Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden [2., durchges. Aufl.] 9783050050270, 305004084X

Vor 200 Jahren erschien Kants Schrift "Zum ewigen Frieden". Zu einer der vordringlichsten, von der Philosophie

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German Pages 298 [293] Year 2010

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Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden [2., durchges. Aufl.]
 9783050050270, 305004084X

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Herausgegeben von Otfried Höffe Band 1

Otfried Höffe ist o. Professor für an der Universität Tübingen.

Philosophie

Kant

Zum ewigen Frieden

Immanuel Kant

Zum ewigen Frieden Herausgegeben von Otfried Höffe

Zweite, durchgesehene Auflage

Akademie

Verlag

ISBN3-05-004084-X Akademie Das

Verlag GmbH, Berlin 2004

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduzierl oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder über-

setzt

werden.

All right reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form hy photoprinting, microfilm, or any other means nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. -

-

Gesamtgestaltung: K. Groß, J. Metze, Chamäleon Design Agentur, Berlin Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Bindung: MB Medienhaus Berlin GmbH Gesetzt aus Janson Antiqua Printed in the Feredal

Republic of Germany

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Inhalt

Zitierweise und Vorwort

Siglen.

.

VII 1

1.

Einleitung: Der Friede Otfried Höffe

ein vernachlässigtes Ideal -

.

2. Zur Geschichte des Friedensbegriffs vor Kant. Ein Überblick Jean-Christophe Merle.

3. Die negativen Bedingungen des Friedens Hans Saner. 4. Das Problem der Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants

Reinhard Brand.

5

31

43

69

5.

„Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll

republikanisch sein" Wolfgang Kersing

.

87

6.

Völkerbund oder Weltrepublik?

Otfried Höffe

.

109

7. Vom

Weltbürgerrecht

Reinhard Brandt

.

133

Inhalt 8. Von der Garantie des ewigen Friedens Pierre Laberge . 149 9.

Der Thronverzicht der

Philosophie.

Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant Volker Gerhardt

.

171

10.

Moral und Politik: Monique Castillo

Mißhelligkeit und Einhelligkeit

.

195

11. Die Stimme der Völker. Politische Denker über

die internationalen Auswirkungen der Demokratie Michael W. Doyle 221 .

12. Ausblick: Die Vereinten Nationen im Lichte Kants

Otfried Höffe

.

Auswahlbibliographie. Personenverzeichnis Sachverzeichnis Zu den Autoren

.

.

.

245

273 283 287 289

Zitierweise Kant wird nach der Akademieausgabe zitiert, z. B. VIII 22,8 Bd. VIII, S. 22, Z. 8. Auf die Friedensschrift (VIII 341-386) wird ohne den Band-Zusatz verwiesen. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (= A) oder der zweiten Auflage (= B) angegeben, z. B. A 413 1. Aufl., S. 413. Auf sonstige Literatur wird mit Verfassername und =

=

Erscheinungsjahr Bezug genommen.

Siglen Anfang Fak.

Mutmaßlicher Anfang der Menschegeschichte (VIII 107-123) Der Streit der Fakultäten (VII 1-116)

GMS

Uber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (VIII 273-313) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Idee

Idee

Gemeinspruch

(IV 385-463)

KpV KrV KU MS

Reft. Rel. RL TL

Verkündigung

zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VUI 15-31) Kritik der praktischen Vernunft (V 1-163)

Kritik der reinen Vernunft (A: IV 1-252, B: III 1-552) Kritik der Urteilskraft (V 165-485) Die Metaphysik der Sitten (VI 203-493) Reflexionen (XIV ff.) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 1-202) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (= 1. Teil der MS: VI 203-3 72)

Metaphysische Anfangsgründe der Tu-

gendlehre (= 2. Teil der MS: VI 373^93) Verkündigung des nahen Abschlusses eines

Traktats

zum

ewigen

Frieden in der

Philosophie (VIII 411-422)

VIII

ZlTIERWEISE Die klassischen Texte der Friedensdiskussion bis 1800 werden in der Regel nicht in den Literaturverzeichnissen der Einzelbeiträge aufgeführt; sie finden sich gesammelt in der Auswahlbibliographie am Ende des Bandes.

Vorwort Die Situation ist erstaunlich: Daß die Menschen des Krieges überdrüssig werden und endlich Frieden stiften denn naturhaft vorgegeben ist er in den uns bekannten Gesellschaften nicht -, daß sie, wie der Prophet sagt (Jesaja 2,4), ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Lanzen zu Winzermessern umschmieden, um endlich einen sowohl umfassenden als auch dauerhaften Frieden einzurichten: dieser Wunsch gehört zu den ältesten Wunschträumen der Menschheit. Trotzdem ist der Friede nie wirklich zu einem Grundbegriff der Philosophie geworden. Die abendländische Geschichte kennt zwar eine reiche Friedensliteratur, und unter ihren Verfassern finden wir durchaus namhafte Philosophen. Von den klassischen Texten der Philosophie trägt aber keiner den Ausdruck „Friede" im Titel oder ist diesem Thema vorrangig gewidmet. Auch für dieses Defizit dürfte das Hegel-Wort zutreffen, die Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken gefaßt. Daß im Unterschied etwa zu Recht, Staat und Gerechtigkeit, zu Freiheit, Fortschritt, Geschichte und Moral, auch zu Glück, Herrschaft und Macht der Friede nie den Rang eines philosophischen Grundbegriffs gewonnen hat, dieser Umstand legt eine traurige Vermutung nahe: Die Menschheit träumt zwar gern vom Frieden, zumal in Kriegszeiten. Mit dem Frieden ist es ihr aber nie so ernst gewesen, daß sie ihre intellektuellen Kräfte darauf konzentriert und daß sie, wenn schon nicht zu einer dauerhaften Friedensordnung, dann zumindest zu einem großen philosophischen Text gefunden hätte. Allzu häufig, so auch bei Hegel, macht sich sogar das Lob des Krieges breit. Die große Ausnahme bildet Kant mit seiner Abhandlung Zum ewigen Frieden. Zu einer der vordringlichsten, von Philosophen aber vernachlässigten Aufgaben der Politik stellt sie bis heute den wichtigsten klassischen Text dar. Schon aus diesem Grund ist Kant zu den großen Denkern des Politischen zu zählen und verdient gerade dieser Text eine gründliche Lektüre. Dazu kommt, daß der Friedensbegriff in einen engen Zusammenhang mit den genannten Grundbegriffen ge-

2

Otfried Höffe stellt wird; nach Kant gehört der Friedensbegriff zu diesem Begriffsfeld untrennbar hinzu. Weder kann eine problembewußte Theorie von Staat und Gerechtigkeit, von Freiheit, Fortschritt usw. auf den Friedensbegriff verzichten noch umgekehrt eine problembewußte Friedenstheorie auf diese anderen Begriffe. Noch eine weitere Überlegung weist auf das besondere Gewicht dieses Textes und den politischen Rang seines Autors hin: Seit einiger Zeit finden sowohl in der Philosophie als auch den zuständigen Nachbardisziplinen Theorien der Gerechtigkeit große Aufmerksamkeit. Bei aller Achtung vor ihrem argumentativen Niveau erinnern diese Theorien aber doch an eine verspätete Eule der Minerva. Denn ihr Thema, die innerstaatliche Gestalt der Gerechtigkeit, hat sich als Prinzip längst durchgesetzt. Es ist der demokratische Verfassungsstaat, der zusammen mit den ihm innewohnenden Reformmöglichkeiten für die entsprechende politische Gerechtigkeit Sorge trägt. Anders sieht es erst mit der Gerechtigkeit der zwischenstaatlichen Beziehungen aus. Für sie, die Gerechtigkeit in der Koexistenz der Staaten, für eine inter- oder supranationale Rechts- und Friedensgemeinschaft, gibt es zwar Ansätze, namentlich die Vereinten Nationen, mehr als Ansätze aber nicht. Für etwas, das politisch gesehen höchst dringlich ist, das aber sowohl in der praktischen Politik als auch der politischen Theorie noch weitgehend fehlt, für die inter- und supranationale politische Gerechtigkeit, entfaltet nun Kant schon vor 200 Jahren die philosophischen Grundlagen. Zugleich stellt er hinsichtlich der Vereinten Nationen und ihres Vorläufers, des Völkerbundes, ein wichtiges Kapitel der Theoriegeschichte dar. Und für das Völkerrecht gelingt ihm eine radikale Neubegründung; an die Stelle des klassischen Kriegs-Völkerrechts eine Hugo Grotius tritt ein reines Friedens-Völkerrecht. Die Beiträge verfolgen insgesamt ein doppeltes Ziel. Unmittelbar wollen sie den philosophisch entscheidenden Text der neuzeitlichen Friedendebatte zu lesen helfen; dabei widmen die beiden Einleitungstexte (Kapitel 1-2) dem ideengeschichtlichen Hintergrund einen relativ breiten Raum, weil der Friede nicht zu den philosophischen Grundbegriffen ge-

Vorwort hört. Mittelbar will der Band sowohl der Philosophie als auch der Öffentlichkeit einen Anstoß geben, endlich auch hinsichtlich der internationalen Rechts- und Friedensordnung eine intensive Grundlagendebatte zu führen. Damit die Debatte nicht bei einer Textexegese stehenbleibt, schließt der Band mit zwei Beiträgen, die auf unterschiedliche Weise zu einer systematischen Diskussion anregen (Kapitel 11-12). Auf diese Weise könnte sich das enthusiastische Wort bewahrheiten, mit dem junge Literaturkritiker Friedrich Schlegel (1796/ 1966, 11) seine Auseinandersetzung mit Kant beginnt: „Der Geist, den die Kantische Schrift zum ewigen Frieden atmet, muß jedem Freunde der Gerechtigkeit wohltun, und noch die späteste Nachwelt wird auch in diesem Denkmale die erhabene Gesinnung des ehrwürdigen Weisen bewundern." Entstanden ist dieser Band aus Anlaß der 200-Jahr-Feier der Schrift Zum ewigen Frieden. Beim Durchmustern der Literatur fiel auf, daß trotz Hunderter von Beiträgen jene detaillierte Kommentierungsarbeit fehlt, die zu klassischen Texten sonst üblich ist. Der Band enthält daher fast nur Originalbeiträge. Für mannigfache Hilfe bei der Zusammenstellung und Durchsicht der Beiträge, beim Erstellen des Literaturverzeichnisses und der Register danke ich Jean-Christophe Merle und Nico Scarano.

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1 _

Otfried Höffe

Einleitung: Der Friede ein vernachlässigtes Ideal

-

1.1 Kant als

politischer Denker

Als ein überragender Denker, der dem Gesamtbereich des Theoretischen eine radikale Neubegründung zumutet, erweist sich Kant in einem voluminösen Werk, der Kritik der reinen Vernunft (1781). Seinen Ruhm, auch ein politischer Autor zu sein, ein großer Philosoph und zugleich bedeutender Schriftsteller des Politischen, verdankt er einem Text, der nur gerade zehn Prozent der ersten Kritik umfaßt, der zur Michaelismesse (29. September 1795) veröffentlichten Abhandlung Zum ewigen Frieden. Der geringe Umfang spricht aber nicht etwa gegen das philosophische Gewicht; in der bündigen Kürze tritt vielmehr hohe Virtuosität zutage. Der Text hat vielleicht einen historischen Anlaß, jenen Basler Frieden zwischen Preußen und Frankreich (5. April 1795), durch den Preußen aus dem Revolutionskrieg ausscheidet und seine linksrheinischen Besitzungen vorläufig an Frankreich abtritt. Auf den Anlaß geht Kant aber nicht ein; ohne umständliche Zurüstungen historischer oder systematischer Natur ist er sogleich beim philosophischen Kern der Sache. Wie immer entfaltet er sein Thema mit hohem Problembewußtsein, zudem sehr facettenreich und hier durchaus mit Blick auf konkrete politische Fragen (für die Präliminarartikel vgl. den Beitrag von Saner). Überhaupt sind seine Überlegungen, da von historischen und sozialgeschichtlichen Kenntnissen inspiriert, erfahrungsgesättigt; begrifflich hochdifferenziert sind sie ohnehin. Außerdem kennt sich Kant in der bisherigen Friedensdebatte gut aus, etwa bei den Völkerrechtlern Grotius und Pufendorf, ferner bei Abbe de Saint-

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Otfried Höffe Pierre und Rousseau. Er läßt sich aber weder von seinen sozial- noch den ideengeschichtlichen Kenntnissen auf Nebenthemen ablenken. Hinsichtlich der Begriffe, Argumente und des Problembewußtseins verfugt er über eine so überlegende Sicherheit, daß er immer rasch auf das Wesentliche zu sprechen kommt. Das Titelwort „Friede" klingt zwar nach einem bloßen Teilthema der Politik, sogar nach einem sehr marginalen, da der Friede, wie im Vorwort erwähnt, nicht zu den philosophischen Grundbegriffen gehört. Das Beiwort „ewig" läßt überdies ein Verkennen der politischen Realität befürchten, erinnert es doch teils an Augustinus' aeterno pax (De civitate Dei/ Über den GottesstaatXIX 1-13 und 26-28), an jenen Frieden, der erst im „ewigen Leben" erreichbar sein soll, teils an den seelischen Frieden (Ataraxie) der Epikureer, der gegen die Politik gleichgültig auf einen Rückzug aus der Politik hinausläuft. In beiden Fällen würde Kants Rang als politischer Denker geschmälert; beide Befürchtungen treffen aber nicht zu. Das Beiwort „ewig" verweist weder auf eine jenseitige Welt noch auf einen Rückzug in die Innerlichkeit; es meint eine bestimmte Qualität des Diesseits: einen Frieden ohne jeden Vorbehalt, den Frieden schlechthin (vgl. Erster Präli-

-

minarartikel).

Von diesem Friedensbegriff her gelingt es, das Wesentliche der gesamten politischen Philosophie abzuhandeln; Kants Friedenbegriff ist ein zutiefst politischer Begriff Das gilt um so mehr, als Kant mit guten Gründen die politische Philosophie als Rechts- und Staatsphilosophie versteht. So erlangt der Friedenbegriff bei einem großen Philosophen den Rang eines philosophischen Grundbegriffs denn doch. Vom Friedensbegriff her bringt Kant nicht nur sowohl die Innen- wie die Außenpolitik zur Sprache. In den drei Definitivartikeln behandelt er auch die drei allein denkbaren Grundbeziehungen des Politischen: (1) die Beziehung von Individuen innerhalb einer Rechtsgemeinschaft, des Einzelstaates (Staatsrecht), (2) die Beziehung von Einzelstaaten in einer jetzt inter- oder supranationalen Rechtsgemeinschaft (Völkerrecht) und (3) eine vielfach vernachlässigte Beziehung, die von Individuen zu fremden Einzelstaaten (Welt-

Der Friede

ein

vernachlässigtes Ideal

-

bürgerrecht). Auf diese Weise skizziert Kant fast so nebenbei die Grundzüge einer vollständigen Theorie des öffentlichen Rechts. Zugleich entwickelt er die Utopie, genauer: das Ideal, das für die internationale Politik entscheidend ist, jene wahrhaft globale Friedensordnung, die sich in einer alle Einzelstaaten umspannenden Rechtsordnung verwirklicht. Schließlich diskutiert er im Anhang ein bis heute aktuelles Problem, die für die Politik charakteristische Theorie-PraxisFrage: die Vereinbarkeit von („theoretischer") Moral und („praktischer") Politik. Mit diesem Themenfeld und seiner argumentativ überlegenen Behandlung erweist sich Kant als großer politischer Denker. Und in der Art der Darstellung zeigt er sich als bedeutender Schriftsteller des Politischen: durch den sehr weitgehenden Verzicht auf Fachtermini und besonders durch die Form eines Friedensvertrages. Der Vertrag vermittelt nämlich eine hohe Suggestion, die Utopie bzw. das Ideal erscheint als problemlos realisierbar. Kant nimmt an den damaligen Friedensverträgen Maß. Nach ihrem Muster legt er ein Vertragswerk vor, bestehend aus sechs Präliminarartikeln, drei Definitivartikeln einschließlich zwei Zusätzen und einem (zweiteiligen) Anhang. Mit feiner Ironie bringt er sogar, allerdings erst in der zweiten Auflage (1796) einen Geheimartikel unter. Er hat aber nichts anderes zum Inhalt als die Forderung, jede Geheimhaltung zu unterlassen und statt dessen „über die allgemeinen Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung" eine freie und öffentliche Diskussion zu erlauben. Angesichts der Praxis internationaler Politik ist diese Forderung durchaus revolutionär, vergleichbar mit der kopernikanischen Wende, die die Kritik der reinen Vernunft für die Erkenntnis- und Gegenstandstheorie unternimmt. Sowohl im Geheimartikel als auch im Anhang II stellt Kant der damals vorherrschenden Geheimdiplomatie das Prinzip Öffentlichkeit (Publizität) entgegen; und zum Zweck, dieses Prinzip zu verwirklichen, fordert er Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Der Geheimartikel setzt sich auch mit dem Philosophenkönigssatz auseinander. Im fünften Buch der Politeia (473c-d) sagt Piaton: „Wenn nicht entweder die Philosophen -

-

7

8

Otfried Höffe

Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber sich aufrichtig und gründlich mit

Philosophie befassen so gibt es kein Ende des Unheils für die Staaten." Während nach Piaton „politische Macht und Philosophie in eins zusammenfallen" sollen, übt sich nach Kant die Philosophie in zweifacher Bescheidenheit. Einerseits verzichtet sie auf jede öffentliche Gewalt, da deren Besitz ihre Aufgabe und Kompetenz „unvermeidlich verdirbt", weshalb sich die „Gelehrten", wie Kant in diesen Wochen an Kiesewetter schreibt, nicht „mit den Politikern vom Handwerk verbrüdern" sollten (15. 10. 1795: Briefe XII 45). Zum anderen beansprucht die Philosophie weder Sonderrechte noch besondere Fähigkeiten; nichts mehr halte sie sich zugute als eine allgemeinmenschliche Kompetenz: das „freie Urteil der Vernunft" (369). Auf diese Weise demokratisch geworden, ist die Philosophie zu etwas fähig, was selbst Fachvertrefreilich zu Unrecht ihr neuerdings absprechen. Eine ter Philosophie, die sich auf kein professionelles Expertentum beruft, sondern lediglich auf „die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat" (KrVB 780), übt ein Richteramt über die menschliche Kultur aus. Mehr noch: sie versteht sich sogar auf eine dafür zuständige Gesetzgebung. Um die damit angesprochene judikative oder (im ursprünglichen Sinn des Wortes) kritische Funktion übernehmen zu können, ist freilich eine zweite Bedingung zu erfüllen. Die Aussagen der Philosophie müssen sich für kulturspezifische und umständebedingte Unterschiede offenhalten. Auch dieser Bedingung genügt Kant. Auf die Frage, wie in Europa damals der Friede genau zu stiften war, läßt er sich nicht ein. Er stellt zwar ein unbedingt gültiges Gebot auf, den kategorischen Friedensimperativ, und formuliert ihn in Form eines Vertrages. Er bietet aber keinen ausbuchstabierten Rechtstext, sondern nur einen Vernunftsvertrag, der für den ewigen Frieden lediglich die Prinzipien formuliert. In dem „lediglich" steckt jedoch nicht etwa ein Mangel, sondern ein Vorzug, eben die zweite Bedingung: Für das konkrete politische Urteil ist ein Philosoph nicht kompetenter als jeder andere wohlinformierte und überlegte Bürger. Kant tut gut daran, die entsprechenden Urteile ihnen bzw. den sie repräsentie...,

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-

Der Friede

ein vernachlässigtes

Ideal

-

renden Politikern und deren Fachberatern, den Juristen, zu überlassen (vgl. „Zweiter Zusatz"). Er selbst beschränkt sich auf eine Art philosophischer, des näheren: moralphilosophischer Gesetzgebung. Dabei löst er sich von der Bindung an einen bestimmten Kulturraum und an eine historische Situation und kann uns deshalb bis heute als ein systematischer Gesprächspartner helfen. Kants Forderung an die Politik, sie solle den Rat von Philosophen einholen, verlangt nicht, Philosophen als Politikberater einzustellen. Warum auch sollten Philosophen klüger oder weiser sein als andere Akademiker oder Nichtakademiker? Gefragt werden sollen nicht Personen, sondern „Maximen", also Grundsätze, und zwar jene, die die „Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens" betreffen (368). Nun laufen diese Grundsätze auf die rechtsmoralischen Prinzipien menschlicher Koexistenz hinaus, die wir heute der politischen Gerechtigkeit zuordnen. Die Kantische Version des Philosophenkönigssatzes beinhaltet also nichts anderes als eine Verpflichtung der Politik aufelementare Gerechtigkeits-

prinzipien. Insgesamt behandelt die Schrift fünf größere, relativ selb-

ständige Themenkreise. Zusammen mit der Fähigkeit, die Themenkreise in einer wohlüberlegten Komposition ineinander zu verzahnen, bekräftigt dieser Themenreichtum, daß Kant nicht bloß ein Rechts- und Staatsphilosoph ist, sondern auch einer der großen politischen Denker: 1. Die „Präliminarartikel" wenden sich an politische Akteure, an Staatsoberhäupter, Regierungen oder Parlamente. Sie benennen nämlich Rechtsverletzungen, die zum Zweck der Friedensstiftung teils sofort („strenge Verbotsgesetze"), teils nur möglichst bald („Erlaubnisgesetze") aufzugeben sind. In der zweiten Möglichkeit, einer „Befugnis des Aufschubs" (vgl. Kap. 4), deutet sich eine Theorie an, die bis heute ein Desiderat ist, die Theorie einer Kritik an einer Politik, die gerade wegen (grund-)falsche Maßnahmen trifft. übereilten

ihrer

Übereilung

2. Die „Definitivartikel" skizzieren die Grundzüge einer in den drei Teilen Staatsrecht, Völkerrecht, Weltbürger-

vollständigen -

recht -

Theorie des öffentlichen Rechts. Sie

9

io

Otfried Höffe enthalten den Kern der Kantischen Theorie des Friedens, seine moralischen und deshalb auch apriorischen Bedingungen der Möglichkeit. Als Adressat sind weniger soziale Systeme anzunehmen als Rechts- und Staatsordnungen und die für sie verantwortlichen Entscheidungsträger: Verfassungsgeber und Regierungen sowie die sie autorisierenden Staatsvölker. 3. Der erste Zusatz („Von der Garantie des ewigen Friedens") erweitert die Theorie des ewigen Friedens; aufdie moralische Rechtstheorie des Friedens folgt eine teleologische Naturtheorie. Unter Rückgriff auf Gedanken der geschichtsphilosophischen Abhandlungen und der Kritik der Urteilskraft entwirft Kant eine Sozialgeschichte der Menschheit, die lediglich von der menschlichen Natur und doch zugleich vom Frieden als Endzweck bestimmt ist. Die Adressaten bilden einerseits Rechts- und Staatsordnungen, hier im Sinn von sozialen Systemen, und deren „naturnotwendige" Entwicklung, andererseits sowohl Politiker als auch Politiktheoretiker, insofern sie ihr Desinteresse an einer globalen Friedensordnung nicht länger mit deren Unrealisierbarkeit entschuldigen

können.

4. Der zweite Zusatz („Geheimer Artikel zum ewigen zum Verhältnis von Philosophie und politischer Macht und 5. der zweiteilige Anhang zum Thema „Moral und Politik" lassen sich auf eine Theorie-Praxis-Diskussion ein. Kant greift das Motiv des Vorspanns auf, die Konkurrenz von Philosophen, die „einen süßen Traum träumen", und Staatsleuten, die sich ihrer Weltkunde rühmen (343). Er zeigt, daß beide Seiten, die politische Philosophie und die praktische

Frieden")

Politik, miteinander kompatibel sind, vorausgesetzt, man wahrt den Vorrang der Philosophie qua Theorie der Moral. Dort, wo der Vorrang gewahrt wird und die Politik sich Grundsätzen der Moral unterwirft, spricht Kant von einem politischen Moralismus; die Politik verpflichtet sich hier auf moralische Grundsätze und überantwortet nur deren konkrete Realisierung der Weltkunde und (politischen) Klugheit. Im Gegensatz dazu gibt sich der politische Amoralismus-wir würden von einem Machiavellismus reden nur den „Schlan-

genwendungen

einer unmoralischen

Klugheitslehre" -

hin

Der Friede

ein vernachlässigtes

Ideal

-

(375). Adressat dieser Überlegungen sind sowohl die Politiker (einschließlich der sie autorisierenden Völker) als auch die Politiktheoretiker (einschließlich der Philosophen). -

1.2 Das Defizit vor Kant Eine Rechtsordnung, die alle Menschen und ihre drei Grundbeziehungen umfaßt, darf sich universal nennen. Da Philosophen gern über das Universale sprechen und da, mit Piaton und Aristoteles angefangen, über Recht und Staat bzw. die Politik fast alle großen Philosophen nachdenken, erwartet man zur Theorie einer derart universalen Rechtsgemeinschaft eine Fülle von Beiträgen. Diese Erwartung wird be-

merkenswerterweise enttäuscht. Piaton sieht durchaus jene Gefahr, die zu „internationalen" Verwicklungen führen kann, daß nämlich ein Staat bei ihm: eine Polis wegen der Begehrlichkeit ihrer Bürger expandieren will. Die Gefahr veranlaßt ihn aber nicht, eine politische Einheit zu erfinden, die die einzelnen Einheiten übergreift: eine große Polis oder inter-politische Rechtsgemeinschaft. Eingeführt wird statt dessen ein neuer Stand, das Militär (Politeia II 373e-374a). Selbst das Grundmuster aller politischen Utopie, die von Piaton und Aristoteles stammenden Entwürfe einer idealen Politik, befassen sich nicht einmal mit ei-

-

ner

gesamtgriechischen Rechtsgemeinschaft, geschweige

denn mit den Beziehungen nach außen, zu Persien etwa oder Karthago. Allerdings könnte bereits Aristoteles' Brief an Alexander die Vision eines Weltstaates mit einer einzigen Verfassung und Regierung sowie ohne Krieg formuliert haben; der Brief ist allerdings nur in Arabisch überliefert und in seiner Echtheit umstritten (vgl. Stern 1968, 7 f.). Wenn der Gedanke nicht von Aristoteles selbst stammen sollte, zeugt er aber wenigstens vom kosmopolitischen Denken der Stoa, etwa des Zenon (vgl. Stern 1968, 61 f.). Das Desiderat bemerken wir auch bei den großen Werken der Neuzeit, bei Hobbes' Leviathan (obwohl er sich als universale Friedenstheorie versteht!), bei Lockes Second Treatise on Government und bei Rousseaus Contrat social. Während Eu-

i i

12

Otfried Höffe ropa von Kriegen überzogen wird, lesen wir zum Beispiel bei Locke, Kap. XVI zu einer Theorie des Krieges bemerkenswerte Ansätze, hingegen fehlt die Theorie für eine internationale Friedensgemeinschaft:. Die große Ausnahme bildet Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Die Sicherheit ihrer Gedankenführung läßt auf eine längere Beschäftigung mit diesem Thema schließen. Der gewöhnliche Kant-Leser entdeckt als politischen Denker Kant erst in dessen Spätphase. Der gründliche Leser findet einen der Grundbegriffe, den der Republik, schon in der Kritik der reinen Vernunft (B 372 ff.). Selbst die erste einschlägige Veröffentlichung, die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784, 7.-9. Satz), erscheint mehr als ein Jahrzehnt vor der Friedensschrift, und sie erscheint sogar vor Kants erster Ethik, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Später folgen Hinweise in den kurzen Texten Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) und Verkündieines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie gung (1797), ferner, jetzt ausführlicher, der dritte, dem Völkerrecht gewidmete Teil der Abhandlung Über den Gemeinspruch (1793). Und nach der Friedensschrift erscheinen die Rechtslehre (1797, §§ 53-62 und „Beschluß") und der Streit der Fakultäten (2. Abschn.). Dazu kommen zwei Texte, die selbst manchen Kant-Kenner überraschen dürften. Den Grundgedanken, „ein weltbürgerliches Ganzes, d. i. ein System aller Staaten", lesen wir auch in der Kritik der Urteilskraft (1790), hier unter dem Titel „Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems" (§ 83). Und die Religionsschrift (1793) spricht im Ersten Stück, III., vom Zustand eines „ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Friedens" (VI 34). Während die anderen Philosophen durch Schweigen auffallen, bildet also bei Kant der durch eine internationale Rechtsgemeinschaft zu garantierende Friede ein Grundmotiv nicht nur des politischen, sondern des gesamten Denkens. Natürlich gibt es Vorläufer; und sie schreiben durchaus beachtenswerte und auch tatsächlich beachtete Texte. Etwa erscheint am Ende des 17. Jahrhunderts in Großbritannien aus der Feder von William Penn, dem Quäker und Gründer von -

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...

Der Friede

ein vernachlässigtes

Ideal

-

Pennsylvania, der Essay Towards the Present and Future Peace in Europe (1693). Eine Generation vorher schickt Comenius, Bischof der böhmischen Brüdergemeine, den in Breda versammelten „Englischen und Niederländischen Friedensgesandten" eine Tischvorlage, die Schrift/f ngelus Paris, den Friedensengel (1667). Wieder eine Generation früher, mitten im Dreißigjährigen Krieg (1635), arbeitet der Herzog von Sully den großen Plan (Grand Dessein) einer „allgemeinen sehr christlichen Republik" aus, deren gemeinsame Angelegenheiten durch einen Senat von sechzig Mitgliedern geleitet und deren Streitigkeiten durch einen obersten Gerichtshof geschlichtet werden sollten. In der Tradition gilt der Text zwar als Plan Heinrichs IV., tatsächlich hat ihn Sully verfaßt. Mehr als ein Jahrhundert davor, während sich in Deutschland die konfessionellen Spannungen verschärfen und zum Schmalkaldischen Krieg hindrängen, lesen wir aus der Feder Sebastian Francks Das Krieg büchlin des frides (1539). Noch früher schreibt Erasmus eine Klage des Friedens, der bei allen Völkern ve?~worfen und niedergeschlagen wurde (1517). Und im Mittelalter ragt mit dem Defensor Paris (Der Verteidiger des Friedens:

Padua heraus. Außerdem darf man nicht Dantes Monarchia (um 1310) vergessen, auch nicht die Pläne von Pierre Dubois und von Georg v. Podiebrad, dem König von Böhmen, und vor allem nicht das für das christliche Staatsdenken wichtigste Werk, Augustinus' De civitate Dei (bes. XLX 10-13 und 26-28). Schließlich ist für die griechische Antike exemplarisch an Piaton zu erinnern, an die erste Stufe im Rahmen einer vierteiligen Polisgenese (Politeia II 369b-372c). Neu ist der Friedensgedanke nicht; er ist auch so naheliegend, so „natürlich" für den Menschen, daß es keinen Autor geben dürfte, der den Gedanken irgendwann schlicht erfindet. (Zur Begriffs- und Ideengeschichte vgl. Dietze 1989, 7-58 und Janssen 1975; auch terMeulen 1917 ff., ferner Archer 1983 und Chaunu 1994; für die wichtigsten Texte seit der Renaissance s. alv. Raumer 1953). In Kants eigenem Jahrhundert gibt es vor lem den Abbe (also Weltgeistlichen) Castel de Saint-Pierre (1658-1743), der auf dem Utrechter Friedenskongreß als Sekretär der französischen Bevollmächtigten amtet. Sein nicht besonders origineller, aber vieldiskutierter Entwwf, das Projet

um

1324) Marsilius

von

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Otfried Höffe

pourrendre lapaixperpetuelle en Europe (1713-17), wird von niemand Geringerem als Rousseau (1756/61 und 1756/82) ausführlich exzerpiert und kommentiert; allerdings gehen in dessen politische Philosophie, den Contrat social, entsprechende

Gedanken nicht ein. Und von anderen, etwa Voltaire in De la paix perpetuelle (1769), wird der Plan als eine weltfremde Schwärmerei verlacht. Gelacht wird freilich nicht über die Friedensidee selbst, sondern über die Hoffnung, den ewigen Frieden durch eine politische Institution, eine internationale Föderation, erreichen zu können. Voltaire vertraut ganz auf eine fortschreitende Aufklärung. Gegen politische Institutionen skeptisch oder muß man sagen; gegen deren Wert blind -, verläßt er sich auf wachsende Toleranz und auf den Druck einer veränderten öffentlichen Meinung. Charakteristisch für Kant ist also nicht der Friedensgedanke selbst, sondern erst das genaue Profil, das er ihm gibt. Dazu gehört etwas, das für die Friedenspläne von Dante über Dubois und Podiebrad bis zu Sully nicht zutrifft: Kant verfolgt keinerlei politische Interessen. Weiterhin entwickelt er eine rein philosophische Argumentation: Erasmus' und Francks Berufung aufs Neue Testament ist Kant ebenso fremd wie Augustins Verlagerung des ewigen Friedens ins Jenseits. Nirgendwo bei Kant tauchen religiöse Motive auf; in der zitierten Stelle aus der Religionsschrift wird der Friedensgedanke nachdrücklich als philosophischer Chiliasmus bezeichnet und einem theologischen entgegengesetzt. Weiterhin erkennt Kant unter Verzicht auf jede „Schwärmerei" das Grundelement des Politischen, den Konflikt, an. Nicht erst dort, wo „eitel Liebe und Freundschaft" herrschen, nicht im ewigen Nirgendwo der Konfliktfreiheit, siedelt er den Frieden an, sondern in einer bestimmten Art, mit Konflikten umzugehen. Damit verbindet sich ein weiteres Element: Kant nimmt eine klare Begrenzung vor; bestimmt lediglich zum Schutz von Leben und Freiheit, ist der von ihm diskutierte Friede eine Rechtsaufgabe. Andere Begrenzungen schiebt er dagegen souverän beiseite. Was die Menschheit bislang an Frieden kannte, war wie eine kleine Insel im großen Meer von Gewalt und Krieg; es war sowohl zeitlich wie räumlich begrenzt. Wo es einen Haus-

