechtlich ungesicherten Raum soll fortan jeder Staat „sich selbst reformieren“ (XXIII 155) dürfen: also keine gewaltsame Einmischung in die Verfassung und Regierung anderer Staaten (5) und keine Erwerbung eines Staates, als ob dieser eine private Habe wäre (2). Wenn man wirklich den Frieden will, muß man auf die Mittel, die den Krieg jederzeit möglich machen, verzichten: also Abschaffung der stehenden Heere (3), des Kriegsschatzes (3) und des Kreditwesens „in Beziehung auf äußere Staatshändel“. All das ist und garantiert noch nicht den positiven Frieden, aber legt ihm ein Fundament.

3.3 Die strengen Verbotsgesetze Der 1. Präliminarartikel heißt im Wortlaut: „Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.“ (343) Kant kommentiert das Verbot mit vier Argumenten: Das erste ist begriffsanalytischer Art: Ein Friede, auf den wieder ein Krieg folgt, ist lediglich ein Waffenstillstand und damit ein „Aufschub der Feindseligkeiten“. „Friede“ im strengen Sinn aber bedeutet „das Ende aller Hostilitäten“. Deshalb sei die Formel „ewiger Friede“ „ein schon verdächtiger Pleonasmus“, verdächtig wahrscheinlich, weil sie impliziert, daß es auch den nicht-ewigen Frieden gebe. Erst durch diese begriffsanalytische Unterscheidung wird der Titel der Schrift verstehbar. Nun weicht aus ihm alle Ironie, die er in der Clausula salvatoria hatte. Der Begriff in seinem Ernst fällt unausgesprochen ein Urteil über die ganze Geschichte der Menschheit: Sie war bisher die Zeit der Kriege und der Waffenstillstände, also insgesamt eine friedlose Zeit. Zugleich geht von der Unterscheidung ein moralischer Anspruch auf den Sprachgebrauch aus: Der Waffenstillstand soll „Waffenstillstand“ heißen und nicht Frieden. Mit der sprachlichen Exaktheit fängt der Friede an, sofern sie selber ein Ausweis der Wahrhaftigkeit ist. Verständlich wird auch noch einmal, warum der Friede entworfen werden muß. Als ewiger Friede kann er unmöglich a posteriori verstanden, sondern muß a priori erdacht und gestiftet werden. Die zentrale Bedingung für den negativen Frieden nennt Kant im zweiten Argument: Alle objektiv vorhandenen Gründe (Kant sagt „Ursachen“) zum künftigen

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Krieg „sind durch den Friedensschluß insgesamt vernichtet“ (343), wie gut sie auch historisch beleg- und beweisbar sein mögen. Das Argument folgt zwingend aus der begrifflichen Klärung. In einer Reflexion aus der Zeit (Refl. 7837; XIX 530) stellt Kant diesen Zusammenhang her und weist auf seine wichtigste Konsequenz hin: „Ein Friede muß, jederzeit als ewige Aufhebung alles Rechtsstreits aus Gründen, die gegenwärtig existieren, angesehen werden; denn sonst ist die Suspension der Feindseligkeiten nur ein armistitium, wo man sich noch immer Gründe zu künftigen Feindseligkeiten vorsätzlich aufbehält. Also setzt ein jeder Friede voraus, daß alle Ansprüche, die bis auf den Zeitpunkt ein Staat auf den andern haben konnte und die zu Feindseligkeiten Anlaß geben könnten, abgetan und für Null erklärt sind. Mithin macht der Friede einen neuen Abschnitt zwischen zwei Staaten, über den hinaus zurück nichts hervorgesucht werden darf, was nicht als abgemacht betrachtet würde.“ Wenn also der Friede ewig sein soll, muß der Wille zum Frieden absolut und unbedingt sein – und wenn er unbedingt ist, so hält er alle früher bestehenden Kriegsgründe für null und nichtig. Der Friede hat deshalb einen epochalen Charakter. Mit ihm beginnt im Leben zweier Völker eine ganz und gar neue Zeit. Er ist nicht die Fortsetzung der bisherigen Politik, sondern die Schaffung einer neuen Ara des politischen Denkens und Handelns, die mit einer radikalen Umkehr der Denkungsart verbunden ist. Einige Autoren haben daraus geschlossen, Kant fordere „die bedingungslose, wechselseitige Anerkennung des Status quo“ (Cavallar 1992, 105). Davon kann gar nicht die Rede sein; denn eine derartige Politik wäre auch eine Friedhofsruhe. Verlangt wird lediglich, daß die Gründe der künftigen Veränderung, die unbedingt notwendig ist, weil mit dem Frieden ja eine neue Ära der Politik beginnt, nicht althergebrachte Kriegsgründe sind, sondern neue Gründe der Reform und daß somit die Veränderung des Status quo nicht gewaltsam ist. Das dritte Argument wendet sich diesen künftigen Gründen zu. Sie werden nur dann nicht zu neuen Kriegsgründen, wenn mit der Mentalität des Nachrechnens auch die Mentalität der geheimen Vorbehalte, diese „Jesuitenkasuistik“ der „reservatio mentalis“, die „unter der Würde der Regenten“ und ihrer Minister ist, ein für allemal abgelegt wird. Denn aus der Verbindung der geheimen Vorbehalte mit dem „bösen Willen“ erfolgt die Fortsetzung des Krieges bei der „ersten günstigen Gelegenheit“ (344). Im Traktat zum ewigen Frieden in der Philosophie (VIII 422) steht der Satz: „Die Lüge … ist der eigentlich faule Fleck in der menschlichen Natur …“ Im 1. Präliminarartikel wird das Argument nicht im engen Sinn – das Wort kommt darin nicht vor – gegen die Lüge geführt, sondern einerseits gegen die Heimlichkeit, die dem Prinzip der Publizität widerspricht, und andrerseits gegen die Mentalität des Vorbehalts, die der Unbedingtheit des Friedenswillens nicht nachkommt. Die Lüge in

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der Politik legt sich fest, indem sie ausgesprochen wird. Sie hat einen punktuellen Charakter. Deshalb kann man sie auch überführen. Die Mentalität der Vorbehalte aber ist eine offene Disponibilität für alle künftigen Gelegenheiten: ein Hang und eine prinzipielle Bereitschaft zum Vertragsbruch, schon bevor er gebrochen wird. Daß einem lügenhaften Vertrag die Geltung abgesprochen wird, versteht sich von selbst. Kants Einspruch ist weit strenger: daß schon einem Friedensvertrag die Vertragsfähigkeit und Geltung abgesprochen wird, der nicht sowohl in bezug auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft uneingeschränkt die Prinzipien des Krieges verläßt. Der Schluß des Artikels zeigt, daß Kant sich der Radikalität seiner Forderung durchaus bewußt war. Diese, so sagt er, müsse für „schulmäßig und pedantisch“ gehalten werden, wenn man „nach aufgeklärten Begriffen der Staatsklugheit“ die wahre Ehre des Staates „in beständiger Vergrößerung der Macht“ sehe – „durch welche Mittel es auch sei“ (344). Niemand dürfte damals die Anspielung auf Friedrich den Großen überhört haben, der exakt nach diesem Rezept seine Kriegspolitik betrieben hatte: zynisch, nie um historische Gründe verlegen und jederzeit voller Vorbehalte – zur eigenen Ehre, die er für die Ehre des Staates hielt. Der Wille zum Frieden muß absolut sein, gerade weil die „natürlichen“ Beziehungen der Staaten zueinander nicht friedlich sind. Die überall vorherrschende Realität ist der „Zustand des Krieges“ (VI 344) aufgrund der mangelnden Rechtsverhältnisse, wenn auch nicht immer der akute Krieg. Also muß der Wille zum Frieden bereits vor dem Friedensschluß im Krieg wirksam sein, d. h., der Krieg muß „sich mit einer allgemeinen friedlichen Gesinnung zusammenschicken“ (Refl. 8062; XIX 598). Kant nennt im 6. Präliminarartikel die Bedingung dafür: „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen …“ (346) Als solche Feindseligkeiten werden dort und in der Rechtslehre (§ 57) genannt: Meuchelmord, Giftmischerei, Brechung der Kapitulation, Anstiftung zum Verrat, Spionage, Verbreitung falscher Nachrichten, Plünderung des Volks und Heckenschützen. Sie sind allesamt „ehrlose Stratagemen“ (346), „höllische Künste“ (347) „niederträchtige“ (ibid.) und „heimtückische Mittel“ (VI 347), die sich „nicht lange innerhalb der Grenze des Krieges halten“ (VIII 347), sondern auch in den Friedenszustand (den Waffenstillstand) ausgreifen und diesen erneut in den Krieg überführen. Aber den eigentlichen Schaden fügen sie im und gleichsam dem Krieg zu, und zwar in mehrfacher Weise: Sie zerstören im Krieg jegliches Vertrauen in „die Denkungsart des Feindes“ (346), ohne das kein Friedensschluß und infolgedessen auch kein Frieden mehr möglich ist, weil dieser, als Vertrag, auf der aktiven und passiven Vertrauensfähigkeit beruht. Sie machen deshalb aus dem Krieg, der seinem Wesen nach – ganz

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anders als der Frieden – nicht absolut ist, einen „unendlichen Krieg“ (Refl. 8063; XIX 599) der Zeit nach und einen totalen Krieg der Betroffenheit nach: einen „Ausrottungskrieg“, und zerstören so das bißchen Recht, das trotz allem noch in ihm ist, indem sie ihn mit einer schrankenlosen Erlaubnis der Mittel und mit widersinnigen Zwecken ausstatten. Sie rauben ihm damit auch das negative naturrechtliche Surrogat eines Sinns. Kant steuert dieser Tendenz entgegen, indem er die naturrechtliche Funktion des Krieges in ihren Grenzen aufzeigt und von daher nach den unerlaubten Mitteln auch die unerlaubten Zwecke des Krieges zurückweist. Der Krieg, so sagt er, ist lediglich ein „trauriges Notmittel im Naturzustande“ (347), das seine Berechtigung nur hat, weil es kein internationales bürgerliches Recht und keine Rechtsinstitutionen gibt, die einen öffentlichen Rechtsgang in einem Prozeß möglich machen. Da niemand verbindlich Recht sprechen kann, darf das bedrohte oder verletzte eigene Recht durch eigene Gewalt geschützt, gewahrt oder zurückgefordert werden, wobei der Ausschlag des Waffengangs wie ein Gottesurteil Recht schafft, weil es keine andere Art von Gerechtigkeit gibt. Gäbe es diese, so wäre es ihre Aufgabe, den Krieg überflüssig zu machen. Zwar kann man ihm teleologische Funktionen zudenken; aber auch diese müssen in seine Aufhebung münden. Denn die moralische Vernunft spricht „in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen Mir und Dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten … – denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll“ (VI 354). Weil der Krieg nicht unendlich und absolut werden darf, müssen auch seine Zwecke eingegrenzt werden: Der Ausrottungskrieg, zu dem die ehrlosen Mittel notwendig führen, „muß schlechterdings unerlaubt sein“ (347), weil er alles Recht und ineins damit die ganze Menschheit verschlingt. Von diesem kategorischen Verbot geht eine Regel für das Maß der Gewalt im Krieg aus: erlaubt kann nur so viel Gewalt sein, „als mit der Erhaltung des menschlichen Geschlechts bestehen kann“ (Refl. 8067; XIX 600). – Der Bestrafungskrieg ist unerlaubt, weil alle Staaten gleichermaßen Rechtssubjekt sind und somit „kein Verhältnis eines Obern zu einem Untergebenen stattfindet“ (347). – Schließlich verbietet die „Rechtslehre“ (§ 57) den Unterjochungskrieg, weil er „eine moralische Vertilgung eines Staats“ (VI 347) wäre, d. h. ihn als Rechtssubjekt aufheben und sein Volk der Knechtschaft überantworten würde. Das Prinzip aller Einschränkungen des Krieges, ob nun in den Mitteln, in den Zwecken oder in der Funktion, kann man auf den einfachen Nenner bringen: Der Krieg soll nach Grundsätzen so geführt werden, daß er den Frieden nicht notwendig verhindert. – Gar nicht auszudenken, worauf die Kriegführung unserer Tage verzichten müßte! Dem 6. Präliminarartikel entspricht § 57 der Rechtslehre, der das „Recht im Kriege“ (VI 347 f.) abhandelt. Kant sagt dort, daß dieser Teil des Völkerrechts am

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meisten Schwierigkeiten mit sich bringe, weil man sich andauernd „ein Gesetz in diesem gesetzlosen Zustande zu denken“ habe. Die Schwierigkeiten zeigen sich in den Präliminarartikeln in mehrfacher Weise: Kant spricht offenbar von Recht auf ganz verschiedenen Ebenen, die er nicht immer „pedantisch“ trennt. So herrscht etwa der Naturzustand nur in den äußeren Wechselverhältnissen der Staaten vor. Innerhalb dieses naturrechtlichen Weltkriegszustandes aber sind die einzelnen Staaten für sich bereits Inseln des bürgerlichen Rechts. Für jeden Staat sind also der Naturzustand und der bürgerliche Zustand zugleich gegeben, der eine in den äußeren, der andere in den inneren Beziehungen. Sofern die äußeren aber die inneren mitbetreffen, überschichten sich in gewissen Konflikten Naturrecht und bürgerliches Recht. Der gleiche Akt kann dann nach innen bürgerliches Recht und nach außen Naturrecht betreffen. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß es einerseits im naturrechtlichen Zustand gar kein Recht gibt, aber in dieses Vakuum des (bürgerlichen) Rechts dennoch ein Natur„recht“ gestellt wird, das ein Surrogat eines fehlenden Rechts ist und eine gewisse normative rechtliche Orientierung innerhalb der Abwesenheit von Recht ermöglicht. Zuweilen wird dann argumentiert, als ob gar kein Recht vorhanden sei, und dann wieder, als ob ein Recht bereits gegeben wäre. Zuweilen scheint es sogar zwei Naturrechte zu geben: ein schrankenloses, in dem der Kriegszustand schlechthin identisch ist mit dem „Recht des Stärkeren“ (VI 344), und ein Naturrecht 2, in dem dieses grenzenlose Recht des Stärkeren eingeschränkt wird, wie z.B. in den genannten Grenzen des Krieges. Diese Eingrenzungen des Naturrechts sind selber nicht naturrechtlichen Ursprungs, sondern gründen in der Moral oder in Grundsätzen des Rechts und sind auf den Übergang aus dem Naturrecht in ein bürgerliches Recht angelegt, um „einen dem rechtlichen sich annähernden Zustand zu stiften“ (VI 344). – Die Schwierigkeiten haben einen aporetischen Charakter (Deggau 1983), sind also verstehbar, aber nicht aufhebbar. Wenn die äußeren Wechselverhältnisse der Staaten noch dem Naturzustand unterliegen, in einzelnen Staaten aber, wie in Nordamerika und Frankreich, revolutionäre Umbrüche erfolgen, dann ist die Gefahr der gewaltsamen Interventionen und damit eines jeweils neuen Krieges groß. Kant fordert deshalb im 5. Präliminarartikel: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen“ (346). Er nimmt dieses Verbot im Streit der Fakultäten in einer Variante wieder auf: „daß ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden müsse, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt“ (VI 85). Dies spricht er in jenem Passus aus, der von der „Revolution eines geistreichen Volkes“ handelt und von der „Teilnehmung dem Wunsche nach“ (ibid.) in den Gemütern aller Zuschauer. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß das Interventionsverbot im Gedanken an Frankreich und an den ersten Ko-

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alitionskrieg formuliert worden ist – was aber nicht heißt, daß es deshalb ein „Gelegenheitsverbot“ wäre. Kant begründet das Verbot im Kommentar mit drei Argumenten: Das erste antwortet auf die Frage, was denn zu einer Intervention berechtigen könnte: ob eventuell der Skandal, den ein Staat den Bürgern eines andern Staates gebe? Er lehnt das ab, weil das „böse Beispiel“, das eine freie Person der anderen gebe, „keine Läsion derselben“ (346) sei und deshalb zur bloßen Warnung dienen sollte. Frage und Antwort sind höchstwahrscheinlich durch die 1794 erschienene Schrift von Wieland „über Krieg und Frieden“ angeregt worden, was noch einmal den Zusammenhang mit Frankreich und dem Koalitionskrieg bestätigt. Wieland läßt einen Befürworter der Intervention fragen: „ ,Aber ist es nicht unerträglich, daß so ungeheure Verbrechen, als die Jakobinische Fakzion auf sich geladen, und das abscheuliche Beispiel, das sie den übrigen Völkern gegeben hat, ungestraft bleiben sollen?‘ “ (Wieland III, 1988, 305) Der Kriegsgegner antwortet, ob denn der inzwischen eingetretene Verfall dieser Nation „ ,nicht mehr als hinlänglich‘ “ sei, um „das böse Beispiel, das sie anderen gegeben habe, gänzlich zu entkräften?“ (a.a.O., 306) – „ ,Übrigens ist dies ihre Sache, und man kann sich darauf verlassen, daß sie sich schon selbst zu helfen wissen werden, wenn man sie nur ihre eigenen Angelegenheiten selbst besorgen läßt‘ “ (a.a.O., 309). Das zweite Argument nennt eine Ausnahme der gewalttätigen Einmischung. Sollte ein Staat „durch innere Veruneinigung“ sich in zwei Staaten aufgespalten haben, von denen jeder den Anspruch auf das ganze Gebiet und auf Alleinvertretung erhebt, so daß ein Zustand der Anarchie vorläge, dann wäre ein „Beistand“ an einen der Teile nicht als Intervention zu betrachten (sondern offenbar als Hilfe zur Überwindung der Anarchie). Losurdo (1987, 154 f.) will in diesem Argument nicht eine Konstruktion sehen, sondern eine Erlaubnis für die französische Intervention in Belgien, und glaubt, in Fichte dafür einen Gewährsmann zu finden. Die Interpretationslage ist grotesk. Er belegt mit Fichte, der Belgien nicht nennt, daß Kant, der es auch nicht nennt, Belgien gemeint habe. Da leiht ein Stummer dem andern Stummen die Sprache, weil ein Dritter vorgibt, beide zu hören. Obwohl die historischen Fakten nicht gegen eine etwas erweiterte Deutung sprechen (Frankreich hat in den Jahren 1792–95 die geteilten Niederlande erobert und sie 1795 in der Batavischen Republik vereinigt), wollen wir es bei der Konstruktion belassen. Das um so mehr, als das dritte Argument, an die vorigen anknüpfend, im grundsätzlichen Gedanken endet. Solange der innere Streit eines Staates noch nicht entschieden sei – gemeint ist: solange die Anarchie noch nicht wirklich gegeben ist –, wäre jede gewaltsame Einmischung selber ein „Skandal“, nämlich eine „Verletzung“ eines an sich „unabhängigen Volkes“, welche „die Autonomie aller Staaten unsicher machen“ (346) müßte.

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Der Gedanke insgesamt ist von größter Tragweite: Verfassung und Regierung sind allein die Sache eines jeden Staats. Eben darin liegt seine staatsrechtliche Autonomie, mit der auch das Völkerrecht jederzeit zusammenstimmen muß, indem es die Souveränität der einzelnen Staaten respektiert. Kein Mythos, keine Religion, keine Ideologie und keine Staatsform, für wie heilig und althergebracht oder verwerflich und revolutionär sie auch gehalten werden mögen, können eine Intervention legitimieren, sondern allein Handlungen eines Staats mit völkerrechtlicher Dimension, zu denen für Kant auch die Selbstaufhebung der Rechtsperson in der Anarchie gehört. Da aber in der Verletzung der Autonomie eines Staates der Möglichkeit nach alle verletzt werden, muß es ein gemeinsames Interesse der Staatenwelt geben, sich gegen solche Läsionen zu schützen. Kant sagt all dies gegen die „gewalttätige“ Einmischung, also nicht gegen jedwede und somit nicht gegen die Kritik. Das Verbot der Intervention ist kein Gebot der Zustimmung, sondern der Duldung. Die Präliminarartikel 1, 5 und 6 sind strenge Verbotsgesetze (leges strictae). Sie gelten „ohne Unterschied der Umstände“ und dringen „sofort“ (347) auf Abschaffung. Daß kein Waffenstillstand mehr „Frieden“ heißen soll; daß kein Friedensvertrag mit Vorbehalten zu künftigen Kriegen mehr anerkannt werden darf; daß Altlasten keine Kriegsgründe sind; daß die Verfassung und Regierung eines Staates niemals die Gewalt gegen ihn legitimieren und daß, wenn es dennoch zum Krieg kommen sollte, keine niederträchtigen, das wechselseitige Vertrauen notwendig vernichtenden Feindseligkeiten erlaubt sind: all das gilt unbedingt. Jede Ausnahme und jeder Aufschub kämen einem Bruch des Gesetzes gleich. Die Strenge ist nur möglich, weil die Verbote nicht unmittelbar in Institutionen und Besitzstände eingreifen, sondern allein Mentalitäten, bisherige Usanzen und künftige Handlungen betreffen. Das ändert sich in den Präliminarartikeln 2, 3 und 4.

3.4 Die weiten Verbotsgesetze Über das Autonomiepostulat ist der 5. Präliminarartikel mit dem 2. verbunden: „Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können“ (344). Denn in solchen Erwerbungsarten, so argumentiert Kant, wird seine „Existenz als einer moralischen Person“ aufgehoben; er wird zu einer„Habe“ und darin zu einer „Sache“, was „der Idee des ursprünglichen Vertrags“ widerspricht, die besagt, daß der Staat der Herr und Eigner seiner selbst ist, mithin kein Objekt, sondern Subjekt des Völkerrechts. Warum Kant die Erwerbung durch Heirat nicht ebenfalls in das Verbot aufgenommen hat, sondern auf sie erst im Kommentar ironisch hinweist als auf eine

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„neue Art von Industrie“, ohne allzu großen Aufwand den Länderbesitz (der eine Habe ist) und die Macht zu vergrößern, ist nicht klar. Im Hinblick auf alle diese Erwerbungsarten macht er auf die Gefahr aufmerksam, die sie über Europa gebracht haben. Die zeitgenössischen Leser werden ihn verstanden haben. Denn bei jedem großen Friedensschluß wurde getauscht und geteilt, erworben und abgetreten; bei jeder Fürstenhochzeit geschenkt und vereinigt, und bei jedem Abgang eines großen Fürsten standen die anderen wie Geier bereit. Wer am meisten erheiratet (wie Habsburg) und die Besitzungen über die weitesten Gebiete verteilt hatte, wurde bei Erbfolgen in der Regel am meisten gebeutelt. Kriege wie etwa der österreichische Erbfolgekrieg konnten über Jahre (1740–48) ganz Europa erschüttern. Eine Großmacht war, wer bei all dem mitreden konnte. Seit 1740, dem winterlichen Überfall auf Schlesien, war Preußen immer dabei. Kaum je wurde übrigens ein Gedanke an die Menschen dieser herumgeschobenen Gebiete verschwendet. Der absolutistische Fürst war de facto der Eigner des Staats mitsamt den Untertanen. Er hatte ein privatrechtliches Verhältnis zu ihnen und verfuhr danach. Kant rückt diese Verkehrung zwischen Staat und Regent in einer kleinen Anmerkung zurecht, die meist überlesen wird: Der Regent kann nicht einen Staat erwerben, wohl aber der Staat einen Regenten. Das ist von der Rechtslehre (§ 49) her zu verstehen. Der Regent ist nämlich nicht der Souverän, sondern er wird von diesem verpflichtet und unter das Gesetz gestellt. Der Souverän ist allein das Volk oder der Staat, und dieser darf ihn, den Regenten, „absetzen oder seine Verwaltung reformieren“ (VI 317), nur nicht ihn bestrafen. Wenn es ihn aber absetzen darf, muß es auch einen neuen Regenten – als Repräsentanten des Souveräns – einsetzen können. Das ist die erste, ziemlich direkte Attacke Kants in den Präliminarartikeln auf den Absolutismus. Mit den unerlaubten Erwerbsarten von Staaten vergleicht Kant am Schluß des Kommentars „die Verdingung“ von Truppen durch einen Staat an andere, ohne daß ein gemeinsamer Feind – denn sonst wäre es eine Hilfeleistung – vorhanden ist. Hier wird nicht mit Staaten, aber doch mit einzelnen Untertanen wie mit Sachen umgegangen, und sie werden „nach Belieben … gebraucht und verbraucht“ (344). Der Anklang an die Mittel-Zweck-Formel des kategorischen Imperativs ist unüberhörbar, was nur bedeuten kann, daß Kant diese Praktiken moralisch für schlechthin unerlaubt hält. Sie waren übrigens im 18. Jahrhundert fast ebenso verbreitet wie das Söldnerwesen bis zum Dreißigjährigen Krieg. Die deutschen Fürsten – vor allem die kleineren – liehen oft ihre Truppen gegen Subsidienzahlungen an England, die Niederlande und Frankreich aus. Das war ein lukratives Geschäft. Die Fürsten wurden nämlich zweimal bezahlt: einmal beim Verleih und einmal beim „tragischen“ Tod der Untertanen. Menschenraub, Menschenhandel und Zwangsrekru-

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tierungen gehörten zum Alltag. Die Truppen wurden zuweilen mit abscheulicher Brutalität in die Kolonien, besonders nach Nordamerika, verfrachtet, von wo es für die meisten keine Rückkehr mehr gab. Die preußischen Könige allerdings setzten seit Friedrich Wilhelm I. ihr Heer ausschließlich zur „Ehre“ des eigenen Landes ein. Als der Soldatenkönig 1740 starb, hinterließ er seinem „lieben Successor“ ein diszipliniertes, gut ausgebildetes stehendes Heer von über 80 000 Mann (Gembruch 1987). Im Verhältnis zur Bevölkerung Preußens, die zahlenmäßig (2,2 Millionen) an 13. Stelle Europas stand, war das Heer, das viertgrößte des Kontinents, stark überdimensioniert (Kroener 1987, 150 f.). Mit der Eroberung Schlesiens verdoppelte sich die Anzahl der Landesbewohner und alsbald auch der Soldaten. Das stehende Heer wuchs unter Friedrich dem Großen bis auf 230 000 Mann an, bei knapp 6 Millionen Einwohnern (Gembruch 1986, 379). In der heutigen Bundesrepublik würde das einem Berufsheer von 3 Millionen entsprechen. Preußen avancierte zur gefürchteten Großmacht, ausschließlich durch sein Heer. Die Lasten dafür waren drückend: In Friedenszeiten wurden in der Regel 70– 80 % (ibid.) aller Staatseinnahmen für den Unterhalt des Heeres ausgegeben, in Kriegszeiten bis zu 90 % oder mehr. Eine regelmäßige hohe Besteuerung der bäuerlichen Produzenten, die die Masse der preußischen Bevölkerung ausmachten und deshalb auch das Fußvolk der Truppen zu stellen hatten, drängte sich auf. In den sechziger Jahren betrugen ihre Abgaben an den Staat etwa ein Drittel des Bruttoeinkommens (Kroener 1987, 152). Darüber hinaus waren die grundherrlichen Abgaben zu entrichten. Die Bauernschaft wurde durch Rekrutierungen und Steuern an den Rand der Existenzfähigkeit getrieben. Der ganze Staat war militarisiert: die Wirtschaft überwiegend „Kriegswirtschaft in Permanenz“ (Gembruch 1986, 379), die Industrie ausschließlich Kriegsindustrie und der Staatsapparat zentrale Bürokratie, weitgehend zur Verwaltung des Militärwesens. Die durchgehende Verkettung: stehendes Heer – zentrale Verwaltung – Kriegswirtschaft – regelmäßige Besteuerung – Kriegsschatz – Zwangsrekrutierung war durch das erste Glied bedingt und bestimmt. Das Heer war die Basis des Staates: nach außen das Instrument seiner Selbstbehauptung und Vergrößerung, nach innen das Instrument seiner Sicherung und Durchsetzungskraft. Von ihm her wurde der Staat geprägt: strukturell durch die militärische Hierarchie und mental durch den Ton des Befehls und den Gestus des Gehorsams. Man darf beinahe sagen: In Preußen war das stehende Heer der Staat. Man muß diese Fakten und ihre Zusammenhänge kennen, um die Tragweite des 3. Präliminarartikels ermessen zu können: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.“ (345) Der Artikel war die indirekte, aber zentrale Attacke auf den absolutistischen Fürstenstaat, der ohne ein stehendes Heer am Ende des 18. Jahrhunderts nicht überlebensfähig gewesen wäre. Er ist ineins damit

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die indirekte und zentrale Kritik an Preußen; denn kein Land war so durchmilitarisiert wie der Hohenzollernstaat. – Kant spricht diese Kritik nicht aus. Sie hätte auch gar keine Chance gehabt, durch die Zensur zu gehen. Aber sie scheint durch die beiden Argumente durch, mit denen er sein Verbot stützt. Das erste beschreibt die Rüstungsspirale, die auf der Basis eines stehenden Heeres sich notwendig herausbildet: Stehende Heere bedrohen andere Staaten „unaufhörlich“ mit Krieg, allein schon durch ihren Zustand; denn sie scheinen ständig zum Krieg „gerüstet“ zu sein. Also reizen sie die anderen Staaten zur Gegenrüstung und werden ihrerseits in der Folge davon weiter aufgerüstet, und so entsteht ein circulus vitiosus, der „in der Menge der Gerüsteten … keine Grenzen kennt“. Die Dynamik wird erst gebrochen, wenn durch die Rüstungsausgaben der Waffenstillstand „noch drückender wird als ein kurzer Krieg“. Dann werden die Aufrüstung und ihr Fundament: das stehende Heer, „selbst zur Ursache von Angriffskriegen“ (ibid.). Wer also den Frieden will, muß die stehenden Heere abschaffen. Das Argument ist wahrscheinlich die erste moderne strukturelle Beschreibung der prinzipiell unbegrenzten Aufrüstung und ihrer Eigendynamik. Es wendet sich nicht gegen jegliche Rüstung, sondern gegen das bedrohliche Ausmaß, das mit dem stehenden Heer als Institution unweigerlich gegeben ist und durch eine bestimmte Regierungsart und einen bestimmten Typus des Monarchen noch gefährlicher wird. Der uneingeschränkte Monarch – die despotische Regierungsart – das stehende Heer – die Eigendynamik der Rüstung – der Krieg: das ist die Verkettung, deren Wirkungskraft Kant durch das Verbot der stehenden Heere zu unterbinden versucht. Das zweite Argument gleicht in der Begründung dem Einspruch gegen die Verdingung von Truppen im 2. Präliminarartikel und orientiert sich wie dieses an der Mittel-Zweck-Formel des kategorischen Imperativs, betrifft aber nun alle Truppen der stehenden Heere. Wer Menschen in Sold nimmt, damit sie töten und sich töten lassen, macht von ihnen einen Gebrauch „als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats)“. Das aber verträgt sich nicht „mit dem Rechte der Menschheit in unserer Person“ (ibid.). – In der Rechtslehre (§ 55) skizziert Kant die Deduktion eines Rechts des Staates, Untertanen „zum Kriege gegen andere Staaten zu brauchen“ (VI 344). Aber er läßt sie schon fast ironisch mißlingen: Menschen sind kein zur beliebigen Verwendung freistehendes „Gemächsel“ (VI 345), wofür man allenfalls „Haushühner“, „Schweine“ und „Kartoffeln“ (ibid.) halten könnte, kein Eigentum des Souveräns und erst recht keines des Regenten, sondern mitbestimmende Subjekte im Staat, weshalb sie nicht zum Krieg gezwungen werden dürfen, sondern über ihre „Repräsentanten“ (ibid.) befragt werden müssen, ob sie überhaupt Krieg und ob sie ausgerechnet diesen Krieg führen wollen. Solche mitbestimmenden Subjekte sind „Staatsbürger in Waffen“, gegen

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deren „freiwillig periodisch vorgenommene Übung“ (345) zur bloßen Verteidigung weder moralisch noch im Hinblick auf den möglichen Frieden etwas einzuwenden wäre; denn niemand würde eine Milizarmee für bedrohlich halten. Der Übergang zum Milizsystem wäre deshalb ein entscheidender Schritt zur Abrüstung. Der Einspruch der praktischen Vernunft gegen die Institution des stehenden Heeres und seine Vernutzung von Menschen ist also kategorisch. Er trifft indes jedes System, das eine Wehrpflicht ohne Mitspracherecht kennt. Das Votum aber für die Miliz wendet sich ausschließlich gegen die stehenden Heere und ist wohl eine Spitze gegen Preußen. Friedrich Wilhelm I. ließ nämlich das Wort „Miliz“ nach 1733 verbieten (Schmidt 1986, 217). Es kommt in Kants Druckschriften nie vor. Die gemeinte Institution aber spielt bei der allmählichen Festigung des Friedens bei ihm eine wichtige Rolle. Ein drittes Argument wendet sich gegen die „Anhäufung eines Schatzes“, gemeint ist wohl eines Kriegsschatzes, weil dieser ebenfalls „als Bedrohung mit Krieg“, d. h. als Läsion angesehen werden müßte und präventive Maßnahmen der Rüstung auslösen könnte, die schließlich im Krieg enden. Das Argument wird nicht ausdrücklich mit dem Verbot der stehenden Heere verbunden (vielleicht weil es ursprünglich eigens als Präliminarartikel 4 vorgesehen war), sondern es ist diesem übergeordnet. Denn Kant sagt, daß unter den drei Mächten „der Heeresmacht, der Bundesmacht und Geldmacht die letztere wohl das zuverlässigste Kriegswerkzeug sein dürfte“ (345). Aber das Geld, der nervus rerum der Kriege und ihre letzte conditio sine qua non, kann nur sofort kriegswirksam werden, wenn die Institution zur Kriegsführung bereits vorhanden ist. Das Argument hat erst in der Verbindung von Geld und stehendem Heer seine Relevanz, und vermutlich deshalb hat es Kant dem 3. Präliminarartikel zugeordnet. Preußen jedenfalls hortete zu Lebzeiten Friedrichs den größten Kriegsschatz Europas, was dem Monarchen die Möglichkeit gab, jederzeit einen Angriff zu lancieren. Eben diese reale Möglichkeit lehrte die anderen Staaten das Fürchten und gab Preußen eine unverhältnismäßige Macht. Das Verbot der „Anhäufung eines Schatzes“ im 3. Präliminarartikel wendet sich offensichtlich gegen die staatliche Hortung von finanziellen Mitteln zu Kriegszwecken durch Sparen und Rücklagen. Im 4. Präliminarartikel weitet Kant das Verbot auf die Geldbeschaffung durch Verschuldung und Kredite aus: „Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden.“ (345) Es mag im ersten Augenblick erscheinen, die Differenzierung sei eigentlich überflüssig und rechtfertige kaum ein weiteres Verbot. Aber ein Kreditsystem, das „zum Behuf der Landesökonomie“ ganz „unverdächtig“ ist, wird als Kriegsmaschinerie „eine gefährliche Geldmacht“, die zu einer nie dagewesenen „Leichtigkeit, Krieg zu führen“, verleitet. Denn jede Anhäufung eines großen Schatzes dauert Jahre, und so zwingen die Kriege, die die Kriegskassen leeren, periodisch zu Waffenstillständen.

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Wenn Staaten aber jederzeit schnell und mühelos zu Geld kommen können, dann ist wirklich ein neues, ein „großes Hindernis des ewigen Friedens“ in der Welt, das auch eigens verboten werden muß. Kant unterscheidet dabei nicht zwischen der aktiven und passiven Verschuldung. Beide gehören zum Kreditsystem. Er scheint überdem der Meinung zu sein, daß Militärkredite unweigerlich in den Staatsbankrott führen, der immer auch andere Staaten in Mitleidenschaft zieht, sie also lädiert, was ebenfalls Krieg auslösen könnte. Die „sinnreiche“ (der Sarkasmus meint: „perfide“) Erfindung, die Kant für„neu“ (VIII 28) hält, schreibt er nicht einem „geistreichen“ (VIII 85), sondern einem „handeltreibenden“ (345) Volk zu. Damit ist England gemeint, das Kant lange Jahre als eines der frühen Revolutionsländer (Refl. 1428; XV 628) bewunderte. England gewährte Preußen im ersten Koalitionskrieg Subsidien, ohne die Friedrich Wilhelm II. den Krieg gar nicht hätte führen können. Daß ein Land, das eine freie Verfassung zu haben schien, den Kampf gegen einen Nachbarn finanzierte, der auf der Suche nach einer noch freieren Verfassung war, traf Kant so nachhaltig, daß er mit England innerlich brach. In einer etwas späteren Reflexion steht: „England, welches sonst auf die Teilnehmung der besseren Menschen in der Welt wegen der mutigen Erhaltung ihrer oft angefochtenen (scheinbaren) Freiheit rechnen konnte, ist jetzt gänzlich daraus gefallen, nachdem es die in Frankreich beabsichtigte, auf viel gründlichere Art freie Konstitution mit Gefahr des Umsturzes seiner eigenen zu stürzen bedacht war“ (Refl. 8077; XIX 605). Der Passus mag noch einmal belegen, wie sehr das Geschehen in und um Frankreich Kant zur Zeit der Friedensschrift bewegt hat. Die Präliminarartikel 2 bis 4 betreffen nicht allein künftige Handlungen, in deren Anbetracht sie ebenfalls ohne Aufschub gelten, sondern auch Institutionen (wie das stehende Heer) und Besitzstände (wie unerlaubt erworbene Staaten, Staatsschulden und Staatsguthaben zu Kriegszwecken). Sie werfen also Probleme der Reform und der Wiederherstellung auf. In diesem Reformund Wiederherstellungsaspekt müssen sie auf die Umstände Rücksicht nehmen und diesen entsprechend mit der Erlaubnis zu Aufschüben verbunden sein. Diese Art der Verbotsgesetze (leges latae) nennt Kant deshalb Erlaubnisgesetze (vgl. Brandt 1981; in diesem Band Kap. 4). Sie sollen angesichts der notwendigen Reformen die Nichtübereilung und damit die angemessene Geduld rechtlich absichern und legitimieren, ohne die Reform gänzlich zu vertagen. Denn dies darf nicht vergessen werden: Auch die durch die Präliminarartikel bedingten Wiederherstellungen und Reformen gehören noch – wie einschneidend sie auch sein mögen – zu den negativen Bedingungen des Friedens, deren Aufschub nicht nur den vielleicht unmöglichen ewigen Frieden vertagen, sondern auch seinen möglichen Vorfrieden in der Zeit.

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Literatur Berkemann, Jörg 1972: Studien zu Kants Haltung zum Widerstandsrecht. Diss. Hamburg. Brandt, Reinhard 1982: Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre. In ders. (Hrsg.): Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel 1981. Berlin/New York, 233–285 (Teilabdruck in diesem Band, Kap. 4). Cavallar, Georg 1992: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs Zum ewigen Frieden (1795) von Immanuel Kant. Wien/Köln/Weimar. Dann, Otto 1970: Die Friedensdiskussion der deutschen Gebildeten im Jahrzehnt der Französischen Revolution. In: Studien zur Friedensforschung. Bd. 4. Stuttgart/München, 95–133. Deggau, Hans-Georg 1983: Die Aporien der Rechtslehre Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt. Dietze, Anita/Dietze, Walter (Hrsg.) 1989: Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800. Leipzig/Weimar. Freudenberg, Günter 1967: Kants Schrift Zum ewigen Frieden. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik 11, 65–79. Geismann, Georg 1983: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 37, 362–388. Gembruch, Werner 1986: Zum Verhältnis von Staat und Heer im Zeitalter der Großen Französischen Revolution. In: J. Kunisch (Hrsg.): Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit. Berlin, 377–395. Gembruch, Werner 1987: Struktur des preußischen Staates und außenpolitische Situation zu Beginn der Herrschaft Friedrich des Großen. In: Friedrich der Große und das Militärwesen seiner Zeit. Bonn, 9–32. Groß, Felix (Hrsg.) 1912: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski. Berlin. Klemme, Heiner F. (Hrsg.) 1992: Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis – Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Hamburg. Kroener, Bernhard 1987: Wirtschaft und Rüstung der europäischen Großmächte im Siebenjährigen Krieg. Überlegungen zu einem vergleichenden Ansatz. In: Friedrich der Große und das Militärwesen seiner Zeit. Bonn, 143–175. Losurdo, Domenico 1987: Immanuel Kant. Freiheit, Recht und Revolution. Köln. Schmidt, Hans 1986: Staat und Armee im Zeitalter des „miles perpetuus“. In: J. Kunisch (Hrsg.): Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit. Berlin, 213–248. Tschirch, Otto 1933: Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen vom Baseler Frieden bis zum Zusammenbruch des Staates (1795–1806). Bd. 1. Weimar. Wieland, Christoph Martin 1988: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. Hrsg. v. J. P. Reemtsma/H. u. J. Radspieler. 3 Bde. Nördlingen. Williams, Howard 1983: Kant’s Political Philosophy. Oxford.

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4 Das Problem der Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants¹ Kants kategorischer Imperativ, wie ihn die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelt, scheint auf den ersten Blick ausschließlich zu strikten Geboten und Verboten zu führen. Für Erlaubnisgesetze ist, so hat es den Anschein, darüber hinaus kein Platz. In der Friedensschrift heißt es: „Ob es außer dem Gebot (leges praeceptivae) und dem Verbot (leges prohibitivae) noch Erlaubnißgesetze (leges permissivae) der reinen Vernunft geben könnte, ist bisher nicht ohne Grund bezweifelt worden“ (347, 34 ff.). Kant selbst hat sich trotz der scheinbar eindeutigen Lage sowohl vor als auch nach der Friedensschrift mit dem Problem befaßt. Im folgenden soll gezeigt werden, (1) zu welchen Positionen Kant in Sachen Erlaubnisgesetze gelangt, (2) welchen systematischen Ort er ihnen im Naturrecht zubilligt und (3) auf welchen historischen Kontext er mit diesem Theoriestück reagiert.

4.1 Die kontroverse Stellung der Erlaubnisgesetze „Der kategorische Imperativ, indem er eine Verbindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aussagt, ist ein moralisch-praktisches Gesetz. Weil aber Verbindlichkeiten nicht bloß praktische Notwendigkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch Nötigung enthält, so ist der gedachte Imperativ entweder ein Gebotoder Verbotgesetz, nachdem die Begehung oder Unterlassung als Pflicht vorgestellt wird“ (RL VI 222 f.). Verboten sind die und nur die Handlungen, deren Maximen nicht verallgemeinerungsfähig sind. So ist es verboten zu lügen, weil der Gebrauch der Lüge die allgemeine Wahrhaftigkeit voraussetzt und de facto zugleich negiert. Der kategorische Imperativ, der hier als notwendiges und hinreichendes Kriterium fungiert, besagt nichts darüber, ob man im gegebenen Fall die Wahrheit sagen oder ob man schweigen soll. Es ist also indifferent, ob a oder non-a, falls nicht eine ethische Maxime und meine Urteilskraft (VI 411) eine Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten erzwingen. Eine bestimmte Handlung ist dann geboten, wenn ihr praktisches Gegenteil verboten ist (vgl. Ebert 1976). Ist z.B. das Verschweigen einer bestimmten Tatsache verboten (weil es etwa die Zustimmung zu einer nach meiner Kenntnis falschen

1 Stark gekürzte Fassung von Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre. In: R. Brandt (Hrsg.): Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel 1981. Berlin/New York 1982, 233–285. https://doi.org/10.1515/9783110782462-006

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Darstellung wäre), so ist eine bestimmte Aussage geboten. Hiermit ist das Feld dessen erfüllt, was überhaupt bei Fragen der Handlungsbestimmung relevant sein zu können scheint. Wie findet hier noch ein Erlaubnisgesetz Platz? Verbotene Handlungen können nicht erlaubt sein, so scheint es, denn sonst könnte der kategorische Imperativ nicht die notwendige und hinreichende Bedingung des Ausschlusses bestimmter Handlungen aus den sittlich möglichen sein. Die sittlich indifferenten Handlungen bedürfen keines eigenen Gesetzes, weil sie „in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora)“ (VI 409) betreffen. Und was drittens geboten ist, ist erlaubt und möglich, weil es notwendig ist; die sittliche Notwendigkeit leitet sich nicht umgekehrt aus der schwächeren Erlaubnis ab. Kant selbst hat die Sonderstellung des Erlaubnisgesetzes innerhalb der Systematik von Gebot und Verbot gesehen – „eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis)“ (VI 223). Man kann fragen, fährt Kant fort, ob es dergleichen sittlich-gleichgültige Handlungen gebe, eine Frage, die hier offengelassen wird, die ihre eindeutige Antwort aber einmal im gesunden Menschenverstand, zum andern in der Einleitung der Tugendlehre findet: „Phantastisch-tugendhaft aber kann doch der genannt werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültigen Dinge (adiaphora) einräumt …“ (TL VI 409). Die weiteren Stichworte: „mit Fußangeln bestreut“, „Fleisch oder Fisch“, „Bier oder Wein“, „Mikrologie“, „Tyrannei“ (ebd.). Aber ist dazu, daß es jemandem freisteht, etwas nach seinem Belieben zu tun oder zu lassen, noch ein Erlaubnisgesetz erforderlich? „Wenn dieses (sc. erforderlich) ist, so würde die Befugnis nicht allemal eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) betreffen; denn zu einer solchen, wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonderes Gesetz erfordert werden“ (VI 223). Die Befugnis kann sich also einmal auf sittlich gleichgültige Handlungen beziehen, zum andern jedoch auf Handlungen, die nicht im adiaphoron-Bereich liegen. Zur Ermöglichung dieser letzteren bedarf es eines besonderen Gesetzes, des Erlaubnisgesetzes. Dies kann nur deswegen der Fall sein, weil sie in bestimmter Hinsicht verboten sind, denn als nicht sittlich-gleichgültig müssen sie geboten oder verboten sein; sind sie geboten, bedarf es keiner Erlaubnis, also können sie nur in bestimmter Hinsicht verboten sein. Es sei noch angemerkt, daß die Aussage, eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) bedürfe keines besonderen Gesetzes, die Korrektur einer eigenen experimentierenden Überlegung ist. In den Vorarbeiten zur Rechtslehre heißt es: „Gesetze sind entweder die des Gebots oder Verbots oder Erlaubnisgesetze und werden durch sollen, nichttun sollen und dürfen ausgedrückt … nach dem ersteren ist also etwas erlaubt (Recht) oder unerlaubt (Unrecht) oder unter keinem moralischen

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Gesetze, also indifferent (vergönnt)“ (XXII 384). Die gleiche Vorstellung findet sich in bestimmten Äußerungen der Vorlesung Vigilantius von 1793/94 zur Metaphysik der Sitten: „… und das alle Erlaubnisgesetze keine Imputation mit sich führen, da die Handlungen adiaphora sind, mithin nicht unter Pflicht- oder Zwangsrecht stehen“ (XXVII 560). Kant behauptet dagegen in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten das Gegebensein eines Erlaubnisgesetzes auf einem moralisch nicht indifferenten Feld. Die gleiche Vorstellung findet sich schon in der Friedensschrift: „Ich habe hiermit nur beiläufig die Lehrer des Naturrechts auf den Begriff einer lex permissiva, welcher sich einer systematisch-einteilenden Vernunft von selbst darbietet, aufmerksam machen wollen“ (348). Auch in der Vorlesungsmitschrift Vigilantius von 1793/94 findet sich die gleiche Meinung, wenn auch noch zögernd. „Eine andere intrikate Frage aber ist es, die Hufeland aufgeworfen: ob es secundum jus naturae leges permissivae gäbe? Herr Kant verneint die Frage: da, insofern ein moralisches Gesetz konkurriert, um zu bestimmen, was erlaubt oder nicht erlaubt sei, nicht mehr eine indifferente Handlung zum Grunde liegen kann“ (XXVII 513). Hier also wird noch angenommen wie an der schon oben einbezogenen Stelle, daß das Erlaubnisgesetz sich nur auf indifferente Handlungen beziehen kann. Aber an anderer Stelle heißt es: „Dies vorausgesetzt, glaubt Herr Kant, daß man die Frage: an datur lex permissiva in jure naturae? nicht schlechthin verneinen kann …“ (XXVII 515). Aber wie soll ein derartiges Gesetz neben Gebot und Verbot systematisch möglich sein? In der Schrift Zum ewigen Frieden verfügt Kant sichtlich über eine ihn befriedigende Lösung: das Erlaubnisgesetz bietet sich der systematisch-einteilenden Vernunft von selbst an. Aber wie die Einteilung aussieht, wird nicht ausgeführt. Man wird vermuten, daß es sich um einen Parallelfall zur Klassifizierung des möglichen äußeren Mein und Dein in der Rechtslehre handelt. Kant schlägt den Rechtslehrern vor, neben dem üblichen dinglichen und persönlichen Recht eine dritte Klasse des auf dingliche Art persönlichen Rechts einzuführen², und er be2 In der Rechtstheorie neu ist die fundamentale Funktion, die Kant dem Erlaubnisgesetz gibt; es wird als rechtliche Möglichkeit in der neuzeitlichen Rechtstheorie mitgeführt – vgl. u. a. Christian Wolff, Institutiones juris naturae et gentium, § 47; Alexander G. Baumgarten, Initia philosophiae practicae, Halle und Magdeburg 1760,§ 68; Metaphysica, Halle und Magdeburg 1757, § 723 und § 969 und Gottfried Achenwall, Ius naturae, Göttingen 61767 in den Prolegomena § 63 und § 90 und in der Introductio § 46 – aber es gewinnt keine systematische Funktion. Kants Erlaubnisgesetz der rechtlich-praktischen Vernunft stimmt mit der permissio überein, wie sie Grotius De jure belli ac pacis (1625) I, I, 9, I als eine actio legis „quatenus alium ab eo cui permittitur obligat ne impedimentum ponat“ bezeichnet. Auch Grotius gibt der so bestimmten permissio keinen systematisch relevanten Rang. Eine ausführliche Erörterung bringt Joachim Georg Darjes, Observationes juris naturalis socialis et gentium, Jena 1751, 268–278 (Observatio XXVl: „De jure naturali permissivo“).

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gründet dies im Haupttext der Rechtslehre mit dem Rekurs auf die Kategorientafel³. Die lex permissiva bietet sich, so heißt es im Ewigen Frieden, „einer systematischeinteilenden Vernunft von selbst dar“. Die gleiche Formulierung verwendet Kant in der Religionsschrift von 1793: Die trias politica (nach VI 313), angewandt auf die Person Gottes, „bietet sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar“ (VI 140). Eine Möglichkeit der Aufschlüsselung gibt die Reflexion 7986 (XIX 573): „Also 1. die Substanz des Staats in den Gesetzen, 2. dieser ihre Causalität, 3. die Gemeinschaft“. Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, bei der Einführung eines Erlaubnisgesetzes neben Gebot und Verbot an die logische Funktion bzw. Kategorie der Qualität mit den bejahenden, verneinenden und unendlichen Urteilen bzw. den Kategorien der Realität, Negation und Limitation zu denken. Wie „in einer transzendentalen Logik unendliche Urteile von bejahenden noch unterschieden werden, wenn sie gleich in der allgemeinen Logik jenen mit Recht beigezählt sind und kein besonderes Glied der Einteilung ausmachen“ (KrV B 97), so wird in der kritischen oder transzendentalphilosophischen Rechtslehre die Dichotomie der juristischen Begriffe von Gebot und Verbot um eine dritte Position erweitert. In den Vorarbeiten zur Rechtslehre findet sich folgender Hinweis: „Categorien der Quantität und Qualität des Rechts … a) einseitige, vielseitige, allseitige Bestimmung der Willkür zu synthetischer Einheit b) Gebot, Erlaubnis und Verbot“ (XXIII 218), wobei die Reihenfolge der Kategorien der Qualität nur die vom Gebot, Verbot und Erlaubnis sein kann; in dieser Reihenfolge erscheint die Trias regelmäßig, vgl. u. a. Refl. 8074: „Gebote, Verbote, Erlaubnisgesetze“, wiederum in einem Quadrat möglicher Positionen an zweiter Stelle, also an dem Ort der Qualität. Kant behauptet das Gegebensein von Erlaubnisgesetzen im Naturrecht, nicht in der Ethik. Will man ihre sachliche Intention verstehen, wird man an eine spezifisch rechtliche Problematik anknüpfen müssen, nicht eine allgemein moralische und nicht eine spezifisch ethische. Der systematische Ort der naturrechtlichen Erlaubnisgesetze ergibt sich offenbar in einer Vermittlung von Gebot und Verbot: Es wird etwas „an sich“ Verbotenes provisorisch erlaubt und damit geboten, den Rechtsanspruch der Verhinderung nicht wirksam werden zu lassen.

3 Anders die Erklärung im Anhang zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre; Kant meint hier, es sei natürlich zu fragen, ob sich in der einfachen Topologie begrifflicher Kombinationen nicht ein auf dingliche Art persönliches Recht ergibt (VI 357). Die beiden Zugangsarten schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander, wie die transzendentale die allgemeine Logik ergänzt.

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4.2 Die Bedeutung von Erlaubnisgesetzen innerhalb des Naturrechts Vergleicht man die Ausführungen der Vorlesungsmitschrift Vigilantius mit denen in der Schrift Zum ewigen Frieden und der Metaphysik der Sitten von 96/97, so ergibt sich eine entscheidende Differenz, die von Kant als solche nicht explizit benannt wird, die ihn aber mit Sicherheit in seinen Überlegungen geleitet hat. In der Vorlesung werden zwei Fälle eines Erlaubnisgesetzes genannt: Der Fall der Schiffbrüchigen, die um eine Planke kämpfen, und der Fall des Heroen, der mit Gewalt absque titulo einen Staat gründet. Im Prinzip gilt, daß jede Gewalt rechtlich legitimiert sein muß – „Gewalt muß nicht für Recht gehen“ (XXVII 514); dies Verbot erleidet jedoch eine Ausnahme im status naturalis: der Übergang in den Staat ist faktisch nur mit Gewalt möglich. Wollte man diese Gewalt mit einem universalen Verbot sanktionieren, „so würde dies den gesetzlosen Zustand verteidigen, mithin einen Zustand, wo kein Gesetz vorhanden oder nicht anerkannt wäre: dies ist aber ein dem allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit zuwiderlaufender Zustand, mithin muß man annehmen, daß die Natur es zulasse, in der Art, die freie Willkür der Menschen mit der allgemeinen Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz in Übereinstimmung zu bringen; und also ist hier ein natürliches Erlaubnisgesetz zu der angewandten Gewalt vorhanden“ (XXVII 515). Eben dies gilt auch für den Fall, „wenn zwei sich um ein Brett beim Schiffbruch schlagen“ (XXVII 515). Kant hat das Notrecht im Fall des Schiffbruchs in der Metaphysik der Sitten geändert. Einmal wird nicht mehr unterschieden, ob zwei sich um ein Brett schlagen oder ob der eine es schon besitzt und der andere ihn herunterzustoßen versucht; nach der Vorlesung kann es in diesem letzteren Fall kein Recht der Besitznahme geben, „weil eben der zu Depossedierende schon im Besitz war, wodurch er sein Leben schützt: die Not des andern kann nie ein Zwangsrecht geben, insofern der Grund der Handlung nicht schon vorher auf einem rechtsgültigen Zwangsrecht beruht; denn sonst würde der andere eben das Zwangsrecht haben müssen und dies ist unmöglich“ (XXVII 516). Anders ist der Fall, wenn noch keiner im Besitz des Brettes ist; hier muß Gewalt erlaubt werden, „um dadurch ein Recht zur Erhaltung des Lebens zu stiften. Es ist also auch hier die Maxime zu Grunde, daß zur Stiftung eines Rechtes Gewalt vor Recht gehe nach einem Erlaubnisgesetz“ (XXVII 516). In der Metaphysik der Sitten dagegen wird die Gesamtsituation so beurteilt, daß das strikte Recht und damit die Zwangsgesetze in ihr keine reale Funktion haben können (vgl. VI 235–236). Zum andern sieht Kant jetzt eine Differenz zwischen diesem Fall und dem der Staatsgründung. Der erste wird unter dem Titel des Notrechts gleichsam als bodenlose Problematik zu einem exterritorialen Komplex erklärt und vor die ei-

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gentliche Rechtslehre gestellt. Das Erlaubnisgesetz dagegen hat, wie sich zeigte, seinen Ort in der Rechtslehre selbst. Die Gewalt, die das Erlaubnisgesetz ermöglicht, wird bezogen gedacht auf die Rechtswirklichkeit im ganzen. Das gleiche gilt von den Erlaubnisgesetzen in der Schrift Zum ewigen Frieden: Es soll erlaubt sein die provisorische Weiterführung unrechtmäßig erworbenen Besitzes; das im Erlaubnisgesetz vorausgesetzte Verbot bezieht sich auf die künftige Erwerbungsart (348). Es wird also Bezug genommen auf die Totalität des Eigentums in einem Staat, wobei die Vergangenheit mit ihren tradierten Einrichtungen und die Zukunft, deren Handlungen in unserer Gewalt sind, unterschieden werden. „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis …“ (373) – wie im Privatrecht, ist auch im öffentlichen Recht erlaubt die provisorische Weiterführung historisch überkommener Institutionen, bis sich die Möglichkeit einer Änderung ergibt. Das Erlaubnisgesetz stiftet einen Rechtsmodus der Duldung von unvermeidlichen, schon geschehenen, institutionell verfestigten Gewaltformen. Diese Dimension fehlt im Fall des Schiffbruchs, und hierin liegt der Grund der Ausklammerung des Notrechts aus dem Komplex des Erlaubnisgesetzes. Die Gewalt, die das Erlaubnisgesetz vor dem Recht ermöglicht, hat provisorischen Charakter; Romulus erschlägt Remus – „Es muß zuletzt einer bleiben, der die Obermacht behauptet, und der die Absicht hat, zur Organisierung seiner Herrschaft ein allgemeines Recht zu stiften“ (XXVII 514 f.). Die Absicht geht auf Rechtsverhältnisse in Konformität mit dem Naturrecht. In der Metaphysik der Sitten benutzt Kant für die beiden Pole dieser Form des Erlaubnisgesetzes die Begriffe provisorisch und peremtorisch. So heißt es innerhalb des Privatrechts: „Ein Besitz in Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes, der allein auf einem Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann, der also zu der Möglichkeit des letzteren zusammenstimmt, ist ein provisorisch- rechtlicher Besitz, wogegen derjenige, der in einem solchen wirklichen Zustand angetroffen wird, ein peremtorischer Besitz sein würde“ (VI 256 f.). Mit dem Begriffspaar provisorisch-peremtorisch knüpft Kant an eine Problemstruktur an, die wenigstens in die 70er Jahre zurückreicht und die wiederum mit der Urteils- und Kategorienlehre verbunden ist. Der provisorische Rechtstitel ist das Gegenstück zum problematischen Urteil, der peremtorische das Pendant zum kategorischen oder apodiktischen Urteil. Bei problematischen Urteilen wird offengelassen, ob sie wahr oder falsch sind; man nimmt sie probeweise an und untersucht, ob sie sich verifizieren lassen. Sie dienen der Auffindung des wahren – kategorischen oder apodiktischen – Urteils (KrV B 100 f.). Analog dient das provisorisch Erlaubte der Entwicklung des wirklichen Rechts, der Verwirklichung also des Naturrechts, das sich peremtorisch behaupten läßt. Der Zusammenhang dieser beiden Komplexe, der vorläufigprovisorischen Erlaubnis und des problematischen

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Urteils, wird noch deutlicher, wenn man auf die Genese dieses Stücks der Urteilsund Kategorienlehre zurückgreift. In der noch nicht publizierten Mitschrift einer Anthropologievorlesung aus den 70er Jahren heißt es: „Zu den dunklen Vorstellungen gehören auch noch die vorläufigen Urteile. Ehe der Mensch ein Urteil fällt, welches bestimmt ist, so fällt er schon im voraus im dunklen ein vorläufiges Urteil. Dieses leitet ihn, um etwas zu suchen, z. E. wer unbekannte Länder sucht, wird doch nicht geradezu ins Meer fahren, sondern er urteilt vorher. Ein jedes bestimmtes Urteil hat also ein vorläufiges Urteil.“⁴ Und an einer späteren Stelle: „Der Schein ist kein Urteil, sondern ein Grund zum vorläufigen Urteil. Es wäre sehr nötig, wenn in der Logik auch ein ganz apartes Kapitel von den vorläufigen Urteilen wäre, die zu mehreren Erfindungen Anlaß geben möchten.“⁵ Die vorläufigen Urteile sind unerläßliche Versuche, tentamina, auf dem Weg zu einer dauerhaften, systematisch organisierten Erkenntnis⁶. – Die Korrelation der verschiedenen Modalitätsmomente, das Verhältnis also der problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteile untereinander bzw. das der zugehörigen Kategorien, müßte natürlich von der Zeit – die erst im Schematismus mit den Kategorien in Verbindung gebracht wird – abstrahieren. Kants entsprechende Formulierungen („… so daß man zuvor etwas problematisch urteilt, darauf auch wohl es assertorisch es als wahr annimmt, endlich als unzertrennlich mit dem Verstande verbunden … behauptet …“, B 101) müssen, falls dies möglich ist, als nur metaphorisch interpretiert werden. Aber diese Eigentümlichkeit braucht uns hier nicht zu interessieren. Die Begriffe des Provisorischen und Peremtorischen sind eindeutig zeitlich strukturiert. Das Erlaubnisgesetz gebietet eine provisorische Duldung von etwas in einer lex generalis – nicht universalis – Verbotenem. In gleicher dialektischer Struktur be4 Das Manuskript ist verzeichnet als drittes Ms. germ. Quart. 400 der Berliner Kgl. Bibliothek, S. 44 (jetzt Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin). 5 A.a.O. 108–109. Vgl. weiter 155: „Vorläufiges Urteil ist ein Grund, über Dinge zu urteilen, der aber unzureichend ist. Aber ein bestimmtes Urteil zu fällen, gehört vor die Urteilskraft. Der Witz (sc. das Vermögen der vorläufigen Urteile) streift herum, wo er was findet, und dient also zur Erfindung, deswegen verleitet er auch zu Irrtümern …“. Refl. 535 (von Adickes datiert 1792–94): „Von der Methode, vorläufig zu urteilen. Wenn in der Art, ein (noch) problematisches Urteil zu beweisen, Methode sein muß, so wird man auch methodisch (d. i. nach Prinzipien) verfahren müssen, nur allererst die Wahrheit zu suchen. Ein solches Urteil wird ein vorläufiges Urteil (iudicium praevium) heißen können …“. 6 Zur Rolle der „Versuche“ in Kants Idee der Wissenschaftsgeschichte und der politischen Geschichte vgl. Brandt 1980. Die Versuche, die am Anfang gemacht werden, sind blind, tappend, im Hinblick auf das einzelne Subjekt, das sie systemlos unternimmt; sie sind methodisch, setzt man als Subjekt die Natur, die mittels der blinden Versuche als bestimmter Gelegenheitsursachen die latenten Keime zur Vernunftwerdung entfaltet. Kant verbindet Lukrez–Epikur mit der Stoa. Die Entwicklung einer Logik oder besser: Methodologie der Forschung wäre der Versuch, den Bereich der blinden tentamina auch für das forschende Subjekt von Anfang an methodisch zu disziplinieren.

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gegnet der Begriff des Provisorischen auch im Zusammenhang der Kantischen Natur- und Kulturteleologie. So dient die dem Menschen inhärierende Anlage, sich besser zu stellen, als man ist, und vorteilhaftere Gesinnungen, als man wirklich hat, zu äußern, „nur gleichsam provisorisch dazu, um den Menschen aus der Rohigkeit zu bringen, und ihm zuerst wenigstens die Manier des Guten, das er kennt, annehmen zu lassen; denn nachher wenn die echten Grundsätze einmal entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß jede Falschheit nach und nach kräftig bekämpft werden, …“ (KrV B 776).⁷ Gegen den Rousseauschen Kulturpessimismus stellt Kant die mögliche positive Funktion des Scheins. Die Natur hat uns vorsorglich, provisorisch, mit dem Hang zum falschen Schein ausgestattet; er dient dazu, die Kluft zwischen bloßer Natur und vollendeter Sittlichkeit zu überbrücken. Eine ähnliche Überbrückungsfunktion hat die provisorisch erlaubte Gewalt in den bestehenden Rechtsverhältnissen.

4.3 Der historische Kontext In einer Anmerkung der Religionsschrift geht Kant auf die Französische Revolution und die Problematik der Selbstregierung eines Volkes ein. Man muß, so sagt er, dem Volk die Freiheit geben, seine Freiheit in Versuchen zu realisieren. Die ersten Versuche werden roh ausfallen; „allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen man frei sein muß)“ (VI 188). Und dann folgt der für uns einschlägige Gedanke: „Ich habe nichts dawider, daß die, welche die Gewalt in Händen haben, durch Zeitumstände genötigt, die Entschlagung von diesen drei Fesseln (sc. der politischen, der zivilen und der Glaubensfreiheit) noch weit, sehr weit aufschieben. Aber es zum Grundsatz machen, daß denen, die ihnen einmal unterworfen sind, überhaupt die Freiheit nicht tauge, und man berechtigt sei, sie jederzeit zu entfernen, ist

7 Vgl. die Ausführungen im Ewigen Frieden zur provisorischen Veranstaltung der Natur, 363 f. In einem Zusatz der Refl. 1455 (datiert 1783–84) heißt es: „Zuerst wird die ganze menschliche Angelegenheit provisorisch unter die Eigenliebe getan …“ (XV 639). Näher an die Situation in der Rechtslehre führt der Gebrauch des Begriffs „provisorisch“ in der Religionsschrift von 1793: „Es ist also eine notwendige Folge der physischen und zugleich der moralischen Anlage in uns, … daß diese (sc. die Religion) endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftsreligion zuletzt über alle herrsche, ,damit Gott sei alles in allem‘ “ (VI 121). Der Übergang von der Naturgeschichte des äußerlichen Statutenglaubens zur Vernunftreligion vollzieht sich „durch allmählich fortgehende Reform“, nicht durch Revolution, soweit es menschliches planendes Handeln betrifft (VI 122).

