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German Pages 398 Year 2010
Immanuel Kant
Kritik der Urteilskraft
Klassiker Auslegen Herausgegeben von Otfried Höffe Band 33
Otfried Höffe ist o. Professor für Philosophie an der Universität Tübingen
Immanuel Kant
Kritik der Urteilskraft Herausgegeben von Otfried Höffe
Akademie Verlag
Abbildung auf dem Einband: Immanuel Kant, Ausschnitt aus einem Stich von Meno Haas (nach einer Zeichnung von E. Stägemann), ca. 1796. © Kant-Forschungsstelle der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Foto: Roland Ruffing, Wiesbaden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-05-004342-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Gesamtgestaltung: K. Groß, J. Metze, Chamäleon Design Agentur Berlin Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: MB Medienhaus, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt Zitierweise und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1. Einführung in Kants Kritik der Urteilskraft Otfried Höffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Kant über das Prinzip der Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie (Einleitung I–V) Jochen Bojanowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur (Einleitung VI–IX) Reinhard Brandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
4. Interesseloses Wohlgefallen und Allgemeinheit ohne Begriffe (§§ 1–9) Hannah Ginsborg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Relation des Schönen (§§ 10–17), Modalität des Schönen (§§ 18–22) Jacinto Rivera de Rosales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Analytik des Erhabenen (§§ 23–29) Michaël Fœssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. Kants Deduktion der reinen ästhetischen Urteile (§§ 30–38) Christel Fricke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
VI
Inhalt
8. Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen. Von der Geschmackslehre zur Teleologie (§§ 39–42) Georg Kohler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 9. Die Kunst und ihre prekäre Opposition zur Natur (§§ 43–50) Andreas Kablitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 10. Kants System der schönen Künste (§§ 51–54) Steinar Mathisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 11. Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft und die Methodenlehre des Geschmacks (§§ 55–60) Birgit Recki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 12. Objektive Zweckmäßigkeit, objektive und formale Zweckmäßigkeit, relative Zweckmäßigkeit (§§ 61–63) Piero Giordanetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 13. Die Teleologie der organischen Natur (§§ 64–68) Ina Goy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 14. Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft und Kants Ablehnung alternativer Teleologien (§§ 69–71 und §§ 72–73) Eric Watkins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 15. Von der Eigentümlichkeit unseres Verstands in Ansehung der Urteilskraft (§§ 74–78) Eckart Förster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 16. Kant und die Biologie seiner Zeit (§§ 79–81) Siegfried Roth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Inhalt
VII
17. Der Mensch als Endzweck (§§ 82–84) Otfried Höffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 18. Erklärungen für das Übersinnliche: physikotheologischer und moralischer Gottesbeweis (§§ 85–89) Gerardo Cunico . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 19. Status des Glaubens (§§ 90–91) und Allgemeine Anmerkung über Teleologie Karl Ameriks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 20. Urteilskraft und Sittlichkeit. Ein moralischer Rückblick auf die dritte Kritik Otfried Höffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Hinweise zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Zitierweise Kant wird nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe) zitiert, z. B. VIII 160, 12 = Band VIII, Seite 160, Zeile 12. Auf die Kritik der Urteilskraft wird ohne den Band-Zusatz verwiesen; alternativ wird der Seitenangabe der Paragraph vorangestellt, z. B. § 30: 278, 12. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (=A) und/oder der zweiten Auflage (=B) angegeben, z. B. A 413 = Seite 413 nach der Originalpaginierung der ersten Auflage. Auf die sonstige Literatur wird mit dem Verfassernamen, dem Erscheinungsjahr und der Seitenangabe Bezug genommen.
Siglen und Kurztitel Anthropologie Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII 117–334) Beobachtungen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (II 205–256) De mundi De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis – Über die Form und die Prinzipien der Sinnen- und Verstandeswelt (II 385–420) Ende aller Dinge Das Ende aller Dinge (VIII 325–339) Erdbeben Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westliche Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat (I 417–427) 1. Einleitung KU Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (XX 193–251) Fortschritte Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? (XX 253–271) Gemeinspruch Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (VIII 273–313) GMS, Grundlegung Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385–463) Idee Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 15–32) KpV, zweite Kritik Kritik der praktischen Vernunft (V 1–163) KrV, erste Kritik Kritik der reinen Vernunft (erste Auflage: KrV A: IV 1–252; zweite Auflage KrV B: III 1–552) KU, dritte Kritik Kritik der Urteilskraft (V 165–485) Logik Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hrsg. v. Gottlieb Benjamin Jäsche (IX 1–150) MAN Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (IV 465–565) Metaphysik Pölitz Metaphysik L1. Kosmologie, Psychologie, Theologie nach Pölitz (XXVIII 193–350)
Zitierweise und Siglen
Nova dilucidatio Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio – Neue Erhellung der ersten Prinzipien metaphysischer Erkenntnis (I 385–416) OP, Opus postumum Opus postumum: Entwürfe aus dem Zeitraum 1796–1803 zu einer Theorie des Übergangs von der Transzendentalphilosophie bzw. den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik (XXI–XXII) Orientieren Was heißt: sich im Denken orientieren? (VIII 131–147) Prolegomena Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (IV 253–384) Rassen Von den verschiedenen Rassen der Menschen (II 427–444) Reflexionen Handschriftliche Notizen aus dem Zeitraum 1765–1800 (XIV–XIX und XXIII) Religion Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 1–202) Rezension Herder Rezensionen von Johann Gottfried Herder: Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (VIII 43–66) RL Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (VI 203–372) Teleologische Prinzipien Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (VIII 157–184) Theodizee Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (VIII 253–271) Theorie des Himmels Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt (I 215–368) TL Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (VI 372–493) Vornehmer Ton Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (VIII 387–406)
Vorwort Seit Aristoteles ist das an Zwecken (griech. telê) orientierte, teleologische Denken für die abendländische Philosophie unverzichtbar. Schon in der frühen Neuzeit, etwa bei Francis Bacon, wird es jedoch als die „gottgeweihte Jungfrau“ verspottet, deren „Schoß nichts gebiert“. Der rasche Siegeszug des vor allem in der Physik so erfolgreichen kausalen bzw. mechanischen Denkens läßt jede andere Betrachtungsweise als obsolet erscheinen. Nicht einmal als bescheidene Ergänzung des Ursache-Wirkung-Denkens behält es ein Lebensrecht, ohnehin nicht als Muster objektiver Wissenschaft. Obwohl das Kausaldenken zu seiner Zeit längst wichtige Siege errungen hat, hält Kant die Teleologie in einer gründlichen Philosophie für unaufgebbar. Die teleologischen Elemente von Kant lassen sich nicht als vorkritische Restbestände diskreditieren. Im Gegenteil bilden sie einen wesentlichen Bestandteil der kritischen Transzendentalphilosophie. Ein deutlicher Beleg: Teleologische Urteile finden sich in allen Hauptschriften, die Kant seit seiner kritischen Wende verfaßt. In der Kritik der reinen Vernunft ist die Lehre von den regulativen Ideen dem Vernunftzweck einer schlechthin vollständigen Erkenntnis verpflichtet. Der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft liegt die teleologische Idee einer Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit zugrunde. Die Rechts- und Geschichts philosophie sieht den Endzweck („Sinn“) der Geschichte im ewigen Frieden. Den Höhepunkt seines teleologischen Denkens erreicht Kant jedoch in der Kritik der Urteilskraft. Diese dritte Kritik ist mit dem Ganzen der transzendentalen Vernunftkritik vielfach verknüpft. Für Kant zerfällt die Philosophie in zwei Hauptteile, in die Natur- und in die Moralphilosophie, einschließlich der Rechts-, Geschichts- und Religionsphilosophie. Während jene die Gesetzgebung des reinen Verstandes untersucht, erörtert diese die Gesetzgebung der reinen (praktischen) Vernunft. Beide Bereiche, dort die Natur, hier die Freiheit und die Moral, stehen nicht zusammenhanglos nebeneinander, vielmehr soll die Moral auf die Sinnenwelt einwirken. Dafür braucht es allerdings eine Vermittlung, die die Kluft zwischen (Natur-)Theorie und (moralischer) Praxis überwindet. Nach Kant leistet diese Vermittlung das Verbindungsglied zwischen Verstand und Vernunft, die reflektierende Urteilskraft. In der dritten Kritik untersucht er deren apriorische Bedingungen. Kant stellt der Kritik der Urteilskraft zwei, auf den ersten Blick nicht leicht miteinander zu vereinbarende Aufgaben. Einerseits ist der Zusammenhang von theoretischer und praktischer Philosophie zu einem geglie-
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Vorwort
derten Ganzen, zu einem System, zu leisten, und darunter versteht Kant die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einem Vernunftbegriff, einer Idee. Andererseits wird dieser Zusammenhang durch ein eigenes subjektives Vermögen hergestellt. Nach dem Erkenntnisvermögen (Verstand) und dem Begehrungsvermögen (praktische Vernunft) entdeckt Kant in der reflektierenden Urteilskraft ein drittes Vermögen, das zu einer Leistung a priori fähig ist. In deren transzendentaler Begründung erfahren zwei von Kants kritischer Philosophie bislang noch nicht behandelte Sachgebiete ihre kritische Grundlegung. Die dritte Kritik enthält sowohl eine Theorie von Geschmacksurteilen als auch eine von Zweckmäßigkeitsurteilen. Dort geht es um das Schöne und das Erhabene, um Kunst und Genie, hier um die Welt des Organischen und die systematische Einheit aller Natur und Naturerkenntnis. Fast noch mehr als Kants erste Kritik, die Kritik der reinen Vernunft, wirkt die Kritik der Urteilskraft weit über den Kreis der Fachphilosophen hinaus. Nur ein Beispiel: Soweit sich Goethe für die Philosophie interessiert, schätzt er Kant als den vorzüglichsten unter den neueren Philosophen und empfiehlt vor allen seinen Werken die Kritik der Urteilskraft, der er „eine höchst frohe Lebensepoche schuldig“ sei (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, XIII 26 f.). Der hier vorgelegte kooperative Kommentar wurde in einem Tübinger Symposion vorbereitet. Für den deutschsprachigen Raum handelt es sich um den ersten vollständigen Kommentar, und für den englischsprachigen Raum um eine der wenigen fortlaufenden, textnahen Interpretationen zu Kants Kritik der Urteilskraft. Von der lückenlosen und gleichmäßigen Kommentierung profitiert vor allem der oft vernachlässigte zweite Teil, die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“. In deren Zentrum stehen Kants Theorie organischer Lebewesen und seine Forschungslogik der Biologie. Gemäß den Gepflogenheiten der Reihe „Klassiker Auslegen“ enthält der Band erneut nur Originalbeiträge. Sie wurden entweder auf Deutsch geschrieben oder auf Wunsch der Autoren, im Sinne einer Rückkehr zur Sprache Kants, ins Deutsche übersetzt. Als erstes danke ich allen Autoren, sodann für die hochengagierte Mitvorbereitung des Symposions und, dies zusammen mit Axel Rittsteiger M. A., für die Redaktion dieses Bandes Frau Dr. Ina Goy. Nicht zuletzt danke ich der Fritz-Thyssen-Stiftung wieder für die großzügige Finanzierung des Symposions. Tübingen im März 2008
Otfried Höffe
1 Otfried Höffe
Einführung in Kants Kritik der Urteilskraft
1.1 Das kritische Geschäft vollenden In der Alltagssprache bedeutet „Kritik“ Mißbilligung, Einspruch und Widerspruch, bei Kant dagegen die gründliche Prüfung. Diese aus der Buch-, Theater- und Kunstkritik bekannte Bedeutung übernimmt Kant für die Prüfung von menschlichen Grundvermögen, von Erkenntnisvermögen in einem weiten Sinn. An sie richtet er die Frage, ob und gegebenenfalls wie weit sie der reinen Philosophie Einsichten erlauben, die sich durch zwei miteinander verkoppelte Eigentümlichkeiten auszeichnen: durch Allgemeinheit und Notwendigkeit. Zur Frage, ob die Philosophie zu derartigen Einsichten fähig sei, „tobte“ im Zeitalter der europäischen Aufklärung zwischen zwei philosophischen Richtungen ein heftiger Streit. Vereinfacht gesagt, traute die eine Richtung, der Rationalismus eines Descartes, Spinoza und Leibniz, der reinen, von aller Erfahrung unabhängigen Vernunft eigene, folglich allgemeine und notwendige Einsichten zu, was die Gegenrichtung, der Empirismus eines Locke und Hume, bestritt. Statt sich einer dieser Richtungen anzuschließen und in ihrem Rahmen ein eigenes philosophisches System aufzubauen, erkennt Kant die philosophische Tragweite des Streites. Es handelt sich, wie er sieht, um einen veritablen Grundlagenstreit. Und dieser macht es nötig zu prüfen, was genau ein reines, erfahrungsfreies Denken ist und was es gegebenenfalls vermag. Diese Prüfung von Möglichkeiten und Grenzen bloßer Philosophie stellt eine richterliche (judikative) Aufgabe dar, die für die Erkenntnis (erneut im weiten Sinn) zweierlei in einem bezweckt: Sie hat sowohl Erkenntnisleistungen als auch deren Grenzen nachzuweisen. Die Doppelaufgabe, die
Otfried Höffe
Legitimation und die Limitation eines menschlichen Grundvermögens, nennt Kant „Kritik“. Genauer heißt er sie „transzendentale Kritik“, da sie Bedingungen der Möglichkeit aus streng erfahrungsfreien, apriorischen Prinzipien erkundet. Am Ende wird ein Richterspruch, freilich kein Straf-, sondern ein zivilrechtliches Urteil zur Frage gefällt, welchen Besitz das betreffende Vermögen zu Recht geltend machen darf, welcher Besitz dagegen angemaßt, also zu Unrecht beansprucht ist (zu „Prozeß statt Krieg“ in der ersten Kritik s. Höffe 42004, Kap. 2.3 u. 23.6.). Im Fall der theoretischen Vernunft geht es um das Vermögen objektiver Erkenntnis, im Fall der praktischen Vernunft um das Begehrungsvermögen. Ursprünglich, beim Abfassen der ersten Kritik, nimmt sich Kant eine einzige Prüfung vor. Die Kritik der reinen Vernunft (1781) wird als einzige Kritik entworfen, auf die die eigene systematische Philosophie unmittelbar folgen soll. In der Tat veröffentlicht Kant fünf Jahre später unter dem Titel Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (1786) ein theoretisches „System“. Als kritische Grundlegung der gesamten systematischen Philosophie bereitet die erste Kritik auch die später zweiteilige Philosophie der Praxis, die von Recht und Tugend, vor. Zu den Gründen gehört der Endzweck, „die ganze Bestimmung des Menschen“ (KrV B 868), die Kant in der Moral sieht. Infolgedessen behandelt er das Kernthema der praktischen Philosophie, die Moral, schon in der ersten Kritik, vor allem im „Kanon“ ihrer „Methodenlehre“, relativ ausführlich. Durch Einwände auf Lücken der Argumentation aufmerksam gemacht, sieht er sich aber genötigt, vor dem System der praktischen Philosophie noch eine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), danach sogar noch eine zweite Kritik, die der praktischen Vernunft, auszuarbeiten (1788). Wie die immer noch dominante, vornehmlich erkenntnistheoretische Interpretation übersieht, kommt es aber schon der ersten Kritik letztlich auf die Moral an. Im Gegensatz zur dominanten, „orthodoxen“ Lektüre kann sie die „heterodoxe“, sogar „häretische Lektüre“ heißen (s. Höffe 2006). Die theoretische Vernunft scheint allerdings der Moral Hindernisse entgegenzustellen, die eine gründliche Philosophie auszuräumen hat (vgl. KrV B xxiv ff.). Genau zu diesem Zweck, Hindernisse der Moral zu überwinden, richtet sich die erste Kritik vornehmlich auf die theoretische, auch spekulativ genannte Vernunft und prüft dabei die Möglichkeit einer streng objektiven Erkenntnis. Wenn die zweite Kritik die auf Handeln bezogene, praktische Vernunft untersucht, so geschieht es erneut mit der Frage, ob es eine strenge Objektivität gebe, die man hier beim Handeln „Moral“ zu nennen pflegt.
Einführung in Kants KRITIK DER URTEILSKRAFT
Erstaunlicherweise hält Kant damit sein kritisches Geschäft immer noch nicht für beendet. Zwei Jahre nach der zweiten Kritik legt er vor, was sich weder in ihr noch der ersten Kritik als verbleibende Aufgabe abzeichnete: die Kritik eines dritten Grundvermögens. Mit ihr, der Kritik der Urteilskraft, glaubt Kant, „endlich“ sein „ganzes kritisches Geschäft“ abzuschließen (170). Die Urteilskraft spielt zwar schon in den zwei ersten Kritiken eine erhebliche Rolle. In der ersten Kritik ist ihr als transzendentaler Urteilskraft das gesamte zweite Buch der transzendentalen „Analytik“ gewidmet, also immerhin der „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“ und der konstruktive Höhepunkt der ersten Kritik, das „System aller Grundsätze des reinen Verstandes“. Dabei obliegt der Urteilskraft die Aufgabe, die zwei Erkenntnisstämme Anschauung und Denken miteinander zu vermitteln. In der zweiten Kritik und generell in Kants Moralphilosophie übernimmt die Urteilskraft zwei Aufgaben: Nach der „Typik“ prüft eine reine praktische Urteilskraft die moralische Qualität von Handlungsregeln mittels der Frage, ob die Regeln, genauer: ob die Handlungsgrundsätze, die Maximen, als Naturgesetz taugen oder nicht. Bei der zweiten Aufgabe trägt die Urteilskraft ebenfalls zur Einsicht in die Moral bei, jetzt aber nicht mehr zur Einsicht in moralische Grundsätze. Als „durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft“ (GMS IV 389) hilft sie vielmehr zur situationsgerechten Konkretisierung. Dabei wird eine allgemeine, abstrakte Regel „auf eine Handlung in concreto“ angewandt (KpV V 67). So erheblich diese Rollen sind – in den beiden ersten Kritiken wird die Urteilskraft letztlich nur subsidiär tätig. Erst in der dritten Kritik erhält sie eine nicht mehr subsidiäre, sondern eigenständige Aufgabe, was ihr Gewicht erheblich aufwertet. Generell besteht die Urteilskraft im Vermögen, das Besondere und das Allgemeine zusammenzubringen. Dieses Vermögen ist in zwei Richtungen gefragt. Die überall, im Alltag ebenso wie in den Wissenschaften, selbst in der Transzendentalphilosophie erforderliche bestimmende Urteilskraft ordnet das Besondere einem schon gegebenen Allgemeinen unter, zum Beispiel einen konkreten Rechtsfall dem passenden Gesetz oder eine individuelle Krankheit dem zugehörigen Krankheitsbild. Auch bei den zwei Teilaufgaben der transzendentalen Urteilskraft erörtert diese ein Besonderes, das „unter“ ein Allgemeines fällt, sie geht also subsumierend vor. Bei der ersten Aufgabe, dem Schematismus, handelt sie von der sinnlichen Bedingung, „unter“ welcher reine Verstandesbegriffe, die Kategorien, allein gebraucht werden können (KrV B 176 ff.). Und bei der zweiten Aufgabe entwickelt sie die synthetischen Urteile, die aus reinen Verstandesbegriffen „unter diesen Bedingungen a priori herfließen“ (KrV B 175).
Otfried Höffe
Bei den zwei Aufgaben im Bereich des Moralisch-Praktischen verhält es sich nicht anders. Im Fall der erfahrungsgeschärften Urteilskraft ist es offensichtlich, denn hier wird der Einzelfall einer vorgegebenen Regel untergeordnet. Bei der anderen Aufgabe sieht man es noch nicht auf den ersten Blick, denn bei ihr wird eine Regel, also ein Allgemeines, beurteilt. Die Regel wird jedoch einem noch Allgemeineren, dem schon gegebenen Typus des Naturgesetzes, untergeordnet, so daß es ebenfalls auf eine Subsumptionsleistung ankommt. Die in der dritten Kritik erörterte reflektierende Urteilskraft sucht dagegen zum Besonderen das Allgemeine allererst auf. Sie subsumiert zwar unter ein Gesetz, das aber noch nicht gegeben ist (385). So bestimmt, mag die Aufgabe noch harmlos klingen. Der reflektierenden Urteilskraft liegt jedoch ein Gedanke zugrunde, gegen den die Wissenschaften und überhaupt der moderne Geist skeptisch zu sein pflegt, der Gedanke der Zweckmäßigkeit (Finalität, Teleologie). Kant spricht ihr den hohen Rang eines transzendentalen Prinzips zu, was das Vermögen der Urteilskraft ein weiteres Mal aufwertet. Schon in der „Einleitung“, im Titel von Abschnitt V, erklärt er die Zweckmäßigkeit der Natur, also die teleologische Seite der Urteilskraft, zu einer allgemeinen Bedingung, zu einem transzendentalen Prinzip. Selbst wenn Kants Überlegungen nicht in allen Feinheiten zu überzeugen vermögen, gelingt ihnen doch zu zeigen, daß der Gedanke in zwei Gegenstandsbereichen Erfolg verspricht: im Bereich des Ästhetischen, sogar in deren zwei Teilen, dem Schönen und dem Erhabenen, und in jener Naturwissenschaft, die heute besonderes Prestige genießt, in der Wissenschaft des Lebendigen, der Biologie. (Kant selber spricht freilich von einer Physik organisierter Wesen, nicht von Biologie. Dieser Ausdruck taucht auch in seinen anderen Werken nicht auf. Nach Jahn (21985, 319) findet sich der Ausdruck zum ersten Mal im Jahr 1797 in einem Werk des Mediziners Theodor G. A. Roose.)
1.2 Schwierigkeiten der Interpretation Stellt man einen schmalen Kanon von klassischen Texten der Philosophie auf, so ist Kant ohne Zweifel mit mehreren Schriften vertreten, die Kritik der Urteilskraft gehört aber kaum dazu. Selbst Fachphilosophen, sogar selbst manche Kant-Forscher rechnen sie nicht (mehr) zur Pflichtlektüre. Gleichwohl gibt es eine immense Forschungsliteratur: sowohl seitens der Kant- und Idealismusforscher als auch der Literaturwissenschaftler. Biologen dagegen melden sich seltener zu Wort. Der Text ist aber schon
Einführung in Kants KRITIK DER URTEILSKRAFT
deshalb überaus wichtig, weil er das Zweckdenken sehr behutsam einführt; beispielsweise beläßt er dem zur Teleologie alternativen kausal-mechanischen Denken die weit größere Bedeutung. Hinzu kommt, daß er zwei von Philosophen weniger behandelte Themen erörtert, die Ästhetik als Theorie vom Schönen und Erhabenen und die Biologie. Aus mindestens vier Gründen ist der Text allerdings sehr schwierig. Als erstes empfehlen sich Grundkenntnisse in Kants Philosophie. Die Kritik der Urteilskraft entwickelt ihre Argumentation zwar schrittweise, jeweils aus der Sache heraus, ohne historische Kenntnisse, selbst ohne Kant-Kenntnisse zu unterstellen. Es ist auch durchaus sinnvoll, einmal Tabula rasa zu machen, alle Vorkenntnisse beiseite zu schieben und die Lektüre unmittelbar vom gegebenen Text aus vorzunehmen. Vor allem die „Vorrede“ und die „Einleitung“ sind jedoch so dicht, stellenweise fast kryptisch geschrieben, daß es hilfreich ist, zumindest das Programm der Kritik der reinen Vernunft und einige ihrer Lehrstücke sowie Programm und Lehrstücke entweder der Grundlegung oder der Kritik der praktischen Vernunft zu kennen (zur Einführung s. Höffe 72007, bes. Teil II f., zur KU s. Teil V). Eine zweite Erschwernis ergibt sich aus der Vielzahl der erörterten Themen. Ordnet man sie philosophischen Disziplinen zu, so sind wegen entsprechender Vergleiche, zum Teil sogar ausführlichen Differentialanalysen sowohl (1) die Erkenntnistheorie als auch (2) die Moralphilosophie einschlägig. Zusätzlich geht es (3) um den Gedanken eines Systems, das die zwei Hauptteile, Erkenntnis und Moral oder Natur und Freiheit, sowohl zusammenfaßt als auch überwölbt. Weiterhin kommen zur Sprache (4) die Naturphilosophie, hier insbesondere als Philosophie der Biologie, und zuvor die (5) philosophische Ästhetik, die ihrerseits ungewöhnlich facettenreich entwickelt wird: als Theorie von Geschmacksurteilen, von Literatur und Kunst, ebenso als eine Theorie von deren Produktion und des ästhetischen Blicks in die Natur, nicht zuletzt geht es Kant um einen Zusammenhang mit der Moral. Von Bedeutung sind schließlich (6) die philosophische Teleologie und (7) eine philosophische Theologie. Indem die Kritik der Urteilskraft mindestens für diese sieben Disziplinen zuständig ist, darüber hinaus (8) auf einen Begriff der Kultur (im Sinne der Entfaltung von Anlagen) Wert legt und (9) den einer Geschichte anklingen läßt, stellt sie sich auf eine eigentümliche Art als eine Enzyklopädie philosophischer Wissenschaften dar. Die dritte Erschwernis ergibt sich aus dem Anspruch, die beiden für eine reine Philosophie typischen Eigentümlichkeiten für zwei Bereiche auszuweisen, die sich ihnen, der Allgemeinheit und der Notwendigkeit, offensichtlich zu versperren scheinen. Dies trifft mit unterschiedlichen Gründen einerseits für den Bereich von Wohlgefallen, Geschmack, Schö-
Otfried Höffe
nem und Erhabenem, andererseits für den einer zweckgerechten Naturordnung zu. Ernsthafte Philosophie befaßt sich nicht mit intellektuellen Glasperlenspielen, sondern mit der Welt und ihren natürlichen, sozialen und kulturellen Seiten. Im Fall der Kritik der Urteilskraft folgt daraus als vierte Schwierigkeit, daß es eine gewisse Vertrautheit mit der Fülle der angesprochenen Phänomene braucht. Man sollte zum Beispiel Literatur gelesen, Kunstmuseen und Konzerte besucht haben und über einige biologische Grundkenntnisse verfügen. Ferner sollte man sich überlegen, was ein sinnvolles philosophisches System sein kann. Und philosophische Fragen nach dem Ort des Menschen in der Schöpfung und nach Gott sollte man besser nicht von vornherein für sinnlos halten. Die positive Kehrseite: Die vier Erschwernisse bedeuten ebenso viele gute Gründe, einen besonders spannenden Text zu erwarten. Die philosophisch populärste der drei Kritiken darf sich die Kritik der Urteilskraft kaum nennen, vielleicht ist sie aber die philosophisch anspruchsvollste. (Eine weitere Schwierigkeit sei nicht unterschlagen: Kant schreibt gedrechselte, aber auch verwinkelte Sätze, gelegentlich sogar Satzungetüme. Sein barockes CiceroDeutsch läßt sich nicht gerade immer leicht und flüssig lesen.) Verortet man die Schrift in Kants intellektueller Entwicklung, so ist zweierlei bedeutsam. Läßt man Feingliederungen und Übergänge beiseite, so sind in Kants Entwicklung zwei große Phasen zu unterscheiden: die vorkritische Periode vor der ersten Kritik und die kritische Periode mit und seit ihr. Innerhalb der zweiten Phase beginnt Kant mit einer Kritik vornehmlich, nicht ausschließlich des Erkenntnisvermögens (1781, gründlich überarbeitet: 1787), läßt die Kritik der praktischen Vernunft (1788) und zwei Jahre später die Kritik der Urteilskraft (1790) folgen. Danach, heißt es am Ende der „Vorrede“, wolle er „ungesäumt zum doktrinalen [Geschäft] schreiten“ (170). Diese Ankündigung enthält ein Problem, die fünfte Schwierigkeit: Eine der doktrinalen Schriften, sogar die einzige zur theoretischen Philosophie, die genannten Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften, schreibt Kant vier Jahre vorher. Man könnte zwar meinen, der bescheidene Ausdruck „Anfangsgründe“, eine Verdeutschung von „argumentative Prinzipien“, verweise auf einen Beginn, zu dem die Fortsetzung noch fehle. Der zweite Text, die Doktrin der praktischen Philosophie, erhebt aber ebenfalls bloß den bescheidenen Anspruch: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre bzw. der Tugendlehre. Auf der anderen Seite könnte man zwar annehmen, die Schrift vom Jahr 1786 beschränke die Naturwissenschaft auf die mathematische Physik, wohingegen die Kritik der Urteilskraft auch
Einführung in Kants KRITIK DER URTEILSKRAFT
die Physik des Organischen, die Biologie, zu einer veritablen Naturwissenschaft adle. Der letzte Satz der „Vorrede“ sieht aber zur Kritik der Urteilskraft ausdrücklich keine sie fortsetzende Doktrin vor, denn für sie diene „die Kritik statt der Theorie“ (170). Welche Gründe dafür sprechen und ob sie überzeugen, wird zu klären sein. Kant selbst ist jedenfalls überzeugt, daß im Fall der Urteilskraft eine Kritik die Theorie entweder enthält oder ersetzt oder sonstwie überflüssig macht: In „einem System der reinen Philosophie“ dürfen die Prinzipien der Urteilskraft „keinen besonderen Teil zwischen der theoretischen und praktischen [Philosophie] ausmachen“ (168): Zu dem eigenen Gebiet, das die Urteilskraft durchaus habe (vgl. ebd.), nämlich zum Schönen und Erhabenen und zum Bereich des Lebendigen, gebe es aber keine über deren Kritik hinausreichende reine Philosophie.
1.3 Drei Hauptaufgaben Unter den zahlreichen Aufgaben der Kritik der Urteilskraft ragen drei heraus. Schon die „Vorrede“ nennt die erste Aufgabe, daß die theoretische und die praktische Vernunft zu einem einheitlichen Ganzen, zu einem System, verbunden werden sollen. Von den neun Abschnitten der „Einleitung“ sind immerhin die ersten drei, also ein Drittel, dieser Aufgabe gewidmet. Sie läßt sich freilich nicht im Handstreich lösen, sondern erfordert die Lösung zahlreicher Vor- und Zwischenaufgaben. Erst am Ende der Schrift, nach einem langen Argumentationsweg, stellt Kant die Natur als ein teleologisches System vor, an deren Spitze ein moralisches Wesen, der Mensch, steht und das einen moralischen Beweis vom Dasein Gottes ermöglicht. Hinzu kommt ein System der Erkenntnis, das den verschiedenen philosophischen Disziplinen ihren systematischen Ort zuweist. Das gesuchte, „architektonisch“ genannte Ganze kann nicht durch einen dritten Teil im System entstehen. Diese Option ist von der These „die Kritik statt der Theorie“ (170) ausgeschlossen. Das zum Ganzen fehlende Moment erweist sich als ein „Mittelglied“ (177) in der „Ordnung unseres Erkenntnisvermögens“, als die zwischen Verstand und Vernunft situierte Urteilskraft, und der zuständige einheitsstiftende Begriff ist der Leitbegriff der reflektierenden Urteilskraft, die Zweckmäßigkeit. Diese tritt in zwei Gestalten auf, in deren Untersuchung die zweite und die dritte Hauptaufgabe liegen. Die ästhetische Urteilskraft ist mit den Phänomenen des Schönen und des Erhabenen und die teleologische Urteilskraft mit dem Phänomen des Lebendigen, aber auch mit einer Hierarchie von Naturzwecken befaßt. Nun sind diese beiden Gestalten so grundverschie-
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den, daß die Behauptung eines inneren Zusammenhangs als sehr gewagt erscheint, sogar als höchst unwahrscheinlich. In der Tat sind beide so weit voneinander unabhängig, daß jede von ihnen eine eigene Erörterung erhält, und diese gliedert sich, wie man es von der ersten und der zweiten Kritik kennt, in eine Elementarlehre (auch wenn diese Bezeichnung fehlt) und in eine „Methodenlehre“. Letztere fällt für die ästhetische Urteilskraft aber sehr knapp aus, für die teleologische Urteilskraft dagegen höchst ausführlich. Während in der ersten Kritik die „Methodenlehre“ nur halb so lang wie die „Analytik“ und sogar bloß ein Drittel so lang wie die „Dialektik“ ist und sie in der Kritik der praktischen Vernunft äußerst kurz ausfällt, nimmt sie in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ etwa 50% mehr Raum ein als deren „Analytik“ und „Dialektik“ zusammen. Und die „Methodenlehre“ ist nicht bloß lang, sondern auch philosophisch hochanspruchsvoll. Sie enthält nämlich den spekulativen Höhepunkt der Kritik der Urteilskraft: das teleologische System der Natur, den Menschen als Endzweck der Schöpfung und einen moralischen Beweis vom Dasein Gottes. Wie in den beiden vorangehenden Kritiken so gliedert sich auch in der dritten Kritik die „Elementarlehre“ in zwei Teile. Dem hauptsächlichen Vorbild, der Kritik der reinen Vernunft, treu, zerfällt die „Analytik“ ihrerseits in zwei Teile, in eine „Exposition“ (vgl. 266) als Darlegung von allgemeinen und notwendigen Elementen und in eine Rechtfertigung ihres Gebrauches in der (transzendentalen) „Deduktion“. Neu tauchen dabei die Begriffe des Gemeinsinns, der schönen Künste und des Genies auf. Die Zweiteilung trifft allerdings nur auf die ästhetische Urteilskraft zu, und selbst für diese bloß auf den ersten Teil: die „Analytik des Schönen“. Vom zweiten Teil über das Erhabene heißt es dagegen, „unsere Exposition der Urteile über das Erhabene [war] zugleich ihre Deduktion“ (280). In die Darlegung der Elemente ging also deren Rechtfertigung schon ein. Und in der „Analytik“ der teleologischen Urteilskraft tauchen die Begriffe der „Exposition“ und der „Deduktion“ gar nicht auf. Zwei Gründe dürften dafür verantwortlich sein. Zum einen läßt Kant in die Entfaltung der entscheidenden Begriffe: „Zweckmäßigkeit“, „Naturzwecke“ und „System der Zwecke“ schon Elemente der Rechtfertigung, insbesondere den der nur regulativen Funktion einfließen. In der „Analytik“ der teleologischen Urteilskraft treten also schon sowohl Argumente der Exposition als auch der Deduktion auf. Zum anderen wird die sich damit abzeichnende Rechtfertigung der in einer Exposition erhobenen Geltungsansprüche in der „Dialektik“ fortgesetzt. Dort, wo der Begriff der Exposition doch auftaucht, in der „Dialektik“ (412), geschieht es in einem anderen Zusammenhang; es geht um den Gegenbegriff zur „Explikation“.
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In der auf die „Analytik“ folgenden „Dialektik“ werden widerstreitende Thesen, sogenannte Antinomien, zunächst aufgedeckt, sodann aufgelöst. Bei den Urteilen über das Schöne, den Geschmacksurteilen, behauptet die eine Seite, die These, das Geschmacksurteil gründe sich nicht auf Begriffe, denn sonst ließe sich darüber disputieren, nämlich durch Beweise entscheiden. Die Gegenseite, die Antithese, sagt, das Geschmacksurteil gründe sich doch auf Begriffe, denn sonst ließe sich nicht einmal darüber streiten, das heißt die Einstimmung anderer beanspruchen (338 f.). Kant zeigt, daß nur scheinbar ein Widerspruch vorliegt, so daß man den Gegensatz aufheben kann, indem man Unterscheidungen trifft. Kant unterscheidet einen unbestimmbaren, daher zur Erkenntnis untauglichen Begriff von einem bestimmten, erkenntnistauglichen Begriff, zusätzlich ein auf Beweis ausgerichtetes Disputieren von dem nur Einstimmung suchenden Streit. Nun gründen sich Geschmacksurteile auf der ersten Begriffsart, die der subjektiven Zweckmäßigkeit entspricht. Infolgedessen sind in entsprechender Hinsicht sowohl die These als auch die Gegenthese wahr. Die These hat recht, weil sie sich nicht durch Beweise entscheiden läßt, denn es gibt keinen beweisfähigen, bestimmten Begriff. Andererseits hat auch die Antithese recht: Dem Urteil über das Schöne liegt nämlich ein Begriff zugrunde, aber nur der unbestimmbare Begriff der Zweckmäßigkeit, so daß man über das Schöne sehr wohl streiten, aber nicht disputieren kann. Geht man zur teleologischen Urteilskraft über, so behauptet innerhalb ihrer zweiten Antinomie die eine Seite, alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen sei nach bloß mechanischen Gesetzen möglich, was die Gegenseite mit der Behauptung bestreitet, für einige materielle Dinge sei die Erzeugung nach bloß mechanischen Gesetzen unmöglich (387). Kant löst die Antinomie wieder durch eine Unterscheidung auf, jetzt durch die zwischen „möglich sein“ und „beurteilen können“ (377 f., auch 414).
1.4 Ästhetische Urteilskraft: das Schöne und das Erhabene Die erste Gestalt der reflektierenden Urteilskraft heißt ästhetisch (von griech. aisthesis: Sinneswahrnehmung), weil sie sich auf Anschauung und Sinnlichkeit bezieht. Auf subjektive Zweckmäßigkeit gerichtet, liegt sie den Urteilen über das Schöne und das Erhabene zugrunde. Hier zählen Gefühle der Lust und Unlust, freilich nicht die interessegeleiteten, daher prinzipiell privaten Gefühle des Angenehmen und Unangenehmen. Entscheidend ist ein interesseloses Wohlgefallen, das wegen seiner Interesselosigkeit öffentlichkeitsfähig ist, denn auf der Grundlage eines Gemeinsinns (sensus
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communis) ist es streng allgemein mitteilbar. Zum Angenehmen, beispielsweise zur Frage, welche Art von Geselligkeit Vergnügen erwarten läßt, gibt es bestenfalls generell gültige Erfahrungsregeln, dagegen sind Urteile über das Schöne ebenso wie über das Erhabene zwar nur subjektiv, nicht objektiv und doch streng allgemein gültig. Kant kennt die neueren Debatten über das Schöne und das Erhabene, namentlich die Grundgedanken von Edmund Burkes einflußreicher Schrift A philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757). Ferner dürfte er mit David Humes einschlägigen Überlegungen vertraut sein und zweifellos denen von Alexander Gottlieb Baumgarten (Aesthetica 1750/58), von Moses Mendelssohn (Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften 1757, Betrachtungen über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften 1758) und von Johann Gottfried Herder (Erstes Wäldchen 1769, Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume 1778). Deren Ansichten hält er jedoch für teils empiristische (Burke, Hume, Herder), teils rationalistische Fehldeutungen (Baumgarten, Mendelsohn), die er verwirft. Kant hatte schon mehr als dreieinhalb Jahrzehnte vor der dritten Kritik lebhaftes Interesse am Schönen und Erhabenen ausgedrückt (Beobachtungen 1764). Damals lehnte er sich aber an Burkes vorkritischpsychologische Betrachtung an, so daß in seine neuere Burke-Kritik Selbstkritik mit einfließt. Beispielsweise widerspricht Kant nicht der Erfahrung, daß sich Menschen über die Beurteilung als schön streiten können. Im Gegenteil räumt er diese Möglichkeit ein und benennt deren Grund. Er liegt nicht in jener generellen Irrtumsanfälligkeit, die alles Menschliche, auch die wissenschaftliche Erkenntnis auszeichnet, sondern im Unterschied einer bloß subjektiven von einer objektiven Allgemeinheit. Man kann sich zwar auch bei der Aussage „Diese Wiese ist grün“ irren, die Aussage läßt sich aber objektiv, etwa durch eine Messung der Lichtwellenlänge, überprüfen. Bei der subjektiven Allgemeinheit dagegen fehlt die Möglichkeit einer objektiven Prüfung grundsätzlich. Alle ästhetischen Urteile sind qualitativ gesehen Einzelurteile; ob man im Einzelfall tatsächlich ein von jedem Interesse freies Urteil fällt, kann daher prinzipiell strittig sein. Die Urteilstafel der ersten Kritik ist auf mannigfachen Einspruch gestoßen. In der Theorie des Schönen erfährt sie insofern eine Rehabilitierung, als Kant mit ihrer Hilfe die Bestimmung des Schönen vornimmt und entlang der vier Klassen der Urteilstafel eine selten dimensionsreiche, in ihrer Perspektivenvielfalt vielleicht bis heute nicht übertroffene Bestimmung vornimmt. Kant ändert die Reihenfolge und beginnt mit dem Qualitätsbegriff des Schönen, aus dem die anderen Begriffe fast zwangsläufig
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folgen. Allen Begriffen gemeinsam ist ein „ohne“. Schön ist, was (1) der Qualität nach ohne alles Interesse gefällt, (2) der Quantität nach ohne Begriff und doch allgemein gefällt, (3) der Relation nach ohne zweckmäßige Vorstellung eines Zweckes ist und schließlich (4) der Modalität nach ohne Begriff ein notwendiges Wohlgefallen findet. Indem Kant bei allen vier Bestimmungen das Schöne gegen zwei nur auf den ersten Blick verwandte Phänomene, das Angenehme und Gute, absetzt, beweist er einmal mehr sein hohes Maß an begrifflicher Differenzierung und Schärfe. Beispielsweise hätten die in den letzten zwei, drei Generationen von Metaethikern unternommenen Versuche, das (moralisch) Gute begrifflich zu bestimmen, aus einer Kenntnis von Kants Überlegungen zum Begriff des Schönen im Unterschied zu dem des Guten erheblichen Gewinn ziehen können. Das Urteil, etwas sei schön, von Kant Geschmacksurteil genannt, ist zwar subjektiv. Das Subjekt fällt aber kein Privaturteil, sondern dank des Gemeinsinnes ein allgemein gültiges Urteil. In Abweichung von Kants eigener Terminologie könnte man deshalb von einer objektiven Subjektivität sprechen. Beim Erhabenen gibt es von ihr eine zweite Art. Die einschlägigen Gegenstände, etwa ein sturmempörter Ozean, sind zwar selber gräßlich. Sie bieten aber den Anreiz, die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit einer höheren, moralischen Zweckmäßigkeit zu beschäftigen. Die andere, auf Verstand, Begriff und Denken (griech. logos) bezogene, insofern logische Urteilskraft richtet sich dagegen auf die reale, objektive Zweckmäßigkeit, die dem zuständigen Gegenstand, dem Lebendigen, innewohnt. Nach ihrer zweiten Aufgabe soll die Kritik der Urteilskraft für diese zwei Gegenstandsbereiche, das Ästhetische und das Lebendige, eine philosophische Theorie erstellen, obwohl sie nach Kants bisheriger Lehre nicht als dafür geeignet scheinen. Denn beide, das Ästhetische und das Lebendige, sind weder im Sinne der ersten noch der zweiten Kritik theoriefähig. Ihnen fehlt nämlich jene strenge Art von Gesetzlichkeit, die es nach den ersten zwei Kritiken nur auf zweierlei Weise gibt, entweder als Naturgesetze oder als Freiheitsgesetze. Weder der Bereich des Ästhetischen noch der des Lebendigen erlaubt jedoch eine dieser zwei Arten von Gesetzlichkeit. Insofern muß Kant – so die dritte Aufgabe der Kritik der Urteilskraft – seine bisherige Philosophie einer tiefen Revision unterziehen. (Wie weit die Revision tatsächlich reicht, überlegt der nächste Abschnitt.) Man wirft Kant gern vor, die ersten zwei Aufgaben, das Systeminteresse und das zweifache Gegenstandsinteresse, stünden ziemlich unverbunden nebeneinander. Dem widerspricht der Umstand, daß beide Aufgaben durch einen gemeinsamen Begriff, den der Zweckmäßigkeit, verbunden sind. Für
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das Systeminteresse vermittelt er zwischen dem verstandesartigen Naturgesetz und dem vernunftartigen Freiheitsgesetz, und für die zwei neuen Gegenstandsbereiche ist er der gemeinsame Grundbegriff. Weil es der Urteilskraft auf Zweckmäßigkeit ankommt, vermag sie beides zu leisten: Sie ist die Brücke, die die „unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs als dem Übersinnlichen“ (175 f.) überspannt. Zusätzlich erschließt sie der philosophischen Theorie bislang vernachlässigte Gegenstandsbereiche. Philosophen, die sich meist vornehmlich für die Logik und Erkenntnistheorie, allenfalls noch für die Moralphilosophie interessieren, entgeht die enorme Wirkungsgeschichte der dritten Kritik. Insbesondere deren erster Teil, die Ästhetik, findet mit und seit Friedrich Schiller zahlreiche Bewunderer, freilich auch Kritiker. Kant könnte Pate für Schillers Bestimmung des Erhabenen gestanden haben, denn in dessen Schrift Über das Erhabene (Schiller 1801/1966, II 610) heißt es, das Gefühl des Erhabenen beweise unsere moralische Selbständigkeit. Schiller erweitert allerdings dieses Gefühl über den Bereich der Natur hinaus in die Weltgeschichte. Der in ihr zu findende „Konflikt der Naturkräfte untereinander selbst und mit der Freiheit des Menschen“ (Schiller 1801/1966, II 615) lasse die Geschichte als Erscheinungsweise des Erhabenen hervortreten. In der Bestimmung des Schönen weicht er dagegen deutlich von Kant ab. Während die Kritik der Urteilskraft das Schöne und das moralisch Gute scharf gegeneinander absetzt, rückt Schiller sie eng zusammen. Indem er nämlich die Schönheit in der Harmonie von Sinnlichkeit und Sittlichkeit gegeben sieht, nimmt er, was Kant vehement ablehnt, eine Moralisierung des Schönen vor. Während zum Guten ein charakteristisches Interesse gehört, das Wohlgefallen am Dasein der entsprechenden Handlung, zeichnet sich das Schöne durch ein interesseloses Wohlgefallen aus. Kants Theorie des Schönen und Erhabenen wird später als Prototyp einer sogenannten idealistischen, weil am Subjekt orientierten Ästhetik gelten. In der Tat geht es Kant um das Subjekt, sogar um zwei Subjekte. Das eine, in sich noch differenzierte, ästhetische Subjekt nimmt in Naturund Kunstgegenständen Schönheit wahr und empfindet bei Naturphänomenen Gefühle des Erhabenen. In beider Hinsicht sind aber nicht die Gegenstände selber schön bzw. erhaben. Sie gewinnen diese Eigenschaften nur aufgrund einer Leistung des wahrnehmenden Subjekts, beim Schönen wegen seines freien, interesselosen Spiels von Einbildungskraft und Verstand, beim Erhabenen, weil das Subjekt den Anreiz erhält, sich über das Sinnliche zu erheben und sich mit einer höheren, moralischen Zweckmäßigkeit zu beschäftigen. Das andere für Kants Ästhetik wichtige Subjekt
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ist der Schöpfer der Kunst, das Genie, das sich nach Kant durch Originalität auszeichnet, durch Musterhaftigkeit, durch Unwissenheit hinsichtlich der praktizierten Regel und durch die Zuordnung zur Kunst, nicht Wissenschaft. Zu Kants Theorie des Schönen seien nur zwei Rückfragen erwähnt. Man versteht diese Theorie gern als Kritik des über Jahrhunderte vorherrschenden Gedankens von Aristoteles, der Mimesis, die man – wohl irreführend – als „Nachahmung“ übersetzt. Trifft das zu, bietet Kant eine implizite Kritik und zugleich ein Gegenmodell? Die zweite Frage: Das berühmte Gedicht von Rainer Maria Rilke Archäischer Torso Apollos endet mit der Aufforderung „Du mußt dein Leben ändern“. Danach hat ein Kunstwerk eine appellative und existentielle Macht. Kann man das mit Kant verstehen oder eher mit Schiller, so daß Kant Kritik daran übt? Zu Kants Theorie des Gemeinsinns sei nur erwähnt, daß sie eine eigene Wirkungsgeschichte entfaltet und Hannah Arendt auf deren Grundlage sogar eine systematische Philosophie der Politik entwickeln wollte, worin ihr der Politikwissenschaftler Ernst Vollrath gefolgt ist.