Der Friede

ein

vernachlässigtes Ideal

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frieden, vielleicht sogar Burgfrieden gab, fehlte der Landfrieden; wo dieser herrschte, fehlte der länderübergreifende Friede; und selbst dort, wo die internationale Perspektive in den Blick trat, dachte man nicht an einen „ökumenischen", wahrhaft alle Länder und Kulturen übergreifenden Frieden. Im Banne der Konfessionsspaltung und anderer innereuropäischer Kriegsprobleme denken Kants Vorläufer nur an Europa, und hier fast nur an die christlichen Staaten. Noch Solowjew wird in der Kurze(n) Erzählung vom Antichrist(1900, hrsg. v. L. Müller 51984, 54) von „der friedlichen Zusammenarbeit" nur „aller christlichen Völker und Staaten" sprechen. Allenfalls setzt man wie beispielsweise Abbe Saint-Pierre gnädig hinzu, dem ewigen Friedensbund für die „24 christlichen Staaten von Europa" „könnten sich womöglich auch die mohammedanischen Fürsten anschließen". Kant dagegen verteidigt einen sowohl globalen als auch umfassenden, einen ebenso zeitlich wie räumlich universalen Frieden. Schon diese Elemente machen verständlich, warum erst Kants Text und keiner der Vorläufer den Rang eines im exemplarischen Sinn repräsentativen, eines wahrhaft klassischen Werks der Politischen Philosophie erhält. Es ist kein Zufall, daß Kants Entwurf zum berühmtesten Friedensplan aufsteigen wird. Die Verbindung von wahrhafter Globalität mit der politischen Neuerung von damals, der Republik, schafft den politisch kühnsten Plan. Darüber hinaus legt Kant den philosophisch weitaus gründlichsten Text vor. Außerdem bildet der Friedensgedanke kein Gelegenheitsmotiv, sondern einen unverzichtbaren Teil der Kantischen Philosophie. Nicht bloß der Rechts- und Staatsphilosophie gibt der Friedensgedanke die Vollendung, sondern auch der Geschichtsphilosophie und dem (in der Kritik der Urteilskraft abgehandelten) teleologischen Teil der Naturphilosophie. -

-

1.3 Eine moralisch

gebotene Utopie

Diagnosen für unsere Zeit lautet nicht die unauf wichtigste Erschöpfung der utopischen Energien. Ob wir an den Rechts- und Verfassungsstaat, an den Sozialstaat oder Unter den

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Otfried Höffe

lieber an die Idee der Herrschaftsfreiheit denken wir sehen verschiedene Gründe und trotzdem das gleiche Resultat: die Ideale der Politik haben an Glanz verloren. Nicht anders ergeht es der Technik. Man erwartet von ihr mancherlei Hilfe und Erleichterung; man braucht sie aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit; die Kraft aber, über die von Bacon und Descartes bis noch zur frühen Kritischen Theorie die Utopien der Techniken verfügten, die Fähigkeit, eine insgesamt bessere Zukunft zu verheißen, haben sie längst eingebüßt. Auch von Kunst und Literatur gehen kaum utopische Impulse aus. Einen Gauguin, der uns in die Südsee entführt und dort in die maison du jouir geleitet, suchen wir vergeblich, ebenso einen Chagall, der uns die Augen für die Welt des Heils schon im Diesseits öffnet. Trotzdem sei, bevor man resigniert in ein „Zeitalter nach der Utopie" sich fügt, ein leiser Zweifel erlaubt. Vielleicht versiegen nicht die utopischen Energien, sondern haben sich nur gewisse Themen erschöpft. Der Rechts- und Verfassungsstaat ist im Prinzip verwirklicht. Im Sozialstaat und in anderer Weise in der Technik entdecken wir Züge von Ambivalenz. Und vom Ideal, das sich im philosophischen Diskurs von selbst versteht, der Herrschaftsfreiheit, sieht inzwischen sogar die Kritische Theorie ein, daß man es als Gesellschaftsprinzip lieber an den demokratischen Verfassungsstaat bindet. Um erneut utopische Energien freisetzen zu können, muß man sich allerdings die Bedingungen überlegen, unter denen Daß jede Gesellschaft gewisse Hoffnunaufleben. Utopien gen braucht, diese vage Einsicht reicht nicht aus. Eine gute Chance bieten Probleme, deren Gewicht uns in Angst versetzt und zu denen man nicht nur kleine und kleinliche Lösungen sucht; neue Energien weckt erst ein großer Entwurf. Gegenüber der beklemmenden Erfahrung des Krieges heißt die große Lösung: „Die Menschen werden des Krieges satt." Genau diese Lösung vertritt die Schrift Zum ewigen Frieden. Nicht bloß einen Beitrag zum politischen Denken leistet sie; sie enthält auch eine Sozialutopie, und diese ist aus zwei Gründen bis heute attraktiv. Attraktiv ist einmal, daß Kant jenem resignativen Verlust von Hoffnungen und Visionen entgegentritt, der dem Leben -

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jeden Glanz nimmt und die Welt verarmen läßt. Attraktiv ist die Friedensschrift aber nicht bloß, weil sie überhaupt noch utopische Energien freisetzt. Der gefährlichste Gegner jeder Utopie ist eine pragmatische Skepsis, die die große Lösung

der beklemmenden Probleme für unrealisierbar hält oder zum Hirngespinst erklärt. In diesem Sinne schreibt schon ein zeitgenössischer Rezensent, Friedrich Wilhelm v. Schütz, ehemals ein leidenschaftlicher Anhänger der revolutionären Ideen: „der Gedanke eines ewigen Friedens" ist „nicht fähig, auf Realität Anspruch zu machen" (nach Dietze/Dietze 1989, 299). Gegen diese Befürchtung setzt sich nur durch, wer über die Schwierigkeiten nicht naiv hinwegsieht, sondern sich desselben Vorzugs wie der Gegner, nämlich eines nüchternen Problembewußtseins rühmen kann. Die große, utopische Lösung besteht nicht in jener eschatologischen Vision, die grundsätzlich unrealisierbar ist und daher ein beständiges Nirgendwo und Niemals bedeutet. Das Ziel liegt im realisierbaren Noch-Nicht; es heißt besser „Ideal" als „Utopie". Kant selbst sieht die Gefahr der Nichtrealisierbarkeit, spricht er doch gleich zu Beginn von einem „süßen Traum", den nur die Philosophen „träumen" (343). Wie vorher schon Rousseau im Extrait du projet de paix perpetuelle ((Euvres completes III 589) zieht er die Möglichkeit in Betracht, das Ziel sei „bloß chimärisch" (368, 19), also ein Hirngespinst, und gibt sich erst zufrieden, wenn er am Ende diese Möglichkeit ausscheiden und anstatt dessen sagen kann, der ewige Friede sei gerade „keine leere Idee" (386). Die Frage, ob ihm der entsprechende Nachweis gelungen ist, läßt sich nicht schon in der Einleitung beantworten. Einige Gesichtspunkte, die die Realisierungschance steigen lassen, kann man aber vorab benennen. Ein erster der Realisierbarkeit freundlicher Gesichtspunkt: Kant legt keine umfassende soziale Utopie vor. Vergleicht man seinen Text mit Piaton, mit dessen erster Polis-Stufe (Politeia II 369b-372c), so sieht man, daß er nicht einmal ein umfassendes Friedensideal verteidigt. In Piatons Elementarpolis leben die Menschen nicht nur mit ihren Mitmenschen in Frieden, sondern auch mit sich und mit den Göttern, vielleicht auch mit der Natur (vgl. Höffe '2002, Kap. 8.3). Kant läßt dagegen viele Friedensdimensionen beiseite.

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Während Piaton den sozialen Frieden an den inneren oder persönlichen Frieden bindet, kommt Kant ohne eine derart weitreichende Bindung aus; er siedelt den ewigen Frieden im Bereich des Rechts an und definiert ihn unabhängig von persönlichen Einstellungen. Ausgespart bleibt also (1) der Friede des Menschen mit sich, der innere oder persönliche Friede, außerdem (2) dessen Erweiterung oder Vertiefung, der religiöse Friede in oder mit Gott, ferner (3) der Friede in und mit der Natur, der ökologische Friede, und (4) der seit Augustinus so wichtige kosmische Friede, bei dem innerhalb einer hierarchisch aufgebauten Weltordnung jedes Ding den ihm zukommenden Platz einnimmt (De civitate Dei XIX 12 f.). Übrig bleibt nur (5) der soziale Friede. Selbst diese Dimension erfährt ein bescheidenes Verständnis. Im Deutschen ist der Ausdruck „Friede" mit „frei", „freien" und „Freund" verwandt. Von der indogermanischen Wurzel pri lieben, schonen abgeleitet, meint Frieden „ursprünglich einen Zustand der Liebe und Schonung, wobei freilich das Moment aktiver gegenseitiger Hilfe und Stütze stärker betont ist als das einer gefühlsmäßigen Bindung und Zuneigung" 0anssen 1975, 543). Später verengt sich die Bedeutung auf (6) einen negativen sozialen Frieden und meint nur das (zumeist zeitlich befristete und räumlich begrenzte) Aussetzen der Gewalttätigkeit. Kants (7) politischer, näherhin rechtlicher Begriff des Friedens läßt nun die ersten vier Dimensionen ganz beiseite und stellt sich zwischen den umfassenden sozialen Begriff und seine extreme Verengung. Einerseits erfolgt das Aussetzen der Gewalttätigkeit sowohl ohne jeden Fristvorbehalt als auch ohne jede territoriale Beschränkung; außerdem kommt ein Moment aktiver Hilfe hinzu. Andererseits beschränkt sich diese auf eine einzige Aufgabe, die Sicherung des Rechts. Nach dem negativen Friedensbegriff der Definitivartikel soll Rechtssicherheit herrschen. Im Begriff des Rechts ist schon ein zweiter realisierungsfreundlicher Gesichtspunkt angesprochen: Kant verzichtet auf die Idylle der Konfliktfreiheit. Nach dem einschlägigen anthropologischen Begriff, den Kant im Ersten Zusatz der Friedensschrift bestätigt, nach der „ungeselligen Gesellig-

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keit", gehören zum Menschen Leidenschaften, die wie „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht" an sich zwar „nicht liebenswürdig" sind, als „Widerstand" gegen den „Hang zur

Faulheit" aber die Menschen „aus der Rohigkeit zur Kultur" führen (Idee, 5. Satz). Kant läßt Konflikte durchaus gelten, er schließt „nur" die Gewalt als Mittel der Konfliktregelung aus. Der Erste Zusatz enthält einen weiteren realisierungsfreundlichen Gesichtspunkt, die „große Künstlerin Natur", die sich der natürlichen Zwietracht der Menschen bedient, um „Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen" (360): Aus durchaus selbstsüchtigen Motiven schließen sich die Menschen zu einzelnen Staaten zusammen, die zwar untereinander zunächst Krieg führen, auf Dauer aber, und zwar aus Handelsinteressen, in Frieden untereinander leben. Ein vierter realisierungsfreundlicher Gesichtspunkt: Nach dem Vorbild von Thomas Morus' Utopia gibt es im 16. und 17. Jahrhundert eine Fülle von Staatsromanen. Weil sie die soziale und politische Einbildungskraft auf Reisen schicken, nennen sie sich zu Recht „voyages imaginaires", fiktive Reisen. Davon setzt sich Kant nachhaltig ab. fm Vorspann spricht er zwar von einem „süßen Traum"; geträumt wird er aber vom Philosophen, also von jemandem, dessen Metier der Begriff und das grundlegende Argument ist. Bei Kant geht nicht mehr die Einbildungskraft auf Reise, sondern die Vernunft, des näheren die praktische, sogar die reine praktische Vernunft. Da sie der Moral entspricht, ist der ewige Friede nicht etwa von außen, beispielsweise von der Vorsehung zu erwardas Eschaten. Er ist auch nicht auf die (ewig) ferne Endzeit, hier überdies Menschen vom ist selber, ton, zu verschieben; er einer hat den Die Rang und jetzt zu stiften. Friedensstiftung rechtsmoralischen Pflicht (vgl. 356, 4; 362, 9; 364, 9; 378, 19-22). Vorliegt jener kategorische Rechtsimperativ, den kann. man den kategorischen Friedensimperativ nennen Ende des das kann wird, Dort, wo aktuell Krieg geführt Die wecken. wirklich große Krieges durchaus Hoffnungen neue Energien freifür Menschen alle die Hoffnung, jene, setzt, wäre dies aber nicht. Denn jeder Krieg ginge rasch vorüber, wenn die eine Seite nachgäbe und die Bedingungen der anderen Seite akzeptierte. Nach dem berühmten Herr-

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schaft-Knechtschafts-Kapitel aus der Phänomenologie des Geibeginnt die Bildung des menschlichen Selbstbewußtseins als Kampf um Anerkennung. Dieser Kampf, auf Leben und Tod geführt, endet zwar in einem „Ende aller Hostilitäten",

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aber auch in der extremen Asymmetrie von Herr und Knecht. Außerdem gehen die Feindseligkeiten nur deshalb zu Ende, weil eine Seite der Todesfurcht nachgibt und sich rechtzeitig unterwirft; der Friede steht unter dem Vorbehalt, daß eine Seite das Überleben als dominantes Gut anerkennt. Eine derartige Anerkennung ist jedoch keineswegs die Regel. Die konfessionellen Bürgerkriege der frühen Neuzeit und die vielen späteren Bürgerkriege zeigen deutlich genug: Zum Zweck der religiösen Freiheit oder der politischen Selbstbestimmung oder der kulturellen Identität, von niederrangigen Gütern ganz zu schweigen, weil man also andere Güter als das Überleben für dominant hält, kämpfen beide Seiten oft bis zu einer Erschöpfung der Kräfte, und der schließliche Friede ist von einer Friedhofsruhe nicht fern. Auch deshalb besteht zwischen Herr und Knecht ein „Friede unter Vorbehalt", weil der Knecht sein „knechtisches Bewußtsein", das Überleben als dominantes Ziel, überwinden und sich gegen den Herrn auflehnen kann. Grundsätzlich aufgehoben wird der Vorbehalt erst dort, wo nicht länger die Gewalt entscheidet, sondern deren Aufhebung, das Recht. Da sich im bloß positiven Recht die Gewalt verstecken kann, kommt es nicht auf irgendein Recht, sondern auf das moralische, das gerechte Recht än. Eine davon bestimmte Gesellschaft einzurichten ist eine Verbindlichkeit, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, es liegt tatsächlich ein

kategorischer Rechtsimperativ vor.

Seiner Struktur nach besteht er aus zwei Stufen. Zunächst ist das gerechte Recht zu definieren; erst dann kann man für seine gewaltfreie Durchsetzung sorgen. Dort liegt ein kategorischer Rechtsimperativ im engeren Sinn vor, der Imperativ, moralisch begründete Rechte wie die Menschenrechte anzuerkennen. Hier dagegen handelt es sich um die Forderung, das gerechte Recht nicht mit partikularer Macht, sondern mittels gemeinsamer, „öffentlicher" Gewalten durchzusetzen. Nun spricht Kant bei den öffentlichen Gewalten von ei-

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Staat. Die gegenüber dem ersten Rechtsimperativ nur subsidiäre Stufe, der eigentliche Friedensimperativ, fällt mit dem kategorischen Staatsimperativ, mit der Forderung, zur Durchsetzung moralischer Rechte einen Staat einzurichten, zusammen. Relativ zu moralischen Rechten gebietet er eine gewaltfreie Konfliktlösung. (Der Sache nach vertritt Kant einen kategorischen Staatsimperativ z. B. in 378, 19-22, und 386, 27-29.) Von der bloßen Selbstverteidigung abgesehen (345), ist der „Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt" (356). Die Rede von einem kategorischen Friedensimperativ bleibt ein wenig zu modifizieren. Der ewige Friede ist zwar kategorisch geboten. Während aber der Zweite Definitivartikel den Friedenszustand zur „unmittelbaren" Pflicht erklärt (356,4), sieht Kant im „Anhang" genauer, daß die Pflicht sich direkt nur auf diese zwei Stufen richtet: auf eine Anerkennung des gerechten Rechts, auf den kategorischen Rechtsimperativ im engeren Sinn, und auf die nichtpartikulare Organisation der Anerkennung, auf den kategorischen Staatsimperativ. Der vorbehaltlose, der ewige Friede ist kein direkter Zweck, besteht er doch in nichts anderem als in jenem Zustand, der aus der Anerkennung des doppelten Imperativs hervorgeht. In diesem Sinn sagt Kant im Anschluß an das Neue Testament: „Trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohltat des ewigen Friedens) von selbst zufallen" (378, 5-7). Vom römischen Militärtheoretiker Vegetius (4. Jh. n. Chr.) stammt das Motto, dem viele Staaten der Welt folgen: „Si vis pacem, para bellum." (Wenn du den Frieden willst, so rüste für den Krieg.) In der Sache setzt Kant an dessen Stelle: „Si vis pacem, para iustitiam." (Wenn du den Frieden willst, so sorge für Gerechtigkeit.) nem

1.4 Zur Wirkung Kants Text erfährt eine ungewöhnlich rasche und intensive Rezeption. Während sich die Kritik der reinen Vernunft erst sechs Jahre nach Erscheinen einer zweiten Auflage erfreut,

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erlebt die Abhandlung Zum ewigen Frieden, obwohl sie in doppelt so vielen, nämlich 2000 Exemplaren gedruckt wird, binnen weniger Wochen einen Nachdruck von 1500 Exemplaren; und die zweite Auflage kommt schon im nächsten Jahr auf den Markt. Nicht das wohl bedeutendste Werk der neuzeitlichen Philosophie, eben die Kritik der reinen Vernunft, sondern erst die Friedensschrift wird zum großen literarischen Erfolg. Noch zu Kants Lebzeiten, in den knapp zehn Jahren bis 1804, erscheinen zehn weitere Ausgaben. Ein zusätzliches Dutzend folgt bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges; in den nächsten vierzig Jahren werden mindestens noch zwanzig weitere Ausgaben veröffentlicht (v. Raumer 1953, 162), zu denen später eine Reihe zusätzlicher Ausgaben hinzutreten. Dem Text geht natürlich der Ruhm seines Autors voran, das Ansehen, das ein Verfasser genießt, dem die Neuzeit so überragende Werke verdankt wie die Kritik der reinen Vernunft und die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, wie die zweite und die dritte Kritik und die Religionsschrift. Und Kant kennt seinen Wert. Für die Kritik verlangt er pro Druckbogen vier (Vorländer 1992, 3.2, 81 f.), für den Ewigen Frieden zehn Taler (Brief vom 13.8. 1795 an den Verleger Nicolovius: Briefe XII 35). Als politischer Denker war Kant aber noch nicht annähernd so bekannt. Zwar hatte man die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht gelesen und die Abhandlung Uber den Gemeinspruch, deren zweiter Teil sich mit dem Staatsrecht und deren dritter Teil sich mit dem Völkerrecht befaßt. Eine systematische Philosophie der Politik, verstanden als Theorie von Recht und Staat, enthält aber erst die Friedensschrift. Nicht nur gedruckt wird der Text, sondern auch übersetzt, etwa ins Französische, Englische, Dänische und Polnische, später noch in viele andere Sprachen, z. B. auch ins Hebräische, 1976, ins Bulgarische, 1977, sowie ins Arabische, 1985. Vor allem wird der Text viel gelesen und intensiv diskutiert. Die engeren Freunde und Anhänger Kants Kiesewetter etwa und Erhard, Stäudlin und Sophie Mereau, eine „Professorin in Jena" melden sich in Briefen. Noch wichtiger sind die Besprechungen, zum Teil von hochkompetenter Feder -

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verfaßt, die in Deutschland und im benachbarten Ausland erscheinen und die den Text rühmend, gelegentlich sogar en-

thusiastisch vorstellen. (Vgl. die Auswahl bei Buhr-Dietzsch 1984, 61 ff.) Ob der Text wie mehrheitlich positiv beurteilt wird oder wie bei Wilhelm v. Humboldt zurückhaltend („Im Ganzen kann ich die Schrift nicht sehr wichtig nennen": an Schiller, 30. 10. 1795; ähnlich am 11. 12. 1795) in Intellektuellenkreisen scheint er Tagesgespräch gewesen zu sein; und führende Vertreter des revolutionären Frankreich sehen Kant als einen der ihren an (vgl. Azouvi-Bourel 1991, 65-83). Noch rascher als die deutschen Gazetten reagiert Paris. Noch bevor eine von Kant gutgeheißene französische Übersetzung erscheint übrigens zur selben Zeit in Königsberg, bei Nicolovius, dem Verleger der deutschen Ausgabe, und in Paris, bei Jansen und Perrouneau im vierten Jahr der „einen und unteilbaren Republik", am 13. „nivöse", dem 3. Januar 1796 der alten Zeitrechnung, schreibt ein Anonymus in der Gazette Nationale, ou Le Moniteur Universell „Le celebre Kant, cet homme qui a produit en Allemagne dans les esprits une revolution vient d'etayer du poids de son nom la cause de la Constitution republicaine": „Der berühmte Kant, der in Deutschland eine geistige Revolution zustande gebracht hat, die derjenigen gleicht, die die Gebrechen des Ancien regime in Frankreich mußten geschehen lassen, dieser Mann hat sich mit dem Gewicht seines Namens der Sache der republikanischen Verfassung angenommen." (Ein Brief vom 9. 3. 1796 an Schiller „enttarnt" übrigens den Verfasser; es ist der in Paris geborene Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber.) In der Tat: Während in Paris deutsche Intellektuelle wie Wdhelm von Humboldt nur, aber auch immerhin als „Revolutionstouristen" anwesend waren, geht Kants Beitrag weit darüber hinaus. Vor allem mit dem Ersten Definitivartikel „Die bürgerliche Verfassung soll republikanisch sein" setzt Kant der jungen Republik ein Denkmal. Er setzt es freilich nach seinem Metier, also morephilosopbico. Die Friedensschrift entwickelt, was der Rezensent „le republicanisme non de la France, mais du monde entier" nennt. Nationalstaatliche Perspektiven sind Kant fremd; der Philosoph transformiert das in Frankreich zwar exemplarisch, aber nur partikular rea-

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lisierte Ideal in ein wahrhaft globales Ideal, in das einer Welt-

republik. Wenige Tage

nach der Gazette Nationale, am 14. Januar, melden sich die hochangesehenen Göttingische(n) Anzeigen von gelehrten Sachen zu Wort. Es folgen die Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes, die Gothaische(n) gelehrte^) Zeitungen und die Allgemeine Literaturzeitung, ferner die Zeitschrift Deutschland, die Litteratur-Tidning und der Neue Niedersächsische Merkur. Auf die Phase der Rezensionen folgt bald jene „klassische deutsche Friedensdiskussion um 1800" (Dietze 1989, hier 58), die sich zu großen Teilen als Auseinandersetzung und Fortbildung Kantischer Gedanken liest. Diese zweite Phase der Wirkungsgeschichte beginnt mit einem Text, der im Philosophischen Journal einer „Gesellschaft Teutscher Gelehrter" erscheint; er stammt aus der Feder von einem der beiden Herausgeber. Niemand Geringerer als Johann Gottlieb Fichte schreibt (1795/1966, 221), daß „die Leichtigkeit und Annehmlichkeit des Vortrags" nicht dazu verleiten dürfte, der Hauptidee der Schrift „nicht die Wichtigkeit beizumessen, die sie unseres Erachtens hat", nämlich „daß sie im Wesen der Vernunft liege, daß die Vernunft schlechthin ihre Realisation fordere, und daß sie sonach auch unter die zwar aufzuhaltenden, aber nicht zu vernichtenden Zwecke der Natur gehöre". (Hier, in den „Zwecken der Natur", klingt Kants Zusammenhang der Friedensidee mit der teleologischen Urteilskraft an.) Auch wenn Fichte sich nur vornimmt, zur Erläuterung „einige Worte hinzuzusetzen", weicht er doch in zwei Punkten von Kant ab. Zum einen setzt er der exekutiven Gewalt einen,anderen Magistrat', ein Ephorat, an die Seite; zum anderen sagt er vielleicht deutlicher als Kant, daß der Völkerbund „zur Erhaltung des Friedens" doch „lediglich ein Mittelzustand" ist und das wahre Ziel in einem „Völkerstaate" liegt (s. u. Kap. 6). Im selben Jahr wie Fichte greift Friedrich Schlegel zur Feder. Im „Versuch über den Begriff des Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden" zündet er ein polemisches Feuerwerk an Kants These an, Demokratie sei notwendig ein Despotismus, und der Republikanismus dürfe sich nur auf allmählichere Reformen herausbilden.

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Im Anschluß

sche

an

die schon im

„Vorwort" zitierte enthusiasti-

Wertschätzung Kants beginnt er eine Auseinanderset-

zung, in deren Verlauf er sich stärker von Kant absetzt, hält er doch dessen Definitionen von rechtlicher Freiheit und Gerechtigkeit nur für ein „Minimum". Das freilich unerreichbare Maximum würde „aller Herrschaft und Abhängigkeit ein Ende machen" (1966, 13; Dietze/Dietze 1989, 162 f.). Schlegel will also sowohl im innerstaadichen als auch zwi-

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schenstaatlichen Bereich jegliche Herrschaft; eliminieren; Kants Völkerbund stellt er eine herrschaftsfreie Weltgesellschaft freier und gleicher Völker entgegen. Zwei Jahre nach Fichte und Schlegel meldet sich der junge Joseph Görres zu Wort. Allerdings verkennt er den genuin moralischen Rang des Friedensgedankens; bei Görres wird aus dem kategorischen Rechtsprinzip ein nur sozialpragmatisches Gebot. Man könnte schon glauben, Görres sei viel eher von dem Utilitaristen Bentham beeinflußt, wären dessen Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen dauernden Frieden (1786) nicht erst viel später, nach Benthams Tod (dann als Principles of International Law) herausgegeben worden (1843). Görres schreibt jedenfalls, was Benthams Gedanken des kollektiven Wohlergehens entspricht: „Der Zweck jedes Friedens ist Völkerbeglückung, das erste Requisit, um diesen Zweck zu erreichen, Dauer. Ein Frieden, der den Völkern für ihre ganze unbegrenzte Existenz ihren Wohlstand verbürgt, nur ein solcher kann seinen Namen sich mit Rechte anmaßen" (Görres 1798, zit. nach Dietze/Dietze 1989, 315). Dagegen dient nach Kant der Friede weder dem Überleben der Bürger noch ihrem Wohlergehen, sondern lediglich dem Recht. Nur über das Recht vermittelt, treten auch die anderen Zwecke in den Blick. Ob Görres, Schlegel oder Humboldt, der im genannten Brief an Schiller einen „zu grell durchblickenden Demokratismus" konstatiert: schon damals hatten also deutsche Intellektuelle mit Kants republikanischem Grundgedanken Schwierigkeiten, mit den auf das Recht und unmittelbar auf nichts anderes als das Recht verpflichteten öffentlichen Gewalten. Schlegel, Fichte, Görres ist es erstaunlich, daß alle drei Verfasser jung, zwei sogar bemerkenswert jung sind? Schle...

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gel schreibt seinen Text im Alter von 2 3, Görres von 21 Jahren; nur Fichte ist für die damalige Sturm- und Drangperiode schon ein „etwas älterer Herr", ein Dreißigjähriger nämlich. Ist es nur die intellektuelle Jugend, die sich für politische Utopien freihält? Andere der noch „jugendlichen Intellektuellen" dieser Zeit, Sendling etwa und Wilhelm v. Humboldt, nehmen

aber den Gedanken der internationalen Rechts- und Friedensordnung nicht auf. Und Hegel vertritt schon im Naturrechtsaufsatz (1802/03) die Gegenposition, die nicht nur den Frieden, sondern auch den Krieg für „absolut notwendig" hält. In der Tradition schottischer Moralphilosophen, zum Beispiel Adam Smith, nach dem „unter dem gewitterschweren Himmel des Krieges und des Aufruhrs die kraftvolle Strenge der Selbstbeherrschung am besten" gedeiht {Theory ofMoral Sentiments 1759, Teil III, Kap. 3), sieht Hegel den Krieg in Verbindung mit der „sittliche(n) Gesundheit der Völker" und behauptet vom ewigen Frieden, er würde die Völker in eine „dauernde Stille" versetzen (Werke II 481 f.). Knapp zwei Jahrzehnte später, in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), wird er im § 324 diesen Gedanken mit Nachdruck wiederholen. (Zu Kants Friedensschrift: s. auch § 333 f.) Ein anderer Philosoph, der sich gegen Kant scharf absetzt, ist Friedrich Gentz, ehemals ein Schüler Kants, mit seinen Bemerkungen zum Gemeinspruch aber dessen Kritiker. Gentz verfaßt zwar ein Traktat Uber den ewigen Frieden (1800). Von Edmund Burkes konservativer Kritik an der Französischen Revolution beeinflußt immerhin übersetzt er den Text ins Deutsche -, verwirft er aber schon den Grundpfeiler Kants, den Republikanismus. Nicht nur in der Blütezeit der Philosophie, dem Deutschen Idealismus, spielt vom frühen Fichte abgesehen (Grundlage des Naturrechts 1796, 2. Anhang) der Gedanke einer globalen Friedensordnung so gut wie keine Rolle. Auch im wichtigsten Text der Rechts- und Staatsphilosophie, verfaßt von einem „Kantianer" sogar, in Rawls' Theorie der Gerechtigkeit (1971), sucht man eine Theorie der internationalen Rechtsgemeinschaft vergeblich. Ebenso vermißt man sie in Rawls' späterem Werk Political Liberalism (1993; anders erst Rawls 1993a). Erstaunlicherweise trifft dasselbe auf jene Theorie -

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die im Jahrhundert zweier Weltkriege und ungezählter Regionalkriege utopische Energien freizusetzen beansprucht.

zu,

Ob wir Bloch oder Marcuse lesen, ob Horkheimer, Adorno, selbst Habermas' Rechtsphilosophie (1992) zum Thema internationale Friedensordnung fällt die Kritische Theorie durch ihr beharrliches Schweigen auf. Das Defizit hat übrigens sowohl in der Kritischen Theorie als auch bei Rawls einen mehr als nur kontingenten Grund. Zu kurz kommt bei ihnen, woran sich die einschlägige Theorie anschließt, die Legitimation öffentlicher Gewalten: die Staatsethik. In den spezifisch rechtsphilosophischen Werken spielt zwar das Völkerrecht eine Rolle, so etwa in Radbruchs Rechts-

philosophie (1932, § 28), ferner in Kelsens Reiner Rechtslehre (1934,1960, Kap. VII) und in Harts The Concept ofLaw (1961, Kap. X). Erstaunlicherweise fehlt aber selbst hier das The-

des globalen Friedens. (Von Kelsen gibt es allerdings eiZeitschriftenaufsatz: The Strategy of Peace, 1944.) Dem Hegelwort, daß die Eule der Minerva ihren Flug nicht vor Einbrechen der Dämmerung beginne, gibt dieser Befund in einem nicht spekulativen, sondern durch und durch trivialen Sinn Recht. Zu lebensweltlich dringenden Problemen bietet die Philosophie so wenig Vorarbeiten an, daß es nicht verwunderlich ist man sehe mir die Randbemerkung nach -, daß zu den entsprechenden Problemen der internationalen Politik die Intellektuellen, sofern sie sich überhaupt auf die Probleme einlassen, mehr moralisierend reagieren als diskursiv. ma

nen

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In der vorangehenden Skizze der Vorgeschichte und ersten Wirkungsgeschichte deuten sich schon Fragen an, die sich einer über die bloße Interpretation hinausgehenden, systematischen Diskussion der Kantischen Friedensschrift stellen. Heben wir zum Abschluß der Einleitung vier Fragen heraus: Erste Frage: Görres' Umdeutung zeigt, daß sich der Zweck des ewigen Friedens nicht von selbst versteht. Die Völkerbeglückung oder, nüchterner formuliert, das Wohlergehen der

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Menschen dürfte für viele eine plausiblere Motivation, vielleicht sogar Legitimation einer sowohl internationalen wie dauerhaften Friedensordnung darstellen. Finden sich bei Kant überzeugende Gründe, die dagegen sprechen? Oder neutral formuliert: Was ist die für die Friedensordnung ange-

Legitimationsgrundlage? Frage tut sich im Spannungsfeld von Abbe de Voltaire und Schlegel auf: In welcher Form ist Saint-Pierre, der Friede durchzusetzen: durch politische Institutionen, wie Saint-Pierre sagt, durch bloße Aufklärung, wie ihm Voltaire entgegenhält, oder, wie Schlegel will, durch und in Herrmessene

Die zweite

schaftsffeiheit? Anders formuliert: Braucht auch der zwischenstaatliche Frieden, was wir beim innerstaatlichen Frieden anerkennen, öffentliche Gewalten, also eine gewisse Staatlichkeit, oder kann er vielleicht sogar: soll er darauf

verzichten? Sowohl an die dritte

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erste wie die zweite Frage schließt sich die Für welche Aufgaben ist die internationale

Frage Rechtsordnung zuständig; für welche „Staatsaufgaben" trägt an:

sie die Verantwortung? Schließlich die vierte Frage: Sind moralische Anstrengungen für die internationale Friedensordnung vonnöten, wenn deren Errichtung doch schon durch die Natur garantiert ist?