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ein Eingriff in die Regalien der Gottheit, die den Menschen zur Freiheit schuf“ (VI 188). Die Zeitumstände also können dazu nötigen, provisorisch und vorläufig ein bestehendes Unrecht (analog der statutarischen Kirche, vgl. Anm. 6) beizubehalten. Die Idee einer mit dem natürlichen Recht der Menschen zusammenstimmenden Konstitution, so heißt es im Streit der Fakultäten, ist die Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt; „mithin ist es Pflicht in eine solche einzutreten, vorläufig aber (weil jenes nicht so bald zustande kommt) Pflicht der Monarchen, ob sie gleich autokratisch herrschen, dennoch republikanisch (nicht demokratisch) zu regieren“ (VII 91). Vorläufig also ist die Unterdrückung der politischen Freiheit erlaubt. Diese Erlaubnis steht jedoch unter der Bedingung einer evolutio juris naturae; die Regenten haben die Pflicht, die dem Naturgesetz gemäße Verfassung wirklich im Laufe der Zeit zu realisieren. Der Problemkomplex, in den diese Gedanken gehören, ist einmal natürlich die Französische Revolution. Es kommt jedoch eine andere historische Komponente hinzu, nämlich die Reform der Gesetzgebung in Preußen und vermutlich auch in Österreich. Ein für die Genese der Kantischen Rechtslehre entscheidender Autor ist Ernst Ferdinand Klein, Kammergerichtsrat in Berlin und Mitverfasser des Allgemeinen Preußischen Landrechts. In einem Brief vom 22. Dezember 1789 an Kant ist exakt die Problemstellung entfaltet, die bei Kant zur Konzeption des Erlaubnisgesetzes im Ewigen Frieden führt. Klein fragt, ob es die Pflicht des Gesetzgebers sei, unrechtmäßige Einschränkung in der Freiheit, an die man sich gewöhnt habe, abrupt abzuschaffen. Er bezweifelt dies, nimmt also eine Erlaubnis unrechtmäßiger Institutionen an. „Was seit langen Zeiten gebräuchlich gewesen ist, scheint den Willen des Volkes für sich zu haben. Da ich nun durch Verträge meine Freiheit einschränken darf, so weit ich mir dadurch nicht die Macht benehme, unerläßliche Pflichten⁸ zu erfüllen: So läßt sich wohl, wie ich glaube, die Beibehaltung solcher Gebräuche entschuldigen. Ich fühle selbst, daß ich hier nicht füglich das Wort rechtfertigen brauchen kann: aber was ist zu tun? Unsere Gesetze sind voll von solchen willkürlichen Einschränkungen. Ein Gesetzgeber, welcher auf einmal zu große Veränderungen vornehmen wollte, würde nichts gegen die herrschende Meinung ausrichten.“⁹ In seinem Dialog über Freiheit und Eigentum von 1790, den er

8 Die unerläßlichen Pflichten sind natürlich auch bei Kant dem Bereich des nur Erlaubten entzogen; so kann sich das Volk der Regierung nicht widersetzen „außer in den Fällen, welche gar nicht in die unionem civilem kommen können, e. g. Religionszwang. Zwang zu unnatürlichen Sünden: Meuchelmord etc etc.“ (Refl. 8051). Sittlich strikt verbotene Handlungen nicht zu tun, hat der Mensch jederzeit in seiner Gewalt; er hat jedoch nicht die Eigentumsordnung und die politischen Verhältnisse nach Rechtsprinzipien so in seiner Gewalt, daß er sie sogleich umändern kann. 9 In der Akademie-Ausgabe der Kantischen Schriften Xl 116 (Paginierung der Ausgabe 1900). Vgl. schon die Frage im Brief vom 15. Juni 1789 an Kant: „Werden Sie in Ihrem nächsten Werke über die

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Kant zusandte¹⁰, vertritt Klein konsequent die Auffassung, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Recht, ein Eigentum zu erwerben, und dem Recht, es zu besitzen. Das erstere muß dem letzteren weichen. „Daraus folgt auch, daß der Staat das Recht zu erwerben mehr einschränken könne, als das Recht zu besitzen.“¹¹ Das Besitzrecht ist weiter zu fassen als das Erwerbsrecht, weil das erstere den Rechtsbestand der Vergangenheit, die man nicht in seiner Gewalt hat, betrifft, das letztere die Norm für das zukünftige Handeln darstellt. Es gibt also nach Klein eine Erlaubnis, unrechtmäßig Erworbenes als legitimen Besitz weiterzuführen; der Gesetzgeber steht nicht unter der Rechtspflicht einer plötzlichen Änderung überkommener Institutionen. „Denn das Verbot betrifft hier nur die Erwerbungsart, die fernhin nicht gelten soll, aber nicht den Besitzstand der, ob er zwar nicht den erforderlichen Rechtstitel hat, doch zu seiner Zeit (der putativen Erwerbung) nach der damaligen öffentlichen Meinung … für rechtmäßig gehalten wurde“, heißt es bei Kant im Ewigen Frieden (347). Kant hat die gleiche Problematik wie Klein vor Augen, und man kann annehmen, daß er sich hier von Klein hat anregen lassen¹². Nur wenn neben der Französischen Revolution das Problem einer Reform durch fürstliche Dekrete miteinbezogen wird, gewinnt die Frontstellung bei Kant Sinn, gemäß der nicht nur der Fürst ein Hemmnis auf dem Weg einer Verrechtlichung der Gewaltverhältnisse ist, sondern auch die herrschende oder öffentliche Meinung. Die angesprochene Problematik hat ihr Fundament in der preußischen Rechtsreform; aber zugleich führt die öffentliche Diskussion der übereilten Reform Josephs II. zu einer Intensivierung des Bewußtseins. In Österreich wurde den Reformkonservativen¹³ vorexerziert, wie der Herrscher es nicht machen darf. Graf

praktische Philosophie sich auf die Frage einlassen: Welche Grenzen der Willkür des Gesetzgebers (die Regeln der Klugheit abgerechnet) gesetzt sind?“ (XI 62). 10 Vgl. den Brief vom 29. April 1790 (XI 159) und die Erläuterung XIII 267. 11 Ernst Ferdinand Klein, Freyheit und Eigentum, abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der französischen Nationalversammlung, 1790; zit. nach Träger 1975, 849. – Zu dem Gesamtzusammenhang vgl. bes. Conrad 1958; Kleinheyer 1959; Möller 1974. 12 Ein ausdrücklicher Verweis auf Klein in diesem Problemfeld findet sich in der schon herangezogenen Vigilantius-Mitschrift: „Klein hat diesen Unterschied bemerkt, aber nicht auseinandergesetzt“ (XXVII 524). 13 Ich folge hiermit der Klassifikation von Epstein 1966, 3–28 („A Preliminary Definition. Three Types of Conservatives“). „The three types, which will he labeled Defenders of the Status Quo, Reform Conservatives, and Reactionaries, constitute three different responses to this common challenge“ (7). Kant gehört eindeutig in die Gruppe der Reformkonservativen, wobei jedoch folgende Differenz in dieser Gruppierung zu beachten ist: Es gibt einerseits Autoren wie Rehberg, Gentz, später Hegel, die eine Revolutionierung von unten oder oben durch Reformen vermeiden und dadurch die ständisch gegliederte Gesellschaft erhalten wollen; auf der andern Seite stehen Autoren wie Kant, Erhard oder auch der Präsident Morgenbesser (Beyträge zu einer republikanischen Gesetzgebung … Königsberg

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von Windischgraetz schreibt in einem Programm vom Jahre 1785: „Convaincu que rien n’est plus nuisible dans un état que l’instabilité de la législation, il (sc. der Autor) ne désire pas du tout que les Chefs des nations se pressent d’exécuter mêmes ses propres intentions“ (S. 9 der französischen Version des Programme … von 1785). Eine der vielen Warnungen vor einer übereilten Reform durch den Regenten selbst. Kant nennt Windischgraetz im Zusammenhang der Systematik von Gebot, Verbot und Erlaubnisgesetz im Ewigen Frieden (348) und bezieht sich hiermit auf das genannte Programm und dessen Preisfrage, wie eindeutige Vertragsformeln zu entwerfen seien, die jeden Streit über Eigentumsveränderungen ausschließen. Ob Kant diese Schrift über den Titel hinaus kannte, läßt sich kaum ausmachen. Sechs Wochen nach dem Ausbruch der Französischen Revolution schrieb er an Friedrich Heinrich Jacobi, die Schrift von Windischgraetz „von der freiwilligen Abänderung der Konstitution in Monarchien“ hänge offenbar mit zwei andern seiner Werke „in einem System“ zusammen; Kant hat sie also gelesen. Diese gegen die übereilte Reform Josephs II. gerichtete Verfassungsschrift muß, so heißt es weiter, „zum Teil als wundersam eingetroffene Wahrsagung, zum Teil als weiser Rat für Despoten, in der jetzigen krisis von Europa von großer Wirkung sein“ (XI 73). Der Titel dieser Schrift lautet: Discours dans lequel an examine les deux questions suivantes: 1. Un Monarque at-il le droit de changer de son chef une Constitution évidemment vicieuse? 2. Est-il prudent à lui, est- il de son intérêt de l’entreprendre? Der Autor verneint die beiden Fragen, weder das justum noch das utile ist bei einer übereilten, eigenmächtigen Reform erfüllt. – „Der Staat ist ein autonom. Das ist eine heilige Pflicht, die ihm die Achtung vor das menschliche Geschlecht und die wesentliche Bedingung seiner Wohlfahrt auferlegt, diese Kunsteinrichtung nicht zu stören. Wehe dem Prinzen, der die Triebfeder oder das Schwungrad wegnimmt, welches alles in Ordnung hält, …“ – so Kant in einer Reflexion zum Thema der Rechtsreform (Refl. 7778)¹⁴. Kant entwickelt also sein reformkonservatives Konzept eines Erlaubnisgesetzes im Hinblick auf zwei historische Ereignisse, die Französische Revolution und die dynastischen Reformwerke in Preußen und Österreich. Zur Erfassung des begrifflichen Kontextes, in dem sich diese beiden Ereignisse darstellen, sei auf zwei Schlüsselbegriffe verwiesen, die in der zeitgenössischen politischen Publizistik immer wieder begegnen und die bei Kant eine dominierende Stellung einnehmen: Die „Anwendung“ und die „Übereilung“ mit dem Gegenbegriff des „allmählich“, „nach und nach“.

1800), die sich am römischen Recht und Naturrecht orientieren und eine Reform zur allmählichen Verwirklichung der Republik anstreben. 14 Ob Kant hierbei an Joseph II. dachte, ist ungewiß. Er erwähnt den österreichischen Kaiser in der Vorlesung Vigilantius im Zusammenhang des Strafrechts, sagt jedoch nichts von dessen übereilter Reform, vgl. XXVII 551 und 556.

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Anwendung ist das Stichwort für das Verhältnis von naturrechtlicher Theorie und positiver Praxis. Zwischen Theorie und Praxis klafft ein Hiat; die Frage ist: wie läßt sich dieser Hiat überwinden, wie lassen sich die Normen und allgemeinen Sätze der Theorie auf die Praxis anwenden? Johann Friedel beschäftigt sich in seinen Fragmenten von 1786 mit der „zur Unzeit angewandten Staatsmystik“ Josephs II.¹⁵; Kant, Gentz, Rehberg behandeln in ihren Schriften zum Verhältnis von Theorie und Praxis das Anwendungsproblem¹⁶; Adam Smith warnt vor der Anwendung von Theorien, die mit bloßem Systemgeist ausgeklügelt sind. Das Problem der Antinomie zwischen Naturrecht und bestehendem Recht, zwischen rechtlicher Praxis und naturrechtlicher Theorie ist nur eines der Anwendungsprobleme, die im ausgehenden 18. Jahrhundert erörtert wurden. Das zweite Stichwort ist das der Übereilung, der Überstürzung, des zu Plötzlichen. „Jede plötzliche Umänderung hat den Charakter des Schauerlichen und Zerrüttenden, …“, heißt es in den Annalen von 1799¹⁷. In den Europäischen Annalen von 1795 wird von der Revolution in Frankreich gesagt: „Von nun zeigte sich von den Theorien der Philosophen über Staatsverfassung in Frankreich eine vielleicht nur allzu plötzliche, allzu kühne Praxis“¹⁸. Campe warnt in seinen Briefen aus Paris von 1790 vor der Übereilung (1790, 35), in gleicher Weise urteilt Ernst Brandes (1808, 100). Die übereilte Reform ist von der Anarchie bedroht, schreibt Kant im Ewigen Frieden (373). Das Gegenteil des Übereilten und Überstürzten ist die Kontinuität der historischen Entwicklung. „Wenn nun der Fürst selbst sein Volk nach und nach an eine freiere Denkungsart gewöhnte, so würde sich der Segen der Freiheit auch ohne Wetter- und Wolkenbrüche durch die ihm angewiesenen Kanäle über sein Land verbreiten. Deswegen müßte der Fürst das Volk zur Teilnehmung an den öffentlichen Geschäften stufenweise gewöhnen und Männer zu bilden suchen, welche fähig wären, als Repräsentanten das Wohl der Nation zu besorgen“, heißt es in einem Beitrag der Berlinischen Monatsschrift von 1785 mit dem Titel: Neuer Weg zur Unsterblichkeit der Fürsten ¹⁹. Ernst Ferdinand Klein schreibt in der oben angeführten Schrift über Freiheit und Eigentum (S. 128): „Aber eben daraus ergibt sich die Pflicht

15 Johann Friedel, Historisch-philosophisch und statistische Fragmente, mehrenteils die österreichische Monarchie betreffend, Leipzig/Klagenfurt 1786, 54 (zit. nach Bodi 1977, 253). 16 Vgl. Henrich (Hrsg.) 1967. Besonders in Rehbergs Aufsatz (115–130) ist „Anwendung“ das zentrale Stichwort. 17 August von Hennings, Hat die französische Revolution der Sache der Freiheit genützt?, zitiert nach Träger 1975, 739. 18 August von Hennings, Frankreichs Staatsverwaltung, zitiert nach Träger 1975, 753. 19 Die Passage ist abgedruckt bei Krauss 1965, 195–197.

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der Regierung, ihre Untertanen aufzuklären und sie nach und nach an den Genuß der Menschenrechte zu gewöhnen“. Die Vorstellung des „nach und nach“, des „allmählich“ ist sichtlich an der naturphilosophischen Idee des Seins-Kontinuums orientiert. Bei Kant gibt es wenigstens in der Spätphase eine Doppelkonzeption bezüglich dieses Kontinuums des Seienden: Eine gesteuerte Handlung, wie sie einzig die einer rechtlichen Vorschrift sein kann, muß sich am Ideal der kontinuierlichen Rechtsbewahrung bemessen. Die Natur kann jedoch durch abrupte Brüche das Ziel befördern oder verhindern; in Revolutionen wird die Geschichtskontinuität durch die Natur aufgehoben und das Ergebnis dem Zufall anheimgestellt. Eine Revolution kann niemals Rechtsgebot sein, sie kann jedoch einen rechtsfördernden Charakter haben, und sie hat diesen Charakter, wenn es die Revolution eines geistreichen, aufgeklärten Volkes ist (trotzdem ist es unmöglich, eben dieses Geschehen als rechtliche Handlung zu legitimieren)²⁰. Dies ist ein Aspekt der Gesamtproblematik in Kants Revolutionsidee. Ich fasse zusammen: Das Erlaubnisgesetz Kants ermöglicht die Anwendung natur- oder vernunftrechtlicher Normen auf die Wirklichkeit im Modus einer allmählichen Reform. Kant fängt damit die rechtlich nicht mögliche Revolution von unten (Frankreich) oder die Revolution durch den Fürsten ab und vermittelt zwischen legitimer Rechtsforderung und rückständiger Wirklichkeit.

Literatur Bodi, Leslie 1977: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795. Frankfurt/M. Brandes, Ernst 1808: Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts. Hannover.

20 Vgl. bes. die Anmerkung VIII 373: „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift … Revolutionen aber, wo sie die Natur von selbst herbeiführt …“. Hier wird nicht von einem für die rechtswidrige Handlung verantwortlichen Subjekt gesprochen, sondern Kant registriert das historische Faktum, daß ein Volk revolutioniert, wenn es unerträglich unterdrückt wird, daß es Revolutionen gibt, die, wie Meiners (1792, 645) sagt, „durch unüberlegte Schritte der Regierungen selbst gleichsam erkünstelt, oder erzwungen werden“. Es wird von der Revolution als einem politischen Phänomen, nicht einem rechtlichen Problem gesprochen. Bei Kant kann dieses politische Naturereignis, entstanden aus dem Mechanismus von Druck und Gegendruck, zugleich teleologisch gefaßt werden, es ist, wie letztlich jede Veranstaltung der Vorsehung oder Natur, ein public benefit der Weltgeschichte – „denn was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen können, so bleiben die der Vorsehung überlassen und lassen sich nicht planmäßig der Freiheit unbeschadet einleiten“ (VI 122). Das Verdienst der Franzosen ist, daß sie sich die Idee des Rechts zu eigen gemacht haben und so aus einem Instrument der Vorsehung zum selbsthandelnden Subjekt wurden.

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Brandt, Reinhard 1980: Kant-Herder-Kuhn. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5, 27–36. Campe, Joachim Heinrich 1790: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution. Braunschweig. Conrad, Hermann 1958: Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794. Köln/Opladen. Ebert, Theodor 1976: Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotener, verbotener und freigestellter Handlungen. In: Kant-Studien 67, 570–583. Epstein, Klaus 1966: The Genesis of German Conservatism. Princeton. Henrich, Dieter (Hrsg.) 1967: Kant, Gentz, Rehberg. Über Theorie und Praxis. Frankfurt/M. Kleinheyer, Gerd 1958: Staat und Bürger im Recht. Die Vorträge des Carl Gottlieb Svarez vor dem Preußischen Kronprinzen (1791–92). Bonn. Krauss, Werner 1965: Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze. Neuwied/Berlin. Meiners, Christoph 1792: Geschichte der Ungleichheit unter den vornehmsten Europäischen Völkern. Band 1. Hannover. Möller, Horst 1974: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin. Träger, Claus 1975: Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur. Leipzig.

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5 „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“ Die sechs Präliminarartikel zum ewigen Frieden unter Staaten formulieren die negativen Bedingungen eines zwischenstaatlichen Friedenszustandes. Sie haben den Status von teils ausnahmslos geltenden Verbotsgesetzen, teils Erlaubnisgesetzen. Sie sind anders als die drei Definitivartikel nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit aus einem Prinzip abgeleitet, sondern der Erfahrung entnommen. Ihr Gegenstand sind Vermeidungshandlungen, die zum konventionellen politischen Repertoire der Kriegsverhinderung und Friedensermöglichung gehören und als unerläßliche Voraussetzungen eines rechtlich befestigten Friedens empirisch ausweisbar sind. Auf der Grundlage dieser Präliminarartikel läßt sich ein Vorfriede erreichen, ein Zustand der Kriegsabwesenheit. Ein Zustand der Kriegsabwesenheit ist jedoch selbst noch kein positiver Friedenszustand. Um vom Zustand der Kriegsabwesenheit zum Zustand des Friedens überzugehen, muß der Weg der Verrechtlichung eingeschlagen werden. Nur durch das Recht gelangen Menschen und Staaten zum Frieden.

5.1 Kriegszustand und Friedenszustand Übersetzen wir den in den Präliminarartikeln umrissenen Zustand der Kriegsabwesenheit in die vertragstheoretische Sprache der klassischen politischen Philosophie, dann entdeckt sich der Zustand der Kriegsabwesenheit als Naturzustand und folglich als Kriegszustand. Das ist kein Widerspruch, denn für Kant ist der Naturzustand aus strukturellen Gründen ein Kriegszustand, weil es in ihm keine gewaltfreien, von kontingenten Machtverteilungen unabhängigen rechtlichen Verfahren der Konfliktregulierung und Ordnungsherstellung gibt, in ihm darum Unsicherheit und latente Gewalt herrschen und jeder nur auf den nächsten „Ausbruch der Feindseligkeiten“ wartet (349). Kant legt die politische Fundamentalopposition von Krieg und Frieden rechtsphilosophisch aus und begründet damit einen anspruchsvollen Friedensbegriff, der alle politischen Befriedungsarrangements durch Übermacht und Abschreckung lediglich als negativen Frieden bewertet und noch dem Kriegszustand zurechnet. Denn die sich Gleichgewichts- oder Überlegenheitskonstellationen oder auch einem allseitigen Handeln gemäß den Präliminarartikeln zum ewigen Frieden verdankende Kriegsabwesenheit ist kontingent, fragil und strukturell ungesichert und bietet, sosehr sie auch jeder gewaltsamen Auseinandersetzung vorzuziehen ist, nicht die mindeste Gewähr für ein dauerhaftes gewaltfreies Zusammenleben. https://doi.org/10.1515/9783110782462-007

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Es bedarf also zusätzlicher Anstrengungen, damit die Kriegsabwesenheit auf Dauer gestellt wird und die Naturzustandsbewohner für immer in friedlicher Nachbarschaft miteinander leben können, damit der negative Frieden der Kriegsabwesenheit einem positiven Friedenszustand Platz macht. Der Friedenszustand muß also eigens „gestiftet werden“ (349); und diese Friedensstiftung besteht in der Etablierung bestimmter, vernunftrechtlich begründeter Rechtsstrukturen, die die politischen Macht- und Herrschaftskonstellationen institutionell überformen. Solange das noch nicht erfolgt ist, solange die Nachbarn einander noch nicht durch gemeinsamen Beitritt in ein System gesetzlicher Freiheit und gewaltfreier rechtlicher Konfliktregulierung ihrer Gewaltverzichtsbereitschaft versichert haben, ist es für jedermann nur vernünftig, jeden im Naturzustand verharrenden Nachbarn als Feind zu betrachten und zu behandeln und „jederzeit in Kriegsrüstung zu seyn“ (XIX Refl. 7646). Das gilt für Menschen im interindividuellen Naturzustand und für Staaten im internationalen Naturzustand gleichermaßen. Unter normalen rechtlich und staatlich geordneten Verhältnissen werden wir jemanden nur dann als unseren Feind betrachten, wenn er uns in unseren Rechten verletzt hat; hier gibt sich der Feind also erst durch die rechtsverletzende Gewaltanwendung zu erkennen. Im Naturzustand hingegen, sowohl in dem zwischen den Menschen als auch in dem zwischen den Staaten herrschenden, ist jeder durch jeden anderen allein schon dadurch in seinen Rechten verletzt, daß ein solcher Zustand der Gesetzlosigkeit zwischen ihnen besteht, Kant spricht daher von einer strukturellen, zustandsbedingten Rechtsverletzung, von einer,laesio per statum‘ (vgl. XIX Refl. 7647; XXIII 211). Aus dieser Naturzustandsinterpretation folgt unmittelbar die rechtliche Notwendigkeit, den Naturzustand zu verlassen. „Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen Mir und Dir im Naturzustand, noch zwischen uns als Staaten, die obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (im Verhältniß gegen einander) im gesetzlosen Zustand sind“ (VI 354). Und daher gilt: „Alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören“ (349 Anm.). Auch Hobbes lehrt, daß der Naturzustand zu verlassen ist; aber seine politische Philosophie weist nur einen Weg aus dem interindividuellen Naturzustand. Für den neuen, zwischen den Staaten entstehenden Naturzustand hat die Hobbessche Philosophie dann keine institutionelle Lösung mehr anzubieten. Der Kantische Weg aus dem Naturzustand hingegen führt viel weiter; seine Rechtsphilosophie bietet für alle Naturzustandsverhältnisse eine rechtliche Friedenslösung an: nicht nur der interindividuelle Naturzustand ist durch eine Rechtsordnung abzulösen, auch der interstaatliche Naturzustand muß durch eine rechtliche Verfassung überwunden werden; und selbst noch der Naturzustand zwischen Individuen und fremden Staaten ist durch angemessene rechtliche Regelungen zu ersetzen (vgl. VIII 24).

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Vor dem Hintergrund der politischen Philosophie Hobbes’ zeichnet sich der anspruchsvolle Charakter der Kantischen Theorie des Rechtsfriedens deutlich ab. Während Kant den Frieden durch rechtliche Überwindung des zwischenstaatlichen Naturzustandes erreichen will, muß Hobbes nach einem Frieden im zwischenstaatlichen Naturzustand suchen, durch den der Zustand der Kriegsabwesenheit möglichst lange konserviert wird. Er stützt sich dabei auf ein Friedensprogramm des rationalen Mißtrauens, dessen Grundidee darauf zielt, den Krieg dadurch abzuhalten, daß jeder die Aufhebung des kriegslosen Zustandes für alle anderen so teuer macht, daß sich vernünftigerweise damit kein Gewinn mehr verbinden läßt. Der Kerngedanke ist also die Abschreckungsbalance, die zu stabilisieren eine stete Nachrüstungsbereitschaft nötig ist, die ihrerseits, um nicht Gefahr zu laufen, zu spät zu kommen, notwendigerweise zu einer Vorrüstungsbereitschaft tendiert, so daß die Abschreckungspolitik selbst die Rüstungsspirale aus sich hervortreibt. Kant hingegen begründet den Friedenszustand nicht in einem Abschreckungsgleichgewicht, sondern in einer Rechtsordnung. Bei ihm wird die Gewaltdynamik des Naturzustandes nicht durch ein Arrangement der Klugheit gebändigt, sondern durch eine „bürgerliche Verfassung“ (349) beendet, die einzurichten und nach reinen Rechtsprinzipien zu formen die Vernunft kategorisch von den Menschen und Staaten verlangt. Die drei Definitivartikel zum ewigen Frieden formulieren die positiven Rechtsbedingungen dieses umfassenden Friedenszustandes. Sie beschreiben damit zugleich drei unterschiedliche Verrechtlichungsschritte staatsrechtlicher, völkerrechtlicher und weltbürgerrechtlicher Natur, die zur endgültigen Überwindung des Naturzustandes unternommen werden müssen. Diese „Eintheilung ist nicht willkürlich, sondern nothwendig in Beziehung auf die Idee vom ewigen Frieden“ (349 Anm.). Der ewige Friede ist das Ergebnis der Verrechtlichung aller konfliktträchtigen Beziehungen in der Welt der äußeren Freiheit. Nun kann es gesetzlosigkeitsbedingte Gewalt zwischen Menschen und Menschen, zwischen Staaten und Staaten und schließlich auch noch zwischen Staaten und Menschen (die fremden oder gar keinen Staaten angehören) geben. Folglich muß ein Programm der umfassenden Vermeidung konflikterzeugter Gewalt alle Konfliktzonen verrechtlichen; muß das Programm eines zeitlich wie räumlich umfassenden Friedens eine staatsrechtliche Friedensstiftung, eine völkerrechtliche Friedensstiftung und eine weltbürgerrechtliche Friedensstiftung enthalten und miteinander kombinieren. Man könnte einwenden, daß das Thema der staatsrechtlichen Ordnung in einer Theorie des zwischenstaatlichen Friedens keine Rolle spielen könne und Kant ja selbst auch seinen vernunftrechtlichen Friedensvertrag als einen philosophischen Entwurf einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung bezeichnet habe. Aber diesem Einwand begegnet Kant mit einem Argument, das im Zentrum der Erläuterung des Ersten Definitivartikels steht. Dieses Argument vereint zwei Thesen. Die erste These

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lautet: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Verfassung eines Staates und seinem Verhalten zu anderen Staaten, so daß man grundsätzlich kriegsbegünstigende, unfriedliche Verfassungen und friedliche, kriegsverhindernde Verfassungen unterscheiden kann. Die zweite These lautet: Eine republikanische Verfassung ist eine friedensfunktionale Verfassung, die aus internen Gründen der vernunftrechtlichen Friedensforderung entgegenkommt. Daher hat die Vernunft also gleich einen doppelten Grund, eine republikanische Verfassung des Gemeinwesens zu verlangen. Einmal einen staatsrechtlichen, weil sie die einzig rechtmäßige, mit dem angeborenen Freiheitsrecht der Menschen in Übereinstimmung stehende bürgerliche Organisationsform ist. Und zum anderen einen völkerrechtspolitischen, weil sie die Etablierung einer internationalen Rechtsordnung begünstigt. Die aus reinen Rechtsprinzipien entwickelte völkerrechtliche Friedensordnung hat also eine staatsrechtliche Prämisse, deren Erläuterung Bestandteil des philosophischen Friedensentwurfs sein muß. Daher enthält der Erste Definitivartikel zum ewigen Frieden unter Staaten die staatsrechtlich wie völkerrechtlich motivierte Vernunftrechtsforderung: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat soll republikanisch sein“ (349).

5.2 Elemente der republikanischen Verfassung Eine republikanische Verfassung ist nach Kant eine „erstlich nach Principien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Unterthanen) und drittens … nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung“ (350). Weiterhin charakterisiert Kant die republikanische Verfassung als „die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß“. Diesem Argument liegt eine vertragstheoretische Legitimationskonzeption zugrunde, die an den Contrat social erinnert. Kant hat im „Bürgerhund“ Rousseaus das „ideal des Staatsrechts“ erblickt und den Gesellschaftsvertrag als allgemein verbindliche Rechtsform für jede bestehende gesellschaftlich-politische Vereinigung angesehen (XIV Refl. 6593). Der einzige rechtmäßige, mit dem angeborenen Freiheitsrecht der Menschen in Übereinstimmung stehende Weg, den Naturzustand durch eine Rechtsordnung zu ersetzen, besteht in dem Zusammenschluß aller zu einem allgemeinen gesetzgebenden Willen, dessen Gesetzen jedermann in gleicher Weise unterworfen ist. Der vertragliche Zusammenschluß ist das vernunftrechtliche Modell legitimer Herrschaft; und die normative Binnenstruktur der Vertragsgemeinschaft enthält in nuce das normative Gerüst einer republikanischen Verfassung.

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Legitim ist die den vertraglichen Zusammenschluß in der Organisation der Gesetzgebung wiederholende Herrschaft, weil sie notwendigerweise gerechte Gesetze gibt. „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht thun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, sofern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“ (VI 314). Man sollte beachten, daß diese auf Einmütigkeit und gleicher Partizipation aller Betroffenen sich stützende Gerechtigkeitskonzeption keinerlei moralische Voraussetzungen macht, auch keinen Gerechtigkeitssinn verlangt; es ist denjenigen, die hier zu einer gemeinsamen Beschlußfassung aufgerufen sind, nicht verwehrt, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Gerechtigkeit geht mit Selbstinteresse durchaus zusammen, allerdings muß sie das Selbstinteresse aller Betroffenen in gleicher Weise berücksichtigen. Kant vertritt einen prozeduralistischen Gerechtigkeitsbegriff, der die Gerechtigkeit eines Gesetzes über das Verfahren seiner Entstehung bestimmt; Gesetze sind dann gerecht, wenn sich in ihrem Entstehungsverfahren das Einigungsverfahren des Vertrages reflektiert, wenn sie das einmütige Ergebnis einer Entscheidung sind, an der alle Betroffenen gleichberechtigt beteiligt sind (vgl. Maus 1992). Die republikanischen Verfassungsprinzipien der rechtlichen Freiheit und rechtlichen Gleichheit gewinnen vor dem Hintergrund der kontraktualistischen Konzeption eines gesetzgebenden allgemeinen Willens jetzt klare Kontur. Die Freiheit der Menschen in einem republikanisch verfaßten Staat besteht in dem Recht, nur allgemein anerkennungsfähigen Gesetzen unterworfen zu sein oder, wie Kant formuliert: „meine äußere (rechtliche) Freiheit … ist die Befugniß, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können“ (350 Anm.). Da dieses Recht jedermann hat, muß die Freiheit der Menschen mit einem Leben unter allgemein zustimmungsfähigen Gesetzen zusammenfallen. Die rechtliche äußere Freiheit der Menschen läßt sich unabhängig von dem Begriff des Gesetzes nicht bestimmen. Kant macht klar, daß die bekannte Definition der rechtlichen Freiheit als Befugnis, „alles zu thun, was man will, wenn man nur Keinem Unrecht thut“, gedankenlos ist, da sie sich ausbuchstabiert als „leere Tautologie“ erweist (350 Anm.). Da alle Gesetze freiheitseinschränkender Natur sind, aber die Freiheit nicht immer auf legitime Weise einschränken, muß eine nichttautologische und zugleich vernunftrechtlich begründete Bestimmung der äußeren rechtlichen Freiheit der Menschen diese mit dem Begriff legitimer, gerechter Gesetze zusammenbringen. Und da aufgrund des Kantischen Prozeduralismus gerechte Gesetze allgemein zustimmungsfähige Gesetze sind, gelangen wir zu einer

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Definition des privaten rechtlichen Freiheitsraumes, die von dem gleichen Gesetzgebungsrecht aller a priori Gebrauch macht. Meine äußere rechtliche Freiheit besteht in der Befugnis, nur solchen Gesetzen gehorchen zu müssen, die ich unter Wahrnehmung meiner Mitgesetzgebungskompetenz mit allen anderen einvernehmlich beschlossen haben könnte. Es ist bemerkenswert, daß in dieser Definition die Brücke von dem angeborenen Freiheitsrecht zum Staatsrecht geschlagen wird. Man könnte geradezu von einem vernunftrechtlich modifizierten Aristotelismus bei Kant sprechen: die menschenrechtliche Grundfreiheit läßt sich angemessen nur im Hinblick auf eine republikanische Verfassungsordnung explizieren, ist von vornherein auf ihre gesetzliche Konkretisierung und Sicherung durch den gesetzgebenden allgemeinen Willen ausgelegt. Auch das Gleichheitsprinzip steht in engem Zusammenhang mit einer Handlungskoordination durch allgemeine Gesetze; rechtliche Ungleichheit würde „der allgemeine Volkswille in einem ursprünglichen Vertrage (der doch das Princip aller Rechte ist) nie beschließen“ (350 Anm.). Rechtliche Gleichheit impliziert die Abweisung von Diskriminierung und Privilegierung, verlangt Gleichverteilung gesetzlich bestimmter Rechtsmacht und den freien Zugang zu allen gesetzlich bestimmten Rechtspositionen, ist mit Erbuntertänigkeit, Adelsvorrechten und allen anderen Formen rechtlicher Benachteiligungen und rechtlicher Begünstigungen unverträglich. Und der Garant rechtlicher Gleichheit ist die Übertragung der Gesetzgebung an den allgemein vereinigten Willen. Es ist offenkundig, daß sich die Idee des ursprünglichen Vertrages, das Konzept des vereinigten gesetzgebenden Willens und die republikanischen Verfassungsprinzipien der Freiheit und Gleichheit wechselseitig explizieren. Die in der Rechtskonstruktion des contractus originarius sich manifestierende staatsbürgerliche Autonomie bedingt genau die rechtliche Freiheit, die den Bürgern als Menschen zukommt, nämlich nur allgemein anerkennungsfähigen Gesetzen unterworfen zu sein, und etabliert einen Zustand der Gleichheit aller vor den Gesetzen. – Das von Kant neben Freiheit und Gleichheit hier ebenfalls aufgeführte „Princip der rechtlichen Abhängigkeit“ taugt übrigens nicht als Unterscheidungsmerkmal einer republikanischen Verfassung. Da jede Staatsverfassung als solche bereits dieses Prinzip der rechtlichen Abhängigkeit realisiert, es also „schon in dem Begriffe einer Staatsverfassung überhaupt liegt“ (350 Anm.), führt es zu einer Unterbestimmung des Konzepts einer republikanischen Verfassung. Republikanisch ist eine bürgerliche Verfassung folglich dann, wenn sie den Prinzipien der Mitgesetzgeberschaft aller als möglicher Staatsbürger, der Freiheit aller als Menschen und der Gleichheit aller als Untertanen, d.h. der Gleichheit aller vor dem Gesetz, entspricht. Und diese rechtlichen Eigenschaften sind auch der Grund dafür, daß die republikanische Verfassung „die einzige ist, die zum ewigen Frieden hinführen kann“ (350).

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5.3 Die Friedensfreundlichkeit der republikanischen Verfassung Das Argument, das Kant für die Friedensfreundlichkeit, für den strukturellen Pazifismus der republikanischen Verfassung anführt, ist klar und einfach. „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten …, sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“ (351). Das Argument macht wohlgemerkt nicht von pazifistischen Überzeugungen oder einem Gerechtigkeitssinn oder sonstigen moralisch anspruchsvollen Motivationslagen Gebrauch; es stützt sich nur auf Rationalität und Selbstinteresse. Der gleiche motivationale Minimalismus kommt auch in Kants berühmtem Diktum zum Ausdruck, daß das „Problem der Staatserrichtung … selbst für ein Volk von Teufeln … auflösbar“ sei, „wenn sie nur Verstand haben“ (366). Auch ein republikanisch verfaßtes „Volk von Teufeln“, das in staatsbürgerlicher Autonomie sich seine Gesetze selbst gibt, würde, falls es Verstand hat, keinen Angriffskrieg beschließen. Wenn die Menschen in der Lage sind, als autonome Staatsbürger ihre allgemeinen Angelegenheiten gemeinsam zu beraten und zu beschließen, dann werden sie von jedem Krieg Abstand nehmen, denn sie werden die Kosten bedenken, die für sie alle und damit für einen jeden mit der Führung eines Krieges verbunden sind, und dann werden sie sofort wissen, daß es nicht in ihrem Interesse sein kann, die Lasten eines Krieges zu tragen. Man darf nicht vergessen, daß das Kantische Argument natürlich nur auf Angriffskriege, nicht auf Verteidigungskriege gemünzt ist. Da das Vermögen und die Vergnügungen eines autokratischen Fürsten durch einen Krieg nicht im mindesten beeinträchtigt werden, kann er mit menschenverachtender Willkür einen Krieg vom Zaun brechen, wann und aus welchen Gründen auch immer er es will. Die Bürger hingegen, die niemanden haben, auf den sie die Kriegskosten abwälzen können, die alle Lasten eines Krieges ungeschmälert selbst zu spüren bekommen, haben kein Interesse, einen Krieg zu beginnen. Die republikanische Verfassung ist die Verfassung der politischen Selbstbestimmung; sie erhebt den Untertanen in den Rang eines Bürgers; verwandelt politische Heteronomie in politische Autonomie. Während der Untertan in nicht-republikanischen Verfassungen stumm bleibt, können die sich als Freie und Gleiche wechselseitig anerkennenden Bürger in Wahrnehmung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie, im Rahmen einer allgemeinen rechtlichen Willensbildung ihre Interessen zur Geltung bringen. Und einen Krieg zu beginnen und zu führen kann nicht im Interesse der Bürger sein. Deshalb ist die republikanische Verfassung eine friedensfunktionale Verfassung; deshalb darf von republikanisch verfaßten Ge-

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meinwesen erwartet werden, daß sie einem ewigen Frieden zwischen den Staaten entgegenkommen. Dieser Gedanke ist zu naheliegend, um neu sein zu können. Bereits Erasmus’ klagender Friede (Querela pacis, 1517) hat zu seinem eigenen Schutz den Krieg an die Bedingung der Zustimmung eines ganzen Volkes gebunden. Und wenn Montesquieu dem Verhältnis zwischen den Verfassungen und der Außenpolitik nachgeht und der Monarchie einen kriegerischen Charakter, der Republik hingegen Friedlichkeit bescheinigt, dann liest sich das wie ein vorweggenommener Kommentar zu den einschlägigen Ausführungen Kants (De l’esprit des lois IX 2). Aufgrund der Erfahrungen mit dem revolutionären Frankreich haben jedoch manche Zeitgenossen Kants die These von der strukturellen Friedensfreundlichkeit der Republik angezweifelt, sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Während Kant mit der Französischen Revolution den Beginn eines neuen Zeitalters der Freiheit feierte, erblickten die konservativen Revolutionskritiker in ihrem aggressiv-totalitären Jakobinismus und militanten Nationalismus die Anfänge eines neuen ideologischen Zeitalters. Sie hörten die Revolutionspropaganda, fürchteten die Begeisterung der Menschen, die neuen unbekannten politischen Leidenschaften, die alle ergriffen, und weigerten sich, Kants bürgerlichen Rationalismus zu teilen und das Selbstinteresse der Menschen als verläßliche Vernunftbastion und Friedensgarantie anzusehen. Nicht den Frieden, sondern den Krieg habe die Revolution hervorgebracht, behauptet der Burkeaner Friedrich von Gentz in seiner Auseinandersetzung mit der Kantischen Friedensschrift, wähnten die Revolutionäre doch, „alle Völker der Erde in einem großen kosmopolitischen Bunde zu vereinigen“, und „schufen“ sie doch dabei „den grausamsten Weltkrieg, der je die Gesellschaft erschütterte und auseinanderriß“ (Gentz 1800/1953, 494). Ähnliches, wenn auch in sachlicherem Ton und hauptsächlich mit Blick auf England, bringt Hegel gegen Kants These vor: um die Rationalität des Volkes sei es nicht ganz so gut bestellt, und es müsse zugestanden werden, daß „oft ganze Nationen noch mehr wie ihre Fürsten enthusiasmiert und in Leidenschaft gesetzt werden können. In England hat mehrmals das ganze Volk auf Krieg gedrungen und gewissermaßen die Minister genötigt, ihn zu führen“ (Rechtsphilosophie § 329 Anm.). Gleichgültig, ob Hegels Interpretation der englischen Geschichte zutrifft oder nicht, sicherlich ist es richtig, daß es populäre Kriege gegeben hat und gibt, daß die Kriegsleidenschaft ein ganzes Volk erfassen kann und es bereit ist, sich in einem totalen Krieg selbst zu verbrennen. Hinwiederum gibt aber die politische Entwicklung in den internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg anderen wieder hinreichend Anlaß, an Kants These zu erinnern und sie mit eindrucksvollem empirischem Material zu stützen (vgl. Gilbert 1992). Kant hat der These von der strukturellen Friedensfreundlichkeit der republikanischen Verfassung in seiner Friedensschrift eine sehr schlichte Fassung gegeben. Bei Beachtung des Prinzips der möglichen Mitgesetzgeberschaft aller Bürger

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kann kein Herrscher einen Krieg beschließen, weil kein Bürger „die Drangsale des Krieges über sich beschließen“ würde (351). Man kann diese These natürlich ausbauen, man kann anführen, daß in einem republikanisch verfaßten Gemeinwesen eine Kultur der öffentlichen Meinung besteht, ungehinderte gesellschaftliche Lernprozesse ablaufen, differenzierte politische Willensbildung möglich ist und daß aufgrund dieser mobilisierten deliberativen und reflexiven Rationalität aggressive kriegerische Unternehmungen sehr schwer die Billigung der Bürger finden werden. Aber Kant hat seinem Argument in der Friedensschrift aus sehr gutem Grund diese einfache Fassung gegeben. Während sich die eben erwähnten Rationalitätsvorteile einer republikanischen Verfassung nur unter der Voraussetzung der faktischen Existenz einer Republik mit einer unbehinderten, unzensierten öffentlichen Meinung entwickeln können, eröffnet Kants Argument den Weg, die republikanische Verfassung in ein Gedankenexperiment zu verwandeln, das diejenigen, die die Macht besitzen, anstellen können, wenn sie, wozu sie a priori verpflichtet sind, ihre Macht so ausüben wollen, als ob die Bürger in Wirklichkeit Mitgesetzgeber wären. Daher gibt Kant dem Argument eine Fassung, die eine logische Operationalisierung zuläßt, die an das Universalisierungsverfahren und den Widerspruchstest aus seiner Moralphilosophie erinnert. Man könnte hier von einem Kriterium der Mitgesetzgeberschaft sprechen: Ein Gesetz ist dann legitim, wenn es auch beschlossen worden wäre, wenn die von ihm Betroffenen Mitgesetzgeber gewesen wären. Der Vorzug dieser Operationalisierung liegt auf der Hand: die sich in der republikanischen Verfassung ausdifferenzierende Rechtsvernunft macht sich von der herrschaftsorganisatorischen Voraussetzung der Demokratie unabhängig und kann im Rahmen jeder bestehenden Staatsform Wirksamkeit entfalten. Mit dieser Überlegung berühren wir bereits das Thema des dritten und umfangreichsten Teils der Kantischen Erläuterungen zum Ersten Definitivartikel, der der Frage nach den Chancen der Verwirklichung republikanischer Prinzipien unter widerstreitenden institutionellen Bedingungen nachgeht und das begriffliche Inventar für eine reformistische Kompromißlösung bereitstellt.

5.4 Herrschaftsform und Regierungsart Der Erste Definitivartikel des rechtsphilosophischen Friedensvertrags umfaßt drei Teile. Im ersten Teil werden die drei Prinzipien der republikanischen Verfassung aufgezählt. Im zweiten Teil wird das Argument vom friedensfunktionalen Charakter der republikanischen Verfassung vorgetragen. Im dritten Teil gibt Kant im Rahmen einer eigenwilligen Neubestimmung der Einteilungen der aristotelischen Verfassungslehre eine äußerst gedrängte und sehr undeutliche verfassungstheoretische Skizze. In ihrem

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Mittelpunkt steht die Unterscheidung zwischen Herrschaftsform (forma imperii) und Regierungsart (forma regiminis). Werden die Herrschaftsformen wie schon bei Aristoteles „nach dem Unterschiede der Personen, welche die oberste Staatsgewalt inne haben“ (352), in „Autokratie, Aristokratie und Demokratie“ eingeteilt, so zerfällt die Regierungsart, je nachdem ob sie sich den reinen Prinzipien der Rechtsgemeinschaft verpflichtet weiß oder sich über diese hinwegsetzt, in eine „republikanische“ und eine „despotische“. Bei Kant findet sich also im Unterschied zu Aristoteles kein Sechs-Verfassungs-Schema, in dem eine Trias guter, politischer Verfassungen einer Trias parekbatischer, unpolitischer Verfassungen gegenübersteht. Kant kombiniert die quantitativen und die qualitativen Klassifikationsgesichtspunkte nicht, sondern stellt sie als selbständige Einteilungsmerkmale nebeneinander. So gelangt er einerseits zu zwei gegensätzlichen Regierungsarten, die die rechtliche Qualität der Herrschaftsausübung bestimmen, und andererseits zu einer Trichotomie wertindifferenter Herrschaftsformen (vgl. Bien 1972). Das von Kant selbst angegebene Motiv für die Einfügung dieser gedrängten verfassungstheoretischen Skizze in den Ersten Definitivartikel liegt in dem Bestreben, einer Verwechslung der republikanischen Verfassung mit der demokratischen Verfassung zu begegnen. Diese Verwechslung ist in der Tat naheliegend; ist die republikanische Verfassung doch in der Idee des ursprünglichen Vertrags begründet; verweist die Freiheit unter allgemeinen Gesetzen doch auf den gesetzgebenden allgemeinen Willen; manifestiert sich in dem allgemeinen gesetzgebenden Willen doch ein demokratisches Souveränitätskonzept, da die Souveränität, das Herrschaftsrecht, die gesetzgebende Gewalt rechtmäßig allein dem vereinigten Willen des Volkes zukommen kann. Wie auch sonst sollte der Untertan Bürger werden, wenn nicht im Rahmen einer demokratisch organisierten Gesetzgebung? Wäre jedoch die republikanische Verfassung eine demokratische, dann könnte ihre im Ersten Definitivartikel nun hauptsächlich interessierende „gewünschte Folge“ des ewigen Friedens nur von existierenden demokratischen Herrschaftsorganisationen erwartet werden. Und das bedeutet angesichts der politischen Verhältnisse zur Zeit Kants: daß die Friedenswirkung der republikanischen Verfassung sich nur nach erfolgreicher demokratischer Revolution entfalten kann. Auf der Ebene der reinen rechtsbegrifflichen Argumentation, also vernunftrechtsintern, fallen die Bestimmung der Herrschaftsorganisation und die Bestimmung der rechtlichen Ordnung des sozialen Lebens zusammen: die reine Rechtsgesellschaft ist eine direkte Demokratie. Aber sobald die Frage der Verwirklichung des Rechts, der Anwendung der vernunftrechtlichen Prinzipien, der Wirksamkeit der Vernunft in der Geschichte aufgeworfen wird, fallen die herrschaftsorganisatorische Komponente und die Komponente der rechtlichen Ordnung auseinander. Die unbedingte Verbindlichkeit des Vernunftrechts nimmt dann die Gestalt eines Imperativs an, der an die Herrschenden in der geschichtlichen Welt gerichtet ist und eine Machtausübung

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verlangt, die sich den Prinzipien der rechtlichen Freiheit und rechtlichen Gleichheit unterwirft. Nach der Einführung des verfassungstheoretischen Dualismus von Herrschaftsform und Regierungsart kann eine Verwechslung von demokratischer und republikanischer Verfassung nicht mehr vorkommen: die demokratische Verfassung wird zur demokratischen Herrschaftsform; und die republikanische Verfassung wird zur republikanischen Regierungsart. Die argumentationslogische Funktion dieses dritten Teils liegt in der Bereitstellung eines begrifflichen Instrumentariums zur Vermittlung der normativen Ebene des reinen Rechts mit der empirischen Wirklichkeit der Politik und Geschichte. Das legitimatorische Urmodell der sich politisch selbst organisierenden Vertragsgemeinschaft ist eine sich jeder unmittelbaren Verwirklichung entziehende Vernunftidee, die von Kant als eine jede empirische Herrschergewalt gleichermaßen bindende Rechtspflicht zu einer republikanischen Machtausübung interpretiert wird. Dadurch wird nicht die Herrschaftsform, sondern die Regierungsart zum Medium der Verwirklichung des Republikanismus. Damit macht sich aber auch die Möglichkeit, republikanisch regiert zu werden, unabhängig von der Herrschaftsform. Folglich sind auch die erwünschten Befriedungsauswirkungen der republikanischen Verfassung auf den zwischenstaatlichen Zustand nicht abhängig von der Herrschaftsorganisation, sondern von der Art und Weise, wie der Inhaber der Herrschaftsgewalt von seiner Gewalt Gebrauch macht. Natürlich wird eine angemessene Realisierung der Forderung des Ersten Definitivartikels die Verwandlung aller Staaten in Republiken verlangen, das heißt in Demokratien mit Repräsentationssystem und Gewaltenteilung. Aber der ewige Frieden muß nicht auf den demokratischen Internationalismus warten. Der Forderung des Ersten Definitivartikels kann auch umwegig und indirekt entsprochen werden: durch eine republikanische, gleichsam die Herrschaftsweise einer Republik imitierende Gewaltausübung, und folglich kann der Friedensprozeß in Zeiten der Abwesenheit von Republiken seine Hoffnung dann auf die republikanische Regierungsart von Nicht- Republiken stützen. Hier zeigen sich deutlich die anti-rousseauistischen Implikationen der rechtsphilosophischen Rekonstruktion des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags im Rahmen eines reinen Vernunftrechts. Für Kant ist die gesetzgeberische Gerechtigkeit verbürgende plebiszitär-demokratische Genese eines Gesetzes durch ein Gedankenexperiment ersetzbar und entsprechend der vernunftrechtliche und in der Idee existierende Souverän durch einen beliebigen empirischen Gewalthaber repräsentierbar. Rousseaus politische Philosophie hingegen verlangt die Identität von allgemeinem Willen und Bürgersouveränität, von volonté générale und volonté de tous. Für ihn ist Freiheit materiale, undelegierbare Selbstbestimmung. Sein Freiheitskonzept hat daher die politische Konsequenz einer notwendigen unmittelbaren Mitwirkung aller Bürger bei der politischen Entscheidungsfindung. Rousseau kann

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nur einer plebiszitären, einer direkten Demokratie Legitimität zusprechen; bereits die Etablierung eines Repräsentativsystems in einer demokratischen Herrschaftsorganisation versündigt sich gegen die unveräußerliche Selbstbestimmungsfreiheit. Für Rousseau bildet die Mitgliederversammlung des Bürgerbundes, das Ensemble der empirischen Willen aller Bürger das einzige Medium, in dem sich die volonté générale zeigen und realisieren kann. Kants Entwurf einer „vollkommenen rechtlichen Verfassung unter Menschen“ (VI 371) beinhaltet eine freiheitliche Konstruktion eines Gemeinwesens in Form einer zwangsfreien und einvernehmlichen Vergesellschaftung freier und gleicher Menschen zum Zwecke der Bestimmung und Verwirklichung des Rechts. Der von ihnen eingegangene Vertrag bildet das Grundgesetz des Vernunftstaats und fungiert für die geschichtliche Welt als Gerechtigkeitskriterium positiver Gesetze. Er bindet als Wille des vernunftrechtlichen Souveräns jeden empirischen Gesetzgeber. Dieser ist gehalten, sich als Repräsentant des allgemeinen Willens zu begreifen, nicht aus eigener Machtvollkommenheit oder jure divino zu handeln, sondern in Stellvertretung dessen, dem in einer dem reinen Rechtsbegriff des Staates entsprechenden Organisation der öffentlichen Gewalten allein die legislative Befugnis zukommen kann. Kants Konzept des Republikanismus ist nicht auf eine Maxime der Machtausübung reduzierbar; es besitzt neben der rechtsethischen Komponente auch eine institutionalistische Komponente, die freilich recht undeutlich bleibt, denn die für den Republikanismus konstitutiven institutionellen Bedingungen der Gewaltenteilung und der Repräsentation werden in der knappen Skizze Kants nicht hinreichend erläutert. Zudem wird diese Unterscheidung zwischen ethischen und institutionellen Republikanismuskriterien von Kant selbst wieder verwischt, wenn er Autokraten die Möglichkeit einräumt, „eine dem Geiste eines repräsentativen Systems gemäße Regierungsart“ anzunehmen, sich also bei der Herrschaftsausübung so zu verhalten, als ob der gesetzgebende Wille der der vereinigten Staatsbürger sei (352). Letztlich sind die drei Kriterien der simulierten Mitgesetzgeberschaft der Betroffenen, der Gewaltenteilung und der Repräsentation unterschiedlicher Ausdruck des einen grundlegenden vernunftrechtlichen Verfassungsprinzips: die gesetzgebende Gewalt gehört dem vereinigten Volkswillen, und jeder empirische Herrscher hat sich in rechtlicher Hinsicht als Repräsentant des vernunftrechtlichen Souveräns zu betrachten und nicht aus angemaßter Eigenmacht heraus zu herrschen. Auch das überaus dunkle Gewaltenteilungskriterium deutet wohl in diese Richtung, sagt Kant doch von einem despotischen, das Gewaltenteilungsprinzip verletzenden Staat, daß hier eine „eigenmächtige Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat“, stattfindet, mithin der „öffentliche Wille … von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird“ (352). Im Gegensatz zu Rousseau zeichnet Kant also keine empirische Herrschaftsorganisation als einzig legitim aus. Das Problem der personalen Herrschaftsbeset-

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zung ist im Rahmen seiner Philosophie nur von nebensächlicher Bedeutung. Wichtig ist nicht, ob einer herrscht, ob einige herrschen oder ob alle herrschen, wichtig ist, wie geherrscht wird, wichtig ist die Regierungsart. Diese ist „entweder republikanisch d. i. der Freyheit und Gleichheit angemessen oder despotisch ein sich an diese Bedingungen nicht bindender Wille“ (XXIIII 166). Weder Republikanismus noch Despotismus verlangen nach einer besonderen Staatsform. Beide Regierungsarten sind prinzipiell mit jeder Herrschaftsform verträglich. In jeder Staatsform kann der Geist des ursprünglichen Vertrages wirksam werden oder verhöhnt werden. Die reine republikanische Verfassung gewinnt als Grundgesetz der reinen Rechtsgesellschaft angesichts der geschichtlich vorgefundenen Macht des Staates, die sich in einer bestimmten, von kontingenten Bedingungen abhängigen Herrschaftsform präsentiert, den Status eines herrschaftseingrenzenden Regelsystems. Nicht auf die Ablösung der überkommenen Herrschaftsformen ist Kants vernunftrechtlicher Konstitutionalismus unmittelbar aus, sondern auf deren innere Verwandlung durch Republikanisierung. Republikanismus, das bedeutet Republik in fremder Gestalt, das bedeutet Einkörperung des Geistes des ursprünglichen Vertrages in das ihm von Grund auf Widerstreitende, in naturwüchsig und gewaltsam entstandene Herrschaft.

5.5 Republikanismus und Republik Der Prozeß der Verwirklichung der Vernunftverfassung ist ein Prozeß der Republikanisierung staatlicher Herrschaft und endet mit der Herrschaft der Republik. Staaten entstehen nicht durch Übereinstimmung, sondern durch Gewalt. Der vernünftige Konsens bildet den rechtlichen Ursprung staatlicher Macht, an ihrem geschichtlichen Anfang aber steht die Gewalt. Die Geschichte weist die Entstehung staatlichen Rechts als von der vorgängigen Existenz unwiderstehlicher Macht abhängig aus. Doch derjenige, der Recht durchzusetzen vermag, beweist damit nicht, daß er befugt ist, Recht zu setzen. Nach Vernunftbegriffen kommt allein dem vereinigten Volkswillen die Gesetzgebungskompetenz zu, ist Herrschaft nur insofern rechtmäßig, als sie sich auf die Anwendung der gemeinschaftlich gegebenen Gesetze beschränkt. Der im kontingenten Bereich der Geschichte anzutreffenden Entstehungsabhängigkeit des staatlichen Rechts von der Errichtung einer Gewaltherrschaft steht die Geltungsabhängigkeit der staatlichen Herrschaft von der Idee des ursprünglichen Vertrages gegenüber. Wenn die reine republikanische Verfassung allen Herrschaftsformen zugrunde liegt, dann heißt das, daß Herrschaft nur insoweit begründet ist, als sie durch die reinen Verfassungsprinzipien in ihrer Ausübung kontrolliert wird. Das Republikanisierungsgebot erinnert unerbittlich an die Legitimitätsbedingungen staatlicher Herrschaft. Es negiert die traditionellen Rechtfer-

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tigungsversuche und weist Fürstenmacht als abgeleitet aus. Mit Kantischer Philosophie kann ein Monarch zwar die Revolution blockieren, nicht jedoch kann er sich auf Gottesgnadentum zur Herrschaftslegitimation berufen. Er ist nicht verpflichtet, dem empirischen Korrelat des vernunftrechtlichen Souveräns seinen Platz zu überlassen, jedoch muß er diesen als seinen Legitimationsgrund anerkennen. Der Herrscher ist daher verpflichtet, „vorsatzlich Principien der Republikanischen Regierungsart zu allmäliger Einschränkung seiner Staatsgewalt durch die Stimme des Volks“ anzunehmen und zu beachten (XXIII 166). Die republikanische Regierungsart ist daher zugleich ein Programm der Legitimitätsbeschaffung. Kant löst den Gegensatz zwischen der vernunftbegrifflichen Republik und der geschichtlichen Herrschaftsordnung reformistisch in einen zielgerichteten Prozeß der Realisierung der freiheitsgesetzlichen Ordnung menschlichen Zusammenlebens auf. Der Vernunftentwurf, die aus Freiheitsgesetzen gewobene Republik, dieser zwangsfreie Staat der rein Vernünftigen steht als „ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt“ auf der einen Seite, ihr gegenüber der geschichtliche, zufällige, gewaltentsprungene Staat. Beider Vermittlung führt zu der„Evolution einer naturrechtlichen Verfassung“ (VII 87). Diese Vernunftrechtsevolution, auf die Kant aufgrund des Ereignisses der Französischen Revolution glaubte hoffen zu dürfen, ist ein Prozeß der Vermählung von Vernunft und Herrschaft. Durch Republikanisierung dringen freiheitsgesetzliche Verfassungselemente in die empirischen Strukturen der staatlichen Herrschaft ein, werden die staatlichen Institutionen durch den Rechtsgedanken überformt. Dieser reformistische Prozeß der Rechtsverwirklichung endet mit der Etablierung der Republik. Kant hat zwischen Republikanismus und Republik deutlich unterschieden und unmißverständlich klargemacht, daß erst in einer Republik die Verwirklichung der Rechtsvernunft an ihr Ziel kommt, daß die geschichtliche Republik die einzig angemessene empirische Darstellung der reinen Rechtsgesellschaft ist. Eine republikanische Regierungsart ist zwar geeignet, wie Kant immer wieder betont hat, das Volk zufriedenzustellen, gleichwohl nicht mehr als ein rechtliches Provisorium. Erst wenn die „Evolution der naturrechtlichen Verfassung“ zu einer Republik „auch dem Buchstaben nach endlich führen wird“ (VI 340), zu einer „demokratischen Verfassung in einem repräsentativen System“ (XXIII 166), erst dann verliert das öffentliche Recht seinen provisorischen Charakter, gewinnt es peremtorische Qualität, ist ein „absolut-rechtlicher Zustand der bürgerlichen Gesellschaft“ errichtet (VI 341). Regierungsart und Herrschaftsform sind aufeinander bezogene Begriffe, die allein auf die „vorrepublikanische“ Geschichtsphase anwendbar sind, das meint auf den Zeitraum vor Errichtung einer Republik. Indem sich die republikanische Regierungsart zur Republik objektiviert, indem sich ihre Prinzipien, die bisher allein im Medium eines moralischen Konstitutionalismus und das heißt letztlich allein

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durch den Willen eines rechtlich aufgeklärten oder auch nur klugen Monarchen wirksam wurden, institutionalisieren und zu einer selbsttragenden Verfassung zusammenfügen, verschwinden die überkommenen Staatsformen, verschwinden Herrschaft und Untertänigkeit. Erst die Republik macht aus einem Volk von Untertanen ein Volk von Staatsbürgern. In ihr verwandelt sich die ehemals persönliche Herrschaft in die versachlichte Herrschaft des Gesetzes. Erst in der Republik wird die Freiheit peremtorisch, wie Kant sagt. Und damit macht er die vernunftrechtliche Vorzugswürdigkeit der Republik deutlich, denn wird erst in der Republik die Freiheit peremtorisch, dann besteht zwischen der Republik und den vorrepublikanischen Herrschaftsformen genauso ein Verhältnis wie zwischen Naturzustand und bürgerlichem Zustand; oder, anders formuliert: erst in der Republik ist aufgrund der für sie konstitutiven personenunabhängigen Gesetzesherrschaft der Schatten des Naturzustandes verschwunden. „Alle wahre Republik aber kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten … ihre Rechte zu besorgen. Sobald aber ein Staatsoberhaupt, der Person nach (es mag sein König, Adelsstand oder die ganze Volkszahl, der demokratische Verein) sich auch repräsentieren läßt, so repräsentiert das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst; denn in ihm (dem Volk) befindet sich ursprünglich die oberste Gewalt, von der alle Rechte der einzelnen, als bloßer Unterthanen abgeleitet werden müssen, und die nunmehr errichtete Republik hat nun nicht mehr nöthig, die Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen.“ Wenn Kant das Ziel des geschichtlichen Rechtsfortschritts in einer Republik erblickt, in der „das Gesetz selbstherrschend ist und an keiner besonderen Person hängt“ (VI 341), in der also der Rechtsstaat sich von allen Bindungen an geschichtlich überkommene und personal gebundene Herrschaftssysteme emanzipiert und Selbständigkeit und Autonomie gewonnen hat, weil er „sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“ (VI 318), dann wird der große Unterschied zwischen dem in Herrschaft fundierten vorrepublikanischen Staat und dem in Freiheit begründeten Staat der Vernunft klar zum Ausdruck gebracht. Für Menschen, die unter Endlichkeitsbedingungen leben, ist die Republik die beste erreichbare rechtliche Organisationsform ihres Zusammenlebens. In der gesellschaftlichen Handlungswelt stellt sie ein der Moralität als habitualisierter Vernünftigkeit analoges Vollendungsstadium dar. So wie der moralische Mensch sich dadurch auszeichnet, daß die Vernunft in ihm selbstherrschend ist, er sein ganzes Begehren und Handeln dem Regiment der Vernunft unterwirft, so ist das republikanische Zusammenleben dadurch gekennzeichnet, daß in ihm die allgemein anerkennungsfähigen Gesetze selbstherrschend sind, daß sie als Ausdruck des allgemeinen Willens das Zusammenleben regulieren und als Prinzipien legitimer staatlicher Zwangsanwendung alle Exekutionsgewalt mit dem Freiheitsrecht der Menschen in Übereinstimmung bringen.

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Literatur Bien, Günther 1972: Revolution, Bürgerbegriff und Freiheit. Über die neuzeitliche Transformation der alteuropäischen Verfassungstheorie in politische Geschichtsphilosophie. In: Philosophisches Jahrbuch 79, 1–18. Gentz, Friedrich v. 1800: Über den ewigen Frieden. In: Kurt v. Raumer: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. Freiburg 1953, 461–497. Gilbert, Alan 1992: Must Global Politics Constrain Democracy? Realism, Regimes, and Democratic Internationalism. In: Political Theory 20, 8–37. Kersting, Wolfgang 1993: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Neuauflage Frankfurt/M. Langer, Claudia 1986: Reform nach Prinzipien: Untersuchung zur politischen Theorie Immanuel Kants. Stuttgart. Maus, Ingeborg 1992: Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant. Frankfurt/M.