1.5 Revisionen?
Wer die erste und die zweite Kritik gründlich liest, widerspricht deren „orthodoxer“ Lektüre, der zufolge es dort vornehmlich um Erkenntnis, hier um Moral gehe. Tatsächlich – sieht eine „häretische Lektüre“ – steuert schon die erste Kritik auf eine Entmachtung des wissenschaftlichen Wissens zu, selbstverständlich nicht zugunsten von Esoterik oder gar Aberglauben, sondern zugunsten von Moral und moralischem Glauben. Dafür sind zwei den beiden ersten Kritiken gemeinsame Begriffe wesentlich, die Begriffe des Enzwecks und der Bestimmung des Menschen. Die Revision, die die Kritik der Urteilskraft vornimmt, fällt also nicht so tief wie oft behauptet aus. Sie rückt „nur“ Gedanken in den Mittelpunkt, die schon vorher nicht etwa nebensächlich, sondern hochwichtig waren, die Gedanken von Zweck, Zweckmäßigkeit und Endzweck. Gegen die Annahme einer wirklich tiefen Revision spricht ein weiterer Umstand: Die beiden Gegenstände der Urteilskraft fallen zwar nicht unter eine der beiden Gesetzesarten der ersten zwei Kritiken, sie bleiben aber dem vorgelagerten Doppelkriterium für die zwei Gesetzesarten unterworfen, der Allgemeinheit und der Notwendigkeit. Allerdings liegt darin eine erste und doch grundlegende Revision: Kant spürt für das genannte Doppelkriterium einen neuen Anwendungsbereich auf; in einem Brief an
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Carl Leonhard Reinhold vom 28. Dezember 1787 spricht er sogar von ‚entdecken‘ (X 514). Dadurch wird das transzendentale Programm der ersten Kritik über eine gewisse schon in der zweiten Kritik stattfindende Ausweitung noch einmal, und jetzt viel erheblicher erweitert. Da nun für alle drei Vermögen des Gemüts, für das Erkenntnisvermögen (erste Kritik), für das Begehrungsvermögen (zweite Kritik) und für das Gefühl der Lust und Unlust (dritte Kritik), apriorische Prinzipien ausgewiesen sind, findet das transzendentale Programm sogar seine Vollendung. Nach dem Reinhold-Brief sucht Kant in der Kritik der Urteilskraft seine kritische Philosophie zu vervollständigen. In der Schrift primär eine philosophische Ästhetik und eine teleologische Theorie der Natur zu suchen ist daher falsch. Kant kommt es vornehmlich darauf an, für das noch fehlende dritte Gemütsvermögen ein synthetisches Apriori auszuweisen. Dieses findet sich allerdings genau im ästhetischen und im teleologischen Bereich. Die Vervollständigung der kritischen Philosophie ist also nur auf dem Weg einer transzendentalen Theorie des Schönen und Erhabenen einerseits, andererseits der Naturzweckmäßigkeit möglich. Im Zuge der Vervollständigung entdeckt Kant nun ein weit größeres „Erkenntnis“potential. Einerseits erlaubt die für das dritte Gemütsvermögen zuständige Kompetenz, die reflektierende Urteilskraft, die beiden anderen Bereiche, Natur und Freiheit, zu einer wohlbestimmten Einheit zu führen. Andererseits schränkt er im Reinhold-Brief den Aufgabenbereich der dritten Kritik noch auf deren ersten Teil ein, auf eine „Kritik des Geschmacks“ (ebd.) samt den Lust-Unlustgefühlen; der zweite Teil mit den verschiedenen Begriffen von Zweckmäßigkeit wird nicht erwähnt. Bei der im Jahr darauf erscheinenden Abhandlung Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien (1788) findet sich dagegen das umgekehrte Defizit. Die ersten zweieinhalb Seiten bieten eine Kurzfassung von Gedanken der dritten Kritik (VIII 159 f.), wir lesen aber nur von deren zweitem, teleologischen Teil, während der ästhetische Teil unerwähnt bleibt. Mit der gegenüber dem früheren Kant erstaunlichen Themenerweiterung geht eine zweite Revision einher: Dem Schönen beispielsweise fehlen Begriffe und Gesetze. Die dritte Kritik ist weder ein Lehrbuch, seinen Geschmack zu kultivieren, noch eines, um künstlerische Fähigkeiten zu entwickeln. Sie bietet nicht einmal eine Anleitung oder auch nur die nicht mehr apriorischen, sondern empirischen Voraussetzungen dazu. Trotzdem, wer seinen Geschmack oder seine Künstlerfähigkeit bilden will, findet keinerlei Hilfe. Das Schöne bleibt jedoch als interesseloses Wohlgefallen allgemeiner Natur und mutet allen Subjekten dasselbe Urteil zu.
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Als jene Lust der Reflexion, die man erlebt, wenn durch einen Natur- oder Kunstgegenstand die Einbildungskraft und der Verstand „unabsichtlich in Einstimmung versetzt“ werden (190), ist die zuständige Lust ungewöhnlich. Das Ästhetische hat jedenfalls eine auf den ersten Blick verstörende Eigenschaft; es ist allgemein und doch subjektiv. Dabei bezeichnet „subjektiv“ nicht, was nur auf das Angenehme zutrifft, ein Privaturteil, das von Subjekt zu Subjekt verschieden ist. Gemeint ist die wörtliche Bedeutung von „subjektiv“, nämlich „auf das Subjekt bezogen“, wobei das Subjekt ein im strengsten Sinn allgemeines ist. Die von Kant herausgearbeitete subjektive Allgemeinheit bedeutet nicht, daß etwas nur generell bzw. in der Regel der Fall ist. Sie meint kein „meistens, aber nicht immer“, sondern ein Immer, das zudem notwendig zutrifft. Obwohl nur subjektiv, liegt doch eine strenge Allgemeinheit vor. Der Grund kann daher nicht in der Erfahrung liegen, es braucht vielmehr eine erfahrungsfreie Lust, eben das von allem Interesse freie Wohlgefallen. Ohne Zweifel nimmt Kant in der Kritik der Urteilskraft weitere Revisionen vor. So verliert drittens die mathematische Physik den Rang, das exklusive Muster von Naturwissenschaft zu sein. Statt dessen schiebt sich die Erforschung der sich selbst organisierenden Natur, des Lebendigen, in den Vordergrund. Dabei reagiert Kant philosophisch auf den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Paradigmenwechsel, der an die Stelle der reduktionistisch mechanischen Betrachtung eine dem Gegenstand des Organischen sachgerechtere, teleologische setzt. Gleichwohl läßt er der mechanistischen Erklärung ein weitgehendes Recht. Darüber hinaus werden zwei nicht-naturwissenschaftliche Phänomene, das Schöne und das Erhabene, theoriefähig. Und während in der ersten Kritik der wissenschaftliche Blick auf die Natur den unbestrittenen Vorrang genießt, ist nach dem zweiten Teil der ästhetischen Urteilskraft, genauer: der „Analytik des Erhabenen“, die Natur mit den Augen nicht des Wissenschaftlers, sondern eines Dichters anzusehen (270). Die vierte Revision findet wieder gegenüber dem vorkritischen Kant, dem Verfasser der Schriften zum Lissabonner Erdbeben, statt. Dort heißt es, der Mensch solle sich nicht überschätzen (Erdbeben I 419 ff.). Jetzt steigert Kant seine schon in der Moralphilosophie vertretene Hochschätzung des Menschen zur provokativen These, die Entwicklung der Natur sei auf die Hervorbringung des Menschen ausgerichtet. Darin könnte man eine Anmaßung des Menschen, zugleich einen Gattungsegoismus („speciesism“) sehen, der von einer mittlerweile schon als abstrus geltenden Arroganz zeuge. Ist Kant ein Denker von Vorgestern? Wer sich der Mühe unterzieht, die Behauptung genau zu verstehen, nimmt das gerade Gegenteil von Gattungs-
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egoismus wahr: keine (Selbst-)Privilegierung des Menschen, sondern eine hohe Verpflichtung. Die Natur sei auf die Ermöglichung von Moral und Sittlichkeit ausgerichtet, und dafür habe der Mensch die Aufgabe, dieser Anlage der Natur zur Wirklichkeit zu verhelfen. Nicht die Überschätzung des Menschen ist ungeheuerlich, sondern dessen Verpflichtung. Ob auch Kants Einschätzung der Physikotheologie eine Revision erfährt, zeigt sich erst, wenn man die entsprechenden Passagen aus der ersten und der dritten Kritik genau vergleicht. Auf den ersten Blick sieht es nicht nach Revision aus. Trotz der Destruktion aller theoretischen Gottesbeweise in der Kritik der reinen Vernunft, trotz auch der „Unmöglichkeit des physikotheologischen Beweises“ (so der Titel des zuständigen sechsten Abschnitts: B 648), nimmt Kant im „Kanon der reinen Vernunft“ zwar eine vorsichtige, ziemlich schwache Rehabilitierung vor (B 854 f.). In der Kritik der Urteilskraft dagegen wird die Physikotheologie eine „mißverstandene physische Teleologie“ genannt, was sich auf eine kompromißlos vollständige Ablehnung zu belaufen scheint. Aber derselbe Satz sieht die Physikotheologie „als Vorbereitung (Propädeutik) zur Theologie brauchbar“ an und verlangt die Ergänzung „eines anderweitigen Prinzips“ (442), das wie in der ersten Kritik ein moralisches Prinzip ist.
1.6 Teleologische Urteilskraft: Zweckmäßigkeit Die zweifellos fünfte Revision liegt der dritten und vierten Veränderung zugrunde: Schon die Kritik der reinen Vernunft ergänzt die übliche Kausalität, die Naturkausalität, um eine neue und zugleich ungewöhnliche Kausalität, die der Freiheit. In der Kritik der Urteilskraft bringt Kant eine dritte Kausalität ein. Er spricht bei der ersten Art von „mechanischen Gesetzen“ und bei der neuen Art von einer Kausalität „der Endursachen“ (z. B. 388). Um den Unterschied zu den Endursachen zu betonen, kann man bei den zwei vorher eingeführten Arten von Anfangsursachen sprechen, im einen Fall von naturalen und subhumanen, im anderen Fall von moralischen und humanen Anfangsursachen. Moralische Anfangsursachen sind freilich von besonderer Art. Das Vermögen für derartige Ursachen, der Wille, folgt einer „Kausalität nach Zwecken“ (220), so daß im Fall der Moral die Anfangs- und die Endursachen ineinandergreifen, was den Gedanken des Menschen als Endzweck ermöglicht. Generell handelt es sich bei der teleologischen Urteilskraft um eine objektive, das heißt bei Kant: in den Objekten selbst anzutreffende Zweckmäßigkeit. Die entsprechenden Objekte sind die Naturgegenstände, so
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daß Kant das zweckbezogene bzw. teleologische Denken dort einführt, wo es seit der frühen Neuzeit verpönt ist, in der Natur. Um Kant hier nicht voreilig zu kritisieren, ist auf drei Dinge zu achten: Erstens betrifft die frühneuzeitliche Kritik am Zweckdenken einen Forschungsbereich, in dem es auch für Kant keinen konstitutiven Platz hat, die Physik. In deren (transzendentaler) Theorie, sowohl in der Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena als auch in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften, spricht Kant dem teleologischen Denken jede konstitutive Bedeutung vollständig ab. Dagegen behauptet er sie für einen Forschungsbereich, den die frühneuzeitliche Naturforschung weitgehend stiefmütterlich behandelt, nämlich für die Biologie. Zweitens unternimmt Kant für das verpönte, teleologische Denken, für die Annahme von Endursachen, keine leichtfertige Rehabilitierung. Er führt zunächst zahlreiche Unterscheidungen ein, die zweierlei leisten. Zum einen wird die Sache der Zweckmäßigkeit plausibel gemacht, zum anderen wird der genaue Gegenstand der teleologischen Urteilskraft eingegrenzt. So gibt es neben der objektiven auch eine subjektive Zweckmäßigkeit. Im Rahmen der objektiven Zweckmäßigkeit steht als erstes die formalobjektive Zweckmäßigkeit beispielsweise von geometrischen Figuren zur Diskussion. Diese Figuren, zum Beispiel ein Kreis, eine Parabel oder eine Ellipse, lassen sich nämlich teils innerhalb der Geometrie, teils außerhalb, so in der Physik, für Zwecke einsetzen, die nicht im Begriff der betreffenden Figur enthalten sind. Als nächstes führt Kant die material-objektive Zweckmäßigkeit mit zwei Unterarten ein. Die eine liegt in der relativen objektiv-materialen Zweckmäßigkeit mit den zwei Unterarten, der Nutzbarkeit für den Menschen und die Zuträglichkeit für subhumane Wesen. Erst die andere Unterart, die absolute oder innere objektiv-materiale Zweckmäßigkeit von Gegenständen als Naturzwecken, bildet das Kernstück von Kants Teleologieerörterung. Die innere Zweckmäßigkeit liegt nun dort vor, wo ein Ding von sich selbst Ursache und Wirkung ist (370). Drittens und vor allem benennt Kant selber Schwierigkeiten, insbesondere eine Antinomie von „bloß mechanischem“ und „auch teleologischem Denken“. Und in der Auflösung dieser Antinomie räumt er der Teleologie nur ein bescheidenes Recht ein. Im Gegensatz zu einem anspruchsvolleren, für Kant: überschießenden Gebrauch darf man sich nicht anmaßen, das Naturgeschehen teleologisch zu „erklären“. Als Teil der reflektierenden, nicht der bestimmenden Urteilskraft tritt die Teleologie zum (Natur-) Kausaldenken lediglich ergänzend hinzu. Sie ist nur „ein Prinzip mehr“, um die Erscheinungen der Natur selbst dort unter Regeln zu bringen, wo die Kausalgesetze „nicht zulangen“ (360). Denn die „Befugnis“, alle Naturpro-
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dukte bloß kausal(-mechanisch) zu erklären, „ist an sich ganz unbeschränkt; aber das Vermögen damit allein auszulangen […] ist deutlich begrenzt“ (417). Infolgedessen ist die innere Zweckmäßigkeit keine Eigenschaft der betreffenden Naturdinge, sondern eine (freilich notwendige) Betrachtungsweise. Man könnte sagen, daß sie nicht im vollen Sinn objektiv, wohl aber quasiobjektiv ist. Schon bei der Kausalität aus Freiheit stellt sich die Frage, warum Kant hier von Kausalität und zusätzlich von Gesetzen spricht. Bei der Kausalität der Endursachen wiederholt sich die Frage und verdient dieselbe Antwort. Kant redet von Gesetzen, weil deren zweifache Eigentümlichkeit, die allgemeine Gültigkeit und der notwendige Zusammenhang, sich in beiden Bereichen, der (moralischen) Freiheit und der teleologischen Beurteilung lebendiger Prozesse, wiederfindet. Schließlich spricht er bei innerer Zweckmäßigkeit deshalb von Kausalität, weil auch deren Eigentümlichkeit gegeben ist: Die Endursache hat die lebendigen Prozesse zur Wirkung. Die Reichweite dieser Neuerung in Kants Werk, die Einführung einer finalen Kausalität, darf man nicht unterschätzen. Von verwandten Begriffen ist zwar schon vorher die Rede. So liest man in der Kritik der reinen Vernunft von einer „Endabsicht“ (KrV B 697 ff.; vgl. KrV B 826) und einem ‚letzten Zweck‘ (KrV B 825 ff.), von „Endzweck“ und von der „Bestimmung des Menschen“ (KrV B 868). Und ein ‚Zweck an sich‘ ist in der Grundlegung für eine der Formeln des kategorischen Imperativs wesentlich (IV 433 f.). Die Kausalität der Endursachen ist aber davon grundverschieden. Bei der Endabsicht geht es um die größte systematische Einheit des Weltganzen; nach dem letzten Zweck hat die Natur die menschliche Vernunft „eigentlich nur aufs Moralische gestellt“ (KrV B 829), womit die Zweckmäßigkeit die philosophische Moraltheologie der ersten Kritik vorbereitet, ein Lehrstück, das die zweite Kritik weiter ausbaut. Und der Gedanke des Menschen als Zweck an sich bekräftigt seitens des kategorischen Imperativs die letztlich moralische Orientierung der menschlichen Natur. Bei der Kausalität der Endursachen geht es dagegen als erstes um ein ganz gewöhnliches Naturphänomen, um das Lebendige, den Organismus, der der gewöhnlichen, mechanischen Naturkausalität unterworfen bleibt. Gleichwohl wird das Wesen des Organischen erst durch die neue Kausalität verständlich: Um Organismen als Organismen zu verstehen, muß man zusätzlich zur mechanischen Kausalität eine innere, den organischen Prozessen immanente Zweckmäßigkeit annehmen. Schon 35 Jahre vorher, in der Theorie des Himmels (1755), ahnt Kant naturwissenschaftliche Grenzen der mechanischen Kausalität. Denn er schreibt, „daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen,
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kurz, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einziges Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund werden wird“ (I 230). In der Kritik der Urteilskraft bekräftigt er diese These, jetzt am Beispiel des Grashalms (378, 400) und entdeckt den Grund dieser Grenze. Er liegt in dem der mechanischen Kausalität widersprechenden Begriff der Zweckmäßigkeit. Zusätzlich entwirft Kant eine gegenüber der mechanischen Kausalität neue und sie zugleich ergänzende Art, eben eine Kausalität nicht der Anfangs-, sondern der Endursachen. Die Kritik der Urteilskraft bleibt bei den gewöhnlichen Naturzwecken nicht stehen. In der „Methodenlehre“ stellt sich Kant der Frage aus der „Einleitung“, wie man mittels reflektierender Urteilskraft einen ‚durchgängigen Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung‘ (183), kurz: ein System der empirischen Erkenntnisse, gewinnen kann. Mit dieser spekulativen Frage verläßt man das enge Feld einer Theorie des Organischen und betritt den Bereich von System„konstruktion“, von Moralphilosophie und philosophischer Theologie. Mitlaufend geht es um eine Philosophie der Geschichte und der Kultur. Kant ist sich dessen bewußt, daß die neue Frage Gefahren in sich birgt, gleichwohl sei sie unter Vernunftgesichtspunkten unverzichtbar. Zunächst befaßt sich die „Methodenlehre“ aber noch mit teleologischen Elementen in der Biologie, mit deren Theorien über Entstehung und Fortpflanzung der Lebewesen. Kant bleibt hier seiner dezidiert bescheidenen Teleologie treu. Zum einen erklärt er, teleologische Urteile leisteten weniger als mechanische. Zum anderen stellt er die methodologische Maxime auf, man solle möglichst wenig über Natürliches hinausgehen. Erst im nächsten Schritt fragt er, ob man die einzelnen Erkenntnisse über bestimmte Gegenstände zu einem „Wissen“ der Natur als eines geordneten Ganzen, als eines Systems, verbinden kann. Die Antwort: Das ist dann, aber auch nur dann möglich, wenn man eine aufsteigende Reihe von Naturzwecken annimmt und für diese Reihe ein letztes Glied, das in einem Zweck besteht, der keines anderen Zweckes als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf. Es ist der Endzweck der gesamten Schöpfung, der, erklärt Kant, im Menschen liegt. Das bedeutet freilich nicht, die gesamte Natur sei lediglich ein Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Interessen. Im Gegensatz zu einer Instrumentalisierung der gesamten Natur mit gleichzeitiger „egoistischer“ Selbstprivilegierung der Gattung Mensch, gilt aber nicht der Mensch als solcher, sondern lediglich das Moralwesen als Endzweck. Infolgedessen gebührt auch jedem anderen vernünftigen Sinneswesen dieser Rang.
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Zugleich bleibt die andere Bescheidenheit gewahrt. Im Gegensatz zu einer anspruchsvolleren Tradition ist die Endzweck-These keine Tatsachenbehauptung, ohnehin ist sie keiner empirischen Prüfung zugänglich. Als eine Aussage der reflektierenden Urteilskraft entwirft sie eine Idee der Natur und der Stellung des Menschen in ihr. Der These einiger Paläontologen, der Mensch sei kein reiner Zufall der Evolution, würde Kant zustimmen, allerdings würde er sagen, die These gehöre zur reflektierenden, nur heuristisch relevanten und nicht zur erkenntnisfähigen, bestimmenden Urteilskraft. Wer nur die neueren Debatten kennt, übersieht den enormen Einfluß, den der zweite Teil der Kritik der Urteilskraft gewinnt. Kants Teleologie prägt nämlich die Naturphilosophie des Deutschen Idealismus und dessen Nachfolger, während heute Kants Teleologie fast nur noch ein akademisches Interesse findet. Dafür mitverantwortlich ist, daß sich die systematische Philosophie lange Zeit kaum mit dem Lebendigen befaßt hat. Und dort, wo es geschieht, nimmt der Hauptstrom der philosophischen Debatte kaum davon Kenntnis. In einer Zeit, in der die Lebenswissenschaften sich einer überragenden Bedeutung erfreuen, ist es aber geboten, für sie eine sachgerechte Philosophie zu entwickeln. Wer Kants Teleologie der heutigen Zeit gemäß zum Sprechen bringen kann, dürfte dafür einen wichtigen Beitrag leisten. Selbst bei dem Gedanken von moralischen Wesen als Endzweck der Natur ist das von der Vernunft gebotene Weiterfragen noch nicht zu seinem veritablen Ende gekommen. Denn noch ist die Frage nach der Ursache dafür offen, daß die Natur insgesamt zweckmäßig geordnet ist und daß dieser Ordnung wegen moralische Wesen existieren. Die Antwort besteht in einer Idee Gottes, die von jeder religiösen Offenbarung unabhängig ist. Die Kritik der Urteilskraft, die als Theorie des Schönen und Erhabenen beginnt und sich in der Theorie objektiver Zweckmäßigkeit fortsetzt, gipfelt in einer philosophischen, rein säkularen Theologie, dabei vor allem als Moraltheologie. Denn zur gesamten Zweckordnung in der Natur ist eine Ursache zu denken, was sich auf einen Beweis, freilich lediglich moralischen Beweis vom Dasein Gottes beläuft. Jeder Beweis aus der Natur wird als mißverstandene Teleologie verworfen, womit an die Stelle der sogenannten Physikotheologie die Moral- bzw. Ethikotheologie tritt. Auf diese zunächst überraschende und für viele anstößige Weise gelingt es der reflektierenden Urteilskraft am Ende, eine Einheit von Natur und Freiheit zu stiften. Sie besteht freilich nicht, wie man erwarten mag, in einer Vermittlung des Menschen als Naturwesen und dem Menschen als Moralwesen, wohl aber in einer übergeordneten Perspektive. Die Idee
Einführung in Kants KRITIK DER URTEILSKRAFT
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Gottes als oberster Ursache der zwei Reiche, des Reiches der Natur und des der Freiheit, verhindert, daß die theoretische und die praktische Vernunft auseinanderfallen. Genau darin, in einer mehr negativen Leistung, dem Verhindern eines Auseinanderfallens, besteht der spekulative Schlußstein der Kritik der Urteilskraft und zugleich der Schluß- und Höhepunkt der kritischen Philosophie Kants.
Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb 1750/58: Aesthetica, Frankfurt/O., Bd. 1/2; dt. Ästhetik, hrsg. v. D. Mirbach, Hamburg 2007, 2 Bde. Burke, Edmund 1757: A philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, London. Herder, Johann Gottfried 1769: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften, Erstes Wäldchen, Herrn Leßings Laokoon gewidmet, Riga; auch in: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. J. Brummack, M. Bollacher, Frankfurt/M. 1994, Bd. 2, 63–245. – 1778: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume in: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. J. Brummack, M. Bollacher, Frankfurt/M. 1994, Bd. 4, 243–326. Höffe, Otfried 1983: Immanuel Kant, München 72007. – 2003: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 42004. – 2006: Moral im Zeitalter der Naturwissenschaften: Eine häretische Einführung in Kants „Kritik der reinen Vernunft“, in: H. Lenk, R. Wiehl (Hrsg.), Kant Today – Kant aujourd’hui – Kant heute. Results of the IIP Conference, Actes des Entretiens de l’Institut International de Philosophie, Karlsruhe/Heidelberg 2004, Münster, 99–111. – 2007: Kosmopolitismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55, 179–191. Jahn, Ilse (Hrsg.) 1982: Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien, Hamburg 21985. Mendelssohn, Moses 1757: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste I.2, Leipzig, 231–268. – 1758: Betrachtungen über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste II.2, Leipzig 1758, 229– 267. Rilke, Rainer Maria: Archäischer Torso Apollos, in: Gedichte 1895 bis 1910, in: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hrsg. v. M. Engel, U. Fülleborn u. a., Darmstadt 1996, Bd. 1, 513. Schiller, Friedrich 1801: Über das Erhabene, in: Werke in drei Bänden, hrsg. v. H. G. Göpfert, München 1966, Bd. 2, 608–618.
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Kant über das Prinzip der Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie (Einleitung I–V)
Bereits 1781 im „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ in der Kritik der reinen Vernunft verkündet Kant zum ersten Mal, daß er dort die „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft […] übernehmen“ wolle (KrV B 698). Fünf Jahre später folgt dann dennoch auf die erste eine zweite Kritik, die als praktische die erste – dem Kanonkapitel zum Trotz – in ein ausschließlich theoretisches Geschäft verwandelt. Auch in der zweiten Kritik trägt Kant sich mit Abschlußgedanken: Freiheit als Autonomie solle den „Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen […] Vernunft“ ausmachen (167; V 3). Kurz nach der Vollendung der zweiten Kritik erklärt er dann in einem Schreiben an Reinhold, daß er auf apriorische Prinzipien der Urteilskraft (UK) gestoßen sei, von denen er noch bis dahin geglaubt habe, sie würden sich niemals finden lassen (X 514 f.; s. auch KrV B 35). Es ist die Neuentdeckung dieser Prinzipien, die ihn dann 1790 zur Niederschrift einer dritten Kritik veranlassen (s. dazu Förster 2000). Nun geht es Kant nach seinem eigenen Bekunden in diesen drei Schriften nicht um drei Projekte, sondern um dasselbe Projekt, nämlich eine „Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt“ (176, s. dazu Brandt 2007, Kap. 10), von der jede dieser Schriften einen besonderen Teil ausmachen soll. In der „Vorrede“ und „Einleitung“ zur dritten Kritik ist Kant daher bemüht, das Verhältnis dieser Teile verständlich zu machen. Nach einer verbreiteten Meinung habe Kant geglaubt, mit der Kritik der Urteilskraft eine „Lücke“ im System schließen zu können (z. B. Allison 2001). Tatsächlich sagt er in der „Vorrede“, daß eine Kritik der reinen Vernunft „unvollständig“ wäre, wenn nicht die Prinzipien der UK „als ein besonderer Teil derselben abgehandelt würde[n]“. Er sagt aber auch, daß in einem „System der reinen Philosophie“ diese Prinzipien „keinen besonde-
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ren Teil zwischen der theoretischen und praktischen [Philosophie] ausmachen dürfen“. Vielmehr sollen sie dem theoretischen und praktischen Teil der Philosophie „gelegentlich angeschlossen“ werden (168, Herv. J. B.). Für dieses System, das Kant allgemein als „Metaphysik“ bezeichnet, ist die „Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt“ mit ihren drei Teilen nur eine „Propädeutik“ (KrV B 25). Kants Behauptung aus der Kritik der praktischen Vernunft mag also hingehen: Nicht die Einteilung der Metaphysik, sondern die Einteilung einer Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt und das Verhältnis ihrer Teile ist das zentrale Thema der „Einleitung“ zur Kritik der Urteilskraft. Den beiden „Angeln […] der Metaphysik“ (XX 311), der Idealität von Raum und Zeit und der Realität des Freiheitsbegriffs, wird nicht etwa durch die dritte Kritik noch eine dritte Angel hinzugefügt. Von einem „Schlußstein“ des kritischen (!) Gebäudes kann indes auch 1788 noch keine Rede sein. In der „Vorrede“ heißt es weiter, daß die Kritik der reinen Vernunft konstitutive Prinzipien des Verstandes, die zweite konstitutive Prinzipien der Vernunft habe etablieren können, eine Analyse der UK, die „in der Ordnung unserer Erkenntnisvermögen zwischen dem Verstande und der Vernunft ein Mittelglied ausmache“, hingegen noch ausstehe (168). Die Leitfrage der Kritik der Urteilskraft ist: „[O]b die Urteilskraft […] auch für sich Prinzipien a priori habe; ob diese konstitutiv oder bloß regulativ sind und ob sie dem Gefühle der Lust und Unlust, als dem Mittelglied zwischen dem Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen […] a priori die Regel gebe“ (ebd.). Kants Antwort, wir wissen es, fällt positiv aus: Die UK verfügt über ein Prinzip a priori; es ist regulativ und macht den Übergang von der Gesetzgebung des Verstandes auf die Gesetzgebung der Vernunft möglich. Diese Vermittlung ist nötig, weil sich Natur- und Freiheitsgesetze auf dieselben Gegenstände beziehen: Das Freiheitsgesetz schreibt uns ein Sollen vor, das, sofern es rechtmäßig in Anspruch genommen wird, auch verwirklichbar sein muß. Die empirische Welt, die durch Naturgesetze bestimmt wird, muß also zugleich nach Moralgesetzen eingerichtet werden können. Wie eine Vermittlung zwischen beiden konstitutiven Gesetzgebungen der Kritik der reinen Vernunft und Kritik der praktischen Vernunft möglich ist, ist nach Auskunft der „Einleitung“ das Grundproblem der Kritik der Urteilskraft. Nun erörtert Kant diese Vermittlungsfunktion in der „Einleitung“ zur Kritik der Urteilskraft explizit und eingehend und kommt im Haupttext kaum wieder darauf zurück. Deshalb scheint es so, als wäre die „Einleitung“ von außerordentlicher Bedeutung für das Unternehmen einer „Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt“ (176). „Scheint“, weil sich im
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Anschluß an Schopenhauer eine Tradition entwickelt hat, die dieser Schrift diese Funktion abspricht: Die Kritik der Urteilskraft vereinige unter sich zwei „heterogene Gegenstände“, eine Theorie der Kunst und eine Theorie des Organismus. Beide Gegenstände werden nach einem „gewaltsam angepaßten Zuschnitt“ in einem Buch vereinigt (Schopenhauer 1819/1966, II 630). August Stadler behauptet – und ein Großteil der Neukantianer ist ihm darin gefolgt –, daß Kant mit der „Einleitung“ von der eigentlichen Hauptsache dieser Schrift nur ablenke. Der „absolute Wert“ der Kritik der Urteilskraft bestehe in ihren Ergebnissen auf dem Gebiet der „Ästhethik“ und der „Erkenntnistheorie“ (Stadler 1874, 26; Odebrecht 1930; Beck 1969). Im Gegenzug dazu hat Wolfgang Bartuschat den Versuch unternommen, die Kritik der Urteilskraft für das Projekt einer „Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt“ als systematisch notwendig auszuweisen (Bartuschat 1972). Dieser Untersuchung liegt die richtige Voraussetzung zugrunde, daß die Notwendigkeit eines Übergangs von der Naturgesetzgebung auf die Freiheitsgesetzgebung nicht nur aus den programmatischen Erklärungen der „Einleitung“ zur Kritik der Urteilskraft, sondern aus den Texten der Kritik der reinen Vernunft und Kritik der praktischen Vernunft heraus bewiesen werden muß. Als besonders problematisch erweist sich dabei das Verhältnis zwischen dem transzendentalen Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft (RUK) und dem hypothetischen Vernunftgebrauch (HVG), so wie Kant ihn in den beiden Schlußkapiteln der „Dialektik“ in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt hatte (vgl. KrV B 675). Die Schwierigkeit besteht darin zu zeigen, worin genau der Unterschied zwischen dem regulativen Vernunftgebrauch und dem regulativen Prinzip der RUK besteht. Diese Schwierigkeit wird auch dadurch offenkundig, daß Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft durch den HVG die Prinzipien der Homogenität und Kontinuität transzendental begründet und scheinbar selbst gegen das Sparsamkeitsprinzip verstößt, wenn er dieselben Prinzipien dann noch einmal in der „Einleitung“ zur Kritik der Urteilskraft aus dem Zweckmäßigkeitsprinzip der RUK deduziert. Damit nicht genug: Es ist gerade der HVG, der Kant in der Kritik der reinen Vernunft auf ein regulatives „Prinzip der systematischen und zweckmäßigen Einheit [der Natur] nach allgemeinen Naturgesetzen“ führt (KrV B 727, Herv. J. B.; zur Zweckmäßigkeit in der KrV s. Brandt 1989, 180 ff.). Das Problem des Verhältnisses zwischen RUK und HVG ist ungelöst (Mertens 1975 in Reaktion auf Bartuschat 1972, Brandt 1989 in Reaktion auf Horstmann 1989; s. a. Düsing 1968, 51–65; Förster 2000, 8–11; Frank/ Zanetti 2001, 1173–1183). Es läßt sich auf die Fragestellung zuspitzen,
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warum es überhaupt noch eine transzendentale Deduktion des Prinzips der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft geben muß. Daraus ergibt sich dann die zweite systematische Frage, nämlich ob die Kritik der Urteilskraft sich prinzipiell in den „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft eingliedern ließe. Wäre der HVG allein hinreichend, dann wäre Kant der Brückenschlag von Natur- zur Freiheitsgesetzgebung bereits in der ersten Kritik möglich gewesen. Die dritte Kritik wäre allenfalls eine Ergänzung oder aber – wie es im Anschluß an Stadler versucht wurde – über ihren neuen Gegenstand zu definieren. Ich möchte hier zunächst die Prinzipien der Einteilung in theoretische und praktische Philosophie explizieren (2.1). Aus dieser Einteilung ergibt sich die Frage nach dem „Übergang“ der Gesetzgebungen, die beiden Teilen zugrunde liegen (2.2). Im Anschluß daran sollen zwei Analogien herausgearbeitet werden, mit denen Kant die Hypothese plausibel macht, daß eine Kritik der Urteilskraft den Übergang zwischen Naturbegriff und Freiheitsbegriff herstellen kann (2.3). Von dieser Hypothese ausgehend, wird dann das Prinzip der RUK exponiert werden (2.4). Den Mittel- und Höhepunkt der „Einleitung“ bildet die transzendentale Deduktion dieses Prinzips, die im letzten Abschnitt rekonstruiert werden soll. Von dort wird es schließlich möglich sein, das Verhältnis zwischen HVG und RUK und mit ihm den systematischen Ort der dritten Kritik genauer zu bestimmen. Meine These ist, daß es Kant durch die transzendentale Deduktion des Prinzips der RUK gelingt, den HVG zu fundieren (2.5).
2.1 Die Einteilung in theoretische und praktische Philosophie (Kommentar zu Abschnitt I) Kant setzt damit an, daß die Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische nur dann gerechtfertigt ist, wenn ein spezifischer Unterschied zwischen beiden Teilen besteht. Philosophie ist Vernunfterkenntnis. Die Einteilung in zwei Bereiche setzt also eine „Entgegensetzung“ der Prinzipien der Vernunfterkenntnis voraus. Nun sind nur die Naturbegriffe konstitutiv für die theoretische Erkenntnis, nur der Freiheitsbegriff konstitutiv für die praktische Erkenntnis. Wenn also die Einteilung der Philosophie sich auf den Naturbegriff und den Freiheitsbegriff gründet, sind beide Teile spezifisch unterschieden. Den theoretischen Teil der Philosophie nennt Kant auch „Naturphilosophie“, den praktischen „Moralphilosophie“ (171).
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Kants Einteilung der Philosophie wird, soweit ich sehe, von zwei Seiten attackiert: Erstens hat man Kant dafür kritisiert, daß er praktische Philosophie mit Moralphilosophie identifiziert. Die Identifikation von Freiheit als (praktischer) Autonomie und Handeln nach dem moralischen Gesetz, mache jede Rede von moralisch differentem Handeln unmöglich. Um diese absurde Konsequenz zu vermeiden, hätte Kant seiner Moraltheorie eine moralneutrale Handlungstheorie vorausgehen lassen müssen (Prauss 1983 im Anschluß an Reinhold). Kants Begründung für die Gleichsetzung von praktischer Philosophie und Moralphilosophie setzt bei einer Analyse der praktischen Grundsätze an. Praktische Grundsätze sind auf unseren Willen gerichtet. Der Wille ist als ein vernunftfähiges Kausalvermögen eine „Naturursache“ in der Welt und damit auf die Verwirklichung des gewünschten Objekts gerichtet. Der Bestimmungsgrund des menschlichen Willens ist nicht etwa ein „Mechanismus“ wie bei der „leblosen Materie“ oder ein „Instinkt“ wie bei den „Tieren“, sondern ein „Begriff“ (172). Tiere und leblose Materie kommen in einem entscheidenden Punkt überein; ihre Ursächlichkeit wird „nicht durch Begriffe“ bestimmt. Dabei setzt Kant voraus, daß der Mechanismus und Instinkt einem Naturgesetz folgen. Sind also bestimmte Bedingungen gegeben, folgt die Wirkung notwendig nach einem Naturgesetz, das der „Kausalität […] die Regel gibt“ (ebd.). Diese physische Notwendigkeit ist von der praktischen Notwendigkeit unterschieden. Bei der praktischen Notwendigkeit ist es nicht ein Mechanismus oder ein Instinkt, und damit kein Naturgesetz, das „der Kausalität des Willens die Regel gibt“. Vielmehr wird der Wille durch einen Begriff zur Wirkung bestimmt. Jedoch nicht in der Weise, daß die Wirkung nicht hätte anders sein können, sondern so, daß die Wirkung als geboten vorgestellt wird. Mit seiner Definition des Begehrungsvermögens als einer Naturursache, die „nach Begriffen wirkt“, läßt Kant bewußt noch „unbestimmt“, ob dieser Begriff ein „Naturbegriff, oder ein Freiheitsbegriff sei“. Genau davon aber hängt es ab – und das ist Kants zentrale These –, ob wir zu einer spezifischen Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie berechtigt sind (ebd.). Ist der Begriff, der das Begehrungsvermögen zum Handeln bestimmt, ein Naturbegriff, „sind die Prinzipien technisch-praktisch (so bereits in IV 416 und V 26); ist er aber ein Freiheitsbegriff, so sind diese moralisch-praktisch“. Technisch-praktische Regeln sind nur „Korollarien zur theoretischen Philosophie“ (172). Unter „technisch-praktische Regeln“ subsumiert Kant an dieser Stelle ausdrücklich sowohl die Regeln der „Geschicklichkeit“ als
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auch die Ratschläge der „Klugheit“. Er hält also auch in der Kritik der Urteilskraft an der Dreiteilung der Imperative fest. Regeln der Geschicklichkeit richten sich auf partikulare Zweck-Mittel-Relationen, bei den Ratschlägen der Klugheit geht es um unser Leben als Ganzes, unsere Glückseligkeit (vgl. IV 416). Gemeinsam ist beiden Imperativen, daß sie nur unter der Voraussetzung eines gewollten Zweckes (hypothetisch) gebieten. Dabei werden sowohl die Mittel als auch der ursprüngliche Zweck des Willens durch Naturbegriffe bestimmt: die Mittel durch empirische Kausalgesetze, der ursprüngliche Zweck durch „Triebfedern der Natur“ (172). Hier setzt der zweite Einwand gegen Kants Einteilung der Philosophie an. Kant habe in der Kritik der Urteilskraft den hypothetischen Imperativen „den Charakter praktischer Sätze ganz zu nehmen“ versucht und sich damit zu Unrecht von seiner Theorie der Imperative aus den moralphilosophischen Grundlegungsschriften abgewendet (Patzig 1973, 215; Pollok 2007). Tatsächlich hat Kant nicht nur bereits in seinen moralphilosophischen Grundlegungsschriften um den deskriptiven Anteil dieser Sätze gewußt (V 26), er bezeichnet sie auch in der Kritik der Urteilskraft noch ausdrücklich als praktische Sätze. Warum nennt Kant die technischen Regeln dennoch praktisch? Weil das theoretische Wissen um eine Kausalbeziehung in eine Regel eingebettet ist, die ein Wollen voraussetzt. Auch wenn diese Regeln nicht zur praktischen Philosophie als Doktrin gezählt werden können, weil praktische Vernunft allein nicht konstitutiv für diese Regeln ist, sind es dennoch praktische Regeln, weil sie sich auf unseren Willen als ein begriffliches Kausalvermögen beziehen. Für „alle technisch-praktischen Regeln“ gilt, daß sie nur „Korollarien zur theoretischen Philosophie“ sind. Dazu zählt Kant auch jene Regeln, die traditionell zum Kernbereich der praktischen Philosophie gehörten: (i) Regeln von der „Kunst des Umgangs“, (ii) der „Vorschrift der Diätetik“, (iii) der „allgemeinen Glückseligkeitslehre“ und (iv) Regeln von der „Bezähmung der Neigungen und Bändigung der Affekten“ (173, Herv. J. B.). Kant hat in der Kritik der praktischen Vernunft sämtliche Ethiken vor ihm auf einen Naturbegriff reduziert und mit dem Heteronomie-Verdikt belegt. Im Grunde muß er auch noch soweit gehen zu behaupten, daß es ihm überhaupt als Erstem gelingt, eine praktische Philosophie sui generis zu begründen. Kants Argument für die Einteilung der Philosophie ist also in Kürze dieses: Er setzt voraus, daß die Einteilung der Philosophie auf kategorial verschiedenen Prinzipien beruhen muß. Er beweist dann in einem zweiten Schritt, daß technische Regeln durch Naturprinzipien, moralische Regeln dagegen durch Freiheitsprinzipien erkannt werden. Aus beiden Schrit-
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ten folgert er drittens, daß moralische und technische Regeln nicht zum selben Teil der Philosophie gehören. Weil theoretische Philosophie auf dem Naturbegriff gründet, praktische auf dem Freiheitsbegriff, darf Kant schließen, daß technische Regeln aus der theoretischen Philosophie folgen, moralische dagegen zur praktischen Philosophie gehören.
2.2 Die Frage nach dem Übergang von theoretischer und praktischer Philosophie (Kommentar zu Abschnitt II) Auf die Einteilung folgt das Problem des Verhältnisses der beiden Teile. Kant bereitet so die Frage nach der Einheit der Teile und mit ihr die Ortsbestimmung der Kritik der Urteilskraft im System der Philosophie vor. Um das Problem des Verhältnisses genauer verorten zu können, teilt Kant „den Inbegriff der Gegenstände“ in drei aufeinander aufbauende Bereiche ein. Das Kriterium der Einteilung ist dabei die „Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit unserer Vermögen“ zur Erkenntnis der Gegenstände (174). Kant bedient sich dabei der Metaphern von „Feld“, „Boden (territorium)“ und „Gebiet (ditio)“. Begriffe haben ein Feld, wenn sie „auf Gegenstände bezogen werden, unangesehen ob ein Erkenntnis derselben möglich sei oder nicht“. Wenn von der Erkenntnismöglichkeit des Begriffes abstrahiert wird, ist die logische Möglichkeit (Widerspruchsfreiheit) das einzige Kriterium für die Gültigkeit der Begriffe. Der Boden eines Begriffes ist „[d]er Teil dieses Feldes, worin für uns Erkenntnis möglich ist“ und ist deshalb der „Inbegriff der Gegenstände aller möglichen Erfahrung“. Das „Gebiet“ bezeichnet den Teil des Bodens, in bezug auf den Begriffe gesetzgebend sind. Damit sind die transzendentalen Naturgesetze und das Moralgesetz angesprochen. Ein „Gebiet zu haben“ muß im Sinne von „ditio“ verstanden werden und heißt, Herrscher oder Gesetzgeber zu sein. Naturbegriff und Freiheitsbegriff sind in bezug auf den Boden der möglichen Erfahrung gesetzgebend. Kant bezieht nun die Einteilung der Philosophie aus Abschnitt I auf diese Einteilung der Gegenständlichkeit. Die Philosophie hat zwei Gebiete, den Natur- und den Freiheitsbegriff. Die Gesetze beziehen sich aber auf denselben „Boden“, nämlich den „Inbegriff der Gegenstände aller möglichen Erfahrung“ (Erscheinungen), denn nur in bezug auf die Erscheinungen konnte Kant die objektive Realität der theoretischen Gesetze als „Gesetzgebung des Verstandes“ etablieren (ebd.).
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Die transzendentalen Naturgesetze verhelfen uns zu einer Erkenntnis der Welt, wie sie ist, das Moralgesetz schreibt uns vor, wie die Welt sein soll. Beiden Gesetzgebungen aber ist gemeinsam, daß sie sich auf dieselbe Welt der Erscheinungen beziehen. Das Moralgesetz richtet sich mit seinem Gebot an Wesen, deren Handlungen Erscheinungen in der Sinnenwelt sind. „Sollen“ impliziert „Können“ und also muß das moralisch Gebotene auch möglich, und das bedeutet, in der Welt der Erscheinungen verwirk lichbar sein (KrV B 562; V 30; VI 380, 383). Damit ist die Frage nach dem „Übergang“ zwischen Natur- und Freiheitsbegriff vorbereitet. Naturbegriff und Freiheitsbegriff mit ihren divergierenden Gesetzgebungen beziehen sich auf denselben Boden, „ohne daß eine der anderen Eintrag tun darf“. Die eine Gesetzgebung darf die Gültigkeit der anderen nicht einschränken. Dennoch schränken sich beide Gesetzgebungen hinsichtlich „ihre[r] Wirkungen in der Sinnenwelt unaufhörlich ein“ (175). Wie können dieselben Erscheinungen unter Freiheitsgesetzen und zugleich unter Naturgesetzen stehen? Kant verweist in diesem Zusammenhang explizit auf die Kritik der reinen Vernunft (ebd.). Dort hatte er im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie gezeigt, wie beide Gesetzgebungen zugleich „ohne Widerspruch zu denken“ sind und den scheinbar kontradiktorischen Widerspruch in einen subkonträren Gegensatz überführt (KrV B 558 f.; zum Thema s. Bojanowski 2006). Kant behauptet nun, daß die zwei Gebiete der Philosophie „nicht Eines ausmachen“ und also nicht aufeinander zu reduzieren sind. Deshalb muß es so scheinen „als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann“. Gegen diese Form einer Zwei-WeltenTheorie wendet sich Kant hier ausdrücklich: Das Moralgesetz „soll doch [auf die Sinnenwelt] einen Einfluß haben“ (176, Herv. J. B.). Die Frage ist also, wie die „unübersehbare Kluft“ zwischen dem Naturbegriff und dem Freiheitsbegriff überbrückt werden kann. Entscheidend für die Überwindung der Kluft ist, daß nicht nur der Freiheitsbegriff, sondern auch der Naturbegriff ein „Feld des Übersinnlichen“ voraussetzt: Wir müssen für die Einheit der Erfahrung notwendig eine durchgängige Bestimmung nach dem Naturbegriff annehmen, die sich in der sinnlichen Anschauung prinzipiell nicht verwirklichen läßt, weil immer nur ein Glied der Reihe und nie die ganze Ursachenkette gegeben ist. Im folgenden will Kant zeigen, daß das regulative Prinzip der RUK den „Grund der Einheit des Übersinnlichen“ enthält und damit den „Übergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen zu der nach Prinzipien der anderen möglich macht“ (ebd.).
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2.3 Die Kritik der Urteilskraft als Verbindung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie (Kommentar zu Abschnitt III) Kant beweist die einheitsstiftende Funktion der UK nicht direkt. Es soll zunächst nur anhand von Analogien die Hypothese plausibel gemacht werden, daß die Kritik der Urteilskraft als ein „Verbindungsmittel“ zwischen den beiden Teilen der Philosophie fungieren kann. „Verbindung“ darf nicht als eine Reduktion beider Teile auf dieselben Prinzipien verstanden werden. Darauf zielt auch die Unterscheidung zwischen „Kritik“ und „Doktrin“. Eine „Kritik“ hat selbst kein Gebiet. Ein Gebiet zu haben heißt, gesetzgebend zu sein. Die „Kritik“ richtet sich „auf alle Anmaßungen“ der Vernunft, „um sie in die Grenzen ihrer Rechtmäßigkeit zu setzen“ (176). In einer „Doktrin“ dagegen werden die Prinzipien positiv bestimmt. Die Grundsätze des reinen Verstandes und der Grundsatz der praktischen Philosophie sind in diesem Sinne doktrinal. Hätte nun auch die Kritik der Urteilskraft ihre Doktrin und sollte zugleich als „Verbindungsmittel“ zwischen theoretischer und praktischer Philosophie fungieren, wären theoretische und praktische Philosophie letztlich wieder auf dieselben Prinzipien zurückführbar und eine spezifische Einteilung ungerechtfertigt. Kant will nun mit den Analogien darauf hinaus, daß das Prinzip der RUK kein Gebiet hat, also nicht zur Doktrin gehört, es vielmehr den Gebieten der Philosophie vorgeordnet werden muß und damit dennoch einen „Hauptteil“ der „Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt“ ausmacht (176). Die erste Analogie zielt darauf ab, der UK eigene apriorische Prinzipien zuzuschreiben. Die UK gehört ebenso wie der Verstand und die Vernunft zur „Familie der oberen Erkenntnisvermögen“. Verstand und Vernunft sind beide a priori gesetzgebend. Wäre die Analogie vollkommen, müßte Kant sagen, daß auch die UK a priori gesetzgebend ist. Er schlägt aber zunächst den bescheideneren Weg ein; demnach hat man zumindest „Ursache […] nach der Analogie zu vermuten“, daß die UK „ein ihr eigenes Prinzip nach Gesetzen zu suchen“ hat, wenn es auch nur ein „subjektives“ Prinzip ist. Wäre die UK gesetzgebend wie Verstand und Vernunft, wäre (wie oben gezeigt wurde) die Einteilung in theoretische und praktische Philosophie hinfällig. Kant muß also nach einem „Verbindungsmittel“ suchen, das einen Prinzipiendualismus von theoretischer und praktischer Philosophie zuläßt (177). In der zweiten Analogie setzt Kant voraus, daß sich alle „Seelenvermögen“ letztlich auf drei Vermögen zurückführen lassen: (i) Erkenntnisver-
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mögen, (ii) Gefühl der Lust und Unlust und (iii) Begehrungsvermögen. Für das Erkenntnisvermögen ist der Verstand, für das Begehrungsvermögen die Vernunft a priori gesetzgebend. „Nun ist zwischen dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen das Gefühl der Lust“. Kant geht über die erste Analogie hinaus, indem er behauptet, daß die UK den Übergang zwischen Verstand und Vernunft herstellt. Genauer lautet die zweite Analogie: So wie die Lust die Verbindung zwischen dem Erkenntnisvermögen und dem Begehrungsvermögen herstellt, so steht die UK als „Verbindungsmittel“ zwischen dem Verstand und der Vernunft. Diese zweite Analogie ist „von noch größerer Wichtigkeit“, weil erst sie eine Antwort auf die zentrale Frage nach dem Einheitsgrund von theoretischer und praktischer Philosophie gibt (177). Wie stellt die Lust eine Verbindung von Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen her? Antwort: Indem die Lust es ermöglicht, daß wir Ursache von der Wirklichkeit der durch den Verstand vorgestellten Objekte werden. Damit schließt Kant die systematische Ortsbestimmung der Kritik der Urteilskraft vorläufig ab. Wir haben Grund zu der Annahme, daß der UK erstens ein eigenes apriorisches Prinzip zukommt und zweitens, daß sie zwischen beiden Teilen der Philosophie vermitteln kann. Als Kritik, und nicht etwa als Doktrin hat die UK kein eigenes Gebiet, so daß der Prinzipiendualismus von theoretischer und praktischer Philosophie bestehen bleiben kann. Diese Ortsbestimmung ist hypothetisch. Kant muß erst noch beweisen, daß die UK tatsächlich ihr eigenes „Prinzip hat nach Gesetzen zu suchen“. Bisher ist nur die Systemstelle angezeigt, die eine Kritik der Urteilskraft einnehmen könnte. Daß sie diese Systemstelle tatsächlich einnimmt, ist das Beweisziel der Kritik der Urteilskraft.