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Habermas, Jürgen

Der Friede

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vernachlässigtes Ideal

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_2 Jean-Christophe Merle

Zur Geschichte des

Friedensbegriffs vor Kant Ein Uberblick 2.1 Antike und Mittelalter

griechische eirene wie auch die römische Göttin Pax sind mit ihrer jeweiligen Kultur verbunden. Ein tugendhaftes eng agrarisches Leben, das auf Grundwerten wie Iiis, Fides, Iustitia, Pietas und Aequitas, kurz: auf einer gerechten Rechts- und Staatsordnung beruht, bildet das Fundament der Pax Romana; Friede als innere Eintracht ist gleichbedeutend mit dem Die

durch verschlungene Hände symbolisierten Zusammenhalten (Concordia) der Römer. Im römischen Selbstverständnis sichert dieses Zusammenhalten die Felicitias (Glückseligkeit). Dabei bleibt die zwischenstaatliche Perspektive außer acht. Während Cicero, im Anschluß an Aristoteles (Politik, Buch II, 1267a, 26-38; Buch VII, 1534a-1535a), die Lehre vom gerechten Krieg im Fall der Vergeltung eines Unrechts oder der Selbstverteidigung allerdings noch unter der Bedingung einer vorherigen Kriegserklärung formuliert (De re publica III, 23; zur Uberlieferung im Mittelalter vgl. Thomas v. Aquin, Summa theologica IIa, Ilae q. 40, art. 1), dehnt sich das römische Kaisertum durch Eroberungskriege aus. Unter Kaiser Augustus (63 v. Chr.-14. n. Chr.) erhält Pax einen zweiten engeren Sinn: sie wird zum dauerhaften Kriegsende, das die Concordia nach innen, als die bürgerliche Eintracht, und nach außen, als das Ende einer Eroberungsphase, herstellt. Unter Augustus erreicht nämlich das Römische Reich einen friedlichen Höhepunkt, d. h. eine allmähliche innere Stabilisierung und relative äußere Sicherheit (securitas); am 4. Juli 13 v. Chr. verordnet der Römische Senat die offizielle Feier der Ära Pacts Augustae (Augustus' Friedensära)

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Jean-Christophe Merle auf dem Marsfeld. Für das Gedeihen der Pax Romana, für diese sogenannte Pax Augusta, wird der Kaiser verehrt. Von ihr ist die Pax Augusti, der einmalige Akt, mit dem ein Krieg vom Kaiser beendet wird, zu unterscheiden. Symbol der letzteren ist die Göttin Pax, die eine Ansammlung von Waffen verbrennt. Allerdings besteht zugleich Sallusts oder Valerius Maximus' Auffassung, wonach der Friede nur im Schutz der Waffen gedeiht. Diesen zwei Dimensionen des Friedens, der auf einer gerechten Rechtsordnung beruhenden inneren Eintracht und dem Zustand bloßer Krieglosigkeit, fügt das Mittelalter noch eine dritte, davon unterschiedene Friedensauffassung hinzu. Dieser dritte, wahre Friede entspricht einer kosmischen Ordnung, wonach alle Lebewesen schließlich in Gott versöhnt und vereinigt sein sollen. Er kann nur mit dem Vermögen und dem Willen erreicht werden, jedem Wesen die richtige Stelle in der hierarchischen Weltordnung zuzuweisen (vgl. Augustinus, De Civitate Dei XIX). Und Thomas von Aquin schreibt: „der wahre Friede kann nur in den Guten sein und nur in bezug auf die [wahren] Güter" (Summa theologica II 2, qu. 29, art. 2). Als Gottesordnung soll also der Friede einerseits der Zeit enthoben, d. h. eine Pax aeterna (ewiger Friede) sein und andererseits nicht nur die Handlungen, sondern auch die Seele der Menschen betreffen, die die wahren Güter erkannt haben muß. Dies hat folgende Konzequenzen: 1. Dem ewigen,

geistlichen Frieden gegenüber gilt jeder irdische zeitliche Friede als grundsätzlich nur unvollkommenes Abbild. Augustinus spricht von einer „pax mala" (einem schlechten Frieden) bzw. „pax falsa" (einem falschen Frieden).

2. Andererseits ist auch dieser irdische Friede nur innerhalb der Grenzen einer Rechtsgemeinschaft zu finden; er wird etwa von Nikolaus von Kues als „schmutziger Friede" verpönt, der ein Zusammenstimmen vieler zu etwas Bösem ist, wie z. B. der Verband zwischen Pilatus und Herodes; das Recht ist von der Gerechtigkeit untrennbar (Predigt am Tage der Geburt des Herrn, § 11). Darüber hinaus sei noch an das Wort Christi erinnert, er komme nicht, um den Frieden zu

Zur Geschichte des Friedensbegriffs

bringen (Mr. X 34). Nun treten im Mittelalter vielfältige Paspeciales (Sonderfrieden) auf,

die auf eine bestimmte Zeit bzw. auf ein bestimmtes Gebiet (z. B. (etwa Gottesfriede) Landfriede, Stadtfriede) oder auch auf manche Leute (etwa Hausffiede) beschränkt sind. Nun wird es für den Christen eine zentrale Aufgabe, einen allgemeingeltenden, wenn auch nur zeitlichen Frieden herzustellen. Ahnlich wie bei Cicero, so läßt auch Thomas von Aquin als einzigen Zweck eines Kriegs gelten, den zeitlichen Frieden der öffentlichen Angelegenheiten zu erhalten. Nach Marsilius von Paduas Defensor Pacis (1324) ist ein solcher Friede sogar die nötige Voretappe der völligen Entfaltung der Humanität, somit auch der Erreichung des geistlichen Friedens im Diesseits sowie des ewigen kosmischen Friedens im Jenseits. Der Gedanke des kosmischen Friedens, der alle Dinge umfaßt, aber erst im Jenseits erfüllt sein soll, geht auf die Tradition des Augustinischen De Civitate Dei (XIX 413-426) zurück. 3. Der zeitliche Friede ist kein Zweck an sich, sondern macht ein auf die Gemeinschaft der Seelen ausgerichtetes Gebot Gottes aus und kann anderen Geboten Gottes untergeordnet sein. Ein Christ soll z. B. bereit sein, auf ein ihm durch die iustitia verliehenes Recht zu verzichten, wenn die Caritas (Wohlwollen) es von ihm verlangt. 4. Da eine Rechtsgemeinschaft im mittelalterlichen Gerechtigkeitsverständnis nur auf einer Erkenntnis der wahren Güter beruhen kann, darf ein solcher allgemeingültiger Friede im Gegensatz zur Pax Augusta keine Nicht-Christen Muslimen oder Ketzer umfassen. Mit ihnen läßt sich nur ein Waffenstillstand, allgemeiner gesagt: ein Friede der zweiten Art, ein Zustand der bloßen Gewaltlosigkeit, erreichen. Schon hieraus erklärt sich das lange Festhalten des Mittelalters an der in Wahrheit nur nominellen Herrschaft des Römischen Kaisers Deutscher Nation bzw. des Papstes, wie es sich etwa noch in Dantes Monarchia (1310) zugunsten des Kaisers und in Campanellas Monarchia Messiae (1633) bzw. in Dubois' De Recuperatione Terre Sancte (1306) zugunsten des Papstes findet. Mehr noch: Unter dem Druck der Kreuzzüge, zuletzt unter Papst Leo X. (1513-1521) setzt sich die Einsicht durch, daß für deren Durchführung die Aufrechterhaltung ces

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Jean-Christophe Merle des Friedens unter den christlichen Staaten bei Dubois auch mit dem byzantinischen Kaiser vonnöten sei. Darum wird immer wieder an Friedensgerichte, Fürsten- und Staatenkongresse gedacht, die die europäischen Staaten hätten vereinen sollen. -

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2.2 Reformation und Naturrecht Während der Renaissance stellen manche Humanisten die Legitimität eines Kriegsbündnisses gegen die Ungläubigen in Frage und äußern den Wunsch nach einer säkularisierten eu-

ropäischen Friedensordnung: Erasmus (Querela pacis undique gentium ejactae profligataeque, 1517) verpönt den Krieg gegen das türkische Reich; er plädiert statt dessen für die Möglich-

keit einer Rechtsprechung unter Staaten. Aber erst nach Gelingen der Reformation wird ein allgemeiner Friede ohne Berufung auf religiöse Wahrheiten ins Auge gefaßt. Zwar verwendet der erste Artikel des Westfälischen Friedensvertrages noch im Jahre 1648 die Formel einer „pax christiana universalis perpetua1'; doch geht etwa das katholische Kirchenrecht nicht in die neu entstehende Rechtsordnung ein. Zum sozialgeschichtlichen Element der Teilung der Christenheit kommt das naturrechtliche Element mit dessen Menschenbild hinzu. Suärez (De Charitate, Disp. XIII: De Bello, 1621) erklärt einen Religionskrieg gegen die Türken für unerlaubt und plädiert für einen Frieden mit ihnen. Laut Grotius' De Jure Belli ac Pacis (1625) beschränkt kein Naturrecht den Frieden auf die Christen, vielmehr soll es sich auf die ganze Menschheit erstrecken. Dies hat zwei Folgen: 1. Man versteht unter dem inneren Frieden nicht mehr wie im Mittelalter einen Frieden im menschlichen Gewissen, sondern einen weltlichen Frieden. So trennt Martin Luther sehr streng die Aufgabe des Christen von der Aufgabe des Juristen (Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, 1523, 79 E). Der von den Juristen gestiftete Friede gilt nicht mehr als bloßes Abbild des geistlichen Friedens; der Friede wird zunehmend als Sicherheit gedacht. Um diese zu garantieren, liefert Hobbes seine

Zur Geschichte des Friedensbegriffs bekannte Theorie der Staatsautorität (Leviathan, 1651). Der Friede wird zum Zustand der Gewaltlosigkeit. Dabei versteht man unter Gewaltlosigkeit nicht nur die momentane Abwesenheit von Gewalt, sondern auch den Schutz vor dem immer bleibenden Risiko eines Kriegs aller gegen alle. 2. Der Friede ist nur im Rahmen eines schützenden Staates vorstellbar, so daß sich die von der christlichen Solidarität abgekoppelten Staaten wie Menschen im Naturzustand befinden, unter denen weder Regeln noch Friede herrschen. Während das Problem des Friedens im Staat in der Philosophie an Bedeutung verliert, stellt sich den politischen Denkern nun die Frage nach dem zwischenstaatlichen Frieden um so schärfer. Der auf der innerstaatlichen Ebene erfolgreiche Lösungsvorschlag der modernen Philosophie, die Idee des Gesellschaftsvertrags, mußte daher allmählich auf das zwischenstaatliche Niveau übertragen werden.

Damit beschäftigt sich eine andere Variante des naturrechtlichen Denkens, deren größte Vertreter Grotius, Pufendorf und Wolff sind. Im Gegensatz zu Hobbes will sie auch die zwischenstaatlichen Beziehungen juristisch regeln. Vico nennt in De universijuris uno principio et fine uno (1720) die Grundlage dieser Auffassung, indem er erklärt, daß alle Staaten der Welt einer großen Republik angehören. In dieser Universalgemeinschaft oder civitas maxima sind laut Wolffs bis Naturae (1758) die Selbstvervollkommnung und die gemeinsame Förderung der allgemeinen Wohlfahrt geboten. Nicht nur im Naturzustand, sondern auch in und zwischen ausgebildeten Staaten soll die allgemeine Wohlfahrt vorangetrieben werden. Nach außen verbietet das sogenannte „Völkerrecht" bewaffnete Interventionen wie Eroberungskriege und allgemein Kriege, die nicht die Herstellung einer gerechten und friedlichen Situation erstreben. Für die Handelsfreiheit, von der sich nicht nur viele frühe Wirtschaftswissenschaftler (vgl. etwa Melons Essai politique sur le commerce, 1734, oder Boisguilberts Dissertation sur la nature des richesses, 1712) in ihrer Zeit den Frieden erwarteten, argumentiert Wolff nicht aus Gründen der Wirksamkeit (wie später Quesnay oder auch Adam Smith), sondern aus rechtlichen, die civitas maxima betreffenden Gründen. Allerdings hält das Naturrecht an einem

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Jean-Christophe Merle wesentlichen Unterschied zwischen der Staatsordnung und den zwischenstaadichen Beziehungen fest: Während die privaten Kriege völlig zu beenden seien, indem der Staat über die Konflikte unter Bürgern entscheide, stritten in den äußeren, öffentlichen Kriegen souveräne Staaten gegeneinander, ohne daß es eine obere Zwangsinstanz, einen Schiedsrichter gebe. Für Grotius wäre ein Weltstaat unmöglich zu regieren. Bodins Einwände gegen den Gedanken eines Weltstaates (Sechs Bücher über den Staat, 1576, Buch I, Kap. 10; Buch V, Kap. 1) faßt Grotius in das Bild eines Schiffes, das sich nicht steuern \ä&t(Vom Recht des Krieges und des Friedens, Buch II, Kap. 22, § 13). Darum muß das Zwangsrecht im Fall der Nicht-Einhaltung der naturrechtlichen Verpflichtung von jedem berechtigten Staat selber ausgeübt werden. So unterscheidet sich die naturrechtliche Auffassung von der Hobbesschen nur relativ. Der wesentliche Unterschied liegt darin, daß das Naturrecht ein ius belli ist, d.h. 1. eine Regelung für die Beendigung oder die Vermeidung des Krieges darstellt (das ius ad bellum wird streng beschränkt und geregelt) und 2. für die Einhaltung der natürlichen Pflichten auch im Kriegszustand (ius in hello) plädiert: 1. Um den Krieg zu beenden, bieten sich drei Weisen an: das Colloquium (Diskussion), das Compromissum (Schiedsspruch) und die Fortuna (Zufall); letztere wird von Grotius naturrechtlich disqualifiziert. Vor allem zieht er dem Kriegsanfang strenge legitimatorische Grenzen: nur im Fall der Selbstverteidigung oder der Verletzung eines unter Staaten abgeschlossenen Vertrags darf der Krieg erklärt werden. Außerdem soll die Kriegserklärung öffentlich sein und muß Rechenschaft über die Gründe abgeben. Somit schreibt schon Grotius vor, was Kant systematisch begründen wird. Wie später bei Kant soll bei Grotius ein Friedensvertrag nicht nur den Krieg beenden, sondern auch dessen Ursache ausrotten, so daß der Keim eines künftigen Krieges nicht fortbestehen kann. 2. Im Krieg selber müssen strenge Regeln gelten: das gegebene Wort soll gehalten, die weiße Fahne respektiert und eine Möglichkeit zur Kapitulation vor der Feuereröffnung angeboten werden. Erniedrigende oder gar grausame Behandlungen der Feinde sowie jedes der mensch-

Zur Geschichte des Friedensbegriffs liehen Freiheit und Würde zuwiderlaufende Verhalten werden durch das Naturrecht wie später durch Kants Präliminarartikel verurteilt. Auch wenn das Naturrecht eine Rechtsordnung unter Staaten durch das Völkerrecht entwirrt, hängt deren Durchsetzung völlig vom guten Willen der einzelnen Staaten ab. Um die Zwangs- und Sicherheitsgarantie, die der Staat in jedem Land leistet, auch unter den Staaten zu stiften und damit den Frieden zu gewährleisten, werden Pläne einer internationalen Ordnung entworfen. Diese sind von zweierlei Art: Sie wollen den Frieden entweder durch ein pragmatisches Gleichgewicht unter den Staaten oder durch eine rechtsphilosophisch begründete internationale Organisation stiften.

2.3

Friedenspläne und deren Kritiker

Auch wenn die Idee des europäischen Gleichgewichts, die sich gegen die kaiserlichen und päpstlichen Neigungen für eine Universalmonarchie richtet, schon bei Humanisten wie Francesco de Vitoria zu finden ist, entwickelt sie sich vor allem aus der vornehmlich in Frankreich, aber auch in den reformierten Staaten zu findenden pragmatischen Absicht, dem Expansionismus von Kaiser Karl V, d. h. der Vorherrschaft Österreichs und Spaniens, entgegenzutreten. Dabei sollten alle Länder Europas ungefähr die gleiche Machtfülle erhalten, damit kein Krieg, sondern Harmonie entstehe. Allerdings wird diese Idee oft entweder (a) mit dem Aufbau einer nationalen Einheit verknüpft (etwa in Leibniz' Securitaspublica, 1670, Sämtliche Schriften, 4. Reihe, Bd. 2, mit der Idee eines deutschen Bündnisses gegen Ludwig XIV., oder in den späten Jahren Leibniz' mit dem Römischen Reich Deutscher Nation als der die Souveränität der einzelnen deutschen Staaten nicht aufhebenden oberen Instanz; vgl. Observations sur le projet d'une paixperpetuelle de Mr. VAbbe de Saint-Pierre, 1715), oder (b) mit dem Gedanken der Einflußnahme einer vorherrschenden Macht, die dazu fähig ist, dieses Gleichgewicht gegen Imperialisten zu schützen; so erhält z. B. in Sullys Alemoires des sages

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royales Oeconomies d'Estat, domestiques, politiques et mili-

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Jean-Christophe Merle taires de Henri de Grand, 1638 (einem von

Sully wegen der PuIV. blikumswirksamkeit Heinrich zugeschriebenen Friedensplan) Frankreich sozusagen die Vormundschaft über die anderen Länder des Systems des Gleichgewichts. Hier läßt sich wohl eine versteckte Hegemonie entlarven. Cruces Le nouveau Cyne'e mißt seinerseits eher dem Papst die entscheidende Rolle bei. Da die Konzeption des Friedens durch das Gleichgewicht unter den Ländern zwangsläufig eine neue Aufteilung Europas erfordert und ein führendes Land für die Erhaltung des Gleichgewichts vorsieht, kann sie zu einem verdeckten Imperialismus führen, der leicht Anlaß für einen Krieg bietet, wie Saint-Pierre betonen wird. Dies zeigt sich bei Richelieus Testament politique (1689) am deutlichsten, der dieses Gleichgewicht in Europa durch eine intensive Aufrüstung Frankreichs, eine Art Abschreckungstheorie, unterstützen will. Cruce und Sully haben das Verdienst, zum ersten Mal Pläne für nicht-religiöse internationale Institutionen zur Friedenserhaltung zu fassen. In diesem sind bei Cruce die verschiedenen Staaten Europas nach ihrer Bedeutung geordnet die geistlichen Mächte, sprich: zuerst der Papst und im Gegensatz zu den Kreuzzugsprojekten der türkische Sultan, bekommen die ersten Ränge; dann folgen in einer Völkerversammlung, die als Schiedsrichter mit Zwangsbefugnissen ausgestattet ist, die weltlichen Mächte: in der Reihenfolge die Könige Frankreichs, Spaniens usw. Sully sieht eine neue Teilung Europas und ein zweistufiges System von mehreren, jeweils für einen Teil Europas zuständigen Regionalräten und einem allgemeinen Beruftingsrat vor, die alle Konflikte dieser „christlichen Republik" zu schlichten haben. Dennoch sind sowohl bei Cruce wie bei Sully nicht Völker, sondern Könige vertreten; außerdem wird auf die bestehende Macht jedes Staats bei der Verleihung eines Rangs in diesem System geachtet. fm 18. Jahrhundert werden Friedenspläne entwickelt, die zwar von Cruce, Sully und anderen den Gedanken einer internationalen Organisation übernehmen, diese aber nicht als pragmatisches Kalkül eines Machtgleichgewichts, sondern als Rechtsordnung denken. Die ersten Pläne sind allerdings re-

Zur Geschichte des Friedensbegriffs

ligiös motiviert: W. Penns Essay towards the present and future Peace in Europe (1693) und Bellers' ein Religionsgenosse Penns Some reason for an european State (1710) durch ihr religiöses Quäker-Bekenntnis, durch die Vorstellung einer brüderlichen Freundschaft unter Menschen als Grundlage eines friedenstiftenden Staatenkongresses (Penn ist der Begründer von Pennsylvania und nannte die Hauptstadt PMadelphia), und Saint-Pierres Projet pour rendre la paix perpetuelle en Europe (1713) durch seine katholische Nächstenliebe. Dennoch argumentieren sie alle unter Annahme des Eigeninteresses als Triebfeder der Fürsten und der Menschen. Saint-Pierre sagt, daß, wie der Eintritt in die Rechtsgemeinschaft zwar die natürliche Freiheit der Individuen begrenzt, sie aber zugleich sichert, es auch für jeden Staat vorteilhaft ist, einer höherstufigen Rechtsgemeinschaft beizutreten. Bellers behauptet, daß die aus dem Frieden resultierende Abrüstung die Gewalt der Fürsten stärken würde; Penn will die Souveränität der einzelnen Staaten völlig erhalten, während Saint-Pierre das Recht des Staatenkongresses auf Einmischung in innere Angelegenheiten nur im Fall einer Revolution und zwecks Erhaltung der Verfassungsform anerkennt. Das Projekt Penns stützt sich aber nicht nur auf die Brüderlichkeit, sondern zugleich auf Zwangseinrichtungen, etwa auf die Verpflichtung der einzelnen Staaten, ihre Macht für die Durchsetzung der Entscheidungen einzusetzen; nicht zuletzt das Verbot, sich bei den Entschlüssen und Schiedssprechungen des Kongresses im Konfliktfall zu enthalten, soll Intrigen vermeiden. Als Beweis der Durchführbarkeit ihrer Projekte führen Penn, Bellers und Saint-Pierre das Vorbild konföderalistischer Staaten wie der Niederlande, der Schweiz oder auch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Na-

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tion

an.

Nach dem Muster des Gesellschaftsvertrags traut SaintPierres Plan nicht dem Gleichgewicht unter Staaten oder freiwillig abgeschlossenen und stets zu widerrufenden Verträgen, sondern will vielmehr um des ewigen Friedens willen jeden Staat zwingen, dem Staatenkongreß beizutreten und Geld und Soldaten zur Verfügung zu stellen. Noch immer in Analogie mit den Individuen soll jedem Staat eine Stimme

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Jean-Christophe Merle verliehen werden, wie groß er auch immer sein möge. Wie in einem Verfassungsstaat werden manche sogenannte Grundartikel des Staatenkongresses für unveränderbar erklärt, während andere wichtige mit qualifizierter Mehrheit (2/3) und weitere mit einfacher Mehrheit zu ändern sind. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wird immer wieder die Handelsfreiheit verlangt, indem der Merkantilismus und die Handelsschranken als kontraproduktiv, d. h. als Ursache der Armut und der Kriege angeklagt werden (etwa Boisguilbert, Melon, Hume, Turgot, Mably). Andererseits plädiert man für die Toleranz in Meinungs- und Glaubensangelegenheiten. Damit erhofft sich z. B. Voltaire die Abschaffung vieler Ursachen von inneren und äußeren Kriegen. Manche Denker glauben, daß die Freiheit allein, d. h. ohne internationale Zwangseinrichtungen, die Ausrottung des Krieges mit sich bringen kann. Benthams/1 Plan for an universal and perpetualpeace (verfaßt 1786-1789, veröffentl. 1843) schlägt z. B. einen Abrüstungsvertrag und einen internationalen Gerichtshof vor. Seiner Meinung nach bedürfen sie keiner Zwangsanstalt, da alle Staaten ein Interesse daran haben. Denn die Handelsfreiheit und die Abschaffung der durch die Aufrüstung verursachten Steuerlast sowie die Publizität der Debatte in dieser Anstalt, in der alle Staaten vertreten sind, stellen offensichtlich schon für jeden Staat einen Vorteil dar. Die Staaten haben selbst zu bestimmen, mit wieviel Truppen jeder von ihnen dem Gerichtshof Hilfe leisten solle. Es ist dann nur ein kurzer Schritt, in den mit Zwangsbefugnis ausgestatteten Organisationen Saint-Pierres und Benthams eine Beschränkung der Freiheit, ein unwirksames Mittel für den Frieden oder gar ein Risiko der Welttyrannei zu sehen. Wittich (Dissertatio juris gentium de tuendo aequilibrii Europae, 1723) hält es für ungerecht, daß auf diejenigen, die dem Bündnis nicht beitreten oder ihren Austritt erklären, Zwang ausgeübt werden soll. Rousseau sieht in einem Staatenkongreß eine unvermeidbare Souveränitätskollision zwischen den einzelnen Staaten, da die Souveränität sich nicht verteilt: ein Staatenkongreß würde die Staaten ihrer Freiheit berauben und wird daher auch von keinem Staat akzeptiert

(vgl- Jugementsur leprojet depaixperpetuelle, 1756). So müssen

Zur Geschichte des Friedensbegriffs

die Staaten bei Rousseau im Naturzustand des Krieges bzw. der Kriegsbereitschaft aller gegen alle verbleiben {Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, 1754). Seiner Ansicht nach ist der Krieg unter Staaten ein unvermeidliches Übel, da sich die Staaten miteinander vergleichen müssen und von widerläufigen Interessen getrieben werden (Fragments sur la guerre, § 3). Wünschenswerter als ein Friedensplan wäre deshalb nach Rousseau ein jus in hello auf die Weise des Naturrechts (Emile, 1762, V): Bündnisse und Schutzverträge können immer nur regional und gegen andere Staaten zustande kommen (Extrait duprojet depaixperpe'tuelle de VAbbe de Saint-Pierre, 1756); die Handelsfreiheit führt nicht zum Weltfrieden, sondern vielmehr zum Handelskrieg, so daß Rousseau für eine wirtschaftliche Autarkie eintritt (Project de constitution pour la Corse, 1765, veröffentl. 1861). Ein den Frieden in Europa stiftender Staatenkongreß würde nur den Status quo anerkennen und den Übergang der bestehenden Staatsordnungen zur Demokratie verhindern. Diderots und d'AIemberts Encyclopedic ou dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers (1751-1780, Art. „Guerre") vertritt sogar die Meinung, der Krieg sei nicht nur unvermeidlich, sondern mache auch die menschliche Gattung stärker: er erwecke die Tugend und schütze gegen die Trägheit. Diese Idee entspricht auch Leibniz' Auffassung, nach der der Weltfriede nicht mehr die Weltharmonie darstellt, sondern ihr untergeordnet sein soll. Leibniz unterscheidet zwischen dem jus strictum (strengem Recht), das gebietet, den Frieden zu sichern und niemandes Rechte zu verletzen (Codex diplomaticus, 1693, § XIII), und der universellen oberen Gerechtigkeit, die Konflikte erfordert; in der von Gott eingerichteten bestmöglichen Welt impliziert die erwünschte Vervollkommnung der Monaden zugleich ein Konkurrenzverhältnis zwischen ihnen. Das Streben nach Harmonie die Koexistenz möglichst weitentwickelter Monaden ist mit Unruhe verbunden (vgl. Confessiophilosophi, Sämtliche Schriften und Briefe, 6. Reihe, Bd. Ifl). fnsoweit sind nur begrenzte Interessenbündnisse, aber kein ewiger Friede möglich. Leibniz (Codex diplomaticus) spricht schon von dem Spruch der holländischen Herberge, den Kant am Anfang -

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Jean-Christophe Merle Zum ewigen Frieden erwähnt: nur aufdem Friedhof sei der ewige Friede zu finden! Die Französische Revolution übernimmt z. T. die Meinung der Vertreter der Handels-, Berufs- und Religionsfreiheit. Nur partikuläre Interessen (die Machtvergrößerung des Königs im Merkantilismus bzw. die Privilegien des Adels im Fall der Nicht-Zugänglichkeit mancher Berufe für die Nichtadeligen bzw. die Dogmen der Kirche) verhindern das harmonische Zusammenleben der Menschen. Sie verursachen immer wieder Bürgerkriege und Eroberungskriege, die zu verpönen sind. Die für die bisherigen Kriege verantwortlichen Institutionen sollen deswegen abgeschafft werden. Dazu ist aber eine Revolution, ein Bürgerkrieg gegen den Despotismus vonnöten. Um des ewigen Friedens willen ist ein letzter, im naturrechtlichen Sinne gerechter Krieg erforderlich; aber nicht mehr ein Krieg von Staaten gegeneinander, sondern von den Unterdrückten gegen die Unterdrücker, von den rechtlich Verletzten gegen den rechtlich Verletzenden. Nun ist dieser Bürgerkrieg selbstverständlich ein Weltbürgerkrieg und erzielt nicht den Staatsfrieden, sondern den ewigen Menschheitsfrieden (vgl. Cloots: La Republique universelle, 1792; J. G. Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität, 1793; J. Madison: Universal Peace, 1792). Dieser Friedensgedanke rief bekanntlich nicht nur in Frankreich erhebliche Begeisterung hervor, die z. T. dazu führte, daß die alliierten Monarchen Europas den Krieg gegen die Französische Revolution erklärten und damit eine mehr als zwanzigjährige Kriegsperiode in Europa begannen, in der die Revolutionsgedanken sich zu verbreiten und durchzusetzen versuchten. In dieser Periode ist der Anlaß von Kants Zum ewigen Frieden, der Basler Friede, nur ein Waffenstillstand im Kantischen Sinne gewesen. von

_3 Hans Saner

Die negativen Bedingungen

des Friedens

3.1

Einleitung: Anlaß, Form und Titel

der Schrift

Am 5. April 1795 wurde nach langen Verhandlungen der Baseler Friede zwischen Frankreich und Preußen geschlossen. Durch ihn schied Preußen aus der antirevolutionären Koalition mit Osterreich und England aus, die seit über drei Jahren gegen Frankreich Krieg führte. Es brach damit die diplomatische Isolierung Frankreichs auf und trat ihm überdem die linksrheinischen Besitzungen ab. Weil es damit seine Pflichten als Stand des Habsburgischen Kaiserreichs verletzte, war der Friede sehr umstritten. Er wurde vor allem in Preußen und Frankreich zum Teil enthusiastisch begrüßt, aber im Reich, das den Krieg noch zwei Jahre weiterführte, als Verrat empfunden. Kant sagt nirgends, daß diese Ereignisse der Anlaß zu seiner Friedensschrift gewesen seien, weshalb es zuweilen bezweifelt (Klemme 1992, XI) oder gar resolut bestritten wird (z. B. Berkemann 1972, 126). Aber Jachmann berichtet im „Zwölften Brief seiner Biographie (1804), daß Kant oft den Wunsch geäußert habe, Preußen möge sich nicht in die Angelegenheiten Frankreichs einmischen, und daß er sich „innig" darüber gefreut habe, „als dieser Wunsch erfüllt wurde" (Groß 1912, 175). Der Friedensschluß war nicht nur auch an Kants Tisch Tagesgespräch, sondern er löste überdem eine ganze Flut von Publikationen aus. Otto Tschirch, der beste Kenner der „öffentlichen Meinung" im damaligen Preußen, hat allein in der Preußischen Staatsbibliothek (Berlin) und der Sächsischen Landesbibliothek (Dresden) über 80 -

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Hans Saner

Flugschriften aus den Jahren 1795 und 1796 zum Baseler Frieden gefunden (Tschirch I 1933, 64). Schriften über den möglichen Austritt Preußens aus dem Krieg gab es indes schon früher. Etwa Wieland plädierte 1794 in mehreren Pu-

blikationen für den Frieden (Dietze/Dietze 1989, 59 ff.). Es ist fast sicher, daß Kant sie gelesen hat. Kaum etwas spricht also gegen die Annahme, daß der Baseler Friede der Anlaß zur Friedensschrift war, am wenigsten die relativ kurze Zeitspanne von vier Monaten zwischen dem Friedensschluß und der Ankündigung der fertigen Schrift an den Verleger Nicolovius (13. 8. 1795; XII 35). Wenn Kant etwas durchdacht hatte, schrieb er es zuweilen unglaublich schnell nieder, z. B. die Kritik der reinen Vernunft nach eigenem Zeugnis „in etwa 4 bis 5 Monaten" (X 338). Da das Erdenken des Friedens bei ihm nicht erst 1795 einsetzte, sondern schon eine längere Geschichte hatte und übrigens in der gebildeten Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts eine reiche Tradition (Dann 1970, 100 ff.), dürfte es ihm nicht allzu schwergefallen sein, auf das Zeitereignis sofort zu reagieren allerdings in einer grundsätzlichen Weise, die den bloßen Anlaß weit hinter sich ließ. Kant bringt seine Friedensschrift in die literarische Form eines Friedensvertrages. In völkerrechtlichen Vertragswerken des 17. und 18. Jahrhunderts ging zuweilen dem definitiven Friedensvertrag ein „Präliminarvertrag" voraus, in dem sich die Parteien über die Bedingungen für die Beendigung des Kriegszustandes und für den Abschluß des späteren endgültigen Friedensvertrages einigten. Analog zu dieser Usanz bilden die Präliminarartikel den Präliminarvertrag, die Definitivartikel mit den Zusätzen und Anhängen den Definitiwertrag. Kant vereinigt aber beide Verträge in einem, innerhalb dessen die Präliminarartikel die negativen und die Definitivartikel die positiven Bedingungen des künftigen Friedens nennen, während die Zusätze und Anhänge von dessen Gefährdungen und Sicherungen handeln. Man könnte diese Form ästhetisch für einen genialen Einfall halten. In der Form eines Friedensvertrages vom Frieden -

sprechen bedeutet, Materie und Form zur Deckung zu bringen und dieser Schrift einen Abglanz von Kunst zu verleihen. Sie ist denn auch zweifellos ein gediegenes, ein bezu

DIE NEGA-

BEDINGUNGEN DES FREDENS

sonders geglucktes Werk Kants. Aber sprechen nicht alle Friedensvertragevom Frieden?MiiBte man sornit nicht allen zubilligen, in W c h e r Weise wie Kants Schrift Kunstwerke zu sein? Der Unterschied liegt auf der Hand: VeMge wie etwa der Baseler Friedensvertrag fixieren rechtlich den Ausgang eines bestimmten Krieges. Kants Friedensschrift ist nicht ein Vertrag dieser Art, auch nicht ein Mustervertrag fiir Friedensvertrage. Er will nicht bloS einen bestimmten Krieg in einen Frieden auf Zeit uberfiihren, sondern den Krieg in den Frieden. Er ist der urspriinglicheVertrag, der jeden partikularen Rechtszweck bestimrnter Situationen uberschreitet hin auf den letzten Zweck des ganzen ,offentlichen Menschenrechts uberhaupt" (360). Er ist gleichsarn der Vertrag der Vertriige: die ,,Legitimationsgrundlage fiir jeden Vertragu und somit auch ,,fiir alle in der Geschichte der Menschheit moglichen Friedensvertriige zwischen Staaten" (Geismann 1983,369). Der Baseler Friede wurde also Kant zurn Anlai3, einen ganz anderen Frieden zu denken, und die Form des volkerrechtlichen Vertrages wurde ihm zur Metapher fiir einen Vertrag, den es noch nie gegeben hat. Damit 1aSt sich verstehen, weshalb Kant seine Schrift irn Untertitel einen ,pbilosophischen Entwurf" nennt: Ein Vemag von nicht mehr endlichen Rechtszwecken kann kein recbtlicher Vemag sein, ja uberhaupt kein Verhag. Er ist vielmehr eine philosophische Idee in der Form eines Vertrags, die auf die ,mszendental rechtliche Natur des Friedens" (Freudenberg 1967,68) hinweist. ,Enmaf' aber hat irn Kantischen Sprachgebrauch weder die weite Bedeutung von ,VorarbeitU, ,SkizzeU oder ,Umria'', denen noch eine ,,Ausfiihrungu folgen kiinnte oder sollte, noch die enge von ,Plan" oder gar ,Programmu, sondern an den entscheidenden Stellen die spezi£ische von ,Erdenken einer moglichen Wxklichkeit aus transzendentalen Prinzipien a priori". So beschreibt er in der Kiitik der reinen V i a @ (BXIII), wie den groaen Naturforschern ein Licht aufgegangen sei: ,Sie begriffen, daS die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, da sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach bestkdigen Gesetzen vor-

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Hans Saner

angehen und die Natur nötigen müsse,

auf ihre Fragen zu sich von ihr allein nicht aber antworten, gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse ..." (III 10). Dieses Vorgehen des Denkens, das Einheit nach Gesetzen in die Vielheit bringt und erst dadurch Wirklichkeit verstehen läßt, ist im Bereich der praktischen Vernunft nicht anders, weder beim Erdenken eines „Leitfadens der Geschichte", wo Kant den transzendentalen Historiker ausdrücklich mit Kepler und Newton vergleicht (VIII 18), noch beim Erdenken eines möglichen ewigen Friedens aus Rechtsprinzipien. Der Untertitel „philosophischer Entwurf1 ist nicht ganz so bescheiden, wie er alltagssprachlich klingen mag, sondern mit dem Anspruch verbunden: Hier wird der Weg zum Frieden verstehbar gemacht, weil ihn die Vernunft selbst nach ihrem Entwurf -

aufzeigt.