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6 Völkerbund oder Weltrepublik? 6.1 Ein Widerspruch? Die drei Definitivartikel behandeln die Bedingungen der Möglichkeit des ewigen Friedens, durchdekliniert nach den drei Grundformen von Rechtsbeziehungen. Diese bestehen entweder zwischen einzelnen Menschen, die sich zu Einzelstaaten zusammentun („Staatsrecht“), oder zwischen den verschiedenen Einzelstaaten („Völkerrecht“) oder aber zwischen einzelnen Menschen und fremden Einzelstaaten („Weltbürgerrecht“). Nun befaßt sich Kant, wie er zu den Präliminar- und den Definitivartikeln schon im Titel sagt, nicht mit irgendeinem Frieden, sondern mit dem „unter Staaten“ (343 und 348). Da der Zweite Definitivartikel dieses Thema, den internationalen Frieden, direkt behandelt, können seine dreieinhalb Seiten (354– 357, 18) als das Herzstück der gesamten Friedensschrift gelten. In der Tat hat ihre Grundaussage die meiste Beachtung gefunden; daß es einen Völkerbund und keinen Völkerstaat geben soll, wird nicht nur in Kant-Zirkeln bis heute lebhaft diskutiert. – Speziell für das Völkerrecht einschlägig sind noch zwei weitere Passagen: im Ersten Zusatz die vorletzte Seite (367) und im Anhang II die Seiten 383 und 384. Die Gliederung des Zweiten Definitivartikels ist klar. Der erste Abschnitt stellt zunächst die (übrigens schon im Titel genannte) These vor – es soll einen Völkerbund, keinen Völkerstaat geben – und liefert dann eine Begründung, die Analogie von Staaten mit Individuen. Der zweite Abschnitt nennt ein Hindernis für das Völkerrecht: kein Staat will einem äußeren Zwang unterworfen sein. Der dritte benennt den Grund des Hindernisses: eine Bösartigkeit, aber nicht Verderbnis der menschlichen Natur. Und in den Abschnitten 4–6 wird zunächst das Leitziel, ein alle Kriege beendender Friedensbund, bekräftigt und sodann vom Völkerbund etwas behauptet, das seinen Rang deutlich schmälert; vielleicht widerspricht es sogar der sowohl im Titel als auch im ersten Abschnitt genannten Grundthese: Der Völkerbund stellt nur das negative Surrogat dar, während als positive Idee der Völkerstaat (357, 10) bzw. die Weltrepublik (357, 14) gilt. Die für den Zweiten Definitivartikel wichtigste Interpretationsaufgabe lautet nun: Wie ist die einleitende These – Völkerbund, nicht Völkerstaat – zu verstehen; läßt sie sich mit der Schlußthese – der Völkerbund als negatives Surrogat – vereinbaren, oder erliegt Kant einem Widerspruch? Zuvor jedoch einige Erläuterungen. Beim Subjektbegriff der These, dem „Völkerrecht“, könnte man den ersten Teil mißverstehen; dasselbe gilt für die lateinische Vorgabe „ius gentium“ und deren Übersetzung in andere Sprachen (law of nations, droits des gens usw.). Der Ausdruck https://doi.org/10.1515/9783110782462-008

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„Völker“ könnte nämlich bedeuten, was „gentes“ wörtlich heißt: Gemeinschaften gleicher Abstammung bzw. ethnisch homogene Gruppen. Träfe diese Bedeutung zu, so müßte Kant sich mit den Rechten von Ethnien, von Sippen, Stämmen und anderen mehr oder weniger natürlichen Gemeinschaften, befassen. Dazu könnte das Recht einer Ethnie gehören, aus dem Staatsverband, dem sie bislang angehören, auszutreten und einen eigenen Staat zu etablieren. Eine derartige Befugnis ist nicht erst heute aktuell, sie war es schon damals, etwa beim Unabhängigkeitskrieg der späteren Vereinigten Staaten von Nordamerika. Kant behandelt dieses Thema aber nicht. Von Anfang an – „Völker als Staaten“ (354, 3) – meint er nicht „gentes“, „Blutsgemeinschaften“, sondern „civitates“, also jene Völker im Sinne von Bürgerschaften, die die Verfassungssprache meint, wenn sie sagt: „Alle Gewalt geht vom Volk aus.“ Dabei spielt es keine Rolle, ob die Staaten ethnisch homogen oder heterogen, ob es homogene Nationalstaaten, heterogene Nationalstaaten oder auch multinationale Staaten sind. Um entsprechende Mißverständnisse zu vermeiden, könnte der Zweite Definitivartikel statt von „Völkerrecht“ genauer von „Staatenrecht“ sprechen; geht es doch um die Koexistenz schon existierender Einzelstaaten. Gegen unnötige Wortschöpfungen skeptisch (s. KrV B 368 f.; vgl. auch KpV V 10), folgt Kant aber dem üblichen und nicht ernsthaft mißzuverstehenden Sinn; das Völkerrecht regelt das zwischenstaatliche Recht. Bekanntlich stammt der Ausdruck „Völkerrecht“ aus dem 17. Jahrhundert. Vorformen des Völkerrechts gibt es freilich sehr viel länger. Aus der außereuropäischen Antike kennen wir Verträge zwischen mesopotamischen Stadtstaaten schon aus der Mitte des 3. Jahrtausends v.Chr. und aus dem 13. Jahrhundert v.Chr. Verträge zwischen den Pharaonen und Hethiter-Königen (vgl. Grewe 1984, 30). Die zahlreichen Verträge, die die griechischen Stadtstaaten untereinander abschließen, bringen dagegen wohl keine zwischenstaatliche Rechtsordnung hervor. Und Rom erkennt für die Verträge, die es mit seinen Nachbarn schließt, den eigenen Grundsatz „pacta sunt servanda“ nicht an; derartige Verträge bleiben für Rom – hier verhält es sich als Machiavellist – ein Mittel der Politik. Im Abendland beginnt erst im 16. Jahrhundert die Sache des Völkerrechts, und zwar mit den spanischen Moraltheologen und Juristen von Bartolomé de Las Casas bis Francisco Suárez (De legibus ac Deo legislatore, 1612). Das erste klassische Werk des Völkerrechts, De iure belli ac pacis, erscheint 1625, jetzt aus der Feder des Niederländers Hugo Grotius. Und für die Praxis darf man sagen, daß die Epoche des klassischen Völkerrechts mit dem Westfälischen Frieden (1648) einsetzt; er billigt den Landesherren die höchste Staatsgewalt, die Souveränität, zu, macht diese zum Grundpfeiler der „internationalen“ Rechtsbeziehungen und leitet daraus das Recht, Kriege zu führen (ius ad bellum), ab. Wie die Schrift insgesamt, so streitet auch der Zweite Definitivartikel ein derartiges Recht kategorisch ab (356, 35 f.). Während Grotius der Theoretiker jenes klassischen Völkerrechts ist, das sowohl ein Recht zum Krieg (ius ad bellum) als

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auch ein Recht im Krieg (ius in bello) kennt, begründet Kant ein radikal neues Völkerrecht. An die Stelle eines Kriegs-Völkerrechts tritt das Friedens-Völkerrecht. Die Menschheit mußte allerdings erst die Leiden zweier Weltkriege erleben, bevor sie sich zum Kantischen Völkerrecht bekennen wird – im Prinzip. In den Gründungstexten sowohl des Völkerbundes als auch der Vereinten Nationen wird der Grundsatz des Gewaltverbotes anerkannt, in der politischen Wirklichkeit immer noch nicht (vgl. Kap. 12). In seiner Ablehnung eines Kriegs-Völkerrechts beruft sich Kant ersichtlich nicht auf den Standpunkt des positiven Rechts, wohl aber auf den der Vernunft (vgl. 357, 6), womit er hier die reine rechtlich-praktische Vernunft meint. Weil einen Krieg nur gewinnt, wer insgesamt stärker ist, weil also Sieg und Niederlage ausschließlich eine Frage der Macht sind, erklärt die Vernunft den „Krieg als Rechtsgang“ für „schlechterdings verdammt“ (356, 2 f.; vgl. 349, 35 ff.). Ein Gedanke, der die Politik nicht nur in Europa bis in die Neuzeit mitbestimmt, der eines gerechten Krieges, verliert bei Kant jede Legitimationsgrundlage. Zu einem extremen Pazifisten, der nicht einmal die Selbstverteidigung für berechtigt hält, wird Kant aber nicht. Im Gegenteil hält er es im Dritten Präliminarartikel für selbstverständlich, daß die Staatsbürger auch mit Waffen „sich und ihr Vaterland gegen Angriffe von außen sichern“ (vgl. 345). Davon abgesehen lehnt aber der sonst nüchtern schreibende Kant den Krieg mit all dem Pathos ab, das ihm als Philosophen zur Verfügung steht; die Verurteilung des Krieges erfolgt „vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab“ (356, 2 f.). Mit der Ablehnung eines Rechtes auf Krieg, allerdings auch nur mit dieser Ablehnung, wendet sich Kant von den damals erhobenen Souveränitätsansprüchen der Staaten scharf ab. Ansonsten verhält er sich gegenüber diesen Ansprüchen relativ „konservativ“. Zwar erörtert er auch jene Option des Völkerstaates bzw. der Weltrepublik, die mit der Forderung nach Souveränitätsverzichten die überlieferte Souveränitätsidee kräftig „unterhöhlt“. Zumindest zu Beginn setzt er sich aber für die andere Option ein, für den Völkerbund bzw. Föderalismus von Staaten. Auch wenn dieser den Einzelstaaten mehr als lediglich einen Friedensvertrag abverlangt, mutet er ihnen für das Mehr, den Friedensbund, keinerlei Souveränitätsverzichte zu. Auch wenn Kant hier der traditionellen Souveränitätsvorstellung folgt, ist er doch nicht so konservativ, daß er, wie Hegel unterstellt, nur einen „Fürstenbund“ ansetzt (Rechtsphilosophie § 324, Zusatz). Bei Kant schließen den Bund die Staaten („Völker“). Nun beruft sich Kant, ebenfalls gleich zu Beginn, auf eine Analogie von Staaten mit Individuen. Aus ihr scheint aber nicht der Völkerbund, sondern der Völkerstaat zu folgen. Darin liegt nun eine Zweideutigkeit, vielleicht sogar ein Widerspruch: Die Begründungslast für die einleitende These – Völkerbund, nicht Völkerstaat – trägt eine Analogie, die auf die genaue Gegenthese hinausläuft: Völkerstaat,

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nicht Völkerbund. Bevor wir den Widerspruch untersuchen, bedarf es jedoch noch einer Erläuterung. Die im Titel genannte Eigenschaft der Staaten, frei zu sein, könnte man sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch lesen. Bei der innenpolitischen Lesart wäre die deutsche Übersetzung von „Republik“, also „Freistaat“, gemeint, womit sich der Zweite Definitivartikel direkt an den ersten anschlösse und einen Bund von republikanisch verfaßten Staaten forderte. Nach der außenpolitischen Lesart dagegen wollen die einzelnen Staaten von fremden Einmischungen freibleiben; sie beanspruchen die volle Souveränität. Da Kant dieser Forderung nachkommt, sie aber schon im anderen Titelausdruck, Föderalismus, bezeichnet – er schließt, wie gesagt, jeden Souveränitätsverzicht aus –, erscheint die innenpolitische Lesart als angemessener: Kant verlangt einen Bund von Republiken; der Garant des Friedens, der Völkerbund, ist als Republikenbund zu verstehen. An die Koexistenz schon existierender Staaten stellen sich grundsätzlich drei Fragen. Sie alle finden ihre Antwort schon in der Titelthese, die folglich als dreiteilige These zu lesen ist. Auf die Frage nach der Form der Koexistenz antwortet der Subjektbegriff mit „(Völker‐)Recht“: die Beziehung der Staaten untereinander soll rechtsförmig sein; Kant fordert eine internationale Rechtsordnung. Für die Anschlußfrage nach der Rechtsdurchsetzung sagt der Ausdruck „Föderalism“: nicht in Form eines Staates, sondern in der vorstaatlichen Form einer freien Assoziation, als Staatenbund oder Völkerbund. Wegen der völkerrechtlichen Äquivalenz von „Staat“ mit „Nation“ läuft diese Organisation auf Vereinte Nationen hinaus. Das, was man seit 1948 von New York aus und zuvor, von 1920 bis 1946, von Genf aus versucht, wird also schon hier gefordert. Kants Friedensschrift bildet einen wesentlichen Teil der Theoriegeschichte von Völkerbund und Vereinten Nationen. (Vgl. auch Kap. 12.) Während sich die ersten beiden Fragen mit der Regelungsform befassen, man kann auch sagen: mit der Herrschaftsstruktur oder Staatlichkeit, geht es der dritten Frage um jene Regelungskompetenz, bei der man innerstaatlich von Staatsaufgaben spricht. Auf diese letzte Frage deutet nun der Ausdruck Föderalismus die Antwort zumindest an. Da sich die Staaten nur in der lockeren Form eines Bundes zusammenschließen, ist bei einer internationalen Rechtsordnung mit geringen Zuständigkeiten zu rechnen. (Die folgenden Überlegungen schließen sich an Höffe 1990 und 1993 an.) Die Begründungslast für die dreiteilige Titelthese trägt die Analogie von Staaten mit einzelnen Menschen. Kant versteht die Analogie nicht in einem umfassenden, etwa organologischen Sinn, sondern allein in der für die Friedensfrage wesentlichen, rechtstheoretischen Hinsicht: Solange Staaten, verstanden als (relativ) souveräne Rechtseinheiten, ihre Beziehungen untereinander nicht nach verbindlichen Gesetzen regeln, leben sie rechtstheoretisch gesehen in einem Naturzustand also in

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jener Anarchie, in der das Faustrecht herrscht bzw., mit Hobbes gesprochen, der Krieg aller gegen alle (Leviathan Kap. 13). Die beiden großen Vorläufer der Kantischen Rechts- und Staatsphilosophie, Hobbes und Rousseau, kennen einen Naturzustand nur für die Beziehung von Individuen (oder auch Familien); Kant führt eine neue Dimension ein, den Naturzustand zwischen Staaten. Für den neuartigen Naturzustand gilt aber dasselbe wie für den schon bekannten: Um der rechtsmoralischen Aufgabe, der Rechtssicherheit, willen ist man verpflichtet, ihn zu überwinden. Und als einziges Mittel, den Naturzustand zu überwinden, existiert jener Rechts- und Staatszustand, auf den Kants Ausdruck der bürgerlichen Verfassung (vgl. 354, 7) anspielt. Da gemäß dem Ersten und – dem Titelwort „freier Staat“ zufolge – auch dem Zweiten Definitivartikel diese Verfassung republikanisch sein soll, müßte diese Bedingung auch zwischenstaatlich gelten. Man erwartet daher die Behauptung, die in sich republikanisch verfaßten Staaten sollen ihre Beziehungen zueinander republikanisch gestalten; statt lediglich einen Bund von Republiken sollten sie eine Republik von Republiken, eine Republikenrepublik bzw. Völker- oder Staatenrepublik, gründen. Dabei wäre das Sollen in einem rechtsmoralischen Sinn zu verstehen; den internationalen Naturzustand zu überwinden ist nicht etwas, das die Staaten einander „gnädig gewähren“, es gehört vielmehr zu dem, was sie voneinander fordern dürfen. Wegen der Analogie von Einzelstaaten mit Individuen schulden die Staaten einander, eine Republikenrepublik einzurichten. Insofern erwartet man von Kant eine andere These. Nicht „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism (sprich: Bund) freier Staaten gegründet sein“, sondern „Das Völkerrecht soll auf eine Republik von Republiken gegründet sein.“ In die Konstitutionsbedingungen einer derartigen Republikenrepublik gehört eine zumindest minimale Staatlichkeit. Weil sie einem Völkerbund aber vollständig fehlt – nach seiner Herrschaftsstruktur liegt ein ultraminimaler Weltstaat (UMWS) vor –, besteht zwischen der These des Zweiten Definitivartikels und der die Begründung tragenden Analogie tatsächlich ein Widerspruch. Dort wird die Staatlichkeit abgelehnt, hier wird sie eingefordert; denn wie eine Rechtsgemeinschaft von Individuen nur durch deren Freiheitsverzichte zugunsten öffentlicher Gewalten entsteht, so kommt es zu einer Rechtsgemeinschaft von Einzelrepubliken, zur republikanisch verfaßten Völkerrepublik, nur durch entsprechende, jetzt einzelstaatliche Souveränitätsverzichte.

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6.2 Die Völkerrepublik als extrem minimaler Weltstaat Bevor wir den Widerspruch des näheren erörtern, empfiehlt sich, einen Blick auf die Regelungskompetenz zu werfen. Moralisch geboten ist die globale Staatlichkeit nicht umfassend, sondern nur für den internationalen Naturzustand, und dieser ist seinem Wesen nach ein Rest-Naturzustand. Wie jeder Staat, so ist auch ein globaler Staat für die Festlegung und schließliche Durchsetzung von Rechten zuständig. Soweit diese die Individuen und Gruppen betreffen, obliegt die Aufgabe aber den Einzelstaaten, die als Primärverantwortliche für das Recht den rechtstheoretischen Rang von Primärstaaten einnehmen. Im Verhältnis zu den Einzelstaaten ist nur eine subsidiäre Staatsordnung vonnöten. Verantwortlich nur für die rechtsförmige Koexistenz schon existierender Rechtsgemeinschaft, begnügt sich die Völkerrepublik damit, ein Sekundärstaat zu sein. Im Ersten Zusatz (367, 14) spricht Kant von einer „Universalmonarchie“ und versteht darunter einen ins Globale gesteigerten Einzelstaat. Ein derartiger homogener Weltstaat (HWS) bzw. ein Weltreich ist die Völkerrepublik nicht. Gemeint ist ein Staat von Staaten, näherhin jene Republikenrepublik oder Staatenrepublik, die Kant einige Jahre vor der Friedensschrift zunächst, 1784, in der näheren Bestimmung des Völkerbundes als „einer vereinigten Macht“ andeutet (Idee VIII 24), sodann, 1793, als „Weltrepublik“ (Rel. VI 34) bezeichnet. Da die „Bürger“ dieser Völkerrepublik nicht gewöhnliche Bürger, einzelne Menschen, sondern Einzelstaaten sind, ist der Ausdruck „Weltrepublik“ freilich mißverständlich. Kants anderer Ausdruck, Völkerstaat, ist klarer, zumal in der Erläuterung als „civitas gentiuin“. Da die „gentes“ soviel wie „civitates“ bedeuten, also nicht Blutsverwandtschaften, sondern rechts- und staatsförmig organisierte Bürgerschaften, meint die „civitas gentium“ eine „civitas civitatum“, also genau den Staatenstaat bzw. die Staatenrepublik, der die Weltstaatlichkeit einerseits zu einer Staatlichkeit berechtigt und diese andererseits auf eine Sekundärstaatlichkeit limitiert. Deren Kompetenz ergibt sich nun aus Kants Analogie. Solange Staaten wie Individuen zu betrachten sind, dürfen die Staaten-Individuen, die Primärstaaten, tun und lassen, was sie wollen – vorausgesetzt, sie greifen nicht in die Rechte der anderen Staaten-Individuen ein. Auf dieses Handeln haben sie sogar ein angeborenes Recht, also einen rechtsmoralischen Anspruch. Damit tut sich ein neuartiges Menschenrecht auf, neuartig freilich nicht hinsichtlich des Inhalts, sondern des Adressaten. Es besteht in einem Menschenrecht von Staaten und hat, ebenso klar wie eng umgrenzt, im wesentlichen zwei Seiten. Wie Individuen, so haben auch Staaten ein Recht auf Leib und Leben sowie auf Eigentum; letzteres verlangt vor allem territoriale Unversehrtheit. Andererseits haben sie ein Recht sowohl auf politische wie kulturelle

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Selbstbestimmung. Gerade weil die Primärstaaten, die Einzelstaaten, Mehraufgaben zu erfüllen haben, stehen dem Sekundärstaat, der Weltrepublik, nur minimale Kompetenzen zu. Im Rahmen der rechtsmoralischen Aufgabe, anfallende Streitigkeiten nicht nach Maßgabe von Gewalt zu lösen, verbleibt der internationalen Rechtsgemeinschaft nur eine kleine Restzuständigkeit, und diese entspricht dem Rest-Naturzustand. Die uns vertrauten Staatsaufgaben, die Fragen des Zivil- und des Strafrechts, die des Arbeits- und Sozialrechts, das Recht der Sprache, der Religion und der Kultur, all diese Zuständigkeiten eines Primärstaates, sind der staatlichen Kompetenz des Sekundärstaates, der Weltrepublik, entzogen. Nach Kantischen Prämissen ist für eine internationale Rechtsgemeinschaft allein jene Staatlichkeit legitim, die wir intranational einen Nachtwächterstaat oder Minimalstaat nennen; zulässig ist lediglich ein äußerst restriktiver Bereich von Staatsaufgaben. Da die Völkerrepublik nicht einmal für alle Minimalstaatsaufgaben zuständig ist, nicht beispielsweise für eine gemeinsame Währung, auch nicht für die Verteidigung nach außen, ist sie nicht einmal als gewöhnlicher Minimalstaat einzurichten, sondern nur als extrem minimaler Weltstaat (EMWS). Eine Weltorganisation, die sich mehr Zuständigkeiten anmaßt, würde das Menschenrecht von Staaten, das Staatenrecht auf (politische und kulturelle) Selbstbestimmung, verletzen. Kant hält dieses Staatenrecht für so elementar, daß er es schon in den Präliminarartikeln formuliert. Nach der zweiten Vorbedingung darf „kein für sich bestehender Staat … von einem andern Staat durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden“; und nach der fünften Vorbedingung soll sich kein Staat – und das heißt auch: kein Staatenstaat – „in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen“. Folglich darf man von einem Einzelstaat weder den Beitritt zur Staatenrepublik noch seine Umwandlung in eine (Einzel‐)Republik erzwingen. Die Einführung (Kap. 1.4) hat darauf aufmerksam gemacht, daß Kants Schrift auch als Hommage an die junge Französische Republik zu verstehen ist. Um deren Prinzipien zur vollen Wirklichkeit zu bringen, braucht es freilich mehr als eine nur partikulare Anerkennung des Republikanismus, es bedarf einer zweifachen Universalisierung. Die erste Dimension der Universalisierung behandelt der Erste Definitivartikel. Seine Forderung ist heute zumindest im Prinzip anerkannt: jeder einzelne Staat soll sich eine republikanische Verfassung geben. Zur Anerkennung dieses Sollens darf ein Staat zwar nicht von anderen Staaten gezwungen werden, schuldet er die Anerkennung doch nicht ihnen, sondern seinen Bürgern. Diesen schuldet er sie aber in einem strengen rechtsmoralischen Sinn. Zu Kants Begriff der Republik gehören vier Elemente, die zusammen in etwa auf einen demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat hinauslaufen. Der Erste Definitivartikel beginnt mit der Freiheit, die der Anerkennung unveräußerlicher Menschenrechte entspricht

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(vgl. 350, 23 f.). Da Kant sie als „Befugnis“ interpretiert, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können“ (350, 16 f.), entspricht das erste Element der Demokratie, allerdings hier als Legitimations- und nicht als Organisationsprinzip verstanden. Weiterhin bedarf es der Einrichtung öffentlicher Gewalten, um die es den Grundsätzen der Abhängigkeit geht, und der strengen Gleichbehandlung. Schließlich gehört zur Republik die Gewaltenteilung. Setzt sich die erste Dimension einer universalen Republikanisierung durch, so gelangen die Rechte und Freiheiten zu einer weltweiten Geltung, allerdings erst innerhalb der Staaten. Für die noch fehlende Geltung ist die zweite Dimension einer universalen Republikanisierung zuständig. Sie sorgt dafür, daß die Koexistenz zwischen den Staaten ebenfalls republikanisch gestaltet wird. Diese Sorge bleibt eine rechtsmoralische Pflicht, die aber jetzt nicht einzelnen Bürgern, sondern den einzelnen Staaten geschuldet ist. Die Aufforderung, sich zu einem globalen Sekundärstaat zusammenzuschließen, erfolgt unter der Bedingung, daß der Sekundärstaat republikanisch verfaßt ist. Und zwischen beiden Seiten besteht ein strenges Junktim; nur unter der Bedingung einer republikanischen Verfassung ist die Bildung eines Sekundärstaates rechtsmoralisch geboten. Der zweite Schritt einer Republikanisierung der Welt, ein Schritt, der im Unterschied zur ersten, einzelstaatlichen Republikanisierung auch im Prinzip noch lange nicht anerkannt ist, hat das Gewicht einer erneuten republikanischen Reform. Dem, was bislang nur innerstaatlich gültig war, verhilft er auch zwischen den Staaten zur Existenz: (1) den Menschenrechten, jetzt freilich Menschenrechten von Staaten, und dem zugehörigen Prinzip der universalen Zustimmungsfähigkeit; (2) der Abgrenzung und Durchsetzung der Staaten-Menschenrechte mittels öffentlicher Gewalten; (3) der Gleichheit der Staaten hinsichtlich ihrer Menschenrechte; und (4) der Gewaltenteilung.

6.3 Ideal oder Surrogat? Die Staatenrepublik löst ihre menschenrechtliche Aufgabe, den Schutz der territorialen Unversehrtheit und der politischen Selbstbestimmung, staatsförmig. Obwohl diese Lösung, der extrem minimale Weltstaat (EMWS), aus der Analogie von Staaten mit Individuen folgt, lehnt Kant sie überraschenderweise sowohl in der Titelthese als auch im ersten Abschnitt ab. Er setzt sich, wie gesagt, für jenen Völker- oder Staatenbund ein, der ohne jeden Souveränitätsverzicht auskommt, für den UMWS. Diese Option geht zwar über jene hinaus, die seit dem 16. Jahrhundert die Grundlage der europäischen Staatengemeinschaft bildete, über ein Gleichgewicht der Mächte (balance of power). Der Gedanke des europäischen Gleichgewichts erlangt bekanntlich nach dem Zweiten Weltkrieg, jetzt als Gedanke eines globalen Gleichgewichts, neue

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Aktualität. Der Gedanke beruht auf einer mechanischen Idee der Balance und besagt, daß kein Staat so viel Macht erlangen dürfe, daß ihm nicht die Vereinigung aller übrigen Staaten das Gleichgewicht zu halten vermöchte. Kant gibt sich sowohl bescheidener als auch anspruchsvoller. Bescheidener ist seine Option insoweit, als sie die Staaten in ihrer gegebenen Macht beläßt, anspruchsvoller aber, weil sie jeder Macht – ob klein oder groß – das Recht zum Krieg, die Verteidigung ausgenommen, kategorisch abstreitet. Auf dem Weg von biund multilateralen Verträgen verzichten alle Seiten auf Krieg und erklären sich bereit, allfällige Streitigkeiten gewaltfrei zu lösen. Die Frage, die sich aufdrängt, lautet: Wie ernst ist es mit dieser Bereitschaft? Läßt sich der Zweck, die gewaltfreie Konfliktlösung, tatsächlich ohne jene Regelungsform erreichen, die für die einzelstaatliche Rechtssicherung als unverzichtbar gilt, nämlich ohne öffentliche Gewalten? Oder läßt nicht die fehlende Bereitschaft, öffentliche Gewalten einzurichten, auf eine nur halbherzige Bereitschaft zum Gewaltverzicht schließen? Denn sollte es zu Konflikten kommen, so sieht der Völkerbund weder gemeinsame öffentliche Gesetze (356, 13 f.) noch ein autorisiertes Schiedsgericht vor – jeder ist vielmehr „in seiner eigenen Sache Richter“ (355, 32 f.) –; ohnehin gibt es keine Macht, Gerichtsurteile durchzusetzen. Die Rechtsverhältnisse, die dank der bi- und multilateralen Vereinbarungen denn doch vorliegen, bestehen zwischen souveränen Partnern, die ihre Souveränität vollumfänglich bewahren. Nicht von einem unparteiischen Dritten werden Konflikte geregelt, sondern von den Parteien, den Einzelstaaten, selber. Ein Vorteil der Kantischen Lösung liegt auf der Hand. Das, was es in einem Staat denn auch gibt, den Machtmißbrauch, hat man von einer staatsfreien Gemeinschaft nicht zu befürchten. Die Hoffnung, die man in die Staatsgewalten setzen kann, entfällt allerdings ebenfalls, die Erwartung jenes sicheren Rechtsschutzes, durch den erst der Naturzustand überwunden wird. Daß der Völkerbund zwar einen gewissen Rechts-, aber keinerlei Staatscharakter hat, ist den Einzelstaaten, die ihre Souveränität in der Regel eifersüchtig hüten, willkommen. Diese Option widerspricht jedoch Kants staatsethischer Grundthese, daß Rechtsstreitigkeiten von einem ebenso unparteiischen wie hinreichend mächtigen Dritten zu entscheiden sind. Besser als direkte Gewalt, besser als Krieg, sind Vereinbarungen ohne Zweifel. Weil für die rechtsförmige Sicherung des Vereinbarten aber die geeigneten Instrumente fehlen, liegt eine Rechtslösung ohne Sicherung, folglich ein Recht unter Vorbehalt vor, also ein Provisorium, das zur eigentlichen Aufgabe, der staatsförmigen Sicherung des Rechts, nur ein Durchgangsstadium sein kann. Die gewöhnliche Kritik an einer Weltrepublik vergleicht seine Vorteile mit den Nachteilen; sie zieht eine Nutzen-Kosten-Bilanz. Kant argumentiert grundsätzlicher; er behauptet im ersten Abschnitt einen Widerspruch (354, 9 f.). Der Kant-Kenner, der „Widerspruch“ hört, erinnert sich an die Antinomien der ersten zwei Kritiken. Da

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in der Rechtslehre Kant den ewigen Frieden das höchste politische Gut nennt (VI 355, 30) und da der Begriff eines höchsten Gutes zur „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ führt (KpV V 110 ff.), könnte man in der Friedensschrift die zuständige Unterart, die Dialektik der reinen rechtlich-praktischen Vernunft, erwarten. Hinweise finden sich in der Friedensschrift aber nicht; durch und durch unspekulativ, soll der Widerspruch im Begriff des Völkerstaates liegen (354, 9 ff.). Da in einem derartigen Staat die vielen Völker einem einzigen Gesetzgeber unterworfen seien, würden sie zu einem einzigen Volk zusammengeschmolzen, was der zur Diskussion stehenden Aufgabe, der Koexistenz verschiedener Völker, widerspreche. An diesem Argument ist richtig, daß die Völker ihre Eigenart in demselben Sinn müssen behalten dürfen, wie es innerhalb der Einzelrepublik den Individuen zusteht; ein Verschmelzen der Völker darf es gemäß der genannten Analogie nicht geben. Insoweit ist eine Position von heute, die sich selbst universalistisch nennt, vom Begründer der universalistischen Ethik, von Kant, her zu kritisieren: Daß die Einzelstaaten – die man dann mit einem polemischen Unterton Nationalstaaten nennt – zugunsten eines Weltstaates aufzulösen seien, daß es nur einen „nationalitätslosen Menschheitsstaat“ geben darf, wie Radbruch (1932, § 28) sagen würde, folgt keineswegs aus einer universalen Rechtsmoral. Im Gegenteil steht sie sogar im Widerspruch zu ihr. Was tatsächlich folgt, ist die Verbindung zweier Elemente. Ein Kosmopolitismus oder Uni-versum, die einen weltumspannenden Rechtszustand verlangen, muß mit jenem Pluri-versum eine Einheit eingehen, das innerhalb der weltumspannenden Rechtsordnung die Primärstaatlichkeit den Einzelstaaten überläßt und den Weltstaat auf die extrem minimale Sekundärstaatlichkeit einschränkt. An Kants Argument ist ebenso richtig, daß eine Weltrepublik nur dann entsteht, wenn sich die Völker einem gewissen Maß an gemeinsamer Gesetzgebung unterwerfen und insoweit tatsächlich zu einem gemeinsamen Staatsvolk, einem Weltstaatsvolk, werden. Durch dieses sekundäre Staatsvolk werden die primären Staatsvölker aber nicht aufgelöst. Wer schon aufgrund der zum Weltstaatsvolk gehörenden minimalen Souveränitätsverzichte einen Widerspruch im Begriff des Völkerstaates sieht – das zweite Element, der Staatenstaat, hebe den Staatscharakter im ersten Element, den der Einzelstaaten, auf –, der denkt in der zu einfachen Alternative: vollständige oder aber keinerlei Souveränität. In Wahrheit gibt es viele Zwischenstufen; und der Völkerstaat bezeichnet eine Staatlichkeit, die wegen des extrem geringen Maßes an Souveränitätsverzichten von der vollständigen Souveränität der Einzelstaaten nicht fern ist. Während für die weitaus meisten Staatsaufgaben die Primärstaaten zuständig bleiben, obliegt der Weltrepublik nur, Staaten gegen Übergriffe anderer Staaten zu schützen. Nicht ein Widerspruch liegt im Begriff des Völkerstaates vor, sondern etwas, das vom Begriff eines Bundesstaates längst bekannt ist: eine gestufte und hier: die noch einmal mehr gestufte

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Souveränität. Wegen der Analogie von Staaten mit Individuen gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder beinhaltet der Freiheitsverzicht, der beim Verlassen des Naturzustandes unerläßlich ist, schon bei Individuen einen Widerspruch; dann müßte man den Vorteil, die Friedenssicherung, ohne den Nachteil, den Souveränitätsverzicht der Beteiligten, zustande bringen; ein staatsfreies, lediglich auf Verträgen gründendes Zusammenleben müßte ausreichen. Oder es gibt die Rechtssicherheit nur mittels gewisser Souveränitätsverzichte; dann aber ist der Gedanke einer internationalen Staatlichkeit kein Widerspruch, sondern die unaufgebbare Bedingung für den moralisch gebotenen internationalen Rechtszustand. Daß es nur zwei Möglichkeiten gibt, hat eine Konsequenz, die sowohl in der Kant- Interpretation als auch im systematischen Diskurs gern übersehen wird: Wäre für die Koexistenz lediglich ein Bund legitim, so würde Kant zum Anwalt jener Utopie der Herrschaftsfreiheit, die zwar von illustren Denkern vertreten worden ist, vom jungen Burke etwa (1756) und von Schlegel (1796), bei letzterem sogar „veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden“ (s.o. Kap. 1.4). Der später auch von Proudhon, Marx und der Frankfurter Schule vertretene Gedanke der Herrschaftsfreiheit stellt aber eine unpolitische, sogar apolitische Utopie dar und ist daher aus gutem Grund selbs von der Kritischen Theorie inzwischen aufgegeben worden. In diesem Sinn hält Kant im „Anhang“ (373, 30 f.) irgendeinen Staat für moralisch besser als gar keinen, denn in der Anarchie verschwinde jeder Rechtsschutz. Nur im Einleitungsabschnitt spricht Kant schlicht vom Widerspruch (354, 9 f.). Im Schlußabschnitt sieht er die positive Idee allein in der Weltrepublik bzw. dem Völkerstaat verwirklicht, den Völkerbund nennt er dagegen „das negative Surrogat“ (357, 13 ff.). Damit räumt Kant ein, daß sich derjenige, der die Friedenssicherung aus einem Bund erwartet, mit einem Ersatzstoff, also mit etwas zufriedengibt, das die volle Leistung gerade nicht erbringt. Der Frieden bleibt stets provisorisch; ständig droht die Gefahr, daß der „Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung“ durchbricht (ebd.), genau das, was im Begriff des Ewigen gefordert ist, fehlt: die Vorbehaltslosigkeit des Friedens. Nach Geismann (1983, 380 ff.) könne man sich auf der internationalen Ebene deshalb mit einem Bund begnügen, weil zwischen der intranationalen und der internationalen Friedenssicherung eine grundsätzliche Differenz bestehe. Nach der genannten Analogie gibt es diese Differenz nicht. Ob natürliche Personen oder aber Staaten zusammenkommen: in beiden Fällen sollen sie gegen Rechtsverletzungen geschützt werden, und in beiden Fällen ist der Schutz erst dann gegeben, wenn das Recht gemeinsam und öffentlich gesichert wird. Im übrigen behauptet Kant ausdrücklich: „Für Staaten im Verhältnis untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie ebenso wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen

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Völkerstaat … bilden“ (357, 5–11). Diese Lösung verdient sogar den Rang des Moralischen, Kant sagt nämlich: „nach der Vernunft“; darüber hinaus gebühre der moralische Rang ihr allein („… keine andere Art …“). Kurz: den Völkerstaat einzurichten ist kategorisch geboten. Liegt also der behauptete Widerspruch gar nicht vor? Einen Widerspruch gibt es ohne Zweifel. Historisch-faktisch gesehen erklären sich zu den für eine Weltrepublik erforderlichen Souveränitätsverzichten die wenigsten Staaten bereit. Angesichts der Erfahrungen mit den totalitären Regimes unseres Jahrhunderts kann man die fehlende Bereitschaft auch nicht lediglich als einen staatlichen Eigensinn diskreditieren. Solange ein im Weltmaßstab gemeinsames rechtsmoralisches Bewußtsein fehlt, droht, daß eher die Macht als das Recht herrscht. Ferner könnten die vorher außenpolitisch ausgetragenen Konflikte jetzt, zu innenpolitischen Konflikten transformiert, von der jeweiligen Mehrheit um so rücksichtsloser nach ihren Interessen entschieden werden. Außerdem gehört die Befugnis, aus einem Einzelstaat auswandern zu dürfen, seit der Aufklärungszeit zu den Menschenrechten; und dort, wo dieses Recht verweigert wird, kann man mindestens zu fliehen versuchen. Bei einer globalen Staatsordnung wird beides, das Auswanderungsrecht ebenso wie der Fluchtversuch, gegenstandslos. Nicht zuletzt entfällt die Hoffnung, daß eine Diktatur von außen aufgehoben wird. Vor dem Hintergrund derartiger Gefahren – und es gibt gewiß mehr als nur die genannten fünf – tritt Kants Problembewußtsein zutage: die wichtigsten Argumente gegen eine Weltrepublik sind ihm präsent. Er diskutiert nicht das einfache Entweder- Oder: entweder internationaler Kriegszustand oder Weltrepublik. Zum Kriegszustand nimmt er vielmehr drei alternative Optionen in den Blick. Außer dem Völkerrecht, zu definieren als extrem minimaler Weltstaat (EMWS), und dem Völkerbund, einem ultraminimalen Weltstaat (UMWS), erörtert er noch die Universalmonarchie, die als homogener Weltstaat erscheint (HWS). Die dritte Option erörtert er allerdings erst im Ersten Zusatz, und zwar dort, wo er auf das Völkerrecht eingeht (367). Selbst wenn wir heute andere Ausdrücke vorziehen, kennen wir doch keine wesentlich anderen Möglichkeiten. Die Dreiheit der Optionen dürfte übrigens von der bekannten Rechtsgemeinschaft, dem Einzelstaat, abgeschaut sein. Ob natürliche Personen, ob Vereine, Verbände oder auch Einzelstaaten: Entweder gehen die Betreffenden freie Vereinbarungen ein ohne einen grundsätzlichen Verzicht auf ihre Handlungsfreiheit; sie schließen, was dem Völkerbund entspricht, lediglich Verträge ab. Oder sie lassen sich für einen eng begrenzten und wohlbestimmten Teil ihrer Handlungsfreiheit auf einen Verzicht ein; sie konstituieren, was einem Völkerstaat entspricht, eine Rechts- und Staatsgemeinschaft. Schließlich können sie so gut wie alle Handlungsfreiheit aufgeben, was auf eine Diktatur oder Despotie hinausläuft und auf

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internationaler Ebene auf jenen homogenen Weltstaat, der die für ihn relevanten Individuen, die Einzelstaaten, unterdrückt. Bei der Option „Universalmonarchie“ könnte man glauben, Kant habe an das Römische Reich oder auch das Habsburgerreich gedacht. Der Religionsschrift (VI 34) zufolge sieht er jedoch ein generelles Problem; jeder Staat versuche, seine Nachbarn zu unterwerfen und eine Universalmonarchie zu errichten. Wenige Jahre später wird Napoleons Plan, Europa durch eine hegemoniale Herrschaft zu einigen, ein „gutes Beispiel“ abgeben. Zugleich zeigt sich, daß Kants politiksoziologische Erwartung, Republiken seien friedensbereit (351), zu optimistisch war. Auch unser Jahrhundert bietet genügend Gegenbeispiele: „Von den Westmächten haben seit 1945 Großbritannien siebzehnmal, Frankreich vierzehnmal und die USA dreizehnmal Krieg geführt“ (Rittberger 1987, 4). Um das Ärgernis dieser Beobachtung abzuschwächen, sagt man zwar, Republiken hätten zumindest gegen ihresgleichen, also gegen andere Republiken, keine Kriege geführt (vgl. Doyle 1983 und Gilbert 1992). Aber auch dazu gibt es Gegenbeispiele, außerdem eine alternative Erklärung; oft handelt es sich nur um eine Interessenkonvergenz. Und vor allem verdrängt man den Umstand, daß Kant jede Art von Krieg und nicht nur den Krieg unter Republiken ächtet. (Vgl. auch Kap. 11 und 12) Nicht nur in der Religionsschrift, sondern auch in der Abhandlung Zum ewigen Frieden bemerkt Kant das „Verlangen jedes Staates (oder seines Oberhaupts), auf diese Art sich in den dauernden Friedenszustand zu versetzen, daß er womöglich die ganze Welt beherrscht“ (367). Das Verlangen nach Weltherrschaft muß nicht einmal in dem Sinn imperialistisch gemeint sein, daß man die politische Machterweiterung als solche will. Es reicht jenes „natürliche“ Sicherheitsinteresse aus, das wir von Hobbes kennen und das in einem „ruhelosen Streben nach Macht“ zutage tritt (Leviathan, Kap. 13). Kant übernimmt einen Gedanken von Hobbes und überträgt ihn auf einen neuen Bereich. Das ruhelose Machtstreben, das Hobbes lediglich einzelnen Menschen zuordnet, sieht er zu Recht auch bei Einzelstaaten am Werk und entdeckt dabei im Vorübergehen ein „natürliches Interesse“ jedes Staates an globaler Hegemonie, sogar an Weltherrschaft. Der Option „Universalmonarchie“ hält nun der Erste Zusatz drei immer noch aktuelle Argumente entgegen: Erstens sei zu befürchten, daß der Weltstaat in einen „seelenlosen Despotismus“ (367, 16) und einen „Kirchhof der Freiheit“ (Z. 26 f.) verfalle, heute würden wir sagen: in eine totalitäre Diktatur. Das zweite Argument könnte uns ein wenig optimistischer stimmen; denn eine Universalmonarchie zerfalle „zuletzt doch in Anarchie“ (367, 17). Der Zerfall allein gibt freilich noch zu keinem Optimismus Anlaß, da nach Kant kein Rechtsschutz schlimmer als ein schlechter ist (373, 30 ff.). Allenfalls kann man hoffen, daß nach Zerfall einer Diktatur ein neuer, jetzt republikanischer Staat entstehe. Nach dem dritten, freilich nur angedeuteten Argument (367, 14–16), einer Befürch-

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tung, die wir ebenfalls bis heute teilen, hält Kant den globalen Einheitsstaat für unregierbar. Als pragmatische Bedenken können diese Argumente in Grenzen überzeugen. Sie laufen auf die Forderung politischer Klugheit hinaus, bei der Bildung internationaler Staatsverhältnisse erhöhte Vorsicht walten zu lassen. Das Gewicht grundsätzlicher moralischer Einwände haben sie aber nicht. Zwei Gefahren, die der Diktatur und die der Unregierbarkeit, drohen sinngemäß schon auf einzelstaatlicher Ebene und reichen trotzdem nicht aus, um jede Staatlichkeit zu diskreditieren; auf den Plan rufen sie lediglich, aber auch immerhin verläßliche Schutzvorkehrungen. Da bei einem Weltstaat weit größere Gefahren drohen, sind hier die Schutzvorkehrungen noch gründlicher zu überlegen und noch umsichtiger einzurichten. Ein mehr als pragmatisches Caveat, ein prinzipielles Gegenargument, ist aber nicht benannt. Und mit dem Ideal der Republik vertritt Kant einen moralischen Staatsbegriff, der die eine Gefahr, den „seelenlosen Despotismus“, von vornherein ausschließt. Um den von Kant einleitend behaupteten Widerspruch anerkennen zu können, bieten sich daher nur zwei andere Interpretationen an. Nach der einen Interpretation setzt Kant im ersten Absatz des Zweiten Definitivartikels den Ausdruck „Völkerstaat“ mit dem der „Universalmonarchie“ des Ersten Zusatzes gleich. Diese Interpretation kann sich auf die Beobachtung berufen, daß an beiden Stellen von einem „Zusammenschmelzen“ die Rede ist (354, 15 und 367, 12 f.). Weil sich aber ein Völkerstaat mit extrem minimalen Staatsaufgaben begnügt, ist er in der Sache von einer Universalmonarchie im Sinne eines homogenen Einheitsstaates streng zu unterscheiden. Der Idee des Völkerrechts widerspricht nur ein homogener Einheitsstaat, hebt er doch „die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten“ auf (367, 8 f.); im extrem minimalen Weltstaat dagegen bildet diese Absonderung ein Konstitutionsprinzip. Nach der anderen Interpretation denkt Kant an den positivrechtlichen oder politischen Widerspruch, daß die Völker nach „ihrer“, und das heißt: nach der damals herrschenden „Idee von Völkerrecht“, also nach dem Gedanken, daß dem Einzelstaat absolute Souveränität zusteht, den Völkerstaat „durchaus nicht wollen“ (357, 10–12). Diese Art von Widerspruch, den faktischen Einspruch existierender Einzelstaaten, gibt es tatsächlich. Um seinetwegen „nicht alles verloren“ zu geben, berücksichtigt ihn Kant, allerdings erst am Ende des Zweiten Definitivartikels (357), und dann auch nicht, um die positive Idee einer Weltrepublik zu diskreditieren, sondern nur um immer noch etwas, wenn auch nur ein negatives Surrogat anbieten zu können. Damit auch dann, wenn die Staaten sich selbst kleinen Souveränitätsverzichten versperren, nicht der bloße Kriegszustand herrscht, entwickelt Kant einen „zweitbesten Weg“. An die Stelle der positiven Idee, der Weltrepublik als

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eines Staatenstaates, setzt er – für eine Übergangszeit? – die vertraglichen Vereinbarungen ohne jeden Staatscharakter, den Staatenbund. ¹ Besser als der Kriegszustand sind Vereinbarungen ohne Zweifel; für die Sicherung des Vereinbarten, des Weltfriedens, fehlen aber die geeigneten Instrumente. Nun herrscht ein Friede, dem es an Sicherung fehlt, unter Vorbehalt; nach Kants Begriffen aus dem Ersten Präliminarartikel liegt ein bloßer Waffenstillstand vor. Da ein bloßer Bund kein „Schwert der Gerechtigkeit“ besitzt, bleibt er ein (modifizierter) Naturzustand. Das Ideal des Weltfriedens büßt daher, sofern es nur als Völkerbund realisiert wird, an visionärer Kraft erheblich ein; an die Stelle des Hoffnung weckenden großen Entwurfs tritt die halbherzige Lösung.

6.4 Das Böse im Verhältnis der Völker In der Friedensschrift taucht ein Begriff auf, der im philosophischen Diskurs unseres Jahrhunderts so gut wie verschwunden ist (vgl. Höffe 1995) und vielleicht deshalb von den meisten Interpreten – allerdings nicht von Laberge 1992 – übersehen wird, es ist der Begriff des Bösen. Der Ausdruck erscheint nicht etwa nur beiläufig, sondern an durchaus wichtigen Stellen. Schon im Ersten Präliminarartikel ist vom „bösen Willen“ die Rede (344, 4 f.). Im Zweiten Definitivartikel heißt es von der „Bösartigkeit der menschlichen Natur“, daß sie sich nur im bürgerlich-gesetzlichen Zustande, durch den Zwang der Regierung nämlich, sehr verschleiert, dagegen „im freien Verhältnis der Völker“ sich „unverhohlen blicken läßt“ (355, 3 f.). Und der„Anhang I.“ wird bekräftigen, daß im Zusammenleben innerhalb eines Staates die „in der menschlichen Natur gewurzelte“ – die Religionsschrift sagt: radikale – „Bösartigkeit … noch bezweifelt“ werden mag, daß sie jedoch „im äußeren Verhältnis der Staaten gegeneinander ganz unverdeckt und unwidersprechlich in die Augen“ fällt (375, 23– 31). Auch die Religionsschrift nimmt als klaren Beleg für das radikale Böse den „äußeren Völkerzustand“ (VI 34). Worauf spielt Kant an? Ob Individuen oder Staaten – als radikales Böse bezeichnet er die Bereitschaft der Menschen, im Konfliktfall die (moralische) Pflicht der (sinnlichen) Neigung unterzuordnen. In diesem Sinn böse ist nicht erst, wer die Pflicht in actu verletzt, sondern schon, wer über die entsprechende Bereitschaft verfügt. Im Zusammenleben ist es die Bereitschaft, die Gewalt statt des Rechts herrschen zu lassen. Innerhalb eines Staates („im bürgerlich-gesetzlichen Zustan-

1 Eine leicht veränderte Fassung erschien als: „Frédération de peuples ou République universelle“, übers. v. J.-Chr. Merle, in: P. Laberge/u. a. (Hrsg.): L′Année 1795. Kant. Essay nur la paix, Paris 1997, 140– 159.

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de“) wird diese Bereitschaft insofern „sehr verschleiert“, als man wegen drohender Sanktionen („Zwang der Regierung“) zumindest den juridischen Teil moralischer Pflichten in der Regel befolgt. Mangels „eines gemeinschaftlichen äußeren Zwanges“ kann in den internationalen Beziehungen davon keine Rede sein. Angesichts der vielen Kriege in Europa sagt Kant zu Recht, daß die entsprechende Bereitschaft zur Gewalt, folglich die „gewurzelte Bösartigkeit“, tatsächlich in internationaler Hinsicht vorherrscht. Ihre „gesetzlose Freiheit“ (354) haben die Staaten Europas nicht aufgegeben. Fürchten könnte man deshalb, daß der Friede unter den Staaten keinerlei Chance habe, aus der Dimension eines „süßen Traumes“ (343, 5) also nie herausgelange. Dagegen spricht jedoch, daß die Staaten zwar bösartig, aber nicht moralisch verderbt sind; denn sie huldigen, „wenigstens den Worten nach“, dem Rechtsbegriff. Statt in blankem Zynismus die Kriegsangriffe einfachhin vorzunehmen, suchen sie, was auf einen Rest an moralischem Empfinden schließen läßt, „immer treuherzig“ nach Rechtfertigung (355). Die Europäer der Aufklärungsepoche verstanden sich als „gesittete Völker“, die die Ureinwohner Amerikas, die „Wilden“, deshalb mit tiefer Verachtung „ansehen“, weil sie sich „unaufhörlich balgen“ (354). Diese Selbstund Fremdeinschätzung weist Kant entschieden zurück. Er fällt zwar nicht in das Klischee des bon sauvage des guten Wilden, der mit seinesgleichen nur in Harmonie und Eintracht verkehrt, vielmehr glaubt er, daß sie in „gesetzloser Freiheit“ leben. In demselben Zustand sieht er aber auch die Europäer – sofern man auf ihre zwischenstaatlichen Beziehungen achtet. Folgerichtig spricht er von „europäischen Wilden“, die sich von den amerikanischen Wilden nicht durch ein höheres Maß an Moral unterscheiden, sondern nur durch ein Mehr an selbstsüchtiger Klugheit. Während manche von jenen ihre Feinde „verspeisen“, verstehen diese, „ihre Überwundene(n) besser zu benutzen“; indem sie sie zu Untertanen machen, erweitern sie die Zahl der Werkzeuge, mit deren Hilfe sie „noch ausgebreitetere Kriege“ führen können (354 f.). Die Tatsache, daß sich die Kriegsbereitschaft nicht bloß „sehr verschleiert“, sondern auch „unverhohlen“ blicken läßt, läßt sich leicht daraus erklären, daß ein „gemeinschaftlicher äußerer Zwang“, also eine gewisse Staatlichkeit, fehlt. Daher drängt sich der Umkehrschluß auf, der die Notwendigkeit einer globalen Staatlichkeit bekräftigt: Um dem radikalen Bösen in derselben Weise wie bei Individuen entgegenzutreten, um es zwar nicht auszurotten, wohl aber daran zu hindern, unverhohlen aufzutreten, um also wenn nicht schon juridische Moralität, so doch juridische Legalität zu gewinnen, braucht es für das Verhältnis von Staaten dasselbe wie für das Verhältnis von Individuen zueinander: eine sanktionsbewehrte Rechtsordnung, eine jetzt internationale Staatlichkeit. Für sie ist das Wort aus dem Ersten Zusatz sinngemäß abzuwandeln. Dank der„Künstlerin Natur“ gilt: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn

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sie nur Verstand haben) auflösbar“ (366, 14 f.). Um die Völkerrepublik errichten zu können, müssen die Völker bzw. Staaten nicht erst ihren „natürlichen Egoismus“ überwinden; das, worauf der Ausdruck „Teufel“ anspielt, das bloße, freilich aufgeklärte Selbstinteresse genügt. Ziehen wir Bilanz: Die erste Option für eine internationale Gemeinschaft, die freie Assoziation, der UMWS ist als Zwischenziel gewiß sinnvoll, wahrscheinlich sogar notwendig; als Leitziel taugt er aber nicht, da jede Staatlichkeit fehlt. Die zweite Option, die des homogenen Weltstaates (HWS), maßt sich zuviel an Staatlichkeit an. Die deshalb verbleibende Option besteht aus einem Staatenstaat bzw. einer Staatenrepublik, die in Form eines EMWS zwar einen Staatscharakter hat, dessen Staatsaufgaben aber auf die genannten Restaufgaben eingeschränkt sind. Souveränitätsverzichte verlangt eine Weltrepublik durchaus, sie fordert aber äußerst wenige; außer den genannten extrem minimalen Staatsaufgaben überläßt sie alle anderen Kompetenzen den Einzelstaaten. Da diese die Primärstaaten bleiben, treten sie von sich aus – und dieser Hinweis ist legitimationstheoretisch sehr wichtig – gewisse Kompetenzen ab; sie verzichten – was nur in voller Freiwilligkeit geschehen darf – auf einen minimalen Teil ihrer Souveränität. Die Weltrepublik trägt für die Sicherheit und das Selbstbestimmungsrecht der Einzelstaaten Sorge und für nichts sonst. Allein hinsichtlich dieser Aufgabe, den zwischenstaatlichen, nicht innerstaatlichen Konflikten, gebührt ihr Souveränität. Im übrigen muß die (sekundärstaatliche) Völkerrepublik nicht durch einen einmaligen Rechtsakt entstehen, und vor allem muß sie nicht die Form einer den Einzelstaaten nachgebildeten zentralen oder sogar zentralistischen Staatlichkeit annehmen. Ebenso denkbar ist, daß verschiedenen Konfliktthemen Thema für Thema, also weder auf einmal noch in einer einzigen Gestalt, in durchsetzungsfähige Rechtsinstrumente überführt werden. Die republikanische Ordnung für republikanisch verfaßte Staaten, die Weltrepublik als sekundärstaatliche Völkerrepublik, müßte nichts anderes sein als der Inbegriff all dieser Rechtsinstrumente.

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7 Vom Weltbürgerrecht 1. Das Motto der Kantischen Philosophie könnte nach einem Zitat in den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (II 342) lauten: „Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigene“; oder auch, in Goyas Variante: „Der Schlaf der Vernunft produziert Ungeheuer.“ Kant ist dezidierter Weltphilosoph, und seine Bemühungen in der theoretischen und praktischen Philosophie gelten der Etablierung einer öffentlichen gemeinsamen Welt: Gegen die Privatwelten der Schwärmer und Fanatiker, die unfähig oder nicht willens sind, bindende Prinzipien der Tag-Welt zu entwickeln, aber auch gegen Hobbes, der das gemeinschaftsfähige Urteilen der Bürger durch die Staatsautorität erzwingen will. Der Zwang, der bei Kant die Menschen aus ihrem privaten „dogmatischen Schlummer“ und ihrem Wahn erweckt und sie in die eine gemeinsame Welt nötigt, ist nicht mehr die Übergewalt der jeweiligen absoluten Staaten, sondern der gewaltlose Zwang der sich allmählich selbst aufklärenden, auch den Staat in seine Grenzen weisenden Vernunft. Der Philosoph ist Welt-Weiser, der eine Wissenschaft der Möglichkeit einer gemeinsamen Welt des Denkens, Fühlens und Handelns entwickelt, eine „Vernunfterkenntnis aus Begriffen“. Theodor von Hippel hielt in einer seiner Kant-Paraphrasen fest: „Die Metaphysik enthält alles und enthält Nichts. Sie macht nichts von den Gegenständen aus, allein ohne sie kann man nichts von Gegenständen ausmachen. Sie ist das Zollhaus, die öffentliche Waage der philosophischen Erkenntniß“ (Hippel 1827–1839, II 166). Über die Einfuhr und Ausfuhr der Ware „Wahrheit“ entscheidet die öffentlich abwägende Vernunft; die Waage wird benötigt, um über das Gewicht der Argumente nach sachlichen Kriterien und nicht willkürlich auf Grund von Autoritäten und Träumen oder auch nach der Stimmenmehrheit zufälliger Zeitgenossen zu entscheiden. Das Motiv der gemeinsamen öffentlichen Tag-Welt bestimmt die Erkenntnistheorie und Ethik, die Ästhetik und Religionsphilosophie, die Anthropologie und die Rechtsphilosophie. Die Rechtsphilosophie endet mit demselben Menschheitsmotiv wie die Anthropologie: Das Recht realisiert sich im Rahmen bestimmter Natur- und Vernunftvorgaben in einem geschichtlichen Prozeß, und am Ende steht die Aussicht auf eine kontinuierliche „Annäherung zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden“ (VI 355). „Kontinuierliche Annäherung“: In der Kantischen Rechtsphilosophie findet sich zum ersten Mal – nach Andeutungen bei John Locke – eine positive Bewertung der Zeit und der politischen Bewegung. In den Staatsentwürfen der Antike galt die Losung: Keine „res novae“, sondern Erhalt des Tradierten oder der idealen Verfassung, die keiner weiteren Entwicklung fähig ist. Hobbes sagt https://doi.org/10.1515/9783110782462-009

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ausdrücklich, was den Staatstheoretiker beunruhigt: die Bewegung. Der charakterlose, von Emotionen bewegte Mob, der sich dem Gehorsam entziehen möchte, entlehnt seinen Namen wie die Emotionen selbst dem Wort „movere“. Erst bei Kant erfährt die geschichtliche Zeit und die politische Bewegung eine positive Konnotation in der Vorstellung einer geschichtlich-prozessualen Annäherung an die Idee des Rechts. Das Recht befindet sich in einer Bewegung hin auf eine globale Friedensordnung; es kann nur aus dem Ganzen dieser Ordnung gedacht und zugleich nur vom einzelnen, noch provisorischen Recht her entwickelt werden. Der Mensch ist ein zoon politikon, aber die Polis ist – in der Aufnahme hellenistischer Motive – zur antizipierten, in der Idee vorgegebenen „kosmopolis“ geworden. Der Raum des „allgemeinen Menschenstaats“ (349) ist – im Gegensatz zu antiken Vorstellungen – in der Neuzeit zu einem gemeinsamen Erfahrungsraum geworden; damit ist die konkrete Rechtsaufgabe gestellt, diese Erfahrungswelt aus dem Natur- und Kriegszustand in eine rechtlich geordnete Menschheitswelt zu überführen. Die Friedensschrift von 1795 soll die philosophisch-politischen Bedingungen vor Augen führen, die zur Beendigung der „Bürger“kriege in der nunmehr vertrauten Menschenwelt erfüllt werden müssen. 2. Die Friedensschrift ist eine politische Schrift; sie nimmt nicht in einer Kurzfassung die einschlägigen Lehrstücke der Metaphysik der Sitten vorweg, sondern handelt von einem anderen Thema: der Realisierung des Rechts, also der Politik, denn Politik wird bestimmt als „ausübende[r] Rechtslehre“ (370), deren „eigentliche Aufgabe“ zugleich und eben dadurch in der Zusammenstimmung mit dem allgemeinen Zweck des Publikums, der Glücksverwirklichung, liegt (386). Politik ist mehr als bloße Subsumtion der Wirklichkeit unter vorgegebene Begriffe und mehr als die blinde Fortführung dieser Wirklichkeit mit Berufung auf die eigene Erfahrung. Um die spezifische Problematik der „ausübenden Rechtslehre“ korrekt zu lokalisieren, ist es notwendig, an den eigentümlichen Rechts-Platonismus Kants zu erinnern, der zu dem theoretischen Problem der Vermittlung von Recht und sozialer Realität, mit Platon: von Idee und (sogenannter) Wirklichkeit, führt. Das Grunddokument des Kantischen Platonismus ist die Dissertation von 1770, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Die Trennung von Sinnenund Verstandeswelt ist Platon bzw. der Philosophie, die mit dem Namen Platons verbunden wurde (dazu Vieillard-Baron 1979, 40–56), verpflichtet; Erkenntnis der Sinnenwelt läßt sich nicht empiristisch aus dieser allein gewinnen, sondern nur unter Einbeziehung einer apriorischen Begriffsstruktur. Die Vernunftideen des Praktischen werden als bloße Ideen, also gänzlich ohne Orientierung an der Erfahrung, gewonnen und sollen doch Einfluß auf das wirkliche Handeln haben. Eine derartige Vernunftidee ist in der Theorie von 1795 die Idee vom globalen, nicht mehr durch Kriege unterbrochenen Frieden, und desgleichen ist (damit zugleich) „die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des

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Rechts, sondern eine nothwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex sowohl des Staatsals Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt“ (360). Politik ist die Kunst der„methexis“: Die noch monströse Wirklichkeit soll nach der Idee des Rechts gestaltet werden, sie soll an ihr teilhaben; das „Soll“ gilt kategorisch, weil sein Inhalt identisch ist mit der Verwirklichung der gemeinsamen, einstimmiges Handeln ermöglichenden Welt der Menschen als vernunftbegabter Wesen. 3. Konzipiert man dagegen politisches Handeln aus gewachsenen Traditionen heraus, also nicht platonisch als Ausübung eines vorgegebenen Vernunftrechts, sondern als Wahrung und Fortsetzung der bodenständigen Geschichte, der eigentümlichen Natur des Landes und der bisherigen Erfahrung, so wird man jede Theorie, die sich nicht dieser Erfahrung verdankt, als bloße, zuweilen gefährliche Chimäre abtun – sie taugt nicht für die Praxis, weil sie nicht der Praxis entstammt; sie ist ein Hirngespinst, das allenfalls in der Form des Fanatismus zur Wirklichkeit gelangt. Der Platoniker ist ein Träumer, über den man lacht (Brucker in der Kritik der reinen Vernunft A 316), aber die chimärischen Ideale können Staaten in den Ruin der Revolution führen. Diese Meinung vertritt die anti-französische, pro-englische Fraktion der deutschen politischen Publizistik in den neunziger Jahren (besonders Rehberg, Gentz, Garve), und gegen sie ist die praxis-theoretische Spitze der Friedensschrift gerichtet. Wesentliche Ideen kamen von Edmund Burke, der in seinen Reflections on the Revolution in France von 1791 (übersetzt von Friedrich Gentz 1793) die entscheidenden Stichworte für die erste Hälfte der neunziger Jahre lieferte: Die wahre Politik muß der Natur folgen, die in ihrem organischen Wachstum keine abrupten Revolutionen kennt, sondern eine kontinuierliche Erneuerung und Sanierung des Alten. Die Theorie muß als eine natürliche Theorie aus der Erfahrung wachsen und nicht aus der abstrakten Philosophie und ihren bodenlosen universalistischen Ideen (vgl. Coves 1991; Brandt 1994). Hier, so kann man die Frontenbildung charakterisieren, der Platoniker, dort die Aristoteliker: hier die Theorie aus reiner Vernunft, dort die Theorie aus Erfahrung. Die England-Fraktion orientiert sich an der besonderen Geschichte des jeweiligen Landes, der „community“, die sie hegen und pflegen und gegen Fremdes schützen will; aus der Sicht des Platonikers: die blinde, gedankenlose Fortschreibung des vorgeblich Gutbewährten, ein ideenloses Herumtappen, das von Publizisten propagiert wird, die an der bestehenden Macht teilhaben, d. h. Höflinge der Fürsten sind. Kant muß, um ihrem Vorwurf zu entgehen, seine Theorie sei eben doch nur eine Chimäre, ihrem vorgeblichen Realismus die Realität und ihrer„Naturpolitik“ (XXIII 192) die Natur streitig machen. Die Vernunftidee des globalen Friedens und Weltbürgerrechts ist, so muß gezeigt werden, weder ein bloß privater Traum, der nicht für die Praxis taugt, noch eine platte Kopie fragmentarischer Erfahrung, die das bestehende Unrecht als historisches Recht ausgibt.