2.4 Exposition des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft (Kommentar zu den Abschnitten IV und V) Kant will nun positiv beweisen, daß der UK ein Prinzip a priori zukommt. Dabei führt er zunächst die bekannte Unterscheidung von bestimmender Urteilskraft (BUK) und RUK ein. Seine grundlegende Behauptung ist, daß nicht die bestimmende, sondern nur die reflektierende UK über ein Prinzip a priori verfügt, das sie sich selbst vorschreibt. Die „Analytik“ der Kritik der reinen Vernunft hatte ergeben, daß die „Urteilskraft unter allgemeinen transzendentalen Gesetzen […] nur subsumierend“ ist. Die transzendentalen Naturgesetze, die Kant dort etabliert hatte, sind Bedingungen der Möglichkeit jeder Naturerfahrung. Insofern muß alles „Besondere“ der
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Naturerfahrung unter diesen allgemeinen Naturgesetzen stehen. Doch diese Gesetze, „die der Verstand gibt, [sind] ihr a priori vorgezeichnet und sie hat also nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können“. Die UK ist also hier nicht selbst gesetzgebend, sondern der Verstand gibt ihr die Regel der Subsumtion an (179). Mit der Bestimmung der transzendentalen Naturgesetze ist aber der transzendentale Gebrauch der UK noch nicht erschöpft: Es gibt nämlich „so mannigfaltige Formen der Natur“, die durch die transzendentalen Naturgesetze „unbestimmt gelassen“ werden. Die „mannigfaltigen Formen“ werden unbestimmt gelassen, weil die transzendentalen Naturgesetze nur „auf die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstand der Sinne) überhaupt gehen“. Die transzendentalen Naturgesetze stellen also nur die Einheit der sinnlichen Natur im allgemeinen und nicht im besonderen her (ebd.). Die „mannigfaltigen Formen“ der Natur werden unter „empirische Gesetze“ gebracht. Als empirische Gesetze sind sie „nach unserer Verstandeseinsicht zufällig“. Der Begriff des Gesetzes impliziert jedoch Notwendigkeit. Deshalb müssen die empirischen Gesetze, wenn sie ihrem Namen gerecht werden sollen, „aus einem, wenn gleich uns unbekannten, Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen als notwendig angesehen werden“. Es geht in der Kritik der Urteilskraft also nicht etwa um die Beurteilung des Verhältnisses der transzendentalen Naturgesetze zu empirischen Gesetzen, sondern um das Verhältnis der speziellen empirischen Gesetze zu „gleichfalls empirischen, aber höheren Prinzipien“. Nur wenn diese nach einem apriorischen (notwendigen) Prinzip der RUK gedacht werden, sind wir berechtigt, sie ‚Gesetze‘ zu nennen (180). Das Prinzip der RUK lautet: Die besonderen empirischen Naturgesetze müssen so betrachtet werden, „als ob […] ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen […] gegeben hätte“ (ebd.). Drei Aspekte gilt es an dieser Definition hervorzuheben: Zum einen sagt Kant, daß diese Gesetze so gedacht werden, als würden sie von einem nicht-menschlichen, unendlichen Verstand systematisch organisiert und gegeben werden (Aspekt der nicht-menschlichen Verstandesschöpfung). Zum anderen organisiert der schöpferische Verstand die empirischen Naturgesetze „zum Behuf“ unseres Erkenntnisvermögens; sie werden also so gedacht, als ob sie unserem Erkenntnisvermögen angemessen sind und unser Verstand so eingerichtet ist, daß er sie erkennen kann (teleologischer Aspekt). Schließlich schränkt Kant mit dem „als ob“ das Prinzip auf ein regulatives Prinzip ohne Wahrheitswert ein (Geltungsaspekt). Dieses Gesetz hat nur subjektive Gültigkeit und ist nur eine „Maxime“, wie Kant
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später sagen wird (184). Es wird damit also nicht etwas über die tatsächliche Verfassung der Welt in Anspruch genommen, sondern nur eine Regel der Reflexion über die Welt angegeben. Zugleich ist aber erst durch die Anwendung dieses regulativen Prinzips „ein System der Erfahrung nach besonderen Gesetzen möglich“ (180). Kant bezeichnet dieses Prinzip der RUK als das „Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“. Wenn dieses Prinzip zum einen ein Prinzip a priori, und zum anderen ein regulatives Prinzip ist, so folgt daraus für seine Herkunft und Anwendung, daß die UK es erstens nicht „von der Erfahrung entlehnen“ und zweitens nicht „der Natur vorschreiben“ kann. Sie kann es nicht „von der Erfahrung entlehnen“, weil das Prinzip gerade die „Möglichkeit der systematischen Unterordnung“ der empirischen Naturgesetze begründen soll und daher selbst nicht wiederum ein empirisches Prinzip sein kann. Sie kann es nicht „der Natur vorschreiben“, weil die Reflexion der Urteilskraft über die Gesetze sich nach der Natur richtet und nicht „nach den Bedingungen […], nach welchen wir einen in Ansehung dieser ganz zufälligen Begriff von ihr erwerben“ (ebd.). Die transzendentalen Naturgesetze der Kritik der reinen Vernunft waren Gesetze, die der Verstand der Natur vorschreibt (KrV B 159, B 163; IV 320). Doch hier geht es um das Verhältnis der empirischen Naturgesetze zueinander. Dieses Verhältnis kann nicht durch die UK a priori bestimmt werden. Vielmehr gibt sie sich nur selbst ein Prinzip, nach dem die Einheit der empirischen Gesetze untereinander hergestellt werden kann. Damit ist die UK aber nicht selbst gesetzgebend in bezug auf die Natur, sondern nur in bezug auf ihre Reflexionsart über die Natur. Deshalb sagt Kant, daß die UK ihre Prinzipien „nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene“ vorschreibt. Autonomie wird hier zum ersten Mal in den veröffentlichten Schriften in theoretischer Hinsicht gebraucht (185). Dabei darf man aber den zentralen Unterschied zur praktischen Autonomie nicht aus den Augen verlieren: Der Verstand in theoretischer Anwendung erkennt „für sich selbst gar nichts“, die praktische Vernunft dagegen ist „für sich selbst praktisch“ und bringt den Gegenstand des Willens und mit ihm auch zugleich die „Triebfeder“ zur Handlung, die „Achtung vor dem Gesetz“, selbsttätig hervor. Die praktische Vernunft ist damit eine Ursache in der Welt, weshalb sich nur von ihr aus das Problem der Erstursächlichkeit überhaupt stellt (s. dazu Bojanowski 2006).
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2.5 Deduktion des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft (Kommentar zu den Abschnitten IV und V) Nachdem Kant das Prinzip der UK als Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur exponiert hat, muß er es als ein transzendentales Prinzip deduzieren. Ein transzendentales Prinzip gibt eine „allgemeine Bedingung a priori [an], unter der allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können“ (181). Mit dem Sparsamkeitsprinzip, dem Kontinuitätsprinzip und dem Einheitsprinzip zählt Kant zunächst drei „Maximen“ der Naturforschung auf, aus denen „offenbar“ das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur „hervorleuchtet“, weil alle drei Prinzipien voraussetzen, daß die Natur den Systematizitätsprinzipien des Verstandes entsprechend organisiert ist. Die Notwendigkeit dieser Prinzipien läßt sich „nicht aus Begriffen dartun“. Das Sparsamkeitsprinzip lautet: „Die Natur nimmt den kürzesten Weg“. Dieses Prinzip können wir weder analytisch aus dem Begriff der Natur noch aus der Erfahrung ableiten. Was für das Sparsamkeitsprinzip gilt, gilt auch für die beiden übrigen: Sie sind synthetische Sätze a priori und gehören damit zu jener Art von Sätzen, von denen Kant in der Kritik der reinen Vernunft gezeigt hatte, daß sie einer transzendentalen Deduktion bedürfen. Als Maximen, die uns vorschreiben, „wie geurteilt werden soll“, sind es normative Sätze, und weil das Normative sich für Kant nicht naturalisieren läßt, kann ihr „Ursprung“ nicht „psychologisch“, das heißt empirisch erklärt werden (182 f.). Eine transzendentale Deduktion muß daher die Prinzipien als notwendig und nicht empirisch zufällig ausweisen (KrV B 119). Kant argumentiert nun zunächst für die Notwendigkeit der allgemeinen transzendentalen Naturgesetze. Ohne sie könnte „Natur überhaupt (als Gegenstand der Sinne) nicht gedacht werden“. Die UK ist in bezug auf diese Gesetze nur „bestimmend“ und nicht reflektierend. Ein Beispiel dafür ist der transzendentale Grundsatz der Kausalität: In bezug auf den Grundsatz, „[a]lle Veränderung hat ihre Ursache“, kommt der BUK die Aufgabe zu, die „Bedingung der Subsumtion […] a priori anzugeben“. Diese Bedingung ist im Fall des transzendentalen Grundsatzes der Kausalität die „Sukzession der Bestimmungen eines und desselben Dinges“ (183). Ein Schiff, das zuerst oberhalb und später unterhalb der Strömung zu sehen ist, verändert seinen Zustand in der Zeit. Wenn hier von einer „Veränderung“ die Rede sein soll, dann muß es sich um eine objektive und nicht bloß subjektive Abfolge der Zustände handeln. Die Bedingung für
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eine objektive Abfolge ist, daß die Zeitfolge der Zustände unumkehrbar ist. Nur wenn eine unumkehrbare Zeitfolge der Zustände vorliegt, sind wir berechtigt, darauf zu schließen, daß auch eine Ursache vorliegen muß (KrV B 237). Diese „Bedingung der Subsumtion“ auszumachen ist die Aufgabe der transzendentalen UK als BUK (183). Dementsprechend hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft eine „Doktrin der Urteilskraft“ (KrV B 187) entwickelt. Nun sind die Gegenstände der Naturerfahrung aber nicht nur durch den allgemeinen transzendentalen Grundsatz der Kausalität bestimmt. Vielmehr können diese Gegenstände „noch auf unendlich mannigfaltige Weise Ursachen sein“. Damit steuert Kant unmittelbar auf die transzendentale Deduktion des Prinzips der Zweckmäßigkeit. Das Schiff, ein Baum oder auch eine Katze unterliegen als Erscheinungen alle demselben transzendentalen Grundsatz der Kausalität, ihr besonderes kausales Potential ist aber jeweils verschieden. Nun impliziert für Kant der Begriff der Ursache den Begriff des Gesetzes und der Begriff des Gesetzes den Begriff der Notwendigkeit. Daraus ergibt sich dann das folgende Dilemma: Zum einen können wir die Notwendigkeit der besonderen Kausalbeziehungen nicht a priori erkennen, weil es empirische Beziehungen sind. Zum anderen kann aber die Notwendigkeit auch empirisch nicht erkannt werden, weil Erfahrung prinzipiell keine Notwendigkeit lehrt. Gäbe es keinen Ausweg aus diesem Dilemma, dann müßten wir konstatieren, daß auch die Natureinheit als „System nach empirischen Gesetzen“ insgesamt zufällig ist. Der Ausweg aus dem Dilemma liegt in der Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Notwendigkeit: Kants entscheidende, kopernikanische Einsicht besteht darin, daß die Notwendigkeit der besonderen Naturgesetze und mit ihr die Einheit der Erfahrung als System der empirischen Gesetze nicht aus der Erfahrung gewonnen werden kann, sondern „eine solche Einheit notwendig vorausgesetzt […] werden muß, da sonst kein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung stattfinden würde“ (Herv. J. B.). Die UK muß es „für ihren eigenen Gebrauch […] als a priori annehmen, daß das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine […] denkbare gesetzliche Einheit […] zu einer an sich möglichen Erfahrung enthalte“. Die empirischen Gesetze selbst werden also „objektiv als zufällig erkannt“, aber die Notwendigkeit und mit ihr die Systematizität der besonderen Naturgesetze müssen wir voraussetzen, weil wir sonst keinen „Leitfaden“ hätten, nach dem wir die Mannigfaltigkeit in eine Ordnung bringen können (185). Durch das Prinzip der „Zweckmäßigkeit der Natur“ wird
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also „gar nichts dem Objekte (der Natur) beigelegt“. Vielmehr wird nur die „Art“ der „Reflexion“ angegeben. Gerade weil es nur ein regulatives Prinzip ist, versteht es sich nicht von selbst, sondern wir sind „erfreuet“, daß die systematische Einheit der empirischen Gesetze tatsächlich zustande kommt (184). Kant nennt dieses Gesetz, das die UK sich durch ihre Heautonomie selbst vorschreibt, das „Gesetz der Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze“. Es besagt, daß die Natur ihre Gesetze „nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen“ spezifiziert. Die Genese der empirischen Gesetze erfolgt nicht willkürlich, sondern nach Systematizitätsprinzipien, die unserem Erkenntnisvermögen angemessen sind (186). Ist diese Deduktion zirkulär? Kant scheint zu behaupten, daß die Natur nach dem Prinzip der systematischen Einheit beurteilt werden muß, damit sie nach dem Prinzip der systematischen Einheit beurteilt werden kann. Tatsächlich beweist Kant, daß ohne die Voraussetzung des Prinzips der Zweckmäßigkeit die Erkenntnis der besonderen Gesetze als Gesetze unmöglich wäre. Nun stellt sich aber in der empirischen Forschung heraus, daß wir auf der Grundlage dieser Maxime auch wirklich allgemeinere zu den besonderen Gesetzen finden. Das berechtigt uns freilich nicht, das regulative Prinzip in ein konstitutives zu verwandeln und die Zweckmäßigkeit der Welt positiv zu behaupten. Es berechtigt uns aber, an dieser Maxime als einem regulativen Prinzip festzuhalten. Das Gesetz der UK wird also (a) nicht wie die transzendentalen Naturgesetze der Natur vorgeschrieben, es wird aber auch (b) nicht durch „Beobachtung“ als ein empirisches Gesetz gewonnen. Statt dessen wird (c) nach diesem Gesetz „und den sich darauf gründenden Maximen [den] empirischen Gesetzen nach[ge]spürt“. Denn nur auf der Grundlage dieses Reflexionsprinzips können wir den Verstand in seinem empirischen Gebrauch anwenden und somit „Erkenntnis erwerben“ (ebd.). Als ein Prinzip a priori, das Erkenntnis ermöglicht, ist das Prinzip der RUK ein transzendentales Prinzip. Es ist aber nur transzendental „in Beziehung auf das Erkenntnisvermögen des Subjekts“. Die „Natur mag ihren allgemeinen Gesetzen nach eingerichtet sein, wie sie wolle“ (186). Diese transzendentale Deduktion kann nicht ausschließen, daß es sich sehr wohl „denken“ läßt, „daß ungeachtet aller Gleichförmigkeit der Naturdinge nach den allgemeinen Gesetzen […] die spezifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur […] dennoch so groß sein könnte, daß es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken“ (185). Damit wird es notwendig, zwischen einer objektiven
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und einer subjektiven Transzendentalphilosophie zu unterscheiden (vgl. XX 242). Die regulativen Ideen der Kritik der reinen Vernunft sind ebenso wie das Prinzip der Zweckmäßigkeit nicht Bedingungen der Möglichkeit der Objekte, sondern nur Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Objekte und gehören damit zur subjektiven Transzendentalphilosophie. Von hier aus ist es möglich, abschließend auf die eingangs aufgeworfene Frage zurückzukommen, wie sich das subjektive Prinzip der RUK zum HVG der Ideen verhält. Beim HVG haben wir es mit einem Syllogismus zu tun, in dem der Obersatz nur problematisch vorausgesetzt wird. Dieses problematische Prinzip ist eine Vernunftidee. Genauer sind es die Prinzipien der „Homogenität“, „Spezifikation“ und „Kontinuität“ (KrV B 686), die als „bloße Ideen zur Befolgung des empirischen Gebrauchs der Vernunft“ vorausgesetzt werden (KrV B 691). Nun werden „mehrere besondere [empirische] Fälle, die insgesamt gewiß sind, an der Regel versucht, ob sie daraus fließen“. Lassen sich tatsächlich die besonderen Fälle aus den vorausgesetzen Ideen erklären, „wird auf die Allgemeinheit der Regel […] geschlossen“ (KrV B 674). Von hier wird dann qua Induktion (logischer Gebrauch der RUK, vgl. IX 82 ff.) „auf alle Fälle, die auch an sich nicht gegeben sind, geschlossen“ (KrV B 675 f.). Auf diese Weise werden durch den HVG die problematischen Vernunftideen als regulative Forschungsprinzipien etabliert. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Prinzip der RUK und dem HVG besteht wohl darin, daß beim HVG das Prinzip der RUK implizit vorausgesetzt wird. Mit der problematischen Annahme des Obersatzes hat man bereits den Anspruch erhoben, daß unser Verstand der Welt gemäß eingerichtet und also zweckmäßig ist. Nun ist dieser Anspruch auch bereits in der Kritik der reinen Vernunft explizit: Der HVG führt auch dort auf ein regulatives „Prinzip der systematischen und zweckmäßigen Einheit [der Natur] nach allgemeinen Naturgesetzen“ (KrV B 727). Doch in der ersten Kritik werden lediglich die Ideen transzendental deduziert. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit ist weder selbst Gegenstand der Rechfertigung noch war Kant sich im klaren darüber, daß es sich dabei um ein apriorisches Prinzip der RUK handelt. Die Kritik der Urteilskraft revidiert damit nicht Kants transzendentale Deduktion der Vernunftideen. Vielmehr gelingt es Kant erst, durch die transzendentale Deduktion des Prinzips der RUK den HVG selbst zu begründen.
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Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur (Einleitung VI–IX)
3.1 Die Systemstelle der Kapitel VI–IX Kapitel VI–IX der „Einleitung“ behandeln Folgeprobleme der vorhergehenden Erörterungen, wie aus dem symmetrischen Bau sogleich einleuchtet: I–IV / V / VI–IX, kenntlich gemacht durch die Überschriften „Von – Von – Von – Von / Das Prinzip / Von – Von – Von – Von“. Das Kapitel V, das die Deduktion des Prinzips der formalen Zweckmäßigkeit der Natur als eines transzendentalen Prinzips der Urteilskraft bringt, bildet also das sichtbare Zentrum, I–IV führen auf das zentrale Prinzip und dessen Deduktion in V hin, danach werden in VI–IX die Konsequenzen erörtert (hierzu und zum Folgenden Brandt 2007, 393–496). Hat sich Kant hierbei von David Humes Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751, deutsch 1756) inspirieren lassen? Dort finden wir denselben symmetrischen Bau von neun Sektionen mit dem zentralen Thema der V. Sektion „Why utility pleases“, „Warum der Nutzen gefällt“; dann folgen Erörterungen, die die Konsequenzen der Synthesis von Nutzen und Lustgefühl in zwei Bereichen darlegen, dem eigenen Nutzen und dem anderer. Bei Kant wird die mit Lust begleitete Zweckmäßigkeit in VII im Hinblick auf die ästhetische Zweckmäßigkeit für uns, sodann in VIII die logische Zweckmäßigkeit von Naturdingen erörtert. Dem geht voran das VI. Kapitel, in dem der Erfolg der Absicht, in eine Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze Einheit zu bringen, mit einem Gefühl der Lust verbunden ist. Den Schluß bildet die Erörterung des Systemganzen der kritischen Philosophie. Wir stoßen also nicht nur auf dieselbe Bauform, sondern auch auf eine Verwandtschaft des Inhalts in der Mitte des Gedankens. – Kant gehört zu den Autoren, die nicht vergessen, was sie nicht vergessen wollen;
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Humes Vermischte Schriften (1754–1756) spielten eine wichtige Rolle in der Umbruchsituation der ersten Hälfte der sechziger Jahre, und so ist gut möglich, daß er sich an die Humesche Moralphilosophie erinnerte, als er nach einer besseren Darstellungsform der schriftstellerisch mißlungenen sog. „Ersten Einleitung“ der Kritik der Urteilskraft suchte. Während die identische formale Anordnung und die inhaltliche Verwandtschaft der zentralen Aussage nicht zu leugnen sind, bleibt die Frage der Abhängigkeit von Hume, dem von Kant bewunderten Schriftsteller und Philosophen, vorerst eine bloße Vermutung. Das Mittelstück, das V. Kapitel, bringt die Deduktion (das quid juris) des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft und ist damit nicht nur das formale, sondern auch das gedankliche Zentrum. Man kann leicht verifizieren, daß auch in der Ästhetik die Frage des Rechtsanspruchs eines Urteils eine zentrale Rolle spielt; das Schönheitsurteil wird sowohl in der „Analytik“ der ästhetischen Urteilskraft deduziert (279–291) wie auch in der „Dialektik“ (339–346); vom Problem der Deduktion des Erhabenheitsurteils wird gehandelt (250, 10), und sodann gibt es eine Art Deduktion des teleologischen Urteils (372–376; das teleologische Urteil wird „berechtigt“, 376, 6 f.; s. auch 379, 8). (Ich folge auch hier einem Hinweis von Ulrike Santozki auf die formale Struktur; vgl. Brandt 2007. In der „Tugendlehre“ der Metaphysik der Sitten werden die „Ästhetische[n] Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt“ aufgezählt und erläutert: a) das moralische „Gefühl“, b) vom „Gewissen“, c) von der „Menschenliebe“, d) von der „Achtung“ (VI 399–403). Die Vierzahl besagt, daß Kant glaubt, über ein Prinzip der Vollständigkeit zu verfügen; die sichtbare Anordnung gibt dem moralischen Gefühl eine Sonderstellung; dem Leser ist damit die Aufgabe gestellt, beides zu erklären; eine isolierende Betrachtung mag für bestimmte Zwecke unumgänglich sein, die konstellative wird jedoch vom Text selbst gefordert.) Dieser Nachweis nimmt genau die Mittelposition der „Analytik der teleologischen Urteilskraft“ ein; man vergegenwärtige, wie dort der zentrale Gedanke wieder nicht nur diskursiv ausgeführt, sondern auch anschaulich gezeigt wird: Die §§ 62 bis 68 werden nach demselben Verfahren der Titelgestaltung geordnet in I–III, IV, V–VIII, „Von – Von – Von / Dinge als Naturzwecke sind organisierte Wesen / Von – Von – Von“. Das Mittelstück, § 65, bringt die eben genannte Berechtigung. – Kant handelt in der Kritik der Urteilskraft nicht vom Verhältnis dieser einzelnen Deduktionen zu der Deduktion in der „Einleitung“. Ist diese letztere ein unentbehrlicher Systemteil, der überraschend in der „Einleitung“ gebracht wird?
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Auf die zentrale Rolle der Deduktion als eines Nachweises der Rechtlichkeit ist besonders zu verweisen, weil seit der frühesten Rezeption der Kantischen Ästhetik und Teleologie bei Schiller, Friedrich Schlegel und im Deutschen Idealismus die Rechtsdimension der Urteilslehre der Kritik der Urteilskraft vergessen wurde und bis heute verdeckt blieb. Kant handelt in der Kritik der Urteilskraft weder vom Schönen und Erhabenen noch vom Zweckmäßigen in der Natur, sondern vom Rechtsanspruch unserer Urteile über diese Gegebenheiten. So wie die Kritik der reinen Vernunft durchgängig als juridischer Traktat („Gerichtshof“) von den Rechtsansprüchen des Verstandes und der Vernunft und den korrespondierenden notwendigen Erkenntnisurteilen handelt, so erörtert die Kritik der Urteilskraft die Frage, ob und wie wir zu den ästhetischen und teleologischen NotwendigkeitsUrteilen berechtigt sind. Es geht auch hier um die „justifying reasons“ der Urteile, die mit dem Anspruch der notwendigen Einstimmung (Geltung) auftreten. Ohne diesen Rechtsanspruch des Urteils würde die Kritik der Urteilskraft in sich kollabieren, wie interessant auch die inhaltlichen Ausführungen in anderer Hinsicht sein mögen. Beim ästhetischen Urteil läßt sich die Anmaßung gegenüber allen anderen, das einzelne Urteil als Votum in der „volonté générale esthétique“ zu teilen, in ein Verhältnis zu der Anmaßung eines Besitzanspruches des Mein und Dein gegenüber „allen anderen“ (VI 247, 4) setzen. Während die erste eine Aufforderung enthält, sich dem Votum als einem allgemein-gültigen anzuschließen und ergo dasselbe ästhetische Urteil zu fällen, ist der Besitzanspruch des Mein und Dein nicht inklusiv, sondern exklusiv: Alle anderen sollen in meine Anmaßung einstimmen und etwas als exklusiv Meines nicht ihrerseits in Besitz nehmen. Dem mittleren Erkenntnisvermögen der Urteilskraft ist innerhalb der Gemütsvermögen das Gefühl der Lust und Unlust gegenüber gestellt und zugeordnet (u. a. 198). Während in I–V der „Einleitung“ vom Urteilsvermögen gehandelt wurde, stellt VI in der Überschrift die parallele Erörterung des Gefühls in Aussicht: „Von der Verbindung des Gefühls mit dem Begriffe der Zweckmäßigkeit der Natur“ (186, 23 f.). Auf der nunmehr doppelten Basis von Urteilskraft und Gefühl wird in VII und VIII erst die ästhetische, dann die logische Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur angekündigt, wobei die Dopplung sowohl auf Baumgartens Aesthetica (versus „Logica“) als auch Kants eigene Kritik der reinen Vernunft mit ihrer Zweiheit von transzendentaler „Ästhetik“ und „Logik“ zurückgeht, aber auch die Dualität von Gefühl und Urteilskraft fortsetzt. Kap. VI erörtert das Gefühl und seine Beziehung zur Zweckmäßigkeit der Natur, also noch generell, weil vor der Aufspaltung in die beiden Teile der Kritik der
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Urteilskraft (Ästhetik, Logik), und nimmt damit die Härte in Kauf, daß das Gefühl auch für die Logik bzw. Teleologie relevant sein soll. Hierin liegt eine der Schwierigkeiten des Textes, denn in VII und VIII und in der näheren Ausführung der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ wird bei der Teleologie auf das Gefühl der Lust keine Rücksicht genommen, sondern im Gegenteil der Kontrast der Teleologie zur subjektiven Gefühls-Ästhetik herausgestellt, also: objektive Logik bzw. Teleologie statt subjektivem Gefühl beim Schönen und Erhabenen. In der Ästhetik wird die Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen subjektiv, in der Teleologie das Zwecksystem der Natur objektiv entwickelt. Das Abschlußkapitel IX stellt die Kritik der Urteilskraft in den übergreifenden Zusammenhang der nunmehr drei Kritiken und nimmt damit das Thema von I und II auf (Urteilskraft innerhalb der Erkenntniskräfte ohne Rekurs auf das Gefühl der Lust und Unlust). Die äußerliche Stoffanordnung im oben angegebenen Titel-Schema durchdringt die realen Ausführungen unterschiedlich stark; so wird sich zeigen, daß z. B. der Titel „Von der logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur“ (Kap. VIII) schlicht falsch ist, denn der Inhalt des Kapitels handelt in gleicher Weise von Ästhetik und Logik. Diese Spannung zwischen der Ankündigung im Titel und der wirklichen Ausführung vergrößert die Schwierigkeiten der Interpretation bis zur Unauflöslichkeit. Eine ähnliche Disparatheit in der schriftstellerischen und damit auch gedanklichen Durchführung läßt sich bei Hume nicht beobachten, es sei denn, daß Hume so in seine schöne klassizistische Architektur vernarrt war, daß er inhaltlich wichtige Stücke in den Hinterhof der „Appendix“ verwies.
3.2 Kap. VI: „Von der Verbindung des Gefühls der Lust mit dem Begriffe der Zweckmäßigkeit der Natur“ Zur erneuten Orientierung: Der Titel des Kapitels verbindet das subjektive Gefühl mit einem Begriff der Natur, genauer, der Zweckmäßigkeit der Natur, der der reflektierenden Urteilskraft entstammt. Das Kapitel selbst ist so aufgebaut, daß seine These zuerst in einem Syllogismus bewiesen (Absätze 1 f.), danach durch Erfahrung bestätigt (Absatz 3) und im Hinblick auf die Ungenauigkeit der Grenze eingeschränkt wird (Absatz 4). Der Syllogismus lautet ungefähr so: Die Natur tritt uns in vielfach diversifizierter Gesetzmäßigkeit entgegen, erweist sich jedoch als zweckmäßig für unsere Erkenntnisabsicht, Einheit im Mannigfaltigen der besonderen
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Naturgesetze aufzufinden. Nun ist das Erreichen von Absichten, auch wenn es sich um die Absicht der bloßen Erkenntnis handelt, mit Lust begleitet, die in diesem Fall a priori Geltung haben muß. Also ist die Erkenntnis des Zusammenhangs vielfältiger Naturgesetze durch die Urteilskraft a priori mit dem Gefühl der Lust verbunden. Das Kapitel ist äußerlich den beiden Sachgebieten der Ästhetik (Kap. VII) und der Teleologie (Kap. VIII) vorgeordnet und erhebt implizit den Anspruch, für beide zu gelten, zumal das im Titel genannte Gefühl der Lust und die Zweckhaftigkeit der Natur VII und VIII zu umfassen scheinen. In Wirklichkeit kann hiervon jedoch keine Rede sein, denn die Lust in VI beruht auf dem Erreichen einer Absicht der Erkenntnis, jede Absicht ist jedoch in der Ästhetik emphatisch ausgeschlossen, und die Erkenntnis von Naturzwecken durch die teleologische reflektierende Urteilskraft hat ihrerseits „nichts mit einem Gefühle der Lust an den Dingen, sondern mit dem Verstande in Beurteilung derselben zu tun“ (192, 29 ff.). Ästhetik und Teleologie negieren entsprechend auf ihre Weise die übergreifende Aussage von Kap. VI. Nun kann man VI jedoch nicht isolieren und als Entgleisung abschieben, denn erst in VIII wird „die Einteilung der Kritik der Urteilskraft in die der ästhetischen und teleologischen“ (193, 18 f.) vorgenommen, die wir schon in der Bauanalyse von VI–IX benutzt haben. VI liegt also, so läßt sich vermuten, in einer vorgeordneten Ebene, aus der sich die beiden Teile der Kritik der Urteilskraft erst ergeben. Ein Indiz dafür wäre, daß der Titel von VIII eine logische, nicht aber teleologische Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur ankündigt. Eine der Voraussetzungen, von denen Kant im Ausschlußverfahren Gebrauch macht, ist eine grundsätzliche Zweistufigkeit der äußeren Natur. Sie entspricht der früheren Zweistufigkeit in der Abfolge von Weltschöpfer der Materie und ihrer fundamentalen Gesetze einerseits und Weltbaumeister der zweckmäßigen Weltgestalt andererseits; Kant reformuliert diese Annahme der dogmatischen Theologie oder Metaphysik in seiner kritischen Philosophie als die Duplizität von Verstand und reflektierender Urteilskraft und weist die erste Ebene, die Natur überhaupt, der grundlegenden Gesetzlichkeit des Verstandes und der bestimmenden Urteilskraft zu, die zweite Ebene jedoch einer Zweckmäßigkeit der diversifizierten Natur für unser Erkenntnisvermögen der reflektierenden Urteilskraft. Einmal ergibt sich somit eine basale Ebene, in der der Verstand durch die Anschauungsformen und durch die Relationskategorien der Substanz, der Kausalität und Wechselwirkung die Natur gesetzlich bestimmt. Die Zeitrichtung, in der sich die zeitlich schematisierte Kausalität (causa efficiens) realisiert, ist so geartet, daß die Ursache auf dem Zeitpfeil der
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Wirkung vorhergeht, sie kann auf dieser Grundlage auch als simultan gedacht werden (die Kugel als Ursache der Delle im Kissen). Kant nennt diese kategoriale Kausalität in der Kritik der Urteilskraft die mechanische. Jede Naturerscheinung ist qua Gegenstand der menschlichen Erfahrung durch die vier Kategorien und Grundsätze bestimmt, wie in der Kritik der reinen Vernunft jedes Erkenntnisurteil durch die vier Titel der Urteilstafel bestimmt ist. Nun tritt uns die Natur nicht als pures Feld der Verstandesgesetze entgegen, sondern in einer zweiten Ordnung auf der Grundlage der ersten; in dieser zweiten Ordnung gibt es Regelmäßigkeiten, die nach unserer Erkenntnismöglichkeit in der basalen Ebene nicht festgelegt sind, sondern anders sein könnten und somit vorerst zufällig sind. Die basale Gesetzgebung des Verstandes ist also nicht die hinreichende, aber doch die notwendige Bestimmung der Natur. „Aber das Prinzip: alles, was wir als zu dieser Natur (Phaenomenon) gehörig und als Produkt derselben annehmen, auch nach mechanischen Gesetzen mit ihr verknüpft denken müssen, bleibt nichts desto weniger in seiner Kraft: weil ohne diese Art von Kausalität organisierte Wesen, als Zwecke der Natur, doch keine Naturprodukte sein würden“ (422, 14–19). Rückwärts gewandt wird man die Zweistufigkeit von Gott als Schöpfer und Baumeister in Erinnerung rufen, vorwärts gewandt die nicht umkehrbare Dopplung von basaler Hardware und vielfach variierbarer Software. Kants kritische Wende impliziert, daß sich die Zweistufigkeit nicht eindeutig im Gegenstand findet, sondern in den subjektiven Erkenntnisvermögen von Verstand und reflektierender Urteilskraft. Es ist gut nachvollziehbar, daß die basale Natur in der Kontrastierung als objektiv, die durch die reflektierende Urteilskraft organisierte Natur als subjektiv erscheint und so in der transzendentalen Ebene verbucht wird. Kapitel VI besagt: Wenn wir in dieser zweiten Naturordnung Zusammenhänge entdecken, so machen wir erstens Gebrauch von einer epistemischen Voraussetzung und antworten zweitens emotional mit dem Gefühl der Lust. Die epistemische Voraussetzung besagt, daß die zweite Naturordnung auf unser Erkenntnisvermögen zukomponiert ist, daß also die Natur selbst eine Einheit im Mannigfaltigen aufweist und sich dadurch als notwendig erkennbar zeigt. Die emotionale Reaktion verdankt sich der Erkenntnisabsicht, die erfüllt wird, und auf diese Erfüllung folgt ein Lustgefühl. Es fällt auf, daß Kant die Erkenntnisintention, Unterscheidungen im zunächst Ununterschiedenen zu treffen, nicht berücksichtigt, sondern nur die gegenläufige Absicht, im Unterschiedenen Einheit zu finden. Diese beiden Erkenntnisrichtungen werden sonst als die von Leistungen des
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Scharfsinns (oder des Urteils, judgement) hier und des Witzes (whit) dort geführt; Kant berücksichtigt nur die Witz-Seite, macht aber das Lustgefühl von der übergeordneten erfolgreichen generellen Erkenntnisabsicht abhängig. Zurück zur zweistufigen Naturseite. Die Aufgabe Kants ist es, die überkommene Zweistufigkeit von basaler Schöpfung und nachfolgender Handwerkstätigkeit Gottes kritisch, das heißt, aus den Erkenntniskräften des Menschen zu begründen. Es gilt, daß „sich die Natur, als bloßer Mechanismus betrachtet, auf tausendfache [auch II 132, 22] Art habe anders bilden können“ (360, 15 ff.). Hier könnte „der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein“ (KrV A 100 f.); mit David Hume: „May I not clearly and distinctly conceive that a body falling from the clouds and which in all other respects resembles snow, has yet the taste of salt or feeling of fire? Is there any more intelligible proposition than to affirm that all the trees will flourish in December and January, and will decay in May and June? Now whatever is intelligible and can be distinctly conceived implies no contradiction and can never be proved false by any demonstrative argument or abstract reasoning a priori“ (An Enquiry Concerning Human Understanding Sect. 4, Part 2). Wir brauchen hier nur festzuhalten: Nach der Kritik der Urteilskraft wäre eine solche Natur nicht nur nicht widersprüchlich im Sinne Humes, sondern auch nicht notwendig a-kausal; sie wäre nur keine Natur für uns in der zweiten Ordnungsebene, in der das Mannigfaltige auf einheitliche Prinzipien reduzierbar sein muß, um erfahrbar zu sein. Wir müssen, um die Phänomene zu erkennen, die Vielfalt reduzieren und ihre Einheit aufsuchen (Frank/Zanetti 1996, 1233). Hierbei, so das Ergebnis der Deduktion (Kap. V), kommt die Natur uns notwendig entgegen, um überhaupt eine Natur für uns zu sein; wir gehören als natur-erkennende Wesen mit in die zweckmäßige Organisation eines Naturganzen, in dem alles in seiner Vielheit auf einander Rücksicht nimmt, also nur unter der Idee einer Einheit zu denken ist. Der Begriff dieses Entgegenkommens, der Zweckmäßigkeit oder Angemessenheit der Natur ist dem des Mechanismus entgegengesetzt. Was zweckmäßig ist, wird als Folge eines Zwecks gedacht, bei dem die Zeitfolge der mechanischen Kausalität auf dem Zeitstrahl umgekehrt wird: Die Wirkung wird in der Vorstellung antizipiert, und aus dieser Antizipation wird die Kausalfolge verursacht, die zur Verwirklichung der vorgestellten Wirkung führt.
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Wir kennen diese andere, aus der Sicht der basalen Ebene naturwidrige Abfolge aus dem eigenen absichtlichen Handeln, bei dem die als Zweck geistig antizipierte Wirkung die Ursache zu ihrer Realisierung in Gang setzt. Die erste, mechanische, Kausalrelation gehört zum Verstand, die zweite, finale, zur Vernunft. Die zweite schließt naturgemäß die erste ein. „Die Kausalverbindung, sofern sie bloß durch den Verstand gedacht wird, ist eine Verknüpfung, die eine Reihe (von Ursachen und Wirkungen) ausmacht, welche immer abwärts geht; […]. Diese Kausalverbindung nennt man die der wirkenden Ursachen (nexus effectivus). Dagegen aber kann doch auch eine Kausalverbindung nach einem Vernunftbegriffe (von Zwecken) gedacht werden, welche, wenn man sie als Reihe betrachtete, sowohl abwärts als aufwärts Abhängigkeit bei sich führen würde, in der das Ding, welches einmal als Wirkung bezeichnet ist, dennoch aufwärts den Namen einer Ursache desjenigen Dinges verdient, wovon es die Wirkung ist“ (372, 19–29). Nun findet man derart zweckmäßige Anordnungen in der Natur grundsätzlich in drei und nur drei Dimensionen. Die erste bezieht sich auf das Verhältnis der Natur zum menschlichen Erkenntnisvermögen und zu den Erkenntnisabsichten, beide passen zueinander, ohne daß dies auf rein mechanische Art notwendig wäre (Kap. VI); sodann präsentiert sich die Natur dem menschlichen Erkenntnisvermögen überhaupt als unmittelbar passend, ohne daß also eine Objektbestimmung in einzelnen Erkenntnisschritten, also mittelbar, intendiert wäre. Die subjektive Reaktion auf dieses unvermittelte Passen zu unseren Erkenntnisvermögen (Spiel von Einbildungskraft und Verstand) ist ein Gefühl der Lust und das hierauf beruhende ästhetische Urteil des Schönen (Kap. VII). Die dritte Variante bezieht sich auf die Zweckmäßigkeit von Naturprodukten und sogar der Natur im ganzen. Hier wird also auf der Grundlage von Kap. VI eine naturinterne Zweckmäßigkeit aufgefunden (Kap. VIII). Das Erkenntnisvermögen, mit dem diese Zweckmäßigkeiten gefunden werden, kann nicht der Verstand sein, der nur für die basale mechanische Kausalität zuständig ist; es kann auch nicht die Vernunft sein, die zwar den Zweckbegriff zur Verfügung stellt, aber keine Möglichkeit hat, mit ihm die Erfahrungsgegenstände zu erfassen. So bleibt nur die Urteilskraft, nicht als bestimmende unter der Herrschaft des Verstandes und seiner Gesetze, sondern als reflektierende, die mit dem Leitbegriff der Zweckmäßigkeit die Natur in ihren Ordnungen begreifbar macht, die für den Verstand unterbestimmt, also zufällig bleiben. In Kap. VI werden die Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen und die der gelungenen Erkenntnis nachfolgende Lustempfindung erörtert. In Kap. VII handelt es sich um eine andere Form der Lust (ohne Erkenntnisabsicht), in Kap. VIII um eine Teleologie, auf deren
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Erkenntnis durch die reflektierende Urteilskraft keine emotionale Reaktion folgt. Während Kap. VI von der Natur in ihren beiden Ebenen generell handelt, wenden sich VII und VIII sogleich einzelnen Gegenständen zu, die von uns entweder ästhetisch wahrgenommen oder als Naturprodukte teleologisch beurteilt werden.
3.3 Kap. VII: „Von der ästhetischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur“ Die erste wichtige Zäsur des Kapitels wird durch den Satz: „Es fragt sich nur, ob es überhaupt eine solche Vorstellung der Zweckmäßigkeit gebe“ (189, 30 f.) angezeigt. Der Text, der dieser Frage zuvor liegt, bringt eine Begriffsdihairese, die die gemeinte paradoxe, weil gefühlte Zweckmäßigkeit in einer progredierenden Begriffsbestimmung verortet. Nun könnte es sein, daß man in der reinen Begrifflichkeit zu Vorstellungen gelangt, denen keine Wirklichkeit entspricht; es ist also ein zweiter Gedankengang nötig, der dieses ausstehende Desiderat erfüllt und der zeigt, daß dem genau bestimmten Begriff auch eine tatsächliche Realität entspricht. Der Leser erinnere sich der Gottesbeweise; im ersten Schritt wird eine genaue Bestimmung des Gottesbegriffs vorgenommen, sodann ist nachzuweisen, daß diesem so bestimmten Gedankending auch ein Sein zukommt; Sein ist kein Prädikat, so daß es widerspruchslos möglich ist, daß dem genau bestimmten Begriff Gottes kein Sein zukommt. In der Grundlegung sind die beiden ersten Abschnitte der begrifflichen Bestimmung des einzig möglichen Pflichtprinzips gewidmet, der 3. Abschnitt zeigt die Wirklichkeit dieses Prinzips. Die Antwort auf das „Es fragt sich nur […]“ wird am Anfang des 4. Absatzes gegeben: „Hier ist nun eine Lust, die […]“ (190, 33). Dies ist das Resümee des vorhergehenden Existenzbeweises der zuvor nur allgemein bestimmten ästhetischen Lust. Wir haben also eine klare Leseanweisung, in den beiden ersten Absätzen die begriffliche Bestimmung der ästhetischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit zu dechiffrieren, die konkret im bestimmten Gefühl der Lust bestehen muß. Für das Verständnis der ersten beiden Absätze lassen sich folgende Hilfen geben. Am Anfang wird vom Gegenstand gesprochen, von der Vorstellung des Gegenstandes und von zwei Aspekten dieser Vorstellung, dem ästhetischen, der sich auf das vorstellende Subjekt bezieht, und dem logischen, der den Gegenstand bzw. seine Erkenntnis betrifft. Diese Erkenntnis der äußeren Gegenstände setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, der Form des Raumes und dem Materiellen der Empfindung. Beides sind allge-
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meine subjektive Bestimmungen der Sinnlichkeit, die wir aus der Kritik der reinen Vernunft kennen; dort wird gezeigt, wie diese Bestimmungen zusammen mit den hier nicht angeführten Verstandesbegriffen die Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung ermöglichen, also subjektive Bedingungen objektiver Erkenntnis darstellen. Im Gegenzug wird im 2. Absatz (entsprechend der Begriffsdichotomie des Eingangssatzes von Absatz 1 von demjenigen Subjektiven „an einer Vorstellung“ gehandelt, „was gar kein Erkenntnisstück werden kann“ (189, 16 f.). Dieses Subjektive ist erstens die mit der Vorstellung verbundene Lust (oder Unlust) und zweitens die daraus zu entnehmende Zweckmäßigkeit des Gegenstandes für unser Erkenntnisvermögen überhaupt. Wir können schon vermuten, daß das gesuchte Resultat die notwendige Verbindung des bloßen Gefühls mit der Angemessenheit der Natur an unser Erkenntnisvermögen ist. Während David Hume die faktische Verbindung von „pleasure“ und „utility“ zu zeigen versuchte, so Kant die notwendige Verbindung von Lust und Zweckmäßigkeit, letztere bezogen auf unsere Erkenntnisvermögen überhaupt. Hierbei sind zwei Gefahren zu meiden: Es darf die Verbindung bei Kant nicht nur faktisch behauptet werden, denn dann gewinnen wir keine Notwendigkeit, und es darf die Verbindung nicht beweisbar sein, denn dann ist das Gefühl nicht mehr das entscheidende Medium. Der höchst spekulative Weg, zu dem gesuchten Ergebnis zu gelangen, führt über die bloße sinnliche Form des Gegenstandes zu den Erkenntnisvermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes, die hier beide „im Spiel sind“ (190, 1). Die Angemessenheit der Form an die dadurch unabsichtlich in Harmonie gesetzten Erkenntnisvermögen ist zufällig und löst daher ein Gefühl der Lust aus. Eben dies ist die gesuchte Lust, die einerseits in der apperzipierten Naturform, andererseits in den Erkenntnisvermögen fundiert ist und daher den Status der Notwendigkeit erhält. Im Absatz 5 wird der Anspruch der Notwendigkeit erläutert und das Recht, die Einstimmung aller in das sie aussprechende Urteil zu fordern: Die Verknüpfung von Vorstellung und Lust wird mit einem „soll“ begleitet (191, 11). Am Ende des Kapitels folgt der Hinweis auf die Zweiheit des ästhetischen Urteils des Schönen und Erhabenen. Sowohl für die ästhetische wie auch die logische bzw. teleologische Urteilskraft gilt, daß am Anfang das einzelne Objekt steht. Anders also als in der Kritik der reinen Vernunft beginnt die jeweilige Untersuchung mit Gegenständen, die schon als Erfahrungsobjekte gemäß Anschauung und Verstand bestimmt sind und die nun eine weitere zwiefache Beurteilung ermöglichen oder erfordern, die des Ästhetischen in der Anschauung und des Teleologischen im Verstand. Das Verhältnis der beiden Ebenen der
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Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft wird nicht gesondert erörtert, so daß unklar bleibt, in welcher Weise die Kritik der Urteilskraft auf die Bestände der Kritik der reinen Vernunft zurückgreifen kann. Man wird vermuten dürfen, daß die beiden Teile der Kritik der Urteilskraft einen durch die Kritik der reinen Vernunft und ihren transzendentalen Idealismus ermöglichten empirischen Realismus annehmen. So kann von schönen und zweckhaften Gegenständen gesprochen werden, desgleichen von Menschen, die sich in der empirischen Lage der ästhetischen und teleologischen Beurteilung dieser Objekte befinden. Die Analyse und Deduktion dieser Urteile wird verschiedentlich als transzendental bezeichnet. Unklar bleibt dabei nicht nur die Beziehung zur transzendentalen „Ästhetik“ und „Analytik“, sondern auch zur „Dialektik“ im Hinblick auf die Übernahme und Korrektur bestimmter Lehrmeinungen, etwa: Ersetzt die Teleologie der Kritik der Urteilskraft die korrespondierenden Abschnitte der Kritik der reinen Vernunft (A 686–703)? Man wird hier kaum die Möglichkeit finden, die Kantische Konstruktion zu kontrollieren, weil sie sich in einer gänzlich internen Logik bewegt, sondern kann sie nur ungefähr im Kantischen Theoriegebäude lokalisieren. Es lassen sich jedoch bestimmte Fragen namhaft machen. Kant spricht zunächst von der „Lust oder Unlust“ (189, 17 f.), beschränkt sich aber im Zusammenhang der Zweckmäßigkeit auf die Lust. Der Titel von VI lautete: „Von der Verbindung des Gefühls der Lust mit dem Begriffe der Zweckmäßigkeit der Natur“. Also nur die Lust, nicht die zugehörige Unlust steht zur Debatte. Der Begriff des Unzweckmäßigen wird nicht als Korrespondenzbegriff zur Unlust benutzt, so daß man hier und sonst mit guten Gründen sagen kann, daß der Nachweis der Notwendigkeit und des Anspruchs auf die Beistimmung aller nur für die positive Seite des konträren Urteils geführt wird und die Gegenseite des mit Unlust verknüpften Zweckwidrigen notwendig fehlen muß, also das Urteil, etwas sei nicht schön oder häßlich, kein Gegenstand der Kantischen Ästhetik ist. Für die Vorstellung, daß Kant auch das negative ästhetische Urteil einbezieht, sprechen wenigstens drei Gründe. Erstens ist das Vermögen allgemein das der Lust und Unlust, so daß die letztere Beziehung immer mitzudenken ist. Zweitens gibt es zu Kants Zeit keine Kunstästhetik ohne die Unterscheidung von Schön und Nicht-Schön, man betrachte nur David Humes Of the Standard of Taste; und drittens weist Kant häufiger auf die negative Urteilsform hin (203, 9; 238, 6; 337 u. ö.). Aber die Gegengründe sind stark, vor allem die Forderung der qualifizierten Mitteilbarkeit des ästhetischen Urteils, die ihrerseits nur durch das harmonische Spiel der Erkenntniskräfte ermög licht wird; und es müßte ein reines negatives Geschmacksurteil geben,
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davon ist Kant jedoch weit entfernt. Die Ausrichtung der Theorie nur auf das positive Urteil ist für die Funktion der Kritik der Urteilskraft im Gefüge der drei Kritiken überhaupt entscheidend. Am Schluß der „Einleitung“ heißt es: „Die Spontaneität im Spiele der Erkenntnisvermögen, deren Zusammenstimmung den Grund dieser Lust enthält, macht den gedachten Begriff zur Vermittlung der Verknüpfung der Gebiete des Naturbegriffs mit den Freiheitsbegriffen in ihren Folgen tauglich, indem diese zugleich die Empfänglichkeit des Gemüts für das moralische Gefühl befördert“ (197, 10–15). Wenn eine Ästhetik des Häßlichen Eingang in die Theorie findet, stürzt das Gebäude in sich zusammen. Das Häßliche ist Thema der empirischen Disziplin der Anthropologie (VII 239 ff., vgl. Brandt 2006). Es gehört zu den „paradoxa Kantiana“, daß das ästhetische Urteil nur positiv sein kann und daß im Positiven keine Graduierung möglich ist.