Kant leitet seine Friedensschrift mit einer Clausula salvato-

ria, einer Schutzklausel, ein, die den Charakter einer ironi-

schen öffentlichen Verwahrung in eigener Sache angesichts der drohenden Zensur hat, aber zugleich geschickt und witzig die Protagonisten zweier entgegengesetzter Formen des ewigen Friedens vorstellt. „Zum ewigen Frieden", so sagt er, heiße eine „satirische" Inschrift auf dem Schild eines holländischen Gasthauses, „worauf ein Kirchhof gemalt war". Man wisse bloß nicht, wem diese Kirchhofsruhe zugedacht sei: ob allen ,JAenschen überhaupt" oder „besonders" den Staatsoberhäuptern, „die des Krieges nie satt werden können", oder „gar nur" den Philosophen, „die jenen süßen Traum träumen" (343). Das Bild vom Friedhof, das Kant offenbar von Leibniz übernommen hat (Cavallar 1992, 21 f.), taucht im 6. Präliminarartikel wieder auf: Wenn der Krieg zum Ausrottungskrieg verkomme und diese Tendenz liegt für Kant in allen „ehrlosen" (346) Formen der Kriegsführung, dann werde der ewige Friede „nur auf dem großen Friedhofe der Menschengattung stattfinden" (347). Der ewige Friede als horror vacui einerseits und als „letztes Ziel des ganzen Völkerrechts" (VII 158) andrerseits: das sind die beiden Pole, innerhalb deren Politik gemacht wird. Die Macher sind die -

„praktischen Politiker", die, angeblich „weltkundig" (343)

und klug, in Wahrheit aber der „Klügelei" (385) verfallen, von

Die negativen Bedingungen des Friedens

„Erfahrungsgrundsätzen" ausgehen; die theoretischen Politidagegen sind jene ebenfalls vermeintlichen „Schulweisen", in Wahrheit aber Philosophen in weltbürgerlicher Abker

sicht, die den süßen Traum vom ewigen Frieden träumen und

diesen dann aus ganz anderen Grundsätzen denken. Die persönliche Verwahrung gegen die drohende Zensur spielt sarkastisch mit dem Szenario der Exposition: Wenn man im Lager der praktischen Politiker ohnehin die „sachleeren Ideen" eines Philosophen für so harmlos und ungefährlich halte, daß man ihn „seine elf Kegel auf einmal werfen lassen" (343) könne, so möge man doch auch die Konsequenz aufbringen, „hinter seinen auf gut Glück gewagten und öffentlich geäußerten Meinungen nicht Gefahr für den Staat zu wittern" (ibid.). Natürlich wußte er, daß er mit dieser Konsequenz nicht rechnen durfte und daß es für die Zensur drei neuralgische Punkte gab: Äußerungen in religiösen Belangen denen er ohnehin, nachdem am 1. Oktober 1794 eine vom Justizminister Wöllner unterzeichnete Königliche Kabinettsordre an ihn ergangen war, auf Zeit abgeschworen hatte -; kritische Äußerungen in landespolitischen Fragen denn ein neues Zensuredikt vom März 1792 bestimmte, daß „jeder Tadel der inneren Verwaltung und der Landesgesetze bestraft werden sollte" (Cavallar 1992, 14) und kaum verhülltes Lob für Frankreich; denn der Jakobinerverdacht war das Gespenst, das im Lande umging. Wie gefährlich ihm die „Parteilichkeit" (VII 85) für Frankreich, deren Allgegenwart er selbst 1797 noch für gewiß hielt, und die Kritik an der preußischen Gesetzgebung, an der Armee und an der Verwaltung werden konnten, wußte er. Er unterzog sich diesen Schikanen in der Haltung eines gehorsamen, nun aber auch „klugen" Staatsbürgers. Niemand kann geradezu bemessen, welche Auswirkungen die Drohung der Zensur auf Kants Friedensschrift im einzelnen hatte. Die beste Hypothese ist, daß der Satz noch immer galt, den er viele Jahre zuvor (1766) an Mendelssohn geschrieben hatte: „Zwar denke ich vieles mit der allerklarsten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit, was ich niemals den Mut haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen, was ich nicht denke." (X 69) -

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3.2 Die Präliminarartikel im ganzen Die Präliminarartikel machen umfangmäßig etwa den achten Teil der Friedensschrift: aus. Sie stellen, mit Ausnahme der relativ langen Schlußanmerkung über Erlaubnisgesetze, kaum Interpretationsprobleme. In der Kant-Literatur wurden sie deshalb bis heute nur selten eingehend erörtert, nämlich bei Williams (1983, 245-253) mit überwiegend historischem, bei Geismann (1983, 369-376) mit ausschließlich rechtsphilosophischem und bei Cavallar (1992, 100-132) gleichermaßen mit historischem und rechtsphilosophischem Interesse. Trotz dieses Schattendaseins sind sie in zweifacher Hinsicht wichtig: Systematisch gesehen bilden sie den negativen Teil von Kants Philosophie des Friedens, und pragmatisch gesehen greifen nur sie konkret in den politischen Alltag ein. Sie nennen nämlich das, was sofort unterlassen werden müßte, falls der Friede ä la longue nicht auf dem Friedhof der Menschheit stattfinden soll. Weil nur sie unmittelbar wehtun, verlangte ihre Formulierung vielleicht mehr politischen Mut als die der „süßen Träume" von der nicht kriegssüchtigen Republik, vom Völkerbund und vom Weltbürgerrecht. In einer Vorarbeit hat Kant die Präliminarartikel wie folgt skizziert: „Vom ewigen Frieden. Mittel dazu. 1) Keine alten Ansprüche reservieren. 2) Keine unabhängigen Länder erobern. 3) Keine stehende Armee (perpetuus miles) zu halten. 4) Keinen Schatz zu sammeln. 5) Keine Staatsschulden zu machen. Das sind negative Mittel." (XXIII 155) Das unter 1) genannte Verbot ist in der Druckfassung an erster Stelle geblieben und als Verbot der „geheimen Vorbehalte zu einem künftigen Kriege" (VIII 343) präzisiert worden. Das 2. Verbot der Vorarbeit wurde in der Druckfassung in zwei Verbote aufgeteilt, deren eines (Artikel 2) verbietet, Staaten wie eine persönliche Habe zu erwerben, und deren anderes (Artikel 5) verschärfend untersagt, sich in die Verfassung und Regierung anderer Staaten überhaupt gewalttätig einzumischen. Das 3. Verbot der Vorarbeit wurde an gleicher Stelle in die Druckfassung übernommen. Das 4. ging in den Kommentar zum 3. Präliminarartikel ein, und das 5. Verbot der Vorarbeit wurde zum 4. der Druckfassung. Zusätzlich hat Kant in die Druck-

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Die negativen Bedingungen des Friedens ein Verbot aller Kriegshandlungen aufgenommen, wechselseitige Vertrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen, so daß die Präliminarartikel

fassung die das

schließlich die Verbote umfassen: 1. der geheimen Kriegsvorbehalte bei Friedensschlüssen, 2. der privatrechtlichen Erwerbung von Staaten, 3. der stehenden Heere, 4. der Staatsverschuldung in Beziehung auf äußere Kon-

flikte,

5. der gewaltsamen Einmischung in andere Staaten, 6. der ehrlosen Kriegshandlungen. Kant verbindet die Verbote argumentativ kaum miteinander. Er gibt keine Systematik, sondern nur eine nachträgliche Gruppierung nach den Typen der Verbotsgesetze. Jedem Artikel fügt er einen kurzen Kommentar bei, der zuweilen in der Argumentation ziemlich sprunghaft ist und gelegentlich weitere Verbote nennt, die nicht weniger wichtig sind als das im Titel genannte. Einen konsequenten Versuch der rechtsphilosophischen Systematisierung hat Geismann gemacht (1983, 369), aber nicht ohne in gewisse Verlegenheiten zu geraten. Das Verbot der stehenden Heere kommt nämlich in Kants Rechtslehre nicht vor, sondern ist eine Besonderheit der Friedensschrift. Wie geht man also damit systematisch um? Man verbirgt es in einer Fußnote und verwandelt es im Text zu einem Gebot der „Bereitschaft zu wechselseitiger und allgemeiner Abrüstung" (a. a. O., 371), oder man spricht, wie Cavallar, der Geismanns Systematisierung für „sinnvoll" (a. a. O., 103) hält und sie deshalb übernimmt, von einem Verbot des „militärischen Hoch- und Wettrüstens" (a. a. O., 100). Daß die Systematisierung mißlingen muß, hat einen einfachen Grund: Die Präliminarartikel sind nicht als rechtsanalytische Herleitungen entstanden, sondern als Einsprüche der Vernunft gegen die vorherrschende politische Praxis. Daß sie rechts- und moralphilosophische Implikationen enthalten und zuweilen auch aus ihnen argumentieren, versteht sich, darf aber nicht ihre pragmatische Dimension unterschlagen. Für unsere Interpretation der einzelnen Präliminarartikel wählen wir die Reihenfolge 1, 6, 5 (leges strictae), 2,3,4 (leges latae). Die Artikel 1 und 6 öffnen gemeinsam den Raum,

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innerhalb dessen die Verbote ausgesprochen werden: Der Wille zum Frieden soll bedingungslos sein (1) aber die Staaten stehen noch im Naturzustand zueinander, in dem der Krieg weiterhin möglich bleibt (6). In diesem rechtlich ungesicherten Raum soll fortan jeder Staat „sich selbst reformieren" (XXIII 155) dürfen: also keine gewaltsame Einmischung in die Verfassung und Regierung anderer Staaten (5) und keine Erwerbung eines Staates, als ob dieser eine private Habe wäre (2). Wenn man wirklich den Frieden will, muß man auf die Mittel, die den Krieg jederzeit möglich machen, verzichten: also Abschaffung der stehenden Heere (3), des Kriegsschatzes (3) und des Kreditwesens „in Beziehung auf äußere Staatshändel". All das ist und garantiert noch nicht den positiven Frieden, aber legt ihm ein Fundament. -

3.3 Die strengen Verbotsgesetze Der 1. Präliminarartikel heißt im Wortlaut: „Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden." (343) Kant kommentiert das Verbot mit vier Argumenten:

Das erste ist begriffsanalytischer Art: Ein Friede, auf den wieder ein Krieg folgt, ist lediglich ein Waffenstillstand und damit ein „Aufschub der Feindseligkeiten". „Friede" im strengen Sinn aber bedeutet „das Ende aller Hostilitäten". Deshalb sei die Formel „ewiger Friede" „ein schon verdächtiger Pleonasmus", verdächtig wahrscheinlich, weil sie impliziert, daß es auch den nicht-ewigen Frieden gebe. Erst durch diese begriffsanalytische Unterscheidung wird der Titel der Schrift verstehbar. Nun weicht aus ihm alle Ironie, die er in der Clausula salvatoria hatte. Der Begriff in seinem Ernst fällt unausgesprochen ein Urteil über die ganze Geschichte der Menschheit: Sie war bisher die Zeit der Kriege und der Waffenstillstände, also insgesamt eine friedlose Zeit. Zugleich geht von der Unterscheidung ein moralischer Anspruch auf den Sprachgebrauch aus: Der Waffenstillstand soll „Waffenstillstand" heißen und nicht Frieden.

Die negativen Bedingungen des Friedens Mit der sprachlichen Exaktheit fängt der Friede an, sofern sie selber ein Ausweis der Wahrhaftigkeit ist. Verständlich wird auch noch einmal, warum der Friede entworfen werden muß.

Als ewiger Friede kann er unmöglich a posteriori verstanden, sondern muß a priori erdacht und gestiftet werden. Die zentrale Bedingung für den negativen Frieden nennt Kant im zweiten Argument: Alle objektiv vorhandenen Gründe (Kant sagt „Ursachen") zum künftigen Krieg „sind durch den Friedensschluß insgesamt vernichtet" (343), wie gut sie auch historisch beleg- und beweisbar sein mögen. Das Argument folgt zwingend aus der begrifflichen Klärung. In einer Reflexion aus der Zeit (Refl. 7837; XIX 530) stellt Kant diesen Zusammenhang her und weist auf seine wichtigste Konsequenz hin: „Ein Friede muß, jederzeit als ewige Aufhebung alles Rechtsstreits aus Gründen, die gegenwärtig existieren, angesehen werden; denn sonst ist die Suspension der Feindseligkeiten nur ein armistitium, wo man sich noch immer Gründe zu künftigen Feindseligkeiten vorsätzlich aufbehält. Also setzt ein jeder Friede voraus, daß alle Ansprüche, die bis auf den Zeitpunkt ein Staat auf den andern haben konnte und die zu Feindseligkeiten Anlaß geben könnten, abgetan und für Null erklärt sind. Mithin macht der Friede einen neuen Abschnitt zwischen zwei Staaten, über den hinaus zurück nichts hervorgesucht werden darf, was nicht als abgemacht betrachtet würde." Wenn also der Friede ewig sein soll, muß der Wille zum Frieden absolut und unbedingt sein und wenn er unbedingt ist, so hält er alle früher bestehenden Kriegsgründe für null und nichtig. Der Friede hat deshalb einen epochalen Charakter. Mit ihm beginnt im Leben zweier Völker eine ganz und gar neue Zeit. Er ist nicht die Fortsetzung der bisherigen Politik, sondern die Schaffung einer neuen Ära des politischen Denkens und Handelns, die mit einer radikalen Umkehr der Denkungsart verbunden ist. Einige Autoren haben daraus geschlossen, Kant fordere „die bedingungslose, wechselseitige Anerkennung des Status quo" (Cavallar 1992, 105). Davon kann gar nicht die Rede sein; denn eine derartige Politik wäre auch eine Friedhofsruhe. Verlangt wird lediglich, daß die Gründe der künftigen -

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Hans Saner die unbedingt notwendig ist, weil mit dem Frieden ja eine neue Ära der Politik beginnt, nicht althergebrachte Kriegsgründe sind, sondern neue Gründe der Reform und daß somit die Veränderung des Status quo nicht gewalt-

Veränderung,

ist. Das dritte Argument wendet sich diesen künftigen Gründen zu. Sie werden nur dann nicht zu neuen Kriegsgründen, wenn mit der Mentalität des Nachrechnens auch die Mentalität der geheimen Vorbehalte, diese ,Jesuitenkasuistik" der „reservatio mentalis", die „unter der Würde der Regenten" und ihrer Minister ist, ein für allemal abgelegt wird. Denn aus der Verbindung der geheimen Vorbehalte mit dem „bösen Willen" erfolgt die Fortsetzung des Krieges bei der „ersten gün-

sam

stigen Gelegenheit" (344). Im Traktat zum ewigen Frieden in der Philosophie (VIII 422) ist der eigentlich faule Fleck in steht der Satz: „Die Lüge

der menschlichen Natur ..." Im 1. Präliminarartikel wird das Argument nicht im engen Sinn das Wort kommt darin nicht vor gegen die Lüge geführt, sondern einerseits gegen die Heimlichkeit, die dem Prinzip der Publizität widerspricht, und andrerseits gegen die Mentalität des Vorbehalts, die der Unbedingtheit des Friedenswillens nicht nachkommt. Die Lüge in der Politik legt sich fest, indem sie ausgesprochen wird. Sie hat einen punktuellen Charakter. Deshalb kann man sie auch überführen. Die Mentalität der Vorbehalte aber ist eine offene Disponibilität für alle künftigen Gelegenheiten: ein Hang und eine prinzipielle Bereitschaft zum Vertragsbrach, schon bevor er gebrochen wird. Daß einem lügenhaften Vertrag die Geltung abgesprochen wird, versteht sich von selbst. Kants Einsprach ist weit strenger: daß schon einem ...

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Friedensvertrag die Vertragsfähigkeit und Geltung abgesprochen wird, der nicht sowohl in bezug auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft uneingeschränkt die Prinzipien des Krieges verläßt.

Der Schluß des Artikels zeigt, daß Kant sich der Radikalität seiner Forderang durchaus bewußt war. Diese, so sagt er, müsse für „schulmäßig und pedantisch" gehalten werden, wenn man „nach aufgeklärten Begriffen der Staatsklugheit" die wahre Ehre des Staates „in beständiger Ver-

Die negativen Bedingungen des Friedens

größerung der Macht" sehe „durch welche Mittel es auch sei"

(344).

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Niemand dürfte damals die Anspielung auf Friedrich den Großen überhört haben, der exakt nach diesem Rezept seine Kriegspolitik betrieben hatte: zynisch, nie um historische Gründe verlegen und jederzeit voller Vorbehalte zur eigenen Ehre, die er für die Ehre des Staates hielt. Der Wille zum Frieden muß absolut sein, gerade weil die „natürlichen" Beziehungen der Staaten zueinander nicht friedlich sind. Die überall vorherrschende Realität ist der „Zustand des Krieges" (VI 344) aufgrund der mangelnden Rechtsverhältnisse, wenn auch nicht immer der akute Krieg. Also muß der Wille zum Frieden bereits vor dem Friedensschluß im Krieg wirksam sein, d. h., der Krieg muß „sich mit einer allgemeinen friedlichen Gesinnung zusammenschicken" (Refl. 8062; XIX 598). Kant nennt im 6. Präliminarartikel die Bedingung dafür: „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen ..." (346) Als solche Feindseligkeiten werden dort und in der Rechtslehre (§ 57) genannt: Meuchelmord, Giftmischerei, Brechung der Kapitulation, Anstiftung zum Verrat, Spionage, Verbreitung falscher Nachrichten, Plünderung des Volks und Heckenschützen. Sie sind allesamt „ehrlose Stratagemen" (346), „höllische Künste" (347) „niederträchtige" (ibid.) und „heimtückische Mittel" (VI 347), die sich „nicht lange innerhalb der Grenze des Krieges halten" (VIII 347), sondern auch in den Friedenszustand (den Waffenstillstand) ausgreifen und diesen erneut in den Krieg überführen. Aber den eigentlichen Schaden fügen sie im und gleichsam dem Krieg zu, und zwar in mehrfacher Weise: Sie zerstören im Krieg jegliches Vertrauen in „die Denkungsart des Feindes" (346), ohne das kein Friedensschluß und infolgedessen auch kein Frieden mehr möglich ist, weil dieser, als Vertrag, auf der aktiven und passiven Vertrauensfähigkeit beruht. Sie machen deshalb aus dem Krieg, der seinem Wesen nach ganz anders als der Frieden nicht absolut ist, einen „unendlichen Krieg" (Refl. 8063; XIX 599) der -

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Zeit nach und einen totalen Krieg der Betroffenheit nach: einen „Ausrottungskrieg", und zerstören so das bißchen Recht, das trotz allem noch in ihm ist, indem sie ihn mit einer schrankenlosen Erlaubnis der Mittel und mit widersinnigen Zwecken ausstatten. Sie rauben ihm damit auch das negative naturrechtliche Surrogat eines Sinns. Kant steuert dieser Tendenz entgegen, indem er die naturrechtliche Funktion des Krieges in ihren Grenzen aufzeigt und von daher nach den unerlaubten Mitteln auch die unerlaubten Zwecke des Krieges zurückweist. Der Krieg, so sagt er, ist lediglich ein „trauriges Notmittel im Naturzustande" (347), das seine Berechtigung nur hat, weil es kein internationales bürgerliches Recht und keine Rechtsinstitutionen gibt, die einen öffentlichen Rechtsgang in einem Prozeß möglich machen. Da niemand verbindlich Recht sprechen kann, darf das bedrohte oder verletzte eigene Recht durch eigene Gewalt geschützt, gewahrt oder zurückgefordert werden, wobei der Ausschlag des Waffengangs wie ein Gottesurteil Recht schafft, weil es keine andere Art von Gerechtigkeit gibt. Gäbe es diese, so wäre es ihre Aufgabe, den Krieg überflüssig zu machen. Zwar kann man ihm teleologische Funktionen zudenken; aber auch diese müssen in seine Aufhebung münden. Denn die moralische Vernunft spricht „in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen Mir und Dir im Nadenn das ist turzustande, noch zwischen uns als Staaten nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll" ...

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(VI 354).

Weil der

Krieg nicht unendlich und absolut werden darf, eingegrenzt werden:

müssen auch seine Zwecke

Der Ausrottungskrieg, zu dem die ehrlosen Mittel notwendig führen, „muß schlechterdings unerlaubt sein" (347), weil

alles Recht und ineins damit die ganze Menschheit verschlingt. Von diesem kategorischen Verbot geht eine Regel für das Maß der Gewalt im Krieg aus: erlaubt kann nur so viel Gewalt sein, „als mit der Erhaltung des menschlichen Geschlechts bestehen kann" (Refl. 8067; XLX 600). Der Bestrafungskrieg ist unerlaubt, weil alle Staaten gleichermaßen Rechtssubjekt sind und somit „kein Verhältnis eines Obern zu er

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Die negativen Bedingungen

des

Friedens

einem Untergebenen stattfindet" (347). Schließlich verbietet die „Rechtslehre" (§ 57) den Unterjochungskrieg, weil er „eine moralische Vertilgung eines Staats" (VI 347) wäre, d. h. ihn als Rechtssubjekt aufheben und sein Volk der Knechtschaft überantworten würde. Das Prinzip aller Einschränkungen des Krieges, ob nun in den Mitteln, in den Zwecken oder in der Funktion, kann man auf den einfachen Nenner bringen: Der Krieg soll nach -

Grundsätzen so geführt werden, daß er den Frieden nicht notwendig verhindert. Gar nicht auszudenken, worauf die Kriegführung unserer Tage verzichten müßte! Dem 6. Präliminarartikel entspricht § 57 der Rechtslehre, der das „Recht im Kriege" (VI 347 f.) abhandelt. Kant sagt dort, daß dieser Teil des Völkerrechts am meisten Schwierigkeiten mit sich bringe, weil man sich andauernd „ein Gesetz in diesem gesetzlosen Zustande zu denken" habe. Die Schwierigkeiten zeigen sich in den Präliminarartikeln in mehrfacher Weise: Kant spricht offenbar von Recht auf ganz verschiedenen Ebenen, die er nicht immer „pedantisch" -

So herrscht etwa der Naturzustand nur in den äußeWechselverhältnissen der Staaten vor. Innerhalb dieses naturrechtlichen Weltkriegszustandes aber sind die einzelnen Staaten für sich bereits Inseln des bürgerlichen Rechts. Für jeden Staat sind also der Naturzustand und der bürgerliche Zustand zugleich gegeben, der eine in den äußeren, der andere in den inneren Beziehungen. Sofern die äußeren aber die inneren mitbetreffen, überschichten sich in gewissen Konflikten Naturrecht und bürgerliches Recht. Der gleiche Akt kann dann nach innen bürgerliches Recht und nach außen Naturrecht betreffen. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß es einerseits im naturrechtlichen Zustand gar kein Recht gibt, aber in dieses Vakuum des (bürgerlichen) Rechts dennoch ein Natur„recht" gestellt wird, das ein Surrogat eines fehlenden Rechts ist und eine gewisse normative rechtliche Orientierung innerhalb der Abwesenheit von Recht ermöglicht. Zuweilen wird dann argumentiert, als ob gar kein Recht vorhanden sei, und dann wieder, als ob ein Recht bereits gegeben wäre. Zuweilen scheint es sogar zwei Naturrechte zu geben: ein schrankenlotrennt. ren

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Hans Saner dem der Kriegszustand schlechthin identisch ist mit dem „Recht des Stärkeren" (VI 344), und ein Naturrecht 2, in dem dieses grenzenlose Recht des Stärkeren eingeschränkt wird, wie z. B. in den genannten Grenzen des Krieges. Diese Eingrenzungen des Naturrechts sind selber nicht naturrechtlichen Ursprungs, sondern gründen in der Moral oder in Grundsätzen des Rechts und sind auf den Ubergang aus dem Naturrecht in ein bürgerliches Recht angelegt, um „einen dem rechtlichen sich annähernden Zustand zu stiften" (VI 344). Die Schwierigkeiten haben einen aporetischen Charakter (Deggau 1983), sind also verstehbar, aber nicht aufhebbar. Wenn die äußeren Wechselverhältnisse der Staaten noch dem Naturzustand unterliegen, in einzelnen Staaten aber, wie in Nordamerika und Frankreich, revolutionäre Umbrüche erfolgen, dann ist die Gefahr der gewaltsamen Interventionen und damit eines jeweils neuen Krieges groß. Kant fordert deshalb im 5. Präliminarartikel. „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen" (346). Er nimmt dieses Verbot im Streit der Fakultäten in einer Variante wieder auf: „daß ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden müsse, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt" (VI 85). Dies spricht er in jenem Passus aus, der von der „Revolution eines geistreichen Volkes" handelt und von der „Teilnehmung dem Wunsche nach" (ibid.) in den Gemütern aller Zuschauer. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß das Interventionsverbot im Gedanken an Frankreich und an den ersten Koalitionskrieg formuliert worden ist was aber nicht heißt, daß es deshalb ein „Gelegenheitsverbot" wäre. Kant begründet das Verbot im Kommentar mit drei Arguses, in

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menten:

Das erste antwortet auf die Frage, was denn zu einer Intervention berechtigen könnte: ob eventuell der Skandal, den ein Staat den Bürgern eines andern Staates gebe? Er lehnt das ab, weil das „böse Beispiel", das eine freie Person der anderen gebe, „keine Läsion derselben" (346) sei und deshalb zur bloßen Warnung dienen sollte. Frage und Antwort sind höchstwahrscheinlich durch die 1794 erschienene Schrift von

Die negativen Bedingungen des Friedens

Wieland „Über Krieg und Frieden" angeregt worden, was noch einmal den Zusammenhang mit Frankreich und dem Koalitionskrieg bestätigt. Wieland läßt einen Befürworter der Intervention fragen: ,„Aber ist es nicht unerträglich, daß so ungeheure Verbrechen, als die Jakobinische Fakzion auf sich geladen, und das abscheuliche Beispiel, das sie den übrigen Völkern gegeben hat, ungestraft bleiben sollen?'" (Wieland III, 1988, 305) Der Kriegsgegner antwortet, ob denn der inzwischen eingetretene Verfall dieser Nation „,nicht mehr als hinlänglich'" sei, um „das böse Beispiel, das sie anderen gegeben habe, gänzlich zu entkräften?" (a. a. O., 306) „,Übrigens ist dies ihre Sache, und man kann sich darauf verlassen, daß sie sich schon selbst zu helfen wissen werden, wenn man sie nur ihre eigenen Angelegenheiten selbst besorgen läßt'" (a. a. O., 309). Das zweite Argument nennt eine Ausnahme der gewalttätigen Einmischung. Sollte ein Staat „durch innere Veruneinigung" sich in zwei Staaten aufgespalten haben, von denen jeder den Anspruch auf das ganze Gebiet und aufAlleinvertretung erhebt, so daß ein Zustand der Anarchie vorläge, dann wäre ein „Beistand" an einen der Teile nicht als Intervention zu betrachten (sondern offenbar als Hilfe zur Uberwindung der Anarchie). Losurdo (1987,154 f.) will in diesem Argument nicht eine Konstraktion sehen, sondern eine Erlaubnis für die französische Intervention in Belgien, und glaubt, in Fichte dafür einen Gewährsmann zu finden. Die Interpretationslage ist grotesk. Er belegt mit Fichte, der Belgien nicht nennt, daß Kant, der es auch nicht nennt, Belgien gemeint habe. Da leiht ein Stummer dem andern Stummen die Sprache, weil ein Dritter vorgibt, beide zu hören. Obwohl die historischen Fakten nicht gegen eine etwas erweiterte Deutung sprechen (Frankreich hat in den Jahren 1792-95 die geteilten Niederlande erobert und sie 1795 in der Batavischen Republik vereinigt), wollen wir es bei der -

Konstruktion belassen. Das um so mehr, als das dritte Argument, an die vorigen anknüpfend, im grundsätzlichen Gedanken endet. Solange der innere Streit eines Staates noch nicht entschieden sei gemeint ist: solange die Anarchie noch nicht wirklich gegeben -

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jede gewaltsame Einmischung selber ein „Skandal", nämlich eine „Verletzung" eines an sich „unabhängigen ist

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wäre

Volkes", welche „die Autonomie aller Staaten unsicher machen" (346) müßte.

Der Gedanke insgesamt ist von größter Tragweite: Verfassung und Regierung sind allein die Sache eines jeden Staats. Eben darin liegt seine staatsrechtliche Autonomie, mit der auch das Völkerrecht jederzeit zusammenstimmen muß, indem es die Souveränität der einzelnen Staaten respektiert. Kein Mythos, keine Religion, keine Ideologie und keine Staatsform, für wie heilig und althergebracht oder verwerflich und revolutionär sie auch gehalten werden mögen, können eine Intervention legitimieren, sondern allein Handlungen eines Staats mit völkerrechtlicher Dimension, zu denen für Kant auch die Selbstaufhebung der Rechtsperson in der Anarchie gehört. Da aber in der Verletzung der Autonomie eines Staates der Möglichkeit nach alle verletzt werden, muß es ein gemeinsames Interesse der Staatenwelt geben, sich gegen solche Läsionen zu schützen. Kant sagt all dies gegen die

„gewalttätige" Einmischung, also nicht gegen jedwede und somit nicht gegen die Kritik. Das Verbot der Intervention ist kein Gebot der Zustimmung, sondern der Duldung. Die Präliminarartikel 1, 5 und 6 sind strenge Verbotsgesetze (leges strictae). Sie gelten „ohne Unterschied der Umstände" und dringen „sofort" (347) auf Abschaffung. Daß kein Waffenstillstand mehr „Frieden" heißen soll; daß kein Friedensvertrag mit Vorbehalten zu künftigen Kriegen mehr anerkannt werden darf; daß Altlasten keine Kriegsgründe sind; daß die Verfassung und Regierung eines Staates niemals die Gewalt gegen ihn legitimieren und daß, wenn es dennoch zum Krieg kommen sollte, keine niederträchtigen, das wechselseitige Vertrauen notwendig vernichtenden Feindseligkeiten erlaubt sind: all das gilt unbedingt. Jede Ausnahme und jeder Aufschub kämen einem Bruch des Gesetzes gleich. Die Strenge ist nur möglich, weil die Verbote nicht unmittelbar in Institutionen und Besitzstände eingreifen, sondern allein Mentalitäten, bisherige Usanzen und künftige Handlungen betreffen. Das ändert sich in den Präliminarartikeln 2, 3 und 4.