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(Hegel wird wie Garve, Burke, wie Rehberg und Gentz die Idee im Besonderen, in der partikularen Geschichte aufspüren und den Kantischen Universalismus und Platonismus als bloß subjektiv-abstraktes Verstandesdenken abwerten. Wer die Kantische Ideenlehre für unfruchtbar hält, aber Kantische Gedanken für das Metier der Politik retten möchte, wird den – sicher nicht Kantischen – Versuch unternehmen, die reflektierende Urteilskraft für originäre Politik zu aktivieren.) Wie aber sieht die Königsberger Politiktheorie in concreto aus, bezogen auf das Problem des Weltbürgerrechts? 4. Nach den bisherigen vorbereitenden Überlegungen könnte man erwarten, daß Kant für eine Universalmonarchie plädiert, die endlich die vielfältigen Kriege der einzelnen Staaten mit einem Machtspruch und universalistischen Federstrich beendet. „Für Staaten im Verhältnisse unter einander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie eben so wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden“ (357). „Nach der Vernunft“ – aber die Vernunft unterliegt hier Einschränkungen ihrer Realisierung, wie sich gleich zeigen wird. Die Universalmonarchie wurde ernsthaft propagiert, so z. B. von Johann Heinrich Gottlob von Justi in seinem Beweiss, dass die Universalmonarchie vor die Wohlfahrt von Europa und überhaupt des menschlichen Geschlechts die grösste Glückseligkeit wirken würde (Justi 1970, II 235–300). Kant lehnt 1795 die Universalmonarchie und jede andere Form eines Völkerstaats ab und hält nur einen allgemeinen Menschenstaat für rechtlich möglich und notwendig. In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) war diese ablehnende Haltung noch nicht deutlich. Kant sah die rechtliche Notwendigkeit der Errichtung freier Republiken; er ließ jedoch nicht aus ihnen allmählich die Friedensordnung in Form von Bündnissen der Republiken hervorgehen, sondern sagte umgekehrt: „Das Problem der Errichtung einer vollkommnen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmässigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöst werden“ (VIII 24). Also zuerst die Lösung im ganzen, und danach die Verrechtlichung der Gewalt in den Staaten. Der Völkerbund von 1784 hat entsprechend nicht nur eine Vermittlungsfunktion in anstehenden Streitfällen, sondern verfügt über die Macht der Durchführung gegen den Willen einzelner Staaten: Wie die menschlichen Individuen den Naturzustand bei einem unvermeidbaren Nebeneinander gemäß einer Rechtspflicht verlassen sollen, so obliegt es auch den Staaten, „aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten; wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurtheilung, sondern allein von diesem grossen Völkerbunde

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(Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte“ (VIII 24). Keine Universalmonarchie, aber ein planetarischer „contrat social“, in dem die nicht mehr souveränen Staaten „in einer gesetzmäßigen Verfassung Ruhe und Sicherheit“ finden (VIII 24). Sie werden sich in einen „grossen Staatskörper“ fügen (VIII 28). „So schwärmerisch diese Idee auch zu sein scheint und als eine solche an einem Abbé von St. Pierre oder Rousseau verlacht worden (vielleicht, weil sie solche in der Ausführung zu nahe glaubten)“, heißt es in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 24). 1793 finden wir noch die gleiche Konstellation: Im dritten Abschnitt des Gemeinspruchs wird zwar gesagt, die Völker müßten entweder in eine weltbürgerliche Verfassung treten oder, wenn von diesem Über-Staat der schrecklichste Despotismus droht, den rechtlichen Zustand der „Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht“ (VIII 311) bewirken, aber am Ende wird doch in einem mit Zwangsgesetzen ausgestatteten Universalstaat die einzige Möglichkeit der Befreiung von dem sich sonst perpetuierenden Krieg gesehen (VIII 312–313). Und wieder die Berufung auf die nur scheinbar praxisfremde, zu Unrecht verlachte Theorie „eines Abbé von St. Pierre, oder eines Rousseau“ (VIII 313, auch hier ohne Bezug auf die Kritik von Rousseau an dem Abbé im postum – 1782 – veröffentlichten Jugement sur le projet de paix perpétuelle). 1795 jedoch wird der „allgemeine Völkerstaat“ (VIII 313) nicht mehr als Lösung angesehen, und der Abbé de St. Pierre und Rousseau werden nicht mehr genannt. Statt dessen finden wir eine neue Rechtskonzeption, die das 1795 erstmals eingeführte Weltbürgerrecht mit sich führt (vgl. Klemme 1992, XXXVIII). Der Wandel vom Gemeinspruch zu der neuen Theorie von 1795 läßt sich ohne die Details des tatsächlichen Vollzugs schon aus dem dargelegten Material als plausibel begreifen: Die Schriften von 1784 und 1793 sind inkonsequent, weil sie die Kriegsverhinderung und die Errichtung von Republiken von einem Völkerstaat abhängig machen, der seinerseits die Republiken allenfalls als Provinzen bestehen läßt; der Friede dürfte sich nur im Friedhofsfrieden der Despotie verwirklichen lassen. Solange aber die beiden rechtsnotwendigen Elemente Friede und Freiheit nicht vereint sind, ist die Lösung nicht gefunden. Der friedliche Völkerstaat muß eliminiert werden, da er die freiheitlichen Republiken nicht ermöglichen, sondern zerstören würde; aber wie ist auf Republiken zu hoffen, wenn der drohende Krieg im Naturzustand unter den Völkern jede Hoffnung der Ausbildung freiheitlicher Republiken zuschanden macht? 1784 und 1793 gab es noch keine Antwort auf diese zentrale Frage. Der wichtigste Schritt: Kant sieht die Möglichkeit, daß sich schon vor dem äußeren Frieden eine Republik bilden kann und sich mit dieser dann weitere souveräne Republiken völkerrechtlich zu einem friedlichen Nebeneinander verständigen werden. Also eine genaue Umkehrung der Position von 1784; der Grund: Die opti-

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mistische Interpretation des Republikanisierungsprozesses in Frankreich. Es ist die Initialzündung der Französischen Revolution in den neunziger Jahren, auf die Kant setzt: „Denn wenn das Glück es so fügt: daß ein mächtiges und aufgeklärtes Volk sich zu einer Republik (die ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muß) bilden kann, so giebt diese einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten ab, um sich an sie anzuschließen und so den Freiheitszustand der Staaten gemäß der Idee des Völkerrechts zu sichern und sich durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten“ (VIII 356; die Vereinigten Staaten von Amerika werden hierbei aus verschiedenen Gründen nicht berücksichtigt). Jetzt steht am Anfang die eine Republik, auf sie folgen weitere Republiken, die sich in lockeren Friedensbünden als souveräne Staaten anschließen. 5. Die Völker entscheiden sich gegen den Universalstaat, der eigentlich die konsequenteste Lösung ihrer staatsübergreifenden Probleme wäre. Die Völker wollen diese ihre Souveränität auflösende Vereinigung „nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht“ (357), und die Natur selbst strebt keinen Weltstaat an: „Sie bedient sich zweier Mittel, um Völker von der Vermischung abzuhalten und sie abzusondern, der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen, die zwar den Hang zum wechselseitigen Hasse und Vorwand zum Kriege bei sich führt, aber doch bei anwachsender Cultur und der allmähligen Annäherung der Menschen zu größerer Einstimmung in Principien zum Einverständnisse in einem Frieden leitet, der nicht wie jener Despotism [sc. der in einem Weltstaat unvermeidlich wäre, RB] (auf dem Kirchhofe der Freiheit) durch Schwächung aller Kräfte, sondern durch ihr Gleichgewicht im lebhaftesten Wetteifer derselben hervorgebracht und gesichert wird“ (367). Das sich hierin abzeichnende Bild sich nicht bekriegender und vernichtender, aber doch miteinander konfligierender Staaten ist tiefer in der gesamten Philosophie Kants begründet, als die angeführten Zeilen es vermuten lassen. Die materielle und geistige Wirklichkeit wird schon in der frühen Philosophie als System konfligierender Kräfte konzipiert. Die Materie ist in den naturwissenschaftlichen vorkritischen Werken nicht atomistisch, sondern dynamisch, als Kräftefeld aus Attraktion und Repulsion gedacht, und diese Materietheorie wird noch in den achtziger und neunziger Jahren vertreten (Tuschling 1971). Die Gesellschaft wird in Analogie zur körperlichen Welt aus Antagonismen entwickelt: „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmässigen Ordnung derselben wird“, heißt es 1784 in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 20). Und Kultur und Wissenschaft erwachsen in und aus einer Streitkultur: Der Streit der

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Fakultäten zeigt, wie sich der Fortschritt der Wissenschaft den konfligierenden Kräften der Universität verdankt (Brandt 1987). So ist der friedliche Konflikt zwischen souveränen Staaten von der Natur vorgesehen: Der alle Staaten übergreifende und verschlingende Völkerstaat von 1784 und (zögernder) 1793 ist 1795 nicht mehr der Kandidat einer globalen Friedensordnung. 1795 also bleibt der „deuteros plous“ einer freien Assoziation freier Völker. Hiermit fällt das ganze Gewicht des globalen Friedensrechts einerseits zurück in das Staatsrecht: Die einzelnen Staaten müssen innerlich so organisiert sein, daß sie keine Neigungen zu Angriffskriegen entwickeln und sich mit anderen republikanischen, weiterhin souveränen Staaten föderativ vereinen. Diese Vereinigung verfügt nicht mehr über eine Zwangsgewalt, ihren Willen auch gegen einzelne Staaten polizeilich oder militärisch durchzusetzen. Andererseits wird das Völkerrecht durch ein neues Weltbürgerrecht ergänzt: Mit der Ablösung der Vorstellung einer „civitas gentium“ bedarf es einer neuen, die Einheit der Erdbewohner und der Völker reflektierenden Idee, die also nicht mehr im Völkerrecht beheimatet ist, sondern das Staatsund Völkerrecht durch ein drittes Moment allererst abschließt. Wir wenden uns zuerst der systematischen Idee des Weltbürgerrechts zu und erörtern danach die Ausführung im einzelnen. 6. Wie das systematisch neue Erlaubnisgesetz (s. oben Kap. 4), so wird auch das neue Weltbürgerrecht in einer Anmerkung (347–349) eingeführt; die Friedensschrift ist ein politischer Traktat und kann die eigentliche Rechtssystematik nicht im Hauptteil bringen. Die Prämissen des Weltbürgerrechts sind die gleichen wie die des Staats- und Völkerrechts und sollen hier nicht detailliert erläutert werden. Wichtig ist der Begriff des wechselseitigen Einfließens oder des (wechselseitigen) physischen Einflusses (349, 23; 32; 35–36): Natürliche oder juristische Personen, die räumlich nebeneinander sind und nicht aus dieser Nachbarschaft weichen wollen oder weichen können (349, 21–22; VI 256, 16–17; 312, 13–17), haben die Rechtspflicht, in eine gemeinsame rechtliche Verfassung zu treten. Diese Verfassung ist das Staatsbürgerrecht im Fall der natürlichen Personen, das Völkerrecht bei den Staaten und das Weltbürgerrecht, „so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließendem Verhältniß stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum)“ (349). Kant orientiert sich bei der Systematisierung an der Urteils- oder Kategorientafel (wie auch im Fall des Erlaubnisgesetzes); das Weltbürgerrecht vereinigt die Momente der vorhergehenden Positionen und bringt sie zu einer systematischen Totalität. Der wechselseitige ,influxus physicus‘ ist hier auf das Ganze der Menschheit bezogen; er manifestiert sich darin, daß wir die Rechtszustände und -bewegungen aus allen Weltteilen zu spüren bekommen, wir „fühlen“ sie (360, 4). Wir leben als Erdbewohner, so können wir mit Kants parallelen Überlegungen zur Physik als einer Wissenschaft sagen, in einem „System bewegender Kräfte“ (vgl. den

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Index XXII 725), und dieses sich etzt weltweit etablierende System wechselseitigen Einflusses führt im Vernunftrecht zu der Notwendigkeit, das Weltbürgerrecht einzuführen und damit das öffentliche Recht insgesamt erst vollständig zu erfassen. Der „ungeschriebene Codex“ (360), der „agraphos nomos“ des Naturrechts muß durch diese dritte Position systematisch erweitert und so zu Ende geführt werden. Ähnlich wie das Erlaubnisgesetz ist auch hier für das dritte Moment die historische Zeit konstitutiv (vgl. Brandt 1994), denn zu einem globalen ,influxus physicus‘ ist es erst in neuerer Zeit gekommen (360); erst jetzt also kann das Vernunftrecht sich aus historischen Gründen vollenden. 7. Welche Funktion hat das Weltbürgerrecht in einem Konzept, das den Frieden nicht vom Weltstaat, sondern von der internen Struktur republikanischer Staaten erhofft? Es bleiben zwei Bereiche übrig, in denen das Recht und die Natur auf der Weltebene wichtig werden: Zum einen das Recht der Gastfreundschaft und zweitens die natürliche Neigung zum Gewinn und damit zum weltumspannenden, friedenbringenden Handel. Wir befassen uns zuerst mit der Rechtskomponente, sodann mit dem Handel. „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“ (357). Hospitalität bedeutet das „Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der Andere“ (358). Gegen dieses Recht kann auf zwei Weisen verstoßen werden: Dadurch, daß dem Ankömmling das Betreten des Bodens verweigert oder er als beliebige Sache behandelt wird, und umgekehrt durch die Anmaßung des Imperiums über das fremde Land. Die Begründung der konkreten Form des Weltbürgerrechts wird in der Friedensschrift nur kurz angedeutet (in dem zitierten Text); seine nähere Explikation und Vertiefung findet sich in der Metaphysik der Sitten von 1797. Alles subjektive Recht – das „suum“ eines jeden – wird dort in ein inneres und ein äußeres aufgeteilt. Das innere Seine eines jeden ist angeboren, das äußere muß erworben werden (VI 237). Vom erwerbbaren Recht handelt das Privatrecht; das innere Recht wird als solches nur in der Einleitung genannt, aber nicht näher ausgeführt („Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein keine Rechte, sondern nur Ein Recht giebt, so wird diese Obereintheilung als aus zwei dem Inhalte nach äußerst ungleichen Gliedern bestehend in die Prolegomenen geworfen und die Eintheilung der Rechtslehre bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen werden können“ (VI 238). Das innere Mein und Dein besteht im angeborenen Recht der Freiheit, der „Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür“, sofern sie mit „jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen

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kann“ (VI 237); es äußert sich besonders in zwei für die Rechtslehre relevanten Formen: Im Besitz des eigenen Körpers und im Besitz der natürlichen Ehre, ein unbescholtener Mensch zu sein. Die Beschimpfung ist eine Verletzung dieses letzteren Rechts; der Mord verletzt das Recht am eigenen Körper. Beide Läsionen werden vor der Kriminalgerichtsbarkeit des Staates verhandelt, der also nicht nur, wie zunächst angekündigt wird (VI 307 ff.), für das äußere Mein und Dein zuständig ist (VI 331– 337). Zu dem angeborenen Recht am eigenen Körper gehört das Recht an einem mit unserem Körper faktisch verbundenen Umstand: Irgendwo auf dem Erdboden sein zu müssen. Entsprechend folgt aus dem angeborenen Recht am eigenen Körper: „Alle Menschen sind ursprünglich (d. i. vor allem rechtlichen Act der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d. i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat“ (VI 262). Der Besitz des Erdbodens, der auf Grund der Kugelgestalt der Erde begrenzt ist, ist ein gemeinsamer, ursprünglicher Besitz, der einer rechtlichen Regelung bedarf (die Menschen können sich nicht auf einer unendlichen Fläche beliebig verteilen). Also zwei Aspekte: Das Körperwesen Mensch hat ein angeborenes Recht, irgendwo auf dem Erdboden sein zu können; und zweitens zwingt die Begrenztheit des Bodens zu einem Rechtsprinzip, „nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können“ (VI 262); wer also gegen seinen eigenen Willen an das Ufer eines Landes getrieben wird, hat das Recht des Besuchs, weil er einen Boden unter seinen Füßen braucht. Aber dieses Besuchsrecht gilt nach Kant auch für den, der die Absicht hat, mit einem fremden Volk rechtliche Beziehungen (z. B. zum Zweck des Handels) aufzunehmen. Im Abschnitt über das Weltbürgerrecht in der Rechtslehre (VI 352–353) wird dieser letzte Punkt herausgehoben: Da die Menschen aufgrund des gemeinsamen Besitzes des begrenzten Bodens in einer „physischen möglichen Wechselwirkung (commercium)“ (VI 352) miteinander stehen, haben sie das Recht, „sich zum Verkehr untereinander anzubieten …, ohne daß der Auswärtige ihm darum als einem Feind zu begegnen berechtigt wäre“ (VI 352). Der mögliche Mißbrauch kann dieses „Recht des Erdbürgers nicht aufheben, die Gemeinschaft mit allen zu versuchen und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen“ (VI 353). Dieses Recht wird lädiert, wenn der Besuch Fremder nicht geduldet wird. Welthistorisch wichtiger war der Rechtsbruch auf der Gegenseite, auf der Seite des Imperialisten, der aus dem Besuchsrecht, „sich zum Verkehr untereinander anzubieten“ (VI 352), ein Recht des eigenen Imperiums über das besuchte Land macht. Kant teilt die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts übliche Kritik des europäischen Kolonialismus (dazu Bitterli 1986) und begründet diese allgemeine Haltung mit seiner Rechtstheorie. Vergleicht man das Verhalten der sog. Eingeborenen mit dem inhospitalen „Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Welttheils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder

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und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit“ (358) – der Rechtsbruch der Imperialisten liegt auf der Hand. – Soviel zu der rechtlichen Seite, den die Friedensschrift unter dem Titel des Weltbürgerrechts entwickelt (357–360). 8. Daneben gibt es die Natur-Seite, die unter dem Titel „Von der Garantie des ewigen Friedens“ verhandelt wird (360–368; hier 368). Es zeigte sich oben, daß Kant sich publizistisch gegen die aristotelisierenden Gegner der Französischen Revolution wendet und ihnen die Berufung auf die wirkliche Erfahrung und die Natur streitig machen muß: Erfahrung muß sich auf die Geschichte der Menschheit im ganzen beziehen, wenn sie den Titel der Erfahrung verdienen soll; und die Natur konspiriert langfristig mit den Ideen der Idealisten und nicht mit der Lokal-Beobachtung ihrer Gegner! Eine finale Betrachtung – legitimiert für die reflektierende Urteilskraft in der Kritik von 1790 – führt zu der Vorstellung, daß sich die Natur die Realisierung dessen zum Ziel gesetzt hat, was die reine praktische Vernunft dem Menschen als Recht vorschreibt. Es gibt eine prästabilierte Harmonie zwischen der Notwendigkeit des kategorischen Imperativs und der Triebstruktur des Menschen; am Ende läuft beides, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, auf dasselbe hinaus. „Daß die Natur von selbst zum letzten Zwecke so zusammenstimme als ob dieser nach moralischen Rechtsgesetzen bestimmt wäre“, heißt es in einer Vorarbeit (XXIII 171), und: „Man thut am besten anzunehmen daß die Natur im Menschen nach demselben Ziel hinwirkt wohin die Moralität treibt“ (XXIII 192). Der Beitrag der Natur zur Verwirklichung eines globalen friedlichen Rechtsnetzes besteht schlicht darin, daß sie den Menschen mit der Neigung zum Profit ausgestattet hat, und zwar einem Profit, der sich als „wechselseitig“ (368) erweist: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt“ (368). Die Natur steht in der Wahl ihrer Mittel zur Erreichung des Rechts-Zieles jenseits von Gut und Böse; ob sich die Menschen den Rechtsbegriffen beugen oder fremde Völker unterjochen: Der Geschichtsprozeß im ganzen kümmert sich nicht um Moral und Unmoral, sondern führt die Menschheit in einer Parallelaktion zum gesollten moralischen Ziel. Das Bewegungsmittel sind die Neigungen, und diese Neigungen sind auf den Gewinn gerichtet, der Gewinn aber fordert zu seiner Maximierung einen globalen, durch keine Kriege gestörten wechselseitigen Handel, das „commercial system“ der „great mercantile republic“, wie es Adam Smith beschrieben hatte (vgl. Smith 1960, I 389). Der Handelsgeist bemächtigt sich früher oder später jedes Volks (368); eine der Prämissen, auf die Kant nicht näher eingeht, ist die Rechtsgleichheit der somit souveränen Völker; der Handel enthält eine wechselseitige Anerkennung als selbständiger Vertragspartner, die im Verhältnis der europäischen Nationen zu ihren Kolonien nicht gegeben ist.

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1784 argumentierte Kant noch aus der Sicht der Regenten, die zu ihren rechtswidrigen Absichten ein hohes Steuereinkommen benötigen und daher die Gewerbe des Bürgerstandes fördern. „Wenn man den Bürger hindert, seine Wohlfahrt auf alle ihm selbst beliebige Art, die nur mit der Freiheit anderer bestehen kann, zu suchen: so hemmt man die Lebhaftigkeit des durchgängigen Betriebs und hiermit wiederum die Kräfte des ganzen“ (VIII 28); daher zieht das menschliche Geschlecht Vorteil „sogar von der selbstsüchtigen Vergrößerungsabsicht seiner Beherrscher …, wenn sie nur ihren eigenen Vortheil verstehen“ (VIII 28); eigentlich müßte es heißen: „wenn sie nur ihren kurzfristigen Vortheil verstehen und die langfristigen Interessen vergessen“, denn die Beförderung des Bürgerstandes beschleunigt, so Kants Überzeugung, den Untergang der Fürsten insgesamt. Die Vernunft überlistet die Fürsten und läßt sie blind ihr eigenes Ende bewirken. Von den Beherrschern und Weltregierern ist in diesem Zusammenhang 1795 keine Rede mehr; es gilt schon als eine historisch ausgemachte Sache, daß die Fürstenherrschaft zu Ende geht und das Bürgertum die europäische Kriegerkaste ablöst. Dieser geschichtliche Prozeß, der auf eine globale, notwendig friedliche „commercial society“ zielt, ist nicht der Gegenstand des singulären menschlichen Wollens und Nichtwollens; er vollzieht sich über die Köpfe aller einzelnen hinweg, gewissermaßen als das Geschick der Menschheit, oder, nüchterner, als der große Karren, an den wir gebunden sind und der uns, wenn wir nicht freiwillig mitgehen, hinter sich herschleift – „fata volentem ducunt, nolentem trahunt“ (365). Es gibt in der Kantischen Philosophie keine philosophische Utopie; es widerspricht den Spielregeln erwachter Menschen, sich irgendein Zusammenleben, wie es den jeweils eigenen Wünschen oder kollektiven Träumen entspricht, auszumalen und zurechtzudichten und die Gegenwart an diesen Produkten zu messen und abzuwerten oder gar ändern zu wollen. Utopien als solche qualifizieren sich nicht zum Vernunftziel der gemeinsamen Welt. Deren festes Gerüst ist die apriorische Rechtstheorie, in der die prinzipiellen Pflichten und Rechte der vernunftbegabten Erdbewohner eruiert werden. Das friedliche Zusammenleben in den Staaten und unter den Staaten und Völkern ist, so erweist die Theorie, das höchste Rechtsziel. Es ist kein Hirngespinst, sondern wird pari passu von der Naturgeschichte der Menschheit verwirklicht. Die Friedensschrift von 1795 versucht zu zeigen, welches die theoretischen Grundlagen der praktischen Verwirklichung in der „ausübenden Rechtslehre“, der Politik, sind. Der wahre Politiker, so die Meinung Kants, handelt realistisch, weil idealistisch; er verwirklicht das Vernunftrecht und handelt dadurch im Einklang mit der Naturgeschichte der Menschheit.

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Literatur Bitterli, Urs 1986: Alte Welt – neue Welt. München. Brandt, Reinhard 1987: Zum „Streit der Fakultäten“. In: Kant-Forschungen 1, 31–78. Brandt, Reinhard 1994: Historisch-kritische Beobachtungen zu Kants Friedensschrift. In: Politisches Denken. Jahrbuch 1994. Stuttgart. Coves, Faustino Oncina 1991: La Revolucíón americana contra la Revolucíón francesa: un argumento del burkíanismo contra eí kantismo. In: Fílosofía y Revolución. Estudios sobre la Revolucíón Francesa y su recepcíón fílosofíca. Ed. E. Bello. Murcia, 157–196. Hippel, Theodor G. von 1827–1839: Lebensläufe nach aufsteigender Linie. In: Sämmtliche Werke. Bde. I–IV. Berlin Justi, Johann Heinrich Gottlob von 1761: Beweiss, daß die Universalmonarchie vor die Wohlfahrt von Europa und überhaupt des menschlichen Geschlechts die größte Glückseligkeit wirken würde. In: Gesammelte Politische und Finanzschriften. Kopenhagen und Leipzig (Nachdruck Aalen 1970), II 235–300. Klemme, Heiner 1992: Einführung. In: Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch […]. Hamburg. Smith, Adam 1776: The Wealth of Nations. Ed. by E. R. A. Seligman. London/New York (1910) 1960. Tuschling, Burkhard 1971: Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants Opus postumum. Berlin. Vieillard-Baron, Jean Louis 1979: Platon et l’ Idéalisme allemand (1770–1830). Paris.

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8 Von der Garantie des ewigen Friedens Zum ewigen Frieden statuiert als eine Rechtspflicht der menschlichen Gattung, Frieden zu stiften. Nun darf man nach Kants praktischer Philosophie hoffen, daß, was wir tun sollen, nicht schlechthin unmöglich, also kein bloßer Traum ist (368). Die daran sich anschließende Frage nach der Ausgestaltung des Friedens wird in Kants Friedensschrift nach dem Vorbild des bei Friedensverträgen zur Anwendung kommenden jus gentium (VI 349) formuliert. Es wird nach einer Garantie gesucht (360)¹. Wir werden zunächst den Status des Urteils genauer darlegen, das der Natur die Absicht zuschreibt, den ewigen Frieden zu garantieren. Dann soll die Garantie im strengen von der Garantie im weiteren Sinne unterschieden werden. Schließlich soll untersucht werden, wie die Natur es anfängt, die Garantie des ewigen Friedens im strengen Sinne zu leisten.

8.1 Vorsehung oder Natur? Der „Erste Zusatz: Von der Garantie des ewigen Friedens“ enthält ebenso wie seine Vorgängerin, die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784, eine Fülle von Formulierungen der folgenden Art: „Die Natur hat gewollt“ (VIII 19); „die Natur … hat, zu … ihrem Zweck zu gelangen, den Krieg gewählt“ (364); „der Mensch will […]; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist“ (VIII 21). Die Natur will, sie bedient sich der Mittel, welche sie mit Blick auf ihre Zwecke aussucht, und sie weiß besser als der Mensch, was gut für ihn ist. Die Natur verhält sich wie die Vorsehung nach Bossuet. Darum schwankt Kant zwischen den beiden Begriffen „Natur“ und „Vorsehung“ und gibt 1784 dem zweiten (VIII 30), 1795 hingegen dem ersten (362) den Vorzug. Der Begriff „Natur“ bietet alles in allem mehr Vorals Nachteile. Er trägt gewiß einen unglaublichen Anthropomorphismus zur Schau; aber, wie in der Kritik der Urteilskraft geltend gemacht wird (V 383), bildet diese Unwahrscheinlichkeit paradoxerweise einen entscheidenden Vorteil: Eine mechanistische Erklärung läuft nicht Gefahr, durch die Berufung auf die Absichten der Natur zu kurz zu greifen; niemand käme ernsthaft auf die Idee, der Natur Absichten zuzuschreiben. Es handelt sich le-

1 Dieses Bild ist indes nicht ganz geglückt, weil die Natur, im Gegensatz zur Rechtsgarantie (VI 349), dasjenige, das sie garantieren soll, nicht nur erhalten (s. aber Cavallar 1992, 282), sondern allererst stiften muß (366). https://doi.org/10.1515/9783110782462-010

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diglich um eine Redeweise, zu der wir schon dadurch gezwungen sind, daß es organisierte Wesen gibt. Selbst wenn ein Baum nicht wie eine Uhr aufgebaut ist, weil in ihm die Teile nicht nur für die anderen und für das Ganze, sondern auch durch die anderen und durch das Ganze bestehen (V 374); selbst wenn die Natur hierbei nicht nur, wie die Uhr, zuviel künstliche Einheit an den Tag legt, um allein einer mechanistischen Erklärung zu gehorchen, sondern auch zuviel Fruchtbarkeit und Fülle, um nur ein banales „Analogon der Kunst“ zu sein – wie soll man dann vermeiden, die – mangels einer besseren – weit hergeholte Analogie der menschlichen Kunst zum Leitfaden einer Untersuchung über die organisierten Wesen (die mehr als bloße Maschinen sind) zu machen (V 374 f.), und wie soll man dann nicht so sprechen, als ob die Natur Absichten hätte? Wie soll man sich die Kausalität des Ganzen vorstellen, wenn nicht als zweckhafte Kausalität der Vorstellung des Ganzen? Daher fordert uns die reflektierende Urteilskraft auf, die organisierten Wesen als Naturzweck zu betrachten (V 376) – und folglich den Menschen als organisiertes Wesen (VIII 18). Schon seit 1784 (also noch ehe der Begriff der reflektierenden Urteilskraft geprägt wurde) ist es möglich, mit den beiden ersten Sätzen der Idee das regulative Prinzip der reflektierenden Urteilskraft in bezug auf die „innere Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen“ auf den Menschen anzuwenden: Im organisierten Wesen „ist [nichts] umsonst, zwecklos“ (V 376). So darf man annehmen, daß die Naturanlagen des Menschen, „die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind“, sich „nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln“ (VIII 18). Insofern sich eine „vollkommene bürgerliche Verfassung“ (VIII 24) und der damit verbundene ewige Frieden als Bedingung dieser Gesamtentwicklung erweisen, darf auch die Geschichte als die Verwirklichung eines Planes der Natur hinsichtlich dieser Verfassung und dieses Friedens gedeutet werden (VIII 27). Aber interpretieren dürfen heißt noch nicht hoffen dürfen. Wir haben uns bislang an die „theoretisch reflektierende Urteilskraft“ (V 447) gehalten. Sie verschafft uns einen Leitfaden für die empirische Untersuchung der organisierten Wesen, des Menschen, der Geschichte: Nichts im organisierten Wesen ist „umsonst, zwecklos“. Vom Standpunkt der reflektierenden Urteilskraft aus erscheint die Erwirkung des ewigen Friedens gewiß als notwendige Bedingung der vollständigen Entwicklung der Naturanlagen des Menschen, einer besonderen Instanz bei der Entwicklung der Naturanlagen aller organisierten Wesen (Düsing 1968, 220). Aber sie wird uns deswegen nicht als ein „Pflichtbegriff“ vorgestellt. Nun darf man hoffen, wenn – und nur wenn – es Pflicht gibt. Es ist also wichtig hinzuzufügen, daß der „Erste Zu-

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satz“ den ewigen Frieden als eine Pflicht (362)² und nicht nur als eine von der theoretisch reflektierenden Urteilskraft erhobene Forderung darstellt. Wie aber ist es zu erklären, daß Kant, da er ja die Hoffnung mit der Religion verbindet (XI 429), im „Ersten Zusatz“ den Begriff „Natur“ dem Begriff „Vorsehung“ vorzieht (362)? Deshalb, weil der zweite, gerade auf Grund seiner religiösen Konnotation, eine viel verführerischere Gefahr des Anthropomorphismus in sich birgt als der erste! Wenn die Ethikotheologie unglücklicherweise ihre Grenzen überschritte, um „nach der Analogie eines göttlichen Verstandes zu schließen“, statt die göttliche Kausalität nur„nach der Analogie eines Verstandes zu denken“ (V 464), dann würde der „Vernünftler“ allzu bereitwillig der Vorsehung (V 383) Absichten unterstellen, welche nach den Worten Fichtes (Gesamtausgabe I/1, 225 f.) mehr seinem eigenen Scharfsinn als der göttlichen Weisheit zur Ehre gereichen. Man muß sich vor dem blinden Eifer in acht nehmen, jede glückliche Fügung der Natur durch eine „außerordentliche Vorsehung“ (361) zu erklären – ein Eifer, den Kant im übrigen bereits 1763 (II 119) als objektiven Verbündeten der „faulen Vernunft“ (Laberge 1973, 128) angeprangert hat. Die mechanistische Erklärung liefe dann allerdings Gefahr, zu kurz zu greifen. Wenn aber der Leitfaden der Erfahrung auf diese Weise zerrissen wird, kann man den ewigen Frieden noch so sehr für eine Pflicht halten und auf die Garantie hoffen, die uns nach der Ethikotheologie von einem „moralischen Gesetzgeber“ (V 455) gegeben wird; wie jedoch können wir den Mechanismus herausfinden, den uns diese Garantie (360, 366) zur Erwirkung des Friedens verschafft? Folglich empfiehlt es sich, nicht nur vom Standpunkt der theoretisch reflektierenden Urteilskraft, sondern auch von jenem der reflektierenden „Urteilskraft nach Begriffen der praktischen Vernunft“ (V 455) eher der Natur als der Vorsehung Absichten in der Geschichte zuzuschreiben.

8.2 Die Garantie im weiteren Sinne und die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit Kant weist der Natur, welche will, daß letztlich ewiger Frieden herrsche (367), zwei Rollen zu, wie die folgende Zweiteilung bestätigt: „Ehe wir nun diese Gewährleistung näher bestimmen, wird es nötig sein, vorher den Zustand nachzusuchen, den die Natur für die auf ihrem großen Schauplatz handelnden Personen veranstaltet hat, der ihre Friedenssicherung zuletzt notwendig macht; – alsdann aber allererst die Art,

2 Über den Grund, warum die Erwirkung des ewigen Friedens eine Pflicht darstellt, s. Mulholland 1987, 28–31.

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wie sie diese leiste“ (362 f.)³. Zwar gehören beide Rollen der Natur zur Garantie im weiteren Sinne, wie im „Ersten Zusatz“ beschrieben, aber nur die zweite Rolle bildet die Garantie im engeren Sinne: „Ehe wir nun diese Gewährleistung näher bestimmen …“ Die Natur wirkt in ihrer ersten Rolle „für ihren eigenen Zweck, in Ansehung der Menschengattung als einer Tierklasse“ (365). In ihrer zweiten Rolle wirkt sie gewiß noch immer und weiterhin „für ihren eigenen Zweck“, allerdings nicht mehr nur zugunsten der Entwicklung der „Anlage für die Tierheit des Menschen“ (VI 26), sondern zugunsten der vollständigen Entwicklung aller Naturanlagen des Menschen. Sie wirkt demnach auf den ewigen Frieden hin, der Bedingung dieser vollständigen Verwirklichung. Aber obwohl sie nur im Hinblick auf ihre eigenen Zwecke zugunsten des ewigen Friedens wirkt, geschieht dies ohne ihr Wissen auf den Zweck hin, der „dem Menschen seine eigene Vernunft zur Pflicht macht“ (365, 366 f.). Wir dürfen bei unserem Bestreben, unsere Pflicht zu tun, d. h., den ewigen Frieden zu erringen, auf die Mitwirkung der Natur hoffen. Die Natur kann beim Menschen ihren eigenen Zweck nur in der Gattung, nicht im Individuum erreichen. Dazu besitzt sie kein anderes Mittel, als dem Individuum gegenüber eine List anzuwenden. Indem jenes seine subjektiven Zwecke befördert, befördert es den Naturzweck in der Gattung. Aber wie A. Renaut (1986, 92) glänzend dargelegt hat, wird diese List der Natur ihrerseits ohne ihr Wissen als Instrument einer List der Freiheit – wir meinen eher: einer List der Vorsehung – gebraucht. Wir dürfen auf eine List der Vorsehung hoffen, welche bewirkt, daß die Natur den Zwecken der Vernunft und der Freiheit, d. h. hier dem ewigen Frieden, dient, indem sie ihren eigenen Zwecken dient; und dies selbst dann, wenn es gefährlich und vergeblich ist, an die Vorsehung statt an die Natur die Frage zu richten, wie bzw. durch welche List die erstere ihren eigenen Zwecken diene. Dem Leser der Idee ist die zweite Rolle der Natur bzw. die Garantie im engeren Sinne im wesentlichen bereits vertraut. Wir werden übrigens auf diese Schrift vom ersten Satz des „Ersten Zusatzes“ an implizit verwiesen. Dort liest man, daß die „große Künstlerin Natur“ eine Garantie leiste dank der Umkehrung von Zwietracht in Eintracht (360), was bereits den Grundgedanken der Idee ausmachte (VIII 21). In jener Schrift wurde jedoch die erste Rolle der Natur noch nicht erwähnt; diese ist im übrigen äußerst anfechtbar (vgl. Düsing 1968, 222), weshalb wir uns ihr im folgenden zuwenden. Zuvor jedoch muß auf eine Schwierigkeit in bezug auf den Textaufbau des „Ersten Zusatzes“ hingewiesen werden. Kant unterteilt die erste Rolle der Natur in scheinbar drei Teile, welche bestimmen, daß die Natur „1. für die Menschen in allen

3 Die „Vorarbeit“ XXIII 167 scheint uns hierbei klarer als die endgültige Fassung.

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Erdgegenden gesorgt hat, daselbst leben zu können; – 2. sie durch Krieg allerwärts hin, selbst in die unwirtbarste Gegenden, getrieben hat, um sie zu bevölkern; – 3. durch eben denselben sie in mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse zu treten genötigt hat“ (363). Danach führt Kant eine Dreiteilung der zweiten Rolle der Natur ein, parallel zu jener des „Zweiten Abschnittes“ der Friedensschrift. Er kündigt an, daß er die Garantie vom Standpunkt (1) des Staatsrechts, (2) des Völkerechts und (3) des weltbürgerlichen Rechts betrachten wolle (vgl. 365). Indessen behandelt er den dritten Punkt der ersten Dreiteilung nur gemeinsam mit dem ersten Punkt der zweiten Dreiteilung. Wozu aber dann dieser dritte Punkt in der ersten Unterteilung? Er bezieht sich nicht mehr auf die Beförderung seines eigenen Zweckes durch die Natur „in Ansehung der Menschengattung als einer Tierklasse“, weil er ja bereits von „gesetzlichen Verhältnissen“ zwischen den Menschen spricht!⁴ Die beiden ersten Punkte der ersten Dreiteilung stellen uns nicht mehr vor philologische, sondern vor philosophische Probleme. Die Zweckmäßigkeit, die sie (vor allem der erste Punkt) der Natur zuschreiben, ist nicht dieselbe, die wir der Natur in den organisierten Wesen (einschließlich dem Menschen) unterstellen und die demnach in der Idee und in der „Garantie“ im engeren Sinne gemeint ist; es handelt sich nicht mehr, um die Terminologie der Kritik der Urteilskraft (§ 63) zu verwenden, um „innere“, sondern um „relative“ Zweckmäßigkeit (V 366). Diese Stelle übt übrigens im voraus Kritik am ersten Punkt, welcher dem Treibholz im Eismeer irgendeine Vorsorge der Natur im Hinblick auf die Bewohner dieser kalten Wüsten unterstellt (363). In der Tat könnte man eine solche der Natur zugeschriebene Zweckmäßigkeit nur unter der Bedingung annehmen, daß man zuvor begründet hat, daß Menschen in diesen unwirtbarsten Gegenden leben müssen! Nun wohnen Menschen aber nur in solchen Wüsten, weil ihre Kriege sie dorthin getrieben haben. Wenn aber, so würde vielleicht der Kant des zweiten Punktes jenem des § 63 erwidern, der Krieg sie dahin getrieben hat kraft eines Planes der Natur, die ganze Erde zu bevölkern (363)? Warum, so würde man wohl entgegnen, sollte die Natur wollen, daß die Menschen über die ganze Erde verstreut leben? Kant gibt darauf keine Antwort. Wir werden deshalb die Gelegenheit ergreifen und hier eine kühne Interpretation vorbringen. Ohne das Gehege der bürgerlichen Vereinigung, meint Kant, könnten die Menschen nicht „so wie Bäume in einem Walde … einen schönen geraden Wuchs bekommen“ (VIII 22). Die Menschengattung könnte dann nicht zu der vollständigen

4 Ist es richtig, wie Klemme in seiner ausgezeichneten Ausgabe der Friedensschrift (Klemme 1992, XL), zu behaupten, daß sich die „provisorische Veranstaltung“ (363) der Natur auf die von uns so benannte erste Rolle der Natur beschränke? Das „Fragment der Reinschrift“ (XXIII 184) legt eine andere Interpretation nahe. Der Krieg, als ein von der Natur gewähltes Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke (einschließlich jener, die sich ebenfalls als Zwecke der Vernunft und der Freiheit erweisen und denen die zweite Rolle der Natur entspricht), ist nur „provisorisch“, nicht aber „peremptorisch“.

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Entwicklung kommen, welche wir von einer Hervorbringung der Natur erwarten, der wir eine innere Zweckmäßigkeit zuerkennen müssen. Solange jedoch die Menschen nicht die ganze Erde bevölkern, werden sie stets ihrer Ungeselligkeit Genüge tun können, indem sie sich voneinander entfernen. Die bürgerliche Vereinigung ist daher nur unter der Bedingung absolut notwendig, daß (a) die Erde begrenzt, also rund ist und (b) selbst ihre unwirtbarsten Gegenden bewohnt sind. Nach der Formulierung in der Metaphysik der Sitten: Die Natur hat die Völker „(vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts …) in bestimmte Grenzen eingeschlossen“ (VI 352). Dadurch hat sie das Zusammenleben der Menschen und Völker auf ein und derselben Welt unvermeidlich gemacht. Sie hat das gesetzt, was Rawls und Höffe im Anschluß an Hume die circumstances of justice (Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit) genannt haben. Auf diese Weise könnten die beiden Rollen der Garantie im weiteren Sinne eingeführt werden. Die Garantie im engeren Sinne – die zweite Rolle der Natur – betrifft die Stiftung der „politischen Gerechtigkeit“ (Höffe) und des Friedens. Aber „ehe wir … diese Gewährleistung näher bestimmen“, müssen wir den „großen Schauplatz“ der Natur betrachten, der den ewigen Frieden und damit die Friedenssicherung oder Garantie im engeren Sinne notwendig macht (362 f.). Bevor die Rolle der Natur bei der Herstellung der Gerechtigkeit und des Friedens untersucht werden kann, muß ihre Rolle bei der Schaffung der Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit geprüft werden. Vielleicht muß daher der zweite Punkt der ersten Dreiteilung neu formuliert werden: Die Natur hat (a) die Menschen und Völker„(vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts …) in bestimmte Grenzen eingeschlossen“ (VI 352) und (b) „sie durch Krieg allerwärts hin, selbst in die unwirtbarste Gegenden, getrieben …, um sie zu bevölkern“ (363). Allein Punkt (a) handelt von der relativen Zweckmäßigkeit. Der Krieg gehört zur Natur in uns. Er „scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein“ (365). Alles verhält sich so, als ob (b) der Unterstützung durch (a) bedürfe, wie auch der Mitwirkung des ersten Punktes, auf den wir gleich zurückkommen werden. Die Anwendung des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft auf den Menschen, wonach die Naturanlagen nicht „umsonst“ oder „zwecklos“ sind, drängt uns dazu, eine auf den Menschen bezogene Zweckmäßigkeit in der außermenschlichen Natur zu suchen. Dies veranlaßt uns dazu, die Natur überhaupt und nicht mehr nur die organisierten Wesen als ein „System der Zwecke“ (V 377) zu beurteilen. Aber um annehmen zu können, daß die Erde rund ist, weil diese Form für die vollständige Entwicklung der Menschengattung unerläßlich ist, müßte man zuerst annehmen, daß der Mensch nicht nur ein Naturzweck, sondern der „letzte Zweck der Natur als eines teleologischen Systems“ ist. Dies würde nur dann gelingen, wenn man entschlüsseln könnte, was in ihm die Verwirklichung des „Endzweck[es] des Daseins einer Welt, d.h.

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der Schöpfung selbst“ (V 434) befördert. Man würde alsdann herausfinden, daß der ewige Frieden einen entscheidenden Überschritt zu dieser Verwirklichung hin bildet.⁵ Aber auch wenn wir hoffen dürften, daß die gesamte äußere Natur auf die vollständige Entwicklung der Menschengattung wie auf eine conditio sine qua non einer vernünftigen Schöpfung hinwirkt, müßten wir, um mehr darüber herauszufinden, abermals die Natur und nicht die Vorsehung befragen. Man dürfte die Rundheit der Erde dann nicht als Wirkung einer außerordentlichen Vorsehung setzen, sondern müßte im Gegenteil die mechanistische Erklärung innerhalb einer „allgemeinen Naturgeschichte der Natur und Theorie des Himmels“ immer weiter verfolgen. Dieser gut Kantische Befehl macht den ersten Punkt der ersten Dreiteilung nur noch sonderbarer, wie zum Beispiel auch die von Kant empfundene Bewunderung für das glückliche Auftreten von Treibholz im Eismeer zeigt, das dem Eingreifen einer „außerordentlichen Vorsehung“ (361) zugeschrieben wird. Das gilt um so mehr, als Kant, obwohl er ein solches Eingreifen der Vorsehung nicht grundsätzlich ausschließt, es vielmehr einem „Wunder“ (XXVIII/1 348) gleichsetzt und es für „vermessen“ hält, dieses „im einzelnen Fall“ (XXVIII/2.1 702) zu erkennen. Jedoch darf dieses Beispiel wohl nicht allzu ernstgenommen werden, da er im folgenden die Vorsorge der Natur mit dem künftigen Verschwinden des Treibholzes wieder in Einklang bringt (364).

8.3 Die Garantie im strengen Sinne Wie verfährt die Natur in Absicht auf diejenigen ihrer Zwecke, die mit jenen der Vernunft und der Freiheit zusammenfallen? Wie leistet sie die Garantie im strengen Sinne (363)? Nach dem zweiten Abschnitt über die „Definitivartikel zum ewigen Frieden“ ist die Idee des ewigen Friedens unauflösbar mit einer bestimmten Idee der jura civitatis, gentium und cosmopoliticum verbunden (349). Die Natur dient daher der Beförderung einer dreifachen Idee: Sie bemüht sich um die Stiftung (1) einer republikanischen Verfassung in jedem Staat, (2) eines „Foederalism“ freier Staaten oder eines Völkerbundes und (3) eines jus cosmopoliticum, das sich auf „Bedingungen der allgemeinen Hospitalität“ beschränkt (357). Welche Mittel setzt sie zu diesem dreifachen Zweck ein? (1) Den Krieg (363, 365), (2) die „Verschiedenheit der Sprachen und Religionen“ (367) und (3) den wechselseitigen Eigennutz des Handels (368).⁶

5 Siehe dazu die schöne Darstellung der „Vorarbeiten“ zur Rechtslehre: XXIII 353 f. 6 Diese dreifache Garantie entspricht nicht ganz der folgenden Unterscheidung Doyles (1983, 225– 231), welcher zusammen mit Waltz (1962) die besten Beiträge zu Kants Friedensschrift vorgelegt hat:

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Man kann von dieser dreifachen Garantie nicht sprechen, ohne vorher auf den problematischen Charakter der Dreiteilung selbst eingegangen zu sein. Letztere richtet sich, wie bereits erwähnt, nach den drei Definitivartikeln, welche ihrerseits der Dreiteilung des jus publicum in jus civile, jus gentium und jus cosmopoliticum entspricht. Diese Dreiteilung des jus publicum scheint von Kant eingeführt worden zu sein; man begegnet ihr erstmals in Zum ewigen Frieden, danach in Fichtes Grundlage des Naturrechts von 1796 und im darauffolgenden Jahr in Kants Rechtslehre⁷. Wolff unterscheidet in den Institutiones juris naturae et gentium (1750) gewiß jus gentium und jus publicum sou civitatis. Aber weder in diesem Werk noch in Achenwalls Jus naturae, das Kant für seine Vorlesungen heranzog, wird ein jus cosmopoliticum als drittes Glied des jus publicum erwähnt. Warum wurde es von Kant 1795 und 1797 neben dem jus gentium eingeführt? Bereits 1800 bemerkte dazu Krug: „Das Weltbürgerrecht, welches man in den neuesten Zeiten als einen besondern Teil des öffentlichen Rechts aufgeführt hat, ist eigentlich nur ein Teil des Völkerrechts.“⁸ Die Schwierigkeit, das jus cosmopoliticum vom jus gentium zu unterscheiden, vergrößert sich noch im „Ersten Zusatz“. Inwiefern befördert die Natur durch den wechselseitigen Eigennutz des Handels die Einschränkung des jus cosmopoliticum und nicht vielmehr jenes selbst? Befördert sie durch den wechselseitigen Eigennutz des Handels nicht wieder einmal das jus gentium? (Weil 1963, 134) Durch die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen befördert sie nur eine notwendige und negative Bedingung des jus gentium und des Völkerbundes. Sie bedient sich dieser Gegensätze, um uns vor dem Joch einer Weltmonarchie, jenem „seelenlosen Despotism“ (367) zu bewahren. Aber der Natur droht, indem sie durch sprachliche und religiöse Verschiedenheit Zwietracht sät, ein übergroßer Erfolg. Könnten die von ihr angestifteten

(1) die „guarantee of caution“, die der staatliche Liberalismus leistet, (2) die „guarantee of respect“, die der Liberalismus aller Staaten der „pacific union“ verschafft, und (3) der wechselseitige Eigennutz des Handels. Die dreifache Garantie nach Doyle besteht nicht in dem dreifachen Mittel, dessen sich gemäß Kant die Natur bedient, um den dreifachen Zweck der Vernunft zu befördern; vielmehr vereinigt sie das dritte Mittel mit den beiden ersten Zwecken. Zu Doyle und Waltz s. Laberge 1991 und 1992. 7 In der Reflexion 7501 (X 419) beispielsweise wird sie noch nicht erwähnt. 8 Krug 1800, 362; Besnier (1987, 92) wähnt unter dieser dreifachen Unterteilung des jus publicum den Leitfaden der Kategorien der Relation. Dies ist um so wahrscheinlicher, als Kant das jus cosmopoliticum ausdrücklich mit der Wechselwirkung verbindet (VI 352). Wie auch immer; jedenfalls ist es nicht leicht, die jeweiligen Gegenstände des jus cosmopoliticum und des jus gentium zu unterscheiden. Vorländer (1919, 43 f.) sieht im Übergang vom jus gentium zum jus cosmopoliticum jenen von der Europazur Weltpolitik. In dieselbe Richtung geht Gregor (1988, 758), die das jus gentium in einer „federation of States“, das jus cosmopoliticum hingegen in einer „federation of all States“ begründet. Aber macht man damit aus dem jus cosmopoliticum nicht bloß ein globales jus gentium? – ein Weltbürgerrecht ohne Weltbürger?

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Konflikte nicht das Aufkommen nicht nur der Weltmonarchie, sondern auch des Völkerbundes verhindern? Daher bringt sie durch den wechselseitigen Eigennutz des Handels die Völker einander näher, welche sie durch die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen voneinander entfernt. Unter Berücksichtigung der zweiten Garantie wird die dritte notwendig für die Möglichkeit des Völkerbundes und des Friedens, ebenso wie nach der Analogie der Kritik der Urteilskraft (V 464 f.) die „Möglichkeit der Materie … eine Anziehungskraft als die zweite wesentliche Grundkraft derselben“ erfordert (IV 508). Die zweite und dritte Garantie kommen dem Völkerbund und dem zwischenstaatlichen Frieden zugute, indem sie die „ungesellige Geselligkeit“ nachbilden, welche die Natur als Garantie der republikanischen Verfassung und des innerstaatlichen Friedens bereitgestellt hat. 1. Aber ist es nicht vielmehr der Krieg, den wir als Garantie der Natur für die Stiftung und Erhaltung der republikanischen Verfassung in jedem Staat erkannt haben? Am Anfang des „inneren“ ebenso wie des „äußeren“ Krieges (VII 330) und durch den Krieg am Anfang des „inneren“ wie des „äußeren“ Friedens (367) gewinnt indessen die „ungesellige Geselligkeit“ des Menschen die Oberhand, jenes „Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen“ (VIII 20). Man findet im Menschen so etwas wie eine Anziehungskraft gegenüber seinesgleichen, weil, wie ein berühmter Autor formuliert, „das Selbstbewußtsein … an und für sich [ist], indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist“. Aber man stellt bei ihm auch eine Zurückstoßung fest, eine Ungeselligkeit, eine Art Allergie dagegen, anders als „nach seinem Sinne“ (VIII 21) urteilen zu müssen. Weil sich alle in gleichartigen Verhältnissen wissen, fürchtet jeder den Widerstand des anderen gegen seine Ansprüche (VIII 21). Infolgedessen werden „die Menschen … genötigt, sich in größere Gesellschaften … zu vereinigen, um anderen Widerstand zu leisten (XV/2 893; s. auch VII 330), ja sogar um einen preemptive strike durchzuführen. Dies ist die Ursache äußerer Kriege, oder doch wenigstens ihrer ständigen Gefahr (349), sowie der “unaufhörlichen Zurüstung„ (VIII 121) zum Krieg. Eifersucht, Zwistigkeit, innerer Krieg (XV/2 893) suchen diese “größeren Gesellschaften„ so lange heim, bis eine republikanische Verfassung angenommen wird, die Freiheit, Gesetz und Gewalt versöhnt (VII 331; XV/2 893). Werden nun aber in der Friedensschrift der innere, der äußere oder alle beide Kriegsarten (jeweils hervorgerufen durch die ungesellige Geselligkeit) als Garantie der Natur für die Einrichtung einer republikanischen Verfassung angesehen? Die treffenden Sätze der Idee (vier bis sechs) führen den inneren Krieg an. Der„Erste Zusatz“ erwähnt zunächst kurz die Rolle des äußeren Krieges bei der Entstehung des Staates „als Macht“ (366) und geht dann auf die Rolle des inneren Krieges bei der Republikanisierung des Staates ein. Es trifft jedoch genauso zu, daß der äußere Krieg zur Republikanisierung beiträgt, welche wiederum zum Frieden führt: „Aber selbst der Krieg treibt zum repu-

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blicanism und muß ihn zuletzt doch hervorbringen“ (XIX 612). Im Anschluß an den folgenden Vergleich der Idee mit Zum ewigen Frieden, der die Rolle des inneren Krieges zum Thema hat, werden wir den äußeren Krieg als Garantie für die Republikanisierung behandeln.

8.3.1 Der innere Krieg Die Natur führt zur republikanischen Verfassung hin, indem sie sich die „selbstsüchtigen Neigungen“ des Menschen zunutze macht (366) und, ausgehend von der Zwietracht, Eintracht erzeugt (VIII 21, 360). Es gibt in der Tat keine dauerhaftere Eintracht als jene, die aus ihrer scheinbaren Negierung, der Zwietracht, hervorgeht (Philonenko 1968, 35). So läßt sich bei Kant der – freilich nicht wörtlich so formulierte – Gedanke einer List der Natur erklären, der Hegelschen List der Vernunft vergleichbar, aber natürlich mit dem feinen Unterschied, daß die erste nur der reflektierenden Urteilskraft als Leitfaden dient. Wie kann den ein und dieselbe Welt bewohnenden Egoisten die Unterwerfung unter das Recht, d. h. unter den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (VI 230), abgerungen werden? Wie kann die Natur von ihnen die Stiftung und Erhaltung einer republikanischen Verfassung erwirken, der einzigen „dem Recht der Menschen vollkommen angemessen[en]“ (366)? Ist sie nicht die am schwersten zu erlangende? Nach Philonenko (1968, 29) weichen die in der Idee und in Zum ewigen Frieden gegebenen Antworten voneinander ab. Nach Renaut und Ferry enthält bereits die Idee zwei verschiedene Antworten, nämlich einerseits in den Sätzen 1 bis 5, andererseits im Satz 6. Sie vertreten weiterhin die Ansicht, daß die in der Friedensschrift gegebene Antwort mit derjenigen der Sätze 1 bis 5 übereinstimmt. Ferry (1984, 148) zufolge zeugt diese Antwort von einer „mechanistischen Auffassung“, der Satz 6 der Idee dagegen von einer „voluntaristischen Auffassung“ der Geschichte, Renaut (1986, 76) unterscheidet seinerseits ein „theoretisches“ und ein „praktisches Modell“. Worum geht es? Wir wollen die unterschiedlichen Ansichten von Philonenko und Ferry bzw. Renaut beiseite lassen und lediglich den 6. Satz der Idee mit Zum ewigen Frieden vergleichen. Der Unterschied zwischen den beiden Werken kann im Lichte der anregenden Interpretation Höffes (1988, 56–78) genauer bestimmt werden, welche an Kants Vorgabe anknüpft, daß das Problem der Stiftung einer republikanischen Verfassung „selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“ (366) auflösbar sei. Einsichtsfähige Teufel sind das Urbild jener vernünftigen Egoisten, welche die Spieltheorie postuliert. Im „primären Naturzustand“ würden diese idealisierten (O’Neill 1989, 208) Teufel schnell für das Hobbessche Argument emp-

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fänglich, daß selbst die stärksten unter ihnen (wir unterstellen hier nicht nur einsichtsfähige, sondern auch sterbliche Teufel) durch geheime Machenschaften oder durch Bündnisse anderer getötet werden können. Sie würden rasch gewahr werden, daß das Verlassen des primären Naturzustandes, in dem die Freiheit eines jeden durch kein Gesetz begrenzt ist, für jeden von Vorteil ist. Jeder von ihnen zöge die eine Alternative „weder Opfer noch Täter“ der anderen „sowohl Opfer als auch Täter“ vor (Höffe 1988, 63). Jeder von ihnen zöge folglich die „natürliche Gerechtigkeit“ bzw. den „sekundären Naturzustand“ dem „primären Naturzustand“ vor. Denn, so erklärt Kant, alle diese Teufel bedürfen „allgemeine[r] Gesetze für ihre Erhaltung“ (366). Dazu gehört z. B. das Gesetz „Du sollst nicht töten!“ Leider jedoch gilt für diese vernünftigen Egoisten – Gefangenen des vielbesprochenen Dilemmas gleich –, daß, wenngleich sie die allgemeine Kooperation der allgemeinen Nichtteilnahme vorziehen, sie noch lieber ein Übereinkommen sähen, das eine einseitige Nichtgebundenheit einräumt. Jeder wäre lieber Täter, ohne Opfer zu sein: „Jeder will vor sich natürliche Freiheit, vor andre bürgerlichen Zwang“ (XV/2 780). Selbstverständlich ohne es zuzugeben, denn welcher verständige Teufel würde einem anderen dieses Privileg gewähren? Darum legt der„Erste Zusatz“ dar, daß jeder Teufel „in Geheim sich davon [d. h. von den allgemeinen Gesetzen; Zs. d.Verf.] auszunehmen geneigt ist“ (366), die für seine „Erhaltung“ notwendig sind. Der 6. Satz der Idee (VIII 23) stimmt hierüber mit der Friedensschrift vollkommen überein. Weil aber jeder jeden des geheimen Vorhabens verdächtigt, zu eigenen Gunsten eine Ausnahme vom Gesetz zu veranlassen, möchte niemand darauf hereinfallen und Opfer, aber nicht Täter sein. Es wird also nicht gelingen, aus dem primären Naturzustand herauszutreten und die Vorteile der natürlichen Gerechtigkeit zu genießen – außer wenn es gelingt, auch den sekundären Naturzustand zu verlassen, um in den bürgerlichen Zustand und den Zustand der politischen Gerechtigkeit zu treten. Man muß deshalb ein Schwert der Gerechtigkeit akzeptieren, das den Betrüger abzuschrecken geeignet ist. Welchem Teufel aber soll dieses Schwert anvertraut werden? Jeder von ihnen weiß nur zu gut, welchen Nutzen er selbst aus dem alleinigen Besitz dieser Waffe zöge, um sie leichtfertig einem seiner Mitteufel zu übertragen. Man ahnt, daß die Lösung in der Gewähr eines Mitwirkungsrechts und in der Gewaltenteilung bzw. im Gewaltengleichgewicht zu suchen ist, welche „Gewalt mit Freiheit und Gesetz (Republik)“ (VII 331) in Einklang zu bringen in der Lage sind. Diese Lösung ist indes „die schwerste zu stiften“ (366). Dies gilt um so mehr für den Fall, daß die Natur nicht verständige Teufel, sondern Menschen zu Schülern hat, bei denen die „Anlage für die Tierheit“ über die „Anlage für die Menschheit“ des Menschen „als eines lebenden und zugleich vernünftigen … Wesens“ (VI 26) die Oberhand behält. Nach dieser Fallgestalt bedarf es noch größerer Konflikte, Kämpfe und Leiden, damit der Mensch, von der „Noth“ (VIII 22) gezwungen, endlich den Mechanismus seiner selbstsüchtigen Neigungen zu benutzen (und nicht einfach nur zu

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ertragen) lerne, damit er deren zerstörende Wirkung von sich aus unterbinde und sich aus dem erbärmlichen Zustand, in den ihn diese Neigungen hinabziehen, befreie. Man kommt hier mit der „mechanistischen Auffassung“ in Reinform in Berührung. Die Analogie zwischen einem Rechtssystem und einem System, das vom Gesetz der „Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung in der wechselseitigen Anziehung und Abstoßung der Körper unter einander“ (V 465) bestimmt wird, ist fast schon keine bloße Analogie mehr. Kann aber selbst in der besten unter den möglichen Welten – jener der verständigen Teufel – diese schwerste aller Lösungen gefunden werden? „Ein solches Problem muß auflöslich sein“, wird in der Friedensschrift feierlich erklärt (366). Dagegen verwahrt sich jedoch der 6. Satz der Idee: Seine „vollkommene Auflösung ist unmöglich.“ Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Das in der Friedensschrift behandelte Problem scheint nur juridisch zu sein; seine Auflösung ist nicht auf den guten Willen und die „moralische Besserung des Menschen“ angewiesen. Nach dem 6. Satz der Idee hingegen ist ein „vorbereiteter guter Wille“ (VIII 23) unverzichtbar. Denn „der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat“ (VIII 23). Er neigt dazu, Ausnahmen zu seinen Gunsten zu gestatten. Aber „wo nimmt er … diesen Herrn her? Nirgend anders als aus der Menschengattung. Aber dieser ist eben so wohl ein Tier, das einen Herrn nötig hat“ (VIII 23). Der verständige Teufel kann ein noch so ausgeklügeltes System von Gegengewichten entwickeln, diese Technik kann nicht ausreichen. Entweder ist, wie die Rechtslehre einräumt, „das Gesetz … selbstherrschend“, oder es „hängt an einer besonderen Person“ (VI 341). Die erste Möglichkeit setzt einen guten Willen voraus, den der verständige Teufel nicht besitzt, die zweite verlangt nach einer „besonderen Person“, die wiederum eines Herrn bedarf. Durch die Gefahr eines äußeren Krieges wird sodann die Gewalt daran gehindert, die Freiheit zu ersticken. Es wird sogleich verständlich, warum Kant den Weltstaat als eine „seelenlose Despotie“ fürchtet. Und es stellt sich die Frage, inwiefern der äußere Krieg für den Republikanismus günstig ist.

8.3.2 Der äußere Krieg Wodurch befördert nach Kant der äußere Krieg – neben dem Auftreten des Staates „als Macht“ (366) – die Republikanisierung des Staates und, zusammen mit Gewalt und Gesetz, die Freiheit? Wenn auch Zum ewigen Frieden darlegt, inwiefern die republikanische Verfassung Frieden hervorbringt (351), so schweigt sich der „Erste Zusatz“ darüber aus, wie es der äußere Krieg unternimmt, die Republikanisierung des Staates zu befördern. Nach dem ersten Teil des „Anhangs“ will es sogar scheinen, daß der äußere Krieg sich nur negativ auf die Republikanisierung auswirkt. Er stützt

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eine despotische Verfassung, welche alles in allem „die stärkere in Beziehung auf äußere Feinde“ (373) bleibt. Dadurch erklärt sich auch die zeitweilige Aufhebung bürgerlicher Freiheiten in Kriegszeiten. Kants Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte von 1786 hebt ebenfalls die negative Wirkung äußerer Kriege auf die bürgerliche Freiheit hervor. Auf Grund von Kriegen bzw. ihrer Gefahr, die ein wirkungsvolles Argument liefert, wird „der Freiheit … an so viel Orten mächtiger Abbruch getan“ (VIII 121). Wie bereits Rousseau in seinem Urteil über den Entwurf eines ewigen Friedens des Abbé de Saint-Pierre darlegt, entzieht der Entwurf des Abbé dem Despoten den durch den Krieg gelieferten Vorwand dazu, „stets große Armeen zu halten, um sich den Respekt des Volkes zu verschaffen“ (Rousseau 1782/1964, 593). Würden wir aber, so fügt der Anfang hinzu, ohne Kriegsdrohung überhaupt Freiheit haben? Die Kriegsgefahr „ist auch noch jetzt das einzige, was den Despotismus mäßigt“ (VIII 120). Der äußere Krieg sucht die Macht des Staates zu verteidigen, die Macht des Staates seinen Reichtum und der Reichtum des Staates die Freiheit.⁹ Wenn der Staat von seinen Schulden erdrückt wird, die ihm die Rüstung zum Krieg und dieser selbst aufbürden, dann wird das Staatsoberhaupt zu einer „final concession“ (Waltz 1962, 336) gezwungen, welche darin besteht, dem Volk das Recht der Kriegserklärung zu bewilligen (VIII 311). So geschehen in Frankreich im Jahr 1789, als die hohe Staatsverschuldung Ludwig XVI. dazu drängte, der Nationalversammlung das Recht der Steuererhebung sowie der Festsetzung der Höhe der Kriegsschulden (die sich wiederum auf die Steuererhebung auswirkte) und damit die Entscheidung über den Krieg selbst zu übertragen (VI 341 f.). Der äußere Krieg führt also schließlich auf eine republikanische Verfassung hin, welche selbst Frieden hervorbringt. Alles verhält sich so, als ob der äußere Krieg auf seine eigene Niederlage hinwirkte. Wenn aber mit der Furcht vor dem Krieg die Freiheit beginnt, besteht dann nicht die große Gefahr, daß die Niederlage allzu vernichtend ausfällt? Zumindest auf der Ebene der Kultur, „worauf das menschliche Geschlecht noch steht“ (VIII 121)? Und ist die „vollendete Kultur“, welche allein ohne Gefahr für die Freiheit mit dem Verschwinden jeglicher (auch der entferntesten) Kriegsdrohung versöhnt werden kann, leichter zu erlangen als „eine gute Organisation des Staats“ (366), mit welcher das Bedürfnis des Herrn nach einem Herrn hinfällig würde? Wenn hier Zweifel bestehen, muß man dann nicht einem Völkerstaat größtes Mißtrauen entgegenbringen, der uns nicht nur, wie der Völkerbund, aus dem „Zustand des wirklichen Krieges“ (VI 344), sondern auch aus dem „föderativen Zustand“ (383) heraustreten ließe, über welchem trotz allem eine Kriegsgefahr schwebt (357)?