3.4 Kap. VIII: „Von der logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur“ Hier haben wir den klaren Gegentitel zu Kap. VII; es ist das Wort „ästhetisch“ durch „logisch“ ersetzt. Die Zweiheit von Ästhetik und Logik, von Anschauung und Verstand soll für den Menschen notwendig und vollständig sein. „Logisch“ wird in den Ausführungen selbst durch „teleologisch“ konkretisiert. Entgegen der Ankündigung wird im VIII. Kapitel nicht nur oder wenigstens primär von der „logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit“, sondern durchgängig von der ästhetischen und logisch-teleologischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur gehandelt; sie werden zunächst als unterschieden und komplementär erörtert, daraus zieht Absatz 2 die Konsequenz für die Einteilung der Kritik der Urteilskraft in eine ästhetische und logische und die Absätze 3 und 4 untersuchen die unterschiedlichen Funktionen der beiden Teile für die Kritik der Urteilskraft. Das Kapitel beginnt mit dem Satz: „An einem in der Erfahrung gegebenen Gegenstande kann Zweckmäßigkeit vorgestellt werden: entweder aus einem bloß subjektiven Grunde, als Übereinstimmung seiner Form, in der Auffassung (apprehensio) desselben vor allem Begriffe, mit dem Erkenntnisvermögen, um die Anschauung mit Begriffen zu einem Erkenntnis überhaupt zu vereinigen; oder aus einem objektiven, als Übereinstimmung seiner Form mit der Möglichkeit des Dinges selbst, nach einem Begriff von ihm, der vorhergeht und den Grund dieser Form enthält“ (192, 16–23). Dreimal wird das Wort „Form“ benutzt – was heißt „Form“? Hat das Wort jeweils dieselbe Bedeutung?
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3.4.1 Der Formbegriff Der Leser begegnet in Kap. VII an Schlüsselstellen dem Begriff der Form; er wurde schon in der „Einleitung“ benutzt (180, 34 f.), ohne für sich thematisiert zu werden; er begegnet in wichtiger Funktion wieder im Kap. VIII. Der Formbegriff ist das zentrale Medium der Kantischen Bestimmungen des ästhetischen Urteils (Uehling 1971, 70 u. ö). Kant sagt in der Ästhetik jedoch nicht, was mit dem Wort oder dem Begriff der „Form“ in der Anschauung des Gegenstandes und in der Reflexion genau gemeint ist. Der Begriff wird im 1. Absatz von VII als Gegenbegriff zum Materiellen der äußeren Empfindung eingeführt (zur Opposition vgl. die Form-MaterieErörterung in der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ KrV A 266 ff.) und schließt offenbar an die transzendentale Bestimmung des Raumes (nicht auch der Zeit) als einer Form unserer Anschauung an (KrV A 30; 189, 13). Dieser Begriff einer räumlichen Form wird häufig in der Kritik der Urteilskraft verwendet, in der ästhetischen Beurteilung etwa des schönen Gegenstandes steht die Form gegen den Reiz der Farben; die Form ist in der einfachsten Variante die Gestalt, der Kontur. Neben dem Raum ist auch die Zeit eine subjektive Form der Sinnlichkeit; sie müßte in der „Einleitung“ der Kritik der Urteilskraft ergänzt werden, wenn man an das Naturschöne als ein rein zeitliches, nicht räumliches Phänomen denkt, etwa im Fall des bezaubernd schönen Schlags der Nachtigall (302, 24). Für beide Ebenen, sowohl die grundsätzliche der „Transzendentalen Ästhetik“ der Kritik der reinen Vernunft wie auch die abgeleitete des ästhetischen Urteils der Kritik der Urteilskraft soll gelten: „Denn durch die Form oder die Gestalt rühren die Objekte die Sinne nicht (Nam per formam seu speciem obiecta sensus non feriunt)“ (II 393, 7 f.). In der vollständigen Disjunktion von Rezeptivität und Spontaneität (vgl. KrV A 19 ff.) muß jede Form folgerichtig der Spontaneität des Subjekts entspringen, jede Form ist also grundsätzlich unser Erzeugnis; andererseits bringen wir natürlich nicht die verschiedenen Formen der optischen und akustischen Erscheinungen hervor, sie sind Gebilde aufgrund der genannten Affektionen. Dies letztere gilt nicht nur für die Anschauung, sondern auch das Denken. Die Analyse nicht des „Ich denke“, wohl aber des Denkens in Urteilen führt zur expliziten Darstellung der Begriffs-, Urteils- und Schlußlogik und damit der gesamten formalen Logik, die als zweite Domäne neben die Formen der Anschauung tritt. Während der Formbegriff der Ästhetik der Kritik der Urteilskraft auf die Formen der Anschauung von Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft zurückgeht, ist der Formbegriff der Teleo
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logie der Kritik der Urteilskraft in der Logik der Kritik der reinen Vernunft begründet. In beiden Fällen ist die Formstifterin die reflektierende Urteilskraft, dies jedoch in unterschiedlicher Weise. Beim Schönheitsurteil changiert der Formbegriff zwischen der von Reiz und Rührung befreiten reinen Form des Gegenstandes und der Form der Reflexion im Spiel von Einbildungskraft und Verstand. Der erste Aspekt zielt auf eine objektive Begründung des Geschmacksurteils, der zweite auf eine subjektive im transzendentalen Wortsinn. Beim Urteil über Naturprodukte oder Naturzwecke operiert die reflektierende Urteilskraft mit einem Modell, gemäß dem in einem derartigen Gegenstand alles zugleich Mittel und Zweck ist. Es heißt jedoch vom Naturprodukt auch, „daß seine Form nicht nach bloßen Naturgesetzen möglich sei“ (370, 1 f.) – was heißt hier „Form“? Die Teile eines Naturprodukts verbinden sich dadurch zur Einheit eines Ganzen, „daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind“ (373, 18 f.). Hier kommt offenbar ein Formbegriff ins Spiel, der weder aus der Ästhetik noch aus der Logik entlehnt ist, sondern eher an den Aristotelischen Begriff des „eidos“, der „Idee“ (373, 7, 12, 20 u. ö.), anknüpft, also als „causa formalis“ auftritt. Diese Form oder Idee stiftet in dieser Version die Einheit eines bestimmten Seienden, hier des Naturprodukts. Auf diesen Formbegriff geht das von Kant häufig wiederholte Diktum des „forma dat esse rei“ zurück. Im Opus postumum steht: „Ein organischer Naturkörper wird also als Maschine (ein seiner Form nach absichtlich gebildeter Körper) gedacht“ (XXI 569, 6 f.). Und: „Zur Verbindung des Mannigfaltigen in der Vorstellung der Einheit des Objekts (des Ganzen) gilt das Prinzip der Scholastiker: Forma dat esse rei: d. i. die Art der Zusammensetzung des Vielen zum Begriffe des Einen geht vor dem letzteren a priori vorher“ (XXI 569, Anm. 7–10). Offiziell werden in der Kritik der Urteilskraft nur die causa efficiens und die causa finalis anerkannt; sie müssen die notwendigen und hinreichenden Instrumente bei der Erklärung eines Naturzwecks bilden. In einer konsequenten Lehre der Naturprodukte oder Naturzwecke müßte die Ursache, die die Einheit begründet, der Zweck sein, dem das Naturprodukt dient, also jeweils ein externer Bereich in der Natursymbiose. Kants Beispiel: Gras und Rentier (XXI 560). Alles am Grashalm bestimmt sich einheitlich aus seiner Funktion, als Futter zu dienen. Die gesamte Natur müßte dechiffrierbar sein am Maßstab des Nutzens für den Menschen: „das Moos der Eiswüsten fürs Rentier): endlich diese vernunftlose Tierspezies für Menschen“ (XXI 567, 17 f.; auch 570, 11 f.). Daß Kant diese anthropozentrische Teleologie vertritt, läßt sich nicht bezweifeln. Er folgt der Teleolo-
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gie der Stoiker, und das Beispiel des Mietshauses, dessen externer Zweck die Erzeugung einer möglichst hohen Rendite ist, stammt aus Senecas Epistulae morales. Der externe Zweck des Profits bestimmt das Haus ebenso wie der externe Zweck der Zeitanzeige das Dasein und die Form der Uhr. Nun verfährt Kant anders. Aus methodischen Gründen werden zuerst in sich geschlossene Mittel-Zweck-Gebilde aufgesucht wie etwa das eines Baumes, bei dem ein externer Zweck seines Daseins und seiner Form nicht erwähnt wird. Die äußere Zweckbeziehung folgt in einem zweiten Schritt bei der Integration des Naturprodukts in ein externes Zwecksystem der Technik der Natur im ganzen. Das Naturprodukt ist also vorerst ein nur intern agierendes finales Relationensystem; bei dieser Auffassung fehlt jedoch ein Grund des Seins und der bestimmten Einheit der finalen Bezüge aller Teile untereinander. Wenn alles nur Mittel und zugleich Zweck ist, ist nichts dazu befähigt, diese vielen Relationen einheitlich zu dirigieren. Der Baum steht da wie ein erratischer Block, ein Endzweck, er richtet sich nicht nach der Aufgabe, die er für die übrige Natur zu erfüllen hat. „Ein Baum erzeugt erstlich einen anderen Baum nach einem bekannten Naturgesetz“ (371, 7 f.); zu lesen im Plural, denn der Baum hat Blüten und bedarf des Windes oder der Bienen, um mit anderen Bäumen einen Baum zu erzeugen („Es gibt nur eine einzige äußere Zweckmäßigkeit, die mit der inneren der Organisation zusammenhängt und […] im äußeren Verhältnis eines Mittels zum Zweck dient. Dieses ist die Organisation beiderlei Geschlechts in Beziehung auf einander zur Fortpflanzung ihrer Art. […] Dieses hier macht allererst ein organisierendes Ganze aus, obzwar nicht ein organisiertes in einem einzigen Körper“ (425, 24–33). Diese Isolation der Binnenbeziehungen des Naturzwecks wird notwendig durch das Postulat, alle Vorgänge in der Zweck-Natur im Prinzip mechanistisch rekonstruieren zu können, denn die organisierten Produkte gehören zu den Erscheinungen, die insgesamt den Grundsätzen des Verstandes, besonders der causa efficiens, unterliegen. Wir zitierten schon oben: „Aber das Prinzip: alles, was wir als zu dieser Natur (Phaenomenon) gehörig und als Produkt derselben annehmen, auch nach mechanischen Gesetzen mit ihr verknüpft denken müssen, bleibt nichts desto weniger in seiner Kraft: weil ohne diese Art von Kausalität organisierte Wesen, als Zwecke der Natur, doch keine Naturprodukte sein würden“ (422, 14–19). Eine externe Kantische Zweckbeziehung – etwa der Nutzen des Mooses für das Rentier – hat jedoch kaum eine Chance, auch nach mechanischen Gesetzen erklärbar zu sein: Wie sollte sich hier die Mittel-Zweck-Beziehung in der Ebene der causa efficiens darstellen lassen?
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Unsere These ist, daß bei der Analyse des Naturprodukts als eines wechselseitigen Mittel-Zweck-Systems ein Grund der Einheit dieses Systems fehlt und daß Kant deswegen eine Anleihe macht bei der causa formalis bzw. dem eidos, der Idee, der Aristotelischen Tradition, ohne dies jedoch theoretisch zu rechtfertigen. Wenn in dem vor unserem Form-Exkurs zitierten Satz steht „nach einem Begriffe von ihm [dem Ding, RB], der vorhergeht und den Grund dieser Form enthält“, dann wird man diesen vorhergehenden Begriff mit der Idee identifizieren, die nicht einer der vielen Zwecke im Naturprodukt ist, sondern die Einheit des Ganzen, die causa formalis. Damit würde der im zitierten Text benutzte zweite Formbegriff übereinstimmen, während der erste, für die Ästhetik reservierte Formbegriff die äußere Gestalt bedeuten müßte. Es ist nicht unwichtig, sich die Komplikationen der Kantischen Teleologie in ihrem Kernbereich zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, daß sich die spätere Entwicklung hin zu Darwin auch als Versuch begreifen läßt, interne Probleme der vorhergehenden Lehren von den Naturzwecken zu lösen.
3.5 Kap. IX: „Von der Verknüpfung der Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft durch die Urteilskraft“ In drei Schritten werden die drei im Titel genannten Vermögen zusammen geführt. Im 1. Absatz wird von der Brückenfunktion der Urteilskraft zwischen der Natur-Gesetzgebung des Verstandes und der FreiheitsGesetzgebung der Vernunft durch den Begriff der Zweckmäßigkeit gesprochen; der 2. Absatz behandelt dieselbe Übergangsaufgabe im Schema eines Syllogismus mit den drei Begriffen der Unbestimmtheit, der Bestimmbarkeit und der Bestimmung, und der 3. Absatz erörtert dieselbe Problematik nicht mehr auf dem Gebiet der drei oberen Erkenntnisvermögen, sondern der Seelen- oder Gemütsvermögen der theoretischen Erkenntnis, des Gefühls der Lust und Unlust und des Begehrungsvermögens. Im ersten Durchgang werden zwei Themen angesprochen; einmal ist es die mögliche Einwirkung der Freiheitsgesetzgebung auf das Geschehen in der Natur, das unter der Gesetzgebung des Verstandes steht, zum andern die Verwirklichung des moralischen Endzwecks in der Sinnenwelt. Die Beziehung des gesollten Handelns auf den Ablauf des phänomenalen, also durch die Natur determinierten Geschehens ist seit 1770 ein Problem, auf das Kant mit der These der menschlichen Unkenntnis antwortet. Das hinzugefügte Problem des Endzwecks wird 1790 neu, besonders gegenüber 1781, formuliert, denn jetzt heißt es unumwunden, daß der Endzweck „in
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der Sinnenwelt“ (196, 1) existieren soll, ja, „allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann“ (196, 10 f.); von den Postulaten Gott und Unsterblichkeit ist hier keine Rede. Die Urteilskraft hat ihre Funktion demnach in der Ästhetik und Teleologie darin, daß die Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen die Kompati bilität der Natur mit dem rein moralischen Begriff des höchsten Gutes in der Welt aufweist. Im zweiten Durchgang wird die Systematik der drei Erkenntnisvermögen gezeigt durch die innere Beziehung von Maior, Minor und Conclusio, wobei die Stelle der Maior als des Unbestimmten dadurch gekennzeichnet sein soll, daß die gesetzliche Erscheinungs-Natur auf ein übersinnliches Substrat, das Ding an sich, verweist, dieses aber nicht bestimmt; für die Urteilskraft ist dieses Substrat jedoch bestimmbar durch die Zweck-Verfassung der sonst grenzenlosen Vielfalt der empirischen Gesetze der Natur, und drittens folgt die kategorische Bestimmung durch die reine praktische Vernunft selbst: Es zeigen sich, so heißt es in der Kritik der Urteilskraft, „drei Ideen: erstlich des Übersinnlichen überhaupt ohne weitere Bestimmung als Substrats der Natur; zweitens eben desselben, als Prinzips der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen; drittens eben desselben, als Prinzips der Zwecke der Freiheit und Prinzip der Übereinstimmung derselben mit jener im Sittlichen“ (346, 15–20; s. a. 339, 14–341, 33). Der Syllogismus ist in der Spätphilosophie ein bevorzugtes Mittel, die innere Kohärenz und Notwendigkeit von Systemteilen zu zeigen; die können die drei Gewalten im Staat sein (VI 313, 17–27), entsprechend auch die trias politica im Gottesbegriff, aber auch die drei Rechtspflichten (VI 236, 24–237, 12). „Man hat es bedenklich gefunden, daß meine Einteilungen in der reinen Philosophie fast immer dreiteilig ausfallen“ (197, 18 f.). Es läßt sich leicht zeigen, daß der Autor der Bedenken der Königsberger Mathematikprofessor Johann Schultz ist (Brandt 2007, 592). Nur: Kants Einteilungen sind nicht drei-, sondern vierteilig. Daß dies der Fall ist, kann eine Sammlung einschlägiger Fälle vor Augen führen, die über die Urteilstafel und die „Vierte Kritik“ bis zu dem Streit der Fakultäten und zum Opus postumum reicht (Brandt 2007, Kap. 10: „Die Vierte Kritik“). Die Tafel, auf die Kant am Ende der „Einleitung“ verweist (197, 15), enthält vier Vierergruppen; die vier Triaden werden nämlich unter einem inhaltlich relevanten Titel (und nicht z. B. nichtssagenden Ziffern) befaßt, so daß dieser Titel im Muster 1 / 2, 3, 4 erst die Trichotomie ermöglicht und vollendet, ohne einen eigenen weiteren Inhalt beizufügen (wie die Modalität in der Urteilsund Kategorientafel). Dieses Muster findet sich auch schon in der 1. Einleitung KU (XX 246, 3–15).
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Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb 1750/58: Aesthetica, Frankfurt/O., Bd. 1/2; dt. Ästhetik, hrsg. v. D. Mirbach, Hamburg 2007, 2 Bde. Brandt, Reinhard 2006: Schön, Erhaben, nicht Häßlich. Überlegungen zur Entstehung und Systematik der Kantischen Theorie des ästhetischen Urteils, in: H. F. Klemme u. a. (Hrsg.), Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, Bielefeld, 65–92. – 2007: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg. Frank, Manfred/Zanetti, Véronique (Hrsg.) 1996: Kants Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Frankfurt/M., 3 Bde. Hume, David 1742: Of the Standard of Taste, Edinburgh; ND Essays. Moral, Political and Literary, Oxford 1971, 231–258. – 1748: An Enquiry concerning Human Understanding, London; neu hrsg. v. Tom L. Beauchamp, Oxford 2000; dt. Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntniß von David Hume, Ritter. Als dessen vermischter Schriften zweyter Theil. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet, Hamburg/Leipzig 1755. – 1751: An Enquiry concerning the Principles of Morals, London; neu hrsg. v. Tom L. Beauchamp, Oxford 1998; dt. David Hume, Sittenlehre der Gesellschaft. Als dessen vermischter Schriften dritter Theil. Hamburg/Leipzig 1756. – 1754–56: Vermischte Schriften über die Handlung, die Manufacturen und die andern Quellen des Reichthums und der Macht eines Staates, 4 Bde., Hamburg/Leipzig. Santozki, Ulrike 2006: Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie, Berlin. Seneca, L. A.: Philosophische Schriften, lat. u. dt., hrsg. v. M. Rosenbach, 5 Bde., Darmstadt 1971. Uehling, Theodore E. 1971: The Notion of Form in Kant’s Critique of Aesthetic Judgment, The Hague.
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Interesseloses Wohlgefallen und Allgemeinheit ohne Begriffe (§§ 1–9)
Einleitung Die „Analytik des Schönen“ zielt in erster Linie darauf, diejenigen Merkmale aufzuzeigen, die für Schönheitsurteile charakteristisch sind. Aus Kants Diskussion ergibt sich, daß solche Urteile eine spezifische Kombination von Merkmalen aufweisen, die sie von Urteilen über das Angenehme und über das Gute sowie von „logischen“ (das heißt nicht-wertenden kognitiven) Urteilen abhebt. Schönheitsurteile sind den Urteilen über das Angenehme und denen über das Gute darin ähnlich, daß sie einen notwendigen Bezug zum Gefühl haben, insbesondere zum Gefühl der Lust, und das ist etwas, was sie von kognitiven Urteilen unterscheidet. Von Urteilen über das Angenehme sind sie darin unterschieden, daß sie eine normativ notwendige Forderung nach allgemeiner Zustimmung erheben; von Urteilen über das Gute darin, daß die mit ihnen verbundene Lust nicht von der Anwendung eines bestimmten Begriffs auf das Objekt abhängt, genauer, daß sie nicht von der Einsicht abhängt, daß das Objekt einem bestimmten Zweck dient. Nun haben Schönheitsurteile nicht allein eine charakteristische Ausprägung, diese Ausprägung wirft dem ersten Anschein nach Probleme auf. Denn jedes der vier Momente der „Analytik“ schreibt dem Schönheitsurteil ein Paar von Merkmalen zu, die, wiederum nach dem ersten Anschein, in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Das Schönheitsurteil gehe einher mit einer Lust am Objekt, die jedoch in keinerlei Interesse oder Begierde nach dem Objekt gründe; es fordere allgemeine Gültigkeit, ohne jedoch das Objekt einem Begriff unterzuordnen; es stelle das Objekt als zweckmäßig dar, ohne es mit einem bestimmten Zweck zu verbinden;
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es behaupte Notwendigkeit, ohne objektiv sein zu wollen. Bei jedem dieser Momente stellt sich die Frage, wie die beiden Merkmale vereinbar sind, und daher, wie ein Urteil mit solchen Merkmalen überhaupt möglich ist. Kants Charakterisierung des Schönheitsurteils ist erst am Ende der „Analytik“ vollständig, dennoch stellt sich bereits nach den ersten beiden Momenten, genauer den §§ 1–8, die Frage, wie Schönheitsurteile überhaupt möglich sind. Die offizielle Antwort wird erst später, in der „Deduktion der Geschmacksurteile“ (§ 38) geliefert, doch bietet Kant eine erste Lösungsskizze in § 9, der, nach Kant, den „Schlüssel zur Kritik des Geschmacks“ enthält. Entsprechend sind die Argumentationen in den §§ 1–8 und in § 9 ziemlich verschieden. In den §§ 1–8 erläutert Kant die Merkmale von Schönheitsurteilen primär durch Verweis auf unsere alltägliche Intuition bezüglich der Umstände, unter denen wir bereit sind, etwas als schön zu bezeichnen, statt es angenehm oder gut zu nennen. § 9 dagegen stellt eine theoretische Hypothese auf, um die Spannungen aufzulösen, die bei diesem Durchgang durch unsere Intuitionen festgestellt wurden, eine Hypothese, von der Kant nicht voraussetzt, daß man sie unmittelbar als einleuchtend akzeptieren könne. Die folgende Diskussion gliedert sich in drei Teile. Der erste behandelt das erste Moment (§§ 1–5), der zweite die ersten drei Abschnitte des zweiten Moments (§§ 6 ff.) und der dritte beschäftigt sich mit § 9. Ich skizziere jedesmal Kants Argumentationsgang in den relevanten Abschnitten und diskutiere dann einige der philosophischen und interpretatorischen Fragen, die sich daraus ergeben.
§§ 1–5 Kant beginnt im § 1 mit einem Gegensatz zwischen Schönheitsurteilen und kognitiven Urteilen: Um über die Schönheit eines Objekts zu urteilen, richten wir unsere Vorstellung nicht „auf das Objekt zum Erkenntnisse“, sondern vielmehr „auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben“ (203). Er illustriert diesen Unterschied durch zwei verschiedene Arten, sich mit einem Gebäude zu befassen. Wir können es kognitiv aufnehmen, in diesem Falle werden wir uns seiner geometrischen Eigenschaften bewußt und daß es bestimmten Zwecken dient; oder aber wir sind uns „dieser Vorstellung mit der Empfindung des Wohlgefallens bewußt“ (204); in diesem Falle, so Kant, wird die „Vorstellung gänzlich auf das Subjekt und zwar auf das Lebensgefühl desselben unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust bezogen“ (ebd.). Urteile, die sich auf subjek-
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tive Empfindungen von Lust oder Unlust bei der Vorstellung eines Objekts beziehen, heißen bei Kant „ästhetisch“: Diese Verwendung des Begriffs ist weiter als unsere heutige, weil sie alle Urteile einschließt, die auf Lust oder Unlust beruhen, auch Urteile über das Angenehme, mit deren Diskussion Kant in § 3 fortfahren wird. Im § 2 führt Kant zunächst ein Element ein, das für Schönheitsurteile spezifisch ist und diese von anderen „ästhetischen“ Urteilen abhebt: Das Wohlgefallen oder die Lust, auf die sie sich gründen, sei „ohne alles Inter esse“ am Gegenstand. Der Begriff des Interesses wird von Kant zweifach charakterisiert: Ein Wohlgefallen heißt zum einen interesselos, wenn es nicht verbunden ist mit einer Vorstellung der „Existenz“ des Gegenstandes, und zum anderen, wenn es keine Beziehung zum Begehrungsvermögen hat. Kant erläutert dies exemplarisch am Beispiel eines Palastes: Ob er von Nutzen oder moralisch zu rechtfertigen sei, spiele für die Frage nach seiner Schönheit keine Rolle. Hierfür ist allein wichtig, „ob die bloße Vorstellung des Gegenstandes […] mit Wohlgefallen begleitet sei“ (205). Der Gegensatz, auf den Kant abzielt, ist der zwischen der „bloßen Vorstellung“ des Palastes und seiner Existenz. Dieser Gegensatz wird von Kant auch so beschrieben, daß das Wohlgefallen am Palast gänzlich unabhängig davon sei, ob man den Palast wünschenswert findet. Von einem moralischen Standpunkt aus könnten wir solche Paläste als nicht erstrebenswert betrachten, oder wir könnten denken, daß wir keinesfalls in einem Palast leben möchten, dennoch könnten wir uns an der Schönheit des Palastes erfreuen. Der Rest des ersten Moments beschäftigt sich mit dem in § 2 eingeführten interesselosen Charakter des Wohlgefallens am Schönen und mit dem Gegensatz zu zwei anderen Urteilsarten, die ebenfalls Lustgefühle beinhalten, nämlich den Urteilen über das Angenehme und über das Gute. § 3 behandelt offiziell Urteile über das Angenehme, aber ein Großteil des Abschnitts hat das allgemeinere Ziel, zwei Verwechslungen bezüglich des Begriffs der Empfindung aufzulösen. Die erste bestehe zwischen einem weiteren Sinn von „Empfindung“, in dem jede Lust eine Empfindung genannt werden könne, und einem engeren Sinn, der sich lediglich auf Sinneseindrücke beziehe: dies führe zu einer falschen Angleichung moralischer und ästhetischer Gefühle (hier der „Empfindung“ im weiteren Sinne zugerechnet) an die reine Sinneslust. Die zweite Verwechslung bestehe zwischen der „objektiven“ Empfindung, beispielsweise die Empfindung der Farbe, die zur Erkenntnis eines Objekts diene, und der „subjektiven“ Empfindung von Lust oder Unlust, die dazu nichts beitrage. Erst gegen Ende des Abschnitts kommt Kant auf seinen Hauptpunkt zu sprechen: Das
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Urteil, daß etwas angenehm ist, drücke, anders als das Schönheitsurteil, ein Interesse am Objekt aus. Das werde daraus klar, daß es „durch Empfindung eine Begierde nach dergleichen Gegenstande rege macht“ (207). § 4 wendet sich den Urteilen über das Gute zu. Auch das Wohlgefallen am Guten sei mit Interesse am Objekt verbunden, jedoch nicht weil dieses durch den Eindruck auf unsere Sinne eine Begierde auslöse, sondern weil das als gut beurteilte Objekt uns als Zweck oder als Mittel zu einem Zweck gefalle. In jedem Falle hänge unser Wohlgefallen davon ab, daß wir es unter einen Begriff gebracht haben, insbesondere einen Begriff davon, „was der Gegenstand für ein Ding sein solle“. Für das Wohlgefallen an der Schönheit sei hingegen nicht erforderlich, daß wir den Gegenstand unter einen Begriff bringen: Wir könnten beispielsweise Schönheit in einer Blume finden, ohne einen Begriff von ihr zu haben (was aber nicht bedeute, wie Kant in § 16 erläutert, daß die Abwesenheit eines Begriffs notwendig sei, um Wohlgefallen an der Schönheit eines Objekts zu finden). Man beachte, daß die Nicht-Begrifflichkeit von Schönheitsurteilen zwar im zweiten Moment eine herausragende Rolle spielen wird, daß es Kant jedoch hier um etwas anderes geht: Das Wohlgefallen an der Schönheit beruhe nicht auf der Erkenntnis, daß der Gegenstand einem Zwecke dient, und daher sei es interesselos, anders als das Wohlgefallen am Guten. Im zweiten Moment wird es allgemein um Begriffe gehen, nicht allein um Begriffe vom Gegenstand als Zweck oder Ziel, und außerdem sollen dort Schönheitsurteile nicht von Urteilen über das Gute abgegrenzt werden, wie hier im ersten Moment, sondern von kognitiven Urteilen; der Witz dabei ist nicht, daß das Wohlgefallen nicht auf der Anwendung eines Begriffs auf den Gegenstand gründe, sondern daß der im Urteil erhobene Anspruch auf allgemeine Gültigkeit nicht auf einen Begriff gegründet sei. Der Rest von § 4 beschäftigt sich größtenteils mit der Unterscheidung des Angenehmen vom Guten, die für die Hauptargumentation nicht wichtig ist. In § 5 geht Kant näher auf den speziellen Charakter des Wohlgefallens am Schönen ein, im Unterschied zum Wohlgefallen am Guten und am Angenehmen. Neu hinzu kommt hier die Beobachtung, daß Schönheit nur für Menschen gelte, und nicht für die nicht-rationalen Tiere oder für rein rationale Wesen. Schönheit unterscheide sich in dieser Hinsicht sowohl von der Annehmlichkeit, die auch von vernunftlosen Tieren erfahren werden kann, wie auch vom Guten, das für alle rationalen Wesen gelte. Weiterhin grenzt Kant das Wohlgefallen am Schönen von den zwei anderen Arten des Wohlgefallens dadurch ab, daß es „frei“ sei, weil es nicht durch ein Interesse, weder der Sinne noch der Vernunft, erzwungen werde. Man könnte hier denken, daß dieser Punkt sich auf die „Freiheit“ im Spiel
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von Einbildungskraft und Verstand bezieht, die Kant im zweiten Moment einführt. Jedoch – und diese Bemerkung ist parallel zu der, die ich am Ende des vorgegangenen Abschnitts gemacht habe – wäre dies irrig. Wenn Kant die Freiheit des Wohlgefallens am Schönen unterstreicht, will er es damit vom Wohlgefallen am Angenehmen und am Guten abgrenzen, während er im zweiten Moment darum bemüht ist, Schönheitsurteile von nichtwertenden kognitiven Urteilen abzugrenzen, bei denen die Tätigkeit der Einbildungskraft durch Begriffe regiert wird. Am meisten umstritten bezüglich des ersten Moments ist die Frage, ob Kant zu Recht behaupten kann, das Wohlgefallen am Schönen sei interesselos. Zunächst scheint es klar, daß wir an Objekten, die wir schön finden, Interesse haben, wie sich in unseren Anstrengungen zeigt, sie zu erhalten (Kunstmuseen, Landschaftsschutz usw.). Hierzu sagt Kant selbst, daß wir ein „empirisches“ ebenso wie ein „intellektuelles“ Interesse am Schönen haben, insofern es uns zu Geselligkeit (§ 41) und zu Moralität (§ 42) bewegt. Wäre mit der von Kant in § 2 behaupteten Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Schönen allein gemeint, daß dieses nicht auf einem Interesse beruht, gäbe es keine Schwierigkeit; aber in einer Fußnote (§ 2: 205 FN) sagt Kant auch, daß Schönheitsurteile an sich gar kein Interesse begründen. Eine Lösung dieser Schwierigkeit bietet Henry Allison. In der Fußnote wolle Kant Schönheitsurteile gegen moralische Urteile abgrenzen, für die wesentlich sei, daß sie ein Interesse begründen; denn sonst wären sie nicht praktisch, das heißt, sie würden nicht den Willen bestimmen. Kant wolle hier ausschließen, so Allison (2001, 95 f.), daß Schönheitsurteile wesentlich ein Interesse begründen, und damit sei durchaus vereinbar, daß sie es zufällig tun. Eine zweite und tiefere Schwierigkeit bezüglich der Interesselosigkeit der Lust im Geschmacksurteil liegt darin, daß sie nicht vereinbar scheint mit Kants Definition der Lust als „Bewußtsein der Kausalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjekts, es in demselben zu erhalten“ (§ 10: 220). Wesentlich für die Lust ist nach dieser Definition, daß sie dazu tendiert, im Subjekt aufrechterhalten zu werden, aber wie ist das möglich, wenn die Lust nicht wesentlich einen Wunsch, und damit ein Interesse, an ihrer eigenen Fortdauer einschließt? Meines Erachtens entsteht diese Schwierigkeit aus der Spannung zwischen den gegensätzlichen Merkmalen, die Kant in jedem der vier Momente der „Analytik des Schönen“ herausstellen will, der Spannung, welche die Frage aufwirft, wie Schönheitsurteile überhaupt möglich sind. Und sie wird meiner Ansicht nach in der gleichen Weise gelöst, wie die Spannung zwischen Nicht-Begrifflichkeit und Allgemeingültigkeit, nämlich durch die in § 9 aufgestellte Hypo-
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these, die den „Schlüssel zur Kritik des Geschmacks“ und das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand betrifft. Drei weitere Dissenspunkte, die sich auf diese Abschnitte beziehen, seien kurz erwähnt. Beim ersten geht es darum, ob die Lust am Schönen „opak“ oder nicht-intentional sei, wie Paul Guyer (1979) meint, oder ob sie einen intentionalen Gehalt habe, wie Richard Aquila (1982) und Allison (2001) behaupten. Im zweiten geht es um die Frage, ob Kant auch negative Schönheitsurteile einbezieht, wo also etwas für nicht schön oder für häßlich befunden wird. Diese Frage wird ausführlich diskutiert von Allison (2001), der es für die Interpretation der „Analytik“ als wesentlich ansieht, daß sie auch ästhetischen Urteilen Rechnung trägt, die auf Unlust beruhen; meine Einwände dagegen habe ich in Ginsborg (2003) vorgebracht. Die dritte Frage betrifft die Architektur der „Analytik“. Wieso hat Kant sich dafür entschieden, die vier Momente unter Überschriften zu stellen, die der Kategorientafel in der Kritik der reinen Vernunft entsprechen, nämlich „Quantität“, „Qualität“, „Relation“ und „Modalität“; und warum hat er dabei die Reihenfolge am Anfang vertauscht, so daß die Analytik mit „Qualität“ einsetzt und nicht mit „Quantität“? Eine neuere Diskussion dieser Frage findet sich in Allison (2001 u. 2003), sowie bei Longuenesse (2003 u. 2006).
§§ 6–8 Das zweite Moment und genauer die §§ 6 ff. laufen auf die Behauptung hinaus, schön sei, „was ohne Begriff allgemein gefällt“ (§ 9: 219); etwas präziser: daß ein Subjekt, das einen Gegenstand als schön beurteilt, für die Lust, die es bei diesem Urteil verspüre, allgemeine Gültigkeit fordere, wobei diese Forderung ihren Grund jedoch nicht in der Anwendung eines Begriffs auf den beurteilten Gegenstand habe. Die eingangs zitierte Schlußfolgerung des zweiten Moments – „Schön ist, was ohne Begriff allgemein gefällt“ präsentiert in klarster Form die Spannung, aus der die Frage hervorgeht, wie Schönheitsurteile überhaupt möglich sind, so wie Kant sie in der „Deduktion“ von Geschmacksurteilen formuliert hat: „[W]ie ist ein Urteil möglich, das bloß aus dem eigenen Gefühl der Lust an einem Gegenstande, unabhängig von dessen Begriffe diese Lust als der Vorstellung desselben Objekts in jedem andern Subjekte anhängig […] beurteilte“ (§ 36: 288)? § 6 behauptet, die Schlußfolgerung des zweiten Moments sei aus der Konklusion des ersten ableitbar. Wenn sich jemand dessen bewußt sei, daß sein Wohlgefallen an einem Gegenstand ohne alles Interesse ist,
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dann müsse er annehmen, daß sein Wohlgefallen nicht in irgendwelchen Privatbedingungen gründe, die ihn von anderen Subjekten unterscheiden; daher müsse er „glauben Grund zu haben, jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten“ (211). In § 1 hatte Kant, wie wir gesehen haben, Schönheitsurteile gegen kognitive Urteile abgegrenzt. In § 6 kehrt er zu dem Vergleich mit kognitiven Urteilen zurück, um zu klären, in welchem Sinne Schönheitsurteile allgemeine Gültigkeit beanspruchen; es stellt sich heraus, daß Schönheitsurteile und kognitive Urteile in dieser Hinsicht einander ähnlich sind. Im Schönheitsurteil spricht man so, „als ob Schönheit eine Beschaffenheit des Gegenstandes und das Urteil logisch (durch Begriffe vom Objekte eine Erkenntnis desselben ausmachend) wäre“ (211). An einem Beispiel aus Abschnitt VII der „Einleitung“ läßt sich gut illustrieren, worum es Kant hier geht. „Ein einzelnes Erfahrungsurteil, z. B. von dem, der in einem Bergkristall einen beweglichen Tropfen Wasser wahrnimmt, verlangt mit Recht, daß ein jeder andere es eben so finden müsse […]. Eben so macht derjenige, welcher […] Lust [von der Art, wie sie bei einem Schönheitsurteil beteiligt ist] empfindet, […] mit Recht Anspruch auf Jedermanns Beistimmung“ (191). Im § 7 liefert Kant eine Begründung für dieses Merkmal des Schönheitsurteils, die im Unterschied zu der Begründung, die er in § 6 gegeben hat, vom ersten Moment unabhängig ist. Das Argument stützt sich auf unsere Intuitionen über den Gegensatz zwischen Schönheits- und Annehmlichkeitsurteilen. Im Falle einer Aussage wie „der Kanariensekt ist angenehm“ werde der Urteilende akzeptieren, daß das Urteil „sich auch bloß auf seine Person einschränke“; eine solche Aussage könne ersetzt werden durch „der Kanariensekt ist mir angenehm“ (212). Im Gegensatz dazu, so Kant, wäre es lächerlich, würde man bei einem Schönheitsurteil hinzufügen: Die Sache ist „für mich“ schön. Entsprechend können wir das Annehmlichkeitsurteil eines anderen nicht als irrig kritisieren, wenn es von unserem abweicht, wogegen man durchaus sinnvollerweise die Schönheitsurteile anderer kritisieren kann: Im Falle der Schönheit kann es einen wirklichen Disput geben, nicht aber bei Annehmlichkeitsurteilen. Das auf den ersten Blick entgegengesetzte Merkmal der Schönheitsurteile, nämlich ihre Nichtbegrifflichkeit (sowie ihr daherrührender Mangel an Objektivität), wird im vorletzten Absatz von § 8 erläutert. Hier legt Kant dar, daß es keine Regeln gebe, auf die man sich berufen könne, um Zustimmung zu einem Schönheitsurteil zu erzwingen, und dementsprechend keine Gründe, die man anführen könne, um solch ein Urteil zu verteidigen. Die einzig legitime Basis, auf der sich bestimmen ließe, ob ein Gegenstand schön sei oder nicht, sei unser eigenes Gefühl bei der
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Wahrnehmung dieses Gegenstandes: Niemand könne uns ein Urteil, ob etwas schön sei, „aufschwatzen“; vielmehr müßten wir das Objekt unseren „eignen Augen unterwerfen“, als ob unser Urteil, wie ein Annehmlichkeitsurteil, von der Empfindung abhinge. (Diese Punkte werden später, in den §§ 31 f., genauer erörtert.) Der Klarheit halber sei hier bemerkt: Wenn Kant verneint, daß die allgemeine Gültigkeit eines Schönheitsurteils auf der Anwendung eines Begriffs auf das Objekt beruhe – was ich hier im Anschluß an andere Kommentatoren die „Nichtbegrifflichkeit“ von Schönheitsurteilen nenne – will er damit nicht ausschließen, daß wir auf Gegenstände, die wir für schön halten, nicht auch Begriffe anwenden. Ich kann das Objekt vor mir als Rose erkennen und es gleichwohl für schön halten. Kant beharrt lediglich darauf, daß ich mich nicht darauf berufen kann, daß es eine Rose ist, wenn ich rechtfertigen will, daß man dieses Objekt für schön halten müsse. Zwei weitere Punkte in § 8 sind wert, festgehalten zu werden. Der erste ist, daß die „subjektive“ Allgemeinheit von Schönheitsurteilen im Gegensatz steht zur „logischen“ Allgemeinheit, die Urteilen der Form „Alle S sind P“ zukommt. Bei der Herausarbeitung dieses Gegensatzes macht Kant klar, daß Schönheitsurteile zwar einzelne Urteile sind, die auf unmittelbarer Wahrnehmung eines Objekts beruhen, daß in seiner Sichtweise aber auch Raum ist für eine abgeleitete Art von Schönheitsurteilen: Es gibt auch ein „auf einem ästhetischen gegründetes logisches Urteil“, veranschau licht in dem Satz „Rosen überhaupt sind schön“ (vgl. auch § 33: 285). Der zweite Punkt ist, daß jemand, der ein Schönheitsurteil abgibt, glaubt, mit einer „allgemeinen Stimme“ zu sprechen; das ist von Kommentatoren oft als Verweis auf den „allgemeinen Willen“ bei Rousseau aufgefaßt worden. Eine der Interpretationsfragen, die sich beim zweiten Moment stellen, betrifft die normative Kraft des Anspruchs auf allgemeine Gültigkeit. Kant verwendet die Ausdrücke zumuten, ansinnen und fordern, um unser Verlangen zu beschreiben, andere sollten mit unserem Urteil oder unserem Wohlgefallen übereinstimmen. Im vierten Moment erklärt er diesen Anspruch für notwendig; in einem Schönheitsurteil sei nicht gefordert, „daß jedermann mit unserm Urteile übereinstimmen werde, sondern damit zusammenstimmen solle“ (§ 22: 239). Guyer meint dagegen, wir sollten den Universalitätsanspruch nicht normativ auffassen, sondern als eine Art Vorhersage, allerdings eine, die sich auf ideale oder optimale Umstände ästhetischer Reaktion beziehe (1979, 146 f.): Wir sagen voraus, daß andere, sofern sie sich in idealen Bedingungen finden, um Schönes schätzen zu können, unsere ästhetische Reaktion teilen werden. Natürlich könnte man je nachdem, was man unter „ideal“ versteht, in Guyers
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Position einfach eine Umformulierung von Kants normativer Argumentation sehen: Wir behaupten, daß alle unser Wohlgefallen am Objekt teilen, so lange sie so reagieren, wie sie sollten, was, könnte man sagen, nichts anderes heißt, als daß sie unser Wohlgefallen teilen sollen. Es gibt aber eine tiefere Problematik, nämlich wie ernst man Kants Parallele zwischen dem Allgemeinheitsanspruch im Schönheitsurteil und dem im kognitiven Urteil nehmen muß. Ich neige dazu, sie ganz und gar ernst zu nehmen und Kant so aufzufassen, daß wir bei einem Schönheitsurteil Zustimmung in genau dem gleichen Sinn erheischen, wie bei einem kognitiven Urteil über eine objektive Eigenschaft, etwa die Gestalt oder Größe eines Gegenstands. Und so wenig, wie wir in diesem Falle dazu neigen würden, in der Zustimmungsforderung eine Voraussage über das zu erwartende Verhalten anderer zu sehen, so wenig neige ich Guyers Vorschlag zu, die normative Forderung eines Schönheitsurteils als Voraussage zu interpretieren. Die Nichtbegrifflichkeit von Schönheitsurteilen ist von Karl Ameriks in Frage gestellt worden; es sei durchaus mit einer kantianischen Gesamtposition zur Ästhetik vereinbar, so Ameriks, Schönheitsurteile als begrifflich und objektiv aufzufassen (eine ähnliche Position vertritt auch Kulenkampff 1990). Wenn wir Aussagen wie Die Rose ist rot oder Die Rose duftet so verstehen, daß wir die Begriffe der Röte oder des Duftes auf die Rose anwenden und ihr somit objektive Merkmale zuschreiben, wieso könnten wir dann nicht auch das Urteil Die Rose ist schön in gleicher Weise als begrifflich und objektiv auffassen (Ameriks 2003, 301)? Man kann zugunsten dieser Position festhalten, daß Objektivität und begrifflicher Charakter von Schönheitsurteilen nicht widerlegt werden durch Kants Behauptung in § 8, es gebe keine Gründe, mit denen man jemandem „aufschwatzen“ könne, daß ein Objekt schön sei, denn dasselbe läßt sich, wie es scheint, auch von Urteilen über sekundäre Qualitäten sagen. Typischerweise fällen wir solche Urteile nicht auf Basis von Regeln oder Kriterien, sondern vielmehr, wie auch im Falle eines Schönheitsurteils, als unmittelbare Wahrnehmungsreaktion. Jedoch möchte ich auf Kants Aussage hinweisen, man müsse ein Objekt „seinen eigenen Augen unterwerfen“, um es als schön zu beurteilen. Ich halte es für ein wesentliches Merkmal von Schönheitsurteilen, daß wir ein Objekt nur dann für schön befinden können, wenn wir es aus eigener Anschauung kennen. Dies gilt jedoch nicht für Urteile über sekundäre Qualitäten, die wir auch dann treffen können, wenn wir das Objekt nur vom Hörensagen oder durch Zeugnis anderer kennen. Die Nichtbegrifflichkeit von Schönheitsurteilen und ihr daher rührender Mangel an Objektivität liegt mithin daran, daß Schönheitsurteile ganz speziell abhängig sind
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von der Reaktion der jeweils urteilenden Person, und nicht allgemein von einer menschlichen Wahrnehmungsreaktion (Ginsborg 1998). Ein dritter Dissens betrifft die Frage, ob ein Schönheitsurteil fehlgehen kann. Ist es möglich, daß jemand auf Grundlage einer völlig interesselosen Lust ein Schönheitsurteil fällt und daß dennoch kein Allgemeinheitsanspruch dieser Lust an einem bestimmten Objekt erhoben werden kann? Im letzten Satz von § 8 scheint Kant explizit die Möglichkeit irriger Schönheitsurteile einzuräumen. Aber wie Ted Cohen in seinem einflußreichen Artikel von 1982 ausführt, deutet einiges von dem, was kurz davor im letzten Absatz von § 8 gesagt wird, auf eine andere Möglichkeit hin, daß nämlich ein echtes Schönheitsurteil immer berechtigt ist, und man lediglich irrigerweise annehmen kann, man habe ein solches echtes Urteil getroffen. Cohen selbst verwirft diese Alternative, wogegen viele Kommentatoren, einschließlich Allison (2001), sie akzeptieren. Demnach wäre für Kant jegliche Ungewißheit über die Gültigkeit eines Schönheitsurteils lediglich die Ungewißheit darüber, ob die Lust, der es entspringt, wirklich interesselos ist, man es also tatsächlich mit einem „reinen“ Schönheitsurteil zu tun hat, im Gegensatz zu einem Urteil, das heimlich darauf beruht, daß man ein Objekt als angenehm oder gut empfindet. Diese Alternative findet bei den Kommentatoren, die ihr beistimmen, unter anderem deswegen Anklang, weil sie eine Parallele zu Kants Moralitätskonzept erlaubt. So wie wir niemals sicher sein können, daß wir aus reiner Pflicht heraus gehandelt haben und uns nicht von unseren Neigungen haben beeinflussen lassen, so können wir auch niemals sicher sein, daß die Lust an einem Objekt gänzlich interesselos ist, wenn uns dieses Objekt dazu bringt, zu behaupten, es sei schön. Die Frage ist zu umfassend, um hier angemessen diskutiert zu werden; gleichwohl will ich festhalten, daß ich die Parallele zur Moralität in diesem Falle für irreführend halte. Wie Cohen meine ich, daß man sich nicht nur darin irren kann, ob man ein reines Schönheitsurteil gefällt hat, sondern auch darin, ob ein bestimmtes Schönheitsurteil richtig ist. Andernfalls würden alle Fragen über die Gültigkeit eines bestimmten Schönheitsurteils zu Fragen zweiter Ordnung: Die Frage, ob man zu Recht behaupten kann, daß andere mit dem eigenen Urteil übereinstimmen, wird zur Frage zweiter Ordnung, ob man legitimerweise behaupten kann, das eigene Urteil sei ein Schönheitsurteil, und dann ist schwerlich zu sehen, was für eine Legitimitätsbehauptung noch mit dem Schönheitsurteil selbst einhergehen kann. Ein vierter und letzter Dissenspunkt bezieht sich auf Kants Behauptung in § 6, die nichtbegriffliche Universalität von Schönheitsurteilen könne hergeleitet werden aus ihrer im ersten Moment gegebenen Charakteri-
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sierung durch Wohlgefallen ohne alles Interesse. Guyer (1979) behauptet, dies sei ein Fehlschluß Kants, denn damit werde die Möglichkeit außer Acht gelassen, daß die Lust an einem Objekt einer „Privatbedingung“ entspringe, die dennoch kein Interesse darstelle; folglich könne jemand eine interesselose Lust verspüren, die gleichwohl nicht allgemein gültig sei. Guyers Argumentation wird von Allison abgelehnt (2001), Longuenesse (2003) hingegen stimmt ihr zu.