Die

negativen

Bedingungen des Friedens

3.4 Die weiten Verbotsgesetze Über das Autonomiepostulat ist der 5. Präliminarartikel mit dem 2. verbunden: „Es soll kein für sich bestehender Staat

(klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können" (344). Denn in solchen Erwerbungsarten, so argumentiert Kant, wird seine „Existenz als einer moralischen Person" aufgehoben; er wird zu einer „Habe" und darin zu einer „Sache", was „der Idee des ursprünglichen Vertrags" widerspricht, die besagt, daß der Staat der Herr und Eigner seiner selbst ist, mithin kein Objekt, sondern Subjekt

des Völkerrechts. Warum Kant die Erwerbung durch Heirat nicht ebenfalls in das Verbot aufgenommen hat, sondern auf sie erst im Kommentar ironisch hinweist als auf eine „neue Art von Industrie", ohne allzu großen Aufwand den Länderbesitz (der eine Habe ist) und die Macht zu vergrößern, ist nicht klar. Im Hinblick auf alle diese Erwerbungsarten macht er auf die Gefahr aufmerksam, die sie über Europa gebracht haben. Die zeitgenössischen Leser werden ihn verstanden haben. Denn bei jedem großen Friedensschluß wurde getauscht und geteilt, erworben und abgetreten; bei jeder Fürstenhochzeit geschenkt und vereinigt, und bei jedem Abgang eines großen Fürsten standen die anderen wie Geier bereit. Wer am meisten erheiratet (wie Habsburg) und die Besitzungen über die weitesten Gebiete verteilt hatte, wurde bei Erbfolgen in der Regel am meisten gebeutelt. Kriege wie etwa der österreichische Erbfolgekrieg konnten über Jahre (1740-48) ganz Europa erschüttern. Eine Großmacht war, wer bei all dem mitreden konnte. Seit 1740, dem winterlichen Überfall auf Schlesien, war Preußen immer dabei. Kaum je wurde übrigens ein Gedanke an die Menschen dieser herumgeschobenen Gebiete verschwendet. Der absolutistische Fürst war de facto der Eigner des Staats mitsamt den Untertanen. Er hatte ein privatrechtliches Verhältnis zu ihnen und verfuhr danach. Kant rückt diese Verkehrung zwischen Staat und Regent in einer kleinen Anmerkung zurecht, die meist überlesen wird: Der Regent kann nicht einen Staat erwerben, wohl aber der

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Hans Saner Staat einen Regenten. Das ist von der Rechtslehre (§ 49) her zu verstehen. Der Regent ist nämlich nicht der Souverän, sondern er wird von diesem verpflichtet und unter das Gesetz gestellt. Der Souverän ist allein das Volk oder der Staat, und dieser darf ihn, den Regenten, „absetzen oder seine Verwaltung reformieren" (VI 317), nur nicht ihn bestrafen. Wenn es ihn aber absetzen darf, muß es auch einen neuen Regenten als Repräsentanten des Souveräns einsetzen können. Das ist die erste, ziemlich direkte Attacke Kants in den Präliminarartikeln auf den Absolutismus. Mit den unerlaubten Erwerbsarten von Staaten vergleicht Kant am Schluß des Kommentars „die Verdingung" von Truppen durch einen Staat an andere, ohne daß ein gemeinsamer Feind denn sonst wäre es eine Hilfeleistung vorhanden ist. Hier wird nicht mit Staaten, aber doch mit einzelnen Untertanen wie mit Sachen umgegangen, und sie werden „nach Belieben gebraucht und verbraucht" (344). Der Anklang an die Mittel-Zweck-Formel des kategorischen Imperativs ist unüberhörbar, was nur bedeuten kann, daß Kant diese Praktiken moralisch für schlechthin unerlaubt hält. Sie waren übrigens im 18. Jahrhundert fast ebenso verbreitet wie das Söldnerwesen bis zum Dreißigjährigen Krieg. Die deutschen Fürsten vor allem die kleineren liehen oft ihre Truppen gegen Subsidienzahlungen an England, die Niederlande und Frankreich aus. Das war ein lukratives Geschäft. Die Fürsten wurden nämlich zweimal bezahlt: einmal beim Verleih und einmal beim „tragischen" Tod der Untertanen. Menschenraub, Menschenhandel und Zwangsrekrutierungen gehörten zum Alltag. Die Truppen wurden zuweilen mit abscheulicher Brutalität in die Kolonien, besonders nach Nordamerika, verfrachtet, von wo es für die meisten keine Rückkehr mehr gab. Die preußischen Könige allerdings setzten seit Friedrich Wilhelm I. ihr Heer ausschließlich zur „Ehre" des eigenen Landes ein. Als der Soldatenkönig 1740 starb, hinterließ er seinem „lieben Successor" ein diszipliniertes, gut ausgebildetes stehendes Heer von über 80 000 Mann (Gembruch 1987). Im Verhältnis zur Bevölkerung Preußens, die zahlenmäßig (2,2 Millionen) an 13. Stelle Europas stand, war das Heer, das -

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Die negativen Bedingungen des Friedens

viertgrößte des Kontinents, stark überdimensioniert (Kroener 1987, 150 f.). Mit der Eroberung Schlesiens verdoppelte

sich die Anzahl der Landesbewohner und alsbald auch der Soldaten. Das stehende Heer wuchs unter Friedrich dem Großen bis auf 230 000 Mann an, bei knapp 6 Millionen Einwohnern (Gembruch 1986, 379). In der heutigen Bundesrepublik würde das einem Berufsheer von 3 Millionen entsprechen. Preußen avancierte zur gefürchteten Großmacht, ausschließlich durch sein Heer. Die Lasten dafür waren drückend: In Friedenszeiten wurden in der Regel 70-80 % (ibid.) aller Staatseinnahmen für den Unterhalt des Heeres ausgegeben, in Kriegszeiten bis zu 90 % oder mehr. Eine regelmäßige hohe Besteuerung der bäuerlichen Produzenten, die die Masse der preußischen Bevölkerung ausmachten und deshalb auch das Fußvolk der Truppen zu stellen hatten, drängte sich auf. In den sechziger Jahren betrugen ihre Abgaben an den Staat etwa ein Drittel des Bruttoeinkommens (Kroener 1987, 152). Darüber hinaus waren die grundherrlichen Abgaben zu entrichten. Die Bauernschaft wurde durch Rekrutierungen und Steuern an den Rand der Existenzfähigkeit getrieben. Der ganze Staat war militarisiert: die Wirtschaft überwiegend „Kriegswirtschaft in Permanenz" (Gembruch 1986, 379), die Industrie ausschließlich Kriegsindustrie und der Staatsapparat zentrale Bürokratie, weitgehend zur Verwaltung des Militärwesens. Die durchgehende Verkettung: stehendes Heer zentrale Verwaltung Kriegswirtschaft re-

gelmäßige Besteuerung

Kriegsschatz Zwangsrekrutierung war durch das erste Glied bedingt und bestimmt. Das -

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Heer war die Basis des Staates: nach außen das Instrument seiner Selbstbehauptung und Vergrößerung, nach innen das Instrument seiner Sicherung und Durchsetzungskraft. Von ihm her wurde der Staat geprägt: strukturell durch die militärische

Hierarchie und mental durch den Ton des Befehls und den Gestus des Gehorsams. Man darf beinahe sagen: In Preußen das stehende Heer der Staat. Man muß diese Fakten und ihre Zusammenhänge kennen, um die Tragweite des 3. Präliminarartikels ermessen zu können: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit war

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Hans Saner ganz aufhören." (345) Der Artikel war die indirekte, aber zentrale Attacke auf den absolutistischen Fürstenstaat, der ohne ein stehendes Heer am Ende des 18. Jahrhunderts nicht überlebensfähig gewesen wäre. Er ist ineins damit die indirekte und zentrale Kritik an Preußen; denn kein Land war so durchmilitarisiert wie der Hohenzollernstaat. Kant spricht diese Kritik nicht aus. Sie hätte auch gar keine Chance gehabt, durch die Zensur zu gehen. Aber sie scheint durch die beiden Argumente durch, mit denen er sein Verbot stützt. Das erste beschreibt die Rüstungsspirale, die auf der Basis eines stehenden Heeres sich notwendig herausbildet: Stehende Heere bedrohen andere Staaten „unaufhörlich" mit Krieg, allein schon durch ihren Zustand; denn sie scheinen ständig zum Krieg „gerüstet" zu sein. Also reizen sie die anderen Staaten zur Gegenrüstung und werden ihrerseits in der Folge davon weiter aufgerüstet, und so entsteht ein circulus vitiosus, der „in der Menge der Gerüsteten keine Grenzen kennt". Die Dynamik wird erst gebrochen, wenn durch die Rüstungsausgaben der Waffenstillstand „noch drückender wird als ein kurzer Krieg". Dann werden die Aufrüstung und ihr Fundament: das stehende Heer, „selbst zur Ursache von Angriffskriegen" (ibid.). Wer also den Frieden will, muß die stehenden Heere abschaffen. Das Argument ist wahrscheinlich die erste moderne strukturelle Beschreibung der prinzipiell unbegrenzten Aufrüstung und ihrer Eigendynamik. Es wendet sich nicht gegen jegliche Rüstung, sondern gegen das bedrohliche Ausmaß, das mit dem stehenden Heer als Institution unweigerlich gegeben ist und durch eine bestimmte Regierungsart und einen bestimmten Typus des Monarchen noch gefährlicher wird. Der uneingeschränkte Monarch die despotische Regierungsart das stehende Heer die Eigendynamik der Rüstung der Krieg: das ist die Verkettung, deren Wirkungskraft Kant durch das Verbot der stehenden Heere zu unterbinden versucht. Das zweite Argument gleicht in der Begründung dem Einspruch gegen die Verdingung von Truppen im 2. Präliminarartikel und orientiert sich wie dieses an der Mittel-ZweckFormel des kategorischen Imperativs, betrifft aber nun alle -

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Die negativen Bedingungen des Friedens

Truppen

der stehenden Heere. Wer Menschen in Sold

nimmt, damit sie töten und sich töten lassen, macht von ihnen einen Gebrauch „als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats)". Das aber verträgt sich nicht „mit dem Rechte der Menschheit in unserer Person" (ibid.). In der Rechtslehre (§ 55) skizziert Kant die Deduktion eines Rechts des Staates, Untertanen „zum Kriege gegen andere Staaten zu brauchen" (VI 344). Aber er läßt sie schon fast -

ironisch mißlingen: Menschen sind kein zur beliebigen Verwendung freistehendes „Gemächsel" (VI 345), wofür man al-

lenfalls „Haushühner", „Schweine" und „Kartoffeln" (ibid.) halten könnte, kein Eigentum des Souveräns und erst recht keines des Regenten, sondern mitbestimmende Subjekte im Staat, weshalb sie nicht zum Krieg gezwungen werden dürfen, sondern über ihre „Repräsentanten" (ibid.) befragt werden müssen, ob sie überhaupt Krieg und ob sie ausgerechnet diesen Krieg fuhren wollen. Solche mitbestimmenden Subjekte sind „Staatsbürger in Waffen", gegen deren „freiwillig periodisch vorgenommene Übung" (345) zur bloßen Verteidigung weder moralisch noch im Hinblick auf den möglichen Frieden etwas einzuwenden wäre; denn niemand würde eine Milizarmee für bedrohlich halten. Der Übergang zum Milizsystem wäre deshalb ein entscheidender Schritt zur Abrüstung. Der Einspruch der praktischen Vernunft gegen die Institution des stehenden Heeres und seine Vernutzung von Menschen ist also kategorisch. Er trifft indes jedes System, das eine Wehrpflicht ohne Mitspracherecht kennt. Das Votum aber für die Miliz wendet sich ausschließlich gegen die stehenden Heere und ist wohl eine Spitze gegen Preußen. Friedrich Wilhelm I. ließ nämlich das Wort „Miliz" nach 1733 verbieten (Schmidt 1986, 217). Es kommt in Kants Druckschriften nie vor. Die gemeinte Institution aber spielt bei der allmählichen Festigung des Friedens bei ihm eine wichtige

Rolle. Ein drittes Argument wendet sich gegen die „Anhäufung eines Schatzes", gemeint ist wohl eines Kriegsschatzes, weil dieser ebenfalls „als Bedrohung mit Krieg", d. h. als Läsion angesehen werden müßte und präventive Maßnahmen der

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Hans Saner

Rüstung auslösen könnte, die schließlich im Krieg enden. Das Argument wird nicht ausdrücklich mit dem Verbot der stehenden Heere verbunden (vielleicht weil es ursprünglich ei-

gens als Präliminarartikel 4 vorgesehen war), sondern es ist diesem übergeordnet. Denn Kant sagt, daß unter den drei Mächten „der Heeresmacht, der Bundesmacht und Geldmacht die letztere wohl das zuverlässigste Kriegswerkzeug sein dürfte" (345). Aber das Geld, der nervus rerum der Kriege und ihre letzte conditio sine qua non, kann nur sofort kriegswirksam werden, wenn die Institution zur Kriegsführung bereits vorhanden ist. Das Argument hat erst in der Verbindung von Geld und stehendem Heer seine Relevanz, und vermutlich deshalb hat es Kant dem 3. Präliminarartikel zugeordnet. Preußen jedenfalls hortete zu Lebzeiten Friedrichs den größten Kriegsschatz Europas, was dem Monarchen die Möglichkeit gab, jederzeit einen Angriff zu lancieren. Eben diese reale Möglichkeit lehrte die anderen Staaten das Fürchten und gab Preußen eine unverhältnismäßige Macht. Das Verbot der „Anhäufung eines Schatzes" im 3. Prälimi-

narartikel wendet sich offensichtlich gegen die staatliche Hortung von finanziellen Mitteln zu Kriegszwecken durch Sparen und Rücklagen. Im 4. Präliminarartikel weitet Kant das Verbot auf die Geldbeschaffung durch Verschuldung und Kredite aus: „Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden." (345) Es mag im ersten Augenblick erscheinen, die Differenzierung sei eigentlich überflüssig und rechtfertige kaum ein weiteres Verbot. Aber ein Kreditsystem, das „zum Behuf der Landesökonomie" ganz „unverdächtig" ist, wird als Kriegsmaschinerie „eine gefährliche Geldmacht", die zu einer nie dagewesenen „Leichtigkeit, Krieg zu führen", verleitet. Denn jede Anhäufung eines großen Schatzes dauert Jahre, und so zwingen die Kriege, die die Kriegskassen leeren, periodisch zu Waffenstillständen. Wenn Staaten aber jederzeit schnell und mühelos zu Geld kommen können, dann ist wirklich ein neues, ein „großes Hindernis des ewigen Friedens" in der Welt, das auch eigens verboten werden muß. Kant unterscheidet dabei nicht zwischen der aktiven und passiven Verschuldung. Beide gehören zum Kreditsystem. Er scheint überdem der Meinung

Die negativen Bedingungen des Friedens

sein, daß Militärkredite unweigerlich in den Staatsbankführen, der immer auch andere Staaten in Mitleidenschaft zieht, sie also lädiert, was ebenfalls Krieg auslösen zu

rott

könnte. Die „sinnreiche" (der Sarkasmus meint: „perfide") Erfindung, die Kant für „neu" (VIII 2 8) hält, schreibt er nicht einem „geistreichen" (VIII85), sondern einem „handeltreibenden" (345) Volk zu. Damit ist England gemeint, das Kant lange Jahre als eines der frühen Revolutionsländer (Refl. 1428; XV 628) bewunderte. England gewährte Preußen im ersten Koalitionskrieg Subsidien, ohne die Friedrich Wilhelm II. den Krieg gar nicht hätte führen können. Daß ein Land, das eine freie Verfassung zu haben schien, den Kampf gegen einen Nachbarn finanzierte, der auf der Suche nach einer noch freieren Verfassung war, traf Kant so nachhaltig, daß er mit England innerlich brach. In einer etwas späteren Reflexion steht: „England, welches sonst auf die Teilnehmung der besseren Menschen in der Welt wegen der mutigen Erhaltung ihrer oft angefochtenen (scheinbaren) Freiheit rechnen konnte, ist jetzt gänzlich daraus gefallen, nachdem es die in Frankreich beabsichtigte, auf viel gründlichere Art freie Konstitution mit Gefahr des Umsturzes seiner eigenen zu stürzen bedacht war" (Refl. 8077; XIX 605). Der Passus mag noch einmal belegen, wie sehr das Geschehen in und um Frankreich Kant zur Zeit der Friedensschrift bewegt hat. Die Präliminarartikel 2 bis 4 betreffen nicht allein künftige Handlungen, in deren Anbetracht sie ebenfalls ohne Aufschub gelten, sondern auch Institutionen (wie das stehende Heer) und Besitzstände (wie unerlaubt erworbene Staaten, Staatsschulden und Staatsguthaben zu Kriegszwecken). Sie werfen also Probleme der Reform und der Wiederherstellung auf. In diesem Reform- und Wiederherstellungsaspekt müssen sie auf die Umstände Rücksicht nehmen und diesen entsprechend mit der Erlaubnis zu Aufschüben verbunden sein. Diese Art der Verbotsgesetze (leges latae) nennt Kant deshalb Erlaubnisgesetze (vgl. Brandt 1981; in diesem Band Kap. 4). Sie sollen angesichts der notwendigen Reformen die Nichtübereilung und damit die angemessene Geduld rechtlich absichern und legitimieren, ohne die Reform gänzlich zu verta-

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Hans Saner gen. Denn dies darf nicht vergessen werden: Auch die durch

die Präliminarartikel bedingten Wiederherstellungen und Reformen gehören noch wie einschneidend sie auch sein mögen zu den negativen Bedingungen des Friedens, deren Aufschub nicht nur den vielleicht unmöglichen ewigen Frieden vertagen, sondern auch seinen möglichen Vorfrieden in der Zeit. -

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zu

Kants

Haltung

zum

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1982: Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft: und Geschichte in Kants Rechtslehre. In ders. (Hrsg.): Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel 1981. Berlin/New York, 233-285 (Teilabdruck in diesem Band, Kap. 4). Cavallar, Georg 1992: Pax Kanuana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs Zum ewigen Frieden (1795) von Immanuel Kant

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Reinhard Brandt

Das Problem der Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants* Kants kategorischer Imperativ, wie ihn die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelt, scheint auf den ersten Blick

ausschließlich zu strikten Geboten und Verboten zu fuhren. Für Erlaubnisgesetze ist, so hat es den Anschein, darüber hinaus kein Platz. In der Friedensschrift heißt es: „Ob es außer dem Gebot (leges praeceptivae) und dem Verbot (leges prohibitivae) noch Erlaubnißgesetze (leges permissivae) der reinen Vernunft geben könnte, ist bisher nicht ohne Grund bezweifelt worden" (347, 34 ff.). Kant selbst hat sich trotz der scheinbar eindeutigen Lage sowohl vor als auch nach der Friedensschrift mit dem Problem befaßt. Im folgenden soll gezeigt werden, (1) zu welchen Positionen Kant in Sachen Erlaubnisgesetze gelangt, (2) welchen systematischen Ort er ihnen im Naturrecht zubilligt und (3) auf welchen historischen Kontext er mit diesem Theoriestück reagiert.

Stellung der Erlaubnisgesetze

4.1 Die kontroverse „Der kategorische Imperativ, indem

eine Verbindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aussagt, ist ein moralisch-praktisches Gesetz. Weil aber Verbindlichkeiten nicht bloß praktische Notwendigkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch Nötigung enthält, so ist der gedachte Imperativ entweder ein Gebot- oder Verbotgesetz, nachdem die Begehung er

Stark gekürzte Fassung von Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre. In: R. Brandt (Hrsg.): Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel 1981. Berlin/New York 1982, 233-285.

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Reinhard Brandt

oder Unterlassung als Pflicht vorgestellt wird" (RL VI 222 f.). Verboten sind die und nur die Handlungen, deren Maximen nicht verallgemeinerungsfähig sind. So ist es verboten zu lügen, weil der Gebrauch der Lüge die allgemeine Wahrhaftigkeit voraussetzt und de facto zugleich negiert. Der kategorische Imperativ, der hier als notwendiges und hinreichendes Kriterium fungiert, besagt nichts darüber, ob man im gegebenen Fall die Wahrheit sagen oder ob man schweigen soll. Es ist also indifferent, ob a oder non-a, falls nicht eine ethische Maxime und meine Urteilskraft (VI 411) eine Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten erzwingen. Eine bestimmte Handlung ist dann geboten, wenn ihr praktisches Gegenteil verboten ist (vgl. Eben 1976). Ist z. B. das Verschweigen einer bestimmten Tatsache verboten (weil es etwa die Zustimmung zu einer nach meiner Kenntnis falschen Darstellung wäre), so ist eine bestimmte Aussage geboten. Hiermit ist das Feld dessen erfüllt, was überhaupt bei Fragen der Handlungsbestimmung relevant sein zu können scheint. Wie findet hier noch ein Erlaubnisgesetz Platz? Verbotene Handlungen können nicht erlaubt sein, so scheint es, denn sonst könnte der kategorische Imperativ nicht die notwendige und hinreichende Bedingung des Ausschlusses bestimmter Handlungen aus den sittlich möglichen sein. Die sittlich indifferenten Handlungen bedürfen keines eigenen Gesetzes, weil sie „in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora)" (VI 409) betreffen. Und was drittens geboten ist, ist erlaubt und möglich, weil es notwendig ist; die sittliche Notwendigkeit leitet sich nicht umgekehrt aus der schwächeren Erlaubnis ab. Kant selbst hat die Sonderstellung des Erlaubnisgesetzes innerhalb der Systematik von Gebot und Verbot gesehen „eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis)" (VI 223). Man kann fragen, fährt Kant fort, ob es dergleichen sittlich-gleichgültige Handlungen gebe, eine Frage, die hier offengelassen wird, die ihre eindeutige Antwort aber einmal im gesunden Menschenverstand, zum andern in der Einleitung der Tugendlehre findet: „Phantastisch-tugendhaft aber kann doch der genannt werden, -

Erlaubnisgesetze der keine in Ansehung der Moralität gleichgültigen Dinge (adiaphora) einräumt ..." (TL VI 409). Die weiteren Stichworte: „mit Fußangeln bestreut", „Fleisch oder Fisch", „Bier

oder Wein", „Mikrologie", „Tyrannei" (ebd.). Aber ist dazu, daß es jemandem freisteht, etwas nach seinem Belieben zu tun oder zu lassen, noch ein Erhubnisgesetz erforderlich? „Wenn dieses (sc. erforderlich) ist, so würde die Befugnis nicht allemal eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) betreffen; denn zu einer solchen, wenn man sie nach sitdichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonderes Gesetz erfordert werden" (VI 223). Die Befugnis kann sich also einmal auf sittlich gleichgültige Handlungen beziehen, zum andern jedoch auf Handlungen, die nicht im adiaphoron-Bereich liegen. Zur Ermöglichung dieser letzteren bedarf es eines besonderen Gesetzes, des Erlaubnisgesetzes. Dies kann nur deswegen der Fall sein, weil sie in bestimmter Hinsicht verboten sind, denn als nicht sittlich-gleichgültig müssen sie geboten oder verboten sein; sind sie geboten, bedarf es keiner Erlaubnis, also können sie nur in bestimmter Hinsicht verboten sein. Es sei noch angemerkt, daß die Aussage, eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) bedürfe keines besonderen Gesetzes, die Korrektur einer eigenen experimentierenden Überlegung ist. In den Vorarbeiten zur Rechtslehre heißt es: „Gesetze sind entweder die des Gebots oder Verbots oder Erlaubnisgesetze und werden durch sollen, nichttun sollen und dürfen ausgenach dem ersteren ist also etwas erlaubt (Recht) drückt oder unerlaubt (Unrecht) oder unter keinem moralischen Gesetze, also indifferent (vergönnt)" (XXII 384). Die gleiche Vorstellung findet sich in bestimmten Äußerungen der Vorlesung Vigilantius von 1793/94 zur Metaphysik der Sitten: und das alle Erlaubnisgesetze keine Imputation mit sich führen, da die Handlungen adiaphora sind, mithin nicht unter Pflicht- oder Zwangsrecht stehen" (XXVII 560). Kant behauptet dagegen in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten das Gegebensein eines Erlaubnisgesetzes auf einem moralisch nicht indifferenten Feld. Die gleiche Vorstellung findet sich schon in der Friedensschrift: „Ich habe hiermit nur beiläufig die Lehrer des Naturrechts auf den Begriff einer lex permissiva, welcher sich einer systematisch-eintei...

„...

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Reinhard Brandt

lenden Vernunft von selbst darbietet, aufmerksam machen wollen" (348). Auch in der Vorlesungsmitschrift Vigilantius von 1793/94 findet sich die gleiche Meinung, wenn auch noch zögernd. „Eine andere intrikate Frage aber ist es, die Hufeland aufgeworfen: ob es secundum jus naturae leges permissivae gäbe? Herr Kant verneint die Frage: da, insofern ein moralisches Gesetz konkurriert, um zu bestimmen, was erlaubt oder nicht erlaubt sei, nicht mehr eine indifferente Handlung zum Grunde liegen kann" (XXVII 513). Hier also wird noch angenommen wie an der schon oben einbezogenen Stelle, daß das Erlaubnisgesetz sich nur auf indifferente Handlungen beziehen kann. Aber an anderer Stelle heißt es: „Dies vorausgesetzt, glaubt Herr Kant, daß man die Frage: an datur lex permissiva in jure naturae? nicht schlechthin verneinen kann ..." (XXVII 515). Aber wie soll ein derartiges Gesetz neben Gebot und Verbot systematisch möglich sein? In der Schrift Zum ewigen Frieden verfugt Kant sichtlich über eine ihn befriedigende Lösung: das Erlaubnisgesetz bietet sich der systematisch-einteilenden Vernunft von selbst an. Aber wie die Einteilung aussieht, wird nicht ausgeführt. Man wird vermuten, daß es sich um einen Parallelfall zur Klassifizierung des möglichen äußeren Mein und Dein in der Rechtslehre handelt. Kant schlägt den Rechtslehrern vor, neben dem üblichen dinglichen und persönlichen Recht eine dritte Klasse des auf dingliche Art persönlichen Rechts einzuführen1, und er begründet dies im Haupttext der RechtsI In der Rechtstheorie

neu

ist die fundamentale

Funktion, die Kant dem Er-

laubnisgesetz gibt; es wird als rechtliche Möglichkeit in der neuzeitlichen Rechtstheorie mitgeführt vgl. u. a. Christian Wolff, Institutionsjuris naturae et gentium, § 47; Alexander G. Baumgarten, Initiaphilosophiaepracticae, Halle und Magdeburg 1760, § 68; Metaphysica, Halle und Magdeburg 1757, § 723 und § 969 und Gottfried Achenwall, tusnaturae, Göttingen 61767 in den Prolegomena § 63 und § 90 -

und in der Introductio § 46 aber es gewinnt keine systematische Funktion. Kants Erlaubnisgesetz der rechtlich-praktischen Vernunft stimmt mit der permissio überein, wie sie Grotius Dejure belli acpacis (1625) I, I, 9,1 als eine actio legis „quatenus alium ab eo cui permittitur obligat ne impedimentum ponat" bezeichnet. Auch Grotius gibt der so bestimmten permissio keinen systematisch re-

levanten Rang. Fine ausführliche Erörterung bringt Joachim Georg Darjes, Observationesjuris naturalissocialis etgentium,)ena 1751, 268-278 (Observatio XXVI: „De jure namrali permissivo").

Erlaubnisgesetze

lehre mit dem Rekurs auf die Kategorientafel2. Die lex permissiva bietet sich, so heißt es im Ewigen Frieden, „einer systematisch-einteilenden Vernunft von selbst dar". Die gleiche Formulierung verwendet Kant in der Religionsschrift von 1793: Die trias politica (nach VI 313), angewandt auf die Person Gottes, „bietet sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar" (VI 140). Eine Möglichkeit der Aufschlüsselung gibt die Reflexion 7986 (XIX 573): „Also 1. die Substanz des Staats in den Gesetzen, 2. dieser ihre Causalität, 3. die Gemeinschaft". Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, bei der Einführung eines Erlaubnisgesetzes neben Gebot und Verbot an die logische Funktion bzw. Kategorie der Qualität mit den bejahenden, verneinenden und unendlichen Urteilen bzw. den Kategorien der Realität, Negation und Limitation zu denken. Wie „in einer transzendentalen Logik unendliche Urteile von bejahenden noch unterschieden werden, wenn sie gleich in der allgemeinen Logik jenen mit Recht beigezählt sind und kein besonderes Glied der Einteilung ausmachen" (KrV"B97), so wird in der kritischen oder transzendentalphilosophischen Rechtslehre die Dichotomie der juristischen Begriffe von Gebot und Verbot um eine dritte Position erweitert. In den Vorarbeiten zur Rechtslehre findet sich folgender Hinweis: „Categorien der Quantität und Qualität des Rechts a) einseitige, vielseitige, allseitige Bestimmung der Willkür zu synthetischer Einheit b) Gebot, Erlaubnis und Verbot" (XXIII 218), wobei die Reihenfolge der Kategorien der Qualität nur die vom Gebot, Verbot und Erlaubnis sein kann; in dieser Reihenfolge erscheint die Trias regelmäßig, vgl. u. a. Reff. 8074: „Gebote, Verbote, Erlaubnisgesetze", wiederum in einem Quadrat möglicher Positionen an zweiter Stelle, also an dem Ort der Qualität. Kant behauptet das Gegebensein von Erlaubnisgesetzen im Naturrecht, nicht in der Ethik. Will man ihre sachliche Inten...

2 Anders die Erklärung im

Anhang zu den Metaphysischen Anfangsgründen der

Rechtslehre; Kant meint hier, es sei natürlich zu fragen, ob sich in der einfachen

Topologie begrifflicher Kombinationen nicht ein auf dingliche Art persönliches Recht ergibt (VI 357). Die beiden Zugangsarten schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander, wie die transzendentale die allgemeine Logik ergänzt.

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tion verstehen, wird man an eine spezifisch rechtliche Problematik anknüpfen müssen, nicht eine allgemein moralische und nicht eine spezifisch ethische. Der systematische Ort der naturrechtlichen Erlaubnisgesetze ergibt sich offenbar in einer Vermittlung von Gebot und Verbot: Es wird etwas „an sich" Verbotenes provisorisch erlaubt und damit geboten, den Rechtsanspruch der Verhinderung nicht wirksam werden zu lassen.

4.2 Die Bedeutung von Erlaubnisgesetzen innerhalb des Naturrechts

Vergleicht man die Ausführungen der Vorlesungsmitschrift Vigilantius mit denen in der Schrift Zum ewigen Frieden und der Metaphysik der Sitten von 96/97, so ergibt sich eine entscheidende Differenz, die von Kant als solche nicht explizit

benannt wird, die ihn aber mit Sicherheit in seinen Überlegungen geleitet hat. In der Vorlesung werden zwei Fälle eines Erlaubnisgesetzes genannt: Der Fall der Schiffbrüchigen, die um eine Planke kämpfen, und der Fall des Heroen, der mit Gewalt absque titulo einen Staat gründet. Im Prinzip gilt, daß jede Gewalt rechtlich legitimiert sein muß „Gewalt muß nicht für Recht gehen" (XXVII 514); dies Verbot erleidet jedoch eine Ausnahme im status naturalis: der Ubergang in den Staat ist faktisch nur mit Gewalt möglich. Wollte man diese Gewalt mit einem universalen Verbot sanktionieren, „so würde dies den gesetzlosen Zustand verteidigen, mithin einen Zustand, wo kein Gesetz vorhanden oder nicht anerkannt wäre: dies ist aber ein dem allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit zuwiderlaufender Zustand, mithin muß man annehmen, daß die Natur es zulasse, in der Art, die freie Willkür der Menschen mit der allgemeinen Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz in Ubereinstimmung zu bringen; und also ist hier ein natürliches Erlaubnisgesetz zu der angewandten Gewalt vorhanden" (XXVII 515). Eben dies gilt auch für den Fall, „wenn zwei sich um ein Brett beim Schiffbruch schlagen" (XXVII 515). Kant hat das Notrecht im Fall des Schiffbruchs in der Metaphysik der Sitten geändert. Einmal wird nicht mehr unter-

Erlaubnisgesetze

schieden, ob zwei sich um ein Brett schlagen oder ob der eine

schon besitzt und der andere ihn herunterzustoßen verkann es in diesem letzteren Fall kein Recht der Besitznahme geben, „weil eben der zu Depossedierende schon im Besitz war, wodurch er sein Leben schützt: die Not des andern kann nie ein Zwangsrecht geben, insofern der Grund der Handlung nicht schon vorher auf einem rechtsgültigen Zwangsrecht beruht; denn sonst würde der andere eben das Zwangsrecht haben müssen und dies ist unmöglich" (XXVII 516). Anders ist der Fall, wenn noch keiner im Besitz des Brettes ist; hier muß Gewalt erlaubt werden, „um dadurch ein Recht zur Erhaltung des Lebens zu stiften. Es ist also auch hier die Maxime zu Grunde, daß zur Stiftung eines Rechtes Gewalt vor Recht gehe nach einem Erlaubnisgesetz" (XXVII 516). In der Metaphysik der Sitten dagegen wird die Gesamtsituation so beurteilt, daß das strikte Recht und damit die Zwangsgesetze in ihr keine reale Funktion haben können (vgl. VI 235-236). Zum andern sieht Kant jetzt eine Differenz zwischen diesem Fall und dem der Staatsgründung. Der erste wird unter dem Titel des Notrechts gleichsam als bodenlose Problematik zu einem exterritorialen Komplex erklärt und vor die eigentliche Rechtslehre gestellt. Das Erlaubnisgesetz dagegen hat, wie sich zeigte, seinen Ort in der Rechtslehre selbst. Die Gewalt, die das Erlaubnisgesetz ermöglicht, wird bezogen gedacht auf die Rechtswirklichkeit im ganzen. Das gleiche gilt von den Erlaubnisgesetzen in der Schrift Zum ewigen Frieden: Es soll erlaubt sein die provisorische Weiterfuhrung unrechtmäßig erworbenen Besitzes; das im Erlaubnisgesetz vorausgesetzte Verbot bezieht sich auf die künftige Erwerbungsart (348). Es wird also Bezug genommen auf die Totalität des Eigentums in einem Staat, wobei die Vergangenheit mit ihren tradierten Einrichtungen und die Zukunft, deren Handlungen in unserer Gewalt sind, unterschieden werden. „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis ..." (373) wie im Privatrecht, ist auch im öffentlichen Recht erlaubt die provisorische Weiterfuhrung historisch überkommener fnstitutionen, bis sich die Möglichkeit einer Änderung ergibt. Das es

sucht; nach der Vorlesung

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Erlaubnisgesetz stiftet einen Rechtsmodus der Duldung von

unvermeidlichen, schon geschehenen, institutionell verfestigten Gewaltformen. Diese Dimension fehlt im Fall des

Schiffbruchs, und hierin liegt der Grund der Ausklammerung des Notrechts aus dem Komplex des Erlaubnisgesetzes. Die Gewalt, die das Erlaubnisgesetz vor dem Recht ermöglicht, hatprovisorischen Charakter; Romulus erschlägt Remus „Es muß zuletzt einer bleiben, der die Obermacht behauptet, und der die Absicht hat, zur Organisierung seiner Herrschaft ein allgemeines Recht zu stiften" (XXVII 514 f.). Die Absicht geht auf Rechtsverhältnisse in Konformität mit dem Naturrecht. In der Metaphysik der Sitten benutzt Kant für die beiden Pole dieser Form des Erlaubnisgesetzes die Begriffe provisorisch und peremtorisch. So heißt es innerhalb des Privatrechts: „Ein Besitz in Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes, der allein auf einem Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann, der also zu der Möglichkeit des letzteren zusammenstimmt, ist ein provisorisch-rechtlicher Besitz, wogegen derjenige, der in einem solchen wirklichen Zustand angetroffen wird, ein peremtorischer Besitz sein würde" (VI 256 f.). Mit dem Begriffspaar provisorisch-peremtorisch knüpft Kant an eine Problemstruktur an, die wenigstens in die 70er Jahre zurückreicht und die wiederum mit der Urteils- und Kategorienlehre verbunden ist. Der provisorische Rechtstitel ist das Gegenstück zum problematischen Urteil, der peremtorische das Pendant zum kategorischen oder apodiktischen Urteil. Bei problematischen Urteilen wird offengelassen, ob sie wahr oder falsch sind; man nimmt sie probeweise an und untersucht, ob sie sich verifizieren lassen. Sie dienen der Auffindung des wahren kategorischen oder apodiktischen Urteils (KrVB 100 f.). Analog dient das provisorisch Erlaubte der Entwicklung des wirklichen Rechts, der Verwirklichung also des Naturrechts, das sich peremtorisch behaupten läßt. Der Zusammenhang dieser beiden Komplexe, der vorläufigprovisorischen Erlaubnis und des problematischen Urteils, wird noch deutlicher, wenn man auf die Genese dieses Stücks der Urteils- und Kategorienlehre zurückgreift. In der noch nicht publizierten Mitschrift einer Anthropologievorlesung -

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Erlaubnisgesetze den 70er Jahren heißt es: „Zu den dunklen Vorstellungen gehören auch noch die vorläufigen Urteile. Ehe der Mensch ein Urteil fällt, welches bestimmt ist, so fällt er schon im voraus im dunklen ein vorläufiges Urteil. Dieses leitet ihn, um etwas zu suchen, z. E. wer unbekannte Länder sucht, wird doch nicht geradezu ins Meer fahren, sondern er urteilt vorher. Ein jedes bestimmtes Urteil hat also ein vorläufiges Urteil."3 Und an einer späteren Stelle: „Der Schein ist kein Urteil, sondern ein Grund zum vorläufigen Urteil. Es wäre sehr nötig, wenn in der Logik auch ein ganz apartes Kapitel von den vorläufigen Urteilen wäre, die zu mehreren Erfindungen Anlaß geben möchten."4 Die vorläufigen Urteile sind unerläßliche Versuche, tentamina, auf dem Weg zu einer dauerhaften, systematisch organisierten Erkenntnis5. Die Korrelation der verschiedenen Modalitätsmomente, das Verhältnis also der problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteile untereinander bzw. das der zugehörigen Kategorien, müßte natürlich von der Zeit die erst im Schematismus mit den Kategorien in Verbindung gebracht wird abstrahieren. Kants aus

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3 Das Manuskript ist verzeichnet als drittes Ms. germ. Quart. 400 der BerliKgl. Bibliothek, S. 44 (jetzt Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz,

ner

Berlin). a. O. 108-109. Vgl. weiter 155: „Vorläufiges Urteil ist ein Grund, über Dinge zu urteilen, der aber unzureichend ist. Aber ein bestimmtes Urteil zu fällen, gehört vor die Urteilskraft. Der Witz (sc. das Vermögen der vorläufigen Urteile) streift herum, wo er was findet, und dient also zur Erfindung, des-

4 A.

Refl. 535 (von Adickes datiert er auch zu Irrtümern 1792-94): „Von der Methode, vorläufig zu urteilen. Wenn in der Art, ein (noch) problematisches Urteil zu beweisen, Methode sein muß, so wird man auch methodisch (d. i. nach Prinzipien) verfahren müssen, nur allererst die Wahrheit zu suchen. Ein solches Urteil wird ein vorläufiges Urteil (iudicium wegen verleitet

praevium) heißen können

5 Zur Rolle der „Versuche" in Kants Idee der Wissenschaftsgeschichte und der politischen Geschichte vgl. Brandt 1980. Die Versuche, die am Anfang gemacht werden, sind blind, tappend, im Hinblick auf das einzelne Subjekt, das sie systemlos unternimmt; sie sind methodisch, setzt man als Subjekt die Natur, die mittels der blinden Versuche als bestimmter (relegenheitsursacheii die latenten Keime zur Vernunftwerdung entfaltet. Kant verbindet Lukrez-Epikur mit der Stoa. Die Entwicklung einet Logik oder besser: Methodologie der Forschung wäre der Versuch, den Bereich der blinden tentamina auch für das forschende Subjekt von Anfang an methodisch zu disziplinieren.