9 S. auch den 8. Satz der Idee (VIII 27 f.).

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2. „Die Absicht der Vorsehung war, daß sich zwar Völker bilden, aber nicht zusammenfließen sollten“ (XV/2 783). Daß die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen, indem sie die Ungeselligkeit der Menschen bis zur drohenden Abspaltung (entlang sprachlicher und/oder religiöser Grenzen) von bereits bestehenden Staaten steigert, zur Verwirklichung dieser Absicht der Vorsehung beiträgt – wer wollte daran noch zweifeln? Aber bedurfte diese Ungeselligkeit der Steigerung? Wenn dies zuträfe – weil die teleologische (reflektierende) Urteilskraft ja die mechanistische Erklärung nicht verabschiedet –, wünschte man sich gleichwohl einige Mutmaßungen à la Rousseau über den Ursprung der Verschiedenheit der Sprachen. Wie dem auch sei: Wenn diese Steigerung der menschlichen Ungeselligkeit vom Standpunkt der Natur aus unvermeidlich erscheint, muß die Natur den von einer Weltmonarchie geschaffenen Frieden als eine Gefahr erachten, der mit allergrößter Vorsicht zu begegnen ist. Diese Gefahr, wiederholt Kant unaufhörlich, besteht im Ersticken der Freiheit (VI 34; VIII 311, 367) und damit aller „Keime des Guten“ (367). Die Natur kann die Entwicklung der menschlichen Anlage zu dieser Gefahr nie genug schützen. Aber, so fragt man erstaunt, verlangt man nicht nach dem ewigen Frieden, damit gerade diese Anlagen sich entwickeln können? Dieser Frieden kann allerdings kein arkadischer Hirtenfrieden sein (VIII 21), von dem der Weltdespotismus nur eine besonders traurige Abwandlung darstellte. Davon zeugt nach Kant das Beispiel Chinas, welches nicht das Glück hat, bedroht zu werden (VIII 121). Warum käme die Weltmonarchie einem Weltdespotismus gleich? Schließlich kann eine monarchische Verfassung republikanisch sein (351–353). Aber kann sie das wirklich? Bedarf der Monarch etwa keines Herrn mehr? Schlimmer noch, fügt die Starke- Anthropologie hinzu, der Weltmonarch „würde … keine Ehrbegierde haben und er würde sich vor keinem andern Monarchen schämen dürfen“ (II 126). Also könnte keine äußere Macht das Fehlen eines Herrn aufwiegen, dessen der Monarch oder ein anderer Träger des Schwertes der Justitia bedarf. Die Naturanlagen des Menschen erfordern zu ihrer Entwicklung den Frieden, wenn nicht sämtliche Früchte ihrer Bildung, die „zu einer noch größeren Kultur gebraucht werden könnten“ (VIII 121), dem Krieg geopfert werden sollen. Dieser Frieden jedoch soll niemals als endgültig gesichert angenommen werden auf Grund der Befürchtung, daß Müdigkeit „die Kräfte der Menschheit“ (VIII 26) überkomme. Es handelt sich um den Frieden der „föderativen Vereinigung“. Eine der Möglichkeitsbedingungen dieser Vereinigung liegt nun aber in einem gewissen Gleichgewicht (VI 346; VIII 26, 367) der Mächte, mithin in der Unmöglichkeit für irgendeine Macht, „eine gewisse Größe“ (VI 123) zu erreichen. Ohne diese Bedingung darf man nicht, wie noch der sanfte Fénelon, glauben, „daß eine Nation, welche die anderen zu unterjochen in der Lage ist, ganze Jahrhunderte lang darauf verzichten würde“ (Bull 1977, 111). Ein verständiger Teufel jedenfalls würde es sich nicht versagen. Es müssen demnach alle (Welt‐)Reiche zugrunde gehen, und das Gleichgewicht muß herr-

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schen, damit der Völkerbund in den Augen dieser kalten Ungeheuer interessant wird. Das Mittel, das die Natur zur Auflösung der Reiche gewählt hat, ist die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen (VI 123). Das Gleichgewicht, dessen Bedeutung für Kant den Neorealisten nicht verborgen bleiben konnte (Waltz 1962), ist eine notwendige Bedingung des Völkerbundes und somit des Friedens, es ist jedoch nicht hinreichend zu seiner Stiftung. Das Gleichgewicht ohne Völkerbund ist wie das Haus von Swift (VIII 312). 3. Wie bedroht auch immer der Frieden bleiben muß, um die Freiheit nicht zu ersticken, jener Frieden ist es zu sehr, welcher das Kräftegleichgewicht als einziges Fundament hat. Schließlich ist die Versuchung der ungeselligen Selbstgenügsamkeit groß, und man verzichtet nicht so leicht darauf, sie durch die Eroberung fremder Territorien und Ressourcen zu erlangen. Aber, wenden die Liberalen stets ein, kann man diese Ressourcen nicht mit geringerem Aufwand als durch Eroberung, nämlich durch Handelsverkehr, erhalten? Betrachtet man nicht nur den absoluten Vorteil, bei dem es Kant, der Ricardo nicht gelesen haben kann, bewenden ließ, sondern auch den vergleichenden Vorteil, müßten dann die verständigen Teufel nicht die „military-political world“ gegen eine „trading world“ (Rosecrance) eintauschen? Wenn der Krieg in der ersten der Welten vorteilhaft erscheinen kann, so unterbricht er in der zweiten „trade and the interdependence on which trade is based“ (Rosecrance 1986, 24). Daher behauptet Kant, daß „der Handelsgeist … mit dem Krieg nicht zusammen bestehen kann“ (368). Aber, wenden dieses Mal die Neorealisten ein (Waltz 1979; Grieco 1990), eine gewinnbringende Zusammenarbeit allein genügt nicht, um ihr zuzustimmen. Wenn sich einer vor dem anderen fürchtet, darf der Gewinn des anderen nicht den eigenen übersteigen. Der eigene Nutzen genügt nicht, um sich in die Abhängigkeit von der Landwirtschaft eines wahrscheinlichen Feindes zu begeben. Daher werden die Staaten der gegenseitigen Abhängigkeit des Handels, welche zu ihrer Ungeselligkeit ein Gegengewicht bildet, nur unter der Bedingung zustimmen, daß sie sich nicht zu sehr gegenseitig fürchten. Der Völkerbund sorgt hier mit den „vertrauensbildenden Maßnahmen“, den damit verbundenen Maßnahmen der „Publizität“ (384) und den von ihm geförderten Schiedsgerichtsverfahren für den notwendigen Rahmen. Der Handel hält den „Ausbruch der Feindseligkeiten“ nur deshalb auf, weil das System der Autarkie durch das System der gegenseitigen Abhängigkeit ersetzt wurde. Dies ist nur möglich durch die Verringerung der Furcht durch den und schließlich im Völkerbund, wenn die Menschen genug unter dem Krieg gelitten haben und sich zum Beitritt entschließen (VIII 24, 310 f.). Wer würde nicht gerne glauben, ohne es vielleicht zu wagen, daß wir uns an diesem Punkt befinden? Übersetzung von Michael Walz

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9 Der Thronverzicht der Philosophie Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant „Geheime Artikel“ in öffentlichen Verträgen sind ein Widerspruch in sich. Sie heben eben die Öffentlichkeit auf, um derentwillen die Verträge geschlossen werden. Wenn Kant also einen geheimen Artikel ankündigt, so ist die Ironie offenkundig. Und wenn wir dann noch lesen, was Inhalt dieses Geheimartikels sein soll, schlägt die Ironie in bitteren Sarkasmus um. Es zeigt sich nämlich, daß dieser geheime Zusatz erstens nur öffentlich „dictirt“ werden kann und zweitens einzig darauf zielt, daß die Philosophen in ihrer öffentlichen Rede nicht eingeschränkt werden dürfen. Überdies soll es nur einen einzigen Artikel dieser Art geben, und der wird eben hier, von Immanuel Kant, veröffentlicht. Es ist also gar nicht zu übersehen: Durch die Spezifizierung des Zusatzes als „geheim“ macht sich Kant, wie schon in der clausula salvatoria seiner Vorbemerkung, über die Arkanpraxis der Hofund Kabinettspolitik lustig. Daran läßt auch die Begründung, die er wenig später für die Geheimhaltung gibt, keinen Zweifel: Es könnte dem Ansehen der Regierungen schaden, wenn sie sich in auswärtigen Angelegenheiten von ihren „Unterthanen“ beraten lassen. Folglich solle man das, was dann nur öffentlich vollzogen werden kann, zuvor in aller Heimlichkeit vereinbaren. Der Staat dürfe die Bürger also nur „stillschweigend … dazu auffordern“, „öffentlich über die allgemeine[n] Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung“ zu reden (369). Zu allem Überfluß wird wenige Zeilen später ausdrücklich eingestanden, daß es „über diesen Punkt … keiner besonderen Verabredung“ bedarf, weil er ohnehin dem Gebot der allgemeinen „Menschenvernunft“ entspricht. Die hier öffentlich zur Geheimsache erklärte Öffentlichkeit hat also nichts anderes als eine moralisch-rechtliche Selbstverständlichkeit zum Gegenstand. Bei der Lektüre des „geheimen Artikels“ glaubt man zu sehen, wie dem Autor der Schalk im Nacken sitzt. Er führt der „lichtscheuen Politik“ ihre eigene „Zweizüngigkeit“ vor (386 f.) und bedient sich ihr gegenüber eben der Sophistik, mit der sie andere zu täuschen versucht. (Zur polemischen Sprache Kants siehe Saner 1967, 215 ff., und Laursen 1986.) Seine ironische List soll freilich das Gegenteil, nämlich eine allgemeine Aufklärung bewirken. Die Anlage der ganzen Schrift ist vom Witz und von der subtilen Polemik des politischen Aufklärers bestimmt. (Siehe dazu auch Gerhardt 1995.) Literarische Rhetorik, existentiell geschärft durch die Zensur, unter der der Autor vom Oktober 1794 bis Ende 1797 stand, tritt hier in den Dienst einer geistvollen Verteidigung des Menschenrechts. Und so ist denn auch die Sache, die er auf satirische Weise vorträgt, von größtem Ernst: „Die Maximen der Philosophen

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über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rathe gezogen werden“ (368).

9.1 Das vermeintliche Privileg der Philosophie Zunächst könnte man meinen, daß hier in abgewandelter Form eine alte römische Institution wieder aufgenommen wird, nämlich die rituelle Bedenkzeit vor dem definitiven Beginn eines Krieges. Die Entscheidung über Krieg oder Frieden lag im antiken Rom nicht allein beim Senat, sondern immer auch bei den priesterlichen Ausdeutern des Vogelflugs. Die Truppen durften also nur ausrücken, wenn eine von der Politik unabhängige Instanz ihre Zustimmung gab. Schon im Rom der frühen Könige waren vor jedem Feldzug 30 Tage allgemeiner Bedenkzeit angesetzt, ehe zu den Waffen gegriffen werden durfte. Ein priesterliches Kollegium (fetiales), das auch über die staatlichen Verträge zu befinden hatte, beriet über die Form, in der ein anstehender Krieg erklärt werden könnte. Außerdem waren schon in der Frühzeit die Auguren zu befragen, die ihr Amt seit der Berufung des Numa Pompilius „ehrenhalber öffentlich“ (honoris ergo publicum) auszuführen hatten (Livius, Ab urbe condita 1, 18, 6). Nach der Bedenkzeit hatte dann das Volk die letzte Entscheidung über Frieden oder Krieg. An diese Regelung hielt sich auch die römische Republik. Und aus der Sicht eines republikanischen Denkers wie Cicero (De re publica II 17) waren die fetiales eine Institution im Interesse des Volkes. So heißt es über Numa Pompilius: Er „schuf das Recht (ius), nach dem Kriege erklärt werden sollten. Es war an sich mit größter Gerechtigkeit (iustissime) errichtet und erhielt die Weihe durch das Fetialrecht (fetiali), wonach jeder Krieg, der nicht angekündigt und erklärt ist, als menschlichem und göttlichem Recht widersprechend zu gelten hat. Und damit ihr beachtet, wie weise schon unsere Könige erkannt haben, daß dem Volke manches [Recht] einzuräumen ist.“ „Dem Volke Rechte einräumen“ – darum geht es auch Kant in seinem Geheimartikel. An der Stelle der haruspices und augures tritt bei ihm der Rat der Philosophen. Aber eben nicht in der Form eines bestellten Consiliums, nicht über eine speziell den Philosophen vorbehaltene Institution! Die Philosophen werden in kein staatliches Amt berufen, um vor der Entscheidung über Krieg oder Frieden ihren Ratspruch abzugeben. Kant genügt es, wenn man sie nur immer öffentlich reden und schreiben läßt und der Staat davon kein besonderes Aufhebens macht; er soll „stillschweigend“ – das bleibt hier von der Geheimhaltung übrig – Öffentlichkeit herstellen. Und da er „stillschweigend“ noch nicht einmal sagen kann, daß er nur den Philosophen freies Rederecht einräumt, muß er es allen zugestehen. Denn der Philosoph ist hier wie anderswo nur der Anwalt der„allgemeinen Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“. Über das hier scheinbar nur für die Philosophen geforderte

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Recht, „frei und öffentlich“ zu reden, ist an anderer Stelle deutlich gesagt, daß es sich nicht auf eine bestimmte Berufsgruppe beschränken läßt: „Zu dieser Freiheit [des Vernunftgebrauchs; V. G.] gehört denn auch die, seine Gedanken, seine Zweifel, die man nicht selbst auflösen kann, öffentlich zur Beurtheilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen Bürger verschrieen zu werden. Dies liegt schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“ (KrV B 780). Es gehört zur Ironie der für „geheim“ erklärten Maxime, daß Kant hier nur von den Philosophen spricht. In der Sache meint er alle, die zum öffentlichen Vernunftgebrauch fähig sind. De iure hebt der ganze Vertragszusatz sich ja von selber auf, so daß de facto die Meinungsfreiheit für alle übrigbleibt. Bei Lichte besehen wird hier für die Philosophen nur etwas gefordert, das allen zusteht. Und wenn es den Philosophen zugestanden ist, dann haben es auch alle. Schließlich wird man es niemandem verwehren können, das, was er für eine vernünftige Ansicht hält, auch öffentlich zu äußern. Was aber an den für vernünftig gehaltenen Ansichten tatsächlich vernünftig ist, läßt sich nur in der öffentlichen Debatte prüfen. Folglich ist klar: Der „geheime Artikel“ fordert kein Anhörungs- und schon gar kein Vetorecht für die Philosophie, sondern nicht mehr und nicht weniger als die Meinungsfreiheit für alle, die in der Lage sind, sich öffentlich zu äußern. Schon von daher ist klar, daß den Philosophen kein besonderes Amt in der Beratung der Politik übertragen wird. Sie bedürfen auch keines besonderen Auftrags, öffentlich Stellung zu nehmen, weil sie es ohnehin „schon von selbst thun, wenn man es ihnen nur nicht verbietet“ (369). Damit soll aber nicht bestritten sein, daß ihnen eine besondere Verantwortung zufällt. Denn indem sie von der „Freiheit der Feder“ Gebrauch machen und damit das „Palladium der Volksrechte“ praktisch vertreten, begeben sie sich in eine herausgehobene Position. Doch auch in ihr brauchen sie keiner besonderen politischen Förderung oder Zensur unterstellt zu werden, denn sie sind hier, wie in ihrer Wissenschaft, der schärfsten Kontrolle unterworfen, die es überhaupt gibt, nämlich der durch die Wahrheit. Die Öffentlichkeit ist eine Sphäre, die Moral, Politik und Wissenschaft gemeinsam ist. Denn der Anspruch auf Wahrheit muß sich ebenso coram publico verteidigen lassen wie der auf ethische oder juridische Geltung. Der häufige Gebrauch der Gerichtsmetaphorik in der Kritik der reinen Vernunft beruht auf dieser Voraussetzung. Dabei ist unterstellt, daß der „Gerichtshof der Vernunft“ öffentlich tagt. Doch auch ohne eine schlichtende Rechtsprechung gibt es einen durch Einsicht und Beweisführung regulierten Ausgleich: Alle, die durch „Selbst- und Lautdenken“ hervortreten, halten sich wechselseitig selbst in Schranken, „damit sie nicht ihre Freiheit verlieren“ (Gemeinspruch VIII 304). Das Recht aber, die

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eigene Meinung zu sagen, kann niemandem bestritten werden. Hier ist der Philosoph allen anderen gleichgestellt. Wenn dies so ist, dann stellt sich jedoch die Frage, ob Kant wirklich der Versuchung entgeht, den Philosophen ein Privileg für die Politikberatung einzuklagen? Daß er in seinem Geheimartikel die Angehörigen seiner Zunft in eine so exponierte Stelle rückt, nährt doch den Verdacht, er könne einer, wenn auch nur allzu verständlichen deformation professionelle unterliegen. Schließlich würde der für die Philosophie konstitutive Wahrheitsanspruch sogar einen Grund für einen direkten Zugang zu den Machthabern nahelegen. Wenn für die Politik gilt, daß sie sich nicht (oder jedenfalls nicht lange) gegen die erkannte oder geglaubte Wahrheit behaupten kann, sollte es sogar selbstverständlich sein, daß Philosophen zu ihren bevorzugten Ratgebern gehören. In der Friedensschrift gibt es dafür aber keine Anhaltspunkte. Selbst bei der im ersten Anhang vom „moralischen Politiker“ geforderten „Staatsweisheit“ ist nicht zu erkennen, daß von ihm eine besondere Beziehung zu den publizistischen Anwälten der „Weltweisheit“, wie Kant die Philosophie gerne nennt, gefordert wird. Natürlich gründet sich die „Staatsweisheit“ vor allem auf die Kenntnis und Beachtung der fundamentalen Rechtsprinzipien; gewiß ist es vornehmlich die Sache der Philosophie, diese Grundsätze des „Menschenrechts“ (Gemeinspruch VIII 306) darzulegen; aber eine herausgehobene politische Stellung der Philosophen folgt daraus nicht. Im Streit der Fakultäten gibt es jedoch eine Passage, die der Philosophie politische Privilegien einzuräumen scheint: Bei dem epochalen Vorhaben der „Volksaufklärung“, d. i. „die öffentliche Belehrung des Volkes von seinen Pflichten und Rechten in Ansehung des Staates, dem es angehört“, werden die Philosophen als die „natürlichen Verkündiger und Ausleger“ der allgemeinen Rechte ausgezeichnet (Fak. VII 89). Das müßte für sich noch keinen Argwohn erregen, wenn nicht zugleich die „amtsmäßigen“ Rechtslehrer als bloße Interessenvertreter abgewertet würden. Als „vom Staat bestellte“ Amtsträger bringen sie, nach Kant, nicht die nötige Urteilsfreiheit auf. Denn der Staat, „der immer nur herrschen will“ (ebd.), drängt, ausdrücklich oder nicht, seinen in den politischen Dienst genommenen Beamten seinen Willen auf. Unzweifelhaft ist, daß Kant hier wie an vielen anderen Stellen den Juristen die Fähigkeit abspricht, vorurteilslos und wahrhaft unabhängig zu urteilen. Er hält sie für voreingenommen, zum einen wohl, weil eine Loyalitätspflicht gegenüber ihrem Dienstherrn besteht, zum anderen (und das ist offenkundig der entscheidende Grund), weil sie sich durch die Nähe zur Macht korrumpieren lassen. Denn auch dort, wo sie durch ihre Stellung als ratgebende Diplomaten oder als Angehörige einer Juristischen Fakultät gar keiner Nötigung zur Übernahme einer fremden Meinung unterliegen, passen sie sich der Herrschaftsmeinung an. Das folgt aus ihrem Selbstverständnis als „Stellvertreter der Staatsmacht“ (369). Mit Blick auf die römische

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Symbolisierung der Justitia als Göttin mit verbundenen Augen, das Schwert in der rechten und die Waage in der linken Hand, unterstellt Kant den Juristen, die Gewalt höher zu schätzen als die abwägende Vernunft, ja, schlimmer noch: Sie scheuten nicht davor zurück, „wenn die eine Schale nicht sinken will, das Schwert mit hinein zu legen“ (389). Sein Kommentar ist so knapp wie eine antike Inschrift: „vae victis“. Die inkriminierte juridische Praxis kann natürlich nur im Verborgenen gedeihen. Die öffentliche Wirksamkeit der Philosophen ist daher als ein Gegenmodell zu verstehen, hinter dem auch eine auf die Rechtswissenschaft gerichtete Erwartung steht. Denn die schleichende Anpassung an die Macht geht schließlich so weit, daß die Juristen es verlernen, die ihrer Wissenschaft aufgegebenen Fragen zu stellen: Die „Rechtsgelehrten“, so Kant, seien unfähig, auf die Frage, was „recht“ sei, zu antworten; sie könnten nur angeben, was jeweils „rechtens“ sei, also „was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben“. Gleichwohl gehörte es zu ihren Pflichten, auch das „allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne“, anzugeben (RL § B; VI 229). Was die Juristen versäumen, haben daher die Philosophen zu leisten – ein Grund mehr für die Vermutung, daß Kant sich und seinen Fachgenossen ein politisches Sonderrecht für Kritik und Aufklärung einräumt. Doch die Vermutung geht fehl. Kant spekuliert auf kein Privileg, wenn er der politisch-philosophischen Kritik den vertraulich-volksnahen Ton untersagt und eine respektvolle Kritik am Staat verlangt. Er betont auf diese Weise nur noch einmal die erforderliche Unabhängigkeit der Kritik. Wenn nur die Einsicht des Kritikers gelten können soll, dann hat er sich nicht nur auf Distanz zu den Machthabern zu begeben, sondern er hat sich auch aller Parteilichkeit für das Volk zu enthalten. Das mag heute verdächtig, ja widersprüchlich klingen, formuliert aber nur einen Standard freier und zugleich verantwortlicher Kritik: Der öffentlich auftretende Philosoph soll nicht zu jenen zu reden versuchen, die seine Schriften ohnehin nicht lesen; er soll sich auch nicht zum Sprachrohr bestimmter Interessen des Volkes machen lassen. Denn wenn er dies tut, spricht er bereits nicht mehr als Philosoph, sondern als Vertreter einer partikularen Klientel. Will er sich als „freier Rechtslehrer“ Gehör verschaffen (vgl. Fak. VIII 89), und will er dabei tatsächlich als Anwalt der „Volksrechte“ verstanden werden, dann bleibt ihm nur die Parteinahme für die Vernunft. Also hat er sich auf die Auslegung der Grundrechte zu beschränken.

9.2 Eine Königsherrschaft der Philosophen? Die öffentliche Deutung des Menschenrechts schließt freilich dessen Verteidigung ein. Wer aber Rechte verteidigt, der hat auch gegenüber der Instanz, die das Recht zu gewähren und zu sichern hat, „ehrerbietig“ zu sein. Hier wird kein politischer

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Stellungswechsel vollzogen; hier kommt auch keine „restaurative Tendenz“ zum Vorschein. Kant bleibt konsequent bei seinem Programm der Vernunftkritik. Zu dem aber gehört der Anspruch, zu wissen, wovon man spricht. Folglich hat die philosophische Kritik politischer Verhältnisse zu beachten, daß es ihr wesentlich um grundrechtliche Forderungen geht. Und die verlangen neben der Bemühung um Objektivität nichts mehr als Respekt vor dem Recht. Daraus einen verdeckten Anspruch auf „Mitregentschaft“ abzuleiten, ist absurd. Man hat im Gegenteil festzuhalten, daß Kant gerade mit Blick auf das ungute Beispiel der Juristen darauf beharrt, den Philosophen ein politisches Vorrecht zu verweigern. Im Besitz oder in der Nähe zur Macht wären auch sie nicht dagegen gefeit, der Macht, die sie selber trägt, ihre Stimme zu verleihen. In seinen Augen genügt es, wenn sie ungehindert an der Aufklärung des Volkes mitwirken können und somit zur allgemeinen Urteilsbildung der Staatsbürger beitragen. Das aber heißt: Sie sollen nur Philosophen sein dürfen – und nichts sonst. Läßt man sie als Philosophen gewähren, dann werden sie von selbst öffentlich sprechen und damit ihrer „Verpflichtung durch allgemeine (moralischgesetzgebende) Menschenvernunft“ nachkommen. Sie benötigen auch keine Aufsicht und erst recht keine Zensur. Denn sie korrigieren sich gegenseitig, wie dies auch im wissenschaftlichen Diskurs der Fall ist oder jedenfalls sein sollte. Wahrheitssuche und die Erörterung politischer Prinzipien haben eben gemeinsam, daß sie beide aus eigener Logik nur der Vernunft unterstehen. Die aber kann sich nur im freien Urteil zeigen. Es ist also das allgemeine Vernunfturteil, wie es sich im freien Gebrauch der Verstandeskräfte entwickelt, das die stärksten Argumente für den Frieden garantiert. Und es ist die Öffentlichkeit, von der die besten und wirksamsten Einsichten für den Frieden zu erwarten sind. Da die Philosophen mit der Stimme der Vernunft zu sprechen suchen und da sie durch ihre Vernunft auf die Rechte der Menschen verpflichtet sind, kommt ihnen eine besondere Verantwortung bei der Stiftung des Friedens zu. Nur: eine staatliche Prärogative folgt daraus nicht. Politisch gesehen sind sie Bürger wie alle anderen auch. Und jeder, der sie zu verstehen glaubt, darf ihnen widersprechen. Ja, er sollte es tun, wenn er auch nur einen vernünftigen Grund dazu hat. Denn die Philosophie lebt von dem öffentlichen Widerspruch, den sie erzeugt. Da also der Philosoph für sich und seinen Stand weder ein privilegiertes Amt noch ein exklusives Recht verlangt, sind auch seine Ansprüche an den Staat gering. Gleichwohl verlangt Kant nicht eben wenig, wenn er fordert, „daß man ihn höre“ (369). Wenn die Philosophie die Einhaltung von Grundsätzen fordert, wenn sie auf der Übereinstimmung zwischen Worten und Taten besteht oder gar Reformen fordert (siehe dazu den

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„Anhang I“), dann kostet es Überwindung, die Philosophen reden zu lassen, geschweige sie auch noch anzuhören. Und zum Ärgernis muß es werden, wenn in dem bescheidenen Auftreten der Philosophie ein Anspruch erkennbar wird, über den sie selbst zwar auch nur ironisch spricht, gegen den man jedoch mit Argumenten kaum etwas vorbringen kann: „so heißt es z. B. von der Philosophie, sie sei die Magd der Theologie (und ebenso lautet es von den zwei anderen Fakultäten, nämlich der Juristischen und der Medizinischen; V. G. ). – Man sieht aber nicht recht, ,ob sie ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt‘ “ (ebd.).

Kant läßt sowohl die historisch-autoritative wie auch die gesellschaftlich-praktische Rangfolge der Wissenschaften offen. Unter dem Primat der praktischen Vernunft hat er in der Tat auch philosophisch Raum für die Anerkennung der praktischen Vorzüge von Medizin, Jurisprudenz oder auch Theologie. Es dürfte aber klar sein, daß die Gewichtung und Rangordnung nur auf der Basis einer Debatte vorgenommen werden kann, die, wenn wirklich alle wichtigen Argumente geprüft werden, gar nicht anders als philosophisch genannt werden kann. Folglich nimmt die Philosophie spätestens dann, wenn es um die Einordnung der Disziplinen geht, die Fackel in die Hand. Und wo das Nachdenken über Bedingungen und Ziele der Disziplinen gar nicht unter dem Titel der Philosophie steht, da werden die Nachdenklichen ganz von selbst zu Philosophen, sofern sie nur gründlich genug verfahren. Also hat die Philosophie unter den Bedingungen der Aufklärung notwendig die Führung inne, sie mag im übrigen den anderen Wissenschaften noch so sehr an Leistung und Ansehen nachstehen. Wo es nicht mehr nur um die fraglose Fortgeltung einer überlieferten Wertung oder um einen bloßen Machtanspruch geht, da kommt die Philosophie auch interdisziplinär in eine starke Position; es geht hier ebenso wie in der Politik, wo sie zwar im öffentlichen Streit der Meinungen verzichtbar sein mag, nicht aber in der Auslegung der Prinzipien des Menschenrechts. Wo nach Grundsätzen entschieden werden muß, da kann das kritische Urteil der Philosophen nicht fehlen. Im öffentlichen Raum haben sie somit – auch ohne Amt und ohne Mandat – eine Stellung, die stärker nicht sein könnte. Deshalb könnte es verwundern, daß am Ende dieser die Philosophie exemplarisch auszeichnenden Passage unvermittelt ihre politische Abwertung folgt. Jedenfalls wird jeder Personalunion zwischen Philosophie und Politik eine kompromißlose Absage erteilt; ein über mehr als zwei Jahrtausende immer wieder zitiertes Ideal philosophischer Herrschaft wird nicht nur als unwahrscheinlich, sondern auch als unerwünscht wiederrufen: „Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“ (369). Gewiß hat es längst vor Kant genügend einsichtige Köpfe gegeben, die von der Erwartung Abstand genommen haben, die Philosophen könnten eines Tages zu machthabenden Staatslenkern werden und der Politik endlich jene Vernünftigkeit eingeben, nach der Politik und Philosophie seit ihren Anfängen immer wieder von

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neuem suchen. Schon die Erfahrung, die Platon selbst mit den philosophierenden Herrschern gemacht hat, haben wenig Hoffnung aufkommen lassen; dann hat das Schicksal der philosophierenden Könige von Marc Aurel bis zu Friedrich II. von Preußen ernüchternd gewirkt, ganz zu schweigen von den Philosophen, die der Macht zu nahe kamen. Die Liste der Berühmtesten reicht von Platon und Aristoteles über Cicero und Seneca bis hin zu Machiavelli, Thomas Morus und Voltaire. Gleichwohl hat kein Philosoph je zuvor mit solcher Deutlichkeit gesagt, daß es erst gar nicht zu wünschen ist, daß die Philosophen hohe Staatsämter übernehmen. Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht auch schon früher Zweifel an der Möglichkeit und Wünschbarkeit der Philosophenherrschaft aufgekommen sind. Die ersten finden sich bei Platon selbst. Seine berühmt-berüchtigte These, derzufolge weder der Staat (polis) noch das menschliche Geschlecht (anthropinos) von Übeln befreit sein werden, solange nicht „Staatsgewalt und Philosophie“ (politike kai philosophia) zusammenfallen, stellt er mit der „Befürchtung“ (oknos) vor, „sie gehe gegen aller Menschen Meinungen an“ (Politeia 473a). Vielleicht hätte er etwas weniger Bedenken haben müssen, wenn er es bei der Verknüpfung der Politik mit der Philosophie belassen hätte. Erst seine mit dem Höhlengleichnis vorgetragene Personalisierung des Zusammenhangs von Regierung und Philosophie (ebd. 520a; 535a–540c) rückt sein Modell (paradeigma), das eigentlich ja nur anschaulich machen soll, wie Gerechtigkeit gedacht werden kann, in das Zwielicht der Utopie. Im übrigen darf man nicht vergessen, daß Platon in seinen nicht mehr bloß paradigmatisch, sondern direkt auf die Politik bezogenen Dialogen die Philosophenherrschaft nicht mehr zum Thema macht. So brauchte Aristoteles auch hier nur die Argumentationslinien des Politikos und der Nomoi zu verlängern, ohne die Königsherrschaft der Philosophen auch nur zu erwähnen. Nur ein einziges Fragment erlaubt die Aussage, daß er es für einen Nachteil hielt, wenn die Philosophen zur Herrschaft kommen würden (Aristoteles 1955, Fr. 2, 62; vgl. dazu Bien 1973, 248, und Bien 1989, 585). Gleichwohl ist die im allgemeinen gar nicht so falsche These, Kant folge Aristoteles, „wenn er die Rolle der Philosophen als die der Ratgeber und nicht der politisch Handelnden bestimmt“ (Cavallar 1992, 338), an dieser Stelle überzogen. Denn Aristoteles geht von einer strukturellen Entsprechung zwischen Regieren und Philosophieren aus. „Das Regieren“, so heißt es bei seinem Schüler Dikaiarch, „ist dem Philosophieren ähnlich“ (Wehrli 1944, Fr. 29,18). Und an dieser Ähnlichkeit wird in der Antike so wenig gezweifelt, daß sich keine grundsätzliche Kritik an Platons Gleichsetzung von politischer Herrschaft und philosophischer Lebenskunst finden läßt.

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9.3 Das praktische Wissen Sowohl in der platonisch-akademischen wie in der aristotelisch-peripatetischen Schultradition, insbesondere aber in den weithin wirksamen Formen des stoischen Denkens hält man an der Entsprechung zwischen theoretischem und praktischem Wissen fest. „Physik“ und „Ethik“ stehen in einem deduktiven Zusammenhang. Bei den spätrömischen Kaisern Hadrian und Marc Aurel konnte daher die Hoffnung aufkeimen, hier komme die Philosophie an die Macht. Sie hat die bis in den Humanismus lebendigen Tradition der Fürstenerziehung inspiriert. Noch Erasmus von Rotterdam steht mit seiner Querela Pacis in dieser Überlieferung. Und wenn Luther der Philosophie zwar jede Gotteserkenntnis abspricht, ihr aber als Ziele den „politischen Frieden und die zeitlichen Güter“ zugesteht (Präparationen zur Vorlesung über die Galatherbriefe, in Sämtl. Werke Bd. 40/I, 20), dann verstärkt sich sogar noch die Verbindung zwischen politischem und philosophischen Wissen. So wird in die frühe Neuzeit, die fast in allem eine Renaissance platonischer, aristotelischer und stoischer Einsichten ist (vgl. Gerhardt 1992), auch am Satz über die Königsherrschaft der Philosophen nicht ernsthaft gezweifelt. Wir sehen sowohl bei Bacon wie bei Descartes, bei Hobbes nicht anders als bei Spinoza, Leibniz und Locke eine durchgängige Form der Ableitung von praktischen aus theoretischen Einsichten unterstellt, die im Prinzip keinen Einwand gegen die Königsherrschaft der Philosophen erlaubt. So ist Kant der erste, der nicht nur einen pragmatischen Vorbehalt macht, sondern einen theoretisch begründeten Einspruch formuliert. Dieser Einspruch folgt nun aber nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, aus Kants apriorischer Begründung der reinen Prinzipien des praktischen Handelns. Gerade die Friedensschrift belegt, daß der Bezug zu situativen empirischen Sachverhalten in Kants politischem Denken eine unerläßliche Sinnvoraussetzung ist. Wer erfolgreich politisch handeln will, muß über Urteilskraft und Klugheit verfügen. Er braucht ein Gespür für die Macht, benötigt gesunden Menschenverstand und vor allem auch eine Sinn für den richtigen Augenblick, wenn denn die Politik den ihr immanenten Anspruch auf Reform realisieren will. Alles dies steckt in Kants Begriff der Politik als einer„ausübenden Rechtslehre“ (370; siehe dazu auch Gerhardt 1995b). Und hier ist Kant Aristoteles näher, als manchem ihrer Interpreten lieb ist. Der Unterschied zwischen Kant und seinen Vorläufern liegt vielmehr in einer strikteren Fassung des praktischen Wissens, des Wissens also, das für die Politik grundlegend ist. In der kritischen Philosophie gewinnt das praktische Bewußtsein seine Inhalte nicht aus einer bloßen Beschreibung von Sachverhalten, sondern immer auch aus einem ursprünglichen Bewußtsein der Verpflichtung. Es ist – gerade in dem erforderlichen Sachbezug – Wissen von der Verantwortlichkeit des handelnden

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Subjekts. Also hat es einen vorgängigen Bezug zu der individuell erfahrenen Freiheit eben dieses Subjekts. Das aber heißt: Es kann nicht mehr in einem bloßen Akt der logischen Schlußfolgerungen oder der topischen Anwendung von einem theoretischen Sachverhalt auf eine praktische Lösung geschlossen werden. Die Vermittlung hat stets über das praktische Selbstverhältnis des handelnden Individuums zu erfolgen. Damit kommt der Wille des Subjekts als originäre Instanz hinzu und mit dem Willen die Selbstgesetzgebung durch praktische Vernunft. Die liegt aber in nichts anderem als in der Selbstverpflichtung des Handelnden auf die ihm einsichtigen Gründe. Folglich erhält die jeweilige Stellung des Menschen, das Bewußtsein seiner eigenen Verantwortlichkeit, seine Fähigkeit, sich selbst durch einsichtige Gründe zu motivieren, ein ganz anderes Gewicht. So allgemein und notwendig die Gesetzgebung durch praktische Vernunft auch immer sein mag: Zur Ausführung kommt sie nur über das aus keinen theoretischen Prämissen ableitbare praktische Bewußtsein, das nur insofern ein Bewußtsein der Verpflichtung ist, als es ein Bewußtsein der Freiheit einschließt. Und nun braucht man nur noch die von Kant-Interpreten durchweg (die Ausnahmen sind Natorp 1924 und Simmel 1931) übergangene Selbstverständlichkeit hinzuzufügen, daß ein solches Bewußtsein der Freiheit nur individuell sein kann. Dann nämlich liegt die Differenz zwischen Kant und seinen Vorgängern offen zutage: Er hat mit der Aufteilung der Funktionen theoretischer und praktischer Vernunft eine Lösung für die Anerkennung der individuellen Rationalität des Handelns gefunden, ohne die Strenge der Vernunftanspruchs zu lockern. Vernunft, die ihre Eigenart in der strikten Schlüssigkeit ihrer Einsichten hat, kann in beiden Funktionen in ihrer begrifflichen Konsequenz bestehen; doch in ihrer praktischen Leistung setzt sie anders an, nämlich im Bewußtsein freier Verantwortlichkeit des seine Aufgabe ernst nehmenden Individuums. Eine adäquate philosophische Fassung des spezifisch praktischen Problembewußtseins findet sich somit erst bei Kant. Seine Lösung bindet die moralische Entscheidung zwar auch an das Wissen, aber dieses Wissen ist nicht mehr bloß deskriptiv, sondern es ist an einen Selbstbegriff geknüpft, der immer auch normativ verstanden werden muß. Der normative Selbstbegriff verbietet aber einen direkten, bloß durch logisches Schließen zu bewältigenden Übergang von der theoretischen Erkenntnis zur praktischen Einsicht. Ganz abgesehen von der zutreffenden theoretischen Erfassung der näheren Umstände (die natürlich vorauszusetzen ist, weil anders ein Handlungserfolg lediglich Glücksache wäre), muß im politischen wie im moralischen Handeln der eigene Wille eines Individuums gegeben sein. Dieses Individuum braucht dabei nur unter dem Anspruch zu stehen, aus eigenen Gründen handeln zu wollen: also nur das tun zu wollen, was es durch seine eigene Einsicht als zureichend begründet anerkennen kann. Erst dann ist das praktische Vernunftbedürfnis eines Individuums befriedigt; erst damit stellen sich die von der Vernunft

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eingeflößten motivierenden Gefühle ein, ohne die auch ein rationales Handeln nicht möglich ist (Gerhardt 1988). Diese hier nur grob skizzierte Anlage des praktischen Wissens steht im Hintergrund von Kants entschiedener Abkehr von Platons Modell der Philosophenkönige. Der Einwand, den er mit einem halben Satz begründet, nimmt davon aber nur den Anspruch auf Freiheit auf und begnügt sich damit, sie allein für die Theorie einzufordern: Der „Besitz der Gewalt“ verderbe, so heißt es, „das freie Urtheil der Vernunft“. Das liest sich, als hätte man sich den Exkurs über das praktische Wissen sparen können, denn von Wille und Tat scheint hier gar nicht die Rede zu sein. Tatsächlich aber kann der knappe Satz nur eine Begründung sein, weil Pathos praktischer Freiheit mit der Emphase auf dem individuell verfaßten Selbstbewußtsein dahintersteht. Auch das Denken, vor allem wenn es sich öffentlich äußert, ist eine Tat, die ihre Gründe braucht. Diese Gründe dürfen ihr Kriterium nur in der Korrektheit und Konsequenz der Einsicht haben, wenn sie denn wahrhaft Gründe sein sollen. Also benötigt ein Denker die Selbständigkeit, nur seiner Einsicht folgen zu können, wenn er mit seinem „freien Urtheil“ überzeugen will. Steht er dagegen im Dienst oder gar unter dem Druck starker Interessen, dann wird es fraglich, ob hier die zutreffende Erkenntnis das leitende Motiv darstellt. Alles dies spricht zunächst für einen engen Zusammenhang zwischen öffentlichem Anspruch und nachprüfbarer Wahrheit. Daran ist auch jederzeit festzuhalten: Ein „verdorbenes“ Urteil ist ein falsches Urteil. Gäbe es die Wahrheitserwartung in öffentlichen Diskursen nicht, so entfiele jeder Beweisanspruch von Argumentation und Kritik. Also ist gar nicht zu bestreiten, daß es hier immer auch um die zutreffende Erkenntnis geht. Es ist aber höchst bezeichnend, daß Kant nicht die in Urteilen intendierte Wahrheit zum Kriterium der Abgrenzung erhebt, sondern sich an dem orientiert, was im gesellschaftlichen Zusammenhang allererst zur Wahrheit führt. Es ist der Prozeß der Wahrheitsfindung, auf den es ihm ankommt und bei dem er bereits in der theoretischen Philosophie eine offenen Sphäre wechselseitiger Prüfung voraussetzt (KrV B 779 f.). Auf der „Bühne des Streits“ (B 881) ist die freie Einstellung der Individuen wesentlich. Voraussetzung der Wahrheitsfindung ist ihr Verhalten in einem historisch gegebenen und sozial geordneten Geschehen. Es ist eine „Geschichte der reinen Vernunft“, in der sich das Interesse an der Erkenntnis bildet, und eine „Cultur der menschlichen Vernunft“ (B 878 f.), in der es sich diszipliniert. Also ist die praktische Einstellung zu sich und zu anderen eine Bedingung der Wahrheitsfähigkeit auch im politischen Raum. Folglich steht die Abgrenzung des Philosophen von dem der Macht verpflichteten Politiker unter dem „Primat der praktischen Vernunft“ (KpV V 119). Damit haben wir zwei Kriterien für die Unterscheidung zwischen dem Philosophen und dem Politiker: Das erste folgt aus der Bindung des Handelnden an die konkrete Situation. Sie erfordert besondere Erfahrung und geübte Urteilskraft, kann also nur

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unter Einsatz von Klugheit bewältigt werden. „Staatsklugheit“ wird dieses Kriterium im Anhang genannt. Es entbindet nicht von der „Staatsweisheit“, also von der Beachtung der Prinzipien der Vernunft. Im Gegenteil: Das Schwergewicht einer philosophischen Theorie der Politik hat darin zu liegen, den Praktiker von der unbedingten Geltung der Grundsätze des Vernunft- und Menschenrechts zu überzeugen. Gleichwohl kann der Philosoph die konkreten Handlungen des Praktikers nicht einfach aus den Grundsätzen ableiten; der kundig-kluge Umgang mit Menschen und Mächten verlangt eigene Mittel und Wege. „Reform aus Prinzipien“ heißt nicht, daß man sie durch logische Schlüsse erreicht (siehe dazu Langer 1986, 96 und Sassenbach 1992). Die politische Praxis steht unter Konditionen sui generis; sie lassen nicht erwarten, daß gute Philosophen auch gute Politiker sind. Die Umkehrung könnte da schon eher möglich sein. Das zweite Kriterium liegt in den prozessualen Voraussetzungen vernünftiger Meinungsbildung, die an die Unabhängigkeit der urteilenden Subjekte gebunden ist. Hier ist das praktische Selbstverständnis, das ein jeder zu sich selbst gewinnen muß, entscheidend. Auch hier kann man von den umgebenden Bedingungen nicht absehen. Zwar steht jeder Mensch unter dem Selbstanspruch, sich frei und aufrichtig zu äußern; aber die Verhältnisse können es mal schwerer und mal leichter machen, zur eigenen Freiheit zu stehen. Und eben diese Korrelation von Situation und sozialer Stellung auf der einen und moralischer Konsequenz auf der anderen Seite ist in Kants Verwerfung der Philosophenherrschaft anerkannt! Für diejenigen, die in Kant nur den moralischen Rigoristen zu erkennen glauben, muß dies eine geradezu unglaubliche Feststellung sein. Aber die Tatsache, daß er den Politikern eine andere Stellung zum „freien Urtheil“ attestiert, ohne sie deshalb zu ächten, läßt keine andere Schlußfolgerung zu. Die sich daraus ergebende eigenständige Sphäre pragmatischer Politik kann aber nicht sich selbst überlassen bleiben. Sie unterliegt der Kontrolle durch eine praktische Theorie. Die kann für sie jedoch nur dadurch Verbindlichkeit haben, daß die Politik ein Teil menschlich-vernünftiger Praxis ist. Strenggenommen kann der philosophische Theoretiker den Politiker also nur auf etwas aufmerksam machen, nur an etwas erinnern, was (immer auch) zu den Bedingungen des politischen Handelns gehört. Er braucht ihn daher oft nur beim Wort zu nehmen, ihn an seine Versprechen erinnern, ihm seine Unaufrichtigkeit vorzurechnen und seine Heimlichkeiten bloßzustellen, wie dies im Anhang zur Friedensschrift in der Kritik des „politischen Moralisten“ geschieht (374ff.). Deshalb spielt die Aufmerksamkeit auf die Sprache der Politik eine so große Rolle; entsprechend ist das Gewicht der Rhetorik gerade auch in der Kritik der politischen Verhältnisse; die satirische Form der Friedensschrift macht auch sie immer wieder bewußt. In der Kritik können dann die praktischen Prinzipien bewußtgemacht werden, denen Politiker und Philosoph natürlich gemeinsam unterstehen, sofern sie sich nur als „vernünftige Wesen“ verstehen (siehe zu diesem Begriff Gerhardt

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1990). Und sie tun dies bereits dann, wenn sie sich in öffentlicher Rede präsentieren und wenigstens den Anschein der Ernsthaftigkeit zu erwecken versuchen.

9.4 Die Arbeitsteilung zwischen Politik und Philosophie Auf dem gemeinsamen Boden der praktischen Vernunft gibt es also durchaus eigenständige Handlungsfelder. Zwischen praktischer Politik und philosophischer Kritik herrscht Arbeitsteilung; Regieren und Philosophieren sind komplementäre gesellschaftliche Tätigkeiten, die nicht zusammenfallen dürfen, wenn ihre Leistungsfähigkeit auf ihrem je eigenen Gebiet nicht leiden soll. Darin liegt die Modernität der kritischen Konzeption von Politik und Philosophie. In beiden Fällen setzt Kant auf die vermittelnde Leistung der Öffentlichkeit. Die durch sie eröffnete Chance einer pluralen Herstellung von politischer Einheit und überprüfbarer Erkenntnis macht es nicht nur überflüssig, auf die platonische Identität von Politik und Philosophie zu setzen; sie wäre unter modernen Bedingungen „auch nicht zu wünschen“. Nach alledem ist klar, daß Kant mit seiner Abkehr von der Modellvorstellung Platons gewiß keinem Philosophen den Weg in ein hohes Staatsamt verwehren wollte. Ihm wird auch nicht daran gelegen haben, einem Staatsmann die Beschäftigung mit philosophischen Fragen zu untersagen. Wer das eine oder andere tut, tut dies aber als Bürger oder als Politiker und nicht als Philosoph! Die Grenze zwischen Philosophie und Politik darf nicht verwischt werden. Denn die Politik steht unter anderen Bedingungen als die Philosophie: Die Nähe zur Macht bringt Rücksichten mit sich, die der reinen Reflexion entgegenstehen können, so daß man bei einem philosophischen Urteil eines Politikers stets argwöhnen muß, daß insgeheim doch eine Interessenbindung besteht, die dem freien Urteil abträglich ist. Folglich sind auch die Meinungen der Philosophen kritisch zu prüfen; im freien Meinungsstreit werden sie dies auch untereinander tun. In der Nähe zu einer großen Macht aber kommt von vornherein eine systematische Verzerrung hinzu, die es verbietet, unter ihrem Bann nur noch von Gedanken und vernünftigen Gründen zu sprechen. Selbst wenn ein Philosoph König würde: Er wäre dann eben nicht mehr, was er vorher war. Denn mit der Übernahme des Amtes wäre er in der Hauptsache zum Politiker geworden und müßte in seinen Äußerungen auch so verstanden werden. Daß diese Unterscheidung zwischen Philosophie und Politik so entschieden ausfällt, hat ihren Grund natürlich auch in der von Kant so stark betonten kritischen Funktion der Philosophie. Ihr vorrangiges „Geschäft“, so heißt es am Ende der ersten Vernunftkritik, ist die Kritik: „Der kritische Weg ist allein noch offen“ (KrV B

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884). Um aber der Aufgabe der Kritik genügen zu können, braucht die philosophische Theorie nichts dringlicher als ein freies Urteil. Sie benötigt Unabhängigkeit von allen speziellen Interessen, wenn sie wahrhaftig im Interesse der Vernunft prüfen und bewerten können soll. Dieser kritische Begriff der Philosophie, der – einem landläufigen Urteil entgegen – weder systematische noch metaphysische Vorhaben ausschließt, ist modern in einem ganz speziellen Sinn: Er vertraut auf die Arbeitsteilung auch in Fragen der Erkenntnis. Für Kant liegt der Fortschritt der Kultur darin begründet, daß die Menschen sich die Arbeit teilen und sich in höchst verschiedenen Fertigkeiten spezialisieren können (Idee VII 21 f.; Anfang VIII 115 ff.). In der (romantischen) Kritik an der „Entfremdung“ hätte er wohl nur ein Mißverständnis entdecken können, dem eine Verwechslung des moralischen Anspruchs auf Würde der Person mit dem technisch-praktischen Anspruch auf individuelle Tüchtigkeit zugrunde liegt. Wer die Entfremdungsthese unter Berufung auf Kant zu bekräftigen versucht, der übersieht jenes „niemals bloß“ in der wohl treffendsten Variante des kategorischen Imperativs: „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle“ (GMS IV 433). In der Natur kann jedes Lebewesen einem anderen zum Mittel werden. Auch die menschliche Gesellschaft steht unter diesem Gesetz. Jede Mutter wird dem Kind zum Lebensmittel, sofern sie sich als Mutter verhält; und es fällt nicht schwer, auch im Kind ein Mittel im Dienst der Lebensziele einer Mutter zu erkennen. Diese wechselseitige Zweck-Mittel-Relation wird in der menschlichen Gesellschaft bewußt gestaltet und trägt den Titel der „Kultur“ zu Recht. Indem sich die Menschen in Ökonomie, Technik und schließlich auch in der Wissenschaft die Aufgaben teilen, setzen sie sich bewußt wechselseitig als Mittel zu ihren eigenen Zwecken ein und schaffen so erst den gesellschaftlichen Zusammenhang. Schon Platon hat beschrieben, wie mit der Zunahme der Arbeitsteilung der Staat unentbehrlich wird (Politeia 368b–374b). Kant hat diesem Gedanken den methodologischen Status einer Idee verliehen und daraus einen Entwurf zu einer „Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ gemacht (Idee VIII 15–31). Die Entfaltung von Ökonomie, Recht und Wissenschaft legt darin den Grund für den Aufbau einer staatlichen Ordnung, mit der sich der Mensch einverstanden wissen kann. Wenn daher nicht nur der machtausübenden Regierung, sondern auch Jurisprudenz und Philosophie wohlunterschiedene Aufgaben zugewiesen werden, so ist auch dies Ausdruck einer kulturellen Differenzierung, die letztlich allen zugute kommt. Die Arbeitsteilung hat auch einen eminent politischen Aspekt, der in der Gewaltenteilung zum Ausdruck kommt. Es ist nicht nur nicht möglich, daß jeder alles macht; es ist dies politisch auch gar nicht erwünscht. Kants strikte Trennung von politischer Machtausübung und philosophischer Kritik ist der Trennung von Exe-

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kutive und Jurisdiktion analog. Und wenn die Verständigung zwischen Politikern und Philosophen unter Vermeidung jeder Geheimhaltung, also öffentlich erfolgen soll, dann ist dabei auch die Rolle der Legislative wie selbstverständlich in den öffentlichen Raum verlegt. Die Trennung von Philosophie und Politik hat damit auch eine demokratische Implikation, denn sie unterstellt, daß die Handlungen des Staates an eine Willensbildung im öffentlichen Raum gebunden sind. (Dazu dann speziell der „Anhang II“, 384 f.) Wir brauchen nur zu fragen, wie denn diese Willensbildung zu einem institutionellen Ausdruck gelangen kann, und sind bei der legislativen Funktion des Parlaments. Erst damit zeigt sich die politische Progression in Kants Einspruch gegen die Hoffnung, die seit Platon immer wieder in die Philosophenherrschaft investiert worden ist. Es gehört zu den teuer bezahlten Regressionen der nachkantischen Philosophie, daß die politische Pointe dieser Trennung zwischen Politik und Philosophie nicht erkannt worden ist. Marx’ elfte These gegen Feuerbach akzeptiert eben diese Trennung nicht, und so kann es nicht wundern, daß Marx und seine Anhänger weder für die Gewaltenteilung noch für das positive Recht, weder für das Menschenrecht noch die Unableitbarkeit praktischer Einstellungen aus theoretischen Einsichten Verständnis hatten. Die Kommentatoren nennen für Kants strikte Abgrenzung der Philosophie von der Politik auch historisch-biographische Motive (etwa Cavallar 1992, 348 ff.). Die mögen in der Tat eine Rolle spielen. In der Sache aber geht das Urteil auf die Einsicht in die systematische Differenz zwischen philosophischer Theorie und pragmatischem Handeln zurück. Kant begründet ein neues paradigmatisches Modell für den Zusammenhang von Philosophie und Politik. Das alte paradeigma Platons braucht nicht dämonisiert zu werden; es hat seine Verdienste. Aber es paßt nicht mehr zu den modernen Bedingungen des Wissens und des Handelns. Das neue Modell Kants ist von einem starken Vertrauen in die kritische wie auch in die begründende Leistung der Philosophie getragen. Es setzt zugleich ein neues Vertrauen in die Politik. In beiden Fällen ist es durch die vermittelnde Leistung der Öffentlichkeit versichert, in der sich Individuen ohne Preisgabe ihrer Eigenständigkeit allgemein verständigen können. Wo dies in der Theorie gelingt, gibt es neue, allgemein geprüfte Einsichten und somit eine Entwicklung in der „Cultur der menschlichen Vernunft“. Wo dies praktisch gelingt, da sind schließlich gar keine Könige mehr nötig, weil da die Völker selbst „königlich“ werden (369). Daß nicht die Philosophen, sondern die Völker selbst zu Königen werden – das ist die unüberbietbare Hoffnung, die Kant Platon entgegensetzt (vgl. Schneiders 1981). Wer wollte daran zweifeln, daß diese Hoffnung auch eine demokratische ist? Schließlich wirft die Abgrenzung von Politik und Philosophie ein erhellendes Licht auf den nachfolgenden Anhang „Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik“. Der erste Teil dieses Anhangs hinterläßt beim Leser immer wieder

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den Eindruck, als könne oder wolle Kant zwischen Politik und Moral nicht unterscheiden. Bedenkt man jedoch, wie scharf seine Trennungslinie zwischen Politik und Philosophie ausfällt, geht man schon mit anderen Erwartungen an die abschließende Betrachtung. Denn die Eigenständigkeit der Politik muß auch gegenüber der Moral erkennbar bleiben. Was aber so eindeutig durch seine Bindung an die Macht charakterisiert ist, kann nicht einfach mit der Moral identisch sein. Man darf daher den folgenden Anhang nicht ohne den Geheimen Zusatz lesen, zumal sie beide ein Thema haben, nämlich die menschheitliche Funktion der Öffentlichkeit, in der sich Politik und Philosophie wechselseitig aufeinander beziehen. Mit Blick auf die Leistung einer sich frei entfaltenden Öffentlichkeit tritt auch zweifelsfrei hervor, daß die Revision der platonischen These von der Königsherrschaft durch Kant alles andere bedeutet als einen Rückzug der Philosophie aus der Politik.

Literatur Aristoteles 1955: De monarchia. In: Fragmenta selecta. Hrsg. v. W. D. Ross. Oxford. Bien, Günther 1973: Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles. Freiburg/München. Bien, Günther 1989: Artikel „Philosophie“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. J. Ritter u. a. Bd. 7. Basel. Cavallar, Georg 1992: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs Zum ewigen Frieden (1795) von Immanuel Kant. Wien/Köln/Weimar. Gerhardt, Volker 1988: Selbstbestimmung. In: D. Henrich/R.-P. Horstmann (Hrsg.). Metaphysik nach Kant? Stuttgart 1988, 671–688. 1990: Was ist ein vernünftiges Wesen? In: H. Girndt (Hrsg.): Selbstbehauptung und Anerkennung. Spinoza – Kant – Fichte – Hegel. Bonn-St. Augustin, 61–77. Gerhardt, Volker 1992: Moderne Zeiten. Zur philosophischen Ortsbestimmung der Gegenwart. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40, 597–609. Gerhardt, Volker 1995: Eine Theorie der Politik. Immanuel Kants Entwurf Zum ewigen Frieden. Darmstadt. Gerhardt, Volker 1996: Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Schönrich, Gerhard/Kato, Yasushi (Hrsg.): Kant in der Diskussion der Moderne. Frankfurt. Langer, Claudia 1986: Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants. Stuttgart. Laursen, John Chr. 1986: The Subversive Kant. The Vocabulary of ,Public‘ and ,Publicity‘. In: Political Theory 14, 584–603. Natorp, Paul 1924: Kant über Krieg und Frieden. Erlangen. Saner, Hans 1967: Kants Weg vom Krieg zum Frieden. Bd. 1: Widerstreit und Einheit. Wege zu Kants politischem Denken. München. Schneiders, Werner 1981: Philosophenkönige und königliche Völker. Modelle philosophischer Politik bei Platon und Kant. In: Filosofia Oggi 2, 165–175. Sassenbach, Ulrich 1992: Der Begriff des Politischen bei Immanuel Kant. Würzburg. Simmel, Georg 1931: Das individuelle Gesetz. Wieder abgedruckt in ders.: Das individuelle Gesetz. Frankfurt 1968, 174–230. Wehrli, Fritz (Hrsg.) 1944: Die Schule des Aristoteles. Texte und Kommentar. Heft 1: Dikairchos. Basel.

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10 Moral und Politik: Mißhelligkeit und Einhelligkeit Zur Verwirklichung des Friedens ist es notwendig, auf die Mittel der Politik zurückzugreifen. Der Frieden muß durch die Entscheidungen der Politik in seinem Fortbestehen gesichert werden können. Aber wenn der Frieden aufhört, als ein Ideal des Rechts, als das Ideal eines öffentlichen Rechts der Staaten zu gelten, und statt dessen zu einem ausschließlich politischen Ziel wird, zu einer Art Berufsziel der Politiker, dann ist ein Konflikt zwischen Politik und Moral unausbleiblich. Weil es zwei Arten gibt, den Frieden zu wollen, kann eine Friedenspolitik einer Friedensmoral entgegenstehen. Ein solcher Konflikt greift den Rechtsbegriff an seinem Fundament an, indem er ihm jede rationale Objektivität und folglich jede genau bestimmbare öffentliche Legitimität entzieht, welche sich zum Gegenstand eines internationalen Konsenses eignet. Wenn die Politik für sich allein in Anspruch nimmt, die Macht zur Erzwingung des Friedens innezuhaben, werden die von ihr erreichten Waffenstillstände zu nurmehr zufälligen historischen Hervorbringungen. Diese bleiben schwankend, insofern sie vollkommen beliebig in der Verschwiegenheit diplomatischer Kabinette, durch kriegerische Akte und durch Gewaltstreiche einzelner oder mehrerer hervorgebracht werden; und so muß man der Aussicht auf einen ewigen Frieden entsagen.

10.1 Das Los des Friedens zwischen Moral und Politik Es mag erstaunlich sein, daß eine moralische Problemstellung innerhalb einer Frage zum Tragen kommt, die durch das Recht beantwortet werden soll. In der Tat stellt der Frieden eine Situation dar, die mit den Mitteln des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts herbeigeführt werden soll. Nach den entsprechenden Grundsätzen der ethischen und der juridischen Gesetzgebung, die in der Metaphysik der Sitten dargelegt werden, gehört die die Absichten regierende Moralität ganz spezifisch zu einer Tugendlehre, einer Ethik, während die die Beziehungen zwischen den Freiheiten regierende Legalität zu einer Rechtslehre gehört. Im Anhang des Entwurfs Zum ewigen Frieden wird die Moral in ihrem weitesten Sinne aufgefaßt: Sie bezeichnet den Inbegriff der handlungsbestimmenden Gesetze, einen Inbegriff, dessen beide konstitutive Zweige die Ethik und das Recht bilden (385). In diesem Sinne erstreckt sich die Moral genauso weit wie die Praxis, sie konstituiert die Praxis selbst unter ihrem normativen https://doi.org/10.1515/9783110782462-012

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Gesichtspunkt als Inbegriff der entscheidungsleitenden Regeln. Die politische Verwirklichung des Friedens führt dazu, daß die Rechtslehre auf innerstaatlicher Ebene die Politik moralisiert und auf völkerrechtlicher Ebene zur einzig möglichen internationalen Moral wird, zur einzigen, die den Frieden nicht gefährdet. Diese Klarstellung Kants läßt sich zum Teil aus seinem Widerspruch gegen die Thesen Christian Garves erklären, die jener in seiner Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik vertritt. Garve zufolge sind die Gerechtigkeitspflichten öffentliche Zwangspflichten, die sich insofern von den privaten Gewissenspflichten kategorial unterscheiden, als gegenüber einem anderen Staat „kein Mittel den Ungerechten zu zwingen nicht vorhanden [ist], als mit ihm Krieg zu führen“ (1788, 16). Indem er der Politik das Recht einräumt, von den Regeln der gemeinen Moral ausgenommen zu werden, hebt Garve zwischen den Ideen einer Rechtsund einer Tugendlehre einen Graben aus und stellt Thesen analog zu jenen von Hobbes auf: Staatsoberhaupt ist, wer dem Naturrecht die Wirklichkeit eines positiven Zwangsrechts verschafft (ebd., 34). Gegen den positivistischen Hang der Garveschen Thesen wird im „Anhang“ darzulegen versucht, daß die Moral an der Begründung der Gerechtigkeitspflichten nicht unbeteiligt sein kann, wenn und sofern sie als Rechtslehre verstanden wird. Im Entwurf Zum ewigen Frieden tritt im Kontext der zwischenstaatlichen Beziehungen unmißverständlich und kraß die Perspektive einer moralischen Aporie der Politik hervor, d. h. das Problem der Grenzen der Macht, welches bereits 1784 mit der berühmten Frage aufgeworfen wurde, wer moralischer Herr des politischen Herrn sein könne. Das Staatsoberhaupt ist gewiß der Hüter des Staates, aber wenn es seine Rolle ausschließlich politisch auffaßt, läuft es Gefahr, Staat und Macht einfach gleichzusetzen, sich allein um die Erhaltung seiner Herrschaft im innenpolitischen Bereich und um die Stärkung seiner Herrschaft im außenpolitischen Bereich zu kümmern. Der Frieden – der innere wie der äußere – kann so für die Politik zur unantastbaren Gelegenheit werden, ihre eigene Wirksamkeit autonom zu machen und sich selbst eine Legitimität zu erteilen, die auf den Erfolg gegründet ist. Der Frieden verschafft damit der Politik die Möglichkeit, die Macht in Beschlag zu nehmen und dies theoretisch zu untermauern und zu legitimieren, zum Nutzen eines pragmatischen Willens zu einer erfolgreichen Unterwerfung des eigenen sowie der benachbarten Völker. Wenn allein eine Realpolitik – die in eine Machtpolitik mündet – imstande ist, für die Sicherheit und Unabhängigkeit der Völker zu sorgen, dann ist Immoralität der Preis für die Verwirklichung des Friedens. Seitdem Fichte (1796/1966, 436) in seiner Rezension zu Zum ewigen Frieden dem Anhang nur einen raschen und lakonischen Kommentar eingeräumt hat („er enthält eine Menge treffend gesagter Wahrheiten, deren reifliche Beherzigung jeder … wünschen muß“), hat dieser Teil des Werkes unter dem Ruf zu leiden, daß er einem Moralismus Ausdruck gebe, der gewiß aufrichtig, im Grunde aber treuherzig und

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naiv sei. Dieses Vorurteil illustriert jedoch nur einen fehlerhaften Gedankengang, auf den Kant hingewiesen hat: Die Politik wird weiterhin nur in bezug auf den Krieg gedacht und nicht in bezug auf den Frieden; die Moral wird weiterhin als eine bloße Intellektuellentheorie oder als eine Lehre vom Wohlwollen angesehen, anders ausgedrückt: als eine Lehre vom gut Gemeinten, ohne daß sie als Quelle eines wahrhaften Friedensrechts wahrgenommen würde, dazu geeignet, den Frieden als einen internationalen, transpolitischen Gegenstand zu konstruieren. Der Anhang wäre allerdings von geringem Interesse, wenn es darin einfach nur darum ginge, eine moralische Weltanschauung einer politischen entgegenzustellen. Sofern Kant behauptet, daß nach den Grundsätzen einer vernünftigen Politik bzw. nach einer allgemeinen Theorie des öffentlichen Rechts zwischen Politik und Moral kein Konflikt entstehen könne, meint er damit nicht, daß der Souverän der Achtung fürs Gesetz die Forderungen und Imperative der Tugend hinzufügen müsse, indem er sie sich selbst und seinem Volk aufnötigt. Kant ist über die Gefahren des Fanatismus und des Despotismus zu gut unterrichtet, um dieser perfektionistischen und dogmatischen Ausrichtung zu erliegen: „Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte“ (VI 96). Es ist also klar, daß Kant nicht die Absicht hat, sich im Namen eines bloß privaten Tugendideals von der politischen Realität abzuwenden. Ganz im Gegenteil hat er vor, der Politik die ihr von der Moderne auferlegte Dimension beizumessen: Ihre Rolle wird zunehmend von der Geschichte bestimmt, d. h. von der Tatsache, daß die Binnen- und die Weltgeschichte der Völker künftig unentwirrbar ineinander verwoben sind und daß die Veränderung der Institutionen in Zukunft als eine neue Bedingung der Möglichkeit der modernen Geschichte zählen muß. Wenn der Monarch den kairos nicht erfaßt, welcher Reformen ermöglicht, unterliegt er dem Irrtum der Verblendung oder eines überstürzten Handelns (373); er läuft Gefahr, Aufstände heraufzubeschwören und sein Volk den Großmächten preiszugeben. Der Entwurf Zum ewigen Frieden macht somit nur eine neue, dringende Notwendigkeit im internationalen Bereich sichtbar, eine mit der Kultur der Aufklärung zusammenstimmende Politik einzuführen dank einer Rechtsphilosophie, die man heute weltumspannend nennen würde. „Vom Standpunkt der Welt aus“ heißt, wenn man den Frieden als ewigen Frieden denkt, daß die Natur selbst die Völker zu einem ewigen Umgang miteinander verurteilt und daß die Menschen, außer wenn sie Regelungen festsetzen, die Kriege vermeiden oder deren Folgen im Hinblick auf einen zukünftigen Frieden an Stelle eines nächsten Krieges in geordnete Bahnen lenken, dazu verurteilt sind, sich in trostloser Abfolgewechselseitig Gewalt anzutun. Die Politik wird also mit der Moral übereinstimmen, wenn sie die Einhaltung der Verfassung zu ihrem Zweck erhebt, wenn sie sich selbst als angewandtes öffentliches Recht versteht und wenn sich der Souverän wie ein konstitutioneller Souverän verhält. Von der Politik wird nichts

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anderes verlangt, als daß sie das Recht zu ihrer Moral mache, d. h. die Moral als Rechtslehre begreife. Im Anhang werden die Fragen, wie Rebellionen (mit den Mitteln des Staatsrechts) und wie Kriege zwischen den Staaten (mit den Mitteln des Völkerrechts) vermieden werden können, zusammen behandelt. Dies sind die allgemeinen und zuallererst notwendigen Bedingungen für die Einführung eines inneren und internationalen Rechtszustandes. Offensichtlich beeinflußte die Französische Revolution die europäischen und kosmopolitischen Vorstellungen Kants, dem es gleichermaßen widerstrebte, das von Frankreich ausgehende revolutionäre Expansionsstreben wie auch die despotischen Interessen dienenden gegenrevolutionären Kriege anzuerkennen, wie er beispielsweise gegen Pitt einwandte (XIX Refl. 8077). Eine Politik der militärischen Interventionen kann die Sache des Friedens nicht voranbringen. Neben diesem historisch-wirklichen und umständebedingten Gesichtspunkt gibt es einen inhaltlichen Grund, der die Frage des Anhangs nach der Verwirklichung des Friedens auf zugleich innerer und internationaler Ebene rechtfertigt. Wenn ein Volk beabsichtigt, sich durch einen Aufstand die Verfassung seiner Wahl zu geben, so gibt es die Legitimität seines Anspruches, daß Recht sei, auf, um sich eine Regierungsgewalt zu erteilen, die zu übernehmen es gleichwohl nicht in der Lage ist, da es sich ja nicht mehr gegen den Machtmißbrauch im Bürgerkriegszustand schützen kann und sich auf internationaler Ebene der Gefahr der Gegenrevolution aussetzt. Auf diese Weise „verkleinert sich [eine erhabene Idee] sehr unter menschlichen Händen“ (VI 100), indem sie zum „Vorwande“ wird, durch den das Volk ein praktisches Erfordernis in einen pragmatischen Anspruch verwandelt: Das Volk hört auf, mehr Gerechtigkeit zu fordern – wie es sein Recht wäre –, und beschließt, sich mehr Macht anzueignen. In diesem Sinne kann Kant behaupten, daß der Besitz der Gewalt unvermeidlich verderbe, weil er aus dem Recht eher eine politische Triebfeder als eine Forderung der Vernunft mache. Auf internationaler Ebene vollziehen die Staaten die gleiche Usurpation, wenn sie vorgeben, mit Hilfe von Kriegsdrohungen oder Zweckbündnissen das Wohl des Volkes mit ihrem Willen zur Macht und ihrer Herrschaftsgewalt gleichzusetzen. Sie machen ihr privates Recht der Ausübung von Souveränität im Inneren zu einem Vorwand, der im Äußeren der Steigerung ihrer Macht zugute kommt und in den verschiedenen Maximen der Staatsklugheit enthalten ist. Der letzte Teil des Entwurfes Zum ewigen Frieden wirft mithin ein für das Los des Friedens sehr gefährliches Problem auf: Kant wird zu der Behauptung veranlaßt, daß die Gerechtigkeit der Forderung nach Frieden um jeden Preis vorzuziehen sei und daß man aus dem Frieden ein sekundäres Ziel machen müsse, das durch das vorausgehende und vorrangige Ziel des Rechts bedingt sei. Die ganze Schwierigkeit, mit der der Text zu kämpfen hat, besteht in dem Nachweis, daß diese Position nicht an einer theoretischen Schwäche leidet, sondern der politischen Weisheit eine objek-

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tive und a priori einforderbare Zweckmäßigkeit verleiht. Um nachzuweisen, daß die Rechtstheorie des Friedens zugleich in Theorie und Praxis gilt, muß der Anhang eine kritische Untersuchung des Begriffes der Staatsklugheit leisten, was dazu führt, daß zwei Probleme auf einmal zu lösen sind, nämlich jenes der Staatsklugheit und jenes der Staatsweisheit. Der Frieden wird entweder als pragmatisches Ziel aufgefaßt, als ein bloß durch die empirischen Mittel zu seinem Gelingen bedingtes Ziel, in welchem Falle die Gleichgültigkeit der Politik gegenüber der Moral bzw. die Mißhelligkeit zwischen Moral und Politik die Bedingung ihrer Verwirklichung ist: Dann muß nachgewiesen werden, daß die Staatsklugheit von der Staatsweisheit getrennt ist und sich ihr in den Weg stellt. Oder der Frieden muß praktisch, d. h. ausschließlich rechtlich, aufgefaßt werden, als Gegenstand a priori einer reinen Rechtslehre. In diesem zweiten Falle muß der Nachweis erbracht werden, daß, was gewollt werden soll, auch verwirklicht werden kann und daß man die Verwirklichung des Friedens von der Möglichkeit einer Übereinstimmung von Politik und Moral erwarten kann. Die Herstellung des Friedens und der Übereinstimmung von Politik und Moral bilden ein und dasselbe Ziel, ein Ziel, welches die Vorstellung von einem ewigen Frieden präzisiert, der nicht von den umständebedingten, subjektiven Völkerinteressen gefordert, sondern hervorgebracht wird durch seinen eigenen, objektiv-praktischen Begriff.