§ 9 Die Überschrift von § 9 kündigt die Untersuchung der Frage an, „ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe“; die Auflösung dieser Frage, fährt Kant im ersten Absatz fort, sei „der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks und daher aller Aufmerksamkeit würdig“ (216). Es könne aber gar nicht sein, so Kant weiter im zweiten Absatz, daß die Lust der Beurteilung vorausgehe, denn eine solche Lust könne einzig Lust am Angenehmen sein und folglich nur „Privatgültigkeit“ haben. Daraus geht klar hervor, daß für Kant das Urteil der Lust vorausgeht, obwohl er das nicht sofort ausdrücklich sagt. Vielmehr fährt er, zu Beginn des dritten Absatzes, damit fort, es sei die „allgemeine Mitteilungsfähigkeit“ – die wir hier als Äquivalent zur „Allgemeingültigkeit“ nehmen dürfen – „des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung, welche als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils demselben zum Grunde liegen und die Lust an dem Gegenstande zur Folge haben“ müsse (217). Es folgt eine Diskussion der Art dieses „Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung“, aus der Kant am Ende des dritten Absatzes folgert, es müsse der Zustand sein, „der im Verhältnisse der Vorstellungskräfte zueinander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt beziehen“ (ebd.). Im vierten Absatz charakterisiert Kant diesen Zustand ausführlicher. Zunächst erklärt er, die hier beteiligten Vorstellungskräfte seien dabei in „freiem Spiel“, weil sie nicht durch einen bestimmten Begriff eingeschränkt seien. Und es müßten die Vermögen von Einbildungskraft und Verstand sein, so Kant weiter, denn eben diese beiden Vermögen seien erfordert, damit die Vorstellung eines in der Anschauung gegebenen Objekts Erkenntnis werde; Einbildungskraft werde benötigt „für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung“ und Verstand „für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt“ (ebd.). Dieser Zustand eines freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand, so Kant am Ende des vierten Absatzes, müsse
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allgemein mitteilbar (das heißt allgemein gültig) sein. Somit registriert Kant einen impliziten Gegensatz zwischen dem gerade beschriebenen Zustand und der im zweiten Absatz erwähnten Empfindung der Lust am Angenehmen, die einzig Privatgültigkeit hätte. Daß dieser Gemütszustand allgemein mitteilbar sei, wird im fünften Absatz weiter ausgeführt, in dem Kant auch erklärt, die Beziehung zwischen Einbildungskraft und Verstand sei nicht allein ein freies Spiel, sondern ein Spiel, in dem die Erkenntniskräfte miteinander „zusammenstimmen“, was die „subjektive Bedingung“ der Erkenntnis sei. Aus diesem letzteren Grund, so Kant, können wir die allgemeine Gültigkeit des Gemütszustands behaupten: Wir seien uns dessen bewußt, daß dieses „subjektive Verhältnis eben so wohl für jedermann gelten […] müsse, als es eine jede bestimmte Erkenntnis ist“ (218). Nachdem er den Gemütszustand erläutert hat, der dem Schönheitsurteil zugrunde liegt, gibt Kant zu Beginn des sechsten Absatzes eine explizite Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage, die, wie zu erwarten, bekräftigt, daß das Urteil der Lust vorausgehe und nicht umgekehrt: „Diese bloß subjektive (ästhetische) Beurteilung des Gegenstandes […] geht nun vor der Lust an demselben vorher und ist der Grund dieser Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen“ (ebd.). Der siebte Absatz unterstreicht die „Notwendigkeit“, mit der wir die Lust der Anderen einfordern, und wiederholt die in § 6 aufgestellte Behauptung, es sei „gleich als ob es für eine Beschaffenheit des Gegenstandes […] anzusehen wäre“, wenn wir denselben schön nennen (ebd.). Im achten und neunten Absatz wird dann die „mindere Frage“ behandelt, wie wir uns der Beziehung der Erkenntniskräfte im freiem Spiel bewußt werden: ästhetisch, „durch den bloßen innern Sinn und Empfindung“, oder intellektuell (ebd.)? Durch das erstere, lautet die Antwort. Wären Verstand und Einbildungskraft durch einen Begriff vereinigt, der zur Erkenntnis des Objekts führte, dann wäre das Bewußtsein ihres Verhältnisses intellektuell. Weil jedoch das Schönheitsurteil von Begriffen unabhängig sei, könne uns die Beziehung der Erkenntniskräfte zueinander nur durch Empfindung bekannt sein. Die Rolle von § 9 unterscheidet sich von der der vorangegangenen Abschnitte der „Analytik“. Während die §§ 1–8 darlegen, weitgehend auf Basis anschaulicher Überlegungen, daß das Schönheitsurteil verschiedene Merkmale aufweist, die anscheinend in Spannung zueinander stehen, präsentiert § 9 eine theoretische Hypothese, die diese Spannung auflösen soll. Wie Kant in diesem Abschnitt sehr kurz und in späteren Abschnitten ausführlicher erläutert, wird der in §§ 6 ff. entwickelte scheinbare Konflikt zwischen Allgemeingültigkeit und Nichtbegrifflichkeit des Schönheitsur-
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teils durch die Hypothese gelöst, dieses entspreche einem Gemütszustand, der nicht selbst kognitiv sei, jedoch ein Verhältnis unserer kognitiven Fähigkeiten zueinander beinhalte, das denselben Anspruch auf Allgemeingültigkeit behauptet wie eine eigentliche Erkenntnis. Auch wenn sich Kant zu diesem Punkt nicht ausführlich äußert, liefert doch die Idee, daß dieses Verhältnis sich dem Bewußtsein durch ein Lustgefühl mitteilt, eine Lösung der anscheinenden Spannung zwischen dem lustvollen Charakter und der Interesselosigkeit des ästhetischen Urteils, die sich aus §§ 1–5 ergibt: Denn die Lust im Geschmacksurteil kann damit erklärt werden einzig durch Bezug auf die Vermögen, die bei der Erkenntnis durch Wahrnehmung mitspielen, ohne jede Notwendigkeit, sich auf Begehren oder Willen zu berufen. Tiefgreifende Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, wie die in § 9 vorgestellte Hypothese zu verstehen ist, insbesondere über zwei große Fragen, die ich für die Interpretation der Kantischen Ästhetik am grundlegendsten halte. Die erste lautet: Welche Beziehung besteht für Kant dazwischen, daß man ein Objekt als schön beurteilt und daß man Lust an seiner Schönheit empfindet? Die zweite lautet: Was ist das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand? Der restliche Teil unserer Erörterung dreht sich um diese beiden Fragen, die meines Erachtens eng miteinander zusammenhängen. Indem Kant in der Überschrift von § 9 die Frage aufwirft, die der ersten der von mir eben genannten entspricht, nimmt er anscheinend genau zwei Möglichkeiten für die Beziehung zwischen Urteilen und Lust als gegeben an: Entweder geht die Lust dem Urteilen voraus oder das Urteilen der Lust. Daß er für die zweite Alternative plädiert, geht ganz klar daraus hervor, daß er im zweiten Absatz die erste Möglichkeit verwirft, weiterhin aus seiner expliziten Aussage am Beginn des sechsten Absatzes, daß die „Beurteilung des Gegenstandes vor der Lust an demselben“ komme und „der Grund dieser Lust“ sei. Wie allseits bekannt, scheint jedoch diese Position der Kantischen Charakterisierung des Schönheitsurteils zu widersprechen, die besagt, daß darin Allgemeingültigkeit oder allgemeine Mitteilbarkeit der vom Subjekt empfundenen Lust gefordert wird: „daß man durch das Geschmacksurteil (über das Schöne) das Wohlgefallen an einem Gegenstande jedermann ansinne“, heißt es beispielsweise zu Beginn von § 8 (213 f.). Denn wenn das Urteil eine Forderung bezüglich der Lust aufstellt, dann scheint dafür ja wohl nötig zu sein, daß wir diese Lust bereits fühlen, noch bevor wir das Urteil treffen. Die Standardlösung dieses anscheinenden Konflikts wurde von Donald Crawford (1974) vorgeschlagen und von Guyer (1979) im Detail ausgearbeitet. Für Kant schließe das Schönheitsurteil zwei verschiedene Phasen des Urteilens ein; die erste gehe mit einer Lust einher, die zweite fordere die
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Allgemeingültigkeit dieser Lust (eine ähnliche, jedoch unabhängig entwikkelte Sichtweise präsentiert Kohler 1980). Die erste Phase des Urteilens sei die Tätigkeit von Einbildungskraft und Verstand, die Kant als „freies Spiel der Erkenntniskräfte“ beschreibt; auf dieses Ausüben der Urteilskraft beziehe er sich zu Beginn des sechsten Absatzes, wo er nach Einführung des „freien Spiels“ sagt, die „bloß subjektive (ästhetische) Beurteilung des Gegenstandes“ gehe der Lust an demselben voraus. Die zweite Phase des Urteilens resultiere im eigentlichen Schönheitsurteil und bestehe in der Forderung des Subjekts, daß die im freien Spiel entstandene Lust allgemein gültig sei. Auf diese Phase beziehe Kant sich beispielsweise dort, wo er sagt, wenn jemand „etwas für schön ausgibt, so mutet er andern eben dasselbe Wohlgefallen zu“ (§ 7: 212). Hiernach könnte man also interesselose Lust empfinden, die anzeigt, daß ein Objekt für schön gehalten zu werden verdient, ohne so weit zu gehen, es tatsächlich für schön zu halten. Das Lustempfinden resultiere tatsächlich aus einem Akt, oder zumindest einer Aktivität des Urteilens; jedoch sei ein weiterer Urteilsakt nötig, in welchem wir die allgemeine Gültigkeit der Lust fordern, falls wir das Objekt für schön halten, und strenggenommen zähle erst dieser zweite Vorgang als Akt, in dem wir „ein Objekt als schön beurteilen“. Ich habe meine Einwände gegen diese Lösung an anderer Stelle vorgebracht (am ausführlichsten im ersten Kapitel von Ginsborg 1990); hier möchte ich nur festhalten, was ich für die wichtigsten Schwierigkeiten halte, die man sich mit dieser Lösung einhandelt. Nach meiner heutigen Meinung ist die bedeutsamste Schwierigkeit einfach die, daß Kant keinerlei Hinweis darauf gibt, daß die in der Überschrift von § 9 genannte „Beurteilung“, die im sechsten Abschnitt als der Lust vorausgehend beschrieben wird, etwas anderes sein könne als das in §§ 1–8 diskutierte Urteilen, in welchem wir ein Objekt als schön beurteilen. Daß Kant zu Beginn des sechsten Abschnitts die Beurteilung „bloß subjektiv“ und „ästhetisch“ nennt, unterscheidet sie nicht vom Urteilen, in dem wir einem Objekt Schönheit zuschreiben, denn zumindest ein Teil der Argumentation in §§ 1–8 dreht sich darum, daß Schönheitsurteile ästhetisch sind und daß ihnen Objektivität mangelt. Es wäre daher höchst irreführend von seiten Kants, würde er sich an diesem Punkt nicht mehr auf Schönheitsurteile beziehen, sondern auf eine andere geistige Tätigkeit, die eine Empfindung entstehen ließe, welche dann ihrerseits eventuell dazu dienen könnte, ein Schönheitsurteil zu begründen. Es gibt eine weitere, textliche Schwierigkeit mit dieser Lösung: Im ersten Satz des dritten Absatzes nennt Kant die Lust eine Folge der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gemütszustandes des Subjekts bei der gegebenen Vorstellung. Wenn demnach aufgrund eines
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Urteilsakts Lust empfunden wird, so muß dieser Urteilsakt einer sein, in dem das Subjekt seinen Gemütszustand für allgemein mitteilbar hält, und dann müßten wir ihn mit dem Akt der Schönheitsbeurteilung identifizieren und nicht mit einer angeblich unabhängigen Aktivität der Gemütskräfte, die diesem Urteilsakt vorausgehe. Verfechter der Zwei-Akte-Theorie haben daher auch behauptet, die Hineinnahme dieses Satzes sei ein Fehler Kants. Allison schlägt vor, das zu korrigieren, so daß die Lust nicht als Folge einer allgemeinen Mitteilbarkeit des Gemütszustandes beschrieben wird, sondern als Folge eines allgemein mitteilbaren Gemütszustandes, nämlich des Gemütszustandes beim freien Spiel der Erkenntniskräfte (Allison 2001, 115); Longuenesse (2003, 154) hat dem zugestimmt. Aber damit ist die grundlegendere Schwierigkeit mit der Zwei-Akte-Theorie nicht gelöst, nämlich, daß sie uns zwingt, Kant so zu lesen, als führte er in einer Passage, in der eine Lösung des Problems skizziert werden soll, wie Schönheitsurteile überhaupt möglich sind, einen Begriff des ästhetischen Urteilens ein, der völlig verschieden ist von demjenigen, mit dem er dieses Problem formuliert hat. Meine eigene Antwort auf die Frage, wie die Lust am Schönen Folge eines Urteils sein kann, das die Allgemeingültigkeit eben dieses eigenen Lustempfindens behauptet, besteht in der Annahme, daß das Urteil eine selbstbezügliche Komponente hat: Der einzelne Urteilsakt, im welchem wir ein Objekt für schön befinden, schließt einen Anspruch auf seine eigene Allgemeingültigkeit bezüglich des beurteilten Objekts ein (Ginsborg 1991). Das Subjekt, das ein solches Urteil fällt, ist in einem Gemütszustand, in welchem es eben diesen Zustand bezüglich des Objekts für allgemein mitteilbar hält, ohne dabei seinen Gemütszustand als irgendwie Besonderen zu spezifizieren, und dementsprechend ohne das Objekt unter irgendeinen besonderen Begriff zu bringen. Wegen des nichtbegrifflichen Charakters dieses Gemütszustandes, manifestiert er sich phänomenologisch als subjektives Gefühl. Genauer manifestiert er sich, wie ich im folgenden zeigen werde, als Gefühl interesselosen Wohlgefallens. Wir haben früher, mit Bezug auf das erste Moment, festgestellt, daß Kant in § 10 die Lust definiert als „das Bewußtsein der Kausalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjekts, es in demselben zu erhalten“, und daß hieraus prima facie eine Schwierigkeit für die Möglichkeit einer interesselosen Lust entsteht, da nicht klar ist, wie diese „Kausalität“ der Vorstellung wirken könnte, wenn nicht durch Auslösung des Wunsches nach der Fortdauer eben dieser Vorstellung in uns. Diese Schwierigkeit kann jedoch vermieden werden, wenn wir die „Kausalität“ hier nicht als empirische Kausalität auffassen, sondern als eine, die dem allgemeineren
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Begriff eines Grundes entspricht (das wird nahegelegt durch die Charakterisierungen der Lust in der 1. Einleitung KU XX 206, 230). Mit diesem erweiterten Verständnis von „Kausalität“ paßt der diskutierte Gemütszustand zur Definition der Lust, und zwar in einer Weise, die nicht erfordert, die Lust am Schönen als abhängig von der Auslösung eines Wunsches zu denken. Denn ein Gemütszustand, in dem ich eben diesen Gemütszustand für allgemein gültig halte bezüglich des von mir wahrgenommenen Objekts, ist einer, der ein Bewußtsein seiner eigenen Angemessenheit bezüglich des Objekts einschließt; es ist ein Gemütszustand, könnten wir sagen, der fordert, daß ich in eben diesem Gemütszustand bin, während ich das Objekt wahrnehme. Er kann daher verstanden werden als Grund dafür, daß ich in demselben Zustand bleibe, solange ich das Objekt wahrnehme. Das Modell, das ich im Gegensatz zur Zwei-Akte-Theorie vorschlage, unterscheidet nicht die Lust bei der Wahrnehmung eines für schön gehaltenen Objekts vom Schönheitsurteil selbst. Die Lust, die wir empfinden, ist nichts anderes als das Für-schön-Halten des Objekts oder die Wahrnehmung seiner Schönheit. Wir könnten unser Urteil in Worte fassen und eine öffentliche Erklärung abgeben, daß wir es für schön halten, oder auch nicht; jedoch im Lustgefühl erheben wir Anspruch auf allgemeine Gültigkeit unserer Lust und darauf, daß jedermann, einschließlich wir selbst, in der gleichen Weise empfinden sollte, wie wir gerade in bezug auf das Objekt empfinden. So sind Lust und Urteil letztendlich ein- und dasselbe, obwohl wir auch ihr Verhältnis charakterisieren können, indem wir sagen, die Lust sei die phänomenologische Manifestation des Urteilakts, oder auch, wie Kant es manchmal tut, daß wir „vermittelst“ (XX 229) oder „durch“ (§ 5: 211) die Lust urteilen. Es könnte gezwungen erscheinen, wenn man dies als Interpretation von Kants Behauptung präsentiert, die Lust sei eine „Folge“ des Urteilens. Aber ich halte dafür, daß die Relation der Folge hier explanatorisch oder begrifflich zu verstehen ist, und nicht als ontologische Priorität des Urteilens über die Lust: Kant will zeigen, daß wir das Gefühl der Lust am Objekt erklären oder einsichtig machen können, wenn wir sie als etwas erkennen, was so empfunden wird aufgrund eines Gemütszustandes, in dem wir eben diesen unseren Zustand selbst für allgemein mitteilbar halten. Diese Erklärung erlaubt uns, sowohl der Behauptung Rechnung zu tragen, daß die Lust Folge des Urteilens ist, wie auch, daß im Urteilsakt das allgemein Mitteilbare eben dieses Lustempfinden ist. Ich gehe jetzt sehr kurz auf die zweite der beiden durch § 9 aufgeworfenen grundlegenden Fragen ein, nämlich, was man unter einem „freien Spiel“ von Einbildungskraft und Verstand verstehen soll. In den Teilen der Kritik der reinen Vernunft, die sich mit der Synthesis der Einbildungskraft
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und dem verwandten Begriff des Schematismus beschäftigen, beschreibt Kant objektive Wahrnehmungserkenntnis, beispielsweise die Erkenntnis durch Wahrnehmung eines gegebenen Objekts als Hund oder als Dreieck, als Ergebnis einer Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung durch die Einbildungskraft in Übereinstimmung mit vom Verstand gelieferten Begriffen. Auf diese Erklärung spielt Kant im vierten Absatz von § 9 an, wenn er sagt, damit aus einer Vorstellung Erkenntnis werde, sei Einbildungskraft nötig „für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung“ und Verstand „für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt“. Auch wenn die in der ersten Kritik gegebene Erklärung selbst sehr schwer zu interpretieren ist, scheint die grundsätzliche Idee doch die zu sein, daß die Einbildungskraft ein Wahrnehmungsbild formt, das die Vorstellungen der von uns wahrgenommenen Elemente des Hundes (etwa Pfoten und Schwanz) oder des Dreiecks (die drei Linien, aus denen es besteht) vereinigt, wobei diese Vereinigung durch eine Regel bestimmt ist, die den Begriffen Hund oder Dreieck entspricht. Diese Idee liefert den Hintergrund für die Idee des „freien Spiels“, in der unterstellt wird, daß die Beziehung zwischen Einbildungskraft und Verstand durch dieselbe Übereinstimmung oder Harmonie zwischen den Gemütskräften charakterisiert ist, wie sie im Falle der Erkenntnis gilt (beispielsweise die Übereinstimmung dazwischen, daß ich ein Wahrnehmungsbild des Hundes forme und daß ich ihn als Hund erkenne), ohne daß hier jedoch ein Begriff im Spiel ist, oder zumindest ein besonderer Begriff, der die Tätigkeit der Einbildungskraft lenkt. Allerdings besteht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß der Begriff des freien Spiels hochproblematisch ist. Um auf einfache Weise das Problem zu formulieren, könnte man schlicht fragen, wie ein Verstand, der für Kant das „Vermögen der Begriffe“ darstellt, im freien Spiel auf eine Weise beteiligt sein kann, die nicht auf die Anwendung von Begriffen hinausläuft. Wie kann die Tätigkeit der Einbildungskraft dem Verstand entsprechen, wenn sie nicht irgendwelchen Begriffen entspricht, die vom Verstand geliefert werden? Man kann das Problem auch in die Form eines Dilemmas bringen, bezüglich der Beziehung zwischen dem freien Spiel einerseits und der Tätigkeit der Einbildungskraft und des Verstands andererseits, die zur Erkenntnis nötig ist. Wir könnten das freie Spiel so auffassen, daß es einem Stadium in der Produktion der Erkenntnis entspricht, welches vor der Anwendung von Begriffen auf die Mannigfaltigkeit der Anschauung liegt, wie das Guyer (1979) tut, wenn er das freie Spiel als die ersten beiden Stadien der „dreifachen Synthesis“ identifiziert, wie sie in der A-Deduktion beschrieben werden. Dann aber müssen wir erklären, wieso nicht jedes Objekt der Wahrnehmung als schön erfahren wird. Alternativ
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dazu könnten wir darin etwas sehen, was mehr einschließt als das, was für Erkenntnis nötig ist: Wir könnten es als Stadium denken, in dem tatsächlich Begriffe auf die Mannigfaltigkeit angewendet werden, aber in einer solchen Vielfalt, daß nicht ein einzelner Begriff oder ein Begriffsbündel als für die Einheit verantwortlich ausgemacht werden kann, die von der Einbildungskraft an das Mannigfaltige herangetragen wird. In diesem Falle jedoch scheint Kant nicht in einer Position zu sein, von der aus er für die allgemeine Mitteilbarkeit des freien Spiels einfach auf Basis der allgemeinen Mitteilbarkeit der Erkenntnis argumentieren könnte. Ich werde nicht versuchen, hier die umfangreichen Debatten zusammenzufassen, die um den Begriff des freien Spiels entstanden sind (einen neueren Überblick bietet Guyer 2006). Ich möchte nur festhalten, daß nach meiner Ansicht (dargelegt in Ginsborg 1997) die Frage, was Kant mit dem freien Spiel meint, sich aus meiner Antwort auf die Frage ergibt, wie das Lustempfinden sich zum Schönheitsurteil verhält. Die Tätigkeit, die Kant als „freies Spiel“ bezeichnet, ist meines Erachtens die Gemüts tätigkeit, durch die man bei der Wahrnehmung eines Objekts die eigene Gemütstätigkeit bezüglich dieser Objektwahrnehmung für allgemein gültig hält; das heißt, es ist der selbstbezügliche Akt des Urteilens, daß man so über das Objekt urteilt, wie jeder urteilen sollte. Dies zählt als Tätigkeit der Einbildungskraft, weil sie, wie die objektive Wahrnehmung, unmittelbar durch die Einwirkung des Objekts auf die Sinnesorgane ausgelöst wird. Es braucht keine Abwägungen, um den eigenen Gemütszustand bei der Wahrnehmung eines Objekts für diesbezüglich allgemein mitteilbar zu halten, ebensowenig wie es einer Abwägung bedarf, um das Objekt für grün, dreieckig oder einen Hund zu halten; in beiden Arten von Fällen geschieht das „Urteilen“ in der Apprehension der Einbildungskraft, in der das Objekt erfaßt wird. Außerdem ist es eine Tätigkeit der Einbildungskraft, die als mit dem Verstand zusammenstimmend gilt, und zwar genau wegen des darin enthaltenen Anspruchs auf Allgemeingültigkeit. Bei der Apprehension des Objekts halte ich mich für gebunden, wieder wie im Falle der objektiven Erkenntnis, durch eine allgemeine Regel, die bestimmt, wie es von mir und allen anderen wahrgenommen werden sollte, und dieser Bezug auf eine allgemeine Regel ist schon ausreichend, um diese Tätigkeit als harmonisch zusammenstimmend mit dem Verstand zu beschreiben. Im Gegensatz jedoch zum Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand in der objektiven Erkenntnis läßt sich für die allgemeine Regel hier keine Charakteristik geben, insbesondere läßt sich nicht angeben, welche Regel es ist, außer durch Verweis auf das Beispiel meiner eigenen gegenwärtigen Wahrnehmung des Objekts. So kann ich beispielsweise nicht sagen, daß ich
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das Objekt als Hund oder als Dreieck wahrnehmen sollte. Ich kann lediglich sagen, daß ich das Objekt auf diese Weise wahrnehmen sollte, wobei das hinweisende Fürwort „diese“ eben die Weise bezeichnet, in der ich selbst es gerade wahrnehme. Der Charakter der Regel, die man als für die eigene Apprehension bindend anerkennt, hängt daher von nichts anderem ab, als von der eigenen Apprehension selbst; dies erklärt, nach meiner Leseweise, die „Freiheit“ dieser Tätigkeit. (Übersetzung aus dem Englischen von Gerhard Herrgott)
Literatur Allison, Henry E. 2001: Kant’s Theory of Taste. A Reading of the Critique of Aesthetic Judgment, Cambridge/MA. – 2003: Reply to the Comments of Longuenesse and Ginsborg, in: Inquiry 46, 182–194. Ameriks, Karl P. 2003: Interpreting Kant’s Critiques, Oxford. Aquila, Richard 1982: A New Look at Kant’s Aesthetic Judgments, in: T. Cohen, P. Guyer (eds.), Essays in Kant’s Aesthetics, Chicago, 55–114. Cohen, Ted 1982: Why Beauty is a Symbol of Morality, in: T. Cohen, P. Guyer (eds.), Essays in Kant’s Aesthetics, Chicago, 221–236. Crawford, Donald 1974: Kant’s Aesthetic Theory, Madison. Ginsborg, Hannah 1990: The Role of Taste in Kant’s Theory of Cognition, New York. – 1991: On the Key to Kant’s Critique of Taste, in: Pacific Philosophical Quarterly 72, 290– 313. – 1997: Lawfulness without a Law: Kant on the free Play of Imagination and Understanding, in: Philosophical Topics 25, 37–81. – 1998: Kant on the Subjectivity of Taste, in: H. Parret (Hrsg.), Kants Ästhetik/Kant’s Aesthetics/L’esthetique de Kant, Berlin, 448–465. – 2003: Aesthetic Judging and the Intentionality of Pleasure, in: Inquiry 46, 164–181. Guyer, Paul 1979: Kant and the Claims of Taste, Cambridge/MA. – 2006: The Harmony of the Faculties revisited, in: R. Kukla (ed.), Aesthetics and Cognition in Kant’s Critical Philosophy, Cambridge/MA, 162–193. Kohler, Georg 1980: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung, Berlin. Kulenkampff, Jens 1990: The Objectivity of Taste: Hume and Kant, in: Noûs 24, 93–100. Longuenesse, Béatrice 2003: Kant’s Theory of Judgment, and Judgments of Taste, in: Inquiry 46, 146–163. – 2006: Kant’s Leading Thread in the Analytic of the Beautiful, in: R. Kukla (ed.), Aesthetics and Cognition in Kant’s Critical Philosophy, Cambridge/MA, 194–219.
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Relation des Schönen (§§ 10–17), Modalität des Schönen (§§ 18–22)
5.1 Was sagen wir eigentlich, wenn wir von etwas behaupten: „Das ist schön.“? Was für eine Art von Sein und Verständnis offenbart sich durch dieses „ist“? Mit welchem Recht können wir dieses Urteil aussprechen? Für die „Analytik“ der ästhetischen Urteilskraft folgt Kant der Urteils- und Kategorientafel der Kritik der reinen Vernunft, da die ästhetische Erfahrung sich in einer Art von Urteilen ausdrückt. Kant bedient sich der logischen Urteile als Kontrast, um den Sinn der ästhetischen zu finden, als eine Karte oder „Anleitung“ (203, 22), anhand derer er die Erklärungen und das Wesen des Schönen systematisch untersucht. Dem Plan der vier Kategorienklassen folgend, gewinnen wir vier Perspektiven auf die Sache selbst. Die beiden ersten, Qualität und Quantität, wurden bereits behandelt. Nun ist die Relation an der Reihe. Kants Analyse fängt mit den Qualitätskategorien an, weil die Pforte zum ästhetischen Gebiet eine qualitative Umkehrung im Blick ist, die uns ein neues Land erschließt. Diese Änderung unserer Haltung den Gegenständen gegenüber begreift Kant als eine Betrachtung des Objekts „ohne alles Inter esse“ (211, 3 f.), das heißt, nicht durch einen bestimmten Begriff geleitet, der ein Ziel in der technischen, wissenschaftlichen, pragmatischen oder moralischen Beherrschung der Objekte ausdrückt (§§ 1–5), um unsere materielle Abhängigkeit positiv umzukehren. Das wird auch für den von uns betrachteten Abschnitt grundlegend sein. Wir werden jedoch erfahren, daß das Ästhetische auch sein eigenes Interesse mit sich bringt, das in der ästhetischen Lust zu Tage tritt und uns darin „weilen“ läßt (222, 33), denn „einem jeden Vermögen des Gemüts kann man ein Interesse beilegen“ (KpV V 119, 32 f.).
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Die ästhetische Erfahrung ist durch keinen „bestimmten“ Begriff geleitet, wenn auch nicht ohne die Anwendung der Kategorien, wie Hegel Kant interpretierte (1835–38/1970, XIII 86), da es sonst keine Erscheinung gäbe, die wir als „schön“ beurteilen könnten. Zum ästhetischen Urteil gehört auch Verstand, wie zu allen Urteilen (203 FN, 228). Die dritte Kritik setzt schon die erste, die objektive Erfahrung (Raum, Zeit, Schemata, Kategorien und Prinzipien) voraus, und es stellt sich die Frage, wie wir zur Spezifikation der Natur (zu empirischen Gesetzen und Begriffen) gelangen, um diese Erfahrung weiter und systematisch artikulieren zu können (180, 184 f., 360 f., 386, 404, KrV B 165, KrV A 651–654/B 679–682). Aber es existieren noch drei weitere Erscheinungsbereiche innerhalb dieser spezifizierten Erfahrung, die eine besondere Betrachtung verlangen, weil dort die objektivierenden Begriffe und das mechanische Prinzip allein scheitern: die lebendige Natur (§§ 63–82), die Geschichte (§ 83) sowie das hier behandelte Thema, das Ästhetische (§§ 1–60). Für alle diese Probleme läßt sich Kant durch das Prinzip der Teleologie leiten. Sie wird als eine transzendental begriffene Zweckmäßigkeit, das heißt als eine Bedingung der Möglichkeit vom Verstehen und ZurOrdnung-Bringen dieser Gebiete aufgefaßt, obwohl in jedem die Zweckmäßigkeit nicht dieselbe Reichweite und Implikationen besitzt. Dieser zentrale Begriff wird unter § 10 erklärt. In der eigentlichen Bedeutung der Zweckmäßigkeit muß man nach Kant an die Handlung eines bewußten Willens denken, der durch einen in einen Begriff gefaßten Zweck schon im voraus weiß, was er will (Religion VI 384 f.): „[S]o ist Zweck der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird; und die Kausalität eines Begriffes in Ansehung seines Objektes ist die Zweckmäßigkeit (forma finalis)“ (220, 1–4). Der in einen Begriff gefaßte Zweck bestimmt daher reflexiv (vorher als Möglichkeit gefaßt) das Ganze der Handlungen und der Mittel, und danach verhält sich das vernünftige Wesen in und mit der Welt zweckmäßig. Wenn es erreicht, was es will, hat es sein Wohlgefallen, da seine Spontaneität und seine Endlichkeit in der Wirklichkeit zusammenstimmen. Der Begriff „Ins-Kino-Gehen“ drückt zum Beispiel mein jetziges Interesse aus, und dem zufolge bestimmt mein Wille alle meine Handlungen so lange, bis ich den Film gesehen habe. Der größte Unterschied dieser Auffassung der Zweckmäßigkeit zur Lage der hiesigen vier Gebiete, in denen sie angewendet ist, liegt darin, daß die Zweckmäßigkeit in diesen nicht reflexiv sein kann und als Begriff dem Objekt nicht (in der Kunst nur teilweise) vorausgeht. Das kompliziert das Verstehen der Zweckmäßigkeit in der Natur aber übermäßig und verwandelt sie hier in einen analogen und zweideutigen
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Begriff. Kant hätte die Subjektivität der Einbildungskraft zu Hilfe nehmen sollen, die zweckmäßige Figuren ohne leitende Begriffe bilden kann, wie sich in der Kunst zeigt (Rivera de Rosales 1998). Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – erfindet Kant hier, für die Analyse des Ästhetischen, einen neuen und kühnen Begriff: Im Schönen gäbe es „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“. „Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird“ (236, 9 ff.). „Zweckmäßigkeit“ bedeutet hier, daß die verschiedenen Objektteile sich dem Subjekt angemessen in einander einfügen und ein harmonisches Ganzes für dieses bilden, als wäre ein Begriff die Ursache des Ganzen; die Vernunft will auch organisierte Einheit in der Mannigfaltigkeit. Die Begriffe von „Zweck“ und „Zweckmäßigkeit“ leiten sich ursprünglich von der Vernunft ab (370, 396, 1. Einleitung KU XX 234, Teleologische Prinzipien VIII 182), da sie in erster Linie das Verlangen dessen bedeuten, was noch nicht da ist, aber durch die vernünftige Handlung sein soll (Zweck), und weil sie das Bewußtsein der Realität an sich oder die Unbedingtheit der Freiheit erscheinen läßt, so daß alles andere als Mittel für sie zu betrachten wäre und mit ihren Forderungen übereinstimmen sollte (Zweckmäßigkeit). Als transzendentales Prinzip der Natur ist es aber „ein eigentümlicher Begriff der reflektierenden Urteilskraft, nicht der Vernunft“ (1. Einleitung KU XX 216, 5 f.), da es dort kein bestimmendes Prinzip ist (XX 234 ff.), doch seine Möglichkeit „folgt bloß dem Prinzip der Vernunft“ (XX 244, 1), ihrem Verlangen. Die naturgegebene Zweckmäßigkeit stellt die notwendige Brücke für die Verwirklichung der Freiheit, das Subjektivierungsprogramm der Welt nach den rationalen Forderungen des Subjekts, dar. Die Urteilskraft bedient sich ihrer hier als Prinzip des Verstehens, wenn die mechanischen, in der Kritik der reinen Vernunft untersuchten Prinzipien nicht ausreichen, um eine besondere Erscheinung zu verstehen. „Ohne Zweck“ bedeutet dasselbe wie „ohne Begriff“, das heißt, dieses zweckmäßige Ganze wurde nicht durch einen reflexiven Willen dank eines vorhergehenden Begriffes erreicht. Noch mehr: Hierin unterscheidet sich das ästhetische Urteil vom teleologischen, denn dieses legt der Natur „unseren Begriff vom Zweck zur Beurteilung ihres Produkts“ (193, 3 f.) als Naturzweck zugrunde (wenn auch nur als regulatives Prinzip). „Darauf gründet sich die Einteilung der Kritik der Urteilskraft in die der ästhetischen und teleologischen“ (193, 18 f.). Deswegen entfernt sich die ästhetische Urteilskraft weiter vom Verstand und der Vernunft, enthält ein eigenes Prinzip a priori und ist in sich „ein besonderes Vermögen“ (194, 23; auch 1. Einleitung KU XX 243 f., 249), da sie in der frei (ohne Begriff),
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aber zweckmäßig bildenden Einbildungskraft gründet. Wir werden jedoch im folgenden sehen, daß in der anhängenden Schönheit so wie im Erhabenen und der Kunst (in ihrer Technik) der Begriff und die Vernunft auch eine gewisse Rolle spielen. „Ohne Zweck“ ist auch gleichbedeutend mit „ohne Interesse“. Dank der oben erwähnten qualitativen Veränderung im Blick suchen wir nicht mehr, das Objekt durch einen wissenschaftlichen, technischen, pragmatischen oder moralischen Begriff zu beherrschen. Das Geschmacksurteil ist „bloß kontemplativ“ (209, 22 f.). Wir setzen das Objekt weder in eine Reihe aus Ursachen und Wirkungen noch aus Mitteln und Zwecken. Wir lassen den Gegenstand frei sein, wie er ist. Wir betrachten das Objekt nicht aus der begrenzten Perspektive eines bestimmten Begriffs, sondern wir lösen es vom Netz materieller und realer Interessen des Willens ab. Wir wollen diese Erscheinung in ihrer Singularität anschauen, nicht für einen anderen Zweck benutzen (236 FN). Das Schöne gefällt unmittelbar, in der reflektierten Anschauung (285, 353 f.). Alle Geschmacksurteile sind Einzelurteile (§ 5, auch 285), „weil das konstruktive Verfahren [der Einbildungskraft] sich in universellen Begriffen nicht ausdrücken (also auch nicht wiederholen, nachahmen, etc.) läßt; das Objekt bleibt ein absolut Einmaliges“ (Martínez Marzoa 1987, 53). Die endlosen Ketten der instrumentellen Zweckmäßigkeit werden abgerissen, und der Mensch kann sich selbst im Schönen auch als Zweck für sich selbst ansehen. Es eröffnet sich uns ein reflexiv-affektives Verstehen unseres konkreten „In-der-Welt-Seins“ ohne anderen Zweck als die fröhliche Behauptung der Existenz um ihrer selbst willen (302); Kant spricht von „Lebensgefühl“ (204, 8). Wir erheben uns über unsere Sorgen und Bedürfnisse und erfassen bewußt und lebendig unser Selbst in seiner Umgebung, die Harmonie zwischen Freiheit und Welt, die uns die Natur lieben macht (267, 35 f.).
5.2 Die Kategorien der Relation sind: Substanz, Kausalität und Wechselwirkung oder Gemeinschaft (KrV A 80/B 106). Die „Substanz“ des Schönen ist die Zweckmäßigkeit ohne Zweck, also bloß die für das Subjekt zweckmäßige Form des Objekts (§ 11). Der ästhetische Blick ist nicht unmittelbar an seiner Materialität als solcher für unsere sinnlichen Bedürfnisse (Nutzung) oder an seinem intellektuellen Inhalt für den Verstand (Wahrheit) oder an seinem Gehalt für die praktische Vernunft (das Gute) interessiert: „Das Geschmacksurteil hat nichts als die Form der Zweckmäßigkeit eines
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Gegenstandes (oder der Vorstellungsart desselben) zum Grunde“ (221, 2 ff.). Die Kantische Ästhetik ist an erster Stelle eine Ästhetik der Form und hat so ihre Selbstständigkeit. Die Form, um die es hier geht, ist eine ästhetische, das heißt eine sinnliche, keine übersinnliche, wie dies beim Platonismus mit der Schönheit an sich als bloße intellektuelle Idee oder Form der Fall war; ein reiner Geist (Gott) könnte keine ästhetische Erfahrung machen. „Eine Blume […] wird für schön gehalten, weil eine gewisse Zweckmäßigkeit […] in ihrer Wahrnehmung angetroffen wird“, und so haben wir ein „unmittelbares Wohlgefallen an ihrer Anschauung“ (236), wie beim Kostgeschmack (285; Anthropologie VII 239, 242). Derselbe Inhalt, z. B. die Freiheit oder die Kreuzigung Christi, kann in der Kunst schön, aber auch nicht schön gezeigt werden, je nach seiner sinnlichen Darstellung. Die Form ist also die für uns gelungene Anordnung und Einteilung der sinnlichen Mannigfaltigkeit, in einem bestimmten Ganzen organisiert, in einer synthetischen Einheit, die durch die freie Einbildungskraft in der Vorstellung gebildet und festgehalten wird (Anthropologie VII 246, 17 f.). Diese Angemessenheit bringt uns die ästhetische Lust, „bloß das Verhältnis der Vorstellungskräfte zueinander“ in der Kontemplation der Form einer Erscheinung (221, 14). Unter dieser ästhetischen Form denkt Kant eher an die Zeichnung als an die Farben in den bildenden Künsten, eher an die Komposition als an Töne bei der Musik (225 f., 330), weil sie Einheit in der Mannigfaltigkeit bedeuten, also eher die räumlich-zeitlich quantitative Gestalt als das Qualitative. Ein bloßer Ton oder eine bloße Farbe wären nur Empfindungen, es sei denn, sie wären „rein“ und nicht gemischt, oder wenn wir sie mit Euler auch als Einheit einer Mannigfaltigkeit von Eindrücken betrachten. Das letzte stimmt mit der Kantischen Auffassung der Erscheinung sehr gut überein, weil es seiner Ansicht nach kein einfaches Element in der Erscheinung gibt und sie nichts als bloße Verhältnisse enthält (KrV B 66 f., KrV A 523–527/B 551–555). Dem zufolge ist das erste Argument sehr schwach; Kant verwendet erstens das Adjektiv „rein“ äquivok: reine Farbe, reines Geschmacksurteil, reine Form. In jedem Kontext hat dieses Wort aber eine andere Bedeutung; und zweitens gibt es eigentlich keine „reine“ Farbe, da sogar die Primärfarben (rot, blau, gelb) auch durch Mischung anderer zustande kommen können. In der Tat dehnen sich Form und Materie gleich aus: Es gibt keine Materie ohne eigene Form und umgekehrt, da sie nicht realiter getrennte Elemente, sondern Reflexionsbegriffe sind (KrV A 266–268/B 322–324). Die ästhetische Form soll demnach die Anordnung aller materiellen Einzelheiten von diesem Objekt als Ganzes, einschließlich der benutzten konkreten Farben und Töne, ihres Grades von Inten-
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sität oder Helligkeit, der Stofflichkeit und Stimmhaftigkeit der gewählten Worte einer Dichtung etc. sein. All dies wird aber nicht in der objektivierenden Perspektive, sondern durch die ästhetische Umkehrung des Blickes betrachtet. Die Form ist die Verbindung aller dieser Elemente durch das schöpferische Dichten der freien produktiven Einbildungskraft (Anthropologie VII 240, 35 f.). Am Ende (§ 51) akzeptiert Kant auch diese Erweiterung der ästhetischen Form bis zur Farbe und zum Ton (324 f.). Also, daß die Schönheit keine objektive Qualität sei, kann nicht bedeuten, sie betreffe nur das Subjekt, „denn die Zweckmäßigkeit hat […] doch im Objekte und seiner Gestalt ihren Grund“ (279, 13 f.; auch 245, 16– 19). Im anderen Fall wäre das Geschmacksurteil keine Beurteilung der Objekte oder Kunstwerke. Man sollte annehmen, alles bei Kant ist gleichzeitig gegeben und gesetzt, objektiv und subjektiv, aber in mannigfaltigen Blicken, die uns unterschiedliche Aspekte der subjektiv-objektiven Realität vermitteln; die transzendentale Subjektivität ist kein geschlossenes Ding oder Monade, sondern eine die verschiedenen Arten des Seins (das Objekt, das Schöne, die Person etc.) eröffnende ideell-reale Tätigkeit. Das, was wir Objekt nennen, ist auch eine unzertrennliche, nur idealiter trennbare Synthesis beider Momente. Ohne etwas Gegebenes wäre alles leer, und ohne die subjektive Handlung wäre alles blind (KrV A 51/B 75) – also eigentlich nichts. Auch im Ästhetischen.