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entsprechende Formulierungen („... so daß man zuvor etwas problematisch urteilt, darauf auch wohl es assertorisch es als

wahr annimmt, endlich als unzertrennlich mit dem Verstände B 101) müssen, falls dies mögverbunden behauptet lich ist, als nur metaphorisch interpretiert werden. Aber diese Eigentümlichkeit braucht uns hier nicht zu interessieren. Die Begriffe des Provisorischen und Peremtorischen sind eindeutig zeitlich strukturiert. Das Erlaubnisgesetz gebietet eine provisorische Duldung von etwas in einer lex generalis nicht universalis Verbotenem. In gleicher dialektischer Struktur begegnet der Begriff des Provisorischen auch im Zusammenhang der Kantischen Natur- und Kulturteleologie. So dient die dem Menschen inhärierende Anlage, sich besser zu stellen, als man ist, und vorteilhaftere Gesinnungen, als man wirklich hat, zu äußern, „nur gleichsam provisorisch dazu, um den Menschen aus der Rohigkeit zu bringen, und ihm zuerst wenigstens die Manier des Guten, das er kennt, annehmen zu lassen; denn nachher wenn die echten Grundsätze einmal entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß jede Falschheit nach und nach kräftig bekämpft werden, ..." (KrVV> 776).6 Gegen den Rousseauschen Kulturpessimismus stellt Kant die mögliche positive Funktion des Scheins. Die Natur hat uns vorsorglich, provisorisch, mit dem Hang zum falschen Schein ausgestattet; er dient dazu, die Kluft zwischen bloßer Natur ...

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Vgl. die Ausführungen im Ewigen Frieden zur provisorischen Veranstaltung der Natur, 363 f. In einem Zusatz der Refl. 1455 (datiert 1783-84) heißt es: „Zuerst wird die ganze menschliche Angelegenheit provisorisch unter die Eigenliebe getan ..." (XV 639). Näher an die Situation in der Rechtslehre führt der Gebrauch des Begriffs „provisorisch" in der Religionsschrift von 1793: „Es ist also eine notwendige Folge der physischen und zugleich der moralischen Anlage in uns, daß diese (sc. die Religion) endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftsreligion zuletzt über alle herrsche, .damit Gott sei alles in allem'" (VI 121). Der Ubergang von der Naturgeschichte des äußerlichen Statutenglaubens zur Vernunftreligion vollzieht sich „durch allmählich fortgehende Reform", nicht durch Revolution, soweit es menschliches planendes Handeln betrifft (VI 122). 6

...

Erlaubnisgesetze

und vollendeter Sittlichkeit zu überbrücken. Eine ähnliche Uberbrückungsfunktion hat die provisorisch erlaubte Gewalt in den bestehenden Rechtsverhältnissen.

4.3 Der historische Kontext

Anmerkung der Religionsschrift geht Kant auf die Französische Revolution und die Problematik der Selbstregierung eines Volkes ein. Man muß, so sagt er, dem Volk die Freiheit geben, seine Freiheit in Versuchen zu realisieren. Die ersten Versuche werden roh ausfallen; „allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen man frei sein muß)" (VI 188). Und dann folgt der für uns einschlägige Gedanke: „Ich habe nichts dawider, daß die, welche die Gewalt in Händen haben, durch Zeitumstände genötigt, die Entschlagung von diesen drei Fesseln (sc. der politischen, der zivilen und der Glaubensfreiheit) noch weit, sehr weit aufschieben. Aber es zum Grundsatz machen, daß denen, die ihnen einmal unterworfen sind, überhaupt die Freiheit nicht tauge, und man berechtigt sei, sie jederzeit zu entfernen, ist ein Eingriff in die Regalien der Gottheit, die den Menschen zur Freiheit schuf (VI 188). Die Zeitumstände also können dazu nötigen, provisorisch und vorläufig ein bestehendes Unrecht (analog der statutarischen Kirche, vgl. Anm. 6) beizubehalten. Die Idee einer mit dem natürlichen Recht der Menschen zusammenstimmenden Konstitution, so heißt es im Streit der Fakultäten, ist die Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt; „mithin ist es Pflicht in eine solche einzutreten, vorläufig aber (weil jenes nicht so bald zustande kommt) Pflicht der Monarchen, ob sie gleich autokratisch herrschen, dennoch republikanisch (nicht demokratisch) zu regieren" (VH 91). Vorläufig also ist die UnterIn einer

drückung der politischen Freiheit erlaubt. Diese Erlaubnis steht jedoch unter der Bedingung einer evolutio juris naturae; die Regenten haben die Pflicht, die dem Naturgesetz

gemäße Verfassung wirklich im Laufe der Zeit zu realisieren.

79

8o

Reinhard Brandt

Der Problemkomplex, in den diese Gedanken gehören, ist einmal natürlich die Französische Revolution. Es kommt jedoch eine andere historische Komponente hinzu, nämlich die Reform der Gesetzgebung in Preußen und vermutlich auch in Osterreich. Ein für die Genese der Kantischen Rechtslehre entscheidender Autor ist Ernst Ferdinand Klein, Kammergerichtsrat in Berlin und Mitverfasser des Allgemeinen Preußischen Landrechts. In einem Brief vom 22. Dezember 1789 an Kant ist exakt die Problemstellung entfaltet, die bei Kant zur Konzeption des Erlaubnisgesetzes im Ewigen Frieden führt. Klein fragt, ob es die Pflicht des Gesetzgebers sei, unrechtmäßige Einschränkung in der Freiheit, an die man sich gewöhnt habe, abrupt abzuschaffen. Er bezweifelt dies, nimmt also eine Erlaubnis unrechtmäßiger Institutionen an. „Was seit langen Zeiten gebräuchlich gewesen ist, scheint den Willen des Volkes für sich zu haben. Da ich nun durch Verträge meine Freiheit einschränken darf, so weit ich mir dadurch nicht die Macht benehme, unerläßliche Pflichten7 zu erfüllen: So läßt sich wohl, wie ich glaube, die Beibehaltung solcher Gebräuche entschuldigen. Ich fühle selbst, daß ich hier nicht füglich das Wort rechtfertigen brauchen kann: aber was ist zu tun? Unsere Gesetze sind voll von solchen willkürlichen Einschränkungen. Ein Gesetzgeber, welcher auf einmal zu große Veränderungen vornehmen wollte, würde nichts gegen die herrschende Meinung ausrichten."8 In seinem Dialog über Freiheit und Eigentum von 1790, den er Kant zu7 Die unerläßlichen Pflichten sind natürlich auch bei Kant dem Bereich des Erlaubten entzogen; so kann sich das Volk der Regierung nicht widersetzen „außer in den Fällen, welche gar nicht in die unionem civilem kommen können, e. g. Religionszwang. Zwang zu unnatürlichen Sünden: Meuchelmord etc etc." (Refl. 8051). Sittlich strikt verbotene Handlungen nicht zu tun, hat der Mensch jederzeit in seiner Gewalt; er hat jedoch nicht die Eigentumsordnung und die politischen Verhältnisse nach Rechtsprinzipien so in seiner Gewalt, daß er sie sogleich umändern kann. 8 In der Akademie-Ausgabe der Kantischen Schriften XI 116 (Paginierung der Ausgabe 1900). Vgl. schon die Frage im Brief vom 15. Juni 1789 an Kant: „Werden Sie in Ihrem nächsten Werke über die praktische Philosophie sich auf die Frage einlassen: Welche Grenzen der Wdlkür des Gesetzgebers (die Regeln der Klugheit abgerechnet) gesetzt sind?" (XI 62). nur

Erlaubnisgesetze

sandte9, vertritt Klein konsequent die Auffassung, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Recht, ein Eigentum zu erwerben, und dem Recht, es zu besitzen. Das erstere muß dem letzteren weichen. „Daraus folgt auch, daß der Staat das Recht zu erwerben mehr einschränken könne, als das Recht zu besitzen."10 Das Besitzrecht ist weiter zu fassen als das Erwerbsrecht, weil das erstere den Rechtsbestand der Vergangenheit, die man nicht in seiner Gewalt hat, betrifft, das letztere die Norm für das zukünftige Handeln darstellt. Es gibt also nach Klein eine Erlaubnis, unrechtmäßig Erworbenes als legitimen Besitz weiterzuführen; der Gesetzgeber steht nicht unter der Rechtspflicht einer plötzlichen überkommener Institutionen. „Denn das Verbot betrifft hier nur die Erwerbungsart, die fernhin nicht gelten soll, aber nicht den Besitzstand der, ob er zwar nicht den erforderlichen Rechtstitel hat, doch zu seiner Zeit (der putativen Erwerbung) nach der damaligen öffentlichen Meifür rechtmäßig gehalten wurde", heißt es bei Kant nung im Ewigen Frieden (347). Kant hat die gleiche Problematik wie Klein vor Augen, und man kann annehmen, daß er sich hier von Klein hat anregen lassen11. Nur wenn neben der Französischen Revolution das Problem einer Reform durch fürstliche Dekrete miteinbezogen wird, gewinnt die Frontstellung bei Kant Sinn, gemäß der nicht nur der Fürst ein Hemmnis auf dem Weg einer Verrechtlichung der Gewaltverhältnisse ist, sondern auch die herrschende oder öffentliche Meinung. Die angesprochene Problematik hat ihr Fundament in der preußischen Rechtsreform; aber zugleich führt die öffentliche Diskussion der übereilten Reform Josephs II. zu einer Intensivierung des Bewußtseins. In Osterreich wur-

Änderung

...

9 Vgl. den Brief vom 29. April 1790 (XI159) und die Erläuterung XIII267. 10 Ernst Ferdinand Klein, Freyheit und Eigentum, abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der französischen Nationalversammlung, 1790; zit. nach Träger 1975, 849. Zu dem Gesamtzusammenhang vgl. bes. Conrad 1958; Kleinheyer 1959; Möller 1974. 11 Ein ausdrücklicher Verweis auf Klein in diesem Problemfeld findet sich in der schon herangezogenen Vigilantius-Mitschrift: „Klein hat diesen Unterschied bemerkt, aber nicht auseinandergesetzt" (XXVII 524). -

8i

82

Reinhard Brandt

den den Reformkonservativen12 vorexerziert, wie der Herrscher es nicht machen darf. Graf von Windischgraetz schreibt in einem Programm vom Jahre 1785: „Convaincu que rien n'est plus nuisible dans un etat que l'instabilite de la legislation, il (sc. der Autor) ne desire pas du tout que les Chefs des nations se pressent d'executer memes ses propres intentions" (S. 9 der französischen Version des Programme von 1785). Eine der vielen Warnungen von einer übereilten Reform durch den Regenten selbst. Kant nennt Windischgraetz im Zusammenhang der Systematik von Gebot, Verbot und Erlaubnisgesetz im Ewigen Frieden (348) und bezieht sich hiermit auf das genannte Programm und dessen Preisfrage, wie eindeutige Vertragsformeln zu entwerfen seien, die jeden Streit über Eigentumsveränderungen ausschließen. Ob Kant diese Schrift über den Titel hinaus kannte, läßt sich kaum ausmachen. Sechs Wochen nach dem Ausbruch der Französischen Revolution schrieb er an Friedrich Heinrich Jacobi, die Schrift von Windischgraetz „von der freiwilligen Abänderung der Konstitution in Monarchien" hänge offenbar mit zwei andern seiner Werke „in einem System" zusammen; Kant hat sie also gelesen. Diese gegen die übereilte Reform Josephs II. gerichtete Verfassungsschrift muß, so heißt es weiter, „zum Teil als wundersam eingetroffene Wahrsagung, zum Teil als weiser Rat für Despoten, in der jetzigen krisis von Europa von großer Wirkung sein" (XI 73). Der Titel dieser Schrift lautet: Discours dans lequel on examine les deux questions suivantes: 1. Un ...

12 Ich

folge hiermit der Klassifikation von Epstein 1966, 3-28 („A Prelimi-

nary Definition. Three Types of Conservatives"). „The three types, which will be labeled Defenders of the Status Quo, Reform Conservatives, and Reactionaries, constitute three different responses to this common challenge" (7). Kant gehört eindeutig in die Gruppe der Reformkonservativen, wobei jedoch folgende Differenz in dieser Gruppierung zu beachten ist: Es gibt einerseits Autoren wie Rehberg, Gentz, später Hegel, die eine Revolutionierung von unten oder oben dvirch Reformen vermeiden und dadurch die ständisch gegliederte Gesellschaft erhalten wollen; auf der andern Seite stehen Autoren wie Kant, Erhard oder auch der Präsident Morgenbesser {Beyträge zu einer republikanischen Gesetzgebung... Königsberg 1800), die sich am römischen Recht und Naturrecht orientieren und eine Reform zur allmählichen Verwirklichung der Republik anstreben.

Erlaubnisgesetze

Monarque at-il le droit de changer de son chef une Constitution evidemment vicieuse? 2. Est-ilprudent a lui, est-il de son interet de l'entreprendre? Der Autor verneint die beiden Fragen, weder das justum noch das utile ist bei einer übereilten, eigenmächtigen Reform erfüllt. „Der Staat ist ein autonom. Das ist eine heilige Pflicht, die ihm die Achtung vor das menschliche Geschlecht und die wesentliche Bedingung seiner Wohlfahrt auferlegt, diese Kunsteinrichtung nicht zu -

stören. Wehe dem

Prinzen, der die Triebfeder oder das

Schwungrad wegnimmt, welches alles in Ordnung hält, ..." so

Kant in einer Reflexion

zum

Thema der Rechtsreform

(Refl. 7778)13.

-

Kant entwickelt also sein reformkonservatives Konzept eiErlaubnisgesetzes im Hinblick auf zwei historische Ereignisse, die Französische Revolution und die dynastischen Reformwerke in Preußen und Österreich. Zur Erfassung des begrifflichen Kontextes, in dem sich diese beiden Ereignisse darstellen, sei auf zwei Schlüsselbegriffe verwiesen, die in der zeitgenössischen politischen Publizistik immer wieder begegnen und die bei Kant eine dominierende Stellung einnehmen: Die „Anwendung" und die „Übereilung" mit dem Gegenbegriff des „allmählich", „nach und nach". Anwendung ist das Stichwort für das Verhältnis von naturrechtlicher Theorie und positiver Praxis. Zwischen Theorie und Praxis klafft ein Hiat; die Frage ist: wie läßt sich dieser Hiat überwinden, wie lassen sich die Normen und allgemeinen Sätze der Theorie auf die Praxis anwenden? Johann Friedel beschäftigt sich in seinen Fragmenten von 1786 mit der „zur Unzeit angewandten Staatsmystik" Josephs II.14; Kant, Gentz, Rehberg behandeln in ihren Schriften zum Verhältnis von Theorie und Praxis das Anwendungsprones

13 Ob Kant hierbei an Joseph II. dachte, ist ungewiß. Er erwähnt den österreichischen Kaiser in der Vorlesung Vigilantius im Zusammenhang des Strafrechts, sagt jedoch nichts von dessen übereilter Reform, vgl. XXVII 551 und 556. 14 Johann Friede], Historisch-philosophisch und statistische Fragmente, mehrenteils die österreichische Monarchie betreffend, Leipzig/Klagenfurt 1786, 54 (zit. nach Bodi 1977,253).

83

84

Reinhard Brandt

blem15;

Adam Smith warnt vor der Anwendung von Theomit bloßem Systemgeist ausgeklügelt sind. Das Prodie rien, blem der Antinomie zwischen Naturrecht und bestehendem Recht, zwischen rechtlicher Praxis und naturrechtlicher Theorie ist nur eines der Anwendungsprobleme, die im ausgehenden 18. Jahrhundert erörtert wurden. Das zweite Stichwort ist das der Übereilung, der Überstürzung, des zu Plötzlichen. ,Jede plötzliche Umänderung hat den Charakter des Schauerlichen und Zerrüttenden, heißt es in den Annalen von 179916. In den Europäischen Annalen von 1795 wird von der Revolution in Frankreich gesagt: „Von nun zeigte sich von den Theorien der Philosophen über Staatsverfassung in Frankreich eine vielleicht nur allzu plötzliche, allzu kühne Praxis"17. Campe warnt in seinen Briefen am Paris von 1790 vor der Übereilung (1790, 35), in gleicher Weise urteilt Ernst Brandes (1808, 100). Die übereilte Reform ist von der Anarchie bedroht, schreibt Kant im Ewigen Frieden (373). Das Gegenteil des Übereilten und Überstürzten ist die Kontinuität der historischen Entwicklung. „Wenn nun der Fürst selbst sein Volk nach und nach an eine freiere Denkungsart gewöhnte, so würde sich der Segen der Freiheit auch ohne Wetter- und Wolkenbrüche durch die ihm angewiesenen Kanäle über sein Land verbreiten. Deswegen müßte der Fürst das Volk zur Teilnehmung an den öffentlichen Geschäften stufenweise gewöhnen und Männer zu bilden suchen, welche fähig wären, als Repräsentanten das Wohl der Nation zu besorgen", heißt es in einem Beitrag der Berlinischen Monatsschrift von 1785 mit dem Titel: Neuer Weg zur Unsterblichkeit der Fürsten™. Ernst Ferdinand Klein schreibt in der oben angeführten Schrift über Freiheit und Eigentum (S. 128): „Aber eben daraus ergibt sich die Pflicht der Regierung, ihre Untertanen aufzuklären und sie nach und nach an 15 Vgl. Henrich (Hrsg.) 1967. Besonders in Rehbergs Aufsatz (115-130) ist „Anwendung" das zentrale Stichwort. 16 August von Hennings, Hat die französische Revolution der Sache der Freiheit genützt?, zitiert nach Träger 1975, 739. 17 August von Hennings, Frankreichs Staatsverwaltung, zitiert nach Träger

1975,753. 18 Die

Passage ist abgedruckt bei Krauss 1965,

195-197.

Erlaubnisgesetze den Genuß der Menschenrechte zu gewöhnen". Die Vorstellung des „nach und nach", des „allmählich" ist sichtlich an der naturphilosophischen Idee des Seins-Kontinuums orientiert. Bei Kant gibt es wenigstens in der Spätphase eine Doppelkonzeption bezüglich dieses Kontinuums des Seienden: Eine gesteuerte Handlung, wie sie einzig die einer rechtlichen Vorschrift sein kann, muß sich am Ideal der kontinuierlichen Rechtsbewahrung bemessen. Die Natur kann jedoch durch abrupte Brüche das Ziel befördern oder verhindern; in Revolutionen wird die Geschichtskontinuität durch die Natur aufgehoben und das Ergebnis dem Zufall anheimgestellt. Eine Revolution kann niemals Rechtsgebot sein, sie kann jedoch einen rechtsfördernden Charakter haben, und sie hat diesen Charakter, wenn es die Revolution eines geistreichen, aufgeklärten Volkes ist (trotzdem ist es unmöglich, eben dieses Geschehen als rechtliche Handlung zu legitimieren)19. Dies ist ein Aspekt der Gesamtproblematik in Kants Revolutionsidee. Ich fasse zusammen: Das Erlaubnisgesetz Kants ermöglicht die Anwendung natur- oder vernunftrechtlicher Normen auf die Wirklichkeit im Modus einer allmählichen Reform. Kant fängt damit die rechtlich nicht mögliche Revolution von unten (Frankreich) oder die Revolution durch den 19 Vgl. bes. die Anmerkung VIII 373: „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift Revolutionen aber, wo sie die Natur von selbst her-

Hier wird nicht von einem für die rechtswidrige I landlung verantwortlichen Subjekt gesprochen, sondern Kant registriert das historische Faktum, daß ein Volk revolutioniert, wenn es unerträglich unterdrückt wird, daß es Revolutionen gibt, die, wie Meiners (1792, 645) sagt, „durch unüberlegte Schritte der Regierungen selbst gleichsam erkünstelt, oder erzwungen werden". Es wird von der Revolution als einem politischen Phänomen, nicht einem rechtlichen Problem gesprochen. Bei Kant kann dieses politische Naturereignis, entstanden aus dem Mechanismus von Druck und Gegendruck, zugleich teleologisch gefaßt werden, es ist, wie letztlich jede Veranstaltung der Vorsehung oder Natur, ein public benefit der Weltgeschichte „denn was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen können, so bleiben die der Vorsehung überlassen und lassen sich nicht planmäßig der Freiheit unbeschadet einleiten" (VI 122). Das Verdienst der Franzosen ist, daß sie sich die Idee des Rechts zu eigen gemacht haben und so aus einem Instrument der Vorsehung zum selbsthandelndcn Subjekt wurden.

beiführt

...

-

85

86

Reinhard Brandt Fürsten ab und vermittelt zwischen legitimer Rechtsforderung und rückständiger Wirklichkeit.

Literatur Bodi, Leslie 1977: Tauwetter

in Wien. Zur Prosa der österreichischen Auf-

klärung 1781-1795. Frankfurt/M. Brandes, Firnst 1808: Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts. Hannover. Brandt, Reinhard 1980: Kant-Herder-Kuhn. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5, 27-36. Campe, Joachim Heinrich 1790: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution. Braunschweig. Conrad, Hermann 1958: Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794. Köln/Opladen. Ebert, Theodor 1976: Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotener, verbotener und freigestellter Handlungen. In: Kant-Studien 67, 570-583. 1966: The Genesis of German Conservatism. Princeton. I lenrich, Dieter (Hrsg.) 1967: Kant, Gentz, Rehberg. Uber Theorie und Praxis. Frankfurt/M. Kleinheyer, Gerd 1958: Staat und Bürger im Recht. Die Vorträge des Carl Gottlieb Svarez vor dem Preußischen Kronprinzen (1791-92). Bonn. Krauss, Werner 1965: Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze. Neuwied/Berlin. Meiners, Christoph 1792: Geschichte der Ungleichheit unter den vornehmsten Europäischen Völkern. Band I. Hannover. Möller, Horst 1974: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin. Träger, Claus 1975: Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur. Leipzig.

Epstein, Klaus

Wolfgang Kersting

„Die bürgerliche

Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein"

Die sechs Präliminarartikel zum ewigen Frieden unter Staaten formulieren die negativen Bedingungen eines zwischenstaatlichen Friedenszustandes. Sie haben den Status von

teils ausnahmslos geltenden Verbotsgesetzen, teils Erlaubnisgesetzen. Sie sind anders als die drei Definitivartikel nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit aus einem Prinzip abgeleitet, sondern der Erfahrung entnommen. Ihr Gegenstand sind Vermeidungshandlungen, die zum konventionellen politischen Repertoire der Kriegsverhinderung und Friedensermöglichung gehören und als unerläßliche Voraussetzungen eines rechtlich befestigten Friedens empirisch ausweisbar sind. Auf der Grundlage dieser Präliminarartikel läßt sich ein Vorfriede erreichen, ein Zustand der Kriegsabwesenheit. Ein Zustand der Kriegsabwesenheit ist jedoch selbst noch kein positiver Friedenszustand. Um vom Zustand der Kriegsabwesenheit zum Zustand des Friedens überzugehen, muß der Weg der Verrechtlichung eingeschlagen werden. Nur durch das Recht gelangen Menschen und Staaten zum Frieden.

5.1

Kriegszustand und Friedenszustand

TJbersetzen wir den in den Präliminarartikeln umrissenen Zustand der Kriegsabwesenheit in die vertragstheoretische Sprache der klassischen politischen Philosophie, dann entdeckt sich der Zustand der Kriegsabwesenheit als Naturzustand und folglich als Kriegszustand. Das ist kein Widerspruch, denn für Kant ist der Naturzustand aus strukturellen Gründen ein Kriegszustand, weil es in ihm keine gewalt-

88

Wolfgang Kersting

freien,

von

kontingenten Machtverteilungen unabhängigen

rechtlichen Verfahren der Konfliktregulierung und Ordnungsherstellung gibt, in ihm darum Unsicherheit und latente Gewalt herrschen und jeder nur auf den nächsten „Ausbruch der Feindseligkeiten" wartet (349). Kant legt die politische Fundamentalopposition von Krieg und Frieden rechtsphilosophisch aus und begründet damit einen anspruchsvollen Friedensbegriff, der alle politischen Befr iedungsarrangements durch Ubermacht und Abschreckung lediglich als negativen Frieden bewertet und noch dem Kriegszustand zurechnet. Denn die sich Gleichgewichts- oder Uberlegenheitskonstellationen oder auch einem allseitigen Handeln gemäß den Präliminarartikeln zum ewigen Frieden verdankende Kriegsabwesenheit ist kontingent, fragil und strukturell ungesichert und bietet, sosehr sie auch jeder gewaltsamen Auseinandersetzung vorzuziehen ist, nicht die mindeste Gewähr für ein dauerhaftes gewaltffeies Zusammenleben. Es bedarf also zusätzlicher Anstrengungen, damit die Kriegsabwesenheit auf Dauer gestellt wird und die Naturzustandsbewohner für immer in friedlicher Nachbarschaft miteinander leben können, damit der negative Frieden der Kriegsabwesenheit einem positiven Friedenszustand Platz macht. Der Friedenszustand muß also eigens „gestiftet werden" (349); und diese Friedensstiftung besteht in der Etablierung bestimmter, vernunftrechtlich begründeter Rechtsstrukturen, die die politischen Macht- und Herrschaftskonstellationen institutionell überformen. Solange das noch nicht erfolgt ist, solange die Nachbarn einander noch nicht durch gemeinsamen Beitritt in ein System gesetzlicher Freiheit und gewaltfreier rechtlicher Konfliktregulierung ihrer Gewaltverzichtsbereitschaft versichert haben, ist es für jedermann nur vernünftig, jeden im Naturzustand verharrenden Nachbarn als Feind zu betrachten und zu behandeln und „jederzeit in Kriegsrüstung zu seyn" (XIX Refl. 7646). Das gilt für Menschen im interindividuellen Naturzustand und für Staaten im internationalen Naturzustand gleichermaßen. Unter normalen rechtlich und staatlich geordneten Verhältnissen werden wir jemanden nur dann als unseren Feind betrachten, wenn er uns in unseren Rechten verletzt hat; hier

„Die bürgerliche Verfassung ..."

gibt sich der Feind also erst durch die rechtsverletzende Gewaltanwendung zu erkennen. Im Naturzustand hingegen, so-

wohl in dem zwischen den Menschen als auch in dem zwischen den Staaten herrschenden, ist jeder durch jeden anderen allein schon dadurch in seinen Rechten verletzt, daß ein solcher Zustand der Gesetzlosigkeit zwischen ihnen besteht, Kant spricht daher von einer strukturellen, zustandsbedingten Rechtsverletzung, von einer ,laesio per statum' (vgl. XIX Refl. 7647; XXIII 211). Aus dieser Naturzustandsinterpretation folgt unmittelbar die rechtliche Notwendigkeit, den Naturzustand zu verlassen. „Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen Mir und Dir im Naturzustand, noch zwischen uns als Staaten, die obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (im Verhältniß gegen einander) im gesetzlosen Zustand sind" (VI 354). Und daher gilt: „Alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören" (349 Anm.). Auch Hobbes lehrt, daß der Naturzustand zu verlassen ist; aber seine politische Philosophie weist nur einen Weg aus dem interindividuellen Naturzustand. Für den neuen, zwischen den Staaten entstehenden Naturzustand hat die Hobbessche Philosophie dann keine institutionelle Lösung mehr anzubieten. Der Kantische Weg aus dem Naturzustand hingegen führt viel weiter; seine Rechtsphilosophie bietet für alle Naturzustandsverhältnisse eine rechtliche Friedenslösung an: nicht nur der interindividuelle Naturzustand ist durch eine Rechtsordnung abzulösen, auch der interstaatliche Naturzustand muß durch eine rechtliche Verfassung überwunden werden; und selbst noch der Naturzustand zwischen Individuen und fremden Staaten ist durch angemessene rechtliche Regelungen zu ersetzen

(vgl. VIII 24). Vor dem Hintergrund der politischen Philosophie Hobbes' zeichnet sich der anspruchsvolle Charakter der Kanti-

schen Theorie des Rechtsfriedens deutlich ab. Während Kant den Frieden durch rechtliche Überwindung des zwischenstaatlichen Naturzustandes erreichen will, muß Hobbes nach einem Frieden im zwischenstaatlichen Naturzustand suchen, durch den der Zustand der Kriegsabwesenheit mög-

89

oo

Wolfgang Kersting

liehst lange konserviert wird. Er stützt sich dabei auf ein Friedensprogramm des rationalen Mißtrauens, dessen Grundidee darauf zielt, den Krieg dadurch abzuhalten, daß jeder die Aufhebung des kriegslosen Zustandes für alle anderen so teuer macht, daß sich vernünftigerweise damit kein Gewinn mehr verbinden läßt. Der Kerngedanke ist also die Abschreckungsbalance, die zu stabilisieren eine stete Nachrüstungsbereitschaft nötig ist, die ihrerseits, um nicht Gefahr zu laufen, zu

spät zu kommen, notwendigerweise zu einer Vorrüstungsbereitschaft tendiert, so daß die Abschreckungspolitik selbst die

Rüstungsspirale aus sich hervortreibt. Kant hingegen begründet den Friedenszustand nicht in einem Abschreckungsgleichgewicht, sondern in einer Rechtsordnung. Bei ihm wird die Gewaltdynamik des Naturzustandes nicht durch ein Arrangement der Klugheit gebändigt, sondern durch eine „bürgerliche Verfassung" (349) beendet, die einzurichten und nach reinen Rechtsprinzipien zu formen die Vernunft kategorisch von den Menschen und Staaten verlangt. Die drei Definitivartikel zum ewigen Frieden formulieren die positiven Rechtsbedingungen dieses umfassenden Friedenszustandes. Sie beschreiben damit zugleich drei unter-

schiedliche Verrechtlichungsschritte staatsrechtlicher, völkerrechtlicher und weltbürgerrechtlicher Natur, die zur endgültigen Uberwindung des Naturzustandes unternommen werden müssen. Diese „Eintheilung ist nicht willkürlich, sondern nothwendig in Beziehung auf die Idee vom ewigen Frieden" (349 Anm.). Der ewige Friede ist das Ergebnis der Verrechtlichung aller konfliktträchtigen Beziehungen in der Welt der äußeren Freiheit. Nun kann es gesetzlosigkeitsbedingte Gewalt zwischen Menschen und Menschen, zwischen Staaten und Staaten und schließlich auch noch zwischen Staaten und Menschen (die fremden oder gar keinen Staaten angehören) geben. Folglich muß ein Programm der umfassenden Vermeidung konflikterzeugter Gewalt alle Konfliktzonen verrechtlichen; muß das Programm eines zeitlich wie räumlich umfassenden Friedens eine staatsrechtliche Friedensstiftung, eine völkerrechtliche Friedensstiftung und eine weltbürgerrechtliche Friedensstiftung enthalten und miteinander kombinieren.

„Die bürgerliche Verfassung ..." Man könnte einwenden, daß das Thema der staatsrechtlichen Ordnung in einer Theorie des zwischenstaatlichen Friedens keine Rolle spielen könne und Kant ja selbst auch seinen vernunftrechtlichen Friedensvertrag als einen philosophischen Entwurf einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung bezeichnet habe. Aber diesem Einwand begegnet Kant mit einem Argument, das im Zentrum der Erläuterung des Ersten Definitivartikels steht. Dieses Argument vereint zwei Thesen. Die erste These lautet: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Verfassung eines Staates und seinem Verhalten zu anderen Staaten, so daß man grundsätzlich kriegsbegünstigende, unfriedliche Verfassungen und friedliche, kriegsverhindernde Verfassungen unterscheiden kann. Die zweite These lautet: Eine republikanische Verfassung ist eine friedensfunktionale Verfassung, die aus internen Gründen der vernunftrechtlichen Friedensforderung entgegenkommt. Daher hat die Vernunft also gleich einen doppelten Grund, eine republikanische Verfassung des Gemeinwesens zu verlangen. Einmal einen staatsrechtlichen, weil sie die einzig rechtmäßige, mit dem angeborenen Freiheitsrecht der Menschen in Ühereinstimmung stehende bürgerliche Organisationsform ist. Und zum anderen einen völkerrechtspolitischen, weil sie die Etablierung einer internationalen Rechtsordnung begünstigt. Die aus reinen Rechtsprinzipien entwickelte völkerrechtliche Friedensordnung hat also eine staatsrechdiche Prämisse, deren Erläuterung Bestandteil des philosophischen Friedensentwurfs sein muß. Daher enthält der Erste Definitivartikel zum ewigen Frieden unter Staaten die staatsrechtlich wie völkerrechtlich motivierte Vernunftrechtsforderung: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat soll republikanisch sein" (349).