10.2 Die Sophismen der Klugheit Wie aber die moralische Aporie der Politik vermeiden? Kant spricht nicht mehr, wie noch 1784, vom guten Willen des Souveräns, welcher die Verfassung anzuerkennen bereit sei, vielmehr billigt er, als eine Art factum politicum, die gleichsam berufsbedingte Gleichgültigkeit der Politik gegenüber der Moral: Wenn man annimmt, daß „man ohnedem des Gesetzgebers moralische Gesinnung hierbei wenig in Anschlag bringen kann“ (371), so ist es zwecklos, eine Selbstbegrenzung der Macht durch das Recht zu erwarten, welche sich von sich aus auf einen politischen Willen bzw. auf den Willen eines Souveräns stützen würde. Kant stellt sich hier direkt dem Problem der Staatsräson, das auf die klare und synthetische Formel gebracht wird: „Man hat keinen Monarchen, der etwas zum Besten des menschlichen Geschlechts tun will, auch nicht einmal zum Besten des Volkes, sondern nur vor das Ansehen des Staats, also auch nur das äussere“ (XV Refl. 1416). Das Argument der Staatsräson kann somit, nach der Hobbesschen Sichtweise vom Krieg aller gegen alle, das Alibi sein, das die Völker in einem weltweiten, nicht erklärten und ständigen Kriegszustand hält. Bereits 1793 hatte Kant einen Grenzfall der Machtausübung ins Auge gefaßt: Auch wenn der Souverän ein Unrecht begeht, darf sich das Volk deswegen nicht das Recht anmaßen, den allgemeinen Zwang – die Bedingung eines Rechtsstaates, der

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die Legitimität von nichtstaatlicher Gewalt ablehnt – zu verneinen. Er dachte dabei jedoch vor allem daran, daß der Souverän Irrtümer begehen kann (VI 304) angesichts seiner komplexen Aufgabe, die darin besteht, daß er eine häufig unvollkommene Verfassung der Geschichte und den Ereignissen anpassen muß. Die Schwierigkeit dieses Problems rührt daher, daß der Souverän nicht nur Irrtümer begehen kann, sondern auch die Verneinung des Rechts in die Praxis umsetzen kann. In diesem Sinne erzeugt die Politik eine wahrhaftige Antinomie zwischen ihr und der Moral. Nun ist aber klar, daß, wenn die Staatsräson das Wesen selbst der Politik bildet, die Übereinstimmung zwischen Politik und Moral niemals zu verwirklichen und das Problem der Politik endgültig nicht zu lösen ist. Dies ist offensichtlich eine – für eine kritische Theorie des Rechts verhängnisvolle – Schlußfolgerung, zu der Kant sich nicht entschließen will, weswegen im Anhang nicht das Souveränitätsprinzip, das gewahrt werden soll, in Frage gestellt wird, sondern die Gelehrten und die Theoretiker der öffentlichen Gewalt, d. h. die Rechtslehrer und die „Vertreter der Mächtigen der Erde“. Die Antinomie kann auf diese Weise Gegenstand einer kritischen Untersuchung sein, die sich auf die rivalisierenden Vorstellungen bezieht, welche Anspruch erheben auf die Legitimation der Machtausübung. Die Auseinandersetzungen im Streit der Fakultäten andeutend, führt Kant zwei Gegner ins Feld, deren Thesen zum einen die Mißhelligkeit zwischen Moral und Politik (der „politische Moralist“, als dessen Vertreter Garve erscheinen kann), zum anderen die Einhelligkeit von Politik und Moral (der „moralische Politiker“, dessen Modell einer philosophischen Rechtslehre entnommen ist) beinhalten. Diese Vorgehensweise rettet die Politik vor der Aporie, weil es möglich ist, theoretische (d. h. von Theoretikern erdachte oder konstruierte) Begründungen einer transparenten rationalen Argumentation zu unterwerfen. Der Endzweck der Politik kann und soll Gegenstand einer aufgeklärten Erkenntnis sein, jener Erkenntnis, die über die Art des Wissens entscheidet, welches die Berater der Mächtigen durchdringen soll. Es ist ohne weiteres zu erkennen, daß die genannte Rivalität zwischen den aus der juristischen Fakultät hervorgegangenen Gelehrten und jenen, die eine philosophische (Aus‐)Bildung haben, besteht. Die ersten wollen die Staatsklugheit aus den Grenzen befreien, die die Philosophie aus der Moral herleitet. Die zweiten haben vor, die Staatsklugheit dem höheren Standpunkt einer Staatsweisheit unterzuordnen. Die Klugheit gilt als die höchste Weisheit auf dem Gebiet der Politik. Kant nimmt die Einteilung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wieder auf und bezeichnet als Klugheit den Anspruch, sich des Glückes durch materielle Mittel zu versichern, die von der Natur bereitgestellt werden: Klugheit ist „die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel“ (IV 416). Während die Grundlegung einfach feststellt, daß sich die Klugheit dem moralischen Wert des Zweckes gegenüber gleichgültig verhält, geht der Entwurf Zum ewigen Frieden weiter und greift die Staatsklugheit

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insofern an, als diese sich zur Gegnerin der Moral erheben kann und ihre Wertneutralität tatsächlich zu einer unmoralischen Weisheit führt. Die Staatsklugheit hat in der politischen Literatur ihren Adelsbrief erhalten. Machiavelli hat der virtù des Politikers theoretische Legitimität verliehen, indem er die Ausübung der Macht in ein angemessenes Theoriegebäude übertrug, in eine Theorie, die aus sich selbst heraus Machteffekte erzeugt. Kant hingegen nimmt vor allem den Ton Rousseaus wieder auf sowie die Anschuldigungen, welche jener gegen die politischen Schriftsteller (Hobbes im besonderen) und gegen die Rechtsgelehrten (namentlich Grotius) vorbringt, wenn er ihnen vorhält, „die Völker aller ihrer Rechte zu berauben und die Könige mit aller nur möglichen Kunstfertigkeit damit zu bekleiden“ (Contrat social II, 2). Die von Kant beschriebene Staatsklugheit begnügt sich nicht damit, die Moral im Namen des Notstandes vorläufig zu verabschieden, sondern erhebt sich selbst zu einer Moral, die an die Stelle der Moral tritt, zu einer Pseudoweisheit des Interesses, welche jede andere politische Weisheit zu verdrängen sich anmaßt. Für diesen politischen Moralismus gibt es keine andere Moral als die Politik selbst, kein anderes Recht als die durch Gewalt erlangte Nutznießung: Die Autorität und nicht die Wahrheit entscheidet darüber, was gerecht ist, und die Gerechtigkeit ist nur das Ergebnis staatlicher Gewalt. Indem Kant feststellt, daß „durch diese politische Maximen … nun zwar niemand hintergangen [wird]; denn sie sind insgesamt schon allgemein bekannt“ (375), bringt er nicht ihre Popularität, sondern vielmehr ihre Banalität in Anschlag, d. h. die Art, wie sie die Einführung des Skeptizismus in die Politik banalisiert haben. Alle Maximen des Politikers laufen auf eine einzige hinaus: Es ist absurd zu glauben, daß der Frieden auf andere Weise als durch Interesse gewollt werden könne, d. h. durch das private Interesse eines Staates. Der Staatsklugheit gereicht die Autorität des Realismus zum Vorteil. Der Fürst muß ihm zufolge der Notwendigkeit Rechnung tragen, daß nationale und internationale Erfahrungen in den Verhältnissen der Stärke zu denken sind. Der politische Moralismus verneint die Möglichkeit, daß der gute Wille in der Politik irgendeinen Einfluß ausüben kann, ebenso von seiten des Souveräns wie auch von seiten des Volkes und der anderen Staaten. Er übernimmt die von Fichte in dessen MachiavelliAufsatz aufgestellte Lehre als die sicherste Richtschnur der politischen Verantwortung: Man muß dem Gegner Bösartigkeit unterstellen und aus seinem Willen zu schaden a priori die Entscheidungen der politischen Weisheit herleiten. Die Moral des Politikers besteht darin, die Klugheit der Weisheit vorzuziehen, d. h. eine Ethik der Effizienz einer Gesinnungsethik bzw. einer Ethik der Rechtschaffenheit. Der politische Moralist, ein Meister in der Realpolitik, behandelt sein eigenes Volk wie auch die benachbarten Staaten als potentielle Feinde. Ein Bündnis zwischen Völkern kommt nur unter Berücksichtigung der Freund-Feind-Dichotomie zustande, durch das Zusammenlegen vorherrschender Interessen: Entweder man droht, oder man wird bedroht, und die Logik der schlimmstmöglichen Wendung – jene der Klugheit –

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wird für die bestmögliche Politik gehalten. Diese Fähigkeit der Feindbestimmung, die Carl Schmitt zum Spezifikum des Politischen erklären wird, wird in der Kantischen Terminologie als das Zurückbleiben der Politik im Naturzustand der internationalen Beziehungen, d. h. in einem Stadium unterhalb des Rechtszustandes, bezeichnet. Die Klugheit möchte eine paradoxe Weisheit sein, die sich, weil auf ihre Wirksamkeit bedacht, zur Immoralität entschließt, indem sie die Moral ins Reich der geistigen Schimären verbannt, mit der Begründung, daß sie im politischen Kontext der verallgemeinerten Feindschaft eine theoretisch schwache Position darstelle. Kant aber entzieht dem Realismus dessen theoretische Autorität, indem er zeigt, daß seine Wertneutralität nur ein oberflächlicher Kunstgriff ist und sein Plädoyer für den Gebrauch von Gewalt, wenn man es auf seinen wahren Charakter zurückführt, nur ein Partikularinteresse, ein privates Privileg, zu verheimlichen sucht. Das wohl immer noch aktuellste kritische Argument besteht darin, die Pervertierung des Begriffes der Praxis im Namen der Theorie aufzuzeigen. Der Realismus stellt nämlich seine Kenntnis der Natur – als eines universalen und verhängnisvollen Mechanismus – in den Vordergrund und gründet damit sein Handeln auf vorhersehbare Gewißheiten, die als historisch vorherbestimmt gedacht werden. Diese Theoriebildung ist verlockend, weil sie sich als Lehre von der Kunst der mechanischen Produktion von Glück darbietet. Die Klugheit ordnet die menschliche Erfahrung der alleinigen Gesetzgebung des Verstandes unter, und Kant hebt – vor Hegel – die Verkehrtheit einer Politik hervor, welche die Anwendung des Rechts den Mitteln des Verstandes anvertraut und dabei die geschichtliche Wirklichkeit zwingt, sich in ihre naturalistischen Voraussetzungen zu fügen. Weil sich die politische Moral auf eine mechanische und technische Auffassung der Natur stützt, erlegt sie uns auf, die Gewalt als ein notwendiges Übel zu betrachten und die Staatsklugheit als die Kunst, dieses Übel zu ihrem Vorteil zu gebrauchen. Für die politische Weltanschauung kennzeichnet die Gewalt den Inbegriff von Erfahrung. Die Gewalt steht am Anfang der Staaten, und die Revolutionen übernehmen deren demiurgische Macht, um neue Regierungen entstehen zu lassen. Sie sitzt im Herzen des Menschen, und die menschliche Natur muß für unfähig gehalten werden, das Gute zu wollen, wodurch sich rechtfertigen läßt, daß die Völker gewaltsam zu einem ihren Oberhäuptern förderlichen Gehorsam genötigt werden. Sie beherrscht die Beziehungen zwischen Mächten, die darauf bedacht sind, sich als Mächte zu behaupten. Mit einem Wort: Gewalt ist für die Politik dasjenige Mittel, welches die Unabhängigkeit des Souveräns wahren hilft, denn die natürliche Freiheit des Souveräns würde es nicht zulassen, daß er seine Macht seinem eigenen Volk unterordnete, geschweige denn den Ansprüchen einer rivalisierenden Souveränität. Der technische Charakter dieses Standpunktes erlaubt es, die Menschen und Völker als manipulierund lenkbare Dinge zu behandeln. Diese oberflächliche mechanistische Philosophie macht aus der Staatsklugheit eine durchtriebene Weltanschauung, die sich von den Hemmungen

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frei macht, welche ihr die moralische Weisheit auferlegt. Die Politik kehrt auf diese Weise den moralischen Sinn der Praxis um, zum Vorteil ihres pragmatischen, auf mannigfaltige Zweckmäßigkeit reduzierten Sinnes: Der Realismus kennt nur Praktiken, nämlich jene einzelner Menschen und Völker, die den militärischen oder kommerziellen, von der Geschichte vorgezeichneten Herrschaftsbeziehungen preisgegeben sind. Die theoretisch-technische Auffassung des Handelns „demoralisiert“ die Praxis dadurch, daß sie das Handeln von dem trennt, was seinen Wert ausmacht. Es läuft auf dasselbe hinaus, ob man die Herrschaft der Gewalt bejaht oder die Möglichkeit einer Übereinstimmung von Politik und Moral verneint: Die Praxis wird vollständig auf das eigene und ausschließliche Interesse der Politik zurückgeführt. Um eine mögliche Übereinstimmung von Politik und Moral wiederherzustellen, muß Kant die Illusion einer Autonomie der Macht auflösen: Die Stärke des Realismus liegt nicht, wie dieser glauben machen möchte, in seiner Entschlossenheit, sich unmoralischen empirischen Wahrheiten zu stellen, sondern lediglich in der Kühnheit seiner Lügen. Seine Stärke rührt von der Macht der Doppelzüngigkeit her, und es ist die praktisch-theoretische Aufgabe des Anhangs, diese paradoxe Stärke der politischen Lüge dadurch auszuhöhlen, daß ihre unüberwindliche Schwäche auf dem Gebiet des Rechts zum Vorschein kommt. Man braucht nur – wie es auch noch im Streit der Fakultäten der Fall sein wird – zu bemerken, daß die List selbst des Rechtsscheins bedarf. Auf diese Weise preist der Jurist öffentlich die Vorzüge des Rechtspositivismus und erwirbt sich privat die Gunst der Mächtigen; täuscht der geschickt beratene Politiker öffentlich vor, die Schwachen zu beschützen, und schürt damit zu seinem Nutzen um so mehr die Uneinigkeit im Volk oder unter rivalisierenden Staaten; dient der Frieden im allgemeinen als Alibi für die organisierte Gewalt. Da diese Ausflüchte von den Vertretern der Mächtigen ersonnen werden, kann man darin eine Logik des Scheins anprangern und den Anschein der Legitimität verurteilen, den sie der bellizistischen Politik verleihen. Es gibt allerdings eine Wahrheit der Lüge, welche die Lüge einer kritischen theoretischen Aufbereitung zugänglich macht: Die Wahrheit der Lüge liegt im empirisch wirklichen Privatinteresse, das die Realpolitik durchdringt und sich hinter dem Schein des öffentlichen Wohls versteckt. Eine (politische) private Wahrheit kann so eine (rechtliche) öffentliche Lüge schaffen. Was die öffentliche Form der Lüge verrät und Kant zum verallgemeinerbaren Prinzip der Publizität anregt, ist die Unvereinbarkeit der von den Maximen der Staatsklugheit angestrebten Wirksamkeit mit dem Anspruch der Maximen auf Gültigkeit. Was die pragmatische Wirksamkeit einer Maxime ausmacht, nämlich ihr streng egoistischer und empirischer Inhalt, entzieht ihr genau jede mögliche auf Konsens beruhende Gültigkeit, jede allgemeine gesetzliche Autorität. Die amoralische Politik begeht eine Art performativen Widerspruch durch ihre Verachtung des Rechts im Namen des Rechts. Im Staatsrecht kann eine Maxime, die nur für einen einzelnen gilt

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(für den Gewaltherrscher oder den interessierten Berater), kein Gesetz für einen anderen, für das Volk sein; im Völkerrecht gilt für eine Maxime, die sich auf das Interesse eines einzelnen Volkes bezieht, daß sie keine internationale Gültigkeit haben kann. In jedem Falle zerstört die Wirksamkeit der Lüge den Anspruch, einen legitimen öffentlichen Zwang zu schaffen. Auf diese Weise wird die Hoffnung der bellizistischen Staatsklugheit zunichte gemacht: Sie kann nicht von den Tatsachen ausgehend Recht erzeugen, denn Stärke kann theoretisch immer nur die Herstellung einer größeren Stärke begründen.

10.3 Die Publizität und das Recht des Publikums Indem er gezeigt hat, daß die amoralische Staatsklugheit eine Entstehung aufweist, deren Mechanismus sich nachträglich wieder zusammenfügen läßt, hat sich Kant der Theorie des „Praktikers“ auf dessen eigenem Terrain, der Erfahrung, gestellt und dabei nachgewiesen, daß Politik und Moral nicht wesensnotwendig uneins sind. Aber es bleibt ihm noch zu beweisen, daß die Politik mit der Moral übereinstimmen kann und daß eine moralische Politik die beste Politik ist. Nun kann aber die Moral auf dem Gebiet der Erfahrung sich nicht als zwangausübende politische Autorität durchsetzen und die Menschen gewaltsam vervollkommnen wollen, wenn sie nicht den Irrtümern des politischen Moralismus verfallen soll. Aufgabe des Anhangs ist es also, nachzuweisen, daß die Staatsklugheit selbst sich in den Dienst einer kosmopolitischen Theorie des Rechts stellen kann. Es muß hier eine vollständig transzendentale Lösung gefunden werden, die auf die Erfahrung Anwendung finden kann und „gleichsam durch ein Experiment der reinen Vernunft sofort zu erkennen“ (381) ist. Die Publizität ist diese Lösung, bei der die Politik zugleich mit den reinen Rechtsquellen und mit der Geschichte übereinstimmen muß. Im Entscheidungsfall muß die Publizität eine Weltmonarchie verhindern und die Notwendigkeit eines föderativen Vereins offenbaren. Sie muß also die Lösung bieten, mit der die moralische Aporie der Politik genauso wie das Fortbestehen des Despotismus und die Gefahr sich ausbreitender Revolutionen vermieden werden kann. Der negative Gebrauch der Publizität besteht im Hinweis auf eine Lüge oder die Ungerechtigkeit einer Maxime: Er soll die Nichtübereinstimmung der politischen Begierden mit den Prinzipien des öffentlichen Rechts offenlegen, soll private Immoralität öffentlich aufgreifen. Das Publizitätsargument wird bereits in der Kritik der reinen Vernunft verwendet: Um die Konflikte zwischen rivalisierenden philosophischen Schulen auf dem Kampfplatz der metaphysischen Streitigkeiten zu beenden, hält es die Denker dazu an, ihre Gedanken „öffentlich zur Beurtheilung auszustellen“ (KrV A 492). Im Zusammenhang des polemischen Gebrauchs der Vernunft ging es darum, die Philosophen daran zu erinnern, daß sich das vorzüg-

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liche Interesse des Publikums (des „gemeinen Wesens“) mit dem vorzüglichen Interesse der Vernunft vereinigt: Das Publikum hat nichts mit den Lehrstreitigkeiten unter Gelehrten zu schaffen, welche die Fortschritte beim möglichen Gebrauch der Vernunft verhindern. In der ersten Kritik wurden die Gelehrten als diejenigen vorgestellt, die den Gebrauch der Vernunft ihrer persönlichen Intellektuellenbequemlichkeit anpassen. Aufgabe der Kritik war es, diesen Gebrauch zu reinigen und das Recht des Gebrauchs der vernünftigen Fähigkeiten dem Publikum zurückzugeben, d. h. einem gemeinen Wesen, das über den engen Gelehrtenkreis hinausgeht, d. h. der Menschheit selbst. Die Aufklärung wurde so als das Recht der Menschheit im Ganzen auf Fortschritt anerkannt. Kant geht im Anhang nicht anders vor: Er gibt der Menschheit – nicht den empirischen, mit beschränkten Leidenschaften versehenen Menschen und noch weniger den Anwärtern auf offizielle Ämter – das Recht zurück, Zweck des Rechtsgebrauches zu sein: In diesem Sinne ist zu verstehen, daß „das Recht der Menschen … heilig gehalten werden [muß]“ und daß „alle Politik … ihre Knie vor dem ersten beugen [muß]“ (380). Das Recht des Menschen geltend machen heißt, einen Gebrauch des Rechts zu fordern, der jede empirische Aneignung des Rechts durch seine berufsmäßigen Benutzer unterbindet. In der Politik ist es nicht möglich, einem Gewaltstreich oder einer erfolgreichen Lüge beispielhaften Wert beizumessen; aber es gibt Muster oder Ideen, deren moralischer Wert darin besteht, eine zu wählende Zweckmäßigkeit anzugeben. Sobald die Vernunft bestimmt, was wir wollen sollen, sobald sie die Gerechtigkeit als einen allgemeinen praktischen Zweck entwirft, wird die bellizistische Staatsklugheit auf die Grenzen ihrer Immoralität zurückgeführt, d. h. auf die klare Verneinung der Menschenrechte, welche sie dem Publikum zu verheimlichen gezwungen ist. Die Gründung des Rechts auf die Moral ist somit für die innere Gültigkeit der Publizitätsregel wesentlich, welche verfügt, daß „alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt … unrecht [sind]“ (381). Weil sie erga omnos gilt, den Regierenden wie den Regierten gegenüber, stellt die Publizität der Maximen das Gesetz über die Menschen, damit das Recht niemals mit einem privaten Besitztum gleichgesetzt werden kann. Nun muß man sich aber vor einem bestimmten Verständnis der Kantischen Philosophie in acht nehmen, wie es von Hegel eingeführt und seitdem durch die politische Philosophie Max Webers gefestigt wurde, nämlich der Auffassung, daß die Position der Kritik sich innerhalb der Grenzen einer Gesinnungsethik bewege. Daraus ergibt sich, daß eine abstrakte moralische Kritik der Staatsklugheit (gültig in der Theorie, nur für den Philosophen) von einem anderen Verständnis der politischen Moral ablenken könnte, einem konkreten, in der Praxis und für den Politiker gültigen Verständnis der politischen Moral als einer Ethik der Verantwortung. Zwar bringt Kant mit der Publizität eine konstante Überzeugung seiner Morallehre zur Anwendung: Die Reinheit der Prinzipien und nicht der äußere Erfolg muß auf den Willen Einfluß

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haben. In dieser Hinsicht stellt die Publizität die Reinheit der Rechtsprinzipien wieder her, indem sie ihnen eine transparente Form gibt. Aber meist versteht man unter „Gesinnungsethik“ eine Moral, die allein in der Übereinstimmung des Bewußtseins mit sich selbst Bestand hat und zu einer gewissen Weltverweigerung neigt, um die Innigkeit und Reinheit ihrer Wahlmöglichkeiten zu bewahren. Nun tritt aber die im Anhang verteidigte moralische Position dieser Versuchung entgegen. Die Publizität ist keine Form der Inquisition, welche die Tugendhaftigkeit des Souveräns oder seiner Berater prüfen wollte, und die Moralisierung der Macht besteht nicht darin, daß sich der Fürst dem Recht aus Überzeugung unterwerfen soll. Die Moral wird hier also nicht als etwas behandelt, das den Willen nötigen soll, sondern als etwas, das dem Recht einen absolut außerhalb der Empirizität privater Interessen gelegenen Ursprung verschafft. Selbst die Aufgabe, die menschliche Bösartigkeit zu überwinden, kann nicht als spezifisches Interesse des Staates und der politischen Verantwortung vorgebracht werden. Kant pflegt keinerlei Hang zu irgendeinem ethischen Terrorismus und mißtraut – mehr als seine Nachfolger – einer empirischen Verwirklichung der Moral, welche diese mit einem politischen Gut gleichsetzen wollte. Die Moral legitimiert hier nur das normative Wesen des Rechts, indem sie die Regeln in die Form a priori des kategorischen Imperativs bringt. Der Rückgriff auf die Form des kategorischen Imperativs (VI 377) bedeutet, nach einer konstruktivistischen Methode zu verfahren, denn ein solcher Imperativ gibt nicht den Inhalt der Maximen vor, sondern die Weise, in der sie bestimmt werden sollen. Die Moral gibt in der Politik nur die Verpflichtung vor, das Recht zu achten. Sie gibt so der Publizitätsregel der Maximen eine rationale, allgemeine und wiedererkennbare Begründung. Nicht also indem sie den Souverän tugendhaft macht, sondern durch die Ausweitung der Sphäre der praktischen Objektivität und die Ausdehnung des Bereichs der Legalität gelingt es der Moral, der Politik an privaten Anteilen wegzunehmen, was die Gesetze an Publizität hinzugewinnen. Die Moralisierung der Politik kann somit nur von der Überordnung des Naturrechts über das positive Recht kommen, wodurch die Gerechtigkeit zum alleinigen Gültigkeitsprinzip des Staats- und des Völkerrechts gemacht wird. Die Staatsklugheit machte die Gültigkeit der Vorschriften (ihre Legitimität) von ihrer Wirksamkeit (ihrer Zwangsmacht) abhängig. Das Prinzip der Publizität ist der Grund dafür, daß sich das Recht nur dann durchsetzen läßt, wenn es auch gültig, d. h. moralisch verbindlich ist. Durch die Wiederherstellung des Vorrangs des Rechts vor den Tatsachen verwirklicht die Publizität das fundamentalste Menschenrecht in einer Republik: das Recht der Repräsentation. Der politische Realismus erkennt dieses Recht nicht an, weil er das Volk für eine Masse von Ignoranten hält, unfähig, den Gesetzen freiwillig zu gehorchen. Folglich betrachtet er die Politik als das einzige Mittel, die Menschen moralisch zu machen, indem er sie zu einem Leben unter gemeinsamen Gesetzen zwingt, welche sie mechanisch aus Gewohnheit befolgen. Diese Denkungsart

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begreift das Recht als ein bloß geschichtliches oder uranfängliches Phänomen. Kant setzt ihm die Auffassung eines ursprünglichen Rechts der Vernunft entgegen (vgl. VI 250, 258, 262). Das ursprüngliche Recht ist die reine, nicht kontingente Quelle des Rechts: Aus ihr lassen sich die Gesetze deduzieren, die auf einen Staat angewandt werden müssen, d. h. die Form jedes richtigen öffentlichen Rechts. Das Naturrecht erhebt so die Idee des Volkes über den empirischen Begriff einer zwangsversammelten Menge, wie die kritische Version des Gesellschaftsvertrages zeigt, nach der der einmütige Wille eines Volkes als der praktische Typus jedes Gesetzes, das für die soziale Körperschaft insgesamt gelten soll, zu betrachten ist. Die Idee eines Willens aller Völker findet ebenfalls in der Kategorie des Gemeinwillens Platz; sie liefert ein formales Prinzip, mit dem eine Rechtsordnung der Welt als möglich vorgestellt werden kann. Ein solcher Wille ist nicht, wie mitunter behauptet wird, einer öffentlichen Meinung vergleichbar. Der Anhang geht vor allem auf die Beeinflußbarkeit der öffentlichen Meinung, die sich von den Versprechungen politischen Glückes zum besten halten läßt, ein, und Kant bemerkt selbst, daß die öffentliche Meinung nicht genügt, um den politischen Machiavellismus zu stürzen. Dagegen setzt die Idee des Volkes als Quelle eines rationalen Gesellschaftsvertrages das Volk eher mit einer universalen Öffentlichkeit gleich, indem sie ihm die Position eines unbeteiligten Zuschauers zuweist, der das Recht, über die Vernunft zu urteilen, transzendental verkörpert. Die Idee des Publikums erlaubt es Kant, mit den Mitteln der Kritik zur Rousseauschen Position zu gelangen, welche die Unterordnung des Gesellschaftsvertrages unter einen vorangehenden Unterwerfungsvertrag zwischen Volk und Herrscher vermeidet. Rousseau vertrat die Ansicht, daß die Individuen einen Vertrag mit der ganzen sozialen Körperschaft abschlossen, deren Mitglieder sie wurden: „Dieser Akt des Zusammenschlusses erzeugt eine sittliche Gesamtkörperschaft“ (Contrat social I, 6). Für die kritische Rechtslehre hat dieser Vertrag wesentlich rechtlichen, mithin ursprünglichen Charakter, während der Unterwerfungsvertrag einen politischen und geschichtlichen, d. h. uranfänglichen Charakter aufweist. Indem Kant die Universalität des Rechts als Ausdruck eines Gemeinwillens, als apriorischen Willen zu einem allen gemeinsamen Recht betrachtet, gibt er ihm seine ursprüngliche, dem positiven (d. h. geschichtlich erworbenen und anerkannten) Recht übergeordnete Rolle zurück. Die erste Wirkung der Publizität ist somit die Wiederherstellung der von der Machtpolitik geleugneten Vorgängigkeit des Rechts. Man kann dieser Lösung ihren formalen Charakter entgegenhalten und behaupten, daß die Publizität immer nur „das einzige Palladium der Volksrechte“ ist; wodurch die politische Ohnmacht dieser juridischen Lösung hervorgehoben wird. Dieser Einwand kann von zwei verschiedenen Betrachtungsweisen herrühren. Entweder setzt man der Publizität aus revolutionärer Sicht die Fruchtbarkeit von Gewalt entgegen: Kant aber führt gegen die Revolutionäre die Unmöglichkeit ins Feld, ihre Verneinung des

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Rechts öffentlich zu machen, wodurch sie gezwungen sind anzuerkennen, daß die Gewalt einem streng mechanischen und natürlichen Gebrauch unterliegt und daß die Maximen der bellizistischen Staatsklugheit zum Vorteil des Volkes angewandt werden. Oder man meint, daß die Kantische Auffassung der Publizität – richtig in seinen Absichten – sich nicht zur Anwendung eignet, weil sie einem empirisch zurückhaltenden Moralismus verhaftet ist, der sich im Endeffekt als für den Despotismus vorteilhaft erweist. Aber Kant begreift seinerseits die Publizität als ein tatsächlich und „überdem leicht“ anwendbares Prinzip, weil er sie als einen Grundsatz des Urteilens, als eine durch ihre Transparenz unbestechliche Anwendung der Meinungsfreiheit auffaßt, welche die Aufklärung kennzeichnet. Die Publizität ist als angewandte Politik zu verstehen, als dasjenige Moment, welches der Gültigkeit der Regeln erlaubt, diese wirksam werden zu lassen. Sie entspricht einer von heutigen Theoretikern so genannten prozeduralen Methode der Bestimmung des Gerechten. Was dem Urteil der Öffentlichkeit vorgelegt wird, sind die politischen Maximen selbst, d. h. „die auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen“. Es sind dies also echte Handlungsregeln, dazu bestimmt, eine Machtwirkung zu erzeugen. Die öffentliche Erklärung dieser Maximen nötigt die Politik, ihre Entscheidungen selbst als universalisierbare Regeln des Rechts zu behandeln, d. h. die Rechtlichkeit ihrer Forderungen offiziell zu verkünden oder persönliche despotische Absichten öffentlich zu verleugnen. Sobald die Publizität ins Werk gesetzt ist, unterwirft sich die Politik dem Recht und ordnet die Machtausübung dem Imperativ ihrer Legitimation unter, weil sie aufkommende Einwände und Widerstände zu akzeptieren gezwungen ist, welche, wie Kant sagt, „eine a priori einzusehende Gegenbearbeitung aller“ (381) darstellen. Die Publizität zieht nicht eine Rebellion mit unsicherem Ausgang nach sich, die der Bösartigkeit zuzurechnen wäre, sondern den legitimen Ausdruck allgemeiner Mißbilligung, der durch Prinzipien a priori erzeugt wurde. Es kann gewiß jederzeit geschehen, daß das Volk in den Zustand einer gewalttätigen, gesetzesfeindlichen Masse zurückfällt oder daß der Fürst seine Macht mißbraucht und zweifelhaften Bündnissen zuneigt. Die Publizität beansprucht – im Unterschied zur Klugheit – tatsächlich nicht, die Ereignisse mit ihren Mitteln zu beherrschen, sondern die Menschen in bezug auf die Zwecke zu führen. Durch die Publizität wird erreicht, daß es keinen unschuldigen, spontanen und selbstsicheren Willen zur Macht mehr geben kann, der über die einzelnen Individuen und Völker wie über eine Viehherde oder eine Maschine befiehlt. Nietzsche wird mit letzter Vehemenz diese allgemeine Erniedrigung des Ansehens des eroberungssüchtigen Willens anprangern. Kant beurteilt die aristokratische Streitlust als veraltet und ersetzt das Prinzip Gewalt (aus der Klugheit) durch das Prinzip Sprache (aus der Weisheit), indem er den Vertretern der Mächtigen die Vorstellung vom Gerechten, d. h. seine jederzeit mögliche Vorstellbarkeit entgegenhält: Die Publizität macht das öffentliche Recht der Öffentlichkeit verfügbar. Weil die Publizität die Ungerechtig-

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keit offenbar werden und „eingestehen“ läßt, gründet sie das Gebiet des Rechts als sprachliche Welt und nötigt dazu, den anderen, ob Untergebener oder Konkurrent, als ein sprachbegabtes Wesen zu behandeln.

10.4 Publizität und Frieden Nun befindet sich aber das Völkerrecht in der paradoxen Lage, ein Sollen ohne Sein zu bilden, ein Recht im Zustand des Nicht-Rechts. Es handelt sich um ein begründetes Recht, das noch nicht verwirklicht ist. Daraus ergibt sich die furchtbare Konsequenz, daß aus dem Naturzustand, in welchem sich das zwangsweise Zusammenleben der Völker abspielt, ein schlagender Einwand gegen die Publizität hergeleitet werden kann: Es braucht nur eine unbezwingbare Weltmacht aufzutreten, und die Berufung auf ein öffentliches Urteil wird lächerlich (385). Denn eine einzige Supermacht kann ihre Souveränität, ihr privates Recht vollständig zum Inhalt des Völkerrechts machen; es gibt keinen Übergang mehr vom Naturzustand zu einem bürgerlichen Zustand der Staaten, weil das Völkerrecht zum Nutzen eines einzigen Staates, einer Weltmonarchie, umgekehrt wurde. Diese Grenzsituation macht es aus der Sicht Kants notwendig, die Begründetheit einer moralischen Friedenspolitik zu prüfen. Um jede Reprivatisierung des Rechts zu vermeiden, muß man aus dem Naturzustand der fortgesetzten Ungerechtigkeiten heraustreten. Nun zwingt aber der Realismus zu dem Schluß, daß die Ausdehnung der Publizität auf das Völkerrecht nur möglich ist, wenn es eine internationale Öffentlichkeit gibt, wenn den privaten Interessen der Völker ein Gemeinwille öffentlich entgegengesetzt werden kann. Auf diese Weise wird die Kantische Ausgangsthese bestätigt: Die Errichtung eines rechtlichen Zustandes muß der Forderung nach Frieden vorausgehen, und die Bildung einer Assoziation der Völker ist die Bedingung jeder friedlichen Regelung von Konflikten. Damit das Völkerrecht nicht mehr ein Kriegs-, sondern ein Friedensrecht ist, muß es das gemeinsame Recht eines föderativen Vereins sein, und die Veröffentlichung des Rechts bildet durch sich selbst den Gerichtshof des Rechts. Mit anderen Worten: Jede internationale Rechtsregel muß als Ausdruck eines allgemeinen Willens erkennbar sein, worin eben ihre Rechtlichkeit besteht. Der Frieden ist somit nur als rechtliche Zweckmäßigkeit möglich, und seine Verwirklichung ist von der Übereinstimmung von Politik und Moral direkt abhängig. Folglich erlegt der Realismus der Staatsklugheit auf, sich in Staatsweisheit zu verwandeln. Obwohl diese kritische Schlußfolgerung unwiderruflich in der Vernunft begründet ist, scheint sie auf einen Zirkel hinauszulaufen: Ein öffentlicher rechtlicher Zustand ist die Bedingung für die private Anwendung des Rechts, eine fortwährendfreie Assoziation der Völker die Bedingung für die Einhaltung des Rechts seitens der

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souveränen Nationen. Muß man daraus schließen, daß die Bedingungen des Friedens ihn selbst zu guter Letzt zu einem trügerischen Traum werden lassen, zu hochfliegend und zu weit entfernt von den menschlichen Möglichkeiten? Wenn er auch einmal humorvoll auf seine „Rêveries Zum ewigen Frieden“ (XII 45) hingewiesen hat, kann Kant nicht umhin, diesen der Staatsklugheit zu sehr entgegenkommenden Schluß zu verwerfen. Er behauptet nicht die Unmöglichkeit des Friedens, weil ja seine ganze Schrift dessen Dringlichkeit aufzeigen möchte; aber er meint, daß „eine ins unendliche fortschreitende Annäherung“ den Weg seiner Verwirklichung darstellt. Er stellt den Beitrag der Geschichte und der Kultur zur Schaffung des Friedens in den Vordergrund und bringt einen letzten Einwand gegen die Staatsklugheit vor, indem er die Katastrophenanthropologie ihrer verdorbenen Politik beklagt, deren Pseudomoralismus die menschliche Bösartigkeit mit dem Ziel anführt, inneres und internationales Recht endgültig der teuflischen Logik der Stärkebeziehungen unterzuordnen. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1962 (189) bringt Habermas die Publizität mit der Kantischen Zivilisationstheorie in Verbindung. Er legt dar, daß im Anhang die letztgültige Lösung des Problems der Publizität in einer liberalen Geschichtsphilosophie gefunden wird. Der politische Zwang bewirkt, auch ohne die freiwillige Mitwirkung der einzelnen Individuen, daß sich private Laster in öffentliche Tugenden verwandeln, d. h. öffentlich in Gesetzesform hervortreten. Infolgedessen, so Habermas, rechtfertige die bürgerliche Gesellschaft (als privatisierte Sphäre des Warenverkehrs) die Gleichsetzung „von bourgeois-homme-citoyen“: Die Vergesetzlichung der Sitten, als Propädeutik zu ihrer Moralisierung verstanden, erlaube somit eine liberale Interpretation der Vorstellung, daß die Politik sich der Moral unterzuordnen habe. Diese Interpretation stellt sich als Hegelsche Version des Begriffs der Publizität vor, die als öffentliche Meinung begriffen und schließlich mit einer dem Liberalismus zuneigenden ideologischen Funktion belegt wird. Dieser Hegelsche Blick auf Kants Begriff der bürgerlichen Gesellschaft stellt sich jedoch in Wahrheit als eine politische Version des moralischen Ansatzes Kants dar. Aber obwohl Kant die Notwendigkeit politischen Zwanges an zwei berühmten Beispielen erläutert – jenes der durch den Wald als vereinheitlichendes Ganzes gerade wachsenden Bäume und jenes des Volks von Teufeln, die durch politischen Zwang zu Bürgern werden (366) –, schließt er deshalb nicht auf die Überlegenheit der Staatsklugheit, sondern auf die zweckgerichtete Bestimmung des Entwicklungsprozesses, bei dem das Recht triumphiert. Kants pragmatisches Geschichtsbild muß der moralischen Politik gegenüber dem politischen Moralismus Recht geben. Daher muß sich die Staatsweisheit, damit sie an die Stelle der Staatsklugheit treten kann, auf eine kosmopolitische Geschichtsphilosophie stützen, welche den berechnenden Pessimismus der Realpolitik verdrängt: Die Publizität zielt somit weniger darauf ab,

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die Politik der liberalen List sozialer Mechanismen anzupassen, als sie auf die Zukunft und die möglichen Fortschritte des Rechts in der Geschichte hin zu öffnen. Indem Kant anerkennt, daß sich politischer Zwang nicht beseitigen läßt, vollzieht er einen Akt des politischen Realismus, der darauf abzielt, der geschichtlichen Seinsweise der Politik auch das rechtliche Sollen anzupassen. Aus diesem Grund soll das Prinzip der staatlichen Kontinuität im Staats- wie im Völkerrecht gewahrt werden, selbst um den Preis der vorläufigen Aufrechterhaltung einer despotischen Regierungsform. Die Existenz des Staates ist Bedingung für die mögliche Entwicklung des Rechts zu einem Zustand des Weltfriedens. Die Übereinstimmung von Politik und Moral sollte zwei Extreme vermeiden, die sich gegenseitig bedingen: einerseits die Versuchung eines revolutionären Fortschrittsglaubens, andererseits die Gefahr eines despotischen Konservatismus. Die Publizität muß nachweisen, daß das eine wie das andere der Beförderung des Friedens nachteilig ist und daß man dem unbegrenzten wechselseitigen Reaktionsverhältnis der Revolution auf den Despotismus und des Despotismus auf die Revolution entgehen muß. Kant selbst wünscht nicht die Einführung revolutionärer politischer Methoden in seinem eigenen Land, und seine Geschichtsphilosophie sucht ebenso zu verhindern, daß der Fortschritt einem Doktrinarismus der Gewalt zum Vorwand diene. In diesem Sinne zwingt die Publizität zu der Einsicht, daß ein glaubwürdiger Friedenswille nicht ein solcher ist, der den Entschluß zum Krieg nach dem Interesse eines Staates oder einer Volksgruppe richtet, sondern der ohne Einschränkung auf die Mittel des Krieges verzichtet. Die Kantische Lösung ist somit weniger ökonomisch als kulturell, weniger liberal als republikanisch. Der Konflikt zwischen Politik und Moral endet von selbst, sobald das Staatsoberhaupt die für eine weltweite Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen notwendigen Reformen zuläßt. Dann wird der Verdacht entfallen, der die Laster der Politik begleitet, und ebenso der Verdacht, der sich auf den trügerischen Charakter des Rechtsideals bezieht. Der Philosoph als Berater der Mächtigen muß diese davon überzeugen, daß eine Reformpolitik die Staatsklugheit mit der Staatsweisheit versöhnt. Das transzendentale Publizitätsprinzip wird so von einem empirischen Realismus begleitet: Die Reformen müssen von oben kommen und einer Regierungsform entstammen, die durch das übergeordnete Interesse der zivilisierten Welt aufgeklärt wurde. Die moralische Politik betrachtet die Revolutionen und den Despotismus nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Gewalt, sondern nur noch ihrer Beiträge zur Beförderung des Rechts. Beide sind auf der Ebene der Tatsachen nur natürliche Erscheinungen (373 Anm.) und keine Zwecke an sich. Daß weder die eine noch der andere die Herrschaft des Rechts vollendet, offenbart sich in der Veröffentlichung ihrer jeweiligen Maximen. Die Staatsklugheit, nunmehr als politische Verantwortung verstanden, hat die Aufgabe, die geschichtlichen Tatsachen als Zeichen der

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mehr oder weniger ausgeprägten Geeignetheit oder Dringlichkeit von Reformen zu behandeln. Aus diesem Grund kann einem internationalen Friedenszustand nur eine auf einen Weltbegriff gegründete Philosophie entsprechen, eine Philosophie, die sich der Idee der Menschheit als einer zugleich zeitlichen (die Gesamtheit der Generationen betreffend) und räumlichen (die Gesamtheit der Völker betreffend) Aussicht auf die Möglichkeit eines weltweiten Zusammenlebens bedient. Die Idee, nach der die Menschheit zum Besseren hin fortschreitet, vermeidet ebenso den engstirnigen Pessimismus des despotischen Politikers wie den unvorsichtigen Optimismus des Revolutionärs. Der Fortschritt zum Frieden muß dem Fortschrittsrhythmus der Menschen angepaßt werden. Wenn man vom Standpunkt der Geschichte aus die Vorstellung akzeptieren muß, daß die Legalität die Moralität vorausbestimmt (376 Anm.), so deshalb, weil der politische Zynismus ebenso wie der politische Terrorismus bei der Verneinung der menschlichen Fähigkeit zur Vervollkommnung anfangen. Das geflügelte Wort fiat justitia pereat mundus führt zu einer Umkehrung des Rechts, wenn es sich in den Dienst eines leidenschaftlichen oder interessierten Moralismus stellt, der das Übel durch seine Unfähigkeit, das Bessere auf dem Guten zu errichten, noch verschlimmert. Gegen solche zerstörerischen Theodizeen dient die Perfektibilität als Grundlage für eine fortschrittliche Kulturanthropologie, die der Aussicht auf einen zukünftigen Frieden einen Weg bereitet und der Vorwegnahme dieser Zukunft einen verbindlichen Wert verleiht. Wenn der Friedensgedanke mit den Werten der Aufklärung abgestimmt werden kann, so deshalb, weil das Publikum, das als letztgültiger Bezugspunkt für die Publizität der Grundsätze dient, die gebildete, aus ihrer Unmündigkeit herausgetretene Menschheit ist. Wenn die Staatsweisheit die schwierige Frage nach einer möglichen Verbesserung der conditio humana bedenkt, vertraut sie weniger auf den politischen Zwang als auf die Ausgestaltung der rechtlichen und gesellschaftlichen Mittel, die durch das Zusammenleben bewirkt wird. Man sagt im allgemeinen, um die taktische Amoralität der Staatsklugheit zu rechtfertigen, daß sie die Menschen nicht ansehe, wie sie sein sollen, sondern wie sie sind. Die kritische Philosophie hingegen will sie betrachten, wie sie werden. Diese Wahl gibt der Politik und dem Frieden dasselbe Ziel: die Vermeidung, in Übereinstimmung mit der Moral, von jeglichem Katastrophenhistorizismus. Übersetzung von Michael Walz

Literatur Aubenque, Pierre 1986: La prudence chez Kant. In: La prudence chez Aristote. Paris, 186–212. Bruns, Thomas 1973: Kant et l’Europe. Saarbrücken.

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Cassirer, Ernst 1916: Freiheit und Form. Berlin. Friedrich, Carl Joachim 1962: L’essai sur la paix. Sa position centrale dans la philosophie morale de Kant. Paris (= Annales de philosophie politique 4), 139–161. Garve, Christian 1788: Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik, oder einige Betrachtungen über die Frage, in wiefern es möglich sey, die Moral des Privatlebens bey der Regierung der Staaten zu beobachten. Breslau. Gurwitsch, Georg 1922: Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. In: Kant-Studien 27, 138–164. Habermas, Jürgen 1962: Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral (Kant). In: Materialien zu Kants Rechtsphilosophie. Hrsg. von Z. Batscha. Frankfurt/M. 1976 (Wiederabdr.), 175–190. Philonenko, Alexis 1976: Kant et le problème de la paix. In: Essais sur la philosophie de la guerre. Paris, 4– 42.

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11 Die Stimme der Völker 11.1 Politische Denker über die internationalen Auswirkungen der Demokratie Es scheint sich der Eindruck zu verbreiten, daß sich mit der Zunahme von Bürgerrechten und der Selbstbestimmung des Volkes auch die Aussichten auf internationalen Frieden verbessern. Die Verbreitung von Demokratie und das Wachstum der bürgerlichen Gesellschaft in Osteuropa und (mit Rückschlägen) in der früheren Sowjetunion kündigen anscheinend eine weitreichende Verminderung internationaler Spannungen in Europa und der übrigen Welt an. Diese aktuellen Einschätzungen haben ihre Wurzeln auch in der klassischen Demokratietheorie. Der amerikanische Revolutionär Thomas Paine verkündete 1791: „Die Souveränität der Monarchen, Feindin der Menschheit und Ursache von Elend, ist abgeschafft, und die Souveränität ist an ihrem natürlichen und ursprünglichen Ort, der Nation, wiederhergestellt … Wäre das in ganz Europa genauso, gäbe es keine Gründe mehr für Krieg“ (Paine 1962, 244). Paine und anderen Demokraten zufolge beruht demokratischer Pazifismus auf der Anschauung, daß die aggressiven Instinkte autoritärer Führer und totalitärer Regierungsparteien Kriege befördern. Demokratische Staaten, basierend auf solchen individuellen Rechten wie Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit und anderen staatsbürgerlichen Freiheiten, Privateigentum und durch Wahl vermittelte Repräsentationen sind grundlegend dem Kriege abgeneigt. Wenn die Bürger, die die Lasten des Krieges tragen, ihre Regierungen wählen, werden Kriege unmöglich. Darüber hinaus wissen die Bürger zu schätzen, daß sie nur im Zustand des Friedens in den Genuß des Handelns kommen. (Vgl. Schumpeter 1919, Rummel 1938 und Mueller 1989) Nichtsdestoweniger gibt es gute Gründe, gegenüber dieser Liaison von Frieden, Toleranz und Mäßigung einerseits und Demokratie andererseits skeptisch zu sein.

Ich danke den Teilnehmern des vom Nobel-Institut unterstützten Tromso-Kolloquiums 1993 und Frau Hongying Wang für ihre kritischen Kommentare sowie Frau June Garson und Frau Philomena Fischer für ihre Hilfe bei der Erstellung des Textes. Hilfreich waren auch Diskussionen dieser Arbeit in Seminaren an der New York University Law School bei Lea Brilmayer und an der Yale Law School bei Paul Kahn. Der etwas ausführlichere englische Originaltext erschien erstmals in The Fall of Great Powers: Peace, Stability and Legitimacy, hrsg. von Geir Lundestad (Oslo: Scandinavian University Press/Oxford University Press, 1994, 283–310). Für die Erlaubnis einer deutschen Veröffentlichung danke ich dem Nobel-Institut. https://doi.org/10.1515/9783110782462-013

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In der klassischen Theorie und der historischen Praxis sind vier verschiedene Verbindungen behauptet worden, die die Demokratie eingeht oder eingehen soll. Die erste, durch ihre Langlebigkeit ausgezeichnete Behauptung ist diejenige des demokratischen Imperialismus, daß Demokratie ein effizientes Mittel ist, um imperialistische Aggression zu lancieren. Dies ist die Ansicht von Thukydides, von der das klassische politische Denken bis einschließlich Machiavelli beeinflußt wurde. Die zweite ist, daß sich Demokratie mit wirksamer Verteidigung in alle Richtungen verbinden sollte, einer Politik des Isolationismus im Rahmen eines allgemeinen Kriegszustands. Das ist Rousseaus Vision. Die dritte meint, daß Demokratien dem Internationalismus gehorchen – in friedlicher Weise, jedoch letzteres nicht notwendig auch in der Beziehung zu Nichtdemokratien.¹ Das ist Immanuel Kants Vorstellung. Und nur die vierte, die modernste, erhebt einen optimistischen Anspruch – Pazifismus –, der heute so populär ist. Ich möchte gerne die Argumente untersuchen, die diesen höchst unterschiedlichen Ansichten über die Auswirkungen von Demokratie zugrunde liegen.

11.2 Demokratischer Imperialismus Thukydides’ Sichtweise der Auswirkungen von Demokratie auf die Beziehungen zwischen Staaten (poleis) kann als wertvoller Kontrapunkt zu modernen Ansichten dienen. Weniger Frieden oder Mäßigung, vielmehr Macht und Herrschaft, Übermaß und Zersplitterung sind für ihn die Hauptcharakteristika der Demokratie. Diese Verbindung gibt uns zwei Rätsel auf. Aus unserer heutigen Perspektive fragt sich, wie Thukydides die Demokratie als herrschaftsbesessen und kriegerisch sehen konnte. Thukydides’ eigenes Dilemma ist, wie eine Institution, die für die Bildung von Herrschaft so nützlich ist, dieselbe wieder zu zerstören geneigt sein soll. Demokratie bedeutete, daß die Macht nicht in den Händen einer Minderheit, sondern des „gesamten Volkes“ lag. Wenn auch die griechischen Demokratien Sklaven hatten, genossen die Bürger im übrigen doch Gleichheit vor dem Gesetz, die Offenheit politischer Laufbahnen für Begabungen und eine spezielle Freiheit und Toleranz in privaten Dingen (Thukydides 1960, I: 37).

1 Paines eigene Bemerkung sowie seine militante Rolle in der Amerikanischen und der Französischen Revolution hinterlassen den Eindruck einer interessanten Zwiespältigkeit. Monarchen führen Kriege gegen ihresgleichen, notiert Paine; aber ist ein Krieg zwischen einer Monarchie und einer Demokratie das Ergebnis eines monarchischen Angriffs oder eines der Demokratie gegen den „elenden und feindseligen“ Monarchen?

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Für Thukydides sind Staaten geleitet von „Ehre, Sicherheit und Eigeninteresse“ (I: 76). Sie stehen unter dauerhafter Angst, denn „in schrecklichen Gefahren kann niemandem vorgeworfen werden, sein eigenes Interesse zu verfolgen“ (I: 76). Da Schwäche immer Unterwerfung bedeutet, kann nur unabhängige Stärke die Sicherheit garantieren; also müssen Staaten auf ihre eigene relative Macht bedacht sein. Thukydides und anderen Athenern zufolge liegt eine eindeutige Verbindung zwischen Demokratie und Macht in der Bedeutung einer von Bürgern getragenen Seestreitmacht. Wenn sich die Seemacht auf geruderte Galeeren stützt, ist eine Marine aus freien einer solchen aus versklavten Ruderern überlegen, denn in der Hitze des Gefechts kann man die ersteren anhalten, ihr Schiff zu verteidigen. Und, wie Pseudoxenophon (Über die Verfassung der Athener, I, 2) bemerkte: „… die ärmeren Schichten und der Demos sollen mehr Autorität als die Wohlgeborenen und Reichen besitzen, weil es der Demos ist, der die Schiffe rudert und der Stadt ihre Macht erhält“. Eine zweite demokratische Quelle von Macht liegt in den freigesetzten Ressourcen von Bürgern, die sich das Überleben und den Erfolg des Staates zu eigen machen. Anstatt seine Ressourcen darauf zu verwenden, die Bürgerschaft zusammenzuhalten, kann der Staat für die Zwecke des Allgemeinwohls auf die Bürger zurückgreifen (Thukydides I: 17). In einer freien Gesellschaft können darüber hinaus die öffentlichen Erörterungen die Politik leiten und durch rationale Praxis verbessern. Drittens sorgen demokratische Institutionen auch maßgeblich für die Antriebskraft imperialer Expansion, sowohl in materieller als auch in ideeller Hinsicht. Wie Perikles so beredt in seiner „Trauerrede“ für die Athener Kriegsgefallenen darlegte, ist die demokratische Staatsform der notwendige Ausdruck einer freien Gesellschaft, und nur in einer freien Gesellschaft können sich die kreativen Energien der unteren Schichten voll entwickeln. Eine freie Gesellschaft ermöglicht einen „Unternehmungsgeist“ und die Bereitschaft, Risiken einzugehen, die Produktion zu vergrößern und über große Distanzen Handel zu treiben. In den 440er Jahren sorgte außerdem die bezahlte Tätigkeit als Laienrichter für wertvolles zusätzliches Einkommen etwa der Hälfte der Bürgerschaft (Hammond 1986, 301). Die koloniale Besiedlung von besetzten Landstrichen widerspenstiger „Verbündeter“ bot einer kleineren Anzahl Unterhalt.Von den 1000 Talenten staatlicher Einkünfte des Jahres 431 stammten 600 aus kolonialen Steuern, Gebühren und Zöllen (Hammond 1986, 347). Und viertens machen diese Kennzeichen Athen zu einem attraktiven Mittelpunkt für alle ionischen Völker und schaffen die materielle Basis, die es Athen erlaubt, „Freunde durch Wohltaten zu erwerben“ (I: 40). Andere Staaten suchten Zugang zu dem von Athen kontrollierten Markt. Deren Volksmassen erstrebten eine

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Verbindung mit dem Athener Demos; tatsächlich konnte vielfach auf sie als Verbündete gegen ihre eigenen oligarchischen Herrscher gezählt werden. (Für die aktuelle wissenschaftliche Diskussion der internationalen Implikationen der Geschichtsschreibung des Thukydides siehe Lebow/Strauss 1991). Demokratie ist allerdings auch eine potentielle Ursache für Schwäche und Selbstzerstörung. Tatsächlich geriet hier, in Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges, die Demokratie erstmals in den Geruch einer so desaströsen Zersplitterung, daß noch mehr als zweitausend Jahre später die amerikanischen Autoren der Federalist Papers es für nötig hielten, entsprechende Vorwürfe zurückzuweisen. (In „Federalist No. 10“.) Die Athenische Demokratie zerbrach unter Belastung. Die große Seuche im Jahre 430 untergrub das Vertrauen (wer zuerst half, wurde am ehesten infiziert; II: 51). Danach löste sich der patriotische Respekt gegenüber den Gesetzen und Tugenden wie Umsicht, Mut und Scharfsinnigkeit in Zorn, Argwohn und Egoismus auf. Somit förderte die Athenische Demokratie den Krieg, statt ihn zu verhindern. In einer Welt, die von den Staaten verlangte, ihren relativen Einfluß zu wahren, um Sicherheit aufrechtzuerhalten, zeichnete sich Demokratie dadurch aus, daß sie staatliche Macht vergrößerte und insbesondere imperialistische Macht etablieren half. Sie steigerte aber nicht nur Ressourcen und Einfluß, sondern gestaltete, als tragischer Nebeneffekt, auch die öffentlichen Ziele und Visionen um. Sowohl direkt als auch indirekt erzeugte die Demokratie zusätzliche Gründe für Expansion: Beschäftigung aufrechtzuerhalten, Ruhm zu befördern, Wagemut zu befriedigen, Handel zu erweitern, andere Völker in demokratischer Zivilisation zu unterrichten. Diese neuen Ziele führten zu unnötigen Kriegen, die dann die Sicherheit des Staates untergruben. Das war und ist die demokratische Tragödie, vor der Thukydides uns warnte.

11.3 Demokratischer Isolationismus Wo auch immer er sich hinwendete, sah Rousseau Unterdrückung und Korruption. Nichtsdestoweniger hält er die Menschen für von Natur aus gut und für fähig, gerechte Freiheit innerhalb (und nur innerhalb) eines Gesellschaftsvertrages zu finden. Aber selbst solche gerechten Gesellschaften waren von einem außerordentlich gefährlichen Kriegszustand umgeben, dessen Gefährlichkeit teilweise gerade von solchen optimistischen Haltungen des Vertrauens und der Solidarität herrührte, die dann auf dem Schlachtfeld weitergeführt wurden.²

2 Er ist ein Realist, der gleichermaßen wichtige Gründe für den Kriegszustand in der Struktur des Systems, der Natur des Menschen und den inländischen staatlichen Strukturen sieht. In Kenneth

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Wie Thukydides und Machiavelli (und alle Realisten) betrachtet Rousseau die zwischenstaatlichen Verhältnisse als Kriegszustand (vgl. Rousseau 1964, 613–616). Im Naturzustand vor der Einrichtung von Staaten gibt es zahlreiche Streitigkeiten und Kämpfe, aber Krieg ist ein soziales Geschöpf von Staaten in der Absicht, einen feindlichen Staat zu zerstören oder zu schwächen. Dem Kriegszustand ist außerdem Ungerechtigkeit eigen. Gerechtigkeit verlangt, daß die Macht vom Gesetz kontrolliert sei. In den meisten (korrupten) Staaten regiert die Gewalt unter der Worthülse der Gerechtigkeit (vgl. Rousseau 1964, 613–616). Aber selbst wenn wir nach innen gerechte Staaten hätten, bliebe internationale Politik doch bloße Machtausübung ohne rechtliche Kontrolle, denn internationales Recht ist nicht mehr als eine „Illusion“, mangels jeglicher globaler Sanktion, durch die es ein effektiver Ersatz für Zwang sein könnte. In seiner Beschreibung des Zustandes eines anarchischen internationalen Systems erweist sich Rousseau als eindrucksvoll in Strukturen denkender Interpret der Weltpolitik. (Vgl. z. B. Hinsley 1963, Kap. 3; zu den verschiedenen Spielarten des Realismus s. auch Doyle 1990). Er sucht dann jedoch die Bedingungen eines korrupten Europa zu überschreiten und untersucht ideale Demokratie an zwei halb imaginären, halb realen Beispielen: einem isolierten „Korsika“ und einem defensiv verfaßten „Polen“. Doch kein Ausweg aus dem Kriegszustand ist verläßlich, nicht einmal die Demokratie. Rousseau entwickelt die Grundlagen internationaler Politik in einer großangelegten Ableitung aus dem Naturzustand. Im ursprünglichen Naturzustand, bar aller zivilisatorischen Attribute, ist der Mensch nach Rousseau ein freundliches Tier. Er ist natürlicherweise gleich, und seine sozialen Beziehungen sind vollkommen beiläufig und weder kooperativ, noch kriegerisch. Mangels Sprachfähigkeit macht er sich nur wenige Gedanken. Er hat kaum Ängste, zwar solche vor Schmerz und Kälte, nicht aber vor dem Tod. Bereitwillig empfindet er ein natürliches Mitleid gegenüber dem Leiden anderer. Bald entsteht durch die steigende Bevölkerungszahl Knappheit. Das führt zu einem zweiten Naturzustand. Knappheit ist Quelle von Privateigentum, Besitz, Rivalität, Stolz, Haß und Neid. Individualismus und das Denken in Familienkategorien ersetzen das natürliche Glück. Kooperation wird problematisch. Die in den produktiven Technologien Begabteren werden reich, die weniger Begabten arm. Ungleichheit gebiert immer weitere Ungleichheit. Die Reaktion der Armen ist, die Reichen zu bestehlen, die der Reichen, die Armen zu unterdrücken und sich von ihnen abzuschotten. Dann überlegen sich die Reichen, einen „Gesellschaftsvertrag“ zu

Waltz’ Worten spielen diese drei Vorstellungen gleich bedeutungsvoll zusammen (Waltz 1954). Dazu und zu vielen anderen Fragen siehe Hoffmann 1965.

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schließen. Um ihr Eigentum zu schützen, verleiten sie die Armen, in die rechtliche Gleichheit von Eigentumsrechten einzuwilligen, die in Wirklichkeit ihre ungleiche Überlegenheit in Besitz und Einfluß sichert (Rousseau 1964, 187 ff.). In seiner Kritik an Abbé de St. Pierres Friedensprojekt zeigt Rousseau, inwiefern Frieden für diese Machthaber unmöglich ist; nämlich erstens, weil Monarchen ihre scheinbaren Interessen (Prestige und Machtüberlegenheit) ihren wirklichen Interessen an Sicherheit überordnen. Selbst wenn zweitens die Monarchen vernünftig wären, würden immer noch ihre Außenminister von der Existenz von Kriegen profitieren, so daß sie die Kriege kaum unterbinden würden (101). Und selbst wenn drittens sowohl Monarchen als auch Minister sich rationaler staatlicher Kooperation zuwendeten – wie könnte man sichergehen, daß alle Staaten eine solche Umsetzung gleichzeitig vornähmen, es sei denn, durch Einsatz von Gewalt? Nach der Ablehnung internationaler Organisation erwägt Rousseau den Weg zum Frieden durch innerstaatliche politische Revolution – durch Demokratie, und zwar auf dreierlei Weise. Als erstes zeichnet Rousseau das hypothetische Bild eines gerechten Gesellschaftsvertrages, der die Bürger von ihrer Unterwerfung und Ungleichheit befreien würde. Jeder Bürger würde aufgefordert, alles zu verpfänden, nicht jedoch an einen korrupten Monarchen oder seine Minister, sondern innerhalb der Bürgerschaft. Die Souveränität würde nach innen gesichert, da niemand rechtens die Autorität der Gesetze in Frage stellen könnte, und die Bürger würden den Streitigkeiten des Naturzustandes entkommen. Auch würde jeder Bürger gleich gegenüber allen anderen und frei werden. Durch Beschluß der Volksversammlung als Ausdruck der wahren Interessen des gesamten Volkes würden Gesetze entstehen, die auf alle auf absolut gleicher Basis anzuwenden wären und somit den Allgemeinen Willen (volonté générale) konstituieren würden (Rousseau 1964, 378 ff.). Kriege würden geführt nur für nationale Ziele, die Ausdruck der langfristigen rationalen Interessen des Volkes wären. Soldaten würden sich für jeden Krieg, den der Gesellschaftsvertrag verlangte, freiwillig melden und bis zum Tode kämpfen. Und Kriege würden nur zwischen Staaten geführt – zwischen deren Soldaten, nicht gegen Zivilisten. Aberwären Kriege unausbleiblich in einem Staat, der von einem gerechten, vernünftigen Gesellschaftsvertrag durchdrungen und damit nur durch den Allgemeinen Willen geleitet wäre? Würde aus dem Mitleid des ursprünglichen Naturzustandes ein pazifistischer Allgemeiner Wille oder würde aus dem Geist des Neides (den Familienrivalitäten) des späten Naturzustandes ein eifersüchtig patriotischer Allgemeiner Wille hervorgehen? Wahrscheinlich letzteres, scheint Rousseau sagen zu wollen. Wenn die erwarteten Kosten eines Krieges von denjenigen der Unsicherheit oder des materiellen Verlustes übertroffen werden, welche aus der mangelnden Kontrolle über einen bestimmten strategisch wichtigen Paß oder Fluß oder über einen bestimmten

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Rohstoff erwachsen, dann ist der Allgemeine Wille nicht dazu angetan, Krieg auszuschließen.³ Zweitens untersucht Rousseau ein Modell für einen isolationistischen Frieden. Obwohl wir uns keine nationale Reform vorstellen können, die globalen Frieden gewährleistet, legt er die Möglichkeit nahe, bestimmte Staaten könnten den Kriegszustand mildern oder sogar, zumindest für eine Weile, verlassen. Korsika ist sein Modell einer kleinen, nicht entwickelten Gesellschaft. Ausgehend von einer Verwüstung Korsikas durch Feinde kann dessen weise Führung eine Gesellschaft und Republik freier Bauern und kleiner Unternehmer etablieren, wobei sie den Außenhandel auf das nötigste beschränkt. In der Isolation und verbürgt durch sein (dank der Gleichheit der sozialen Lebensbedingungen) geschlossenes Auftreten soll Korsika jeder beliebigen Großmacht auf der Suche nach kolonialer Eroberung kaum eine Versuchung, aber starken Widerstand verheißen (Rousseau 1964, 927; vgl. auch Knutsen 1992, Kap. 5 und Roosevelt 1990). Für eine Zeit sollten die Korsen Sicherheit erlangen, bis das Bevölkerungswachstum ein Bedürfnis nach extensiver Produktion und Handel bringt und damit auch das Ende von Tugend, Einfachheit und Selbstvertrauen, die Korsika zeitweise stark und sicher gemacht hatten. Drittens untersucht Rousseau die Einrichtung eines rein defensiven Systems. Nicht alle Gesellschaften des 18. Jahrhunderts hatten die Ausmaße oder das demokratische Tugendpotential Korsikas. Für die größeren, entwickelteren (korrupteren) Staaten verweist Rousseau auf das Beispiel Polens. Ihnen empfiehlt er eine schrittweise Reform mit dem Ziel, anstelle der korsischen Insel-Isolation eine nicht-provokative Verteidigung der polnischen Unabhängigkeit aufzubauen. Durch die Pflege des Erziehungswesens, kultureller Veranstaltungen und eines politischen Systems, das die Teilnahme am öffentlichen Leben belohnt, können polnische Patrioten ihre Nation für jeden ausländischen Eroberer unverdaulich werden lassen (Rousseau 1964, 1037). Durch eine Kombination von Patriotismus, Bundesgenossenschaft, Zentralgewalt und Bürgermiliz wäre Polen, so hoffte Rousseau, für seine Feinde weder offensive Bedrohung noch leichte Eroberungsbeute. Aber: Jede demokratische Reform vermindert nur die Gefahr. Keine entläßt einen Staat aus dem Kriegszustand.