5.3 Die zweite Kategorie der Relation ist die Kausalität, und an dieser Stelle (§ 12) untersucht Kant, welches die Ursache, oder besser gesagt, der Grund der ästhetischen Erfahrung ist. Wir wissen schon, das ästhetische Urteil gründet sich auf keinen Begriff, sondern auf ein Gefühl der Lust und Unlust (§ 1). Aber haben die Gefühle nicht insgesamt einen empirischen Ursprung? Drücken sie nicht unsere Passivität gegenüber der Welt aus, wie Kant selbst in der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft immer noch behauptete (KrV A 15/B 28 f., KrV A 21/B 36 FN, KrV A 29, KrV A 55/B 79)? Dann wären alle Gefühle eine bloße Wirkung der Gegenstände (Affektion), sie würden lediglich unsere materielle Abhängigkeit zu Bewußtsein bringen und ein materielles Interesse für seine Beherrschung in uns veranlassen. Wir brauchen also hier eine andere Art von Gefühlen, die nicht an das Materielle angebunden sind, ein Gefühl, das mit der Umkehrung des Blickes und mit der reflexiven Entfernung der Interesselosigkeit entsteht, uns eine andere affektive Betrachtung der Wirklichkeit erlaubt
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und eine mit der Form spielende Tätigkeit ermöglicht. Dieses reflexive Bewußtsein bleibt doch immer noch ein Gefühl, weil es sich nicht in der universellen Luft der Begriffe bewegt, sondern in der begrenzten Wirklichkeit der einzelnen Gegenstände und in unserem entsprechenden Zustand verweilt; wir verstehen jede Begrenzung mit Hilfe eines Gefühls. Aber diese tritt gerade durch eine ideelle Tätigkeit hervor, durch die reflexive Distanz, so daß wir hier das umgekehrte Verhältnis finden: Das ästhetische Gefühl soll auf unserer Tätigkeit basieren (§ 9), was für Kant ein apriorisches Gefühl bedeuten würde. Ist das aber nicht etwas Widersprüchliches? In einem Brief an Reinhold (1787) teilte Kant diesem mit, er habe bei seiner Beschäftigung mit der Kritik des Geschmacks „eine neue Art von Prinzipien a priori entdeckt […], als die bisherigen“, und zwar für das Gefühl der Lust und Unlust, obwohl er es für unmöglich hielt (X 514). In der Kritik der reinen Vernunft schon war es für Kant auffällig, daß wir im bloß empirischen, in der Empfindung, etwas (den Grad) a priori antizipieren können (KrV A 175/B 217). In der Kritik der praktischen Vernunft hatte er darüber hinaus entdeckt, daß es sogar ein apriorisches Gefühl gibt, das Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz als „die Form einer intellektuellen Kausalität“, also ein Gefühl, „welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird“ und deswegen kein empirisches, sondern ein apriorisches Gefühl ist. Er ging aber immer noch davon aus, „dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können“ (KpV V 73, auch GMS IV 401 FN). Dieses Gefühl wird durch das moralische Bewußtsein veranlaßt, weil es eine Begrenzung für die Willkür oder eine Willensbestimmung gegen mögliche andere bedeutet (KpV V 75 f.). – Zu diesem moralischen aprio rischen Gefühl könnten wir noch die Selbstzufriedenheit zählen (GMS IV 398; KpV V 38 f., 116 ff.; Religion VI 46 FN, 67 f., 75 FN, 113 f.; TL VI 377 f., 440) –. Diese Eröffnung findet nun ihre Erweiterung in den ästhetischen Gefühlen. Der objektive Grund des ästhetischen Gefühls oder Geschmacks ist bereits bekannt: die formale Zweckmäßigkeit des Gegenstandes. Aber der Gegenstand ist nicht der letzte Grund. Die Erkenntnis würde ohne gegebene Gegenstände nicht stattfinden, aber diese richten sich nach den apriorischen Strukturen der transzendentalen Subjektivität (KrV B xvi f.). So auch hier. Ohne einen formal zweckmäßigen Gegenstand gäbe es zwar kein ästhetisches Gefühl, aber dieser Gegenstand wird als schön geschätzt, weil das Subjekt die Umkehrung des Blickes vollzieht und sich in eine eigentümliche ideelle oder kontemplative Tätigkeit versetzt, durch die sich ein neues Gebiet eröffnet und die zur Richtschnur für die neue Lage
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wird. Diese Handlung ist „die innere Kausalität“ des Geschmacks (222, 25), und zwar das Spiel der Erkenntniskräfte, einer Einbildungskraft, die frei verfährt, aber in dieser Freiheit kein Chaos, sondern eine sinnvolle oder zweckmäßige Gestalt darstellt; während sie sich in Harmonie mit dem Verstand befindet, ist sie bildend tätig, und eine freie Reflexion der Urteilskraft wird zugelassen (270, 33 f.). Diese Reflexion geht dem Gefühl als Bestimmungsgrund des Urteils voraus (1. Einleitung KU XX 224 f.). Das also ist der transzendentale Grund des ästhetischen Gefühls: das zweckmäßigste Verhältnis der Vorstellungskräfte bei einer Vorstellung, „wo Einbildungskraft in ihrer Freiheit den Verstand erweckt, und dieser ohne Begriffe die Einbildungskraft in ein regelmäßiges Spiel versetzt“ (296, 1 ff.), wo „der Verstand der Einbildungskraft und nicht diese jenem zu Diensten ist“ (242, 19 f.) – deswegen können die Tiere, die sich nicht bis zum Verstand erheben, keine ästhetische Erfahrung machen. Die selbsttätige Einbildungskraft wird nicht durch die Disziplin eines bestimmten Begriffes genötigt und müde; es ist folglich eine Lust für sie, ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken und dort zu verweilen, und der Verstand findet in der Ordnung und der freien Gesetzmäßigkeit (240, 23 f.) der schönen Form seine Befriedigung. Diese Harmonie ist der transzendentale Grund dafür, daß die Form des Objekts als zweckmäßig und schön beurteilt wird, und die transzendentale ratio essendi des ästhetischen Gefühls, aber dieses ist die ratio cognoscendi jenes Grundes, da das Bewußtsein dieses konkreten Zustandes kein Begriff sein könnte. An dieser Stelle läßt sich die sinnliche Form des Schönen weitergehend bestimmen. Die Belebung unserer Erkenntniskräfte durch das Schöne bringt uns Lust, und das führt dazu, daß wir bei der Betrachtung des Schönen „weilen […], weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert“ (222, 33) und weil „das, womit Einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns jederzeit neu“ ist (243, 2 f.). Statt dessen gewährt uns alles „Steif-Regelmäßige“ (242, 34) keine lange ästhetische Unterhaltung bei seiner Betrachtung, sondern macht „lange Weile“ (243, 2). Diese kargen Kantischen Andeutungen mit den Worten „weilen“, „jederzeit neu“ und „erhalten“ (220, 11; 222, 33) könnten dazu dienen, die Erarbeitung einer eigenen zeitlichen Gestalt beim Schönen aufzunehmen. Kant hat die Zeit spezifisch nur für das Theoretische in der Kritik der reinen Vernunft behandelt. In seinem Werk finden sich aber andere Arten der Zeitlichkeit, die nicht einfach durch die Schemata der Einbildungskraft und die theoretisch verstandenen Kategorien zu verstehen wären: die Zeit der inneren Revolution zum Guten oder die der Geschichte wären zwei Beispiele dafür. Dasselbe könnte auch für den Raum gelten. Mit der Umkehrung des
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Blickes zur Interesselosigkeit treten wir in eine andere Art von Zeitlichkeit ein, ohne die alte zu verlieren (wir betrachten in der Kritik der Urteilskraft eine Spezifikation der Erfahrung, aber innerhalb der in der Kritik der reinen Vernunft dargestellten allgemeinen Natur, nicht in einer anderen Welt), und wir verstehen den Raum des Gegenstandes auch anders, so wie das auch bei der inneren Zweckmäßigkeit eines lebendigen Körpers geschieht (§§ 64 ff.). Zeit und Raum als bloß formale Bedingungen der Sinnlichkeit geben uns in der Tat nur eine zu ordnende formale Mannigfaltigkeit, aber alle Ordnung stammt aus der Spontaneität (KrV A 120 FN, KrV B 129 f., KrV B 160 f. FN), also nicht aus der Zeit und dem Raum selbst. Sie können verschiedene Ordnungen erhalten. Nun ist aber mit der Umkehrung des Blickes und der Interesselosigkeit eine andere auslegende, ordnende Spontaneität, die frei gestaltende Einbildungskraft gemeinsam mit der reflexiven Urteilskraft, entstanden, die innerhalb der alten Ordnung eine neue hineinbringt, eine Art Windung oder Schleife, eine neue Form vom räumlichen und zeitlichen In-der-Welt-Sein. Sie ist nicht mehr linear, sondern wir erleben dort die Zeit vielmehr als rekursiv und nicht einfach fließend (auch in der Musik), die Zeit in der Zeit aufhebend, wie Schiller sagt (1795/1975, V 612 f.), und den Raum als organisch erfaßt, in dem nicht alle Punkte gleichbedeutend sind und die Teile uns auf die andere Teile und auf das Ganze und dieses auf jene verweisen. So entsteht ein Sinnganzes, etwas Bewohnbares, in dem wir reflexiv fühlend verweilen können, das trotzdem ein endliches Ganzes und deswegen grundsätzlich offen bleibt, so wie die Subjektivität selbst.
5.4 Die dritte Kategorie der Relation ist die Wechselwirkung oder Gemeinschaft. Dem zufolge behandelt Kant jetzt die Gemeinschaft des Schönen mit den beiden anderen Wohlgefallen: dem Angenehmen (§§ 13 f.) und dem Guten (§§ 15 ff.). Das Ergebnis ist bereits bekannt (§§ 2–5): Das Schöne gefällt ohne alles Interesse am Materiellen lediglich durch die zweckmäßige Form, das Angenehme aber wegen seines empirischen Inhalts und das Gute als materielles Mittel für die reelle Freiheit. Also sind sie verschieden, ohne unmittelbare Relation, und das begründet die Autonomie des Ästhetischen. Der Geschmack ist also ein besonderes reflexives Beurteilungsvermögen für das Schöne und das Nichtschöne, das Wohlgefallen und das Mißfallen (211, 3; 238, 6; 242, 7 f.; 279, 11; 282, 14; 284, 30).
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Bei einem reinen Geschmacksurteil spielt das Angenehme keine maßgebliche Rolle. Es kann das Schöne auch begleiten (wie die Neigungen das moralische Gesetz), aber die zweckmäßige Form soll darin die Grundlage oder der Bestimmungsgrund sein. Das materielle Angenehme versteht Kant hier als „Reiz und Rührung“, als etwas, das uns „vergnügt oder schmerzt“ (223, 2, 8), also eigentlich etwas, das wir um seiner Nützlichkeit willen gebrauchen, um unseren physischen, psychologischen oder sozialen Bedürfnissen zu entsprechen. Wir hätten dann nicht die nötige Distanz des Spiels, des „als ob“, und wir wären von der Realität der Sache angezogen und betroffen, z. B. von Ekel oder mit wirklichem Horror und Leid oder geschlechtlich oder wir würden unserer Interesse daran zeigen, damit die anderen uns schätzen etc. Wir hätten die Umkehrung des Blickes noch nicht vollzogen und würden die Schönheit immer noch als ein Ding betrachten, was ein ontologischer Irrtum wäre; wir wären „noch barbarisch“ (223, 12), sehr an das Materielle gebunden, nicht eigentlich „kultiviert“ (266, 30, 34), und es würde uns an Feinheit, an ästhetischer Erziehung fehlen. Aber der Reiz könnte uns helfen, die Aufmerksamkeit auf das Schöne zu ziehen, „wenn der Geschmack noch schwach und ungeübt ist“ (225, 14 f.). Das wäre ihre mögliche Gemeinschaft. Die Rührung wird beim Erhabenen eine Rolle spielen (226, 15 f.). Im § 41 wird Kant noch auf die indirekte Verbindung zwischen dem Schönen und dem empirischen Interesse in der Gesellschaft und für diese eingehen.
5.5 Das Schöne ist auch unabhängig vom Guten, weil dieses durch einen Begriff beurteilt wird, der eine objektive und nicht nur formale Zweckmäßigkeit ausdrückt. „Die objektive Zweckmäßigkeit ist entweder die äußere, d. i. die Nützlichkeit“, als Mittel für etwas anderes, „oder die innere, d. i. die Vollkommenheit“ (226, 31 f.), als Zweck in sich selbst. Das Schöne ist erstens nicht das Nützliche (das pragmatische Gute), da das Wohlgefallen an ersterem unmittelbar, an zweiterem aber mittelbar (für etwas anderes) ist. Zweitens ist das Schöne auch nicht unmittelbar das Vollkommene (das praktische Gute), schon gar nicht das verworren gedachte Vollkommene, wie Baumgarten (Aesthetica § 14) dachte, obwohl beide näher beieinander liegen. Um etwas als vollkommen zu beurteilen, bedürfen wir des vernünftigen Begriffs davon, was das Ding sein soll, des Begriffs seines inneren Zwecks. Die Schönheit eines Dinges hat aber keine direkte Beziehung zu seinem inneren Zweck, sondern zur Zweckmäßigkeit seiner Form, zur
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„Einhelligkeit im Spiele der Gemütskräfte“ (228, 29 f., auch 1. Einleitung KU XX 226–229). Nachdem Kant den Unterschied zwischen dem Schönen und dem Guten proklamiert hat (§ 15), fängt er an, auch ihre mögliche Gemeinschaft zu untersuchen, und zwar mit den wichtigen Begriffen von der „freien“ und der „anhängenden“ Schönheit (§ 16). Die freie Schönheit (pulchritudo vaga) hat kein Verhältnis zum Guten, sie setzt keinen Begriff der Sache voraus. Wir könnten leicht geneigt sein zu glauben, diese freie Schönheit und ihr entsprechendes reines Geschmacksurteil seien das ästhetisch Wichtigste für Kant, weil sie die Schönheit am reinsten und am unabhängigsten darzustellen scheinen. Wir werden das Gegenteil erfahren: In der anhängenden Schönheit potenzieren sich Geschmack (Gefühl und freie bildende Einbildungskraft) und Begriff, Form und Inhalt, gegenseitig, und sie wird später in der Kunst des Genies maßgebend sein, so daß die Kantische Ästhetik von nun an nicht nur eine der reinen Form ist, sondern auch und immer mehr eine Ästhetik der Expressivität (symbolischer Darstellung von Ideen) wird. Die Subjektivität ist für Kant erst eine synthetische Handlung (KrV A 77 ff./ B 102 ff., KrV B 130), eine Einheit mannigfaltiger Elemente, die zunächst nicht getrennt sein können, aber auch nie verschmolzen und verwechselt werden sollen, weil es in ihrer Verwirrung und Nicht-Unterscheidung kein Bewußtsein und demnach keine Subjektivität gäbe. Bewußtsein braucht immer gleichzeitig Einheit und Unterscheidung. Kant hat die theoretische Erkenntnis in ihrer unabhängigen Struktur in der Kritik der reinen Vernunft idealiter getrennt analysiert, und später die Freiheit in der zweiten Kritik. Es gäbe aber realiter die eine ohne die andere nicht, und das theoretische Interesse ist nur im praktischen vollständig (KpV V 121, 29 ff.), als notwendiges Mittel für die Realisierung der Freiheit. Dieses Verhältnis beider tut aber ihrer Unterscheidung und besonderen Seinsart keinen Abbruch. Dasselbe geschieht hier mit dem Schönen und den vernünftigen Interessen der Subjektivität. Die Schönheit wird erst in ihrer Unabhängigkeit und transzendentalen Grundlage analysiert, aber das bedeutet noch lange nicht, daß sie in der Verbindung mit den Ideen der Vernunft als Inhalt ihrer Form sich nicht erhöhen und verstärken und so der beste sinnliche und symbolische Ausdruck der höchsten Interessen der Subjektivität werden kann. Kant bietet uns einige Beispiele für die freie Schönheit an: Blumen, exotische Vögel, Zeichnungen à la grecque, von denen wir keinen Begriff haben, wie sie sein sollten, oder mindestens davon abstrahieren. Sie bringen uns aber nicht dazu, mehr zu denken. In diese freie Schönheit versetzt Kant „die ganze Musik ohne Text“ (229, 32), ohne Begriffe (Anthropologie VII 155). In späteren Abschnitten werden wir Kants Zweideutigkeit gegenüber
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der Musik finden: Einmal ist sie eine lediglich angenehme Kunst, besonders wenn sie ohne Text bleibt, weil sie dann mehr Genuß der Empfindungen als Kultur ist, aber in ihrer Komposition gilt sie als schöne Kunst (§§ 52 ff.). Die reine Musik wird erst bei den Romantikern ästhetisch geschätzt, und zwar als die höchste Kunst und der beste Ausdruck des Unendlichen. Die anhängende Schönheit (pulchritudo adhaerens) ist eine bedingte, das heißt, sie bewegt sich frei, aber innerhalb eines bestimmten Kreises vom Begriff eines Objekts. Ein Haus ist etwas Nützliches und kann auch schön sein, und mit diesem Zusammentreffen beider Merkmale „gewinnt das gesamte Vermögen der Vorstellungskraft“ (231, 8 f.). Dasselbe geschieht mit einem Theaterstück, in dem die Freiheit oder eine andere Vernunftidee in ausgezeichneter Weise dargestellt werden. So „gewinnt der Geschmack durch diese Verbindung des ästhetischen Wohlgefallens mit dem intellektuellen“ (230, 30 f.). Man sollte aber beide Kriterien, das ästhetische für die Form und das intellektuelle für den Inhalt, nicht verwechseln (270 f.). Ein Betrachter kann ein Gemälde der Jungfrau Maria als nicht schön beurteilen, obwohl er ein gläubiger Christ ist, und umgekehrt. Ein Revolutionär kann verstehen, daß ein Roman nicht gelungen ist, obwohl in diesem die Revolution gepriesen wird. Auch „in aller schönen Kunst besteht das Wesentliche in der Form“ (325, 35 f.). Wird aber diese Form mit keinem interessanten Inhalt gefüllt, besitzt sie weniger Kraft und Bedeutung, da die Synthesis dieser beiden Elemente stärker und eindrucksvoller als die Trennung wirkt. Kant bleibt aber in § 16 neutral zwischen diesen beiden Arten von Schönheit; hier ist er lediglich darum bemüht, beide als verschiedene, aber ebenso richtige ästhetische Beurteilungen darzustellen, was für manchen Zwist über den Geschmack eine Lösung wäre (231). In der Folge aber, speziell bei der Behandlung der Kunst, gewinnt die anhängende Schönheit an Überlegenheit, weil in ihr die Form und der vernünftige Inhalt gemeinsam als Expressivität mitwirken. Eine Kunst, die nichts mit vernünftigen und moralischen Ideen zu tun hat, dient „alsdann nur zur Zerstreuung“; statt dessen ist dort eine gute Kunst, „wo die Lust zugleich Kultur [Bildung] ist und den Geist zu Ideen stimmt“ (326, 2 f.; auch 266, 30–35, u. Anthropologie VII 236 f.), „da […] der Geschmack im Grunde ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen (vermittelst einer gewissen Analogie der Reflexion über beide) ist“ (356, 14 ff.). Im § 17 behandelt Kant einen Fall von anhängender Schönheit, in dem es möglich ist, sogar von einem Ideal der Schönheit zu sprechen, weil das Zusammenwirken von Schönheit und Gutem darin am engsten stattfindet. Ein Ideal ist ein Einzelnes, das eine Idee der Vernunft vollkommen verwirklicht. Vom Ideal hatte Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft
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gesprochen, und zwar von Gott als Urbild der Vernunft (KrV A 567/B 595 ff.). Jesus wäre das Ideal der praktischen Vernunft oder die moralische Vollkommenheit (Religion VI 60 ff.). Im Gegensatz zu diesen beiden Fällen können wir aber zum Ideal der Schönheit nicht mittels Begriffen gelangen, da es keine objektive Geschmacksregel gibt. Wir haben nur einzelne Geschmacksprodukte vor uns, schöne Dinge, die als exemplarisch dienen könnten. Also wird das Ideal der Schönheit nicht eines der Vernunft, sondern der Einbildungskraft sein (232, 23 f.). Es ist das passendste sinnliche Bild für die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes (217) oder der Gefühle (296) und der Ideen. Aber wie können wir wissen, daß diese exemplarischen Beispiele ein Ideal der Schönheit vorstellen? Wir können es nicht passiv durch anderes und nur nachahmend akzeptieren, weil – erstens – das apriorische oder transzendentale Selbsttätigkeit bedeutet und – zweitens – Intersubjektivität impliziert, in dem Sinne, daß jeder eine eigene Stimme in Geschmacksfragen über Objekte und ästhetische Urteile hat (232). „Der Geschmack muß ein selbst eigenes Vermögen sein“, a priori und autonom (281 ff.), sein Urbild ist eine Idee, „die jeder in sich selbst hervorbringen muß“. Die Einbildungskraft verfährt beim Ästhetischen immer produktiv, auch bei den Naturschönheiten, weil dort die gegebenen Formen der Gegenstände eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, als würde sie durch die Einbildungskraft entworfen (240 f.) – wir sehen die schöne Natur mit künstlerischen Augen. Also ist das Ideal, den besten, feinsten Geschmack und die schönsten und ausdruckvollsten Erscheinungen zu haben, kein gegebenes Faktum, vielmehr setzen wir uns damit eine gemeinsame Aufgabe (so ist auch immer mehr oder weniger die gesamte Subjektivität zu verstehen), hier eine für die Einbildungskraft und die reflexive Urteilskraft, eine, die ein zutiefst verwurzeltes Interesse der Subjektivität in ihrem Mit-Menschen-Sein oder ihrer „Humanität“ (296 f., 355) zeigt. Aufgrund dieser Intersubjektivität und dieses AufgabeSeins gibt es im Ästhetischen eine individuelle Mit-Erziehung und eine Geschichte der gemeinschaftlichen Bildung, die aber von Kant nur unzureichend berücksichtigt wird (etwas darüber in § 60). Nicht alle Gattungen des Schönen sind eines Ideals fähig, so Kants Gedanke. Erstens, die freie oder „vage“ (232, 29) Schönheit kennt kein Ideal, da darin kein Begriff zu finden ist, der uns sagen könnte, wie die Sache am vollkommensten sei. Welche ästhetische Grundlage hätten dann aber die Wettbewerbe um die schönste Blume? Zweitens, eines Ideals fähig wäre nur eine „durch einen Begriff von objektiver Zweckmäßigkeit fixierte Schönheit“ (232, 29 f.), also eine anhängende Schönheit, in der Form und begrifflicher Inhalt zusammenwirken, aber nur eine, deren Gegenstände
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einen inneren Zweck in sich zeigen. Wie können wir dann trotzdem von den schönsten Weltwundern sprechen? Drittens, also „nur das, was den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat, der Mensch“, ist „des Ideals der Vollkommenheit, unter allen Gegenständen in der Welt allein fähig“ (233, auch §§ 83 f.). Innerhalb dieses Ideals müssen wir aber zwei Elemente unterscheiden, ein ästhetisches und ein intellektuelles. Das ästhetische Element wird als „Normalidee“ bezeichnet. Es ist die ästhetisch ideale Form des Menschen, was z. B. im Kanon von Polyklet oder dem von Lysipp behandelt wurde. Durch den Vergleich der Individuen bildet sich die Einbildungskraft die Gestalt des schönsten Menschen, welche bei verschiedenen Rassen verschieden sein solle, so wie die schönsten Gestalten unter den Tierarten. Diese Normalidee wird aber eigentlich nicht aus der Erfahrung abgeleitet, weil kein Individuum ihr ganz angemessen sein kann, sondern ist ein Kriterium zur Geschmacksbeurteilung; sie wäre das „Bild für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in derselben Spezies unterlegte, aber in keinem Einzelnen völlig erreicht zu haben scheint“ (234 f.). Hier liegen im Kantischen Text die Schönheit und die „Technik der Natur“ (233), die beiden Teile der Kritik der Urteilskraft, der ästhetische und der teleologische, am nächsten zusammen. Demzufolge wäre die Kraft, die die Schönheit der Lebewesen schätzt, die Einbildungskraft, im Grunde genommen dieselbe wie die vorreflexive Kraft, die diese Lebewesen erzeugt. Die Kraft, die im Geschmack rein ideell tätig und in der Kunst nach außen produzierend ist, wäre innerlich selbstproduzierend in der lebendigen Natur und würde die Subjektivität von dieser ausmachen. „Die selbständige Naturschönheit entdeckt uns eine Technik der Natur“ in Analogie mit der Kunst (246, 5), die „Natur als Kunst“ (1. Einleitung KU XX 204, 251; 311, 29–312, 7), aber nur als regulatives Prinzip für Kant. Wir könnten dennoch sagen, ein großer Teil der Naturschönheit hätte sich das Leben für sich selbst, als beste Selbstdarstellung und Selbstbehauptung, geschaffen. Insofern fühlen wir uns eben als Lebewesen in dieser Welt wie zu Hause. So führt das Schöne „direkt ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich“ (244, 32 f.) und bereitet uns darauf vor, die Natur zu lieben (267, 35 f.). Diese Normalidee für sich allein würde uns jedoch eine fade Schönheit und kein ästhetisches Ideal liefern, käme nicht das intellektuelle Element hinzu. Dieses sind die vernünftigen Zwecke der Menschheit, die sich in dieser ästhetischen Gestalt des Menschen am trefflichsten offenbaren (233, Anthropologie VII 297 ff.). Hier finden wir erneut das zweite Element der Schönheit, die Expressivität, zusammen mit der schönen Form. Das ästhetische Ideal besteht für Kant „in dem Ausdrucke des Sittlichen“; es ist die
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menschliche Gestalt als „der sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen“ (235). Dazu müssen die reinen Ideen der Vernunft (das tiefste Verlangen und Verstehen des Menschen) und die große Macht der Einbildungskraft (die Kraft der Synthesis, der Gestaltung des Sinnlichen und der Gefühle) zusammenwirken.
5.6 Von etwas Schönem verlangen wir, sagt Kant, daß es jemandem anderen notwendig gefällt. Das ist das Element, das wir im vierten Moment, dem der Modalität, gewinnen: „Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird“ (240, 18 f.). Dieses Merkmal des Schönen ist eng verbunden mit dem der Quantität: dem allgemeinen Wohlgefallen (211, 219), da etwas Notwendiges auch für jeden gültig ist (280, Anthropologie VII 240). Wir werden ähnliche Argumente wiederfinden. „Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori, und gehören auch unzertrennlich zu einander“ (KrV B 4). Sie können nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden (237), da sie keine Beschreibung dessen sind, was geschieht, sondern normative Kriterien, wie beurteilt werden soll (213, 237, 278, 1. Einleitung KU XX 238 f.). Diese beiden Eigenschaften des Schönen verweisen uns hier also auch auf eine transzendentale Grundlage, die einzige, die laut Kant in der Lage ist, sie zu erklären. Diese Ansprüche fordern geradezu eine Rechtfertigung oder „Deduktion der reinen ästhetischen Urteile“, in Analogie zu der Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft, aber hier, „um nur zu verhüten, daß sie sich nicht, selbst ihrem Prinzip nach, lediglich aufs Empirische einschränken und dadurch ihre Ansprüche auf notwendige Gültigkeit für jedermann vernichten“ (1. Einleitung KU XX 241). Anders als im Theoretischen nimmt hier die Modalität den anderen Kategorien gegenüber keinen besonderen Platz ein (KrV A 219/B 266 f.), da sich im Ästhetischen die Allgemeinheit (Quantität) und die Notwendigkeit (Modalität) auf demselben Niveau befinden und in der ästhetischen Modalität kein objektives Dasein postuliert wird. Diese drei Teile der Kritik der Urteilskraft (§§ 6–9, 18–22, u. 30–40) sollten also im Zusammenhang gelesen werden. Die ästhetische Notwendigkeit (§§ 18 f.) muß von der theoretischen und der praktischen unterschieden werden. Die beiden letzten gründen auf Begriffen. Die theoretische folgt aus den Naturbegriffen des Verstandes, die praktische aus dem Freiheitsbegriff der Vernunft, die einzigen Begriffs-
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arten, die für Kant eine Realität aufweisen (171). Die ästhetische Notwendigkeit ist die der reflektierenden Urteilskraft; sie ist schwächer als die beiden anderen, drückt aber immer noch eine transzendentale Forderung aus, die im „ist“ (Kopula) des Urteils bekundet und als Gemeinsinn gefaßt wird. Sie stützt sich auf ein Gefühl, genauer: auf die Quelle dieses Gefühls, die uns als das für die Erkenntnis und die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes passendste Verhältnis der freien Einbildungskraft mit dem Verstand im allgemeinen (nicht mit einem seiner empirischen Begriffe) gezeigt wurde (§ 9). Dieses konkreten subjektiven Zustands sind wir uns durch ein Gefühl der Verstärkung des Lebens- oder Vorstellungskräfte bewußt, also „durch den bloßen innern Sinn“ (218, 29). Der innere Sinn hat bei Kant eine Breite von Funktionen, die im Kantischen Text vielleicht nicht genug thematisiert wurde (1. Einleitung KU XX 221 f., 226). Zunächst gibt es den theoretischen inneren Sinn als einen Bestandteil der objektiven Erkenntnis, in der die Erscheinung nicht als Gegenstand selbst (des äußeren Sinnes), sondern als Vorstellung des Gegenstandes erscheint. Er ist eine Selbstaffektion des Subjekts, in der Art eines Akts der Aufmerksamkeit, also eine für die objektive Erkenntnis notwendige Selbstbeschränkung des Subjekts, gerade diese äußeren Gegenstände jetzt zu beachten (KrV B 152–157). Auf der anderen Seite ist er abhängig von den Gegenständen des äußeren Sinns, die vorgestellt wurden, als eine erste Rückkehr des Subjekts zu sich selbst (KrV B 275– 278), aber so, daß beide Sinne durch gegenseitige Unterscheidung dank der Analogien der Erfahrung entstehen. Zweitens kann das Subjekt die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken (ein zweites Zurückkommen auf sich selbst) und sich seiner Abhängigkeit als empirisches Gefühl bewußt werden (206, RL VI 211 f. FN). Drittens, wenn das Subjekt sich noch weiter von seiner Objektabhängigkeit (durch die Interesselosigkeit) entfernt und seine Aufmerksamkeit kontemplativ nur auf die Form desselben richtet, dann kommt es zu seinen transzendentalen Erkenntnishandlungen selbst zurück, und es fühlt ästhetisch ihre Harmonie; dorthin ist der innere ästhetische Sinn zu legen, der als „eine allgemeine Stimme“ in der Quantität (216, 10) und als ein Gemeinsinn oder sensus communis in der Modalität (§§ 20 ff.) und in der „Deduktion“ (§ 40) begriffen wird. Zuletzt, viertens, findet das Subjekt sich selbst als Realität an sich, als Freiheit, und deren Überlegenheit erscheint im Bewußtsein als ein Gefühl der Achtung. Die Kategorie der theoretischen Notwendigkeit wurde aus dem apodiktischen Urteil abgeleitet (KrV A 70/B 95, KrV A 80/B 106). Die ästhetische Notwendigkeit gründet sich aber nicht auf einen Begriff und deswegen ist sie keine apodiktische, sondern schwächer, lockerer. Wie schon im Rahmen
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der Quantitätsanalyse behauptet wurde (215 f.), können wir den anderen nicht apodiktisch nötigen, vor einer Erscheinung das ästhetische Wohlgefallen zu fühlen. Dieses Gefühl läßt sich nicht erzwingen, im Gegensatz zum vernünftigen Begreifen, das nach bekannten Regeln handelt. Deswegen „kann ungewiß sein“ (216, 20), ob wir ästhetisch gut geurteilt haben, da wir keine Anschauung unter einen bestimmten Begriff, sondern die die Anschauung gestaltende Einbildungskraft unter den Verstand überhaupt subsumieren (harmonisieren) sollen (287). Die ästhetische Notwendigkeit ist also auch bedingt, aber nicht durch eine andere Erscheinung vermittelst des Gesetzes der Kausalität, wie es beim Theoretischen der Fall ist, sondern (erste Bedingung) durch die Tat, ob „man nur immer sicher wäre, daß der Fall unter jenem Grunde als Regel des Beifalls richtig subsumiert wäre“ (237, 29 f., auch 239). Die ästhetische Notwendigkeit ist eigentlich auch eine Aufgabe, ein Sollen (§ 19). Da das ästhetische Urteil der Quantität nach ein einzelnes Urteil ist und die Einmaligkeit der Erscheinung in Betracht zieht (285), können wir uns für diese Aufgabe nur mit Beispielen behelfen, die hier eine analoge Rolle spielen wie die Schemata beim Theoretischen, und zwar mit exemplarischen Beispielen, die uns mit sicherer Hand leiten können. Das wäre in der Kunst die Rolle der Klassiker und ihrer musterhaften Originalität, die aber nicht passiv nachgeahmt werden muß (283, 308, Reflexionen XV 824). Das gleiche gilt für den Geschmack (232). Demnach wird die ästhetische Notwendigkeit von Kant „exemplarisch“ genannt (237, 8).
5.7 Der Notwendigkeitsanspruch des Geschmacksurteils soll auf einer transzendentalen Grundlage beruhen, und diese muß ein Gemeinsinn oder sensus communis sein (§§ 20 ff.). Das ist die zweite Bedingung der ästhetischen Notwendigkeit: daß es diesen Sinn gibt. Die transzendentale Methode ist jedoch keine skeptische, sie fängt nicht mit dem Zweifel an. Sie versucht eher, die transzendentale Grundlage herauszufinden, inwieweit sie diese allgemeine Gültigkeit unterstützt, und so die verschiedenen Instanzen der Subjektivität in Einklang zu bringen. Zunächst ist zwischen dem ästhetischen und dem logischen Gemeinsinn zu unterscheiden. Bei Kant kommt kein moralischer, politischer oder religiöser Gemeinsinn vor, wie bei der römischen Tradition, den Humanisten, Shaftesbury oder den Pietisten (Gadamer 1960/1990, I 24–39). Der logische Gemeinsinn oder sensus communis logicus wird auch gesunder Menschenver-
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stand (bon sens) oder logischer Takt genannt (238, 293 ff.; Anthropologie VII 139 f., 169; Logik IX 56 f.), da er korrekt und in Übereinstimmung mit den anderen beurteilt. Er ist also kein Privatsinn oder logischer Eigensinn (Anthropologie VII 219), bedient sich Begriffen und schafft die Gemeinschaft im Denken. Dazu folgt er den drei Maximen, die unter § 40 der KU dargestellt werden: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“ (294, 16 ff.). Nur so können wir unsere subjektiven Privatbeschränkungen beim Urteilen überwinden und uns der Wahrheit und der Gemeinschaft öffnen. Der ästhetische Gemeinsinn oder sensus communis aestheticus ist der Geschmack. Sein Element ist das Gefühl und er wird deswegen mit mehr Recht als der logische Gemeinsinn „Sinn“ genannt, eine Art des inneren Sinns, die wir schon gesehen haben. Er schafft die Gemeinschaft des reflexiven Fühlens, die Kant hier „Humanität“ nennt (297, 2; 355, 27) (im ästhetischen Sinn, es gibt für „Humanität“ noch einen höheren moralischen Sinn), da er uns die Möglichkeit bietet, ohne Begriff (so unmittelbar wie für das reflexive Bewußtsein möglich) Gefühle mitzuteilen, also die qualitative Einmaligkeit des Einzelnen zu verstehen. Wir überwinden so unsere empirischen Bedingungen, und es wird eine reflexiv fühlende Gemeinschaft eröffnet. Nur unter der Voraussetzung eines solchen Gemeinsinns ist die ästhetische Notwendigkeit (und Allgemeingültigkeit) des Geschmacksurteils denkbar. Kant findet diesen Gemeinsinn in der notwendigen Mitwirkung der verschieden subjektiven Instanzen bei der Erkenntnis; eine Mitwirkung, die in besseren oder schlechteren Verhältnissen stattfinden kann. Bei der ästhetischen Erfahrung gibt es eine Ordnung, die nicht auf einen bestimmten Begriff gebracht wird, aber trotzdem den Verstand befriedigt, also unseren Interessen, uns in der Welt zu verwirklichen, entsprechend ist. Der ästhetische Gemeinsinn wäre die Fähigkeit, sich durch ein Gefühl des für das Verstehen und die Mitteilung des Verstehens besten Verhältnisses zwischen Einbildungskraft und Verstand bewußt zu werden und dieses Gefühl als ein gemeinschaftliches (ein Gefühl, das eine Gemeinschaft bildet) wirklich mitzuteilen. Der transzendentale Grund aber dafür, diesen Gemeinsinn oder Geschmack ohne Skepsis behaupten zu können, ist, daß dieses vortreffliche Verhältnis ein transzendentales Bedürfnis, ja sogar eine Art von Pflicht oder Sollen ist (240, 9; 296, 12; 353, 15). Das verhält sich so, weil das sinnlich-vernünftige Subjekt eine sinnlich-vernünftige Gemeinschaft als Orientierung braucht, um ein verstehendes und vernünftig handelndes Subjekt zu sein; nur in der Gesellschaft kann die Subjektivität ihre Zwecke und rationale Bestimmung erreichen. Aber um diese Gemeinschaft
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zu bilden, muß es sich den anderen mitteilen können: nicht nur das Verstehen von Objekten (Wissenschaft), das theoretische Denken (Aufklärung) und die moralischen Handlungen (das Reich der Zwecke), sondern auch die Gefühle, das reflexive Mitfühlen – „reflexiv“ bedeutet: als Individuen bewußt getrennt, aber trotzdem „Mit“, in einer gebildeten Gemeinschaft zu leben. Für eine gute Mitteilung verfügen wir über logische, metaphysische oder psychologische Regeln und Betrachtungen; aber nur der Geschmack macht uns des besten subjektiven Verhältnisses der Einbildungskraft zum Verstand im konkreten Fall (213), der ausgezeichneten Proportion für jedes Objekt (238) bewußt und läßt den anderen diesen Gemützustand mitteilen. Tatsächlich setzen wir diesen Geschmack ein in jeder Kommunikation, die nicht roh oder wild ist, da sonst das Zusammenleben und die Mitwirkung in der Gesellschaft unerträglich wäre, auf sehr niedrigem Niveau ablaufen würde, ja sogar unmöglich wäre. Wir schätzen einen Menschen, der die anderen mit gutem Geschmack behandelt oder sich gewandt ausdrücken kann. Die guten Kunstwerke sind optimale Beispiele dafür, deswegen beschwingen sie die Erkenntniskräfte und das gemeinschaftliche Leben. Dieser Gemeinsinn ist die Grundlage des ästhetischen Urteils, aber er ist selbst eine Aufgabe, kein fertiges Ding oder Können, sondern etwas gemeinsam zu Bildendes. Der vollkommene gemeinschaftliche Geschmack ist eine unbestimmte ideale Norm, die durch unsere Anmaßung, Geschmacksurteile zu fällen, bewiesen wird (239 f.). Beim Geschmacksurteil fordern wir vom anderen, uns beizustimmen, postulieren wir eine allgemeine Stimme in Anbetracht des unmittelbaren Wohlgefallens als eine Idee (216), als ein tiefes Verlangen des Subjekts. Wir sind gehalten, für uns und die Gemeinschaft unseren Geschmack aktiv und gemeinsam zu bilden (170, 6 ff.; 225, 9 f.; 283, 28–34; 284, 9 ff.; 386, 3 f. und § 60; Anthropologie VII 240 f.).
Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb 1750/58: Aesthetica, Frankfurt/O., Bd. 1/2; dt. Ästhetik, hrsg. v. D. Mirbach, Hamburg 2007, 2 Bde. Gadamer, Hans-Georg 1960: Wahrheit und Methode, in: Gesammelte Werke, Tübingen 1990, Bd. 1. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1835–38: Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. H. G. Otto, Frankfurt/M. 1970, Bd. 13. Martínez Marzoa, Felipe 1987: Desconocida raíz común, Madrid. Rivera de Rosales, Jacinto 1998: Kant: la „Crítica del Juicio teleológico“ y la corporalidad del sujeto, Madrid. Schiller, Friedrich 1795: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. G. Fricke, H. G. Göpfert, München 1975, Bd. 5, 570–669.
6 Michaël Fœssel
Analytik des Erhabenen (§§ 23–29)
„Nous nous plaisons à nos petites terreurs“ Leibniz
Der Übergang von der „Analytik des Schönen“ zur „Analytik des Erhabenen“ ist abrupt. Der Abschnitt, der erstere abschließt, ist ganz dem „Spiel der Vermögen“ gewidmet, ohne jegliche Ankündigung eines Übergangs zum Erhabenen. Was den § 23 betrifft, so lautet sein Titel zwar „Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen“, doch sagt er uns nichts zur Notwendigkeit eines solchen „Übergangs“. Kant vergleicht also die zwei ästhetischen Urteile, ohne festzulegen, warum eine „Analytik des Erhabenen“ unbedingt notwendig ist, um eine „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ zu vervollständigen. Schon 1764 in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zeigte er eine Dualität zwischen zwei ästhetischen Gefühlen. Innerhalb einer Theorie der angenehmen Rührung muß zwischen einer lustigen Empfindung, die uns reizt, und einem Vergnügen, in das sich Schrecken mischt, unterschieden werden. Es gibt da nichts sehr Originelles im Hinblick auf die empirischen Ästhetiken, und Kant beugt sich der umgebenden Anglophilie, die sich in den Kreisen der Popularphilosophie verbreitet. Bezieht er sich 1764 ausdrücklich auf Shaftesbury und Hume, so ist es wahrscheinlich schon Burke, den Kant nicht aus erster Hand gelesen hat, der die Analyse orientiert. Burke hat als erster in der Schrift A Philosophical Enquiry of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) das Schöne vom Erhabenen klar unterschieden (Dumouchel 1999, 76–80). Somit wäre Kants Unterscheidung zwischen diesen zwei Gefühlen nicht mehr als ein historisches Erbe. Am überraschendsten dabei ist, daß diese Unterscheidung Kants Selbstkritik am ästhetischen Empirismus überlebt hat. Wie nah sich Kant und Burke, was die Beschreibung des ästhetischen Urteils angeht, auch stehen,
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so wäre es Kant unmöglich, sich mit einer „bloß empirischen Exposition des Erhabenen und Schönen“ (277) zu begnügen. In der Tat erweist sich diese als unfähig, über die Modalität des ästhetischen Urteils zu berichten: die subjektive Notwendigkeit, die es dem Egoismus entreißt und es „als pluralistisch gelten“ läßt (278). Der Empirismus verkennt das Vorhandensein von Grundsätzen a priori, die die ästhetischen Urteile begründen. Deshalb kommt es für Kant überhaupt nicht in Frage, seine Klassifikation der ästhetischen Gefühle wiederaufzunehmen, ohne deren Sinn gründlich zu erneuern. Die Gliederung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen muß also innerhalb der „transzendentalen Exposition“ der ästhetischen Urteile vorgenommen werden. Von diesem systematischen Standpunkt aus betrachtet, ist die Stelle des Erhabenen zweideutig. Wie Louis Guillermit schreibt, scheint Kant zwischen zwei Einschätzungen, was die Wichtigkeit des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft angeht, zu schwanken. Einerseits wird das Erhabene als einer der „Hauptteile“ dieser Kritik dargestellt, gleichgestellt mit dem Schönen (192). Andererseits orientiert sich die „Analytik des Erhabenen“ an einer Angabe, die den Status dieses Gefühls auf den Rang eines „bloßen Anhangs zur ästhetischen Beurteilung der Zweckmäßigkeit der Natur“ einschränkt (246). Die erste Einschätzung ist die spätere, da sie zur endgültigen „Einleitung“ gehört. Sie muß also bevorzugt werden: Die „Analytik des Erhabenen“ ist tatsächlich ein zentrales Element einer Kritik des ästhetischen Urteils. Doch müssen wir uns besonders fragen, ob diese zwei Einschätzungen einander widersprechen oder ob sie nicht eher ganz und gar vereinbar sind, da sie das Erhabene nicht vom selben Standpunkt aus betrachten. Letztere Hypothese ist die Guillermits (1986, 103–109). Seiner Ansicht nach spielt das Erhabene eine Hauptrolle in der Gliederung und dem Fortschreiten der Kritik der Urteilskraft, wenn es auch vom Standpunkt eines Nachdenkens über die Zweckmäßigkeit der Natur aus nebensächlich ist. Fassen wir diese Interpretation zusammen, so können wir folgendes sagen: Die „Analytik des Erhabenen“ bereichert in nichts unseren Begriff der Natur, aber sie ist dagegen ganz zentral im Übergang von der „Exposition“ des ästhetischen Urteils zu dessen „Deduktion“. Sie erlaubt in der Tat, die Art des Strebens nach Allgemeinheit zu verstehen, das im ästhetischen Urteil überhaupt am Werk ist. Wenn Kant im § 40 schreiben kann, daß im Geschmacksurteil im allgemeinen „das Gefühl […] gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet werde“ (296), so deshalb, weil das Erhabene die Einbildungskraft und die praktische Vernunft in Verbindung bringt. Erst in der „Allgemeinen Anmerkung“, im § 29, wird Kant schreiben können, daß diese zwei Urteile trotz allem, was das Schöne vom Erhabenen
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vom Gesichtspunkt der Darstellung aus unterscheidet, „in demselben Subjekte vereinigt, in Beziehung auf das moralische Gefühl zweckmäßig sind“ (296). Das Subjekt des Schönen und das Subjekt des Erhabenen sind wahrhaftig dieselben, doch ihre Einheit hängt nicht so sehr von ihrem Status als „ästhetische“ Subjekte ab als von dem Vermögen des ethischen Subjekts, uneigennützig zu sein. Allein die „Analytik des Erhabenen“ erlaubt dieses Resultat, insoweit als, wie Kant im § 30 schreibt, die Exposition dieser Urteile „zugleich ihre Deduktion ist“ (280), das heißt die Rechtfertigung ihres Strebens nach einer Allgemeinheit, die der moralischen Allgemeinheit nahekommt. Mehr als ein Erbe aus der empiristischen Tradition zu sein spielt also das Erhabene eine Hauptrolle in Kants Versuch, einen Zusammenhang zwischen der Ästhetik und der Praxis zu denken. Es würde dazu beitragen, „einen Übergang vom reinen Erkenntnisvermögen, d. i. vom Gebiete der Naturbegriffe zum Gebiete des Freiheitsbegriffs“ herzustellen (179). Lehrt uns das Erhabene nichts über die Natur und über ihre „Technik“, so weist es doch auf die Notwendigkeit einer Reorientierung des kritischen Blickes hin: Es genügt nicht mehr, das eigenartige Spiel zwischen den Erkenntnisvermögen zu beschreiben, um das ästhetische Urteil zu erklären. In gewissem Sinne erlaubt das Erhabene zu begreifen, was bei Kant unter Ästhetik zu verstehen ist: nicht zuerst eine Theorie der Kunst oder der schönen Natur, sondern eine ganz neue Art, die Subjektivität in ihrer auf untrennbare Weise sinnlichen und ethischen Dimension zu denken.
6.1 Die systematische Funktion der Analytik des Erhabenen Die zwei einleitenden Absätze der „Analytik des Erhabenen“ haben einen zweideutigen Status, da sie einige charakteristische Züge des Urteils über das Erhabene vorweisen und zugleich auf die folgende „Exposition“ vorgreifen (die selbst eine transzendentale Deduktion ist). Da Kant die Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen als Zweck und Ziel hat, muß er jetzt schon den Grundsatz dieser Unterscheidung angeben, wie einen Verzahnungsstein, das heißt, daß das Urteil über das Erhabene die Vernunft und nicht den Verstand mit einschließt. Es bleibt, daß diese Nähe zwischen dem Erhabenen und der praktischen Vernunft erst nach dem geduldigen Prüfen des Mathematisch-Erhabenen und des Dynamisch-Erhabenen eine feststehende Tatsache sein wird. Deshalb bleibt Kant an dieser Stelle bei dem, „was wir […] erhaben zu
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nennen pflegen“ (246). „Wir“, das heißt die Erben des englischen Empirismus. Zwischen einer schönen Landschaft einerseits, und dem durch Stürme empörten Ozean andererseits gibt es schon einen phänomenologischen Unterschied, über den zu berichten sein wird. Indem Kant das Schöne und das Erhabene vergleicht, bleibt er also diesseits der transzendentalen Exposition eines jeden seiner ästhetischen Urteile, doch macht er trotzdem einige Angaben, die sich für eine kritische Bewertung des Erhabenen als wesentlich erweisen werden. Für ihn geht es darum, an zwei Fronten zu kämpfen: erstens, zu zeigen, daß das Erhabene wie das Schöne aus dem ästhetischen Urteil hervorgeht, und zweitens, die transzendentalen Unterschiede zwischen diesen zwei Urteilen anzuzeigen.
6.1.1 Das Erhabene als ästhetisches Gefühl Um die Abfassung einer „Analytik des Erhabenen“ zu rechtfertigen, muß Kant zuerst sicher gehen, daß das Erhabene zum ästhetischen Urteil gehört. Er muß also den Akzent auf das legen, was das Erhabene mit dem Geschmacksurteil verwandt und somit aus ihm eine Art der ästhetischen Gattung macht. Im § 23 nimmt diese Annäherung nur einen Absatz ein, aber zum Glück können wir uns auf die „Allgemeine Anmerkung“ im § 29 berufen, die im weiteren Sinne die Exposition „der ästhetischen reflektierenden Urteile“ behandelt. Ist das Erhabene ein ästhetisches reflektierendes Urteil, so heißt das, daß es, wie das Schöne, für sich selbst gefällt. Wie in der „Analytik des Schönen“ ist das vorgezogene Moment die Qualität, das heißt das Wohlgefallen ohne jedes Interesse. Im Erhabenen ist die Lust nicht das sozusagen mechanische Ergebnis der Befriedigung einer pathologischen Begierde. Diese Tatsache unterscheidet das Erhabene sowohl vom Angenehmen, das immer von einer empirischen Empfindung abhängig ist, als auch vom praktischen Vergnügen (der „Selbstzufriedenheit“, die wir als Folge des Gehorsams gegenüber dem moralischen Gesetz kennen). Das Erhabene beruht auf „diesem rein kontemplativen Vergnügen“, von dem die „Einleitung“ zur Metaphysik der Sitten spricht, dem Vergnügen, das nicht dem Dasein des Objekts der Vorstellung unterstellt, sondern mit dieser Vorstellung selbst verbunden ist (RL VI 212). Mehr noch ist das mit dem Erhabenen eng verbundene Vergnügen – wie wir sehen werden – „negativ“, soweit es weder vom Bestehen noch von der Form des Objekts abhängt. Die Befreiung vom Objekt erreicht also hier ihren Höhepunkt, was dazu beiträgt, das Erhabene zur reinen Lust zu zählen.
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Andererseits ist das Erhabene ein reflektierendes ästhetisches Urteil, was bei Kant bedeutet, daß es radikal subjektiv ist. Die „Reflexion“ unterscheidet sich von der „Bestimmung“, weil sie von den Ergebnissen (Anschauung und Begriff) auf die Vermögen, die sie erzeugen (Einbildungskraft und Verstand oder Vernunft), zurückgeht. Die reflektierende Urteilskraft führt also die Vorstellung auf das Subjekt und nicht auf das Objekt zurück, was tatsächlich im Erhabenen der Fall ist, wo „das Wohlgefallen an der bloßen Darstellung oder dem Vermögen derselben geknüpft ist“ (244). Wenn diese Darstellung gelingt, ist das Urteil ausschlaggebend und erzeugt eine Erkenntnis, wenn sie mißlingt, ist es reflektierend. Infolgedessen geht das Erhabene aus dem ästhetischen Gefühl hervor, da es auf der einfachen Auffassung der Erscheinung beruht. Wir werden es bestätigt finden: Diese Auffassung wird nicht auf die geringste Zusammenfassung hinausgehen, die es erlauben würde, die gegebene Intuition auf einen bestimmten Begriff zurückzuführen. Das Erhabene setzt voraus, daß man den bestirnten Himmel so betrachtet, „wie man ihn sieht“, und der Anblick des Ozeans soll so verstanden werden, „wie die Dichter es tun“, das heißt, ohne daß irgend eine kognitive Finalität eingreifen würde (270). Wie das Schöne besteht das Erhabene in einer reinen ästhetischen Beurteilung, die sich auf subjektive Grundsätze bezieht, die man unmöglich objektiv darstellen kann.