5.2 Elemente der republikanischen

Verfassung

Eine republikanische Verfassung ist nach Kant eine „erstlich nach Principien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängig-

91

92

Wolfgang Kersting

keit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Unterthanen) und drittens nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung" (350). Weiterhin charakterisiert Kant die republikanische Verfassung als „die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß". Diesem Argument liegt eine vertragstheoretische Legitimationskonzeption zugrunde, die an den Contrat social erinnert. Kant hat im „Bürgerbund" Rousseaus das „ideal des Staatsrechts" erblickt und den Gesellschaftsvertrag als allgemein verbindliche Rechtsform für jede bestehende gesellschaftlich-politische Vereinigung angesehen (XIV Refl. 6593). Der einzige rechtmäßige, mit dem angeborenen Freiheitsrecht der Menschen in Übereinstimmung stehende Weg, den Naturzustand durch eine Rechtsordnung zu ersetzen, besteht in dem Zusammenschluß aller zu einem allgemeinen gesetzgebenden WUen, dessen Gesetzen jedermann in gleicher Weise unterworfen ist. Der vertragliche Zusammenschluß ist das vernunftrechtliche Modell legitimer Herrschaft; und die normative Binnenstruktur der Vertragsgemeinschaft enthält in nuce das normative Gerüst ...

einer republikanischen Verfassung. Legitim ist die den vertraglichen Zusammenschluß in der Organisation der Gesetzgebung wiederholende Herrschaft, weil sie notwendigerweise gerechte Gesetze gibt. „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht thun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, sofern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein" (VI 314). Man sollte beachten, daß diese auf Einmütigkeit und gleicher

Partizipation aller Betroffenen sich stützende Gerechtigkeitskonzeption keinerlei moralische Voraussetzungen macht, auch keinen Gerechtigkeitssinn verlangt; es ist denje-

„Die bürgerliche Verfassung ..."

nigen, die hier zu einer gemeinsamen Beschlußfassung aufgerufen sind, nicht verwehrt, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Gerechtigkeit geht mit Selbstinteresse durchaus zusammen, allerdings muß sie das Selbstinteresse aller Betroffenen in gleicher Weise berücksichtigen. Kant vertritt einen prozeduralistischen Gerechtigkeitsbegriff, der die Gerechtigkeit eines Gesetzes über das Verfahren seiner Entstehung bestimmt; Gesetze sind dann gerecht, wenn sich in ihrem Entstehungsverfahren das Einigungsverfahren des Vertrages reflektiert, wenn sie das einmütige Ergebnis einer Entscheidung sind, an der alle Betroffenen gleichberechtigt beteiligt sind (vgl. Maus 1992). Die republikanischen Verfassungsprinzipien der rechtlichen Freiheit und rechtlichen Gleichheit gewinnen vor dem Hintergrund der kontraktualistischen Konzeption eines gesetzgebenden allgemeinen Willens jetzt klare Kontur. Die Freiheit der Menschen in einem republikanisch verfaßten Staat besteht in dem Recht, nur allgemein anerkennungsfähi-

gen Gesetzen unterworfen zu sein oder, wie Kant formuliert: „meine äußere (rechtliche) Freiheit ist die Befugniß, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können" (350 Anm.). Da dieses Recht jedermann hat, muß die Freiheit der Menschen mit einem Leben unter allgemein zustimmungsfähigen Gesetzen zusammenfallen. Die rechtliche äußere Freiheit der Menschen läßt sich unabhängig von dem Begriff des Gesetzes nicht bestimmen. Kant macht klar, daß die bekannte Definition der rechtlichen Freiheit als Befugnis, „alles zu thun, was man will, wenn man nur Keinem Unrecht thut", gedankenlos ist, da sie sich ausbuchstabiert als „leere Tautologie" erweist (350 Anm.). Da alle Gesetze freiheitseinschränkender Natur sind, aber die Freiheit nicht immer auf legitime Weise einschränken, muß eine nicht-tautologische und zugleich vernunftrechtlich begründete Bestimmung der äußeren rechdichen Freiheit der Menschen diese mit dem Begrifflegitimer, gerechter Gesetze zusammenbringen. Und da aufgrund des Kantischen Prozeduralismus gerechte Gesetze allgemein zustimmungsfähige Gesetze sind, gelangen wir zu einer Definition des privaten ...

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Wolfgang Kersting

rechtlichen Freiheitsraumes, die von dem gleichen Gesetzgealler a priori Gebrauch macht. Meine äußere rechtliche Freiheit besteht in der Befugnis, nur solchen Gesetzen gehorchen zu müssen, die ich unter Wahrnehmung meiner Mitgesetzgebungskompetenz mit allen anderen einvernehmlich beschlossen haben könnte. Es ist bemerkenswert, daß in dieser Definition die Brücke von dem angeborenen Freiheitsrecht zum Staatsrecht geschlagen wird. Man könnte geradezu von einem vernunftrechtlich modifizierten Aristotelismus bei Kant sprechen: die menschenrechtliche Grundffeiheit läßt sich angemessen nur in Hinblick auf eine

bungsrecht

republikanische Verfassungsordnung explizieren,

ist

von

vornherein auf ihre gesetzliche Konkretisierung und Sicherung durch den gesetzgebenden allgemeinen Willen ausge-

legt.

Gleichheitsprinzip steht in engem Zusammenmit einer hang Handlungskoordination durch allgemeine Gesetze; rechtliche Ungleichheit würde „der allgemeine Volkswille in einem ursprünglichen Vertrage (der doch das Princip aller Rechte ist) nie beschließen" (350 Anm.). RechtAuch das

liche Gleichheit impliziert die Abweisung von Diskriminierung und Privilegierung, verlangt Gleichverteilung gesetzlich bestimmter Rechtsmacht und den freien Zugang zu allen gesetzlich bestimmten Rechtspositionen, ist mit Erbuntertänigkeit, Adelsvorrechten und allen anderen Formen rechtlicher Benachteiligungen und rechtlicher Begünstigungen unverträglich. Und der Garant rechtlicher Gleichheit ist die Übertragung der Gesetzgebung an den allgemein vereinigten Willen. Es ist offenkundig, daß sich die Idee des ursprünglichen Vertrages, das Konzept des vereinigten gesetzgebenden Willens und die republikanischen Verfassungsprinzipien der Freiheit und Gleichheit wechselseitig explizieren. Die in der Rechtskonstruktion des contractus originarius sich manifestierende staatsbürgerliche Autonomie bedingt genau die rechtliche Freiheit, die den Bürgern als Menschen zukommt, nämlich nur allgemein anerkennungsfähigen Gesetzen unterworfen zu sein, und etabliert einen Zustand der Gleichheit aller vor den Gesetzen. Das von Kant neben Freiheit und Gleichheit hier ebenfalls aufgeführte „Princip der rechtlichen Ab-

„Die bürgerliche Verfassung ..."

hängigkeit" taugt übrigens nicht als Unterscheidungsmerkmal einer republikanischen Verfassung. Da jede Staatsverfassung als solche bereits dieses

Prinzip der rechtlichen Abhän-

gigkeit realisiert, es also „schon in dem Begriffe einer Staatsverfassung überhaupt liegt" (350 Anm.), führt es zu einer Un-

terbestimmung des Konzepts einer republikanischen Verfas-

sung.

Republikanisch

ist eine

bürgerliche Verfassung folglich

dann, wenn sie den Prinzipien der Mitgesetzgeberschaft aller

als möglicher Staatsbürger, der Freiheit aller als Menschen und der Gleichheit aller als Untertanen, d. h. der Gleichheit aller vor dem Gesetz, entspricht. Und diese rechtlichen Eigenschaften sind auch der Grund dafür, daß die republikanische Verfassung „die einzige ist, die zum ewigen Frieden hinführen kann" (350).

5.3 Die Friedensfreundlichkeit der

republikanischen Verfassung Argument, das Kant für die Friedensfreundlichkeit, für den strukturellen Pazifismus der republikanischen Verfassung anführt, ist klar und einfach. „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes müßten Spiel anzufangen" (351). Das Argument macht wohlgemerkt nicht von pazifistischen Überzeugungen oder einem Gerechtigkeitssinn oder sonstigen moralisch anspruchsvollen Motivationslagen Gebrauch; es stützt sich nur auf Rationalität und Selbstinteresse. Der gleiche motivationale Minimalismus kommt auch in Kants berühmtem Diktum zum Ausdruck, daß das „Problem der Staatserrichtung selbst für ein Volk von Teufeln auflösbar" sei, „wenn sie nur Verstand haben" (366). Auch ein republikanisch verfaßtes „Volk von Teufeln", das in staatsbürgerlicher Autonomie sich seine Gesetze selbst gibt, würde, falls es Verstand hat, keinen Angriffskrieg beDas

...

...

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Wolfgang Kersting

schließen. Wenn die Menschen in der Lage sind, als autonome Staatsbürger ihre allgemeinen Angelegenheiten gemeinsam zu beraten und zu beschließen, dann werden sie von jedem Krieg Abstand nehmen, denn sie werden die Kosten bedenken, die für sie alle und damit für einen jeden mit der Führung eines Krieges verbunden sind, und dann werden sie sofort wissen, daß es nicht in ihrem Interesse sein kann, die Lasten eines Krieges zu tragen. Man darf nicht vergessen, daß das Kantische Argument natürlich nur auf Angriffskriege, nicht auf Verteidigungskriege gemünzt ist. Da das Vermögen und die Vergnügungen eines autokratischen Fürsten durch einen Krieg nicht im mindesten beeinträchtigt werden, kann er mit menschenverachtender Willkür einen Krieg vom Zaun brechen, wann und aus welchen Gründen auch immer er es will. Die Bürger hingegen, die niemanden haben, auf den sie die Kriegskosten abwälzen können, die alle Lasten eines Krieges ungeschmälert selbst zu spüren bekommen, haben kein

Interesse, einen Krieg zu beginnen.

Die republikanische Verfassung ist die Verfassung der politischen Selbstbestimmung; sie erhebt den Untertanen in den Rang eines Bürgers; verwandelt politische Heteronomie in politische Autonomie. Während der Untertan in nicht-republikanischen Verfassungen stumm bleibt, können die sich als Freie und Gleiche wechselseitig anerkennenden Bürger in Wahrnehmung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie, im Rahmen einer allgemeinen rechtlichen Wllensbildung ihre Interessen zur Geltung bringen. Und einen Krieg zu beginnen und zu führen kann nicht im Interesse der Bürger sein. Deshalb ist die republikanische Verfassung eine ff iedensfünkrionale Verfassung; deshalb darf von republikanisch verfaßten Gemeinwesen erwartet werden, daß sie einem ewigen Frieden zwischen den Staaten entgegenkommen. Dieser Gedanke ist zu naheliegend, um neu sein zu können. Bereits Erasmus' klagender Friede (Querela pacis, 1517) hat zu seinem eigenen Schutz den Krieg an die Bedingung der Zustimmung eines ganzen Volkes gebunden. Und wenn Montesquieu dem Verhältnis zwischen den Verfassungen und der Außenpolitik nachgeht und der Monarchie einen kriegerischen Charakter, der Republik hingegen Friedlichkeit be-

„Die bürgerliche Verfassung ..." dann liest sich das wie ein vorweggenommener Kommentar zu den einschlägigen Ausführungen Kants (De Pesprit des lots IX 2). Aufgrund der Erfahrungen mit dem revolutionären Frankreich haben jedoch manche Zeitgenossen Kants die These von der strukturellen Friedensfreundlichkeit der Republik angezweifelt, sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Während Kant mit der Französischen Revolution den Beginn eines neuen Zeitalters der Freiheit feierte, erblickten die konservativen Revolutionskritiker in ihrem aggressiv-totalitären Jakobinismus und militanten Nationalismus die Anfänge eines neuen ideologischen Zeitalters. Sie hörten die Revolutions-

scheinigt,

propaganda, fürchteten die Begeisterung der Menschen, die neuen unbekannten politischen Leidenschaften, die alle ergriffen, und weigerten sich, Kants bürgerlichen Rationalismus

teilen und das Selbstinteresse der Menschen als verläßliche Vernunftbastion und Friedensgarantie anzusehen. Nicht den Frieden, sondern den Krieg habe die Revolution hervorgebracht, behauptet der Burkeaner Friedrich von Gentz in seiner Auseinandersetzung mit der Kantischen Friedensschrift, wähnten die Revolutionäre doch, „alle Völker der Erde in einem großen kosmopolitischen Bunde zu vereinigen", und „schufen" sie doch dabei „den grausamsten Weltkrieg, der je die Gesellschaft erschütterte und auseinanderriß" (Gentz 1800/1953, 494). Ähnliches, wenn auch in sachlicherem Ton und hauptsächlich mit Blick auf England, bringt Hegel gegen Kants These vor: um die Rationalität des Volkes sei es nicht ganz so gut bestellt, und es müsse zugestanden werden, daß „oft ganze Nationen noch mehr wie ihre Fürsten enthusiasmiert und in Leidenschaft gesetzt werden können. In England hat mehrmals das ganze Volk auf Krieg gedrungen und gewissermaßen die Minister genötigt, ihn zu führen" (Rechtsphilosophie § 329 Anm.). Gleichgültig, ob Hegels Interpretation der englischen Geschichte zutrifft oder nicht, sicherlich ist es richtig, daß es populäre Kriege gegeben hat und gibt, daß die zu

Kriegsleidenschaft ein ganzes Volk erfassen kann und es bereit

ist, sich in einem totalen Krieg selbst zu verbrennen. Hinwie-

derum gibt aber die politische Entwicklung in den internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg anderen wieder hinreichend Anlaß, an Kants These zu erinnern und sie

97

98

Wolfgang Kersting mit eindrucksvollem

Gilbert

1992).

empirischem

Material

zu

stützen

(vgl.

Kant hat der These von der strukturellen Friedensfreundlichkeit der republikanischen Verfassung in seiner Friedensschrift eine sehr schlichte Fassung gegeben. Bei Beachtung des Prinzips der möglichen Mitgesetzgeberschaft aller Bürger kann kein Herrscher einen Krieg beschließen, weil kein Bürger „die Drangsale des Krieges über sich beschließen" würde (351). Man kann diese These natürlich ausbauen, man kann anführen, daß in einem republikanisch verfaßten Gemeinwesen eine Kultur der öffentlichen Meinung besteht, ungehinderte gesellschaftliche Lernprozesse ablaufen, differenzierte politische Willensbildung möglich ist und daß aufgrund dieser mobilisierten deliberativen und reflexiven Rationalität aggressive kriegerische Unternehmungen sehr schwer die Billigung der Bürger finden werden. Aber Kant hat seinem Argument in der Friedensschrift aus sehr gutem Grund diese einfache Fassung gegeben. Während sich die eben erwähnten Rationalitätsvorteile einer republikanischen Verfassung nur unter der Voraussetzung der faktischen Existenz einer Republik mit einer unbehinderten, unzensierten öffentlichen Meinung entwickeln können, eröffnet Kants Argument den Weg, die republikanische Verfassung in ein Gedankenexperiment zu verwandeln, das diejenigen, die die Macht besitzen, anstellen können, wenn sie, wozu sie a priori verpflichtet sind, ihre Macht so ausüben wollen, als ob die Bürger in Wirklichkeit Mitgesetzgeber wären. Daher gibt Kant dem Argument eine Fassung, die eine logische Operationalisierung zuläßt, die an das Universalisierungsverfahren und den Widerspruchstest aus seiner Moralphilosophie erinnert. Man könnte hier von einem Kriterium der Mitgesetzgeberschaft sprechen: Ein Gesetz ist dann legitim, wenn es auch beschlossen worden wäre, wenn die von ihm Betroffenen Mitgesetzgeber gewesen wären. Der Vorzug dieser Operationalisierung liegt auf der Hand: die sich in der republikanischen Verfassung ausdifferenzierende Rechtsvernunft macht sich von der herrschaftsorganisatorischen Voraussetzung der Demokratie unabhängig und kann im Rahmen jeder bestehenden Staatsform Wirksamkeit entfalten. Mit dieser

„Die bürgerliche Verfassung

Überlegung berühren wir bereits das Thema des dritten und umfangreichsten Teils der Kantischen Erläuterungen zum Ersten Definitivartikel, der der Frage nach den Chancen der Verwirklichung republikanischer Prinzipien unter widerstreitenden institutionellen Bedingungen nachgeht und das begriffliche Inventar für eine reformistische Kompromißlösung bereitstellt.

5.4 Herrschaftsform und

Regierungsart

Der Erste Definitivartikel des rechtsphilosophischen Friedensvertrags umfaßt drei Teile. Im ersten Teil werden die drei Prinzipien der republikanischen Verfassung aufgezählt. Im zweiten Teil wird das Argument vom friedensfunktionalen Charakter der republikanischen Verfassung vorgetragen. Im dritten Teil gibt Kant im Rahmen einer eigenwilligen Neubestimmung der Einteilungen der aristotelischen Verfassungslehre eine äußerst gedrängte und sehr undeutliche verfassungstheoretische Skizze. In ihrem Mittelpunkt steht die Unterscheidung zwischen Herrschaftsform (forma imperii) und Regierungsart (forma regiminis). Werden die Herrschaftsformen wie schon bei Aristoteles „nach dem Unterschiede der Personen, welche die oberste Staatsgewalt inne haben" (352), in „Autokratie, Aristokratie und Demokratie" eingeteilt, so zerfällt die Regierungsart, je nachdem ob sie sich den reinen Prinzipien der Rechtsgemeinschaft verpflichtet weiß oder sich über diese hinwegsetzt, in eine „republikanische" und eine „despotische". Bei Kant findet sich also im Unterschied zu Aristoteles kein Sechs-Verfassungs-Schema, in dem eine Trias guter, politischer Verfassungen einer Trias

parekbatischer, unpolitischer Verfassungen gegenübersteht. quantitativen und die qualitativen Klassifikationsgesichtspunkte nicht, sondern stellt sie als selbständige Einteilungsmerkmale nebeneinander. So gelangt er einerseits zu zwei gegensätzlichen Regierungsarten, die die rechtliche Qualität der Herrschaftsausübung bestimmen, Kant kombiniert die

und andererseits zu einer Trichotomie wertindifferenter Herrschaftsformen (vgl. Bien 1972).

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loo

Wolfgang Kersting

Das von Kant selbst angegebene Motiv für die Einfügung dieser gedrängten verfassungstheoretischen Skizze in den Ersten Definitivartikel liegt in dem Bestreben, einer Verwechslung der republikanischen Verfassung mit der demokratischen Verfassung zu begegnen. Diese Verwechslung ist in der Tat naheliegend; ist die republikanische Verfassung doch in der Idee des ursprünglichen Vertrags begründet; verweist die Freiheit unter allgemeinen Gesetzen doch auf den gesetzgebenden allgemeinen Willen; manifestiert sich in dem allgemeinen gesetzgebenden Willen doch ein demokratisches Souveränitätskonzept, da die Souveränität, das Herrschaftsrecht, die gesetzgebende Gewalt rechtmäßig allein dem vereinigten Willen des Volkes zukommen kann. Wie auch sonst sollte der Untertan Bürger werden, wenn nicht im Rahmen einer demokratisch organisierten Gesetzgebung. Wäre jedoch die republikanische Verfassung eine demokratische, dann könnte ihre im Ersten Definitivartikel nun hauptsächlich interessierende „gewünschte Folge" des ewigen Friedens nur von existierenden demokratischen Herrschaftsorganisationen erwartet werden. Und das bedeutet angesichts der politischen Verhältnisse zur Zeit Kants: daß die Friedenswirkung der republikanischen Verfassung sich nur nach erfolgreicher demokratischer Revolution entfalten kann. Auf der Ebene der reinen rechtsbegrifflichen Argumentation, also vernunffrechtsintern, fallen die Bestimmung der Herrschaftsorganisation und die Bestimmung der rechtlichen Ordnung des sozialen Lebens zusammen: die reine Rechtsgesellschaft ist eine direkte Demokratie. Aber sobald die Frage der Verwirklichung des Rechts, der Anwendung der vernunftrechtlichen Prinzipien, der Wirksamkeit der Vernunft in der Geschichte aufgeworfen wird, fallen die herrschaftsorganisatorische Komponente und die Komponente der rechtlichen Ordnung auseinander. Die unbedingte Verbindlichkeit des Vernunftrechts nimmt dann die Gestalt eines Imperativs an, der an die Herrschenden in der geschichtlichen Welt gerichtet ist und eine Machtausübung verlangt, die sich den Prinzipien der rechtlichen Freiheit und rechtlichen Gleichheit unterwirft. Nach der Einführung des verfassungstheoretischen Dualismus von Herrschaftsform und Regie-

„Die bürgerliche Verfassung ..." rungsart kann eine Verwechslung von demokratischer und republikanischer Verfassung nicht mehr vorkommen: die demokratische Verfassung wird zur demokratischen Herr-

schaftsform; und die republikanische Verfassung wird zur re-

publikanischen Regierungsart. Die argumentationslogische Funktion dieses dritten Teils liegt in der Bereitstellung eines begrifflichen Instrumentari-

Vermittlung der normativen Ebene des reinen Rechts mit der empirischen Wirklichkeit der Politik und Geschichte. Das legitimatorische Urmodell der sich politisch selbst organisierenden Vertragsgemeinschaft ist eine sich jeder unmittelbaren Verwirklichung entziehende Vernunftidee, die von Kant als eine jede empirische Herrschergewalt

ums zur

gleichermaßen bindende Rechtspflicht zu einer republikani-

schen Machtausübung interpretiert wird. Dadurch wird nicht die Herrschaftsform, sondern die Regierungsart zum Me-

dium der Verwirklichung des Republikanismus. Damit macht sich aber auch die Möglichkeit, republikanisch regiert zu werden, unabhängig von der Herrschaftsform. Folglich sind auch die erwünschten Befriedungsauswirkungen der republikanischen Verfassung auf den zwischenstaatlichen Zustand nicht abhängig von der Herrschaftsorganisation, sondern von der Art und Weise, wie der Inhaber der Herrschaftsgewalt von seiner Gewalt Gebrauch macht. Natürlich wird eine angemessene Realisierung der Forderung des Ersten Definitivartikels die Verwandlung aller Staaten in Republiken verlangen, das heißt in Demokratien mit Repräsentationssystem und Gewaltenteilung. Aber der ewige Frieden muß nicht auf den demokratischen Internationalismus warten. Der Forderung des Ersten Definitivartikels kann auch umwegig und indirekt entsprochen werden: durch eine republikanische, gleichsam die Herrschaftsweise einer Republik imitierende Gewaltausübung, und folglich kann der Friedensprozeß in Zeiten der Abwesenheit von Republiken seine Hoffnung dann auf die republikanische Regierungsart von Nicht-Republiken stützen.

Hier zeigen sich deudich die anti-rousseauistischen Implikationen der rechtsphilosophischen Rekonstruktion des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags im Rahmen eines rei-

101

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Wolfgang Kersting

Vernunftrechts. Für Kant ist die gesetzgeberische Gerechtigkeit verbürgende plebiszitär-demokratische Genese eines Gesetzes durch ein Gedankenexperiment ersetzbar und entsprechend der vernunftrechtliche und in der Idee existierende Souverän durch einen beliebigen empirischen Gewalthaber repräsentierbar. Rousseaus politische Philosophie hingegen verlangt die Identität von allgemeinem Willen und Bürgersouveränität, von volonte generale und volonte de tous. Für ihn ist Freiheit materiale, undelegierbare Selbstbestimmung. Sein Freiheitskonzept hat daher die politische Konsequenz einer notwendigen unmittelbaren Mitwirkung aller Bürger bei der politischen Entscheidungsfindung. Rousseau kann nur einer plebiszitären, einer direkten Demokratie Legitimität zusprechen; bereits die Etablierung eines Repräsentativsystems in einer demokratischen Herrschaftsorganisation versündigt sich gegen die unveräußerliche Selbstbestimmungsffeiheit. Für Rousseau bildet die Mitgliederversammlung des Bürgerbundes, das Ensemble der empirischen Willen aller Bürger das einzige Medium, in dem sich die volonte generale zeigen und realisieren kann. nen

Kants Entwurf einer „vollkommenen rechtlichen Verfassung unter Menschen" (VI 371) beinhaltet eine freiheitliche Konstruktion eines Gemeinwesens in Form einer zwangsfreien und einvernehmlichen Vergesellschaftung freier und gleicher Menschen zum Zwecke der Bestimmung und Verwirklichung des Rechts. Der von ihnen eingegangene Vertrag bildet das Grundgesetz des Vernunftstaats und fungiert für die geschichtliche Welt als Gerechtigkeitskriterium positiver Gesetze. Er bindet als Wille des vernunftrechtlichen Souveräns jeden empirischen Gesetzgeber. Dieser ist gehalten, sich als Repräsentant des allgemeinen Willens zu begreifen, nicht aus eigener Machtvollkommenheit oAer jure divino zu handeln, sondern in Stellvertretung dessen, dem in einer dem reinen Rechtsbegriff des Staates entsprechenden Organisation der öffentlichen Gewalten allein die legislative Befugnis zukommen kann. Kants Konzept des Republikanismus ist nicht auf eine Maxime der Machtausübung reduzierbar; es besitzt neben der rechtsethischen Komponente auch eine institutionalistische

„Die bürgerliche Verfassung ..."

Komponente, die freilich recht undeutlich bleibt, denn die für den Republikanismus konstitutiven institutionellen Bedingungen der Gewaltenteilung und der Repräsentation werden in der knappen Skizze Kants nicht hinreichend erläutert. Zudem wird diese Unterscheidung zwischen ethischen und insti-

Republikanismuskriterien von Kant selbst wieder verwischt, wenn er Autokraten die Möglichkeit einräumt, „eine dem Geiste eines repräsentativen Systems gemäße Regierungsart" anzunehmen, sich also bei der Herrschaftsausübung so zu verhalten, als ob der gesetzgebende Wille der der vereinigten Staatsbürger sei (352). Letztlich sind die drei Kriterien der simulierten Mitgesetzgeberschaft der Betroffenen, der Gewaltenteilung und der Repräsentation unterschiedlicher Ausdruck des einen grundlegenden vernunftrechtlichen Verfassungsprinzips: die gesetzgebende Gewalt gehört dem vereinigten Volkswillen, und jeder empirische Herrscher hat sich in rechtlicher Hinsicht als Repräsentant des vernunftrechtlichen Souveräns zu betrachten und nicht aus angemaßter Eigenmacht heraus zu herrschen. Auch das überaus dunkle Gewaltenteilungskriterium deutet wohl in diese Richtung, sagt Kant doch von einem despotischen, das Gewaltenteilungsprinzip verletzenden Staat, daß hier eine „eigenmächtige Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat", stattfindet, mithin der „öffentliche Wille von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird" (352). Im Gegensatz zu Rousseau zeichnet Kant also keine empirische Herrschaftsorganisation als einzig legitim aus. Das Problem der personalen Herrschaftsbesetzung ist im Rahmen seiner Philosophie nur von nebensächlicher Bedeutung. Wichtig ist nicht, ob einer herrscht, ob einige herrschen oder ob alle herrschen, wichtig ist, wie geherrscht wird, wichtig ist die Regierungsart. Diese ist „entweder republikanisch d. i. der Freyheit und Gleichheit angemessen oder despotisch ein sich an diese Bedingungen nicht bindender Wille" (XXIII 166). Weder Republikanismus noch Despotismus verlangen tutionellen

...

nach einer besonderen Staatsform. Beide Regierungsarten sind prinzipiell mit jeder Herrschaftsform verträglich. In jeder Staatsform kann der Geist des ursprünglichen Vertrages wirksam werden oder verhöhnt werden. Die reine republika-

Wolfgang Kersting

Verfassung gewinnt als Grundgesetz der reinen Rechtsgesellschaft angesichts der geschichtlich vorgefunde-

nische nen

Macht des Staates, die sich in einer bestimmten, von kon-

tingenten Bedingungen abhängigen Herrschaftsform präsentiert, den Status eines herrschaftseingrenzenden Regelsy-

Nicht auf die Ablösung der überkommenen Herrschaftsformen ist Kants vernunftrechtlicher Konstitutionalismus unmittelbar aus, sondern auf deren innere Verwandlung durch Republikanisierung. Republikanismus, das bedeutet Republik in fremder Gestalt, das bedeutet Einkörperung des Geistes des ursprünglichen Vertrages in das ihm von Grund auf Widerstreitende, in naturwüchsig und gewaltsam entstandene Herrschaft. stems.

5.5

Republikanismus und Republik

Der Prozeß der Verwirklichung der Vernunftverfassung ist ein Prozeß der Republikanisierung staatlicher Herrschaft und endet mit der Herrschaft der Republik. Staaten entstehen nicht durch Ubereinstimmung, sondern durch Gewalt. Der vernünftige Konsens bildet den rechtlichen Ursprung staatlicher Macht, an ihrem geschichtlichen Anfang aber steht die Gewalt. Die Geschichte weist die Entstehung staatlichen Rechts als von der vorgängigen Existenz unwiderstehlicher Macht abhängig aus. Doch derjenige, der Recht durchzusetzen vermag, beweist damit nicht, daß er befugt ist, Recht zu setzen. Nach Vernunftbegriffen kommt allein dem vereinigten Volkswillen die Gesetzgebungskompetenz zu, ist Herrschaft nur insofern rechtmäßig, als sie sich auf die Anwendung der gemeinschaftlich gegebenen Gesetze beschränkt. Der im kontingenten Bereich der Geschichte anzutreffenden Entstehungsabhängigkeit des staatlichen Rechts von der Errichtung einer Gewaltherrschaft steht die Geltungsabhängigkeit der staatlichen Herrschaft von der Idee des ursprünglichen Vertrages gegenüber. Wenn die reine republikanische Verfassung allen Herrschaftsformen zugrunde liegt, dann heißt das, daß Herrschaft nur insoweit begründet ist, als sie durch die reinen Verfassungsprinzipien in ihrer Ausübung kontrolliert wird.

„Die bürgerliche Verfassung ..."

Republikanisierangsgebot erinnert unerbittlich an die Legitimitätsbedingungen staatlicher Herrschaft. Es negiert die traditionellen Rechtfertigungsversuche und weist Fürstenmacht als abgeleitet aus. Mit Kantischer Philosophie kann ein Monarch zwar die Revolution blockieren, nicht jedoch kann er sich auf Gottesgnadentum zur Herrschaftslegitimation berufen. Er ist nicht verpflichtet, dem empirischen KorDas

relat des vernunftrechtlichen Souveräns seinen Platz zu überer diesen als seinen Legitimationsgrund anerkennen. Der Herrscher ist daher verpflichtet, „vorsatzlich Principien der Republikanischen Regierungsart zu allmäliger Einschränkung seiner Staatsgewalt durch die Stimme des Volks" anzunehmen und zu beachten (XXIII 166). Die republikanische Regierungsart ist daher zugleich ein Programm der Legitimitätsbeschaffung. Kant löst den Gegensatz zwischen der vernunftbegrifflichen Republik und der geschichtlichen Herrschaftsordnung reformistisch in einen zielgerichteten Prozeß der Realisierung der freiheitsgesetzlichen Ordnung menschlichen Zusammenlebens auf. Der Vernunftentwurf, die aus Freiheitsgesetzen gewobene Republik, dieser zwangsfreie Staat der rein Vernünftigen steht als „ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt" auf der einen Seite, ihr gegenüber der geschichtliche, zufällige, gewaltentsprungene Staat. Beider Vermittlung führt zu der „Evolution einer naturrechtlichen Verfassung" (VII 87). Diese Vernunftrechtsevolution, auf die Kant aufgrund des Ereignisses der Französischen Revolution glaubte hoffen zu dürfen, ist ein Prozeß der Vermählung von Vernunft und Herrschaft. Durch Republikanisierung dringen freiheitsgesetzliche Verfassungselemente in die empirischen Strukturen der staatlichen Herrschaft ein, werden die staatlichen Institutionen durch den Rechtsgedanken überformt. Dieser reformistische Prozeß der Rechtsverwirklichung endet mit der Etablierung der Republik. Kant hat zwischen Republikanismus und Republik deutlich unterschieden und unmißverständlich klargemacht, daß erst in einer Republik die Verwirklichung der Rechtsvernunft an ihr Ziel kommt, daß die geschichtliche Republik die einzig angemessene empirische Darstellung der reinen Rechtsgesellschaft ist. Eine

lassen, jedoch muß

Wolfgang Kersting

republikanische Regierungsart ist zwar geeignet, wie Kant immer wieder betont hat, das Volk zufriedenzustellen, gleichwohl nicht mehr als ein rechtliches Provisorium. Erst wenn die „Evolution der naturrechtlichen Verfassung" zu einer Republik „auch dem Buchstaben nach endlich fuhren wird" (VI 340), zu einer „demokratischen Verfassung in einem repräsentativen System" (XXIII 166), erst dann verliert das öffentliche Recht seinen provisorischen Charakter, gewinnt es peremtorische Qualität, ist ein „absolut-rechtlicher Zustand der bürgerlichen Gesellschaft" errichtet (VI 341). Regierungsart und Herrschaftsform sind aufeinander bezogene Begriffe, die allein auf die „vorrepublikanische" Geschichtsphase anwendbar sind, das meint auf den Zeitraum vor Errichtung einer Republik. Indem sich die republikanische Regierungsart zur Republik objektiviert, indem sich ihre Prinzipien, die bisher allein im Medium eines moralischen

Konstitutionalismus und das heißt letztlich allein durch den Willen eines rechtlich aufgeklärten oder auch nur klugen Monarchen wirksam wurden, institutionalisieren und zu einer selbsttragenden Verfassung zusammenfügen, verschwinden die überkommenen Staatsformen, verschwinden Herrschaft und Untertänigkeit. Erst die Republik macht aus einem Volk von Untertanen ein Volk von Staatsbürgern. In ihr verwandelt sich die ehemals persönliche Herrschaft in die versachlichte Herrschaft des Gesetzes. Erst in der Republik wird die Freiheit peremtorisch, wie Kant sagt. Und damit macht er die vernunftrechtliche Vorzugswürdigkeit der Republik deutlich, denn wird erst in der Republik die Freiheit peremtorisch, dann besteht zwischen der Republik und den vorrepublikanischen Herrschaftsformen genauso ein Verhältnis wie zwischen Naturzustand und bürgerlichem Zustand; oder, anders formuliert: erst in der Republik ist aufgrund der für sie konstitutiven personenunabhängigen Gesetzesherrschaft der Schatten des Naturzustandes verschwunden. „Alle wahre Republik aber kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten ihre Rechte zu besorgen. Sobald aber ein Staatsoberhaupt, der Person nach (es mag sein König, Adelsstand oder die ganze ...