3 Falls dies zutrifft, würde Rousseau nicht mit A. J. P. Taylors Feststellung übereinstimmen, „daß die gesamte Welt, würde nur jeder Staat seinem eigenen Interesse folgen, friedlich und sicher wäre“ (Taylor 1971, XX).

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11.4 Freiheitlicher Internationalismus Freiheitlich-demokratische Internationalisten, die sich dafür stark machen, daß „freie Staaten“ anders seien als die übrigen, schwächen zwei der Rousseauschen Voraussetzungen ab. Sie bestehen auf der Annahme des Staates als grundlegender, stabiler und institutionalisierter Entscheidungseinheit. Aber sie lassen die Voraussetzung fallen, daß Staaten allein rational-egoistische Rechenmaschinen seien, zugunsten einer Sichtweise von Staaten als komplexen repräsentativen Gebilden. Gleichzeitig nehmen sie an, daß demokratische Verfassungsstaaten zumindest nicht nur durch Sicherheitsbedürfnisse, definiert durch Macht, materielle Interessen und Prestige, motiviert seien, sondern genauso durch den Wert weltweiter individueller Freiheit. In Immanuel Kants Philosophie des freiheitlichen Internationalismus kommen diese beiden Neuerungen zusammen. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden zeigt Kant, wie freiheitliche Republiken eine dichotome internationale Politik hervorrufen: friedliche Beziehungen (ein „pazifistischer Bund“) zwischen ähnlich liberalen Staaten und ein „Kriegszustand“ mit den übrigen. Erstens, so argumentiert er, zähmen republikanische Regierungen die aggressiven Interessen absolutistischer Monarchien und verankern fest den Respekt vor den individuellen Rechten. Kriege erscheinen dann als direkte Belastung des Wohlergehens des Volkes. Doch diese innerstaatlichen republikanischen Beschränkungen bereiten dem Krieg kein Ende. Täten sie es, wären freiheitliche Staaten nicht kriegerisch, was alles andere als der Fall ist. Tatsächlich führen sie anstelle der monarchischen Launenhaftigkeit republikanische Umsicht ein. Kriege werden nur für freiheitliche Zwecke des Volkes geführt.⁴ Um zweitens zu sehen, wie der pazifistische Bund den Anlaß von Kriegen zwischen freiheitlichen Staaten, nicht aber zwischen freiheitlichen und autoritären beseitigt, müssen wir unsere Aufmerksamkeit vom Verfassungsrecht abund dem internationalen Recht zuwenden. Internationales Recht vervollständigt die verfassungsmäßige Garantie umsichtigen Verhaltens durch das Rücksichtnahmeprinzip. Die Trennung der Nationen wird noch verstärkt durch die Entwicklung unterschiedlicher Sprachen und Religionen. Diese garantieren eine Welt separater Staaten – eine entscheidende Voraussetzung, um globalen „seelenlosen Despotism“ zu vermeiden. Doch gleichzeitig bewirkt jene Unterschiedlichkeit eine moralische Integration liberaler Staaten, indem sie „bei anwachsender Kultur und der allmählichen Annäherung der Menschen zu größerer Einstimmung in Prinzipien, zum

4 Kant betrachtet diese Kriege als ungerecht und warnt die Liberalen vor ihrer Empfänglichkeit für sie (Zum ewigen Frieden 354). Gleichzeitig meint er, daß jede Nation verlangen „kann und soll“, daß ihre Nachbarn dem pazifistischen Bund liberaler Staaten beitreten (ebd.).

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Einverständnisse in einem Frieden leitet …“ (367) In einem Zuge mit dem Aufkommen von Republiken und dem Anwachsen der Kultur entwickelt sich ein Verständnis der legitimen Rechte aller Bürger und Republiken, und dies legt nun, nachdem Umsicht die Politik charakterisiert, die Grundlagen für den Frieden. Dementsprechend wirft das internationale Recht ein Licht auf die Bedeutung der Kantischen Aufklärung. Auf nationaler Ebene verhilft sie dazu, daß die Funktionäre sich an die Prinzipien halten, die sie selbst proklamieren, und an die Interessen der Wähler, die sie zu repräsentieren behaupten. Auf internationaler Ebene sind freie Rede und der intensive Informationsaustausch über das politische Leben fremder Völker grundlegend für Schaffung und Erhalt eines Verständnisses, von dem das Rücksichtnahmeprinzip abhängt. Freiheitliche Staaten gehen davon aus, daß autoritäre, nicht auf Konsens beruhende Staaten ungerecht sind. Weil deren Regierungen als gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung ständig aggressiv wahrgenommen werden, werden ihre auswärtigen Beziehungen für freiheitliche Regierungen höchst suspekt. Schließlich ergänzt das internationale Recht die moralische Verpflichtung um materielle Anreize. Es verbürgt, daß der „Handelsgeist“ früher oder später jede Nation ergreift und dadurch Anreize für die Staaten schafft, Frieden voranzutreiben und Krieg abzuwenden. Die liberale Wirtschaftstheorie vertritt, daß diese kosmopolitischen Verbindungen ein Ergebnis kooperativer internationaler Arbeitsteilung und freien, dem relativen Profit gehorchenden Handels sind. Jede einzelne Volkswirtschaft soll danach besser stehen, als wäre sie in der Autarkie verblieben; jede erhält somit einen Anreiz, eine Politik zu unterlassen, die die anderen Teilnehmer diese ökonomischen Verbindungen unterbrechen ließe. Dies ist eine natürliche Folge ökonomischer Interdependenzen. Eine weitere internationale Quelle des Friedens liegt darin, daß der Weltmarkt die staatliche Politik schwieriger Entscheidungen hinsichtlich Produktion und Distribution enthebt. Dadurch erscheint ein fremder Staat für die diesbezüglichen Ergebnisse nicht direkt verantwortlich; Staaten können sich aus den Rivalitäten des Marktes heraushalten und lediglich bereit sein, zur Lösung von akuten Krisen einzugreifen. Die Interdependenz des Handels und die internationalen Kontakte offizieller staatlicher Stellen tragen zur Schaffung von transnationalen Querverbindungen bei, die wie eine Lobby für wechselseitige Übereinkünfte wirken. Zusammengenommen (und nur so) schaffen die drei spezifischen Stränge von freiheitlichen Institutionen, liberalen Ideen und daraus erwachsenden transnationalen Verbindungen einen plausiblen Zusammenhang freiheitlicher Politik und Wirtschaft mit dauerhaftem Frieden.⁵ In ihren Beziehungen mit autoritären Staaten jedoch

5 Beweise für die Möglichkeit und Bedeutung eines Friedensbundes werden erörtert bei Doyle 1983,

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konnten die freiheitlichen Staaten der Unsicherheit nicht entkommen, die aus der Anarchie im globalen politischen System als ganzem herrührt (vgl. Doyle 1983). Im übrigen schaffen gerade konstitutionelle Selbstbeschränkung, Respekt gegenüber individuellen Rechten und gemeinsame Handelsinteressen genauso die Grundlage für Frieden zwischen freiheitlichen Staaten wie für zusätzliche Konflikte mit den übrigen.

11.5 Demokratischer Pazifismus Schumpeters 1919 als Widerlegung des Leninschen Imperialismus erschienener Aufsatz Zur Soziologie der Imperialismen argumentierte kohärent für die friedensschaffenden (nicht-aggressiven) Auswirkungen liberaler Institutionen und Prinzipien. Anders als die früheren liberalen Theoretiker, die jeweils einen einzelnen Gegenstand, z. B. Handel, herausgegriffen hatten oder eine kritische Auseinandersetzung mit Gegenargumenten vermissen ließen, betrachtete Schumpeter das Zusammenspiel von Kapitalismus und Demokratie als die Grundlage eines freiheitlichen Pazifismus, und er maß seine Argumente an einer Soziologie historischer Imperialismen. Schumpeter definierte „Imperialismus“ als „objektlose Disposition eines Staates zu gewaltsamer Expansion ohne angebbare Grenze (74). Indem er Imperialismen außen vor ließ, die lediglich “Schlagworte„ waren oder konkreten Absichten (z. B. Verteidigung) folgten, zeichnete er drei Wurzeln des Imperialismus nach, jede von ihnen ein Atavismus. Moderner Imperialismus war ein Ergebnis des Zusammentreffens einer „Kriegsmaschinerie“ mit kriegerischen Instinkten und Außenhandelsmonopolen. Die Kriegsmaschinerie, einst erforderlich, verselbständigte sich später und übernahm die Kontrolle über die staatliche Außenpolitik. „Vom Krieg geschaffen, der sie brauchte, schuf die Maschine die Kriege, die sie brauchte“ (89). Und so übernahm die Armee des alten Ägypten, die für die Vertreibung der Hyksos aus Ägypten geschaffen worden war, das Staatsruder und verfolgte einen militaristischen Imperialismus. Wie die späteren Hofarmeen des absolutistischen Europa führte sie Kriege um Ruhm und Beute, um der Krieger und Monarchen willen. Unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus drängen Export-Monopolisten auf imperialistische Expansion zur Öffnung ihrer geschlossenen Märkte. Aber die Imperialismen des 19. Jahrhunderts stellen nur noch die Spuren der Imperialismen eines Ludwig XIV. oder einer Katharina der Großen dar. Somit sind die ExportMonopolisten ein Atavismus der absoluten Monarchien, denn sie hängen in ihren Einkünften vollkommen von den Zöllen ab, die von den Monarchen und ihren mi-

205–235. Darin untersuche ich den Zeitraum von 1790 bis zur Gegenwart und finde keinen Krieg zwischen liberalen Staaten. Für eine sorgfältige statistische Analyse siehe Maoz/Russett 245–267.

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litaristischen Nachfolgern auferlegt wurden. Ohne Zölle würden Monopole durch internationalen Wettbewerb beseitigt (vgl. 146). Kapitalismus und Demokratie drängen auf Frieden hin. Sie sind wahrhaftig eine Antithese zum Imperialismus. Nach Schumpeter wird die Weiterentwicklung von Kapitalismus und Demokratie den Imperialismus zum Verschwinden bringen. Kapitalismus erzeugt eine unkriegerische Veranlagung; seine breite Öffentlichkeit ist „demokratisiert, individualisiert, und rationalisiert“ (122). Die Energien der Menschen werden täglich durch die Produktion absorbiert. Die Disziplinierung durch Industrie und Markt bildet in den Menschen „ökonomischen Rationalismus“ aus. Kapitalismus „individualisiert“ auch; „subjektive Chancen“ ersetzen die „unveränderlichen Faktoren“ der traditionellen, hierarchischen Gesellschaft. Rationale Individuen verlangen nach demokratischer Regierung. Zum Beweis der friedenschaffenden Funktion des demokratischen Kapitalismus führt Schumpeter an, daß (1) in der gesamten kapitalistischen Welt eine Opposition gegen „Krieg, Expansion, Kabinettsdiplomatie“ entstanden, (2) heutiger Kapitalismus mit friedensliebenden Parteien verbunden und (3) der Industriearbeiter des Kapitalismus ein „leidenschaftlicher Anti-Imperialist“ sei. Zusätzlich habe (4) die kapitalistische Welt Mittel zur Kriegsverhütung wie den Internationalen Gerichtshof von Den Haag entwickelt, und (5) habe die am wenigsten feudale, am meisten kapitalistische Gesellschaft – die Vereinigten Staaten – die geringsten imperialistischen Tendenzen gezeigt (125 f.). Seine Erklärung für den freiheitlichen Pazifismus war recht einfach. Nur Kriegsprofiteure und die Militäraristokratie gewinnen durch Kriege. Keine Demokratie würde ein Minderheitsinteresse verfolgen und die hohen Kosten des Imperialismus tolerieren. Wenn freier Handel vorherrscht, gewinnt „keine Klasse“ durch gewaltsame Expansion: „Ausländische Rohstoffe und Nahrungsmittel, freies Land usw. sind jedem Volk so zugänglich, wie wenn sie in seinem Gebiet lägen“ (128). Später, in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, entwickelte Schumpeter ein deutlich ausgefeilteres Modell der kapitalistischen politischen Ökonomie und anerkannte, „daß nahezu rein burgoise Gemeinwesen oft aggressiv waren, wenn es sich zu lohnen schien, – so das athenische oder das venezianische Gemeinwesen“. Aber er blieb seinen (pazifistischen) Waffen verhaftet, als er noch einmal die moderne Sichtweise bekräftigte, daß kapitalistische Demokratie „fortwährend gegen die Anwendung militärischer Gewalt und für friedliche Regelungen spricht, selbst wo die Waage des pekuniären Vorteils sich deutlich auf die Seite des Krieges neigt, was unter den heutigen Umständen im allgemeinen nicht sehr wahrscheinlich ist“ (210).⁶

6 Er bemerkt, daß die Überprüfung dieser Anschauung wohl sehr schwierig sein werde, da sie

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11.6 Vergleiche Thukydides, Rousseau, Kant und Schumpeter sind jeder für sich Verfechter einer demokratischen oder repräsentativen Regierungsform. Doch in unterschiedlicher Weise halten sie die demokratischen auswärtigen Beziehungen für imperialistisch, isolationistisch, internationalistisch oder pazifistisch. Wie können wir diese Unterschiede erklären? Das Muster der von den Autoren unterstellten auswärtigen Beziehungen demokratischer Staaten ist in folgender Tabelle dargestellt. Die Kürzel stehen für: S = Schumpeter, K = Kant, T = Thukydides, R = Rousseau.

Tabelle 11.1: Auswärtige Beziehungen demokratischer Staaten Friede

Krieg

Imperialismus

mit (anderen) Demokratien

S, K

R, T

T

mit Nichtdemokratien

S

R, T, K

T, K

Thukydides’ demokratischer Imperialismus, Rousseaus demokratischer Isolationismus, Kants liberaler Internationalismus und Schumpeters liberaler Pazifismus beruhen auf grundlegend verschiedenen Anschauungen über das Wesen des Menschen, den Staat und die internationalen Beziehungen. Wir wollen die Theoretiker paarweise untersuchen. Schumpeter und Kant. Der Mensch bei Schumpeter ist rationalisiert, individualisiert und demokratisiert. Er ist insofern homogen, als er in „monistischer“ Weise materielle Interessen verfolgt. Da seine materiellen Interessen auf friedlichen Handel gehen, sind er und der demokratische Staat, den er und seine Mitbürger kontrollieren, pazifistisch. Schumpeters „materialistischer Monismus“ läßt wenig Raum für nichtökonomische Ziele, ob von Staaten oder Individuen. Bürger, Kapitalisten und Arbeiter, suchen materielle Wohlfahrt. Schumpeter nimmt an, daß niemand regieren möchte oder solche Maßnahmen (wie das Anfachen auswärtiger Streitigkeiten, um eine im Innern regierende Koalition an der Macht zu halten) ergreifen wird, die zwar politische Macht vergrößern, aber der Volkswohlfahrt abträglich sind. Auch Weltpolitik wird homogen. Materiell monistisch und demo-

„detaillierte historische Analyse“ erfordere. Aber die bürgerliche Einstellung gegenüber dem Militär, Geist und Art und Weise, in denen bürgerliche Gesellschaften Krieg führen, und die Bereitschaft, mit der sie sich während eines längeren Krieges militärischen Vorschriften unterwerfen, seien „in sich beweiskräftig“ (ebd.).

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kratisch kapitalistisch, entwickeln sich alle Staaten gemeinsam auf Freihandel und Freiheit hin. Länder mit anderer Grundordnung scheinen aus Schumpeters Analyse herauszufallen. Anders als Schumpeters kapitalistische bleiben Kants demokratische Verfassungsstaaten in einem Kriegszustand mit Nichtrepubliken. Die Republiken sehen sich von deren Aggressionen, die nicht durch Repräsentation gehemmt werden, bedroht. Liberale Politiker versagen häufig in ihrer kategorischen moralischen Pflicht, auswärtige Streitigkeiten mit autoritären Staaten nicht als Mittel zur eigenen innerstaatlichen Machterweiterung anzuheizen. Und obwohl Kriege häufig ökonomisch mehr kosten als einbringen, sind Republiken doch bereit, Demokratie und Privateigentum – manchmal gewaltsam – zu schützen und zu verbreiten, ebenso die individuellen Rechte in den Nichtrepubliken, welche selbst keine Rechte auf Nichteinmischung haben. Auch diese Kriege können ungeheures Leid erzeugen. Thukydides und Rousseau. Die Bürger bei Thukydides sind (anders als bei Schumpeter) höchst verschieden sowohl in ihren auf ihr Land bezogenen als auch in ihren auswärtigen Zielen. Ihre Charaktere sind in unterschiedlichem Maße geprägt von Mut, Ehrgeiz, Angst, Nutzendenken, Umsicht, Ruhmsucht und Patriotismus. Obwohl alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind und das Wahlrecht haben, unterscheiden sich ihre Lebensumstände erheblich je nachdem, ob sie zu den Reichen oder Armen, den Städtern oder der Landbevölkerung gehören. Auch die Staaten sind vollkommen ungleich in Größe, Ressourcen und Macht. Solche Menschen und solche Staaten halten Imperialismus für nützlich. In einer gefährlichen Welt steigert Herrschaft die Sicherheit, den Nutzen und Ruhm der mächtigen Mehrheit, wenn auch vielleicht nicht aller Bürger. Auch bei Rousseau sind die Bürger unter dem Gesellschaftsvertrag gleich, rational und frei. Aber durch mehr als nur rechtliche, nämlich soziale und wirtschaftliche Gleichheit unterscheiden sie sich von Thukydides’ Athenern. Partikulare „Willen“ würden einem Allgemeinen Willen – dem vernünftigen, nationalen, allgemeinen Interesse – weichen, von dem Thukydides (Perikles) gesagt hatte, er schlösse weitere imperialistische Expansion aus. Die Ausbeutung derjenigen, die nicht den Status eines Bürgers hatten (Quelle eines so erheblichen Teils der nationalen Einkünfte), wäre ebenfalls unannehmbar in einer Rousseauschen Republik, die doch verlangte, daß alle Menschen frei seien und auf einer gleichen Basis regierten und regiert würden. Das schließt Sklaverei offensichtlich aus. Schließlich würde Rousseau auch den ausgedehnten Handel nicht erlauben, der ein Weltreich möglich und erstrebenswert machen würde. Die Rousseausche Demokratie war frei, unabhängig und isolationistisch. Rousseau und Kant. Die Bürger bei Kant sind wie die bei Rousseau frei, politisch gleich und rational. Der Kantische Staat wird somit rechtsförmig als Republik regiert. Aber die Bürger sind in zwei Hinsichten verschieden. Sie behalten ihre Indivi-

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dualität, sei es, daß sie „vernünftige Teufel“ oder moralische Subjekte sind, die andere Individuen als Zwecke und nicht als Mittel behandeln. Und die Bürger leben weiterhin in unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Umständen. Im Interesse der Mehrheit übt sich auch Kants demokratischer Verfassungsstaat, so wie Rousseaus direkte Demokratie, in demokratischer Umsicht. Aber anders als in Rousseaus Begriff des Allgemeinen Willens weiß Kants Republik die moralische Gleichheit aller Individuen zu würdigen. Der Bürger bei Rousseau tritt seinen Mitbürgern alle Rechte ab und behält nur das Recht, nach gleichen Maßstäben berücksichtigt zu werden. Jeder Aspekt von Kultur, Moral und gesellschaftlichem Leben unterliegt der Schöpfung und Umschöpfung durch die gesamte Bürgerschaft. Kant scheint hingegen zu denken, daß der Allgemeine Wille, der nach Rousseau nur innerhalb der Gemeinschaft verwirklicht werden kann, von jedem einzelnen Subjekt als kategorischer Imperativ erfaßbar ist. Rousseaus Demokratie beschränkt unsere Identifikation auf die mit den Mitbürgern, um die nationale Identität zu verstärken. Weiterhin erfordert die Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative öffentliche Erörterung und mildert dadurch die Auswirkungen persönlicher Leidenschaften oder übereiligen Urteilens. Rousseaus direkte Demokratie scheint den Wert republikanischer Verzögerung zu unterschätzen. Darüber hinaus verbietet Rousseaus Demokratie um Gleichheit und Autonomie willen die privaten Handelsbeziehungen und sozialen Interaktionen über Grenzen hinweg, die sowohl innerstaatliche Vielfalt als auch überstaatliche Solidarität erschaffen. Diese materiellen Verbindungen geben der kosmopolitischen Identifikation der einzelnen miteinander Kraft, was der Fundierung internationaler Achtung dient. Mit Kant gemein hat Rousseau die demokratische Rationalität. Er schließt allerdings sowohl moralischen Individualismus als auch gesellschaftlichen Pluralismus aus, die die Grundlage für Kants „internationales“ oder „kosmopolitisches“ Recht bilden, und macht so freiheitlichen Frieden unmöglich. Vergleichen wir Thukydides und Rousseau einerseits und Kant und Schumpeter andererseits, läßt sich feststellen, daß die ersten beiden, ungeachtet der Unterschiede in ihren speziellen Sichtweisen des Menschen und des Wesens nationaler Politik, gleichermaßen davon ausgehen, daß die Polis bzw. der Staat alle Zwangsgewalt und alle Loyalität zur Verfügung hat oder haben sollte. Dabei gibt es folglich keinen Raum für Individualismus und Vielfalt, die Kant für die Wurzeln der Loyalitäten und Interessen hält, welche einen demokratischen Frieden über die Grenzen hinweg erzeugen. Die Demokratien des Thukydides und des Rousseau verbleiben im Kriegszustand.

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11.7 Folgerungen für die Gegenwart In dem Maße, wie diese theoretischen Unterscheidungen die tatsächliche Spannweite in den vielfältigen Entwicklungen heutiger Demokratien berühren, erheben sie einige nützliche Warnungen hinsichtlich der internationalen Auswirkungen des gegenwärtigen Demokratisierungstrends.⁷ Wenn auch das Mehrheitsprinzip eine notwendige Bedingung des Friedenszustandes sein mag, ist es keine hinreichende Bedingung. Rousseaus Bild einer Suche nach Autarkie und nationaler Identität geht von einem dauerhaften Kriegszustand mit allen übrigen Gemeinwesen aus; es entzieht dem demokratischen Frieden die Grundlage. Thukydides’ Entwurf eines demokratischen Imperialismus illustriert die gewaltige Wirkung von ungezügelten Leidenschaften und materiellen Interessen. Um untereinander Frieden zu schaffen, können die Demokratien den Vorstellungen Kants folgen, wonach die individuellen Rechte so definiert sind, daß die moralische Fundierung der Bürgerrechte die kosmopolitischen Rechte der gesamten Menschheit nach sich zieht. Sodann müssen sie den materiellen Verbindungen der übernationalen Gesellschaft eine freie Entfaltung erlauben. Oder sie können Schumpeters Anregung befolgen, einen unterschiedslos globalen Frieden dadurch zu garantieren versuchen, daß sie sich auf die unterstellte friedensschaffende Kultur des Kapitalismus verlassen und auf die ihm zugrunde liegenden materiellen Freihandelsinteressen. Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen moralischen und politischen Entscheidungen für die heutige Weltpolitik? Reale Staaten sind stets komplizierter als theoretische Modelle. Aber anders als vor gerade noch 30 Jahren erstreben heute, wenn überhaupt, nur wenige Staaten eine revolutionäre Demokratie nach Rousseauschem Muster. Eher finden wir auf dem Balkan, am Schwarzen Meer und anderswo Staaten, die Thukydides mit Leichtigkeit wiedererkennen würde, solche, die einen Imperialismus aufgrund von angeblich demokratischen Plebisziten praktizieren, in Verfolgung grenzenloser Sicherheit, nationalistischer Ehre und ungeschminkten Eigeninteresses. Die herrschenden Formen zeitgenössischer Demokratie scheinen glücklicherweise, im Sinne Kants und Schumpeters, freiheitlich und marktwirtschaftlich zu

7 Eine lebhafte und informative Debatte, von der ein erheblicher Teil in International Security publiziert wurde, hat sich mit der Bedeutung realistischer und liberaldemokratischer Kategorien für die Interpretation der jüngsten revolutionären Umwälzungen in der internationalen Politik Osteuropas und der Sowjetunion befaßt. Vgl. besonders Mearsheimers Kritik des Liberalismus (1990), Snyders Diskussion der Wege der Politik (1990) und Deudneys und Ikenberrys Untersuchung der externen Einflüsse auf das sowjetische Verhalten (1991).

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sein. Gemeinsam haben sie pluralistische und republikanische Gemeinwesen, Kapital- und Marktökonomien, materialistische und rationalistische Kulturen, verbunden mit einer Verpflichtung auf die Menschenrechte. Jedenfalls ist freiheitliche Demokratie eine Erklärung und ein Plädoyer für außergewöhnliche internationale Großtaten. Die Vorgeschichte zweier Jahrhunderte des Friedens zwischen Demokratien krönt sie durch einen außerordentlichen geostrategischen Triumph: die Solidarität der Freien Welt während des Kalten Krieges und die Versöhnung der demokratischen Staaten Europas in der Nachkriegszeit. Immerhin erheben Geschichte und politische Grundlagen des liberalen Internationalismus drei Warnungen hinsichtlich seiner typischen Fehlleistungen: Die erste Fehlleistung ist die Willfährigkeit. Der Internationalismus zwischen freiheitlichen Staaten hat sich als unzureichend erwiesen, seine eigenen Grundvoraussetzungen unter sich ändernden internationalen Bedingungen zu bewahren, insbesondere den liberalen Charakter der ihn konstituierenden Staaten zu unterstützen. Gelegentlich hat er, wie gegenüber Deutschland in den 20er Jahren, es nicht geschafft, angemessene internationale Wirtschaftshilfe für liberale Staaten zur Verfügung zu stellen, deren Wirtschaft sich in der Krise befand. In den 30er Jahren schaffte er es nicht, Spanien, das von einer bewaffneten Minderheit bedroht war, mit militärischer Hilfe oder politischer Vermittlung unter die Arme zu greifen. Weitblickende und tiefgreifende Maßnahmen wurden nur ergriffen, wenn ein Staat die Führung über den Rest übernahm – wie es die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg taten –, um auch jenseits seiner Grenzen die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen der liberalen Gesellschaft zu erhalten. Isolationisten bringen sowohl solches Engagement als auch dessen Kosten in Verruf. Aber weder liberale Prinzipien noch Interessen erlauben den Luxus einer Nichteinmischung. Handel und Investitionen umspannen die Welt. Übrigens sind auch die Kosten von 45 Jahren Kaltem Krieg mit einigen Billionen Dollar zu veranschlagen.9⁸ Eine Neuauflage des Kalten Krieges in Verbindung mit einem russischen Faschismus aufgrund eines Scheiterns der dortigen Demokratisierung dürfte die größte, wenn auch bei weitem nicht wahrscheinlichste Bedrohung für jene Sicherheit sein, derer sich die liberalen Demokratien derzeit erfreuen. Die zweite mögliche Fehlleistung des liberalen Internationalismus liegt in einer unklugen Kreuzzugsmentalität – das Problem eines liberalen Imperialismus, dem liberale Mächte verschiedentlich erlegen sind. Hier müssen Liberale die Tendenz vermeiden, sich in sowohl moralisch als auch materiell teure und kontraproduktive Kreuzzüge zu verstricken. Wenn wir verhindern wollen, daß einseitige Interventionen

8 Greg Treverton schätzt in Rethinking America’s Security auf 11 Billionen.

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den destruktiven Imperialismus wiederaufleben lassen, werden wir Einrichtungen multilateraler Sicherheit benötigen, seien es die Vereinten Nationen oder regionale Organisationen, die für Beratung und allseitige Zurückhaltung Sorge tragen können. Die dritte Gefahr ist eine übersteigerte Verfolgungsangst. In ihren Beziehungen zu mächtigen autoritären Staaten (wie heutzutage China) haben die liberalen Staaten oftmals Gelegenheiten ungenutzt gelassen, Abrüstung- sund Waffenkontrollverhandlungen vorwärtszutreiben, und versagt, zur Ergänzung der Waffenkontrolle umfassende Modelle der Konfliktbeilegung zu entwickeln. Auch wird die freie Welt selbst Institutionen und vielgestaltige Kontakte brauchen, um die ökonomischen Spannungen auszugleichen, die wahrscheinlich eine zunehmend wichtige Rolle in ihren Beziehungen spielen werden. Versäumnisse in jedem dieser drei Bereiche könnten unsere friedlichen Aussichten radikal verändern und Investitionen jeder Höhe in den Aufbau von Institutionen und in Entwicklungshilfe, die wir jetzt als kostspielig empfinden, im Rückblick preiswert erscheinen lassen. Übersetzung von Steffen Wesche

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Michael W. Doyle

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Otfried Höffe

12 Ausblick: Die Vereinten Nationen im Lichte Kants 12.1 Rekapitulation der Kantischen Prinzipien Die Friedensschrift ist ein eminent politischer Traktat: Die Philosophie stellt sich in den Dienst eines politischen, freilich moralisch-politischen Zwecks, des unbegrenzten und zugleich vorbehaltlosen Friedens unter allen Staaten. Um dieser Seite des Textes, seinem dezidiert politischen Charakter, gerecht zu werden, drängt sich am Ende ihrer Kommentierung ein Blick in die politische Gegenwart auf. Zu blicken ist nicht etwa auf Gemeinschaften, die schon einem Freundschaftsbund nahekommen, auf Zusammenschlüsse, die auf eine gewisse Region beschränkt sind und auf der Grundlage gesellschaftlicher und kultureller Gemeinsamkeiten erfolgen. Ebensowenig sind es neue Gesellschaftswelten oder multinationale Konzerne. Für allzuständig hält sich eine Rechtstheorie des globalen Friedens nicht. In Frage steht ein bloßer Friedensbund, der sich freilich regionalen Beschränkungen entzieht. Den Gegenstand bilden daher weder die Europäische Union, vormals Europäische Gemeinschaft, noch der Europarat, sondern die Vereinten Nationen. – Bevor wir sie im Lichte Kants betrachten, fassen wir seine wichtigsten Prinzipien zusammen: 1) Kant argumentiert vom Standpunkt der Moral aus, allerdings von einer bescheidenen und nüchternen, man könnte sagen: von einer entmoralisierten Moral (vgl. zu diesem Begriff Höffe 1991). Er fordert nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein moralisch definiertes Recht, das ist eine Gerechtigkeit, bezogen auf politische Institutionen und Organisationen; er verlangt politische Gerechtigkeit. Diese begnügt sich mit dem Anteil an der Moral, dessen Anerkennung die Menschen einander schulden. Jene Mehrforderungen, die man heute im Namen der sog. sozialen Gerechtigkeit oder der Solidarität erhebt, schließt Kant aus; er selber spricht von Philanthropie (357) und lehnt sie als Gesichtspunkt seiner Rechts- und Friedenstheorie mit Nachdruck ab. Ebenfalls beiseite setzt er die personale Gerechtigkeit, die Rechtsgesinnung. Auf der einzelstaatlichen Ebene verzichtet er auf einen ,Staat von Engeln‘ und gibt sich mit „Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen“ zufrieden (366), und auf der internationalen Ebene vertraut er auf den Handelsgeist (367). 2) In bezug auf Einzelstaaten verlangt die Rechtsmoral, eine Republik einzurichten. Diese wird durch vier Elemente definiert. Kant beginnt mit der Volkssouveränität, die freilich primär normativ, nicht empirisch-politisch verstanden ist. Definiert als die „Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen https://doi.org/10.1515/9783110782462-014

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ich meine Beistimmung habe geben können“ (350, 16–18), entspricht sie den „angeborenen, zur Menschheit notwendig gehörenden und unveräußerlichen Rechte(n)“ (Z. 23 f.), den Menschenrechten. Es folgen die für alle gleichen Gesetze (ebd.); ferner öffentliche Gewalten und schließlich die Gewaltenteilung. Mit diesen vier Elementen läuft das, was Kant eine Republik nennt, in etwa auf einen demokratischen Verfassungsstaat hinaus. Die Rechtsmoral, die auch auf der internationalen Ebene herrschen soll, das (moralische) Völkerrecht, gebietet, einen globalen Friedensbund einzugehen. Im Unterschied zu einem Friedensvertrag sucht er (a) nicht bloß einen Krieg, sondern alle Kriege und (b) diese „auf immer zu endigen“ (356, 9). Es geht ihm um einen sowohl universalen als auch bedingungslosen Frieden, der aus einer ebenso universalen und bedingungslosen Achtung des Krieges hervorgeht. Von den sechs Vorbedingungen („Präliminarartikel“) dürften nächst der ersten Vorbedingung, die einen bedingungslosen Frieden verlangt, folgende drei besonders aktuell sein: Die Forderung, stehende Heere nach und nach abzuschaffen, entspricht dem Gebot: Abrüsten statt Wettrüsten. Daß eine Staatsverschuldung wegen „äußerer Staatshändel“ unerlaubt ist, spricht für sich, ebenso das Verbot einer gewalttätigen Einmischung in die Verfassung und Regierung anderer Staaten; diese haben nämlich das Recht, sich selber zu reformieren. Für den Friedensbund selbst sind drei Optionen denkbar: die Universalmonarchie oder der homogene Weltstaat (HWS), der Völkerbund oder ultraminimale Weltstaat (UMWS) und jener (sekundärstaatliche) Völkerstaat, der einem extrem minimalen Weltstaat (EMWS) entspricht. Die erste, in der Vergangenheit von Dante, heute von den sog. Globalisten vertretene Option, die Kosmopolis bzw. der HWS beansprucht die gesamte Souveränität für sich. Weil er alle Einzelstaaten in sich aufsaugt, enthält er zuviel an Weltstaatlichkeit und ist als dieses Zuviel moralisch abzulehnen. Die zweite Option, der UMWS, die „fortwährend-freie Assoziation“ (383), kann als weltstaatliches Zuwenig, als eine Organisation ohne Zwangsbefugnis, den ewigen Frieden nicht garantieren. Aus politischen Gründen geboten, stellt er aber einen zweitbesten Weg dar; er ist das negative Surrogat bzw. ein unerläßliches Übergangsgebilde. Nur die dritte Option, eine „auf Zwangsgesetze gegründet(e)“ Organisation (383), gibt mit ihrem weder Zuviel noch Zuwenig an Staatlichkeit die positive Idee ab. Die politische Gerechtigkeit im supranationalen Maßstab, die supranationale politische Gerechtigkeit, fordert einen extrem minimalen Weltstaat, den EMWS. Dieser hat den Charakter eines Sekundärstaates, während der Rang von Primärstaaten den Einzelstaaten gebührt. Von Kant als Weltrepublik bezeichnet (357), definiert sich der EMWS wie das politische Ideal eines Einzelstaates, die Republik, durch die genannten vier Ele-

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mente und wird dadurch zu einem – jetzt: supranationalen – demokratischen Verfassungsstaat: Unter Anerkennung der Gewaltenteilung sorgt der EMWS für den Schutz der Menschenrechte von Staaten, namentlich für ihre territoriale Unversehrtheit und für ihre politische sowie kulturelle Selbstbestimmung. Nach Kants politiksoziologischer These befördern den globalen Friedensbund vor allem zwei Antriebskräfte, negativ die Erfahrung mit den Schrecken des Krieges und positiv der Republikanismus. Weil Republiken bzw. demokratische Verfassungsstaaten wenig Neigung zu einem Angriffskrieg haben sollen – sich militärisch zu verteidigen ist ihnen rechtsmoralisch erlaubt –, schließen sie sich zu einem Friedensbund zusammen. Nach dem Prinzip Nachahmung wird die republikanische Verfassung von anderen Staaten übernommen, die sich dann, weil republikanisch und damit kriegsabgeneigt geworden, dem Friedensbund anschließen. (Der Philosoph, der angeblich ein Gegenmodell zu Kants praktischer Philosophie abgebe, Aristoteles, formuliert eine interessante Variante, gewissermaßen die Umkehrung von Kants These: Wer fremde Staaten besiegen wolle, neige zur Tyrannis zu Hause, Politik VII 14, 1333b 29 ff.; eine Eroberungspolitik unterminiere also die Politik, die Demokratie bzw. Republik, im eigenen Land.) Alleinzuständig für den globalen Frieden ist der – sekundärund minimalstaatliche – Weltstaat nicht. Außer den staatlichen gibt es nämlich auch gesellschaftliche, namentlich wirtschaftliche Beziehungen. Auf sie hat man allerdings kein Anrecht; sie erfolgen in aller Freiwilligkeit. Der hier zuständige Antrieb – Kants wirtschaftssoziologische These zur Ausbildung einer Weltgesellschaft – heißt: Handelsgeist. Und weil „unter allen der Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln) die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte“ (368), liegt im Handelsgeist – man darf extrapolieren: liegt in den Vorteilen, die sich aus jeder Kooperation ergeben – eine dritte Antriebskraft zum globalen Friedensbund. (Der bekannte Beitrag von Doyle 1983 zieht lediglich den „Republikanismus“ in Erwägung; vgl. aber auch Doyles Beitrag zu diesem Band.) Damit der Handel funktioniert, könnten sich teils eigene internationale Organisationen bilden, teils die Handel treibenden Gesellschaften auf eigenes Risiko arbeiten; das heutige Phänomen multinationaler Konzerne hätte hier seinen Ort. In weiser Beschränkung räumt Kant dem EMWS dazu keine Zuständigkeiten ein. Von Handelsinteressen motivierte Kriege oder sogar Strafkriege sind gewiß nicht legitim; der EMWS hat „bloß die Entfernung des Kriegs zur Absicht“ (385). Bei Kant laufen drei Modelle der Friedenssicherung, in eine klare Rangfolge gebracht, zusammen: (1) Das Leitmodell gibt der extrem minimale Weltstaat ab. (2) Ihn einzurichten, helfen die Erfahrung des Krieges und die republikanische Verfassung der Einzelstaaten. Ergänzt wird das Modell durch (3) eine Konzeption des freien Handels. Weil dieser an die Zustimmung der einzelnen Staaten ge-

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bunden ist, läßt er freilich auch zu, wofür Rousseau plädierte: die auf ein Minimum von Kontakten eingeschränkte Koexistenz autarker (Klein‐)Staaten (vgl. Projet de constitution pour la Corse, 1756). Nun sorgen in ihrem Zusammenwirken diese drei Modelle nicht bloß für den Frieden. Aufgrund der republikanischen Verfassung der Primärstaaten erfreuen sich auch deren Bürger, die einzelnen Menschen, und aufgrund der republikanischen Verfassung des Sekundärstaates erfreuen sich dessen „Bürger“, die Einzelstaaten, eines hohen Maßes an Freiheit. Darüber hinaus bleibt dank des Handelsgeistes auch der Wohlstand nicht aus. Ein weiteres, inzwischen viertes Modell der Friedenssicherung kennen wir als Gleichgewicht der Macht („balance of power“). Das Modell steht noch unterhalb des negativen Surrogates und wird als „drittbester Weg“ von Kant erst gar nicht in Erwägung gezogen. Ebensowenig gegenwärtig sind zwei andere in der Friedensforschung diskutierte Modelle: ein „Weltfrieden durch Sozialismus“ und ein „Weltfrieden durch den Abbau individueller Aggressivität“ (vgl. Fetscher 1972). 10) Wegen ihres rechtsmoralischen Charakters haben die friedenstheoretischen Prinzipien vor anderen politischen Erwägungen einen absoluten Vorrang. Da sie aber nur Prinzipien und keine politischen Rezepte sind, bedürfen sie zur konkreten Wirklichkeit einer Ergänzung, der politischen Klugheit bzw. Urteilskraft. Während für die Prinzipien die Philosophen zuständig sind, sind für die Klugheit die Politiker (und als ihre Berater die Juristen) gefragt.

12.2 Eine halbierte Übereinstimmung Unter „Maximen der Philosophen“ (368) versteht Kant nicht die subjektiven Grundsätze professioneller Fachvertreter, sondern Grundsätze, die, statt vom politischen Selbstinteresse motiviert zu sein, der Pflicht bzw. der reinen praktischen Vernunft entspringen. Dafür zuständig ist zwar schon das moralische Bewußtsein, das jedem Menschen innewohnt. Weil es aber „in seiner Reinigkeit und Echtheit“, wie es in der Grundlegung heißt, „nirgend anders als in einer reinen praktischen Philosophie“, nämlich in einer von empirischen Beweggründen unabhängigen Überlegung „zu suchen“ ist (IV 390), ordnet Kant es den Philosophen zu. Mit diesen Grundsätzen stimmen nun die Vereinten Nationen zumindest auf den ersten Blick erstaunlich weit überein. (Zur Aufgabe und der Arbeit der Vereinten Nationen, zum Text ihrer Charta und anderen Dokumenten siehe Opitz/Rittberger 1986.) Die Weltorganisation darf sich also rühmen, Maximen von Philosophen bzw. rechtsmoralische Grundsätze anzuerkennen. Die Vereinten Nationen stehen nicht mehr auf dem Boden des klassischen Völkerrechts von Grotius, des Kriegs-Völkerrechts, sondern auf dem des neuen Völkerrechts von Kant, des Friedens-Völkerrechts.

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Die Übereinstimmung mit diesen rechtsmoralischen Grundsätzen beginnt beim ersten, negativen Teil der politiksoziologischen These. Den Anlaß für die Gründung der Vereinten Nationen gibt die „Geißel des Krieges“, die, wie es zu Beginn der Charta der Vereinten Nationen heißt, „zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“. Ferner haben hinsichtlich der regionalen Weite die Vereinten Nationen schon jetzt realisiert, was Kant sich erst für die Zukunft erhoffte: eine globale Anerkennung. Abgesehen von Zwergstaaten (Kiribati, Monaco, Nauru, San Marino, Tonga, Tuvalu, ferner der Vatikanstaat) fehlen nur die beiden Korea – und die Schweiz. Drittens liegt der Institution eine Verfassungsurkunde zugrunde, die „Charta der Vereinten Nationen“ (1945), deren Prinzipien sich wie eine juristische Ausformulierung Kantischer Gedanken lesen: Zum leitenden Zweck, dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit (Art. 1, 1), verpflichten sich die Mitglieder, „ihre internationalen Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln“ zu regeln (Art. 2, 3) und grundsätzlich jede Gewaltanwendung, die „gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit irgendeines Staates gerichtet“ ist, zu unterlassen (Art. 2, 4). Die Vereinten Nationen begnügen sich also mit nichts weniger als der Abschaffung des Krieges. Um den Leitzweck zu erreichen, vertraut man nicht auf ein globales Gleichgewicht, richtet vielmehr eine internationale Organisation ein, um mit ihr die bislang herrschende internationale Anarchie zu überwinden. Diese besteht aus Organen, die bei klarer Gewaltenteilung teils stärker, teils weniger stark dem äquivalent sind, was innerstaatlich öffentliche Gewalten heißt. In etwa entsprechen der Legislative die Generalversammlung und einer Regierung der Sicherheitsrat; nicht zuletzt gibt es ein richterliches Organ, den Internationalen Gerichtshof, und seit November 1994 zusätzlich den Internationalen Seegerichtshof. Von den drei Organen hat zumindest der Sicherheitsrat tatsächlich den Charakter einer öffentlichen Gewalt. Kapitel VII der Charta ermächtigt ihn, gegen Mitglieder, die den Frieden bedrohen oder eine Aggression begehen, politische, wirtschaftliche und militärische Maßnahmen zu ergreifen. Daher verpflichtet Artikel 25 global alle Mitglieder, sich an den entsprechenden Maßnahmen zu beteiligen; nach Artikel 43 sind sie sogar verpflichtet, dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen. Die Generalversammlung hat dagegen nur das Recht, Empfehlungen auszusprechen. Ebensowenig verfügen über eine Durchsetzungsmacht die beiden Internationalen Gerichtshöfe; die Annahme ihrer Urteile beruht auf freiwilliger Unterwerfung; allerdings kann sich die durch ein Urteil legitimierte Partei an den Sicherheitsrat wenden. Da eine, aber auch lediglich eine der klassischen Gewalten über eine Durchsetzungsmacht verfügt, sind hinsichtlich ihrer Staatlichkeit die Vereinten Nationen zwischen dem ultraminimalen und dem extrem minimalen Weltstaat zu verorten. Während die Generalversammlung und der Internationale Gerichtshof wegen

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mangelnder Durchsetzungsrechte einem ultraminimalen Weltstaat, also Kants Gedanken des Völkerbundes, zuzuordnen sind, enthält der Sicherheitsrat ein Potential, das die Weltorganisation über das negative Surrogat hinauswachsen und sich der positiven Idee, dem extrem minimalen Weltstaat, annähern läßt. Der positiven Idee nähert sie sich auch deshalb an, weil sich die vier Definitionselemente einer Republik wiederfinden. Bezogen auf die bei einer supranationalen Institution zuständigen Subjekte, also auf Einzelstaaten, nicht auf einzelne Menschen, kommen die Menschenrechte im Leitzweck der Vereinten Nationen zur Sprache, namentlich im Schutz der territorialen Unversehrtheit und der politischen Unabhängigkeit jedes einzelnen Staates. Und die Volkssouveränität mit der wieder supranationalen Bedeutung – „Alle (supranationale) Gewalt geht vom (supranationalen) Volk, den Einzelstaaten, aus“ – tritt in zweierlei Form zutage. Empirischpolitisch zeigt sich die Volkssouveränität im Umstand, daß zum Beitritt volle Freiwilligkeit besteht; und normativ zeigt sie sich darin, daß die genannten Menschenrechte von Staaten den Rang von Prinzipien haben, denen jeder (sc. Staat) seine Beistimmung hat geben können. Gegeben ist die Demokratie ferner im organisatorischen Sinn. In der Generalversammlung herrscht nicht bloß das Prinzip der Gleichheit vor (Art. 2, 1), demzufolge jedes Mitglied unabhängig von seiner Größe oder Macht eine Stimme hat (Art. 18, 1). Entscheidungen werden auch mit einfacher Mehrheit, in bestimmten Fällen mit einer Zweidrittelmehrheit getroffen; in letzter Zeit setzt sich sogar die Praxis der konsensuellen Willensbildung durch. Anders dagegen im Sicherheitsrat. Hier haben sich die sog. fünf Großmächte ein doppeltes Privileg zugesprochen; sie haben einen ständigen Sitz und außerdem als Sonderstimmrecht ein Vetorecht. – Ein zweites Element einer Republik, die Gleichheit vor den jeweiligen Rechtsbestimmungen, versteht sich zumindest im Prinzip von selbst. Ebenso ist die Gewaltenteilung gegeben. Allerdings ist die Macht dieser Gewalten begrenzt. Von einer so weitgehenden Übereinstimmung mit rechtsmoralischen Grundsätzen sollte man erwarten, was Kant im „Anhang“ eine moralische Politik nennt. Statt sich die Moral für die eigenen Zwecke zurechtzubiegen, müßte sich die internationale Politik der hier zuständigen Moral unterwerfen und „den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammen“ (356). Tatsächlich gibt es seit der Gründung der Vereinten Nationen immer noch Kriege; und es gibt weit mehr und weit gravierendere Kriege, als daß man sich damit entlasten könnte, auch innerstaatlich fänden doch ständig schwerste Rechtsverletzungen statt. Die Rechtssicherheit im internationalen Bereich läßt sich mit der im intranationalen Bereich nicht im entferntesten vergleichen. Insofern befindet sich die Welt „im Mittelalter“; wie damals gibt es Feudalherren, die weit mächtiger als die Zentralgewalt sind. Die Weltorganisation hat bewaffnete Konflikte kaum verhindern können; und dort, wo sie ausbrachen, hat sie höchst selten auf die satzungsgebotene Weise reagiert. An der Tagesordnung ist, was sich kein Einzelstaat erlauben darf: Selbst

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schweren Rechtsbrüchen sehen die Vereinten Nationen, wenn nicht rein verbale Reaktionen als Taten gelten sollen, tatenlos zu. So erleben wir die Umkehrung der moralischen Politik: jene Herrschaft der politischen Moral, die, wie Kant sagt, die Moral für politische Zwecke instrumentalisiert. Die Huldigung an die Rechtsmoral geschieht, wie schon zu Kants Zeiten, bestenfalls in Form von Resolutionen, also „den Worten nach“ (355). Aber beachtet werden sie nicht. Im Gegenteil fällt die Diskrepanz auf, die über viele Jahre zwischen dem Ritual einer Beschwörung der Charta der Vereinten Nationen und der geradezu systematischen Mißachtung ihrer Resolutionen, namentlich zur Konfliktregelung im Nahen und Mittleren Osten und im südlichen Afrika, bestand. Der Hintergrund ist bekannt. Anfangs bestand unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates durchaus jene grundsätzliche Übereinstimmung, ohne die die Vereinten Nationen gar nicht entstanden wären und ohne die auch kein System globaler Sicherheit funktioniert. Diese Übereinstimmung ging aber sehr bald verloren. Schlicht ohne Erfolg blieben die Vereinten Nationen zwar nicht, nennenswert sind etwa die Kodifizierung des Völkerrechts und die internationalen Pakte in Sachen Menschenrechte. Den eigentlichen Zweck, die Achtung des Krieges, erreichen sie aber nicht im entferntesten. Eher zufällig, wenn nämlich die Interessen der sog. Supermächte konvergieren, gelingt es, lokale Konflikte zu beherrschen. Dagegen fehlt der für eine systematische Achtung des Krieges erforderliche politische Wille. Statt dessen läßt sich „im freien Verhältnis der Völker“ jene „Bösartigkeit der menschlichen Natur“ (355) feststellen, die in der Nichtbereitschaft zur „unmittelbaren Achtung fürs Recht“ besteht (375 f.), und allzuhäufig läßt sie sich sogar, wie Kant sagt, „unverhohlen blicken“. Eine oberflächliche Kritik macht für das Scheitern der Vereinten Nationen jene weitgehend adoptierten „philosophischen Maximen“ verantwortlich, die Kant systematisch entwickelt. In Wahrheit ist das Scheitern aus Kantischen Prinzipien zu erklären; vorliegt eine bloß halbierte Anerkennung. Vor allem gegen zwei Bedingungen wird verstoßen. Weder herrscht unter den Mitgliedern der Vereinten Nationen die republikanische Verfassung vor – nicht einmal alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates genügen diesem Kriterium –, noch werden alle in den Präliminarartikeln genannten Vorbedingungen erfüllt. Gegen die eine Bedingung Kants, den Republikanismus bzw. demokratischen Verfassungsstaat, ist allerdings Skepsis geboten. Denn schon die junge französische Republik überzieht Europa mit Krieg. Wenig anders verhält es sich mit der noch älteren Republik; die Vereinigten Staaten von Nordamerika breiten sich nach Westen fast ohne Rücksicht auf die Ureinwohner aus. Außerdem annektieren sie Texas und verleiben sich nach einem Krieg mit Mexiko sowohl Kalifornien als auch Neu-Mexiko ein. Nicht zuletzt bietet Großbritannien ein Gegenbeispiel, läßt es sich doch durch die

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Entwicklung zur Republik nicht an seinen Weltmachtsplänen hindern; das Commonwealth breitet sich noch kräftig aus. Gegen den Gedanken, Republiken seien grundsätzlich friedensbereit, machen uns schon einfache Geschichtskenntnisse skeptisch. Wer ihnen nicht traut und die Wissenschaft zu Rate zieht, findet in entsprechenden Studien die Bestätigung (z. B. Wright 21965, Singer/Small 1976, Garnham 1986). Sie belegen, daß, auf längere Zeiträume bezogen, Demokratien ebenso kriegsanfällig wie Nichtdemokratien sind. Das aggressive Außenverhalten tritt allenfalls etwas weniger, aber nicht einmal signifikant weniger auf. Zur Entlastung zeigt Doyle 1983, daß liberale Demokratien zwar viele Kriege führen (seit 1945 mit Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten und nicht mit Nichtdemokratien auf den ersten Plätzen), daß sie jedoch nicht gegen ihresgleichen antreten. An die Kantische Behauptung, derartige Staaten seien überhaupt friedensgeneigt, reicht diese Beobachtung aber nicht im entferntesten heran. Ohnehin könnte es die harmlosere Erklärung geben, daß zwischen den betreffenden Staaten eine zufällige Interessenkonvergenz besteht, aus der vom Republikanismus unabhängige Allianzen hervorgehen. Und dort, wo die Interessenkonvergenz fehlt, gewährt das eher republikanische Großbritannien dem nichtrepublikanischen Preußen gegen das republikanische Frankreich finanzielle Unterstützung. (Diese Politik hat übrigens Kant so nachhaltig getroffen, daß er mit England, das er lange Zeit bewunderte, jetzt innerlich bricht; vgl. die Schlußüberlegungen im Beitrag von Saner). Die deutsch-britische Rivalität dagegen entsteht Ende des 19. Jahrhunderts nicht wegen des Gegensatzes von republikanischer und nichtrepublikanischer Verfassung, sondern aus einer Konkurrenz von Interessen. Nicht nur die Fakten stimmen skeptisch, auch gegen die Argumente erheben sich Bedenken. Kant hält Republiken deshalb für friedensgeneigt, weil ihre Bürger im Unterschied zu den Fürsten die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen selber zu tragen hätten und daher nicht die „Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen“ würden (351). Ähnlich denkt später Tocqueville (La démocratie en Amerique, 183 5–40, Bd. II, Kap. 26). Das Argument kann aber schon deshalb nicht überzeugen, weil mancher Krieg nicht vom Parlament, sondern nur von der Regierung bzw. dem Präsidenten beschlossen wird. Außerdem muß er nicht an den Staatsgrenzen geführt werden, und die Bürger spüren, wenn der Krieg in der Ferne stattfindet, die Drangsale weniger. Weiterhin können Kriege, zumal kleinere, von innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken. Schließlich läßt sich an Kriegen gut verdienen, vor allem an denen fremder Staaten. Die neuere Erfahrung, daß gerade die ältesten Republiken schwunghaften Waffenhandel betreiben – und erst dann eingreifen, wenn sich die Waffen gegen die „Falschen“ richten –, hätte auch Kant gegen deren Friedensgeneigtheit skeptisch gestimmt. Diese wenigen Hinweise zeigen, daß die erste Bedingung, die die Vereinten Nationen verletzen, der Republikanismus, keineswegs über die friedensstützende

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Kraft verfügt, die Kant erwartet. Das andere Kriterium, gegen das die Weltorganisation verstößt, hängt dagegen deutlich mit dem Friedenszweck zusammen. Es benennt nämlich dessen Vorbedingungen; mindestens die Hälfte von ihnen wird nun von den Vereinten Nationen verletzt. Deutlich verstoßen sie gegen den dritten Artikel: Statt die stehenden Heere abschaffen zu lassen, konnten sie das Hochund Wettrüsten nicht verhindern. Zudem wird es im Gegensatz zum vierten Artikel durch Staatsschulden finanziert. Und gegen das im fünften Artikel angesprochene Verbot, sich in die Verfassung eines anderen Staates einzumischen, verstieß – Beispiele genügen – ohne Zweifel der Einmarsch sowjetischer Truppen in Berlin (1953), Budapest (1956) und Prag (1968), vielleicht auch die „militärischen Interventionen“ der USA in Panama (1989) und Haiti (1994). Eine so offensichtliche Nichtanerkennung schon von Vorbedingungen zeigt, daß die real existierenden Vereinten Nationen mit dem philosophischen Projekt von Vereinten Nationen, mit der Idee eines extrem minimalen Weltstaates, bislang noch gar nicht ernst machen. So gesehen verbleibt die schöne Verfassungsurkunde, die Charta der Vereinten Nationen, im Stadium eines trockenen Versicherns. Manche Kritiker der derzeitigen Vereinten Nationen fordern für sie eine überlegene militärische Macht. Wer davon das Heil, den globalen Frieden, erwartet, übersieht aber die Gefahr, daß diese Macht allzuleicht mißbraucht wird. Dagegen ist die Gefahr kaum zu fürchten, wenn die Kantischen Vorbedingungen erfüllt werden, namentlich der Dritte Präliminarartikel. Besser als die Einrichtung einer überlegenen militärischen Macht ist das Abschaffen dessen, was „stehende Heere“ auf heute bezogen meinen. Aufzulösen sind die stets verfügbaren Waffen(systeme) für ein sofort einsetzbares Militär. Nicht von einer militärisch mächtigen Weltorganisation ist der globale Friede zu erwarten, sondern von einem radikalen Abrüsten.

12.3 Überhöhte Kompetenzen Mit dem Enthusiasmus, der Gründerjahren innewohnt, geben sich die Vereinten Nationen mit der bloßen Gewaltverhütung nicht zufrieden, und sie bleiben bei diesem Enthusiasmus, obwohl ihre Hauptaufgabe, die Gewaltverhütung, so offensichtlich mißlingt. (Im folgenden setze ich Überlegungen von Höffe 1993 fort, ausführlicher in Höffe 22002, Kap. 11.4.) Die Charta enthält nicht bloß ein breitgefächertes Programm zur Weiterentwicklung des Völkerrechts (Art. 13). Sie nimmt sich auch vor, Sorge zu tragen für die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, für die Förderung der Zusammenarbeit auf kulturellem und erzieherischem Gebiet und für die Achtung und Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten (z. B. Art. 55; vgl. schon die Präambel). Das nächst der Charta wichtigste Dokument, die Allgemeine Erklärung

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der Menschenrechte (1948), bekräftigt diese Ansprüche. In veränderter Reihenfolge bekräftigt ihre Präambel dieselben drei Aufgabe wie die Charta der Vereinten Nationen: (1) den Schutz der Menschenrechte, (2) die Förderung der internationalen Zusammenarbeit bis hin zur „Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen“, schließlich (3) die Förderung des sozialen Fortschritts und besserer Lebensbedingungen bei größerer Freiheit.

Der so weit reichende Aufgabenbereich entsteht übrigens nicht erst in der Zeit der Entkolonialisierung, in der viele neue Staaten entstehen, was schließlich in den Vereinten Nationen zu einem Übergewicht der ärmeren Länder führt. Von Anfang an reichert man die Aufgabe der Gewaltverhütung mit den genannten Zusatzaufgaben an. Eine derartige Anreicherung ist aber mit dem Kantischen Gedanken eines extrem minimalen Weltstaates nicht vereinbar. Das Ziel „freundschaftliche Beziehungen“ weist Kant mit kompromißloser Klarheit zurück. Nicht, daß er freundschaftliche Beziehungen ablehnte, im Gegenteil rühmt er die Freundschaft als ein „Ideal“ und als „ehrenvolle Pflicht“. Nur gehört sie zur verdienstlichen Moral, also in die Tugendlehre (§§ 46–47), nicht zur geschuldeten Moral der Rechtslehre. Mit Nachdruck erklärt der Dritte Definitivartikel zunächst, daß „nicht von Philanthropie“ (nach Tugendlehre, § 47, die anspruchslosere Schwester der Freundschaft), „sondern vom Recht die Rede“ ist. Sodann nennt er als Recht den Anspruch, „nicht feindselig behandelt zu werden“ (357 f.). Und diesen Anspruch kann man nicht wie den Völkerbund zum negativen Surrogat erklären, zu jenem zweitbesten Weg, den einschlägt, wer den besseren Weg als nicht gangbar vorfindet. Als das einzige, worauf man Anspruch hat, ist die NichtFeindseligkeit selber schon der bessere Weg. Der dritte Artikel selbst behandelt zwar nicht die Beziehung der Staaten zueinander, sondern die von Individuen zu fremden Staaten. Die beiden Aussagen – „nicht Philanthropie, sondern Recht“ und „lediglich nicht feindselig“ – bilden aber ein Leitmotiv, das sich durch die ganze Schrift zieht; Kant sagt selber: „hier wie in den vorigen Artikeln“ (357, 22). Im übrigen sprechen für diese Position gute Gründe. Einwenden könnte man zwar, wo es an Freundschaft fehle, steige die Gefahr von Gewalttätigkeit; die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen gehöre daher zur Friedensprophylaxe hinzu. Die Frage, wieweit es tatsächlich zutrifft, kann aber nur die Erfahrung entscheiden, und diese bietet nicht bloß positive Belege: wo Freundschaften zerbrechen, kann sich die Abneigung rasch bis zum Haß steigern. Noch wichtiger ist ein anderes Argument. Bevor sich eine Beziehung zur Freundschaft entwickelt, muß sie ohnehin leisten, was die eigentliche Friedensprophylaxe ausmacht: man muß den anderen in seinem Eigenwert und in seiner Andersartigkeit respektieren. Dieser Respekt verhindert auch, daß dort, wo Freundschaften zerbrechen, Gewalt droht. Diesen, aber auch lediglich diesen Respekt können die Staaten in dem Sinn vonein-

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ander verlangen, daß ein zwangsbewehrter Völkerstaat hier seine Zwangsmittel einsetzt. Mit derartigen Einwänden gegen weitergehende Kompetenzen wird nicht etwa bestritten, daß Menschen, die einander in Liebe und Freundschaft begegnen, glücklicher als andere sind. Aber dieses Glück reicht über das, was die Menschen einander schulden, hinaus. Außerdem setzt es etwas voraus, auf das man zwar hinarbeiten, das man aber nicht willentlich herbeiführen kann; es verlangt eine weitgehende Harmonie von Interessen und wechselseitiger Wertschätzung. Man kann die Freundschaft zwar anspruchsloser definieren, so daß man auf sie durchaus hinarbeiten kann. Dann sind aber immer noch nicht die Vereinten Nationen dafür zuständig. Die Aufgabe ist vielmehr „von unten“, von den betreffenden Völkern selber, zu erfüllen. Und jene Globalität von Freundschaft, für die sich die Vereinten Nationen verantwortlich fühlen müßten, ist nicht zu erwarten, wenn selbst eine viel kleinere Einheit, eine Einheit zudem, die in einer langen Geschichte zahlreiche wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Gemeinsamkeiten geerbt hat, wenn selbst die Europäische Union nicht auf der Freundschaft jedes Staates mit jedem anderen aufbaut. Im übrigen gibt es auch unter befreundeten Völkern Konflikte. Diese werden vielleicht in freundschaftlicher Atmosphäre, in der Sache aber gemäß bestehenden Rechtstiteln und politischem Geschick gelöst. Kurz: Die Gesamtheit aller Staaten kann sich nicht auf Freundschaft, sondern bestenfalls auf ein freundschaftliches Zeremoniell verständigen. Und dafür müssen sich die Vereinten Nationen nicht zuständig erklären. Kritikwürdig ist an der zweiten Aufgabe der Vereinten Nationen nicht bloß der anspruchsvollere Teil, „die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen“. Ebenfalls kritikwürdig ist das bescheidenere Teilziel, die „Förderung der internationalen Zusammenarbeit“. Im Unterschied zur Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen handelt es sich zwar um ein ersichtlich sinnvolles Ziel internationaler Politik. Da es für die Zusammenarbeit aber keine rechtsmoralische Pflicht gibt, die über die Gewaltverhütung hinausreicht, da im Gegenteil jeder Staat zu dem berechtigt ist, was der Dritte Definitivartikel auch besagt, nämlich die Kooperation zu verweigern, hat eine zwangsbefugte Weltorganisation hier keine Kompetenzen. Außerdem könnte, wie Rousseau glaubt, in der Nichtkooperation die bessere Friedensprophylaxe liegen, so daß dem Friedensbund hier einmal mehr Neutralität geboten ist. Kritikwürdig ist die dritte Aufgabe, die sich die Vereinten Nationen stellen, die Förderung des sozialen Fortschritts und besserer Lebensbedingungen bei größerer Freiheit. So sinnvoll ein Ziel ist, das man als internationale Sozial- und Wohlfahrtsstaatlichkeit bezeichnen kann, so wenig kann man behaupten, daß sogenannte Entwicklungsdefizite den entscheidenden Grund für Kriege abgeben. Schon deshalb gehört diese Aufgabe nicht zur unmittelbaren Friedensprophylaxe; im Kompetenzbereich einer bloß sekundärstaatlichen Weltorganisation liegt sie allenfalls aus

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einem anderen Grund (siehe unten Kapitel 12.4 [2]). Ohnehin „produzieren“ bislang die Vereinten Nationen hier nur Dokumente ohne eine Durchsetzungsmacht. Außerdem kommen die entscheidenden Impulse zur entsprechenden Weiterentwicklung von Staatsaufgaben, der Druck zu (mehr) Sozialstaatlichkeit und zum Umweltschutz, von anderer Seite. Und soweit die Vereinten Nationen doch Impulse abgeben, erfreuen sie sich keiner übergeordneten Bedeutsamkeit; die Weltorganisation ist bestenfalls eine Instanz neben und unter vielen anderen. Weil die beiden anderen Aufgaben zurückzuweisen sind, verbleibt einem Sekundärstaat nur die erste Aufgabe der Vereinten Nationen, und selbst für sie gilt eine restriktive Interpretation. Den internationalen Schutz verdienen nicht, zumindest nicht in erster Linie die Individuen selbst, auch nicht die Gruppen, sondern lediglich die Einheiten, die noch im Naturzustand miteinander leben, eben die Einzelstaaten. Als Staaten-Individuen dürfen sie tun und lassen, was sie wollen – vorausgesetzt, sie greifen nicht in die Rechte der anderen Staaten-Individuen ein. Auf ein derartiges Handeln haben sie sogar ein angeborenes Recht, einen rechtsmoralischen Anspruch. Damit tut sich ein neues Menschenrecht auf, neu freilich nicht im Inhalt, sondern hinsichtlich des Trägers. Das Menschenrecht kommt Staaten zu und hat, ebenso klar wie eng umgrenzt, im wesentlichen zwei Teile. Wie Individuen, so haben auch Staaten einerseits ein Recht auf Leib und Leben sowie auf Eigentum, hier vor allem auf territoriale Unversehrtheit; andererseits haben sie ein Recht sowohl auf politische wie kulturelle Selbstbestimmung. Gerade weil die Primärstaaten, die Einzelstaaten, Mehraufgaben zu erfüllen haben, steht dem Sekundärstaat, der Weltrepublik, nur eine extrem minimale Staatlichkeit zu. Um auf Kants Trias von Optionen zurückzukommen: Ein sinnvolles, wahrscheinlich sogar ein notwendiges Zwischenziel ist die erste Option, der Staatenbund bzw. ultraminimale Weltstaat (UMWS). Als Leitziel taugt er aber nicht, da jede Staatlichkeit fehlt. Die dritte Option, die des globalen Einheitsstaates (HWS), entfällt dagegen, weil er sich zuviel an Staatlichkeit anmaßt. Die verbleibende Option, der Völkerstaat, hat zwar einen Staatscharakter, dessen Staatsaufgabe aber auf die genannte Restaufgabe eingeschränkt ist. Er wird zu jenem extrem minimalen Weltstaat (EMWS), zu dessen Gunsten äußerst wenige Souveränitätsverzichte erforderlich sind; außer den genannten zwei Staatsaufgaben verbleiben alle anderen Kompetenzen bei den Einzelstaaten. Da diese die Primärstaaten bilden, treten sie von sich aus gewisse Kompetenzen ab, und darin liegt das internationale Pendant zum einzelstaatlichen Begriff der Volkssouveränität: Alle Gewalt des Völkerstaats geht von dem aus, was hier das Staatsvolk ausmacht, der Gemeinschaft der Einzelstaaten. Diese verzichten – was nur in voller Freiwilligkeit geschehen darf – auf einen minimalen Teil ihrer Souveränität. Der Völkerstaat, wenn es ihn denn geben soll, trägt für die Sicherheit und das Selbstbestimmungsrecht der Einzelstaaten Sorge und für nichts

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sonst. Ihm gebührt zwar keine partielle, sondern die volle Souveränität, allerdings eingeschränkt auf diesen minimalen Kompetenzbereich, auf die zwischenstaatlichen und nicht die innerstaatlichen Konflikte.