6.1.2 Die Eigentümlichkeit des Erhabenen: das Zweckwidrige Im § 23 werden die Unterschiede zwischen Schönem und Erhabenem bedeutend detaillierter untersucht als deren Ähnlichkeiten. Es geht nicht nur darum, zwei Gefühle empirisch zu unterscheiden: Das in beiden Formen des ästhetischen Urteils vorhandene Streben nach Allgemeinheit schließt es aus, über ihre Unterschiede nur dank einer Beschreibung der Wirkung jedes dieser Gefühle auf das Bewußtsein des Subjekts zu berichten. So weigert sich Kant, das Erhabene auf die einfachen „Triebe zur Selbsterhaltung“ zu gründen, das heißt auf das paradoxe Gefühl einer Zunahme der Lebenskräfte, das der Schmerz empfinden läßt (177), wenn er auch zugleich der „physiologischen Exposition“ des ästhetischen Urteils, so wie Burke es darstellt, einen gewissen Wert beimißt. So gesehen unterschiede sich das Erhabene nicht spezifisch vom Schönen, da beide, ersteres durch die Rührung, das Zweite durch den Reiz, auf die physiologischen Anlagen der menschlichen Natur als deren Ursache verweisen würden. Der Unterschied zwischen dem Schönen und dem Erhabenen ist transzendental, auf Grund dessen, was sie einander nahebringt, das heißt des
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Strebens beider Gefühle nach Allgemeinheit. Hier haben wir den Knotenpunkt von Kants Analyse, der entscheiden wird, wie die Kritik der ästhetischen Urteilskraft organisiert wird. Nun ist ein transzendentaler Unterschied ein Unterschied zwischen den subjektiven Vermögen, die in den fraglichen Urteilen am Werk sind. Es geht also für Kant darum zu zeigen, daß im Erhabenen die Einbildungskraft den Partner wechselt und daß sie somit nicht mehr dem Verstand, sondern der Vernunft zugestellt ist. So wie jeder transzendentale Unterschied muß auch dieser nach dem Leitfaden der Kategorien dargestellt werden. Zwar sehen das Schöne und das Erhabene, was die Qualität angeht, einander ähnlich (die Zufriedenheit ist auf kein Interesse begründet), das Erhabene jedoch, im Gegensatz zum Schönen, gründet auf dem Primat der Quantität und nicht jenem der Qualität. Vom Gesichtspunkt der Qualität aus ist es tatsächlich „formlos“, da die „Unbegrenztheit an ihm […] vorgestellt“ ist (244). Die hier mit der Begrenztheit gleichgestellte Form ist das, was im Geschmacksurteil eine Affinität mit dem Verstand äußerte und dessen regulierende Tätigkeit entstehen ließ. Im Gegensatz dazu muß die mit dem Erhabenen verbundene Zufriedenheit der Quantität zugestellt werden, und sie ist eine indirekte Lust, da sie auf einer Disharmonie zwischen den Erkenntnisvermögen des Subjekts begründet ist. Das Beharren auf der Unbegrenztheit erklärt, warum im Erhabenen die Quantität vor der Qualität den Vorrang hat. Die „Analytik des Erhabenen“ beginnt also mit der Kategorie der Quantität, was sie der Analyse der Urteile der Kritik der reinen Vernunft näherzubringen scheint. Sollen wir darin ein Zugeständnis von Kant sehen, das die Unterscheidung zwischen determinierendem und reflektierendem Urteil trüben würde? Keinesfalls. In der Tat ist die Quantität hier nicht als Kategorie, sondern als „Größe“ zu verstehen. Der unbestimmte Charakter der Begriffe, Merkmal des reflektierenden Urteils, wird also beibehalten. Viel mehr noch wird die „Größe“, von der im Erhabenen die Rede ist, der Darstellung eines „unbestimmten Vernunftbegriffs“ zugeordnet: Es handelt sich also nicht um eine Größe des Verstandes, sondern um eine Größe, die über jegliches wahrnehmbare Maß hinausgeht. Doch der nach Kants Aussage „wichtigste Unterschied“ zwischen dem Erhabenen und dem Schönen ist, der Kategorie der Relation gemäß, der transzendentale Unterschied. So wie das Geschmacksurteil auf der Feststellung einer „Zweckmäßigkeit“ ruhte, so erweist sich das Erhabene als „zweckwidrig“. Das bedeutet, daß, da das Erhabene dem Formlosen und also dem, was über jedes subjektive Darstellungsvermögen hinausgeht, zugeordnet ist, es alles anderem als einer Vorherbestimmung des Gegen-
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standes für unsere Urteilskraft Ausdruck gibt. Dem Subjekt wird, in einer Mischung von Schrecken und Gefühlsüberschwang, viel eher sein Darstellungsvermögen entzogen: Das Erhabene ist eine Figur der Ohnmacht der Einbildungskraft. Noch eher, und der Text zeigt es, mag das Erhabene als widersprechend mit unserer Urteilskraft erscheinen (245). Hier heißt es, darauf aufmerksam zu sein, wie vorsichtig Kant sich ausdrückt. Das „Zweckwidrige“ am Erhabenen wird erwähnt, um die Tatsache auszuschließen, daß dieses Urteil, wie es beim Schönen der Fall ist, einen „Gegenstand der Natur“ betreffen könnte (ebd.). Der „durch Stürme empörte Ozean“ kann nicht als erhaben erklärt werden, da er demjenigen, der ihn sieht, nichts anderes als Schrecken und Entfremdung einflößt. In dem Augenblick, wo das Erhabene empfunden wird, weist es also auf keine „Technik der Natur“ hin. Die reflektierende Urteilskraft kann nicht im Dienste einer nicht theoretischen Erweiterung unseres Naturbegriffs stehen, weil, in fine, nicht die Natur für das Erhabene zuständig ist, da jene unfähig ist, das Unbegrenzte darzustellen. Deshalb ist die „Analytik des Erhabenen“ nur ein „bloßer Ansatz“ zur Kritik der Urteilskraft: Durch sie erfahren wir nichts über die Natur. Von diesem Standpunkt aus gesehen kann wohl vom Erhabenen als von einem „akosmischen“ Gefühl gesprochen werden. Es wäre aber falsch, von dieser Zweckwidrigkeit des Gefühls auf die des Urteils selbst zu schließen. Allein die interne Zweckmäßigkeit zwischen den subjektiven Vermögen wird vom Erhabenen ausgeschlossen, und nicht eine „relative Zweckmäßigkeit“, die in einem „möglichen zweckmäßigen Gebrauch gewisser sinnlicher Anschauungen ihrer Form nach vermittelst der bloß reflektierenden Urteilskraft“ besteht (1. Einleitung KU XX 249). Auf einem Gebrauch der Vorstellung dieser Art ruht das Urteil über das Erhabene: Dieses Urteil ist sogar nichts anderes als dieser Gebrauch selbst. Es besteht nämlich darin, das Prädikat „Erhaben“ von der sinnlichen Form (deren Attribut es nicht sein kann) zur praktischen Vernunft zu verschieben, zu der es wahrhaftig gehört. Somit ist die Zweckmäßigkeit nicht in der Natur, sondern im Gemüt, insofern letzteres seine Fähigkeit kundgibt, sich von der Sinnlichkeit zu lösen, indem es sich Ideen widmet, deren Zweckmäßigkeit der Natur überlegen ist. In dem Undarstellbaren, das charakteristisch für das Erhabene ist, bleibt also etwas, das darstellbar ist. Dieses Etwas ist gerade die Unangemessenheit der Natur den Ideen der Vernunft gegenüber. Somit weist das Erhabene auf das Gefühl einer Macht hin, und zwar jener Macht, die dazu fähig ist, die „von der Natur ganz unabhängige Zweckmäßigkeit in uns fühlbar zu machen“ (246). So sehr wir das Schöne als außerhalb unserer betrachten
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können (was es im strengen Sinne des Wortes nicht ist), so sehr ist das Erhabene in uns, wie es der Fall ist bei der Freiheit, die bei Kant auf das ‚Übersinnliche in uns‘ hinweist (Fortschritte XX 295). Insofern das Erhabene ein Prädikat des Gemüts (und nicht der Welt) ist, drückt es eine Form der Transzendenz des Subjekts in bezug auf die Natur aus. Von diesem Standpunkt aus kann die „Analytik des Erhabenen“ als ein „Hauptteil“ der Kritik der ästhetischen Urteilskraft gelten. Wir stehen am Anfang einer ausführlicheren Exposition der zwei Modalitäten des Erhabenen und wissen bereits, daß die sinnliche Vorstellung eine reine Gelegenheit zu so einem ästhetischen Urteil ist. Im Erhabenen wird nichts über die Welt gesagt. Deshalb gibt es nicht nur hinsichtlich der Relation einen Unterschied zwischen dem Schönen und dem Erhabenen, sondern auch einen, was die Modalität betrifft. Zwar bleibt die mit dem Erhabenen verbundene Befriedigung potentiellerweise universal, doch nur indirekt: Es geht hier um „eine negative Lust“ (245). Deshalb wird man den „guten, übrigens verständigen savoyischen Bauern“ nicht daran hindern können, den Sinn für das Eisgebirge oder für die maßlosen Weiten für völlig unsinnig zu halten (265). Das Erhabene ist weniger demokratisch als das Schöne, insofern es eine gewisse moralische Bildung voraussetzt, das heißt die Fähigkeit des Subjekts, von der sinnlichen Welt abzusehen.
6.2 Vom Mathematisch-Erhabenen (§§ 25–26) Wir haben vormals schon festgestellt, daß die Exposition des Urteils über das Erhabene dem gleichen Prinzip wie dem des Geschmacksurteils folgt: Sie ist transzendental und muß also dem Leitfaden der Kategorien folgen. Kant fügt jedoch eine dem Erhabenen spezifische Einteilung hinzu, je nachdem es mathematisch oder dynamisch ist (247). Soll das heißen, daß es zwei streng unterschiedliche Formen der Erhabenheit gibt? Man sollte eher von zwei Modalitäten eines einzigen Urteils sprechen: Das Erhabene kann entweder mathematisch oder aber dynamisch betrachtet werden. Das Erhabene ist nämlich ein Attribut der Vernunft. Es ist also einheitlich in seiner Grundlage, wenn auch seine Erscheinungsformen vielfältig sind. Im § 24 bezieht Kant die Unterscheidung zwischen mathematisch und dynamisch auf die „mit der Beurteilung des Gegenstandes verbundene Bewegung des Gemüts“ (247). Diese Bewegung trennt das Erhabene noch etwas deutlicher von der dem Geschmacksurteil inhärenten Ruhe: Die Begrenztheit der Form, die das Schöne kennzeichnet, weicht der Unbegrenztheit der Größe, und letztere kann sich entweder auf die Weite
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oder aber auf die Macht der Erscheinung beziehen. Im ersten Fall wird das Erhabene mathematisch genannt, im zweiten Fall dynamisch. Diese Unterscheidung ist mit der Einbildungskraft verbunden, die in einem Fall die Bewegung des Gemüts auf das „Erkenntnisvermögen“, im anderen auf das „Begehrungsvermögen“ bezieht. Kant geht sogar so weit, von einer „mathematischen“ und einer „dynamischen Stimmung der Einbildungskraft“ (ebd.) zu sprechen, je nachdem sie Räume oder Mächte schätzt, sich mit der scheinbaren Unbegrenztheit einer räumlichen Größe (der des „bestirnten Himmels“) oder der scheinbaren Überlegenheit einer natürlichen Macht (der des „grenzenlosen Ozeans“) konfrontiert. Die Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Grundsätzen gehört zur „Analytik der Grundsätze“ der Kritik der reinen Vernunft, in der sie zwei Modalitäten der Synthesis a priori bezeichnet. Die erste (die mathematische) bezieht sich nur auf die Anschauung, während sich die zweite auf das Dasein der Erscheinungen bezieht. Im Mathematisch-Erhabenen geht es also um das Wesen der Erscheinung, das die Einbildungskraft durch eine Synthesisoperation des Gleichartigen zu messen versucht. Im Dynamisch-Erhabenen dagegen geht es um das Dasein der Erscheinung, insofern es das Subjekt in seinem Anspruch auf die Herrschaft über die Natur betrifft. Wesentlich ist also, vom kritischen Standpunkt aus, die Einführung der Vernunft in das Urteil über das Erhabene. Deshalb meinen wir, daß diese Unterscheidung zwischen dem Mathematisch- und dem DynamischErhabenen direkter auf die in der transzendentalen „Dialektik“ der ersten Kritik dargelegten kosmologischen Antinomien verweist. Schon dort stellt Kant diese Antinomien als das „Phänomen“ dar, in dem die Vernunft als das Vermögen des Unbedingten erscheint (KrV A 407/B 433). Inmitten der diskursiven Arbeit des die Welt zu verstehen suchenden Verstandes ertönt eine Stimme, die nichts Weiteres ist, als die Stimme der Vernunft, insofern sie sich mit dem Bedingten nicht begnügt. Nun ist das Erhabene ein vergleichbarer Prozeß, in dem die Einbildungskraft ihre Weisung von einer anderen, den Übergang vom gegebenen Sinnlichen zum Übersinnlichen fordernden Instanz bekommt. Die „Analytik des Erhabenen“ ist nichts Weiteres als das Auftreten – inmitten des Gefühls – der Souveränität der rationalen Instanz. Wir können eine Parallele zwischen den kosmologischen Antinomien und der „Analytik des Erhabenen“ schon in Anlehnung an die oben angeführten formalen Charakteristiken des Erhabenen skizzieren: Die Gemeinsamkeiten mit der rationalen Kosmologie sind (1) die Befreiung vom Objekt und seiner Form, (2) das Scheitern der Vermögen (Verstand
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und Einbildungskraft), insofern sie sich dem alleinigen Erkenntnisdrang unterordnen, (3) die Unangemessenheit der Natur der Idee gegenüber und (4) der Fortbestand der (praktischen) Rationalität selbst da, wo sie (theoretisch) scheitert.
6.2.1 Eine Phänomenologie der Größe „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist“ (248). Diese Erklärung, die Kant im Aufklang der Analyse des Mathematisch-Erhabenen gibt, ist eine reine Namenerklärung: Sie stellt den Grund des Erhabenen, welcher rational ist, nicht dar, denn „das eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein“ (245). Nichtsdestoweniger ist es legitim, im Erhabenen ein eigentlich ästhetisches Moment abzusondern, das sich bemüht, die das Gemüt betreffende Bewegung der Einbildungskraft zu beschreiben. Die Beschreibung des Mathematisch-Erhabenen ruht auf einer impliziten Phänomenologie der Größe, denn sie bedient sich der Beschreibung subjektiver Verfahren, die die Konstitution einer sinnlichen Größe bestimmen. In der Analyse des Mathematisch-Erhabenen wird eine Unterscheidung zwischen der mathematischen oder logischen und der ästhetischen Größenschätzung eingeführt. Erstere bestimmt eine „quantitas“, das heißt, eine durch Wiederholung erzeugte mathematische Größe, die zweite ein reines „quantum“, daß heißt die Größe eines Dinges überhaupt. Doch „daß etwas eine Größe (quantum) sei, läßt sich aus dem Dinge selbst, ohne alle Vergleichung mit anderen, erkennen […]. Wie groß es aber sei, erfordert jederzeit etwas anderes, welches auch Größe ist, zu seinem Maße“ (248). Jede objektive Bestimmung einer quantitas bezieht sich auf eine schon gegebene Größe, die als Maßstab dienen wird. In diesem Sinne ist das mathematische Maß der Größe unfähig, einen „absoluten Begriff von einer Größe“ zu liefern (ebd.), da es wesentlich von dem impliziten Maß der Einheit, die schon eine Größe ist, abhängig ist. Kant benutzt hier wieder die in der Kritik der reinen Vernunft durchgeführte Analyse der „Axiome der Anschauung“: In deren Zusammenhang bestand das Messen darin zu suchen, in welcher Anzahl eine vorher festgelegte Einheit in einer gegebenen Größe enthalten sei. Die so geschätzte Größe kommt also einer durch Wiederholung erzeugten und durch das Schema der Größe: der Zahl, auf die Einheit zurückgeführten Menge gleich. Fragen wir uns also mit Kant, was geschieht, wenn wir etwas als „groß schlechthin“ bezeichnen, und nicht als groß im Vergleich mit einer gegebenen Einheit. Im ersten Fall verfügt das Subjekt über keine vorhergege-
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bene, objektive Größe, die als Maßstab dienen könnte: Es verfügt nur über eine intuitiv gegebene, unbestimmte Größe. Trotz dieses unbestimmten Charakters zeigt die ästhetische Schätzung ihren Vorrang vor der logischen Schätzung, da dieser ein Grundmaß fehlt, das imstande wäre, der Einheit, die sie sich gibt, eine Grundlage zu geben. Die mathematische Schätzung setzt die anfängliche Festsetzung einer Größe als Kriterium voraus. Doch diese Größe kann sie nur durch Rückgriff auf eine weitere ausdrücken, und das bis ins Unendliche. Die mathematische Schätzung muß also der ästhetischen die Aufgabe überlassen, in der intuitiven Vorstellung eine erste Größe, ein „Grundmaß“, festzusetzen. Vor jeder mathematischen Messung einer Erscheinung findet also eine vor-objektive Handlung der Einbildungskraft statt. Was ist das Wesen dieser Handlung? Es ist ein vor-begriffliches Fassen der Größe, die so etwas wie eine ästhetische Vorbedingung des Schematismus ist: Der vorgreifende Charakter der ästhetischen Schätzung erinnert daran, daß die Anschauung des Raumes als „unendliche gegebene Größe“ das Prinzip jeder Größenschätzung bildet. Es gibt also eine „vor-mathematische Einbildungskraft“ (Lebrun 1970, 420), die die Bedingung jeder – einschließlich jeder objektiven – Beziehung zur Welt bildet, denn „alle Größenschätzung der Gegenstände der Natur ist [also] zuletzt ästhetisch“ (251).
6.2.2 Die Ohnmacht der Einbildungskraft Die Natur wird „in denjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt“ (255), erhaben genannt. Um zum Mathematisch-Erhabenen zu gelangen, müssen wir also mit Kant die Schwelle, die die ästhetische Größenschätzung von der Schätzung des Unendlichen trennt, überschreiten und uns fragen, was geschieht, wenn wir von einem Ding behaupten, es sei nicht „groß“ schlechthin, sondern groß „über alle Vergleichung“ (248). Ist die sinnliche Anschauung dem Unendlichen angemessen? Gibt es ein Schema des Unendlichen, das imstande wäre, die Darstellung des Grenzenlosen zu gewährleisten? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zum Unterschied zwischen mathematischer und ästhetischer Schätzung zurückkehren. Diese beiden Operationen stehen dem Unendlichen nicht in gleicher Weise gegenüber, da es „für die mathematische Größenschätzung kein Größtes (denn die Macht der Zahlen geht ins Unendliche)“ gibt (251). Kant greift hier wieder ein kartesianisches Thema auf: das des unanschaubaren (für Kant des unkonstruierbaren) Charakters der größten Zahl. Da es immer möglich ist, einer Zahl eine Einheit zu addieren, ist das Unendliche arithmetisch nicht
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definierbar. Doch wurzelt dieses Thema tiefer in der von Kant in der Kritik der reinen Vernunft dargelegten Analyse der Synthesis der Einbildungskraft. In dieser Analyse zeigte Kant, daß in der objektiven Bestimmung eines quantums zwei Operationen angewandt werden: die Auffassung (apprehensio) und die Zusammenfassung (comprehensio). Diese beiden Verfahren bilden die Basis der Synthesis der Reproduktion in der Einbildung, die erfordert, daß jede aufgefaßte Erscheinung auf ein feststehendes Bild zurückgeführt werden könne: „Würde ich aber die vorhergehende[n] [Vorstellungen] […] immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung […] entspringen können“ (KrV A 102). Die mathematische Schätzung erreicht also nie ein Maximum und setzt ihre Synthesisarbeit in endloser Weise fort, wie es die Auflösung der ersten kosmologischen Antinomie bestätigt. In dieser Antinomie sollte die Einbildungskraft, gemeinsam mit dem Verstand (doch schon unter dem Druck der Vernunft), einen absoluten Anfang in der Zeit oder eine unüberschreitbare Grenze im Raum darstellen. Doch in Anbetracht des Scheiterns dieses Anspruchs mußte man auf den schlicht endlosen Charakter der Synthesis (hier der Messung) schließen: Die mathematische Schätzung stellt „immer nur die relative Größe durch Vergleichung mit anderen gleicher Art“ dar (251). Ganz anders verhält es sich mit der ästhetischen Schätzung, die einem Maximum begegnet. Letzteres wird von der Einbildungskraft selbst erfahren, in Form einer Unangemessenheit zwischen der Auffassung und der Zusammenfassung. De jure gibt es keine Grenze, die das Fortrücken der Auffassung beschränken würde, was bedeutet, auch hier wieder in völliger Übereinstimmung mit der Auflösung der Antinomien, daß in der Sphäre der Erscheinungen keine absolute zuweisbare Grenze festgesetzt werden kann. Doch findet diese Unbegrenztheit der Auffassung in der Zusammenfassung dessen, was nacheinander wahrgenommen wird, kein Äquivalent: Die Zusammenfassung kann der in unbestimmter Weise fortrückenden Auffassung nicht folgen. Die der Unendlichkeit des „bestirnten Himmels“ ausgesetzte Einbildungskraft vermag es nicht, was in der Zeit wahrgenommen wird, auf eine Einheit zurückzuführen: Sie kann das ihr zu sehen gegebene Unendliche nicht totalisieren. Das Erfahren des Erhabenen ist das Erfahren einer Unangemessenheit zwischen der Auffassung und der Zusammenfassung, das heißt einer Trennung zwischen dem Unendlichen und der Allheit. Jede Bestimmung einer quantitas fordert vom Subjekt, daß es zur Totalität der Vielheit der gegebenen Wahrnehmungseinheiten zu gelangen vermöge. Dies gilt sowohl für eine objektive Bestimmung (mit Hilfe einer Zahl) als
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auch für eine ästhetische Schätzung. Doch, wie bereits in der Kritik der reinen Vernunft zu lesen war, erfordert bei jeder Gelegenheit der Übergang von der zweiten Kategorie (der Vielheit) zu der dritten (der Allheit) einen „besonderen Aktus des Verstandes“ (KrV B 111). Kant nahm damals das Beispiel des „Begriff[s] einer Zahl (die zur Kategorie der Allheit gehört)“, der „nicht immer möglich“ ist, „wo die Begriffe der Menge und der Einheit sind (z. B. in der Vorstellung des Unendlichen)“ (ebd.). In Anbetracht des Unendlichen reicht der Anspruch auf Einheit nicht aus, um die Konstitution einer Allheit zu sichern. Da die Verbindung zweier Kategorien auf einem synthetischen Akt des Verstandes beruht, wird es notwendig, sich auf die Anschauung zurückzuberufen. Im Mathematisch-Erhabenen gelangt die Einbildungskraft zu ihrem Maximum in der Zusammenfassung, indem sie versucht, es zu überschreiten, und ihre „größte Bestrebung“ (255), das Unendliche als Größe zu schätzen, erweist sich als unzulänglich. Der Übergang zur Allheit wird durch das Fehlen eines Schemas unmöglich gemacht. Daraus kann geschlossen werden, daß die Einbildungskraft außerstande ist, ein Grundmaß darzustellen, weil ein sinnliches Grundmaß eigentlich ein „sich widersprechender Begriff“ (ebd.) ist: Das Scheitern der Einbildungskraft läßt die Widersinnigkeit einer „absoluten Totalität“ der „Natur als Erscheinung“ erkennen. Wie könnte man jedoch den „widersprechenden“ Charakter des Begriffs einer „absoluten sinnlichen Totalität“ nicht in Verbindung zu dem Widerspruch bringen, der der metaphysisch-mathematischen Idee der Welt inhärent ist und zu den zwei ersten Antinomien führt? Wie könnte man gleichermaßen nicht, in der Unmöglichkeit, die „absolute […] Totalität eines Progressus ohne Ende“ (ebd.) zu begreifen, das präzise Äquivalent der Unmöglichkeit, einen bestimmten kosmologischen Begriff zu konstituieren, wiedererkennen? Kant zieht ausdrücklich eine solche Parallele zwischen der Analyse des Erhabenen und der Zerlegung der rationalen Kosmologie. Was die der logischen Größenschätzung eigenen Illusionen betrifft, bemerkt er, daß „die Unmöglichkeit, durch den Progressus der Messung der Dinge der Sinnenwelt in Zeit und Raum jemals zur absoluten Totalität zu gelangen, […] erkannt“ war (259). Dies ist ein Hinweis auf die erste Antinomie: Der zeitliche Charakter des Progressus verbietet jede objektive Bestimmung eines aktuellen Unendlichen. In der Kritik der Antinomien aber wurde diese Unmöglichkeit weder wirklich gefühlt noch „als bloß subjektiv […] erkannt“ (ebd.): Sie bezeichnete eine Grenze des bestimmenden Urteils. Im Falle des Erhabenen und der ästhetischen Schätzung einer unendlichen Größe ist es dagegen die Einbildungskraft, die ihr Unvermögen, das
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Unendliche zu „fassen“, erfährt. Was in der Kritik der rationalen Kosmologie als eine unüberschreitbare Grenze der Erkenntnis thematisiert wurde, wird also in das Erhabene wieder investiert, vom Standpunkt der bloßen einbildenden Subjektivität aus. Die Schlußfolgerung beider Stellen (der Kritik der Kosmologie und der Analyse des Mathematisch-Erhabenen) ist also die gleiche: Es ist unmöglich, sich das Unendliche als gegeben vorzustellen. Die Modalität dieser Unmöglichkeit ist aber unterschiedlich: Während die „dem inneren Sinne [angetane] Gewalt“ in der rationalen Kosmologie durch die logische Vorrichtung der Beweise der These und Antithese versteckt wurde, muß sie im Erhabenen „desto merklicher sein […], je größer das Quantum ist, welches die Einbildungskraft in eine Anschauung zusammenfaßt“ (259). Die Weltvorstellung, nach der das Subjekt in beiden Fällen strebt, ist auch unterschiedlich: Im ersten Fall handelt es sich um eine objektive Idee, im zweiten um ein Bild eines unendlichen Raumes. Die „Analytik des Erhabenen“ zeigt uns also, daß das Subjekt in seinen einbildenden Ansprüchen nicht weniger totalisierend ist als in seinen rationalen. Aus diesen Seiten der Kritik der Urteilskraft geht eine Korrelation zwischen Subjektivität und Totalität hervor: Alles verläuft so, als würde die ästhetische Subjektivität, dem Anblick des Unendlichen ausgesetzt, versuchen, die Grenzen der Intentionalität zu überschreiten, indem sie die Erscheinung, die sie „sieht“, zu den Dimensionen einer Welt erweitert. Die Einbildungskraft bezeichnet fortan nicht nur das Vermögen, das Abwesende anwesend zu machen, sondern symbolisiert den Anspruch, das, was sich obstinat ihr entzieht, in die objektive Anwesenheit zurückzuführen. Sie ist also Trägerin eines eigenen Dogmatismus. In diesem Kontext ist es daher kaum verwunderlich, daß die „Analytik des Erhabenen“ die wahrscheinlich beste Kantische Definition der Schwärmerei bietet, als eines „Wahns […], über alle Grenzen der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen […] zu wollen“ (275). Die Bedingungen der Sichtbarkeit jenseits des Sichtbaren anwenden zu wollen ist das beständige Verfahren des Mystizismus, dessen Dogmatismus von dem der Metaphysik nur insofern abweicht, als er die Bestimmung des Absoluten einem anderen Organ überläßt.
6.3 Vom Dynamisch-Erhabenen (§§ 27–29) Das Erhabene erhält nicht nur eine Namenerklärung (was über allen Maßstab der Sinne groß oder über alle Macht der Natur mächtig ist), sondern auch eine reelle, die auf die praktische Vernunft als seine Grund-
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lage hinweist. Von diesem Standpunkt aus ist das Erhabene das, „was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt“ (267). Als ästhetisches Urteil offenbart sich das Erhabene durch eine reine Lust, die, insofern sie durch eine sinnliche Unlust vermittelt wird, dasjenige, was im Menschen nicht auf die Natur zurückzuführen ist, befriedigen soll. Nun ist das, was im Menschen nicht auf die Natur zurückzuführen ist, aber trotzdem eine Befriedigung verursachen kann, die Freiheit im praktischen Sinne. Der ganze Sinn der Analyse des Dynamisch-Erhabenen liegt also darin, diese Verbindung zwischen Freiheit und ästhetischem Gefühl offenkundig zu machen. Im Erhabenen „hört das Gemüt in sich auf die Stimme der Vernunft“ (254). Der Ruf der Vernunft drückt sich in der Metapher der „Stimme“ aus, wobei die Einbildungskraft genau das ist, was beansprucht, diese absolute Forderung ins Bildhafte umzusetzen, ohne daß es ihr jedoch gelänge. Doch um welche Stimme handelt es sich? Wo liegt ihr Ursprung? Es kann sich nur um die praktische Vernunft handeln, da Kant die Stimme als Leitmetapher verwendet, um den subjektiven Ausdrucksmodus des moralischen Gesetzes zu bezeichnen (in der Kritik der praktischen Vernunft bezeichnet Kant das moralische Gesetz als „unüberschreibar“). Mit dem Erhabenen wird also nicht nur die Freiheit, sondern auch ihre ästhetische Wirkung abgehandelt, womit wir uns unmittelbar in der Nähe der Theorie der Achtung als des einzigen legitimen moralischen Gefühls bewegen.
6.3.1 Das Erhabene und die Freiheit Das Erhabene wird dynamisch genannt, wenn es ein „Widerstandsvermögen“ gegen eine zunächst in ihrer scheinbaren Allmacht erlebte Naturmacht in Gang setzt. „Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen“ bilden die sinnliche Gelegenheit, bei welcher wir „ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken […], welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können“ (261). Das Urteil, das dem Dynamisch-Erhabenen zugrunde liegt, erscheint schließlich als ein abwertendes, in bezug auf die sinnliche Natur. Die Macht, die dieser Natur zugesprochen wird, hat über das Subjekt keine Gewalt. In dieser Hinsicht bestätigt das Dynamisch-Erhabene den zuschauerhaften Charakter der Kantischen Ästhetik. Genau an dem Zeitpunkt, an dem die Natur ihre Rechte wieder zu erobern scheint, erweist sie sich als eine reine Schaubühne, von der aus das Subjekt sein eigenes Wesen betrachten kann. Zwar wird die radikale Ohnmacht der Natur nur dann bewiesen, wenn das Subjekt sich vor den entfesselten Naturgewalten in Sicherheit befin-
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det. Kant wendet an dieser Stelle den von Lukrez an die philosophische Tradition überlieferten Topos des „Schiffbruchs mit Zuschauer“ wieder an (Blumenberg 1979), doch hier vom Standpunkt der dem Erhabenen zugewiesenen systematischen Funktion aus, welche darin besteht, zu enthüllen, wie das ästhetische Urteil und die praktische Philosophie aufeinander zuströmen. Das Unangefochtensein ist nämlich die Bedingung, unter welcher das Gefühl des Erhabenen sich nicht auf die Furcht beschränkt, sondern das Subjekt dazu einlädt, das, was in ihm nicht auf die Natur zurückzuführen ist, wahrzunehmen. Das Erhabene bedarf also, als Bedingung seiner Möglichkeit, des „Vermögens, uns als von der Natur unabhängig zu beurteilen“ (261). Selbst wenn es als solches im Text selten genannt wird, ist dieses Vermögen eindeutig die Freiheit. Diese will sowohl in ihrem transzendentalen als auch in ihrem moralischen Sinne verstanden werden. Sie ist als erstes, und im negativen Sinne, das, was im Menschen über die Natur hinausgeht, weshalb der republikanische Krieg „erhaben“ genannt werden kann, wo er doch für den Menschen die Möglichkeit symbolisiert, seinen Erhaltungstrieb zu überwinden (263). Doch die im Erhabenen sozusagen gefühlte Freiheit ist sowohl eine moralische als auch eine transzendentale: Die Überlegenheit gegenüber der Natur wird hier nicht als die eines empirischen Faktums wahrgenommen, sondern als die der Bestimmung des moralischen Subjekts. Dieser Aspekt hängt mit dem eigentlichen Charakter des Gefühls des Erhabenen, das zuerst negativ besetzt ist (Furcht, Schrecken), zusammen, was bedeutet, daß die Befriedigung nicht so sehr auf das hinweist, was ist, sondern auf das, was sein soll. Die Verwandlung der Furcht in Kraft wird von einem Vermögen vollbracht, das imstande ist, die Ordnung (und Unordnung) der Natur zu übertreffen, und dieses Prärogativ gehört der praktischen Vernunft an. Aufgrund dieses doppelten Verhältnisses zur Freiheit wird die Parallele zwischen dem Erhabenen und den kosmologischen Antinomien in der Exposition des Dynamisch-Erhabenen bestätigt, abgesehen davon, daß letztere auf die dynamischen Antinomien zurückführt. Wie in der Auflösung der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft erscheint hier die Freiheit als ein subjektives Prinzip, das es dem Subjekt ermöglicht, aus der Welt „hinauszutreten“, ohne seine sinnliche Angehörigkeit zu verneinen. Es ist sogar möglich, das Gefühl des Erhabenen als Träger einer eigenen Antinomie zu betrachten, da das Subjekt im Erhabenen, insofern es sinnlich ist, dem Schrecken ausgesetzt wird, und insofern es frei ist, seine Unabhängigkeit gegenüber den Naturereignissen erfährt. Kant stützt sich hier implizit auf den dynamischen Charakter des Gesetzes der Kausalität,
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und somit auf die Ungleichartigkeit von Ursache und Wirkung (KrV A 179 ff./B 221–224). Damit das Subjekt überzeugt sein kann, daß die Macht der Natur seiner inneren Gewalt nicht gleichkommt, ist es also notwendig, daß diese beiden Elemente ontologisch verschieden sind und auf das Sinnliche, beziehungsweise auf das Intelligible, zurückführen. Genau wie in der dritten Antinomie besteht die Illusion darin, das Unbedingte im gegebenen Bedingten zu suchen. Diese Seiten der Kritik der Urteilskraft formulieren das Prinzip einer drastischen Begrenzung des Symbolisierungsvermögens des Sinnlichen, das hier, im Gegenteil zur platonischen Tradition, aufhört, ein möglicher Vermittler der Vernunft zu sein. Kant definiert sehr genau den Mechanismus, durch welchen die Einbildungskraft dem Sinnlichen ein Vermögen, die Freiheit darzustellen, illusorisch zu erteilen beansprucht: Es handelt sich um die Subreption als „Verwechselung einer Achtung für das Objekt, statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte“ (217). Dieses Motiv tritt jedesmal auf, wenn es um eine illegitime Transferoperation des Sinnes von einem transzendentalen Ort zum anderen geht (KrV A 509/B 537). Es handelt sich also um eine fälschliche Interpretation, da sie sich im Ursprung des vorhandenen Sinnes und im Vermögen, das fähig ist, ihn darzustellen, täuscht. Wenn schließlich das Absolute nicht dargestellt werden kann, so deshalb, weil die Natur nicht als Schema der Freiheit dienen kann. Kant formuliert dies ausdrücklich in bezug auf das Dynamisch-Erhabene: Die „Anspannung der Einbildungskraft, die Natur als ein Schema für die letzteren [die Ideen] zu behandeln“ (265) mißlingt. Es ist keineswegs Zufall, wenn Kant, in der „Allgemeinen Anmerkung“ (§ 29), an den „unerforschlichen“ Charakter der Idee der Freiheit wiedererinnert. Im Erhabenen wird die Unerforschlichkeit der Freiheit sozusagen dadurch offenkundig, daß dieses Erlebnis zunächst negativ ist und sich somit der Verwechslung des Sinnlichen mit dem Intelligiblen, worauf die mystische Schwärmerei beruht, entgegensetzt.
6.3.2 Das Erhabene und die Achtung Die Unmöglichkeit für die Einbildungskraft, die Aufgabe der Darstellung, die ihr die praktische Vernunft aufgibt, zu erfüllen, ist die Ursache der anfänglichen Unlust. Doch diese Unlust wird paradoxerweise zur Quelle einer Befriedigung, sobald die Urteilskraft unter die Gesetzgebung der Freiheit fällt und sieht, daß ihr von der praktischen Vernunft ein Ziel gesetzt wird. Nun besteht eine Analogie zwischen dieser Unlust der besonderen Art, die das Erhabene vom Geschmacksurteil unterscheidet,
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und der Achtung, die schon in der Kritik der praktischen Vernunft als ein von „Unlust“ (V 78) unzertrennliches Gefühl dargestellt wurde. Deswegen wird diese Analogie zwischen dem Erhabenen und der Achtung im § 27 (der vom Moment der Qualität, und somit von der Unlust, handelt) besprochen, auch wenn sie hauptsächlich das Dynamisch-Erhabene, das am deutlichsten die Verwandtschaft von Erhabenheit und Moralität zu Tage gebracht hat, charakterisiert. In phänomenologischer Hinsicht ist die Achtung ein negatives Gefühl, insofern sie der Eigenliebe Abbruch tut und den Eigendünkel niederschlägt (vgl. V 73). Von der reinen praktischen Vernunft erschaffen, stellt sie das Gesetz in seiner Tunlichkeit dar und verdeutlicht also für das Subjekt die Distanz, die sein Verhalten von seiner ethischen Bestimmung trennt. Doch ist die Achtung nicht reine Unlust, da sie durch das Inbetrachtziehen der übersinnlichen Bestimmung des Subjekts die „[praktische] Schätzung des Gesetzes selbst“ (V 79) ermöglicht. Von diesem Standpunkt aus ist die Analogie mit dem Erhabenen vollständig: Es handelt sich in beiden Fällen um das Gefühl der Unangemessenheit unseres sinnlichen Vermögens mit der Idee. Die Achtung wie auch das Erhabene tragen dazu bei, das Gesetz zu offenbaren, ohne es jedoch in der Anschauung darzustellen. Zwar übt die „Analytik des Erhabenen“ Kritik an der Einbildungskraft als sinnlichem Vermögen, und nicht, wie die Theorie der Achtung, an den pathologischen Begierden. Was hier besonders in Frage gestellt wird, ist die Möglichkeit, das moralische Gesetz darzustellen und es sozusagen zuhanden werden zu lassen. Was kann nun in letzter Instanz als erhaben bezeichnet werden, wenn nicht das moralische Gesetz? „Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: ‚Du sollst dir kein Bildnis machen‘“ (274). Und welches Bildnis kann ungeheuerlicher sein als das, welches vorgibt, mit dem Gesetz selbst identisch zu sein? Dieses Gebot zu brechen heißt also zu verkennen, daß das Erhabene nur dort eintritt, „wo nun die Sinne nichts mehr vor sich sehen“ (ebd.). Die Analyse des Dynamisch-Erhabenen lehrt uns also, daß das Reich des Intelligiblen dort anfängt, wo das der Bilder aufhört. Die Einbildungskraft kann also auf keinen Fall die allein von der Vernunft erzeugte Idee der Freiheit „darstellen“. Sie stellt nur ihre eigene Unfähigkeit dar, ein Bild der Natur zu schaffen, das imstande wäre, der Macht der Freiheit gleichzukommen. Genau wie bei der Achtung ist die vom Subjekt gefühlte Befriedigung negativ: Das Vermögen der Vernunft ist nur dann erkennbar, wenn die Ohnmacht des Sinnlichen erfahren worden ist. Daraus muß man schließen, daß das Erhabene „in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüte enthalten“ ist (264). Deswegen kommt zum
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Scheitern der Einbildungskraft eine Demütigung hinzu: Ihre Unfähigkeit, ein Schema der praktischen Idee zu erzeugen, zwingt sie dazu, sich vor den Prärogativen der praktischen Vernunft zu verneigen. Diese Analogie zwischen der Achtung und dem Erhabenen wäre jedoch nicht möglich gewesen, ohne die rückwirkende Interpretation des moralischen Gefühls, die Kant im § 12 der Kritik der Urteilskraft liefert. Diese Wiederinterpretation rührt aus den Schwierigkeiten der Theorie der Achtung in der Kritik der praktischen Vernunft her: Wie ist ein Gefühl zu verstehen, dessen Ursache rein rational ist und das dennoch sinnlich bleibt, obwohl es weder empirisch noch pathologisch ist? Die Kritik der Urteilskraft schafft einen Raum, der einem solch paradoxen Gefühl Platz bietet: nämlich im Gemüt, wofür die Analyse des Erhabenen eine Interpretation darbietet (Guillermit 1986, 74–78). Deswegen erklärt § 12, als handle es sich dabei um eine Berichtigung des Kapitels der zweiten Kritik über die Achtung, daß „die Verknüpfung des Gefühls einer Lust oder Unlust, als einer Wirkung, mit irgend einer Vorstellung (Empfindung oder Begriff), als ihrer Ursache, a priori auszumachen, schlechterdings unmöglich“ ist (221). Die Achtung wird nicht mehr als die Wirkung des Gesetzes auf das empirische Bewußtsein interpretiert, sondern, dem ästhetischen Urteil ähnlich, als ein Gemütszustand, der zeitgleich ist mit der Bestimmung des Willens durch ein reines praktisches Prinzip. In der Kritik der Urteilskraft wird also die Achtung nicht mehr aus der Perspektive der Bestimmung aufgefaßt, sondern aus derjenigen der Reflexion. Sie ist ein Gefühl, insofern sie als die Verbindung der Seelenvermögen (des Begehrungsvermögens (des Willens) und des Erkenntnisvermögens (der praktischen Vernunft)) empfunden wird. Doch trotz dieser Nähe bleibt die Analogie mit der Achtung beschränkt. Besser gesagt ist sie nur eine Analogie, das heißt für Kant, eine Gleichheit der Verhältnisse zwischen ungleichartigen Realitäten. Das Erhabene bleibt ein ästhetisches und kein moralisches Gefühl. Im Gegensatz zur Achtung ist es keine Triebfeder der praktischen Vernunft, da es nicht nur auf keinem Begriff beruht, sondern auch kein Interesse hervorruft. „Aus dem Begriffe einer Triebfeder entspringt“ – für Kant – „der eines Interesse“ (V 79), selbst wenn es sich bei der Achtung um ein nicht empirisches Interesse handelt. Zwar wird das Dynamisch-Erhabene zum Begehrungsvermögen ins Verhältnis gebracht, doch nicht als eine für dieses bestimmte Triebfeder, sondern eher als ein ästhetisches Zeichen seiner Bestimmbarkeit durch die praktische Vernunft. Als ästhetisches Gefühl gehört das Erhabene zu der Sphäre der Kontemplation: Es verleitet nicht zur Handlung. Also ist das Verhältnis zwischen der Achtung und dem Erhabenen ein Verhältnis in einer subjektiven Bedingtheit. Wie bereits erwähnt wurde, ist
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die Modalität des Urteils über das Erhabene zufällig: Es gibt keinen sensus communis des Erhabenen. Um dieses Gefühl zu empfinden, muß man schon ein Interesse an der Realität der Ideen finden. Nun liegt dieses Interesse nirgends sonst als im moralischen Gefühl, so daß das Gefühl des Erhabenen nach der Affektlosigkeit der Achtung verlangt, daß heißt sowohl nach einer gewissen subjektiven Fähigkeit, sich von den empirischen Inter essen abzuwenden, als auch nach der „Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem [M]oralischen“ (265). Obwohl diese Anlage, wie die „Anlage zum Guten“, die in der Religion angesprochen wird, natürlich ist, muß sie nichtsdestoweniger gepflegt werden, damit das Erhabene jenseits des Schreckens, den es andeutet, gefühlt werden kann. * * * Zwar ist das Erhabene in ästhetischer Hinsicht kein so wichtiger Begriff wie das Schöne, aber es enthüllt uns deutlicher unsere ethische Bestimmung. Vom systematischen Standpunkt aus liefert es das erste Beispiel einer Anwendung der sinnlichen Anschauungen, die uns eine „von der Natur unabhängige“ Zweckmäßigkeit in uns fühlbar macht (1. Einleitung KU XX 250). Die „Analytik des Erhabenen“ führt also die Forschung in die Richtung dessen, was von nun an der Leitfaden der Kritik der Urteilskraft sein wird: eine die Endlichkeit wahrende Bestimmung des Übersinnlichen. Beim Aufeinandertreffen des Sinnlichen und des moralischen Gesetzes gibt das Erhabene gleichzeitig die Wirklichkeit des Intelligiblen und seine Irreduzierbarkeit auf die Natur zu spüren. In diesem Sinne kann man mit Jean-François Lyotard behaupten, daß das, worum es in der „Analytik des Erhabenen“ letztendlich geht, der „Widerstreit“ ist, der sich zwischen der Vernunft, hauptsächlich der praktischen, und dem gegebenen Sinnlichen etabliert (Lyotard 1991, 162). Aber dieser „Widerstreit“ kann in keiner Weise „aufgehoben“ werden, wie es beim hegelianischen Erhabenen der Fall sein wird: Bei Kant ist kein dialektischer Übergang von der Einbildungskraft zur Vernunft möglich. Gewiß wird im Erhabenen die Einbildungskraft zum Opfer einer rationalen Anordnung, die „gleichsam ein[en] Abgrund, worin sie sich selbst zu verlieren fürchtet“ (258), öffnet. Doch dieser „Abgrund“ trifft in seiner Öffnung auf keine Grundlage, auf der das Sinnliche seine Wahrheit finden könnte, da er auf ein von Rechts wegen Unvorstellbares (das moralische Gesetz) weist, welches kein Begriff auszudrücken vermag.
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Es gibt keine Offenbarung des Geistes, die den Abgrund zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen auffüllen könnte: Das Erhabene ist das Zeichen dieser Unmöglichkeit. Daher das Verhältnis zu den kosmologischen Antinomien, auf das wir schon mehrmals hingewiesen haben: Die Idee eines Unbedingten in der Welt ist der Kantischen Ästhetik völlig fremd. Angesichts des Erhabenen versteht sich also das Subjekt als frei, indem es den sich zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen etablierenden „Widerstreit“ reflektiert. Doch dieser Prozeß hebt den Widerstreit nicht auf: Er setzt ihn voraus. Es steht am Horizont des Kantischen Erhabenen keine Versöhnung: Das Ruinieren der Vorstellung öffnet für den Begriff keinen neuen Spielraum. (Übersetzung aus dem Französischen von Guillaume Fussler und Renée Wybrecht)
Literatur Blumenberg, Hans 1979: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt/M. Burke, Edmund 1757: A philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, London. Dumouchel, Daniel 1999: Kant et la genèse de la subjectivité esthétique, Paris. Guillermit, Louis 1986: L’élucidation critique du jugement de goût selon Kant, Paris. Lebrun, Gérard 1970: Kant et la fin de la métaphysique, Paris. Lyotard, Jean-François 1991: Leçons sur l’Analytique du sublime, Paris; dt. Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, Kritik der Urteilskraft §§ 23–29, München 1994.
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Kants Deduktion der reinen ästhetischen Urteile (§§ 30–38)
Die §§ 30–54 stehen unter der Überschrift „Deduktion der reinen ästhetischen Urteile“. Die damit angekündigte „Deduktion“, den Nachweis, daß wir Urteile, in denen wir einzelne Gegenstände als schön beurteilen, zu Recht mit einem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit verbinden, erbringt Kant jedoch schon in den §§ 30–38. In der „Anmerkung“ am Ende des § 38 heißt es ausdrücklich, daß die „Deduktion“ mit diesem Paragraphen zum Abschluß gekommen sei. Rückblickend auf diese neun Paragraphen stellt Kant dort fest: „Diese Deduktion ist darum so leicht, weil sie keine objektive Realität eines Begriffs zu rechtfertigen nötig hat“ (290). Kant beginnt nach dem § 38 und der sich an ihn anschließenden „Anmerkung“ nicht mit einem neuen Textabschnitt, der durch eine eigene Überschrift gekennzeichnet ist. Offenbar ist er der Ansicht, daß mit dieser „Deduktion“ und der ihr vorangehenden „Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile“ die „Analytik der ästhetischen Urteilskraft“ noch nicht abgeschlossen ist. In den §§ 39–54 behandelt er Fragen, die seine Theorie des Geschmacksurteils bei allen zeitgenössischen Leserinnen und Lesern, die sich für Fragen der philosophischen Ästhetik interessieren, unweigerlich provoziert: Fragen nach dem besonderen Charakter der Lust am Schönen (§ 39), Fragen nach dem Geschmack als Gemeinsinn (§ 40), Fragen nach dem Interesse am Schönen (§§ 41 f.), danach, ob und wie so etwas wie schöne Kunst möglich sei (§§ 43–50), sowie danach, wie die schönen Künste einzuteilen seien (§§ 50–54). Kant wendet sich hier an ein Publikum, das bereits bestimmte Erwartungen an eine philosophische Ästhetik hat. Offenbar ist er sich dessen bewußt, daß seine Theorie des Geschmacksurteils mit all ihren zunächst widersprüchlich anmutenden Thesen (über den Unterschied des Schönen vom Angenehmen, über die Interesselosig-
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keit des ästhetischen Wohlgefallens, über die subjektive Allgemeinheit des Geschmacksurteils und über die Zweckmäßigkeit ohne Zweck der schönen Form), Anlaß zur Verwunderung gibt, und er bemüht sich, diese Theorie so plausibel wie möglich zu machen.