„Die bürgerliche Verfassung ..." Volkszahl, der demokratische Verein) sich auch repräsentieren läßt, so repräsentiert das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst; denn in ihm (dem Volk) befindet sich ursprünglich die oberste Gewalt, von der alle Rechte der einzelnen, als bloßer Unterthanen abgeleitet wer-

den müssen, und die nunmehr errichtete Republik hat nun nicht mehr nöthig, die Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen." Wenn Kant das Ziel des geschichtlichen Rechtsfortschritts in einer Republik erblickt, in der „das Gesetz selbstherrschend ist und an keiner besonderen Person hängt" (VI 341), in der also der Rechtsstaat sich von allen Bindungen an geschichtlich überkommene und personal gebundene Herrschaftssysteme emanzipiert und Selbständigkeit und Autonomie gewonnen hat, weil er „sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält" (VI 318), dann wird der große Unterschied zwischen dem in Herrschaft fundierten vorrepublikanischen Staat und dem in Freiheit begründeten Staat der Vernunft klar zum Ausdruck gebracht. Für Menschen, die unter Endlichkeitsbedingungen leben, ist die Republik die beste erreichbare rechtliche Organisationsform ihres Zusammenlebens. In der gesellschaftlichen Handlungswelt stellt sie ein der Moralität als habitualisierter Vernünftigkeit analoges Vollendungsstadium dar. So wie der moralische Mensch sich dadurch auszeichnet, daß die Vernunft in ihm selbstherrschend ist, er sein ganzes Begehren und Handeln dem Regiment der Vernunft unterwirft, so ist das republikanische Zusammenleben dadurch gekennzeichnet, daß in ihm die allgemein anerkennungsfähigen Gesetze selbstherrschend sind, daß sie als Ausdruck des allgemeinen Wllens das Zusammenleben regulieren und als Prinzipien legitimer staatlicher Zwangsanwendung alle Exekutionsgewalt mit dem Freiheitsrecht der Menschen in Übereinstimmung

bringen. Literatur Bien, Günther 1972: Revolution, Bürgerbegriff und F'reiheit. Über die

neu-

zeitliche Transformation der alteuropäischen Verfassungstheorie in politische Geschichtsphilosophie. In: Philosophisches Jahrbuch 79, 1-18.

io8

Wolfgang Kersting 1800: Über den ewigen Frieden. In: Kurt v. Raumer: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. Freiburg

Gentz, Friedrich v. 1953,461-497.

Gilbert, Alan 1992: Must Global Politics Constrain Democracy? Realism, Regimes, and Democratic Internationalism. In: Political Theory 20, 8-37. Kersting, Wolfgang 1993: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts-

und Staatsphilosophie. Neuauflage Frankfurt/M. Langer, Claudia 1986: Reform nach Prinzipien: Untersuchung zur politischen Theorie Immanuel Kants. Stuttgart. Maus, Ingeborg 1992: Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant. Frankfurt/M.

Otfried Höffe

Völkerbund oder

Weltrepublik? 6.1 Ein Widerspruch? Die drei Definitivartikel behandeln die Bedingungen der Möglichkeit des ewigen Friedens, durchdekliniert nach den drei Grundformen von Rechtsbeziehungen. Diese bestehen

entweder zwischen einzelnen Menschen, die sich zu Einzelstaaten zusammentun („Staatsrecht"), oder zwischen den verschiedenen Einzelstaaten („Völkerrecht") oder aber zwischen einzelnen Menschen und fremden Einzelstaaten („Weltbürgerrecht"). Nun befaßt sich Kant, wie er zu den Präliminarund den Definitivartikeln schon im Titel sagt, nicht mit irgendeinem Frieden, sondern mit dem „unter Staaten" (343 und 348). Da der Zweite Definitivartikel dieses Thema, den internationalen Frieden, direkt behandelt, können seine dreieinhalb Seiten (354—357, 18) als das Herzstück der gesamten Friedensschrift gelten. In der Tat hat ihre Grundaussage die meiste Beachtung gefunden; daß es einen Völkerbund und keinen Völkerstaat geben soll, wird nicht nur in Kant-Zirkeln bis heute lebhaft diskutiert. Speziell für das Völkerrecht einschlägig sind noch zwei weitere Passagen: im Ersten Zusatz die vorletzte Seite (367) und im Anhang II die Seiten 383 und 384. Die Gliederung des Zweiten Definitivartikels ist klar. Der erste Abschnitt stellt zunächst die (übrigens schon im Titel genannte) These vor es soll einen Völkerbund, keinen Völkerstaat geben und liefert dann eine Begründung, die Analogie von Staaten mit Individuen. Der zweite Abschnitt nennt ein Hindernis für das Völkerrecht: kein Staat will einem äußeren Zwang unterworfen sein. Der dritte benennt den Grund -

-

-

no

OTT-RIED HÖFFE des Hindernisses: eine Bösartigkeit, aber nicht Verderbnis der menschlichen Natur. Und in den Abschnitten 4-6 wird zunächst das Leitziel, ein alle Kriege beendender Friedensbund, bekräftigt und sodann vom Völkerbund etwas behauptet, das seinen Rang deutlich schmälert; vielleicht widerspricht es sogar der sowohl im Titel als auch im ersten Abschnitt genannten Grundthese: Der Völkerbund stellt nur das negative Surrogat dar, während als positive Idee der Völkerstaat (357, 10) bzw. die Weltrepublik (357, 14) gilt. Die für den Zweiten Definitivartikel wichtigste Interpretationsaufgabe lautet nun: Wie ist die einleitende These Völkerbund, nicht Völkerstaat zu verstehen; läßt sie sich mit der Schlußthese der Völkerbund als negatives Surrogat vereinbaren, oder erliegt Kant einem Widerspruch? Zuvor jedoch einige -

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Erläuterungen. Beim Subjektbegriff

der These, dem „Völkerrecht", könnte man den ersten Teil mißverstehen; dasselbe gilt für die lateinische Vorgabe „ius gentium" und deren Ubersetzung in andere Sprachen (law of nations, droits des gens usw.). Der Ausdruck „Völker" könnte nämlich bedeuten, was „gentes" wörtlich heißt: Gemeinschaften gleicher Abstammung bzw. ethnisch homogene Gruppen. Träfe diese Bedeutung zu, so müßte Kant sich mit den Rechten von Ethnien, von Sippen, Stämmen und anderen mehr oder weniger natürlichen Gemeinschaften, befassen. Dazu könnte das Recht einer Ethnie gehören, aus dem Staatsverband, dem sie bislang angehören, auszutreten und einen eigenen Staat zu etablieren. Eine derartige Befugnis ist nicht erst heute aktuell, sie war es schon damals, etwa beim Unabhängigkeitskrieg der späteren Vereinigten Staaten von Nordamerika. Kant behandelt dieses Thema aber nicht. Von Anfang an „Völker als Staaten" meint

nicht „gentes", „Blutsgemeinschaften", sondern „civitates", also jene Völker im Sinne von Bürgerschaften, die die Verfassungssprache meint, wenn sie sagt: „Alle Gewalt geht vom Volk aus." Dabei spielt es keine Rolle, ob die Staaten ethnisch homogen oder heterogen, ob es homogene Nationalstaaten, heterogene Nationalstaaten oder auch multinationale Staaten sind. Um entsprechende Mißverständnisse zu vermeiden, könnte der Zweite Definitivarti-

(354, 3)

-

-

er

Völkerbund oder Weltrepublik? kel statt von „Völkerrecht" genauer von „Staatenrecht" sprechen; geht es doch um die Koexistenz schon existierender

Einzelstaaten. Gegen unnötige Wortschöpfungen skeptisch (s. KrVB 368 f.; vgl. auch KpV V10), folgt Kant aber dem üblichen und nicht ernsthaft mißzuverstehenden Sinn; das Völkerrecht regelt das zwischenstaatliche Recht. Bekanntlich stammt der Ausdruck „Völkerrecht" aus dem 17. Jahrhundert. Vorformen des Völkerrechts gibt es freilich sehr viel länger. Aus der außereuropäischen Antike kennen wir Verträge zwischen mesopotamischen Stadtstaaten schon aus der Mitte des 3 .Jahrtausends v. Chr. und aus dem 13 .Jahrhundert v. Chr. Verträge zwischen den Pharaonen und Hethiter-Königen (vgl. Grewe 1984, 30). Die zahlreichen Verträge, die die griechischen Stadtstaaten untereinander abschließen, bringen dagegen wohl keine zwischenstaatliche Rechtsordnung hervor. Und Rom erkennt fur die Verträge, die es mit seinen Nachbarn schließt, den eigenen Grundsatz „pacta sunt servanda" nicht an; derartige Verträge bleiben für Rom hier verhält es sich als Machiavellist ein Mittel der Politik. Im Abendland beginnt erst im 16. Jahrhundert die Sache des Völkerrechts, und zwar mit den spanischen Moraltheologen und Juristen von Bartolome de Las Casas bis Francisco Suärez (De legibus ac Deo legislatore, 1612). Das erste klassische Werk des Völkerrechts, De iure belli acpacis, erscheint 162 5, jetzt aus der Feder des Niederländers Hugo Grotius. Und für die Praxis darf man sagen, daß die Epoche des klassischen Völkerrechts mit dem Westfälischen Frieden (1648) einsetzt; er billigt den Landesherren die höchste Staatsgewalt, die Souveränität, zu, macht diese zum Grundpfeiler der „internationalen" Rechtsbeziehungen und leitet daraus das Recht, Kriege zu führen (ius ad bellum), ab. Wie die Schrift insgesamt, so streitet auch der Zweite Definitivartikel ein derartiges Recht kategorisch ab (356, 35 f.). Während Grotius der Theoretiker jenes klassischen Völkerrechts ist, das sowohl ein Recht zum Krieg (ius ad bellum) als auch ein Recht im Krieg (ius in hello) kennt, begründet Kant -

-

ein radikal neues Völkerrecht. An die Stelle eines Kriegs-Völkerrechts tritt das Friedens-Völkerrecht. Die Menschheit mußte allerdings erst die Leiden zweier Weltkriege erleben,

i 11

112

Otfried Höffe

bevor sie sich

zum

Kantischen Völkerrecht bekennen wird

Prinzip. In den Gründungstexten sowohl des Völkerbundes als auch der Vereinten Nationen wird der Grundsatz des Gewaltverbotes anerkannt, in der politischen Wirklichkeit immer noch nicht (vgl. Kap. 12). In seiner Ablehnung eines Kriegs-Völkerrechts beruft sich Kant ersichtlich nicht auf den Standpunkt des positiven Rechts, wohl aber auf den der Vernunft (vgl. 357,6), womit er hier die reine rechtlich-praktische Vernunft meint. Weil eiim

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Krieg nur gewinnt, wer insgesamt stärker ist, weil also Sieg und Niederlage ausschließlich eine Frage der Macht sind, erklärt die Vernunft den „Krieg als Rechtsgang" für „schlechterdings verdammt" (356, 2 f.; vgl. 349, 35 ff.). Ein Gedanke, der die Politik nicht nur in Europa bis in die Neuzeit mitbestimmt, der eines gerechten Krieges, verliert bei Kant jede Legitimationsgrundlage. Zu einem extremen Pazifisten, der nicht einmal die Selbstverteidigung für berechtigt hält, wird Kant aber nicht. Im Gegenteil hält er es im Dritten Präliminarartikel für selbstverständlich, daß die Staatsbürger auch mit Waffen „sich und ihr Vaterland gegen Angriffe von außen sichern" (vgl. 345). Davon abgesehen lehnt aber der sonst nüchtern schreibende Kant den Krieg mit all dem Pathos ab, das ihm als Philosophen zur Verfügung steht; die Verurteilung des Krieges erfolgt „vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab" (356, 2 f.). Mit der Ablehnung eines Rechtes auf Krieg, allerdings nen

auch nur mit dieser Ablehnung, wendet sich Kant von den damals erhobenen Souveränitätsansprüchen der Staaten scharf ab. Ansonsten verhält er sich gegenüber diesen Ansprüchen relativ „konservativ". Zwar erörtert er auch jene Option des Völkerstaates bzw. der Weltrepublik, die mit der Forderung nach Souveränitätsverzichten die überlieferte Souveränitätsidee kräftig „unterhöhlt". Zumindest zu Beginn setzt er sich aber für die andere Option ein, für den Völkerbund bzw. Föderalismus von Staaten. Auch wenn dieser den Einzelstaaten mehr als lediglich einen Friedensvertrag abverlangt, mutet er ihnen für das Mehr, den Friedensbund, keinerlei Souveränitätsverzichte zu. Auch wenn Kant hier der traditionellen Souveränitätsvorstellung folgt, ist er doch nicht so konserva-

Völkerbund oder Weltrepublik?

tiv, daß er, wie Hegel unterstellt, nur einen „Fürstenbund" ansetzt (Rechtsphilosophie § 324, Zusatz). Bei Kant schließen den Bund die Staaten („Völker"). Nun beruft sich Kant, ebenfalls Staaten mit Individuen. Aus ihr scheint aber nicht der Völkerbund, sondern der Völkerstaat zu folgen. Darin liegt nun eine Zweideutigkeit, vielleicht sogar ein Widerspruch: Die Begründungslast für die einleitende These Völkerbund, nicht Völkerstaat trägt eine Analogie, die auf die genaue Gegenthese hinausläuft: Völkerstaat, nicht Völkerbund. Bevor wir den Widerspruch untersuchen, bedarf es jedoch noch einer Erläuterung. Die im Titel genannte Eigenschaft der Staaten, frei zu sein, könnte man sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch lesen. Bei der innenpolitischen Lesart wäre die deutsche Übersetzungvon „Republik", also „Freistaat", gemeint, womitsich der Zweite Definitivartikel direkt an den ersten anschlösse und einen Bund von republikanisch verfaßten Staaten forderte. Nach der außenpolitischen Lesart dagegen wollen die einzelnen Staaten von fremden Einmischungen freibleiben; sie beanspruchen die volle Souveränität. Da Kant dieser Forderung nachkommt, sie aber schon im anderen Titelausdruck, Föderalismus, bezeichnet er schließt, wie gesagt, jeden Souveränitätsverzicht aus -, erscheint die innenpolitische Lesart als angemessener: Kant verlangt einen Bund von Republiken; der Garant des Friedens, der Völkerbund, ist als Republikenbund zu verstehen. An die Koexistenz schon existierender Staaten stellen sich grundsätzlich drei Fragen. Sie alle finden ihre Antwort schon in der Titelthese, die folglich als dreiteilige These zu lesen ist. Auf die Frage nach der Form der Koexistenz antwortet der Subjektbegriff mit „(Völker-) Recht": die Beziehung der Staaten untereinander soll rechtsförmig sein; Kant fordert eine internationale Rechtsordnung. Für die Anschlußfrage nach der Rechtsdurchsetzung sagt der Ausdruck „Föderalism": nicht in Form eines Staates, sondern in der vorstaatlichen Form einer freien Assoziation, als Staatenbund oder Völkerbund. Wegen der völkerrechtlichen Äquivalenz von „Staat" mit „Nation" läuft diese Organisation auf Vereinte Nationen hinaus. Das, was man seit 1948 von New York aus und zuvor,

gleich zu Beginn, auf eine Analogie von

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Otfried Höffe 1920 bis 1946, von Genf aus versucht, wird also schon hier gefordert. Kants Friedensschrift bildet einen wesentlichen Teil der Theoriegeschichte von Völkerbund und Vereinten Nationen. (Vgl. auch Kap. 12.) Während sich die ersten beiden Fragen mit der Regelungsform befassen, man kann auch sagen: mit der Herrschaftsstruktur oder Staatlichkeit, geht es der dritten Frage um jene Regelungskompetenz, bei der man innerstaatlich von Staatsaufgaben spricht. Auf diese letzte Frage deutet nun der Ausdruck Föderalismus die Antwort zumindest an. Da sich die Staaten nur in der lockeren Form eines Bundes zusammenschließen, ist bei einer internationalen Rechtsordnung mit geringen Zuständigkeiten zu rechnen. (Die folgenden Überlegungen schließen sich an Höffe 1990 und 1993 an.) Die Begründungslast für die dreiteilige Titelthese trägt die Analogie von Staaten mit einzelnen Menschen. Kant versteht die Analogie nicht in einem umfassenden, etwa organologischen Sinn, sondern allein in der für die Friedensfrage wesentlichen, rechtstheoretischen Hinsicht: Solange Staaten, verstanden als (relativ) souveräne Rechtseinheiten, ihre Beziehungen untereinander nicht nach verbindlichen Gesetzen regeln, leben sie rechtstheoretisch gesehen in einem Naturzustand, also in jener Anarchie, in der das Faustrecht herrscht bzw., mit Hobbes gesprochen, der Krieg aller gegen alle (Leviathan Kap. 13). Die beiden großen Vorläufer der Kantischen Rechts- und Staatsphilosophie, Hobbes und Rousseau, kennen einen Naturzustand nur für die Beziehung von Individuen (oder auch Familien); Kant führt eine neue Dimension ein, den Naturzustand zwischen Staaten. Für den neuartigen Naturzustand gilt aber dasselbe wie für den schon bekannten: Um der rechtsmoralischen Aufgabe, der Rechtssicherheit, willen ist man verpflichtet, ihn zu überwinden. Und als einziges Mittel, den Naturzustand zu überwinden, existiert jener Rechts- und Staatszustand, auf den Kants Ausdruck der bürgerlichen Verfassung (vgl. 354, 7) anspielt. Da gemäß dem Ersten und dem Titelwort „freier Staat" zufolge auch dem Zweiten Definitivartikel diese Verfassung republikanisch sein soll, müßte diese Bedingung auch zwischenstaatlich gelten. Man erwarvon

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Völkerbund oder Weltrepublik?

daher die Behauptung, die in sich republikanisch verfaßStaaten sollen ihre Beziehungen zueinander republikanisch gestalten; statt lediglich einen Bund von Republiken sollten sie eine Republik von Republiken, eine Republikenrepublik bzw. Völker- oder Staatenrepublik, gründen. Dabei wäre das Sollen in einem recAtnnoralischen Sinn zu verstehen; den internationalen Naturzustand zu überwinden ist nicht etwas, das die Staaten einander „gnädig gewähren", es gehört vielmehr zu dem, was sie voneinander fordern dürfen. Wegen der Analogie von Einzelstaaten mit Individuen schulden die Staaten einander, eine Republikenrepublik einzurichten. Insofern erwartet man von Kant eine andere These. Nicht „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism (sprich: Bund) freier Staaten gegründet sein", sondern „Das Völkerrecht soll auf tet

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eine Republik von Republiken gegründet sein." In die Konstitutionsbedingungen einer derartigen Republikenrepublik gehört eine zumindest minimale Staatlichkeit. Weil sie einem Völkerbund aber vollständig fehlt nach seiner Herrschaftsstruktur liegt ein ultraminimaler Weltstaat (UMIVS) vor -, besteht zwischen der These des Zweiten Definitivartikels und der die Begründung tragenden Analogie tatsächlich ein Widerspruch. Dort wird die Staatlichkeit abgelehnt, hier wird sie eingefordert; denn wie eine Rechtsgemeinschaft von Individuen nur durch deren Freiheitsverzichte zugunsten öffentlicher Gewalten entsteht, so kommt es zu einer Rechtsgemeinschaft von Einzelrepu-

republikanisch verfaßten Völkerrepublik, nur durch entsprechende, jetzt einzelstaatliche Souveränitätsver-

bliken,

zur

zichte.

6.2 Die Völkerrepublik als

extrem

minimaler Weltstaat

Bevor wir den Widerspruch des näheren erörtern, empfiehlt sich, einen Blick auf die Regelungskompetenz zu werfen. Moralisch geboten ist die globale Staatlichkeit nicht umfassend,

sondern nur für den internationalen Naturzustand, und dieser ist seinem Wesen nach ein Rest-Naturzustand. Wie jeder

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Ol FRIED HÖFFE

Staat, so ist auch ein globaler Staat für die Festlegung und schließliche Durchsetzung von Rechten zuständig. Soweit diese die Individuen und Gruppen betreffen, obliegt die Aufgabe aber den Einzelstaaten, die als Primärverantwortliche für das Recht den rechtstheoretischen Rang von Primärstaaten einnehmen. Im Verhältnis zu den Einzelstaaten ist nur eine subsidiäre Staatsordnung vonnöten. Verantwortlich nur für die rechtsförmige Koexistenz schon existierender Rechtsgemeinschaft, begnügt sich die Völkerrepublik damit, ein Sekundärstaat zu sein. Im Ersten Zusatz (367, 14) spricht Kant von einer „Universalmonarchie" und versteht darunter einen ins Globale gesteigerten Einzelstaat. Ein derartiger homogener Weltstaat (HIVS) bzw. ein Weltreich ist die Völkerrepublik nicht. Gemeint ist ein Staat von Staaten, näherhin jene Republikenrepublik oder Staatenrepublik, die Kant einige Jahre vor der Friedensschrift zunächst, 1784, in der näheren Bestimmung des Völkerbundes als „einer vereinigten Macht" andeutet (Idee VIII 24), sodann, 1793, als „Weltrepublik" (Rel. VI 34) bezeichnet. Da die „Bürger" dieser Völkerrepublik nicht gewöhnliche Bürger, einzelne Menschen, sondern Einzelstaaten sind, ist der Ausdruck „Weltrepublik" freilich mißverständlich. Kants anderer Ausdruck, Völkerstaat, ist klarer, zumal in der Erläuterung als „civitas gentium". Da die „gentes" soviel wie „civitates" bedeuten, also nicht Blutsverwandtschaften, sondern rechts- und staatsförmig organisierte Bürgerschaften, mein die „civitas gentium" eine „civitas civitatum", also genau den Staatenstaat bzw. die Staatenrepublik, der die Weltstaatlichkeit einerseits zu einer Staatlichkeit berechtigt und diese andererseits auf eine Sekundärstaatlichkeit limitiert. Deren Kompetenz ergibt sich nun aus Kants Analogie. Solange Staaten wie Individuen zu betrachten sind, dürfen die Staaten-Individuen, die Primärstaaten, tun und lassen, was sie wollen vorausgesetzt, sie greifen nicht in die Rechte der anderen Staaten-Individuen ein. Auf dieses Handeln haben sie sogar ein angeborenes Recht, also einen rechtsmoralischen Anspruch. Damit tut sich ein neuartiges Menschenrecht auf, neuartig freilich nicht hinsichtlich des Inhalts, sondern des Adressaten. Es besteht in einem Men-

Völkerbund oder Weltrepublik? schenrecht von Staaten und hat, ebenso klar wie eng umgrenzt, im wesentlichen zwei Seiten. Wie Individuen, so haben auch Staaten ein Recht auf Leib und Leben sowie auf Eigentum; letzteres verlangt vor allem territoriale Unversehrtheit. Andererseits haben sie ein Recht sowohl auf politische wie kulturelle Selbstbestimmung. Gerade weil die Primärstaaten, die Einzelstaaten, Mehraufgaben zu erfüllen haben, stehen dem Sekundärstaat, der Weltrepublik, nur minimale

Kompetenzen zu.

Im Rahmen der rechtsmoralischen

Aufgabe, anfallende Gewalt von zu lösen, vernicht nach Streitigkeiten Maßgabe bleibt der internationalen Rechtsgemeinschaft nur eine kleine Restzuständigkeit, und diese entspricht dem Rest-Naturzustand. Die uns vertrauten Staatsaufgaben, die Fragen des Zivil- und des Strafrechts, die des Arbeits- und Sozialrechts, das Recht der Sprache, der Religion und der Kultur, all diese Zuständigkeiten eines Primärstaates, sind der staatlichen Kompetenz des Sekundärstaates, der Weltrepublik, entzogen. Nach Kantischen Prämissen ist für eine internationale Rechtsgemeinschaft allein jene Staatlichkeit legitim, die wir intranational einen Nachtwächterstaat oder Minimalstaat nennen; zulässig ist lediglich ein äußerst restriktiver Bereich von Staatsaufgaben. Da die Völkerrepublik nicht einmal für alle Minimalstaatsaufgaben zuständig ist, nicht beispielsweise für eine gemeinsame Währung, auch nicht für die Verteidigung nach außen, ist sie nicht einmal als gewöhnlicher Minimalstaat einzurichten, sondern nur als extrem minimaler Weltstaat (EMWS). Eine Weltorganisation, die sich mehr Zuständigkeiten anmaßt, würde das Menschenrecht von Staaten, das Staatenrecht auf (politische und kulturelle) Selbstbestimmung, verletzen. Kant hält dieses Staatenrecht für so elementar, daß er es schon in den Präliminarartikeln formuliert. Nach der zweiten Vorbedingung darf „kein für sich bestehender Staat von einem andern Staat durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden"; und nach der fünften Vorbedingung soll sich kein Staat und das heißt auch: kein Staatenstaat „in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen". Folglich darf man von einem ...

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Otfried Höffe

Einzelstaat weder den Beitritt zur Staatenrepublik noch seine Umwandlung in eine (Einzel-)Republik erzwingen. Die Einführung (Kap. 1.4) hat darauf aufmerksam gemacht, daß Kants Schrift auch als Hommage an die junge Französische Republik zu verstehen ist. Um deren Prinzipien zur vollen Wirklichkeit zu bringen, braucht es freilich mehr als eine nur partikulare Anerkennung des Republikanismus, es bedarf einer zweifachen Universalisierung. Die erste Dimension der Universalisierung behandelt der Erste Definitivartikel. Seine Forderung ist heute zumindest im Prinzip anerkannt: jeder einzelne Staat soll sich eine republikanische Verfassung geben. Zur Anerkennung dieses Sollens darf ein

Staat zwar nicht von anderen Staaten gezwungen werden, schuldet er die Anerkennung doch nicht ihnen, sondern seinen Bürgern. Diesen schuldet er sie aber in einem strengen rechtsmoralischen Sinn. Zu Kants Begriff der Republik gehören vier Elemente, die zusammen in etwa auf einen demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat hinauslaufen. Der Erste Definitivartikel beginnt mit der Freiheit, die der Anerkennung unveräußerlicher Menschenrechte entspricht (vgl. 350,23 f.). Da Kant sie als „Befugnis" interpretiert, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können" (350, 16 f.), entspricht das erste Element der Demokratie, allerdings hier als Legitimations- und nicht als Organisationsprinzip verstanden. Weiterhin bedarf es der Einrichtung öffentlicher Gewalten, um die es den Grundsätzen der Abhängigkeit geht, und der strengen Gleichbehandlung. Schließlich gehört zur Republik die Gewaltenteilung. Setzt sich die erste Dimension einer universalen Republikanisierung durch, so gelangen die Rechte und Freiheiten zu einer weltweiten Geltung, allerdings erst innerhalb der Staaten. Für die noch fehlende Geltung ist die zweite Dimension einer universalen Republikanisierung zuständig. Sie sorgt dafür, daß die Koexistenz zwischen den Staaten ebenfalls republikanisch gestaltet wird. Diese Sorge bleibt eine rechtsmoralische Pflicht, die aber jetzt nicht einzelnen Bürgern, sondern den einzelnen Staaten geschuldet ist. Die Aufforderung, sich zu einem globalen Sekundärstaat zusammenzu-

Völkerbund oder Weltrepublik? unter der Bedingung, daß der Sekundärrepublikanisch verfaßt ist. Und zwischen beiden Seiten besteht ein strenges Junktim; nur unter der Bedingung einer republikanischen Verfassung ist die Bildung eines Sekundärstaates rechtsmoralisch geboten. Der zweite Schritt einer Republikanisierung der Welt, ein Schritt, der im Unterschied zur ersten, einzelstaatlichen Republikanisierung auch im Prinzip noch lange nicht anerkannt ist, hat das Gewicht einer erneuten republikanischen Reform. Dem, was bislang nur innerstaatlich gültig war, verhilft er auch zwischen den Staaten zur Existenz: (1) den Menschenrechten, jetzt freilich Menschenrechten von Staaten, und dem zugehörigen Prinzip der universalen Zustimmungsfähigkeit; (2) der Abgrenzung und Durchsetzung der Staaten-Menschenrechte mittels öffendi-

schließen, erfolgt staat

cher Gewalten; (3) der Gleichheit der Staaten hinsichdich ihrer Menschenrechte; und (4) der Gewaltenteilung.

6.3 Ideal oder

Surrogat?

Die Staatenrepublik löst ihre menschenrechtliche Aufgabe, den Schutz der territorialen Unversehrtheit und der politischen Selbstbestimmung, staatsförmig. Obwohl diese Lösung, der extrem minimale Weltstaat (EMIVS), aus der Analogie von Staaten mit Individuen folgt, lehnt Kant sie überraschenderweise sowohl in der Titelthese als auch im ersten Abschnitt ab. Er setzt sich, wie gesagt, für jenen Völker- oder Staatenbund ein, der ohne jeden Souveränitätsverzicht auskommt, für den UMWS. Diese Option geht zwar über jene hinaus, die seit dem 16. Jahrhundert die Grundlage der europäischen Staatengemeinschaft bildete, über ein Gleichgewicht der Mächte (balance of power). Der Gedanke des europäischen Gleichgewichts erlangt bekanntlich nach dem Zweiten Weltkrieg, jetzt als Gedanke eines globalen Gleichgewichts, neue Aktualität. Der Gedanke beruht auf einer mechanischen Idee der Balance und besagt, daß kein Staat so viel Macht erlangen dürfe, daß ihm nicht die Vereinigung aller übrigen Staaten das Gleichgewicht zu halten vermöchte. Kant gibt sich sowohl bescheidener als auch anspruchsvoller.

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Bescheidener ist seine Option insoweit, als sie die Staaten in ihrer gegebenen Macht beläßt, anspruchsvoller aber, weil sie jeder Macht ob klein oder groß das Recht zum Krieg, die Verteidigung ausgenommen, kategorisch abstreitet. Auf dem Weg von bi- und multilateralen Verträgen verzichten alle Seiten auf Krieg und erklären sich bereit, allfällige Streitigkeiten gewaltff ei zu lösen. Die Frage, die sich aufdrängt, lautet: Wie ernst ist es mit dieser Bereitschaft? Läßt sich der Zweck, die gewaltfreie Konfliktlösung, tatsächlich ohne jene Regelungsform erreichen, die für die einzelstaatliche Rechtssicherung als unverzichtbar gilt, nämlich ohne öffentliche Gewalten? Oder läßt nicht die fehlende Bereitschaft, öffentliche Gewalten einzurichten, auf eine nur halbherzige Bereitschaft zum Gewaltverzicht schließen? Denn sollte es zu Konflikten kommen, so sieht der Völkerbund weder gemeinsame öffentliche Gesetze (356, 13 f.) noch ein autorisiertes Schiedsgericht vor jeder ist vielmehr „in seiner eigenen Sache Richter" (355, 32 f.) -; ohnehin gibt es keine Macht, Gerichtsurteile durchzusetzen. Die Rechtsverhältnisse, die dank der bi- und multilateralen Vereinbarungen denn doch vorliegen, bestehen zwischen souveränen Partnern, die ihre Souveränität vollumfänglich bewahren. Nicht von einem unparteiischen Dritten werden Konflikte geregelt, sondern von den Parteien, den Einzelstaaten, selber. Ein Vorteil der Kantischen Lösung liegt auf der Hand. Das, was es in einem Staat denn auch gibt, den Machtmißbrauch, hat man von einer staatsffeien Gemeinschaft nicht zu befürchten. Die Hoffnung, die man in die Staatsgewalten setzen kann, entfällt allerdings ebenfalls, die Erwartung jenes sicheren Rechtsschutzes, durch den erst der Naturzustand überwunden wird. Daß der Völkerbund zwar einen gewissen Rechts-, aber keinerlei Staatscharakter hat, ist den Einzelstaaten, die ihre Souveränität in der Regel eifersüchtig hüten, willkommen. Diese Option widerspricht jedoch Kants staatsethischer Grundthese, daß Rechtsstreitigkeiten von einem ebenso unparteiischen wie hinreichend mächtigen Dritten zu entscheiden sind. Besser als direkte Gewalt, besser als Krieg, sind Vereinbarungen ohne Zweifel. Weil für die rechtsför-

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Völkerbund oder Weltrepublik?

mige Sicherung des Vereinbarten aber die geeigneten Instru-

mente fehlen, liegt eine Rechtslösung ohne Sicherung, folglich ein Recht unter Vorbehalt vor, also ein Provisorium, das zur eigendichen Aufgabe, der staatsförmigen Sicherung des Rechts, nur ein Durchgangsstadium sein kann. Die gewöhnliche Kritik an einer Weltrepublik vergleicht seine Vorteile mit den Nachteilen; sie zieht eine Nutzen-Kosten-Bilanz. Kant argumentiert grundsätzlicher; er behauptet im ersten Abschnitt einen Widerspruch (354, 9 f.). Der KantKenner, der „Widerspruch" hört, erinnert sich an die Antinomien der ersten zwei Kritiken. Da in der Rechtslehre Kant den ewigen Frieden das höchste politische Gut nennt (VI 355, 30) und da der Begriff eines höchsten Gutes zur „Dialektik der reinen praktischen Vernunft" fuhrt (KpV V 110 ff.), könnte man in der Friedensschrift die zuständige Unterart, die Dialektik der reinen ra-/;f//