12.4 Globalisten kontra Kommunitaristen In den theoretischen Debatten, die heute zum Themenfeld Weltorganisation – Weltstaat geführt werden, tauchen zu Kant vor allem zwei Gegenpositionen auf, die man als Globalismus und als Kommunitarismus bezeichnet. Der Globalismus (z. B. Beitz 1979 und 1983 und Pogge 1989, Kap. 6) votiert für einen primärstaatlichen, die originären Rechte von Einzelstaaten negierenden Weltstaat, während der Kommunitarismus jede Weltstaatlichkeit scharf ablehnt und für die Existenz von klar gegeneinander abgegrenzten, autonomen Staaten votiert. Beide Positionen sind übrigens nicht so originell, wie sie erscheinen. Radbruch beispielsweise diskutiert sie in seiner Rechtsphilosophie (31932), im § 28 „Das Völkerrecht“. Und ihm gelingt schon dort, den planen Gegensatz aufzuheben. Anstelle der Alternative, entweder einen Universalstaat als einen nationalitätslosen Menschheitsstaat zu schaffen oder aber lediglich nationale (sprich: einzelstaatliche) Gemeinschaften zuzulassen, da sie allein kulturschöpferisch seien, vertritt er den Gedanken von „souveränen Nationalstaaten, zusammengeschlossen durch Völkerrecht und Völkerbund“. Mit dem Argument, Einzelstaaten haben nur eine abgeleitete („derivative“) Bedeutsamkeit, ein primordiales Recht komme nur (natürlichen) Personen zu (Beitz 1979, 53, 181 f. u . ö. ), erkennt der Globalist die Existenz von Einzelstaaten nur als Durchgangsstufe an. Auf Dauer verlieren sie ihren Charakter als originäre Rechtseinheiten und geben ihr Gewaltmonopol an einen Weltstaat ab. Gegen diese Ansicht spricht aber das rechtsmoralische Argument, daß den Einzelstaaten legitime (Selbstbestimmungs‐)Rechte entzogen werden. Aus dem primordialen Recht der Personen folgt ihr Recht, sich in Einzelstaaten zu organisieren. Seine Grenze findet dieses Recht nur im entsprechenden Recht der anderen Personengruppen und der ihnen zugehörigen Einzelstaaten. Für diese Grenze, aber auch nur für diese Grenze, das heißt für einschlägige zwischenstaatliche Rechtskonflikte, ist ein Weltstaat zuständig. Als ein weiteres Argument zugunsten des Weltstaates gilt der Umstand, daß die derzeit gegebenen Staaten sich in vielen Fällen sehr zufälligen Entwicklungen verdankten und nicht wenige davon bis heute auf den Widerstand von Betroffenen stießen. Mit der nötigen Einschränkung, daß es auch die Zufriedenheit mit dem eigenen Staatsverband, daß es also Gegenbeispiele gibt, ist der deskriptive Anteil des Hinweises richtig, aus ihm folgt aber lediglich ein (hier immer: rechtsmoralisches) Recht, entsprechende Staatsverbände einer Revision zu unterziehen. Einen morali-

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schen Selbstzweck – das ist dem Globalisten problemlos einzuräumen – haben die bestehenden Einzelstaaten nicht. Die Ablehnung eines moralischen Selbstzwecks von Einzelstaaten ergibt aber noch nicht das Recht, alle Einzelstaaten zugunsten eines Weltstaates schlicht einzuschmelzen, einschließlich all jener Staaten, die sich einer überwältigenden Zustimmung ihrer Bürger erfreuen. Geht man mit entsprechender Behutsamkeit vor und verzichtet insbesondere auf Gewalt, so werfen staatliche Neugruppierungen in rechtsmoralischer Hinsicht keine prinzipiellen Probleme auf. Zulässig ist beispielsweise: daß ein Teil des Kantons Bern sich als eigener Kanton Jura konstituiert; daß die Sowjetunion in Nachfolgestaaten sich teilt; daß gewisse europäische Staaten sich zu einer Union zusammenschließen. Eine Pflicht dagegen, adressiert an jeden Einzelstaat, sich als Einzelstaat aufzulösen, läßt sich nicht entdecken. Im Gegenteil verletzt, wer die Einzelstaaten gegen ihren Widerstand auflöst, das Grundprinzip einer Friedensordnung, die kompromißund ausnahmslose Ächtung von Gewalt. Dieses Argument gegen den homogenen Weltstaat ist übrigens universalistisch. Es setzt sich gegen die kommunitaristische Kritik des Universalismus ab und weist die beliebte Alternative – angeblich universalistischer Globalismus oder aber kommunitaristische Ablehnung globaler Regelungen – als eine unangemessene Vereinfachung aus. Ein drittes globalistisches Argument (Beitz 1979, Kap. 7) zieht die Analogie von Individuen und Staaten in Zweifel. Beitz’ Hinweise, gewonnen aus einer Interpretation des einschlägigen Kapitels 13 von Hobbes’ Leviathan, überzeugen freilich nicht. Nach Beitz’ Ansicht stehen Koalitionen im Naturzustand nur den Individuen offen, tatsächlich können Staaten sie ebenso eingehen. Auch gibt es zwar beträchtliche Machtunterschiede – wie unter Individuen ebenfalls –; aber kein Staat dürfte so schwach sein, daß er nicht imstande ist, wie Hobbes sagt, „durch List oder in Verbindung mit anderen“ auch den stärksten, wenn nicht zu töten, so doch zumindest bedrohlich zu gefährden. Und gegeben den Fall, daß sich doch ein Staat einer überragenden Übermacht über alle anderen Staaten erfreut, so wird er auf seine Überlegenheit nicht verzichten. Beitz deutet diese Möglichkeit für die USA an, denkt insofern an eine weltweite Pax Americana. Die Alternative zu Kants positiver Idee, ein alle Staaten umfassender und sie zugleich in ihrer Staatlichkeit kräftig entmachtender homogener Weltstaat, nähme also jene Gestalt einer Universalmonarchie ein, von der Kant zu Recht die Gefahr der Despotie und die der Unregierbarkeit fürchtet (s. Kap. 6). Gegen den homogenen Weltstaat sprechen nicht nur die beiden rechtsmoralischen Argumente (Eingriff in die Menschenrechte von Staaten und Despotiegefahr) und das rechtspragmatische Argument der Gefahr der Unregierbarkeit. Übersehen darf man auch nicht, daß im Vergleich zu den Vereinten Nationen die Realisierungschance noch weit geringer ist. Wer sich nicht einmal zu geringeren Souveränitätsverzichten

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für die Vereinten Nationen bereit erklärt, ist zweifelsohne zu den weit größeren Verzichten zugunsten eines Weltstaates nicht willens. Ebensowenig wie der Globalismus überzeugt der Kommunitarismus. Weil ihm zufolge moralische Grundsätze, selbst Gerechtigkeitsprinzipien, nur innerhalb einer (politischen) Gemeinschaft Bedeutung erlangen, lehnt er jede universalistische Moral ab und in diesem Zusammenhang auch den Gedanken einer Weltstaatlichkeit (vgl. Walzer 1989, 2. Vorl.). Weder Walzers (1983, 319) Wort „Gute Zäune garantieren gerechte Gesellschaften“ noch die Erinnerung an das Carl-Schmitt-Wort, die Staatenwelt sei kein Universum, sondern ein Pluriversum, können die Argumente zugunsten eines extrem minimalen Weltstaates entkräften. In zwei wichtigen Hinsichten stimmt allerdings ein Kantischer Begriff internationaler Gerechtigkeit mit dem Kommunitarismus überein, genauer gesagt: folgt der Kommunitarismus Kant. Erstens verteidigt schon Kant das Recht von Einzelstaaten, sind sie doch der primäre Garant des Rechts. Zweitens stellt Kant nicht in Frage, daß der Mensch eine Identität braucht, daß dafür eine bestimmte „Kultur“ (Sprache, Religion, Mentalität, …) unverzichtbar ist und daß für die entsprechende Aufgabe, Zugehörigkeiten bzw. Tiefenbindungen zu stiften, der Einzelstaat durchaus Chancen bietet. Allerdings hat er hier kein Exklusivrecht, ist vielmehr nur eine Instanz unter anderen. Um nur ein Beispiel für die Notwendigkeit einer bestimmten Kultur zu nennen: Kein Mensch verfügt über Sprachkompetenz, es sei denn, er beherrscht eine wohldefinierte Sprache; selbst eine Zweioder Dreisprachigkeit ist eine bestimmte: der eine beherrscht Flämisch und Französisch, der andere Deutsch, Englisch und Französisch usw. Dieser Umstand bekräftigt nun das Recht einer Gruppe, sich in einer wohlbestimmten Rechts- und Staatsordnung zusammenzuschließen. Die kommunitaristische Ablehnung von jederart Universalismus geht aber weiter. In unserem Zusammenhang ist ihr mindestens dreierlei entgegenzuhalten. (Daß die Kommunitaristen generell zu wenig unterscheiden zwischen der – universalistischen – Begründung einer Moral und ihrem – sozialen, „kommunitaristischen“ – Lernen, bleibt hier außer Betracht.) Erstens trennen die Kommunitaristen nicht deutlich genug weiterreichende Moralvorstellungen von einem Kern an Gerechtigkeit, der von allen uns bekannten Kulturen gleicherweise anerkannt wird. Zu diesem gemeinsamen Erbe der gesamten Menschheit, zu jener schon im empirischen Sinn nicht regional, sondern universal gültigen Gerechtigkeit, die es tatsächlich erlaubt, die gesamte Menschheit als eine moralische Gemeinschaft zu begreifen, gehören sowohl der Gedanke der Unparteilichkeit und die ihm dienenden Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit als auch jene Anerkennung von Rechtsgütern wie Leib und Leben, Eigentum, guter Name …, die sich im entsprechenden Strafrecht seit dem alten Orient so gut wie allerorten nachweisen lassen. Zweitens beachten sie nicht hinreichend, daß es nun einmal viele Staaten gibt. Deren Koexistenz steht also ohnehin auf der politischen Agenda. Und da auch die einzelnen

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Staaten diese Koexistenz lieber von Frieden und Recht als von Gewalt geprägt sehen, können sich die Kommunitaristen der von Kant gestellten Aufgabe nicht entziehen, auch nicht Kants drei Optionen. Und da sie nach ihrem Ansatz den globalen („universalen“) Weltstaat ablehnen, bleiben ihnen dieselben beiden Optionen übrig, die wir bei Kant – in der Rangfolge von „positiver Idee“ und „negativem Surrogat“ – finden. Gewiß, Kants Fünften Präliminarartikel, das Verbot, „sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einzumischen“ (346), erkennen sie an. Sie sehen aber nicht, daß es Instanzen der Durchsetzung dieses Gebotes, also eine gewisse Weltstaatlichkeit braucht. Daß sich die Kommunitaristen trotzdem diesem Projekt nicht öffnen, dürfte – drittens – einmal mehr in einem mangelnden Differenzierungsvermögen liegen. Auf globaler Ebene sehen sie im wesentlichen nur die Option einer Kosmopolis, den homogenen Weltstaat, und lehnen eigentlich nur mangels einer Berücksichtigung valabler Alternativen jederart Weltstaatlichkeit ab. Schon die kurze Auseinandersetzung mit Globalisten und Kommunitaristen zeigt, daß sie in der einfachen Alternative denken „entweder Weltstaat oder Einzelstaaten“. Beiden Seiten fehlt die in den drei Definitivartikeln zutage tretende Fähigkeit Kants, einen mehrstufigen Staatsbegriff zu entwickeln, die volle Autonomie nach innen mit einer begrenzten Autonomie nach außen zu verbinden und auf diese Weise den Gedanken einer staatlich organisierten, genauer: republikanisch verfaßten Gemeinschaft von Einzelstaaten, bzw. den einer Staatenrepublik, zu bilden. Kurz: Nicht nur im Verhältnis zur gegenwärtigen politischen Praxis, den real existierenden Vereinten Nationen, erweist sich Kants Grundgedanke als plausibler, sondern auch im Vergleich zur politischen Theorie. (Von Kants Problembewußtsein inspiriert sind etwa Carson 1988 und Rawls 1993.)

12.5 Politische Konsequenzen Für die Politik der Vereinten Nationen ergeben sich einige Gesichtspunkte, die abschließend in aller Vorläufigkeit skizziert seien: 1) Um seinen Zweck zu erreichen, den sekundären, nämlich bloß zwischenstaatlichen Rechtsschutz, braucht der Friedensbund hinreichend starke öffentliche Gewalten. Aus diesem Grund ist die entsprechende Macht der Vereinten Nationen so zu stärken, daß sie zu einem „Schwert des Friedens“ wird. Legitim ist die Stärkung allerdings nur unter der strengen Bedingung, daß der primäre, innerstaatliche Rechtsschutz nicht gefährdet werden darf. Und jeder Einzelstaat ist für diese Bedingung vor seinen Bürgern verantwortlich; wenn er sich auf Souveränitätsverzichte ohne entsprechende Sicherheit einläßt, so verletzt er seine rechtsmoralische Aufgabe. Wer das Schwert des Friedens führen will, muß als weitere Bedingung die

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elementaren Grundsätze von Rechtstaatlichkeit erfüllen. Das Prinzip der Gleichbehandlung verbietet zum Beispiel, gegen Annexionen selektiv vorzugehen; die bisherige Praxis, daß – aus welchen Machtoder Interessengründen auch immer – gewisse Annexionen toleriert werden, andere nicht, darf es dann nicht mehr geben. Hier wie andernorts ist der hohe Anspruch, dem Gerichte unterworfen sind, sicherzustellen: jene Unparteilichkeit oder Objektivität, die selbst der Moralkritiker Nietzsche zu rühmen weiß, spricht er doch von einem „Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden“ (Zur Genealogie der Moral 2. Abh., Nr. 11). Außerdem ist die Fortbildung der öffentlichen Gewalten an mehr Bescheidenheit in ihren Kompetenzen zurückzubinden. Das scharfe Schwert darf tatsächlich nur für den Frieden geführt werden. Dabei liegt erneut ein strenges Junktim vor; nur bei erheblich eingeschränkten Zuständigkeiten ist deren staatsförmige Wahrnehmung legitim. Ferner darf man die klare Gewaltenteilung nicht vergessen. Nicht zuletzt bedarf es jener Funktionsbedingung für Demokratie, die schon in Europa und noch mehr im globalen Maßstab fehlt: vonnöten ist das Bestehen einer politischen Öffentlichkeit. Ein anderes Problem: Hat auf der globalen Ebene tatsächlich der extrem minimale Staat das letzte Wort? Eine erste Antwort ist leicht; als Ergänzung ist die korrektive Gerechtigkeit jederzeit geboten. Dafür gibt es zwei Grundformen: (a) Das in der Vergangenheit geübte Unrecht verlangt nach Ausgleich, allerdings nicht pauschal. Nur ein Beispiel: Sofern im Zuge der Kolonialisierung ein langfristig wirksames Unrecht geschehen ist – durch ökonomische Monokulturen, durch mangelnde Bildungschancen für die Eingeborenen usw. –, schuldet den fälligen Ausgleich nicht eine vage „Weltgemeinschaft“, sondern die betreffende Kolonialherrschaft: in Indien und anderswo Großbritannien, in Südamerika Spanien und Portugal, in Indonesien die Niederlande, in Afrika Briten, Franzosen, Belgier usw. – (b) Bei kollektiv vorteilhaften Entwicklungen – z. B. der Industrialisierung –, die nicht auch distributiv allen zugute kommen, verdienen jene, die per Saldo geschädigt werden, eine Entschädigung. Bei einem dritten Bereich halte ich die positive Antwort für bedenklich. Ist es wirklich legitim, daß man mit dem Argument einer gewissen Chancengleichheit von einem Staat mehr Sozialstaatlichkeit einfordern darf, damit er nicht dank geringer Lohngesamtkosten die Erwerbszweige anderer Staaten ruiniert? So berechtigt das entsprechende Interesse ist – es läßt sich erstens schon durch andere, traditionelle Mittel wie Einfuhrzölle und Einfuhrbegrenzungen erreichen. Zweitens läuft ein derartiger Zwang auf eine subtile Fortsetzung von Imperialismus hinaus; den ärmeren und weniger industrialisierten Staaten wird eine der Chancen genommen, mit den reicheren Staaten zu konkurrieren. Nicht zuletzt

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müßten die Industriestaaten im Gegenzug jene Entwicklungsvorsprünge eindämmen, die die Chancen der anderen Staaten nachzuziehen, schmälern. Die Moral, die für die internationale Koexistenz zuständig ist, besteht aus mehr als lediglich der Gerechtigkeit. Die Menschlichkeit gebietet, der Gerechtigkeit das Salz der Liebe beizumischen und Mitleid bzw. Hilfsbereitschaft und Solidarität, selbst Großzügigkeit walten zu lassen. Dafür verantwortlich ist aber nicht ein Weltstaat. Die vielfältige Hilfe, die von der Caritas verlangt ist und von den zahlreichen Hilfswerken auch geleistet wird, bedarf durchaus der Koordination. Diese gehört aber nicht in den Rahmen einer sanktionsbewehrten Weltorganisation. Man könnte hier von einer neuartigen Gewaltenteilung sprechen. Von der Fülle internationaler Aufgaben billigt sie einen Völkerstaat nur den genannten sehr kleinen Teil zu. Auch „humanitäre Interventionen“ wären eher einer internationalen Hilfsorganisation als dem Völkerstaat zuzuordnen. Keinesfalls dürfen die Vereinten Nationen zu einem internationalen Universalinstrument, einer „Allzweckwaffe“, werden. In einer wichtigen Hinsicht verhalten sich Staaten doch nicht wie Individuen, setzen sie sich doch aus Individuen und Gruppen zusammen. Die Gerechtigkeit verbietet keinem Individuum, Hand an sich zu legen; die Selbsttötung mag eine Pflicht gegen sich verletzen, rechtsmoralisch verboten ist sie nicht. Im Fall der internationalen Rechtsgemeinschaft sieht es nun anders aus. Wenn ein StaatenIndividuum Hand an sich legt, dann geschieht nicht etwa eine kollektive Selbsttötung, vielmehr tötet die eine Gruppe die andere. Da Fremdtötung illegitim ist, kann es dem Völkerstaat nicht geboten sein, schlechthin jedes innerstaatliche Massaker zu tolerieren. Hier taucht ein Recht auf politische Interventionen gegen Genozide auf. Das Recht besteht um so mehr dort, wo in einem Staat Gruppen leben, denen das Lebensrecht abgesprochen wird oder die diesen Staat als den ihren nicht anerkennen. Freilich gibt ein Massaker erst Anlaß, über einen Eingriff in einzelstaatliche Souveränität nachzudenken; denn im konkreten Fall sind Abgrenzungsfragen entscheidend: Bei welchem Maß an Unrecht darf man von außen eingreifen: erst bei drohendem Genozid oder schon bei Sklaverei und Menschenhandel oder sogar schon bei Rassendiskriminierung? Nach welchen Vorwarnungen darf man eingreifen; mit welchen Risiken, neue Opfer zu schaffen usw.? Diese Zusatzfragen verweisen auf ein neues Thema, das der antiken Ethik wohlvertraut ist, von der Philosophie der Neuzeit jedoch vernachlässigt wird – freilich nicht von dem für unser Thema wichtigsten klassischen Text, von Kants Friedensschrift (vgl. die lex permissiva des 1. Abschnitts und den zweiteiligen Anhang); ich meine eine Theorie politischer Urteilskraft. Und eine umfassende Theorie erlaubt, zwei gegen Gerechtigkeitsvertreter beliebte Vorwürfe zu entkräften, sowohl den Vorwurf der moralischen Überheblichkeit als auch den der politi-

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schen Ahnungslosigkeit. Wer Urteilskraft besitzt, weiß nämlich, daß die Moral nur Prinzipien vorgibt, keine konkreten Handlungsrezepte. Mindestens bei einem Bereich sind die Zuständigkeiten zu erweitern, bei dem der Unverletzlichkeit von Territorien. Bislang traditionell interpretiert, rechnet man zu den Übergriffen auf ein fremdes Territorium noch zu wenig die ökologischen Belastungen von Nachbarn; in Wahrheit findet auch dabei, etwa bei grenzüberschreitender Luft- und Gewässerverschmutzung, ein Übergriff statt. Und auf Dauer wird man den Begriff ökologischer Belastung sogar so weit fassen müssen, daß er ökologische Gefährdungen einschließt. Daß sich schwierige Anschlußfragen aufdrängen – Fragen nach der Abgrenzung, nach der Überprüfung usw. –, daß also erneut die Urteilskraft gefordert ist, liegt auf der Hand, ebenso aber, daß den Anschlußfragen nicht das Gewicht eines grundsätzlichen Gegenargumentes zukommt. Zum Schluß sei an einen Standardvorwurf erinnert, der seit Hegel erhoben wird, den des bloßen Sollens. Bestätigt der Gedanke einer extrem minimalen Weltrepublik diesen Vorwurf? Die Fortschritte der internationalen Gewaltverhütung, ihr Schneckentempo, scheinen Hegel recht zu geben. Über den Defiziten darf man aber nicht übersehen, daß sich das bloße Neben- und Gegeneinader der Staaten längst in ein dichtes Netz von Verträgen transformiert hat. Ein Großteil von ihnen entspricht der vorstaatlichen Idee einer freien Assoziation; aus dem Singular ist allerdings ein Plural geworden, eine sowohl regional wie thematisch komplexe Vielfalt. Eine gemeinsame Staatsmacht zeichnet sich dabei nicht im entferntesten ab. Trotzdem findet dort, wo internationale Inspektionen vorgesehen sind, fast unmerklich gewiß, aber eben doch, ein einzelstaatlicher Souveränitätsverlust statt. Erweitert wird dieses erste Element einer supranationalen Staatlichkeit, sobald man zusätzlich internationale Schiedsinstanzen oder Gerichtshöfe einrichtet. Und unübersehbar ist die supranationale Staatlichkeit, sobald die Gerichtsentscheide irgendeine Durchsetzungsmacht erhalten. Die Interpretation dieser Lage erleichtern zwei Begriffe von Utopie. Die Staatenrepublik ist heute keine schwärmerische Utopie des grundsätzlichen Nirgendwo; sie ist eine Utopie des Noch-Nicht: ein politisches Ideal, dessen Verwirklichung nicht nur rechtsmoralisch geboten ist, zu der wir auch schon realiter unterwegs sind. Deshalb diese Schlußbemerkung: Die erste republikanische „Revolution“ hat zur Bildung einzelstaatlicher Republiken geführt. Die noch aufgegebene zweite republikanische Revolution, jene, die eine (sekundärstaatliche) Weltrepublik intendiert, realisiert man nicht notwendigerweise durch einen einmaligen Rechtsakt und in Form einer den Einzelstaaten nachgebildeten homogenen Staatlichkeit. Schon gar nicht ist ein globaler Zentralstaat gefragt. (In weiser Vorsicht, freilich auch Unbestimmtheit spricht Rawls – 1993, 61 –

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von nicht mehr als einem „federative center“, einem föderativen Zentrum.) Eher empfiehlt es sich, die Konfliktbereiche Thema für Thema, also in vielen kleinen Schritten, in durchsetzungsfähige Rechtsgestalten zu überführen. Eine Schlußthese in Form einer Vermutung: Vielleicht ist die republikanische Ordnung zwischen republikanisch verfaßten Staaten, die – immer: extrem minimalstaatliche – Weltrepublik, nichts anderes als der Inbegriff all dieser Rechtsgestalten.

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2 Kants Friedensschrift 2.1 Originalausgaben Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant. Königsberg, bey Friedrich Nicolovius. 1795. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant. Neue vermehrte Auflage. Königsberg, bey Friedrich Niolovius. 1796.

Auswahlbibliographie

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2.2 Editionen in Einzel- und Werkausgaben Maier, Heinrich (Hrsg.) 1912: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant. In: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 8: Abhandlungen nach 1871, Berlin, 341–386. (Paperback-Nachdruck: Berlin 1968.) Vorländer, Karl (Hrsg.) 1919: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Mit Ergänzungen aus Kants übrigen Schriften und einer ausführlichen Einleitung über die Entwicklung des Friedensgedankens. 2. Aufl., Leipzig. Weischedel, Wilhelm (Hrsg.) 1977: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant. In: Kant. Werke in zwölf Bänden. Bd. 11, Frankfurt/M., 191–251. Buhr, Manfred/Dietzsch, Steffen (Hrsg.) 1984: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1796–1800. Leipzig. Malter, Rudolf (Hrsg.) 1984: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Stuttgart. Klemme, Heiner F. (Hrsg.) 1992: Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis – Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Hamburg.

2.3 Weitere Stellen zu Kants Friedenskonzeption 1784: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 7. und 8. Satz (VIII 24–28) 1786: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (VIII 107–123) 1790: Kritik der Urteilskraft, § 83 (V 429–434) 1793: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 34); Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, III. (VIII 307–313) 1796: Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (VIII 411–422) 1797: Die Metaphysik der Sitten, §§ 53–62 und „Beschluß“ (VI 343–355) 1798: Der Streit der Fakultäten, 2. Abschnitt (VII 77–94)

2.4 Zeitgenössische Reaktionen auf Kants Schrift Wichtige Rezensionen und Dokumente finden sich in der Ausgabe von Buhr/Dietzsch 1984 (s. 2.2) und in den Textsammlungen Dietze/Dietze 1989 und Batscha/Saage 1978; eine Auflistung der Rezensionen in der Ausgabe von Klemme 1992 (2.2), S. LXVIII f. Batscha, Zwi/Saage, Richard (Hrsg.) 1979: Friedensutopien. Kant/Fichte/Schlegel/Görres. Frankfurt/M. Dietze, Anita/Dietze, Walter (Hrsg.) 1989: Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800. Leipzig/Weimar. Die wichtigsten Texte: Friedrich Schlegel (1796): Versuch über den Republikanismus. Veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden. In: Deutschland, hrsg. v. J. F. Reichardt, 3. Bd., 7. St., 10–41;

202

Auswahlbibliographie

wiederabgedruckt in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. E. Behler, Bd. 7, München/Paderborn/Wien 1966, 11–25. Johann Gottlieb Fichte (1796): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant. In: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, hrsg. v. F. I. Niethammer, 4. Bd., Heft 1, Neu-Strelitz, 81–92; wiederabgedruckt in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. R. Lauth u. H. Gliwitzky, Bd. I/3, Stuttgart/Bad Cannstatt 1966, 217–228. Johann Gottlieb Fichte (1797): Grundriss des Völker- und Weltbürgerrechts (= zweiter Anhang der Grundlagen des Naturrechts). Wiederabgedruckt in: J.-G.-Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. R. Lauth u. G. Gliwitzky, Bd. I/4, Stuttgart/Bad Cannstatt 1970, 151–165. Joseph Görres (1798): Der allgemeine Frieden, ein Ideal. Koblenz; wiederabgedruckt in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. W. Schellberg, Bd. 1: Politische Schriften der Frühzeit (1795–1800). Köln 1928, 11–63; auch in: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, hrsg. v. W. Frühwald, Bd. 1, Freiburg/Basel/Wien 1978, 3–78. Friedrich Gentz (1800): Über den Ewigen Frieden. In: Historisches Journal, hrsg. v. F. Gentz, 2. Jahrg. Bd. 3, Berlin, 711–790; Nachdruck: Nendeln 1972; auch in: K. v. Raumer: Ewiger Friede. Freiburg/München 1953, 461–497.

2.5 Literatur zu Kants Friedensschrift Neuere Bibliographien finden sich in den Ausgaben von Malter 1984, Klemme 1992 (s. 2.2) und in Cavallar 1992. Axinn, Sidney 1989: Kant on World Government. In: G. Funke/Th. M. Seebohm (Hrsg.): Proceedings of the Sixth International Kant Congress, Bd. II, 2, Washington, D. C., 243–251. Azouvi, François/Bourel, Dominique 1991: De Königsberg à Paris. La réception de Kant en France (1788–1804). Paris. Baumann, Hans 1950: Kants Stellung zu dem Problem von Krieg und Frieden. Eine rechts- und geschichtsphilosophische Studie. Diss. München. Bayerer, Wolfgang G. 1988: Das Königsberger Schlußblatt des Entwurfs Zum ewigen Frieden. In: KantStudien 79, 293–317. Berghahn, Klaus L. 1988: Utopie und Verantwortung in Kants Schrift Zum ewigen Frieden. In: W. Wittkowski (Hrsg.): Zur Literatur der Goethe-Zeit. Tübingen, 164–189. Brandt, Reinhard 1994: Historisch-kritische Beobachtungen zu Kants Friedensschrift. In: Politisches Denken. Jahrbuch 1994. Stuttgart/Weimar. Brown, Clifford W., Jr. 1970: Hobbes and Kant on Peace and War. Harvard University. Bruns, Thomas 1973: Kant et l’Europe. Etude critique de l’interprétation et de l’influence de la pensée internationaliste kantienne. Diss. Saarbrücken. Carson, Thomas 1988: Perpetual Peace: What Kant Should Have Said. In: Social Theory and Practice 14, 173–214. Cavallar, Georg 1992: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs Zum ewigen Frieden (1795) von Immanuel Kant. Wien/Köln/Weimar. Datschew, Georgi 1968: Das Problem Krieg – Frieden in der deutschen Philosophie – S. Franck, I. Kant. Diss. Berlin. Deggau, Hans-Georg 1983: Die Aporien der Rechtslehre Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt.

Auswahlbibliographie

203

Delnière, Jean 1980: K. Fr. Reinhard, introducteur de Kant auprès de Sieyès. In: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 12, 481–496. Denker, Rolf 1974: Kants Theorie des dreifachen Weges zum Weltfrieden – oder: Die Absichten der Natur in der Geschichte. In: E. Gerresheim (Hrsg.): Immanuel Kant 1724/1974. Kant als politischer Denker. Bonn- Bad Godesberg, 5–16. Dietzsch, Steffen 1990: Geschichte und Politik beim späten Kant: der Frieden in der Gesellschaft und die Souveränität der kritischen Vernunft. In ders.: Dimensionen der Transzendentalphilosophie. Studien zur Entwicklung der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie 1780–1810. Berlin, 59–83. Doyle, Michael W. 1983: Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs. In: Philosophy and Public Affairs 12, 205–235 u. 323–353. Ebbinghaus, Julius 1929: Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage. Tübingen; wiederabgedruckt in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. H. Oberer u. G. Geismann, Bonn 1986, 1–34. Ebbinghaus, Julius 1957: Die christliche und die kantische Lehre vom Weltfrieden. Wiederabgedruckt in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. v. G. Geismann u. H. Oberer, Bonn 1988, 23–34. Falk, Heinrich W. K. 1952: Kant’s Conception of Eternal Peace and its Influence during the Nineteenth Century. Diss. University of Southern California. Ferdinand, Hans-Michael 1987: „Einhelligkeit von Moral und Politik.“ Zu Kants kritischer Bestimmung des Friedens. Diss. Tübingen. Freudenberg, Günter 1969: Kants Lehre vom ewigen Frieden und ihre Bedeutung für die Friedensforschung. In: G. Picht/H. E. Tödt (Hrsg.): Studien zur Friedensforschung, Bd. 1, Stuttgart, 178–208. Friedrich, Carl Joachim 1962: L’essai sur la paix. Sa position centrale dans la philosophie morale de Kant. In: Annales de philosophie politique, Bd. 4: La philosophie politique de Kant. Paris, 139– 161. Friedrich, Carl Joachim 1963: Die Ideen der Charta der Vereinten Nationen und die Friedensphilosophie von Immanuel Kant. In ders.: Zur Theorie und Praxis der Verfassungsordnung. Ausgewählte Aufsätze. Heidelberg, 69–83. Gallie, Walter B. 1978: Philosophers of Peace and War. Kant, Clausewitz, Marx, Engels and Tolstoy. Cambridge. Gerhardt, Volker 1995: Eine Theorie der Politik. Immanuel Kants Entwurf Zum ewigen Frieden. Darmstadt. Geismann, Georg 1983: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 37, 363–388. Gerwin, Edgar 1976: Kant and the Idea of the Society of Nations. In: Laberge u. a. (Hrsg.): Actes du Congrès d’Ottawa sur Kant dans les traditions anglo-américaine et continentale. Ottawa, 525– 541. Goyard-Fabre, Simone 1982: Kant et l’idée de „Société des Nationes“. In: Dialogue 21, 693–712. Habermas, Jürgen 1968: Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral (Kant). In ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuaufl., Frankfurt/M. 1990, 178–195. Hancock, Roger Nelson 1974: Kant on War and Peace. In: G. Funke (Hrsg.): Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 2.2, Berlin/New York, 668–674. Hendel, Charles W. 1957: Freedom, Democracy, and Peace. In ders. (Hrsg.): The Philosophy of Kant and our Modern World. New York, 93–126.

204

Auswahlbibliographie

Hennigfeld, Jochen 1983: Der Friede als philosophisches Problem. Kants Schrift Zum ewigen Frieden. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8, Heft 2, 23–37. Höffe, Otfried 1995: „Die Republik freier verbündeter Völker“. In ders.: Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne. 3. Aufl. Frankfurt/M. Höffe, Otfried 2001: „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie. Frankfurt/M.; engl. Kant’s Cosmopolitan Theory of Law and Peace, übers. v. A. Newton. Cambridge 2006. Hoffmeister, Johannes 1934: Die Problematik des Völkerbundes bei Kant und Hegel. Tübingen. Hurrell, Andrew 1990: Kant and the Kantian Paradigm in International Relations. In: Review of International Studies 16, 183–205. Jaspers, Karl 1957: Kants Zum ewigen Frieden. Wiederabgedruckt in ders.: Aneignung und Polemik, hrsg. v. H. Saner, München 1968, 205–232. Jaspers, Karl 1958: Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Wiederabgedruckt in: a.a.O., 233–241. Kaulbach, Friedrich 1982: Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode. Würzburg. Kersting, Wolfgang 1993: Pax Kantiana. In ders.: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Neuaufl. Frankfurt/M., 67–87. Klemme, Heiner F. 1992: Einleitung. In: Klemme (Hrsg.) 1992 (s. 2.2), VII–LIII. Kraus, Herbert 1931: Das Problem internationaler Ordnung bei Immanuel Kant. Wiederabgedruckt in ders.: Internationale Gegenwartsfragen. Völkerrecht, Staatenethik, Internationalpolitik. Ausgewählte Schriften. Würzburg 1963, 158–229. Laberge, Pierre 1991: Kant et la Paix. In: G. Funke (Hrsg.): Akten des 7. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. 1. Bonn/Berlin, 190–212. Laberge, Pierre 1992: Das radikale Böse und der Völkerzustand. In: F. Ricken/F. Marty (Hrsg.): Kant über Religion. Stuttgart/Berlin/Köln, 112–123. Langer, Claudia 1986: Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants. Stuttgart. Lehmann, Gerhard 1955: Ein Reinschriftfragment zu Kants Abhandlung zum ewigen Frieden. Wiederabgedruckt in ders.: Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants. Berlin 1969, 51–66. Losurdo, Domenico 1987: Immanuel Kant. Freiheit, Recht und Revolution. Köln. Malter, Rudolf 1984: Nachwort. In: Malter (Hrsg.) 1984 (s. 2.2), 69–85. Mertens, Thomas 1955: Zweckmäßigkeit der Natur und politische Philosophie bei Kant. Erscheint in: Zeitschrift für philosophische Forschung 49. Müller, Wilhelm 1962: Kant und der Friede. Düsseldorf. Mulholland, Leslie A. 1987: Kant on War and International Justice. In: Kant-Studien 78, 25–41. Mulholland, Leslie A. 1990: Kant’s System of Rights. New York, Kap. 11. Nagl-Docekal, Herta 1984: Immanuel Kants Philosophie des Friedens und was die Friedensbewegung daraus gewinnen könnte. In: G. Heiss/H. Lutz (Hrsg.): Friedensbewegungen: Bedingungen und Wirkungen. Wien, 55–74. Natorp, Paul 1924: Kant über Krieg und Frieden. Ein geschichtsphilosophischer Essay. Erlangen. Nieschmidt, Gerd-Peter 1965: Praktische Vernunft und ewiger Friede. Eine Untersuchung zum Freiheitsbegriff in der Philosophie Kants. Diss. München. Philonenko, Alexis 1976: Kant et le problème de la paix. In ders.: Essais sur la philosophie de la guerre. Paris, 4–42.

Auswahlbibliographie

205

Picht, Georg 1971: Kants transzendentale Grundlegung des Völkerrechts. Ein Beitrag zur Friedensforschung. In: Aufrisse. Almanach des Ernst Klett Verlages 1946–1971. Stuttgart, 223– 279. Psychopedis, Kosmas 1980: Untersuchungen zur politischen Theorie von Immanuel Kant. Göttingen. Raumer, Kurt v. 1953: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. Freiburg i. B., Kap. 6. Riley, Patrick 1983: Kant’s Political Philosophy. Totowa, New Jersey. Ruiz, Alain 1980: A l’aube du kantisme en France. Sieyès, Karl Friedrich Reinhard et le traité Vers la paix perpétuelle. In: Cahiers d’Études Germaniques 4, 147–193. Saner, Hans 1967: Kants Weg vom Krieg zum Frieden. Bd. 1: Widerstreit und Einheit. Wege zu Kants politischem Denken. München. Schilpp, Paul A. 1972: Kant and the Problem of World Peace. In: J. W. Davis (Hrsg.): Value and Valuation. Axiological Studies in Honor of Robert S. Hartman. Knoxville, 167–181. Schmidt, Hajo 1985: Durch Reform zu Republik und Frieden? Zur politischen Philosophie Immanuel Kants. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 71, 297–318. Schneiders, Werner 1981: Philosophenkönige und königliche Völker. Modelle philosophischer Politik bei Platon und Kant. In: Filosofia Oggi 2, 165–175. Schwarz, Wolfgang 1988: Principles of Lawful Politics: Immanuel Kant’s Philosophie Draft Toward Eternal Peace. Aalen. Shell, Susan M. 1980: The Rights of Reason. A. Study of Kant’s Philosophy and Politics. Toronto/Bufallo/ London. Timm, Hermann 1969: Wer garantiert den Frieden? Über Kants Schrift Zum ewigen Frieden. In: G. Picht/H. Tödt (Hrsg.): Studien zur Friedensforschung. Bd. 1, Stuttgart, 209–239. Toyama, Yoshitaka 1973: Kants praktische Philosophie mit Rücksicht auf eine Theorie des Friedens. Hamburg. Verosta, Stephan 1980: Krieg und Angriffskrieg im Denken Kants. In: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht 31, 247–264. Vlachos, Georges 1962: La pensée politique de Kant. Métaphysique de l’ordre et dialectique du progrès. Paris. Vorländer, Karl 1919: Kant und der Gedanke des Völkerbundes. Mit einem Anhang: Kant und Wilson. Leipzig. Weil, Eric 21970: Problèmes Kantiens. Paris. Williams, Howard 1983: Kant’s Political Philosophy. Oxford. Zahn, Manfred 1990: Kants Theorie des Friedens und die Schwerpunkte der jüngeren Diskussion über sie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 38, 508–520.

3 Blick in die allgemeine Friedensdebatte Aron, Raymond 1962: Paix et guerre entre les nations. Paris; dt. Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. Frankfurt/M. 1963. Beitz, Charles R. 1979: Political Theory and International Relations. Princeton. – u. a. (Hrsg.) 1985: International Ethics. Princeton. Bernstein, Eduard 1917: Sozialdemokratische Völkerpolitik. Die Sozialdemokratie und die Frage Europa. Leipzig. Boxill, Bernard R. 1987: Global Equality and National Integrity. In: Social Philosophy and Policy 5, 143– 168.

206

Auswahlbibliographie

Czempiel, Ernst-Otto 1986: Friedensstrategien. Systemwandel durch Internationale Organisationen, Demokratisierung und Wirtschaft. Paderborn u. a. Doyle, Michael W. 1986: Liberalism and World Politics. In: American Political Science Review 80, 1151– 1169. Fetscher, Irving 1972: Modelle der Friedenssicherung. Mit einem Anhang: Marxistisch-Leninistische Friedenskonzeptionen. München. Galtung, Johan 1975: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek b. Hamburg. Galtung, Johan 1984: Es gibt Alternativen – Vier Wege zu Frieden und Sicherheit. Opladen. Gilbert, Alan 1992: Must Global Politics Constrain Democracy? Realism, Regimes, and Democratic Internationalism. In: Political Theory 20, 8–37. Höffe, Otfried 1993: Eine Weltrepublik als Minimalstaat. Moralische Grundsätze für eine internationale Rechtsgemeinschaft. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 1, 39–44. Hoffmann, Stanley 1981: Duties Beyond Borders: On the Limits and Possibilities of Ethical International Politics. Syracuse. Kadelbach, Stefan 1992: Zwingendes Völkerrecht. Berlin. Kaufmann, Arthur 1986: Gerechtigkeit – Der vergessene Weg zum Frieden. München/Zürich. Kautsky, Karl 1957: Sozialisten und Krieg. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des Sozialismus von den Hussitenkriegen bis zum Völkerbund. Prag. Kelsen, Hans 1944a: Peace through Law. Chapel Hill: Wiederabdruck: New York 1973. Kelsen, Hans 1944b: The Strategy of Peace. In: The American Journal of Sociology 49, 381–389. Krippendorf, Ekkehard 1985: Staat und Krieg. Frankfurt/M. Liebknecht, Karl 1907: Militarismus und Antimilitarismus. Leipzig. Meade, James E. 1940: Economic Basis of a Durable Peace. Oxford. Picht, Georg 1975: Zum Begriff des Friedens. In: M. Funke (Hrsg.): Friedensforschung – Entscheidungshilfe gegen Gewalt. München, 24–30. Rawls, John 1993: The Law of Peoples. In: Critical Inquiry 20, 36–68; auch in: S. Shute/S. Hurley (Hrsg.): On Human Rights. New York. 41–82 u. 220–230. Rittberger, Volker 1987: Zur Friedensfähigkeit von Demokratien. Betrachtungen zur politischen Theorie des Friedens. In: Aus Politik und Zeitgeschehen. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 37, B44, 3–12. Scheler, Max 21931: Die Idee des Friedens und der Pazifismus. Berlin; Neuauflage: Bern/München 1974. Schumpeter, Joseph A. 1919: Zur Soziologie der Imperialismen. Wiederabgedruckt in ders.: Aufsätze zur Soziologie. Tübingen 1953, 72–146. Senghaas, Dieter 1974: Gewalt – Konflikt – Frieden. Essays zur Friedensforschung, Hamburg. Walzer, Michael 1977: Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations. New York. Walzer, Michael 1989: Nation and Universe. In: The Tanner Lectures an Human Values 11, 507–556. Weizsäcker, Carl Friedrich v. 51977: Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung. 5. Aufl., München.

4 Nachträge zur Bibliographie Aus der seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Bandes (1995) ausufernden Literatur seien im Folgenden besonders wichtige Beiträge ausgewählt:

Auswahlbibliographie

207

Beutin, Wolfgang 1996: Zur Geschichte des Friedensgedankens seit Immanuel Kant. Hamburg. Blitz, Mark 2001: Basic Issues in Kant’s Moral and Political Thought. In: The Political Science Review (Wilmington 30), 103–119. Bialas, Volker/Hässler, Hans-Jürgen 1996: 200 Jahre Kants Entwurf „zum ewigen Frieden“. Idee einer globalen Friedensordnung. Würzburg. Bohmann, James/Bachmann, Matthias (Hrsg.) 1997: Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung. Frankfurt/M. Chavaller, Georg 1998: Annäherungen an den ewigen Frieden. Neuere Publikationen über Immanuel Kants Friedensschrift. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 46 (1), 137–143. Covell, Charles 1998: Kant and the Law of Peace: A Study in Philosophy of International Law and International Relations. New York. Doyle, Michael W. 1997: Ways of War and Peace. Realism, Liberalism, and Socialism. New York. Kaufmann, Mathias 2000: Kein ewiger Frieden für Kant. Ein Rückblick auf einige Literatur zu 200 Jahre Zum ewigen Frieden. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 25, 271–280. Kittsteiner, Heinz D. 1997: Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ in geschichtsphilosophischer Sicht. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 234–257. Merkel, Reinhard/Wittmann, Roland (Hrsg.) 1996: Zum ewigen Frieden. Über Grundlagen, Zustand und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt/M. Mertens, Thomas 1998: Moralische Kritik in Kants Friedensschrift. In Sythesis-Philosophica, 13 (1), 209– 218. Peron, Louis 1996: La Paix perpetuelle chez Kant: du devoir a l’esperance. In: De Philosophia, 1995– 1996, 12, 179–194. Pinnau, Ruth 2000: Immanuel Kant’s „Zum ewigen Frieden“. Pionier einer friedlichen Welt. Storck. Zenkert, Georg 1999: Politik als Friedensstrategie: Kants Entwurf zum ewigen Frieden in der Diskussion. In: Philosophische Rundschau, 42 (2), 97–115. Zenkert, Georg 2001: Kants Utopie des ewigen Friedens in der Topik der Politik. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2, 15–32.

Personenregister Achenwall, G. 51, 116 Adickes, E. 55 Adorno, Th. W. 17 Alexander der Große 5 Archer, C. 7 Aristoteles 5, 21, 72, 132, 181, 133 Augustinus 1, 7, 10, 21 Azouvi, E. 14 Bacon, F. 9, 133 Baumgarten, A. G. 51 Beitz, Ch. 191 f. Bellers, J. 27 Bentham, J. 16, 27, 28 Berkemann, J. 31 Besnier, J.-M. 116 Bien, G. 72, 132 Bitterli, U. 105 Bloch, E. 17 Bodi, L. 60 Bodin, J. 24 Boisguilbert, P. de 24, 27 Bossuet, J. B. 109 Bourel, D. 14 Brandes, E. 60 Brandt, R. 47, 49, 55, 99, 103, 104 Brilmayer, L. 161 Brucker, J. J. 99 Bull, H. 122 Burke, E. 16, 89, 99, 100 Campanella, T. 23 Campe, J. H. 60 Carso, Th. H. 194 Castel de Saint-Pierre. Ch. I. 7 Cavallar, G. 33–35, 37, 109, 132, 139 Chagall, M. 9 Chaunu, P. 7 Cicero 21, 22, 126, 132 Cloots, J. B. 29 Comenius, J. A. 6, 22 Conrad, H. 58

https://doi.org/10.1515/9783110782462-016

Coves, F. Crucé, E.

99 26

d’Alembert, J.-B. 28 Dann, O. 31 Dante Alighieri 7, 23, 180 Darjes, J. G. 51 Deggau, H.-G. 40 Descartes, R. 9, 133 Deudney, D. 175 Diderot, D. 28 Dietze, W. 7, 10, 15, 16, 31 Dietzsch, S. 14 Dikaiarch 132 Doyle, M. W. 91, 115, 116, 165, 169, 170, 181, 186 Dubois, P. 7, 23 Düsing, K. 110, 112 Ebert, Th. 49 Epstein, K. 58 Erasmus von Rotterdam Erhard, J. B. 14, 58

7, 8, 23, 70, 133

Fénelon, E. 122 Ferry, L. 118 Fichte, J. G. 15, 16, 41, 111, 116, 142, 147 Fischer, Ph. 161 Franck, S. 7, 8 Freudenberg, G. 32 Friedel, J. 60 Friedrich Wilhelm I. 44, 46 Friedrich Wilhelm II. 47 Garnham, D. 186 Garson, J. 161 Garve, Ch. 99, 100, 142, 146 Geismann, G. 32, 34, 35, 89 Gembruch, W. 44 Gentz, E v. 16, 58, 60 Gentz, F. 70, 99, 100 Georg von Podiebrad 7 Gerhardt, V. 125, 133, 135, 136 Gilbert, A. 70, 91

210

Personenregister

Görres, J. v. 15–17 Goya, F. J. de 97 Gregor, M. 116 Grewe, W. G. 80 Grieco, J. M. 123 Groß, F. 31 Grotius, H. 1, 23–25, 51, 80, 147, 182 Habermas, J. 17, 156 Hadrian 133 Hammond, N. G. 163 Hart, H. L. A. 17 Hegel, G. W. F. 16, 58, 70, 81, 100, 118, 148, 151, 156, 197 Heinrich IV. 6, 26 Hennings, A. v. 60 Herder, J. G. v. 29 Hinsley, F H. 165 Hippel, Th. V. 97 Hobbes, Th. 6, 24, 25, 64, 65, 83, 91, 97, 118, 133, 142, 145, 147, 192 Höffe, O. 10, 82, 93, 114, 118, 119, 179, 187 Hoffmann, St. 165 Horkheimer, M. 17 Huber, L. F. 14 Humboldt, W. v. 14, 16 Hume, D. 27, 114 Ikenberry, J. G.

175

Jachmann, R. B. 31 Jacobi, E. H. 59 Janssen, W. 7, 10 Joseph II. 58–60 Justi, J. H. G. v. 100 Kahn, P. 161 Karl V. 26 Katharina die Große 170 Kelsen, H. 17 Kepler, J. 33 Kiesewetter, J. G. K. Ch. 3, 14 Klein, E. F. 57, 58, 60 Kleinheyer, G. 59 Klemme, H. F. 31, 101, 113 Knutsen, T. 167 Krauss, W. 60

Kroener, B. Krug, W. T.

44 116

Laberge, P. 93, 111, 116 Langer, C. 136 Laursen, J. Ch. 125 Lebow, R. N. 164 Leibniz, G. W. 26, 28, 29, 33, 133 Lenin, W. I. 170 Leo X. 23 Livius 126 Locke, J. 6, 97, 133 Losurdo, D. 41 Ludwig XIV. 26, 170 Ludwig XVI. 121 Lukrez 55 Lundestad, G. 161 Luther, M. 23, 133 Mably, G. B. de 27 Machiavelli, N. 132, 147, 162, 165 Madison, J. 29 Maoz, Z. 170 Marcuse, H. 17 Mark Aurel 132, 133 Marsilius von Padua 7, 22 Marx, K. 89, 139 Maus, I. 67 Mearsheimer, J. 175 Melon, J. F. 24, 27 Mendelssohn, M. 34 Mereau, S. 14 Meulen, J. ter 7 Möller, H. 58 Montesquieu, Ch. de Secondat 70 Morgenbesser 58 Morus, Th. 11, 132 Mueller, J. E. 161 Mulholland, L. A. 111 Napoleon 91 Natorp, P. 134 Newton, I. 33 Nicolovius, E. 13, 14, 31 Nietzsche, F. 154, 195 Nikolaus von Kues 22 Numa Pompilius 126

Personenregister

O’Neill, O.

118

Paine, Th. 161, 162 Penn, W. 6, 26, 27 Perikles 163, 173 Philonenko, A. 118 Pitt, W. 144 Platon 3, 5, 7, 10, 98, 132, 135, 137139 Proudhon, P. J. 89 Pseudoxenophon 163 Pufendorf, S. 1, 24 Quesnay, E.

Simmel, G. 134 Smith, A. 16, 24, 60, 106 Snyder, J. 175 Solowjew, W. 8 Spinoza, B. de 133 Starke, Fr. Chr. 122 Stäudlin, C. F. 14 Stern, S. M. 6 Strauss, B. 164 Suárez, F. 23, 80 Sully, M. de Béthune, Duc de Swift, J. 123

7, 26

24

Radbruch, G. 17, 88, 191 Raumer, K. v. 7, 13 Rawls, J. 17, 114, 194, 197 Rehberg, A. W. 58, 60, 99, 100 Renaut, A. 112, 118 Ricardo, D. 123 Richelieu 26 Rittberger, V. 91, 182 Rosecrance, R. 123 Rousseau, J. J. 1, 6, 7, 10, 28, 56, 66, 73, 74, 83, 101, 121, 122, 147, 153, 162, 164–167, 172–175, 182, 189 Rummel, R. J. 161 Russett, B. 170 Saint-Pierre, Abbé de 1, 8, 17, 26–28, 121 Sallust 21 Saner, H. 1, 125, 186 Sassenbach, U. 136 Schelling, F. W. J. 16 Schiller, E. 14, 16 Schlegel, F. v. 15–17, 89 Schmidt, H. 46 Schmitt, C. 148 Schneiders, W. 139 Schumpeter, J. A. 161, 170–175 Schütz, F. W. v. 9 Seneca 132

Taylor, A. J. P. 167 Thomas von Aquin 21, 22 Thukydides 162, 163, 164 f., 172–175 Tocqueville, A. de 186 Träger, C. 58, 60 Treverton, G. 176 Tschirch, O. 31 Turgot, A. R. J. 27 Tuschling, B. 102 Valerius Maximus 21 Vico, G. 24 Vieillard-Baron, J. L. 98 Vitoria, F. de 25 Voltaire 7, 17, 27, 132 Vorländer, K. 13, 116 Waltz, K. N. 115, 116, 121, 123, 165 Wang, H. 161 Weber, M. 151 Wehrli, F. 132 Wieland, Ch. M. 31, 41 Williams, H. 34 Windischgraetz, Graf J. N. 59 Wittich, E. G. 28 Wolff, Ch. 24, 51, 116 Wöllner, J. Ch. 34 Zenon

6

211

Sachregister Abrüstung 27, 35, 46, 177 Abschreckung 63 Anarchie 41, 42, 60, 83, 89, 91, 170, 183

Imperialismus 26, 162–164, 170–173, 175–177, 195 Intervention 24, 40–42, 144, 176, 187, 196

Basler Friede

Menschenrecht(e) 12, 32, 61, 68, 85, 86, 90, 99, 125, 128, 129, 131, 136, 139, 151, 152, 176, 180, 181, 184, 185, 187, 188, 190 Menschrecht(e) – von Staaten 84–86, 89, 181, 184, 190, 192, 194 Moral und Politik 2, 5, 139, 146

1, 29

Clausula salvatoria

33, 36, 125

Definitivartikel 2, 4, 11 f., 14, 32, 63, 65, 66, 71– 73, 79, 80, 82, 83, 85, 92, 93, 115, 116, 188, 189, 194 Demokratie, Volkssouveränität 15, 28, 71–74, 86, 161 f., 163–166, 170–176, 179–181, 184, 186, 190, 195 Despotismus 15, 29, 75, 91, 101, 121, 143, 150, 154, 157 Erlaubnisgesetze (leges permissivae) 49 f., 51–54, 57, 59, 61, 63, 103

4, 34, 47,

Fiedenskonzeptionen vor Kant 5–8 Friede 1, 4, 6–10, 12, 14, 16, 36, 63 Friedensstiftung 2, 4, 11, 64, 65, 125 Garantie des Friedens 4, 18, 106, 109 Geheimartikel 2, 3, 125 f. Gerechtigkeit 4, 13, 15, 22, 28, 39, 67, 73, 93, 114, 119, 126, 132, 144, 147, 151, 152, 165, 179, 180, 193, 195 f. Geschichte 31–33, 36, 56, 70, 72, 74, 75, 99, 100, 106, 110, 111, 118, 143, 145, 149, 150, 156–158, 176, 189 Gewaltenteilung 73, 74, 86, 119, 138, 139, 174, 180, 181, 183, 184, 195, 196 Gleichgewicht der Mächte 25, 86, 122, 182 Handel(sgeist) 11, 27, 104, 106, 115, 122, 161, 163 f., 167, 169, 171, 176, 179, 181 f. Heere, stehende 35, 44–46, 180, 187 Herrschaftsform 71–77 Imperativ, kategorischer 3, 11–13, 43, 45, 49, 50, 106, 138, 152, 174 https://doi.org/10.1515/9783110782462-017

Naturrecht 3–25, 28, 39 f., 49, 51–55, 57, 59 f., 104, 142, 152, 153 Naturzustand (zwischen Staaten) 24, 28, 36, 39, 40, 63 f., 65, 66, 77, 82–85, 87, 89, 93, 100, 101, 118, 119, 148, 155, 165, 190, 192 Öffentlichkeit 3, 31, 125–127, 130, 137, 139, 140, 153–155, 171, 195 Politik 98, 133 Präliminarartikel 1, 4, 25, 32–40, 42, 44–47, 63, 79, 81, 85, 93, 180, 185, 187, 194 Rechtsordnung, internationale 16, 65, 82, 156, 165, 171, 183 Reform(en) 15, 36, 47, 56–61, 76, 86, 130, 133, 136, 143, 157, 167, 180 Religion(en) 115, 122, 168 Republik 167, 173 Republik (Republikanismus) 6, 63, 66–69, 71– 77, 82, 85, 92, 117 f., 180, 186 Revolution 40, 56, 60, 76, 99, 157, 166 – Amerikanische 161 – Französische 16, 29, 41, 56, 58, 70, 76, 102, 106, 144, 162 Rüstung 45, 65, 121 Souveränität, staatliche 42, 80, 87, 92, 95, 102, 192, 196 Staaten als Rechtssubjekte 39, 41, 185, 190

214

Sachregister

Staatsrecht 2, 4, 13, 42, 65, 68, 79, 103, 113, 144, 149 Universalmonarchie 180, 192

25, 84, 90–92, 100, 101,

Verbotsgesetze (leges prohibitivae) 49 Verbotsgrenze (leges prohihitivae) – strenge (leges strictae) 4, 36, 38, 42 – Vereinte Nationen 81, 177, 179, 182–187, 189, 192, 194, 196 Vernunft 11, 33, 35, 39, 46, 51, 81, 88, 97, 100, 107, 115, 127, 130, 134, 137, 155, 182 Verrechtlichung 58, 63, 65, 100 Verteidigung(skrieg) 46, 87, 167 VerteidiguVerteidigung(skrieg) 69 Vertrag, ursprünglicher (contractus originarius) 32, 42, 66, 68, 72, 75

Völkerbund, Staatenbund 6, 15, 34, 79, 81, 83, 87, 89, 93, 100, 115, 121, 123, 180, 184, 188, 191 Völkerrecht 1, 4, 13, 17, 24, 32, 39, 42, 65, 79 f., 83, 90, 103, 116, 142, 144, 150, 152, 155, 157, 180, 182, 185, 187, 191 Völkerstaat 5, 15, 79, 81, 84, 88–90, 92, 100, 103, 121, 189, 190, 196 Weltbürgerrecht 34, 65, 79, 97–99, 101, 103– 105, 116, 141 Weltrepublik 6, 14, 79, 84, 87–90, 92, 95, 180, 190 Weltstaat 5, 24, 83–86, 88, 90–92, 95, 102, 104, 120, 180, 183 f., 187 f., 190–192, 194, 196 Zensur 33, 34, 45, 125, 127, 130 Zwangsbefugnis, Zwangsrecht 25, 28, 51, 53, 180

Zu den Autoren Reinhardt Brandt ist Professor für Philosophie in Marburg und Leiter des Marburger Kant-Archivs. Veröffentlichungen: Rousseaus Philosophie der Gesellschaft (1973), Eigentumstheorien von Grotius bis Kant (1974), Die Interpretation philosophischer Werke (1984), Die Urteilstafel (1990), D’Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte (1, 2, 3/4; 1991). Herausgeber zahlreicher Sammelbände. Seit 1987 Herausgeber der Kantischen Vorlesungen im Rahmen der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften. Mitherausgeber der Kant-Forschungen (Hamburg 1987 ff.). Zahlreiche Aufsätze zur griechischen Philosophie, zur französischen, englisch-schottischen und deutschen Aufklärung. Daneben Arbeiten zur Interpretation philosophischer Werke zur Kunstgeschichte. Monique Castillo ist Professorin für Philosophie an der Universität Poitiers. Wichtigste Veröffentlichungen: Histoire et droit dans la pensée de Kant (Diss. 1987), Kant et l’avenir de la culture (1990). Herausgeberin: Kant, Leçons de métaphysique (1992). Zahlreiche Artikel zu Kants praktischer Philosophie und zu seiner Rezeption durch H. Arendt, J. Rawls und H. Jonas. Michael W. Doyle ist Professor für Politik und Internationale Beziehungen an der Universität Princeton. Veröffentlichungen: Empires (1986), Alternatives to Monetary Disorder (zus. mit F. Hirsch und E. Morse, 1978), UN Peacekeeping in Cambodia (1995). Mitherausgeber: Escalation and Intervention: Multilateral Security and Its Alternatives (1986). Zahlreiche Aufsätze zur politischen Theorie internationaler Beziehungen und zur politischen Philosophie. Volker Gerhardt, geb. 1944, ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen: Vernunft und Interesse (1976), Immanuel Kant (zus. mit F. Kaulbach; 1989), Pathos und Distanz (1989), Der Begriff der Politik (1990), Friedrich Nietzsche (1992), Vom Willen zur Macht (1995), Eine Theorie der Politik (1995). Aufsätze zur Ethik, Politik und Ästhetik. Herausgeber zahlreicher Sammelbände und Mitherausgeber des Jahrbuchs Politisches Denken. Otfried Höffe, geb. 1943, ist Prof. (em.) und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles (1971, 32008), Strategien der Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse (1975, 2 1985), Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie (1979, 72012), Immanuel Kant (1983, 92020), Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat (1987, 42003), Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999, 22002), Kleine Geschichte der Philosophie (2001, 62018), Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie (2003, 52011), Lebenskunst und Moral Oder: Macht Tugend glücklich (2007, 22009), Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit (2012), Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne (2015), Geschichte des politischen Denkens (2016), Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens (2018, 52021), Was hält die Gesellschaft noch zusammen? (2021), Gerechtigkeit denken. John Rawls’ epochales Werk der politischen Philosophie (2021, 22021), Ist Gott demokratisch? Zum Verhältnis von Demokratie und Religion (2022), Für ein Europa der Bürger! Den Europa-Diskurs erneuern (2023), Was hat Immanuel Kant uns heute noch zu sagen? (2023). Herausgeber u. a. der Reihe „Klassiker auslegen“ und „Lexikon der Ethik“ (1977, 82023).

https://doi.org/10.1515/9783110782462-018

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Zu den Autoren

Wolfgang Kersting, geb. 1946, ist Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Veröffentlichungen: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie (1984; erw. Taschenbuchausgabe 1993), Niccolo Machiavelli (1988), Thomas Hobbes (1992), John Rawls (1993), Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags (1994); zahlreiche Aufsätze, Lexikon- und Zeitungsbeiträge. Pierre Laberge, geb. 1937, ist ordentlicher Professor für Philosophie in Ottawa und vormaliger Präsident der Canadian Philosophical Association. Veröffentlichungen: La théologie kantienne précritique (1973). Herausgeber: Kant dans les traditions angloaméricaine et continentale (1976). Zahlreiche Artikel zu Kants Theologie und praktischer Philosophie. Arbeitet zur Zeit an einem Buch mit dem Titel: L’éthique internationale. Jean-Christophe Merle, geb. 1964, ist wissenschaftlicher Oberassistent an der Universität des Saarlandes. Autor von: Justice et Progrès. Contribution à une Doctrine du Droit Social (1997). Zahlreiche Artikel zur politischen Philosophie, insbes. des deutschen Idealismus. Herausgeber von: Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts (2001), Globale Gerechtigkeit (im Druck). Mitherausgeber von: Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie (2002), Modelle politischer Philosophie (2003). Hans Saner, geb. 1934 in Grosshöchstetten/Schweiz; Studium der Philosophie, Psychologie und Germanistik; promovierte 1966 mit einer Arbeit über Kants Weg zum Frieden; 1962–1969 Privatassistent von Karl Jaspers; lehrte an mehreren Universitäten und Akademien, arbeitet aber überwiegend als freischaffender Philosoph.