§ 30 In der der „Deduktion“ vorangehenden „Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile“ (§§ 1–37) hatte Kant neben den Urteilen über das Schöne auch die Urteile über das Erhabene behandelt. Warum nun zwar der Geltungsanspruch, den wir mit Urteilen über das Schöne verbinden, nicht aber der, den wir mit Urteilen über das Erhabene verbinden, einer Rechtfertigung in Form einer Deduktion bedarf, erklärt Kant im § 30. Beiden Arten von Urteilen ist gemeinsam, daß sie ästhetische Urteile sind; sie beruhen auf einem Gefühl, nicht auf der Anwendung eines objektiven Begriffs. Die Gefühle, die uns bestimmte Gegenstände als schön oder als erhaben beurteilen lassen, hatte Kant in der „Exposition“ beschrieben; diese Gefühle sind nicht rein sinnlicher Natur, sie haben ihren Grund in einer „Reflexion“ (244). Hier geht es nun aber nicht um die Empfindungsqualitäten schöner und erhabener Gefühle des Wohlgefallens (oder Mißfallens), sondern darum, ob das jeweilige Wohlgefallen (oder Mißfallen) ein Wohlgefallen (oder Mißfallen) an der „Form des Objekts“ ist. Nur das Urteil über das Schöne, nicht aber das Urteil über das Erhabene beruht auf einem Wohlgefallen an der „Form des Objekts“ (s. auch 244). Was aber heißt hier „Form des Objekts“? Warum ist das Urteil über das Schöne, nicht aber das Urteil über das Erhabene ein Urteil über eine solche Form? Und warum bedarf ein ästhetisches Urteil über die Form eines Objekts einer Deduktion, nicht aber ein ästhetisches Urteil, dem ein Wohlgefallen zugrunde liegt, das kein Wohlgefallen an der Form eines Objekts ist? Zur Beantwortung dieser Fragen greift Kant auf seine Ausführungen in der „Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile“ zurück. Mit der „Form des Objekts“ meint er hier die „Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird“; als eine solche Form der Zweckmäßigkeit hatte er die Schönheit am Ende des „Dritten Moments der Geschmacksurteile“ definiert (236; zu dieser Definition s. u. a. Fricke 1990, 102–111 und MarcWogau o. J., 73). Ähnlich wie ein Artefakt, z. B. ein Werkzeug, im Hinblick auf einen bestimmten Gebrauch oder Zweck gestaltet erscheint, erscheint
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uns ein schöner Naturgegenstand, als sei er im Hinblick auf einen Zweck gestaltet. Nur daß wir den Zweck, im Hinblick auf den der schöne Naturgegenstand gestaltet worden zu sein scheint, nicht begrifflich bestimmen können. Dagegen erkennen wir einen Gegenstand als Artefakt, als zweckmäßig gestaltet, nur dann, wenn wir den entsprechenden Zweck erkannt haben, das heißt den bestimmten Gebrauch, im Hinblick auf den er gestaltet wurde oder zumindest gestaltet worden sein könnte. Der Zweck, im Hinblick auf den die Form eines schönen Naturgegenstandes als zweckmäßig gestaltet erscheint, ist die Erkennbarkeit der Natur für den Menschen. Diese Erkennbarkeit ist eine hinreichende Bedingung dafür, daß wir empirische Begriffe bilden können. Wir finden sie im einzelnen immer wieder bestätigt, wenn wir empirische Begriffe bilden und sie zur Beschreibung einzelner Gegenstände verwenden. Die Erkennbarkeit der Natur für den Menschen kann nicht in einem objektiven Begriff gedacht werden und läßt sich daher nicht zur Beschreibung eines Objekts verwenden; es ist eine Idee von der Natur in ihrer Totalität. Anders als das Urteil über das Schöne ist das Urteil über das Erhabene kein Urteil über die zweckmäßige Form eines Gegenstandes der Natur. Im Gefühl des Erhabenen werden wir uns unserer selbst als Wesen bewußt, die einerseits im Verhältnis zur Natur in ihrer Unermeßlichkeit verschwindend klein sind, die aber andererseits Vernunft haben und kraft dieses Vermögens die Unendlichkeit und Totalität der Natur zumindest denken können (258). Die Urteile, die sich auf dieses Gefühl gründen, sind daher gar nicht im eigentlichen Sinn Urteile über Naturgegenstände, sondern Urteile über uns selbst (245). Allerdings bedürfen wir der Naturerfahrung des Erhabenen, um uns dieses Aspekts unserer selbst, unserer Winzigkeit und Ohnmacht inmitten einer unendlichen und mächtigen Natur bewußt zu werden. Die Natur aber, die uns erhabene Gefühle erleben läßt, ist ein Ort „formloser“ und „unzweckmäßiger“ Gegenstände (279), wobei ihre Unzweckmäßigkeit wiederum in bezug auf einen epistemischen Zweck zu verstehen ist, in bezug auf den Zweck von uns Menschen, Naturgegenstände begrifflich zu bestimmen und die Natur in ihrer Totalität zu erkennen (245, 252). In einer anderen Hinsicht sind erhabene Naturgegenstände jedoch auch zweckmäßig: Sie lassen uns unsere Vernunft erleben und sind daher dem vernunftgegründeten moralischen Gefühl der Achtung förderlich (267). Diese „Exposition“ der Urteile über das Erhabene der Natur ist nun, so Kant, „zugleich ihre Deduktion“ (280). Aber warum? Kants Antwort lautet: „Zum Schönen der Natur müssen wir einen Grund außer uns suchen, zum Erhabenen aber bloß in uns“ (246). Dem Wohlgefallen am Erhabenen liegt
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eine „Selbstschätzung“ (262) zugrunde, und das Selbst ist hier nicht das empirische, sondern das transzendentale Subjekt. Dessen Urteile gelten für alle vernünftigen Menschen. Dagegen bedürfen die Urteile über das Schöne einer Deduktion; es sind Urteile, in denen wir von uns selbst verschiedene und von uns unabhängige, natürliche Gegenstände nach einem Prinzip a priori beurteilen.
§ 31 Kant beginnt diesen Paragraphen, der „Von der Methode der Deduktion der Geschmacksurteile“ (280) handelt, mit einer Erinnerung daran, wie er in den §§ 1–8 der Kritik der Urteilskraft das Geschmacksurteil über das Schöne von Erkenntnisurteilen und moralischen Urteilen (ebenso wie von Urteilen über das Angenehme) unterschieden hatte. Nachdem er schon im § 8 eine „Merkwürdigkeit“ des Geschmacksurteils „für den Transzendentalphilosophen“ diagnostiziert hatte (213), spricht er hier von der „zwiefache[n] und zwar logische[n] Eigentümlichkeit“ (281) dieses Urteils. (1) Als ein Urteil über einen Gegenstand, das sich nicht auf einen Begriff, sondern auf ein Gefühl gründet, ist das Geschmacksurteil wesentlich ein einzelnes Urteil, ein Urteil über diesen einen Gegenstand, den es als schön beurteilt. Dennoch verbinden wir dieses Urteil mit einem Anspruch auf „Allgemeingültigkeit a priori“ (ebd.), auf eine Gültigkeit für alle Urteilssubjekte, wie sie sich nur im Rekurs auf ein Prinzip a priori des Urteils begründen läßt. (2) Die Allgemeingültigkeit a priori des Geschmacksurteils ist ihrem Anspruch nach notwendig, das heißt, sie beruht nicht auf induktivem Schließen, sondern auf einem Prinzip a priori. Nur kann dieses Prinzip nicht in einem objektiven Begriff angegeben werden. Tatsächlich hängen diese beiden Aspekte, die die logische Eigentümlichkeit des Geschmacksurteils ausmachen, eng miteinander zusammen. Als ein Urteil über einen einzelnen Gegenstand, in dem es nicht zu einer begrifflichen Bestimmung dieses Gegenstandes kommt, bietet dieses Urteil keinen Anhaltspunkt für irgendeine Art der induktiven Verallgemeinerung. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß schöne Gegenstände irgendeine materiale, relationale oder phänomenale Eigenschaft gemeinsam haben. Wenn das Geschmacksurteil daher überhaupt zu Recht mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit verbunden werden kann, dann kann dies nur die notwendige Allgemeingültigkeit sein. Deren Begründung aber ist nur in bezug auf ein Prinzip a priori möglich.
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Kant beendet diesen Paragraphen mit dem Hinweis darauf, daß die angekündigte „Deduktion der Geschmacksurteile“ mit der „Auflösung dieser logischen Eigentümlichkeiten“ (281) geleistet sein wird. Mit seinem Projekt einer Rechtfertigung der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils aus einem Prinzip a priori begibt er sich auf eine Gratwanderung. Absturz und Scheitern drohen auf zwei Seiten. Er muß den ästhetischen Charakter des Geschmacksurteils bewahren, ohne es zu einem Urteil über das Angenehme zu machen. Und er muß das Prinzip a priori, auf dessen Anwendung dieses Urteil beruht (und dabei handelt es sich letztlich um das Prinzip der Schönheit), so angeben, daß es zur Rechtfertigung seines Geltungsanspruchs hinreicht, ohne dieses Prinzip dabei unter Rekurs auf einen objektiven Begriff als möglichen Obersatz eines syllogistischen Schlusses zu formulieren und damit das Geschmacksurteil zu einem Erkenntnisurteil zu machen, das sich syllogistisch aus dem Geschmacksprinzip ableiten ließe. Dennoch erscheint Kant diese Aufgabe als „leicht“ (290), leicht jedenfalls im Vergleich mit seiner „Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ (KrV A 95–130/B 129–169), in der es nicht nur die allgemeine, sondern auch die objektive Gültigkeit von Begriffen a priori zu erweisen galt (s. dazu KrV A 85/B 117). In den folgenden beiden Paragraphen erläutert Kant zunächst die erste und dann die zweite dieser logischen Eigentümlichkeiten des Geschmacksurteils.
§ 32 In seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, auf „jedermanns Beistimmung“ (281), gleicht das Geschmacksurteil dem Erkenntnisurteil. Gleichzeitig unterscheidet es sich mit diesem Anspruch vom Urteil über das Angenehme, in dem ein Urteilssubjekt seine Privatmeinung über einen Gegenstand kundtut, ohne damit die Zustimmung anderer zu erheischen. Aber Kant warnt davor, die Schönheit z. B. einer Blume „für eine Eigenschaft der Blume selbst“ zu halten (282) und schiebt damit jedem Versuch einer reduktiven Naturalisierung der Schönheit einen Riegel vor. Ein Naturgegenstand ist nicht schön, weil er bestimmte objektive Eigenschaften hat und damit ein Exemplar einer bestimmten Art von Gegenständen ist. Schön ist solch ein Gegenstand vielmehr, weil er so, wie er als Einzelgegenstand beschaffen ist, einem normativen Standard entspricht, den wir Menschen mit unseren Erkenntnisvermögen, mit unserer Sinnlichkeit, unserer Einbildungskraft und unserem Verstand setzen und der
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sich nicht in objektiven Begriffen bestimmen, nicht als objektives Prinzip angeben läßt. Insofern kann Kant sagen, daß ein Geschmacksurteil „eine Sache nur nach derjenigen Beschaffenheit schön nennt, in welcher sie sich nach unserer Art sie aufzunehmen richtet“ (ebd.). Ebensowenig sind es kulturelle Gewohnheiten, wie sie für eine soziale Klasse charakteristisch sind und über die sich eine soziale Klasse von einer anderen abgrenzt, die sich in reinen Geschmacksurteilen äußern. Den prominentesten Versuch, das Phänomen der Schönheit auf Gestaltungs- und Konsumgewohnheiten sozialer Klassen zu reduzieren (ein ganz und gar unkantisches Projekt), hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1979) unternommen. Ein junger Dichter kann Gedichte schreiben, die anders sind, als sein Publikum es aus kultureller Gewohnheit erwartet. Er wird bei diesem Publikum wenig Beifall finden, denn es sieht seine Erwartungen enttäuscht. Aber ein Publikum, das vorgibt, über reine Schönheit zu urteilen, sich dabei aber nur an seinen kulturellen Gewohnheiten orientiert, urteilt nicht im Sinne eines autonomen Geschmacks, wie Kant ihn versteht. Daher kann ein tatsächlicher Mangel an allgemeiner Zustimmung allein als solcher noch keinen Grund dafür hergeben, die Werke eines jungen Dichters als nicht schön zu beurteilen. Der richtige, der intersubjektiv gute, allgemein mitteilbare Geschmack, wie er sich nur in reinen Geschmacksurteilen äußert, ist autonom, und auf diese Autonomie erhebt der junge Dichter Anspruch, wenn er sich von einem Publikum, das seine Werke ablehnt, nicht beirren läßt. Aber dieser Anspruch allein rechtfertigt nicht sein Urteil über seine eigenen Werke. Auch die ästhetische Urteilskraft, das Vermögen, über die Schönheit von Gegenständen autonom zu urteilen, bedarf der Übung. Jedes Geschmacksurteil kann fehlgehen. Anders als im Fall des Angenehmen kann nicht jede und jeder Maßstäbe für Schönheit setzen. Eine solche Anmaßung beruhte auf einem Mißverständnis dessen, was Kant meint, wenn er von der Autonomie des Geschmacks spricht. Bemerkenswert ist an dem Beispiel des jungen Dichters, das Kant hier verwendet, daß Werke der Literatur, also Kunstwerke, als Gegenstände von Geschmacksurteilen genannt werden. Bisher war vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich (s. u. a. § 7) von Naturgegenständen die Rede, über die wir Geschmacksurteile fällen. Daß Kunstwerke, also Artefakte, überhaupt schön sein können, ist für Kant ganz und gar nicht trivial. Er antizipiert hier schon seine Genietheorie, die er benötigt, um erklären zu können, daß nicht nur Naturgegenstände, sondern auch Kunstwerke schön sein können (s. zu Kants Kunst- und Genietheorie Fricke 1998). Die Autonomie des Geschmacks schließt nicht aus, daß dieses Vermögen der Übung bedarf und dabei auf Vorbilder angewiesen ist, an denen es sich
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orientieren kann (s. dazu auch § 49: 313 ff.) Kant vergleicht hier denjenigen, der seinen Geschmack noch üben muß, mit den Lehrlingen in Sachen der Mathematik und der Tugend. Aber während es für die Mathematik und die Tugend begriffliche Regeln gibt, an denen sich schon der Lehrling orientieren kann, muß der Lehrling in Sachen des Geschmacks ganz ohne begriffliche Regeln auskommen. Gerade deshalb ist für den Lehrling des Geschmacks die Orientierung an Beispielen besonders wichtig. Wenn Kant hier von diesen Beispielen sagt, sie haben „sich im Fortgange der Kultur am längsten in Beifall erhalten“ (283), so scheint er seiner Absage an die Geschmackssoziologie und seiner These von der Autonomie des Geschmacks zu widersprechen. Aber dieser Anschein trügt. Denn wenn Geschmacksurteile zu Recht Allgemeingültigkeit beanspruchen, dann sind alle Gegenstände berechtigter Geschmacksurteile in ihrer Schönheit exemplarisch und daher Muster für die Geschmacksbildung, ganz unabhängig von kontingenten Entwicklungen einer Kultur oder Klassengesellschaft.
§ 33 In seiner Subjektivität, das heißt in seinem ästhetischen Charakter oder in seiner Abhängigkeit von einem Gefühl, gleicht das Geschmacksurteil den Urteilen über das Angenehme. Weder für das eine noch für das andere Urteil gibt es einen „empirischen Beweisgrund“ (284). Als ein solcher Beweisgrund könnte z. B. eine reduktiv-naturalistische Bestimmung des Schönen (oder des Angenehmen) dienen. Aber für das Schöne (und auch für das Angenehme) schließt Kant die Möglichkeit einer solchen Bestimmung ausdrücklich aus. Jeder, der für sein Geschmacksurteil keine Zustimmung findet, ist in einer schwierigen Lage. Denn für die Entscheidung darüber, ob ein Gegenstand schön sei oder nicht, steht nicht nur kein empirischer Beweisgrund, sondern auch kein Beweisgrund a priori zur Verfügung. Was meint Kant, wenn er ausschließt, es gebe für das Geschmacksurteil einen Beweisgrund a priori? Schließlich ist es doch seine These, daß das Geschmacksurteil auf der Anwendung eines Prinzips a priori beruht. Unter „Beweisgründen a priori“ des Geschmacks scheint Kant hier die Regeln der Schönheit zu verstehen, die „Kritiker des Geschmacks“ aufgestellt haben (284 f.). A priori sind diese Regeln im Unterschied zu den empirischen Beweisgründen, insofern sie nicht, wie diese, auf Versuchen beruhen, die Schönheit von Gegenständen auf bestimmte ihrer objektiven Eigenschaften zu reduzieren, um dann bestimmte Eigenschaften sozusagen als „Schönheitsmacher“
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identifizieren zu können. Denn die Kritiker des Geschmacks setzen Standards für Schönheit ganz unabhängig von vorgängigen Geschmacksurteilen über die Schönheit bestimmter Gegenstände. Kant versteht solche Kritiker hier als erfolgreiche Trendsetter. Die Apriorität eines Trends besteht in nichts anderem als seiner willkürlichen Setzung durch einen erfolgreichen Trendsetter, für die es kein empirisches Fundament gibt. Den Begriff „a priori“ verwendet Kant hier in der Bedeutung von „ohne Fundament in einer bestimmten Erfahrung“ und damit ähnlich wie an einer Stelle der „Einleitung“ zur Ausgabe B der Kritik der reinen Vernunft, wo es von einem, „der das Fundament seines Hauses untergrub“ heißt, „er konnte es a priori wissen, daß es einfallen würde, d. i. er durfte nicht auf die Erfahrung, daß es wirklich einfiele, warten“ (KrV B 2). Wenn Kant dagegen z. B. die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien als Begriffe a priori bestimmt (s. u. a. KrV A 79/B 105), dann meint er damit, daß diese Begriffe im Hinblick auf die Möglichkeit der Erfahrung konstitutiv sind.
§ 34 Mit der Überschrift „Es ist kein objektives Prinzip des Geschmacks möglich“ (285) wiederholt Kant eine zentrale These seiner Analyse des Geschmacksurteils. Wäre ein objektives Prinzip des Geschmacks möglich, wäre ein Geschmacksurteil nicht ästhetisch; es wäre vielmehr ein Erkenntnisurteil. Die Beurteilung einzelner Gegenstände als schön könnte syllogistisch erschlossen werden, wobei den Obersatz eines solchen ästhetischen Syllogismus das objektive Prinzip des Geschmacks bildete. Was bedeutet dies nun für die Aufgabe, die einem „Kritiker“ des Geschmacks zukommt? Der Vorstellung des Geschmackskritikers, der als Trendsetter allgemeine Geschmacksprinzipien propagiert, hatte Kant schon im vorangehenden Paragraphen eine Absage erteilt. Hier bedient er sich nun einer Mehrdeutigkeit des Wortes „Kritiker“: Von Geschmackskritikern als Trendsettern, für die es im Rahmen von Kants Philosophie nichts zu tun gibt, leitet Kant über zu Geschmackskritikern im Sinne seiner kritischen Philosophie. Deren Aufgabe ist es, „über die Erkenntnisvermögen und deren Geschäfte in diesen Urteilen [das heißt den Geschmacksurteilen] Nachforschung zu tun und die wechselseitige subjektive Zweckmäßigkeit, von welcher oben gezeigt ist, daß ihre Form in einer gegebenen Vorstellung die Schönheit des Gegenstandes derselben sei, in Beispielen auseinanderzusetzen“ (286). Von der mit Beispielen arbeitenden „Kritik des Geschmacks“ spricht Kant hier als einer „Kunst“ (ebd.). Die „Kritik
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des Geschmacks“ als „Wissenschaft“ dagegen weist die zweckmäßige Zusammenstimmung der Erkenntnisvermögen, wie sie bei der Betrachtung eines schönen Gegenstandes zustande kommt, nicht nur an Beispielen nach, sie leitet „die Möglichkeit einer solchen Beurteilung [der Schönheit eines Gegenstandes] von der Natur dieser Vermögen als Erkenntnisvermögen überhaupt“ ab (ebd.). Der Aufgabe einer Kritik des Geschmacks als Wissenschaft sieht Kant sich verpflichtet. Er beschreibt diese Aufgabe mit den folgenden Worten: Diese Kritik „soll das subjektive Prinzip des Geschmacks als ein Prinzip a priori der Urteilskraft entwickeln und rechtfertigen“ (ebd.). Und eben dieser Aufgabe widmet er sich im folgenden Paragraphen, der das zentrale Argument der Deduktion der Geschmacksurteile enthält. Kants Rede von der „Kritik des Geschmacks“ als „Wissenschaft“ erinnert an eine berühmte Fußnote zu seiner Definition der „transzendentalen Ästhetik“ in der Kritik der reinen Vernunft (A 21/B 35 f.). In der ersten Auflage dieser Kritik von 1781 hatte Kant der Hoffnung des „vortreffliche[n] Analyst[en] Baumgarten […], die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben“, noch eine uneingeschränkte Absage erteilt. Sechs Jahre später, in der zweiten Auflage von 1787, stand Kant dem Projekt einer Ästhetik, die als Theorie des Schönen Teil seiner Transzendentalphilosophie sein könnte, nicht mehr so abweisend gegenüber. Eine zentrale Rolle in diesem Wandel der Kantischen Einstellung zu einer Theorie des Schönen spielte seine Entdeckung, das Urteil über das Schöne nicht nur als Geschmacksurteil, sondern auch und vor allem als ein Urteil der reflektierenden Urteilskraft zu verstehen (s. zu Kants Kritik an Baumgartens Ästhetik auch Kritik der Urteilskraft § 15 und Menzer 1952).
§ 35 Der § 35 enthält das zentrale Argument von Kants Deduktion der Geschmacksurteile – die folgenden drei Paragraphen beziehen sich erläuternd zurück auf das Argument, das hier entwickelt wird. Im Titel wird das, was diese Deduktion zeigen soll, in Form einer These formuliert: „Das Prinzip des Geschmacks ist das subjektive Prinzip der Urteilskraft überhaupt“ (286). Kant beginnt diesen Paragraphen mit einer Rekapitulation der Schwierigkeiten, die die Deduktion der Geschmacksurteile zu einer Gratwanderung machen. Dann aber setzt er zu einer Bestimmung des Prinzips der Schönheit an. Er beschreibt es zunächst als die „subjek-
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tive formale Bedingung eines Urteils überhaupt“ (287). Diese Bedingung identifiziert er im folgenden Satz als das Vermögen der Urteilskraft. Dies dürfte eine etwas ungenaue Formulierung sein, denn wie soll ein Vermögen mit einer Urteilsbedingung identisch sein? Plausibler erscheint es, die Urteilskraft als das Vermögen zu verstehen, das es uns ermöglicht, im Einzelfall zu beurteilen, ob diese Urteilsbedingung erfüllt ist. Welches ist die Bedingung eines Urteiles (gemeint ist ein objektives Erkenntnisurteil), deren Erfülltsein uns die Urteilskraft festzustellen erlaubt? Kant beantwortet die Frage wie folgt: Wenn ein anschaulich gegebener Gegenstand objektiv erkannt werden soll, so muß es angesichts seiner anschaulichen Vorstellung zu einer „Zusammenstimmung“ der Einbildungskraft und des Verstandes kommen. Kant bezieht sich hier auf seine Theorie der objektiven Erkenntnis und ihrer „zwei Stämme“, nämlich der Anschauungen und der Begriffe (KrV A 15/B 29). Das anschaulich Gegebene, wie es die Einbildungskraft vorstellt, muß, um erkannt zu werden, begrifflich bestimmt, unter Begriffe subsumiert werden. Die Möglichkeit einer begrifflichen Bestimmung des in den subjektiven Formen des Raumes und der Zeit gegebenen Mannigfaltigen der Anschauung unter die allgemeinen, reinen und empirischen Verstandesbegriffe, das heißt die Möglichkeit reiner und empirischer Erkenntnis, ist keineswegs trivial. Kant hatte in der Kritik der reinen Vernunft nachgewiesen, daß die Bedingungen der Möglichkeit reiner Erkenntnis, das heißt synthetischer Erkenntnis a priori, erfüllt sind. Die Möglichkeit empirischer Erkenntnis hängt zum einen von der Möglichkeit der Erkenntnis a priori ab (das heißt der Bestimmbarkeit des in den Formen von Raum und Zeit gegebenen anschaulichen Mannigfaltigen durch die Kategorien), zum anderen davon, daß das gegebene Mannigfaltige gewisse Regelmäßigkeiten aufweist. Denn ohne solche Regelmäßigkeiten könnten wir keine empirischen Allgemeinbegriffe bilden (s. dazu KrV A 100). Das Erfülltsein dieser zweiten Bedingung der empirischen Erkenntnis läßt sich nicht a priori nachweisen. Allein die Tatsache, daß wir über empirische Begriffe verfügen, ist ein Indiz dafür, daß auch diese zweite Bedingung erfüllt ist. Im Einzelfall manifestiert sich die Bestimmbarkeit eines anschaulich gegebenen Gegenstandes durch einen bestimmten Begriff darin, daß die Einbildungskraft und der Verstand zusammenstimmen und in ihrer Zusammenstimmung ein Urteil ermöglichen. Wenn z. B. der Verstand den Begriff einer Katze denkt und die Einbildungskraft eine Anschauung vorstellt, die diesen Begriff erfüllt, dann können wir wahrheitsgemäß urteilen „Dies ist eine Katze“, und dieses Urteil beruht auf einer Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand. Diese Zusammenstimmung festzustellen
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ist Aufgabe der Urteilskraft (s. dazu auch Abschnitt VI der „Einleitung“, insbes. 187). Was hat nun aber ein Geschmacksurteil über das Schöne mit einer Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte zu tun? Schließlich beruht dieses Urteil nicht, wie ein Erkenntnisurteil, auf der Subsumtion anschaulich gegebener Vorstellungen unter einen objektiven Begriff. Diese Frage beantwortet Kant wie folgt: „Weil nun dem Urteile hier [gemeint ist das Geschmacksurteil] kein Begriff vom Objekte zu Grunde liegt, so kann es nur in der Subsumtion der Einbildungskraft selbst (bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird) unter die Bedingung, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt, bestehen. D. i. weil eben darum, daß die Einbildungskraft ohne Begriff schematisiert, die Freiheit derselben besteht, so muß das Geschmacksurteil auf einer bloßen Empfindung der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit, also auf einem Gefühle beruhen, das den Gegenstand nach der Zweckmäßigkeit der Vorstellung (wodurch ein Gegenstand gegeben wird) auf die Beförderung des Erkenntnisvermögens in ihrem freien Spiele beurteilen läßt; und der Geschmack, als subjektive Urteilskraft, enthält ein Prinzip der Subsumtion, aber nicht der Anschauungen unter Begriffe, sondern des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d. i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d. i. den Verstand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit zusammenstimmt“ (287, Herv. von Kant). Die Rede vom freien Spiel der Erkenntnisvermögen und von ihrer harmonischen Zusammenstimmung in diesem freien Spiel hatte Kant im § 9 der Kritik der Urteilskraft eingeführt. Es ist diese harmonische Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte, die uns im Wohlgefallen am Schönen bewußt wird. Und das Vermögen, uns einer Zusammenstimmung dieser Kräfte in Form eines interesselosen Wohlgefallens bewußt zu werden, ist die Urteilskraft in ihrer Funktion als „Gemeinsinn“, wie Kant sie im § 21 der Kritik der Urteilskraft beschrieben hat (s. dazu Fricke 1990, 163– 176). Über das, was er schon im § 9 gesagt hatte, hinausgehend – und im Rückgriff auf seine Theorie des „Schematismus“ aus der Kritik der reinen Vernunft – versucht Kant hier zu erklären, worauf die Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand, die die Anschauung eines schönen Gegenstandes ermöglicht, beruht. Daß es angesichts anschaulich gegebener Gegenstände zu einer Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte kommt, ist zwar nicht trivial, aber es ist auch nichts Besonderes, da jede empirische Erkenntnis eine solche
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Zusammenstimmung voraussetzt, und empirische Erkenntnisse haben wir in großer Zahl. Es ist nicht diese häufig vorkommende Zusammenstimmung, die uns im interesselosen Wohlgefallen am Schönen bewußt wird. Andernfalls könnten wir nur schöne Gegenstände erkennen, alles Erkennbare wäre als solches auch schön. Das Besondere, das wir im interesselosen Wohlgefallen am Schönen erleben, ist, daß es zu einer Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand in besonderen Fällen (nämlich angesichts schöner Gegenstände) auch kommen kann, wenn der Verstand die Bedingungen einer solchen Zusammenstimmung nicht in Form eines bestimmten Begriffs vorgibt, wenn diese Zusammenstimmung frei bleibt von jeder Reglementierung durch den Verstand und nicht in die begriffliche Bestimmung eines Gegenstandes, in ein Erkenntnisurteil mündet. Wie kann es aber überhaupt zu einer Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte kommen, die nicht die Zusammenstimmung des anschaulich Gegebenen zu einem Begriff ist? Der Gedanke an eine solche freie und begriffslose Zusammenstimmung erscheint widersinnig. Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in der Kantischen Formulierung, der zufolge „die Einbildungskraft ohne Begriff schematisiert“. Was aber soll das heißen? Schemata sind Vorstellungen der Einbildungskraft, die zwischen anschaulichen Einzelvorstellungen und allgemeinen Begriffen vermitteln und es uns dadurch ermöglichen, einzelne Gegenstände als Erfüllungsinstanzen allgemeiner Begriffe zu denken (s. dazu in der Kritik der reinen Vernunft das Kapitel über den „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“, A 137/B 176 ff.). Sie erlauben uns, ein Mannigfaltiges der Anschauung als figürlich geordnet, als geordnet nach einer Regel vorzustellen – ähnlich wie wenn wir ein Artefakt als solches vorstellen und es dabei verstehen als gestaltet im Hinblick auf einen bestimmten Gebrauch oder Zweck. Wenn nun die Einbildungskraft das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung „ohne Begriff schematisiert“, dann sucht sie in diesem Mannigfaltigen nach einer Art zweckmäßiger Ordnung oder Figur, sozusagen nach dem Zweck, im Hinblick auf den dieses Mannigfaltige gestaltet worden sein könnte. Das Besondere in diesem Schematisieren ohne Begriff ist nun, daß die Einbildungskraft sich nicht an einer begrifflichen Vorgabe orientieren kann. Sie sucht nach keiner bestimmten figürlichen Ordnung des Gegebenen. Sie sucht nicht einmal nach einer figürlichen Ordnung, die einer begrifflichen Bestimmung zugänglich wäre. Sie hat daher keinen Grund, bestimmte Elemente des Gegebenen vorrangig zu berücksichtigen und andere zu vernachlässigen. Sie bleibt in ihrer Suche nach der figürlichen Ordnung in dem Gegebenen auf die Totalität seiner Elemente bezogen.
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Wo das gegebene Mannigfaltige die anschauliche Vorstellung eines schönen Gegenstandes ist, kommt es in dieser Suche der Einbildungskraft nach einer figürlichen Ordnung in dem Gegebenen nun zu einer Zusammenstimmung mit dem Verstand, die aber nicht einhergeht mit der Identifikation einer ganz bestimmten figürlichen Ordnung in dem Gegebenen, die es als Erfüllungsinstanz eines entsprechenden bestimmten Begriffs erkennbar machte. In ihrer harmonischen, aber begriffslosen Zusammenstimmung mit dem Verstand bleibt die Einbildungskraft tätig, sie bleibt auf der Suche nach der figürlichen Ordnung in dem gegebenen Mannigfaltigen und gerät dabei in einen Zustand der unbestimmten Ahnung, daß diese Suche einerseits nicht scheitern, andererseits aber auch nicht zu einem endgültigen Abschluß kommen kann (s. a. 222). Wenn Kant von der Zusammenstimmung der schematisierenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit zum Verstand in seiner Gesetzmäßigkeit spricht, die bei der ästhetischen Reflexion über einen schönen Gegenstand entsteht, und wenn er meint, in dieser Zusammenstimmung offenbare sich die Erkennbarkeit der Natur für den Menschen, dann legt dies die Vorstellung vom schönen Gegenstand als einer Art Mikrokosmos nahe, der im Kleinen eine Ordnung verkörpert, wie sie die Natur in ihrer Totalität aufweist. Die Natur, in der schöne Gegenstände vorkommen, deren zweckmäßige Form der Ordnung der ganzen Natur in ihrer Totalität ähnlich ist, ist eine Art selbstähnliches System. Ein Beispiel für ein solches selbstähnliches System ist die sogenannte „Mandelbrotmenge“, eine Teilmenge der komplexen Zahlen. Im § 35 identifiziert Kant also das Prinzip des Schönen mit einer allgemeinen Bedingung für die Erkennbarkeit der Natur. Und diese Identifikation ist der Kerngedanke seiner Deduktion der Geschmacksurteile (s. zu diesem Paragraphen auch Fricke 1990, 112–126).
§ 36 In diesem Paragraphen stellt Kant die Lösung der „Aufgabe einer Deduktion der Geschmacksurteile“ (287) als etwas dar, mit dem er zur Beantwortung der Leitfrage seiner Kritik der reinen Vernunft beiträgt, der Frage, „wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ (289, s. a. KrV B 19). In der Sache enthält dieser Paragraph jedoch nichts Neues. Er beginnt mit einer kurzen Rekapitulation der Erkenntnistheorie, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt wurde. Es folgt eine Erinnerung an die Exposition des reinen Geschmacksurteils und seines merkwürdigen Charakters.
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In welchem Sinn ist nun ein Geschmacksurteil ein synthetisches Urteil a priori, das notwendig und streng allgemein ist? Kant scheint dieses Urteil hier in eine Reihe zu stellen mit den Prinzipien des reinen Verstandes (s. KrV A 161/B 200). Im Unterschied zu diesen Prinzipien ist das Geschmacksurteil aber kein allgemeines Urteil über Gegenstände unserer Erkenntnis, es ist vielmehr ein einzelnes Urteil über einen Gegenstand der empirischen Anschauung. Es ist ein synthetisches Urteil, da es etwas von seinem Gegenstand behauptet, das in dem „dies“, seinem Subjekt, noch nicht gedacht ist. Es ist ein empirisches Urteil, weil es auf dem Empfinden einer ästhetischen Lust beruht. Und es ist ein Urteil a priori in dem Sinne, daß es auf der Anwendung eines apriorischen Prinzips, des Prinzips a priori der Urteilskraft beruht, weshalb es zu Recht mit einem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit verbunden wird (zum Charakter des Prinzips a priori der reflektierenden Urteilskraft s. auch Horstmann 1989).
§ 37 Auch der § 37 enthält nichts wesentlich Neues, sondern rekapituliert, was seit der Exposition des Geschmacksurteils und seiner Merkwürdigkeit bekannt ist.
§ 38 Dies ist der Paragraph, in dem laut Titel die eigentliche „Deduktion der Geschmacksurteile“ stattfinden soll. Tatsächlich enthält aber auch dieser Paragraph nichts über das Geschmacksurteil, was nicht schon aus dessen Exposition und aus den vorangehenden acht Paragraphen bekannt wäre. Hier zieht Kant die Fäden seiner vorangehenden Ausführungen zusammen und macht ausdrücklich, was aus diesen Ausführungen folgt: Das Geschmacksurteil bzw. die Lust am Schönen, auf der es beruht, „wird jedermann mit Recht angesonnen werden können“ (290). Ein Wohlgefallen, das auf einer Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte beruht, wie Kant sie im § 35 beschrieben hatte, ist frei von privaten Vorlieben des jeweiligen Empfindungssubjekts. Es beruht auf einer Tätigkeit der Erkenntniskräfte und damit auf etwas, das man „in allen Menschen (als zum möglichen Erkenntnisse überhaupt erforderlich) voraussetzen kann“ (ebd.).
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Anmerkung zu § 38 Warum nun ist diese Deduktion „so leicht“ (290)? Sie ist leicht im Vergleich mit der Deduktion der Kategorien, „weil sie keine objektive Realität eines Begriffs zu rechtfertigen nötig hat; denn Schönheit ist kein Begriff vom Objekt, und das Geschmacksurteil ist kein Erkenntnisurteil“ (ebd.). Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft ist, obwohl ein Prinzip a priori, das eine Bedingung objektiver empirischer Erkenntnis angibt, in bezug auf die Natur, die Totalität aller Gegenstände möglicher Erkenntnis, nicht konstitutiv. Mit diesem Prinzip schreibt die Urteilskraft der Natur keine Gesetze vor. Darin unterscheidet sie sich vom Verstand, der mit seinen Prinzipien a priori in bezug auf die Gegenstände möglicher Erkenntnis konstitutiv ist. In der Erfahrung der Schönheit eines Gegenstandes erweist sich die Natur als dem Prinzip der Urteilskraft gemäß, als zweckmäßig im Hinblick auf den epistemischen Zweck, die Natur in ihrer Totalität zu erkennen. Diese epistemische Zweckmäßigkeit der Natur ist eine besondere Art ihrer systematischen Einheit. Insofern sie eine hinreichende Bedingung für die Möglichkeit ist, empirische Begriffe zu bilden, läßt sich sagen, daß sich diese Einheit der Natur in jeder einzelnen empirischen Erkenntnis, in jedem einzelnen empirischen Begriff, den wir bilden können, bestätigt. Jedoch beinhaltet diese Einheit der Natur mehr als bloß diese Möglichkeit der empirischen Begriffsbildung. Sie beinhaltet auch die systematische Einheit der empirischen Begriffe, die Möglichkeit, sie – bildlich ausgedrückt – in einer Pyramide anzuordnen, wobei als Prinzip dieser Ordnung die kleinere oder größere Extension der jeweiligen Begriffe dient. An der Spitze dieser Pyramide steht ein letzter Begriff von größtmöglicher Allgemeinheit, zu dessen Extension alle Gegenstände möglicher Erkenntnis gehören. Wer von einem Gegenstand sagt, er sei schön, nimmt für sich in Anspruch, die anschauliche Vorstellung dieses Gegenstandes im freien Spiel seiner Erkenntniskräfte auf das Prinzip a priori der Urteilskraft bezogen und dabei eine freie Harmonie dieser Erkenntniskräfte in Form eines interesselosen Wohlgefallens erlebt zu haben. Und er (oder sie) kann mit diesem Urteil zu Recht einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit verbinden. Die Schwierigkeit, sich angesichts eines empfundenen Wohlgefallens dessen zu vergewissern, daß es auf der „Übereinstimmung einer Vorstellung mit diesen Bedingungen der Urteilskraft“ beruht (290), nicht aber auf einem Reizzustand der Annehmlichkeit, bleibt gleichwohl bestehen. Denn angenehme und schöne Empfindungen schließen sich nicht gegenseitig aus (s. z. B. § 13). Wer ein Wohlgefallen empfindet und dessen Gegenstand als schön beurteilt, hat keine Handhabe, sich der Unverfälschtheit dieses Wohl-
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gefallens zu vergewissern; er kann sich leicht irren und ein Wohlgefallen am Angenehmen für ein Wohlgefallen am Schönen halten. Diese Gefahr des Irrtums tut der Rechtmäßigkeit des von einem reinen Geschmacksurteil erhobenen Geltungsanspruchs jedoch keinen Abbruch. Es ist diese Gefahr, die es Kant erlaubt zu erklären, warum Fragen der Geschmacksbeurteilung oft sehr kontrovers sind, obwohl reine Geschmacksurteile für alle erkenntnisfähigen Menschen gelten: Es ist im Fall eines Streits darüber, ob ein Gegenstand schön sei oder nicht, schwer – wenn nicht unmöglich – definitiv zu entscheiden, wer von den streitenden Parteien im Recht ist.
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Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen. Von der Geschmackslehre zur Teleologie (§§ 39–42)
8.1 Überblick Das „Gute am Schönen“ ist aus verschiedenen Gründen ein zentrales Thema der Kritik der Urteilskraft. Erstens gehört das Problem traditio nellerweise in den Kontext einer Beschäftigung mit dem Begriff und Sinn des Schönen. Zweitens enthält der umgangssprachliche Gebrauch von „Geschmack“ seit dem frühen 18. Jahrhundert das semantische Element des „Taktgefühls“ und der „Sozialkompetenz“. Und drittens liefert der Zusammenhang zwischen dem ästhetischen und dem moralischen Gebiet der Urteilskraft ein Bindeglied für die Vermittlung der drei Teile der Kantischen Theorie zur umfassenden Einheit des transzendentalphilosophi schen Systems. So ist es sachlich einleuchtend, wenn die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ sogleich nach dem Abschluß ihrer spezifischen Analysen mit der „Deduktion“ (§ 38) das Thema des ethisch-moralischen Aspekts aufgreift und dabei nach dem inhaltlichen Sinnüberschuß fragt, der dem „Schönen“ eignet. Das Schöne wie dessen Präsenz im ästhetischen „Spiel von Einbildungskraft und Verstand“ haben eine wichtige Rolle sowohl im Rahmen einer teleologischen Theorie des Menschengeschlechts wie auch im Blick auf die moralisch anspruchsvolle Gestalt jenes sensus communis oder „Gemeinsinnes“, den die Kritik der Urteilskraft schon im § 22 mit dem Problem der Geschmacksurteile verknüpft hat. Die §§ 39–42 zeigen, daß das Schöne mehr ist und mehr besagen kann, als nur Anlaß zu sein für das „freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand“ und der damit verbundenen Reflexionslust. Außerdem markie ren diese Passagen eine besondere Differenz, die für die Kantische Lehre
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vom Schönen charakteristisch ist; nämlich die vor allem auf dem Hinter grund moralischer und teleologischer Überlegungen wesentliche Unter scheidung zwischen dem Natur- und dem Kunstschönen. Daß es das Schöne – als Natur- wie als Kunstschönes – aber überhaupt gibt, ist für Kant schon früh ein Zeichen dafür gewesen, „daß der Mensch in die Welt passe“ (Reflexionen XVI 127); es ist für ihn die Chiffre für die wirklichkeits fähige Hoffnung, das erreichen zu können, was der höchste Zweck und der Endzweck von Natur und Welt sein muß: der Mensch, die Mensch heit, sich selber bestimmend gemäß dem Sittengesetz der Vernunft. Im folgenden werde ich zuerst das Thema der §§ 39 f., den Begriff des Geschmacks als eines sensus communis diskutieren, also das Problem eines Sinnes, der intersubjektive Verbindlichkeit beanspruchen darf. In dem Zusammenhang wird ebenfalls das keineswegs eindeutige Verhältnis zwischen dem (ästhetischen) Gefühl der Lust und dem „Spiel von Einbil dungskraft und Verstand“ behandelt. Das erlaubt den Wechsel vom – nach der „Analytik“ (§§ 2–5) – ja „interesselosen Wohlgefallen am Schönen“ zu den §§ 41 f., die das Schöne dezidiert unter dem Gesichtspunkt der posi tiven Interessiertheit erörtern.
8.2.1 Der basale Gedanke der Deduktion § 39 untersucht, unter welchen Bedingungen eine Empfindung in welchem Ausmaß mitteilbar ist. Grundlegend ist dabei die Dreigliederung von Empfindungsweisen: die Weise der auf Erkenntnis bezogenen Sinnesemp findung, die zur Wahrnehmung, das heißt zum Sinnesurteil gehört; die Weise des lust- bzw. unlustbestimmten Gefühls, das entweder unmittelbar sinnenabhängig oder vernunftvermittelt ist („Lust des Genusses“) vs. das sittliche Gefühl qua „Lust der Selbsttätigkeit“; die Weise, die Kant „die Lust am Schönen“ nennt, welche Lust der „bloßen Reflexion“ ist, daher weder mit dem einfachen Sinnengenuß identisch ist, noch zusammenfällt mit dem moralischen Wohlgefallen im praktischen Vollzug der Vernunft autonomie und auch etwas anderes ist als die „Lust am Erhabenen“ – die „Lust der vernünftelnden Kontemplation“, die sich letztlich nur aus der Vernunftidee der moralischen Autonomie entwickeln läßt. Sinnesempfindungen sind wesentlich individuell, ihre allgemeine Mitteilbarkeit läßt sich niemals voraussetzen. Das moralische Empfinden und die erhabene Stimmung müssen zwar als allgemein mitteilbar begriffen werden, aber sie verdanken diese Möglichkeit keiner Basis in irgendeinem Fühlen, sondern ihrer Verankerung in der Form und Wirklichkeit der praktischen Vernunft. Einzig die spezifische „Lust der bloßen Reflexion“,
Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen
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die sich in und mit der ästhetischen Erfahrung ereignet und die das Krite rium des Geschmacksurteils bildet, ist nicht von einem Verstandes- oder Vernunftbegriff geleitet und ebenso nicht geprägt von zufällig-individu ellen Sinnesempfindungen. Allein sie ist beides zugleich: Empfindung und allgemein mitteilbar. Die Begründung für diesen Befund liefert der abschließende Abschnitt von § 39, der das Ergebnis der „Deduktion“ (§ 38) wiederholt (292, 35– 293, 8): „Diese Lust muß notwendig bei jedermann auf den nämlichen Bedingungen beruhen, weil [diese die] subjektive[n] Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt sind, und die Proportion dieser Erkenntnisvermögen [der Einbildungskraft und des Verstandes], welche zum Geschmack[surteil] erfordert wird, auch zum gemeinen und gesunden Verstand [und dessen Urteil] erforderlich ist, den [und das] man bei jeder mann voraussetzen darf“. Das ist der basale Gedanke der Deduktion; er ist es, der die Rechtfer tigung des besonderen „Ansinnens“ des Geschmacksurteils auf generelle Zustimmung trägt. Wenn man ihn akzeptiert, dann muß man gleichfalls akzeptieren, was aus ihm folgt: „Eben darum darf […] der mit Geschmack Urteilende […] sein Wohlgefallen am Objekte […] [also] sein Gefühl als allgemein mitteilbar und zwar ohne Vermittlung der Begriffe annehmen“ (293, 3–8). 8.2.2.1 Kritik Soweit, so klar. Damit ist dargelegt, was § 39 zu erläutern versprochen hat. Allerdings stößt man rasch auf Schwierigkeiten, wenn die Argumente genauer betrachtet werden, auf denen der Schluß beruht. Das spezielle Empfinden des Geschmacks – das ästhetisch kriteriale Wohlgefallen – sei das Gefühl eines „freien Spiels der Erkenntnisvermögen“, als solches ein Gefühl für die Erfüllung der „subjektive[n] Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt“ und zugleich eine „Lust der bloßen Refle xion“, – ist das alles dasselbe? Im Versuch meiner Antwort möchte ich zwei Problemkreise auseinan derhalten: Einerseits die Frage nach der exakten Relation der zugunsten der Mitteilbarkeitsthese behandelten Aspekte der ästhetischen Erfahrung, anderseits die Frage nach dem eigentlichen Grund der Lust am Schönen. Also: Wie sind die subjektive Gegebenheit der Bedingungen der Möglich keit einer Erkenntnis überhaupt, das Gefühl des freien Spiels und die Lust am Schönen ineinander überführbar und miteinander verkoppelt? Sowie: Ist die Lust am Schönen ohne weiteres als Wirkung der Erfüllung der
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Bedingung für Erkenntnis überhaupt mit dem Gefühl des ästhetischen Spiels von Einbildungskraft und Verstand gleichzusetzen? Schon im § 9 erklärt Kant, der „Schlüssel zur Kritik des Geschmacks“ sei die Einsicht in die Tatsache, daß die Lust am Schönen kein Urteilsgrund sei, sondern vielmehr die Folge der „Beurteilung“ (vgl. 218, 8–11). Nach der Kritik der Urteilskraft ist das „Wohlgefallen“ (die Lust) a) die Wirkung des die Vorstellung primär beurteilenden „Spiels“, und weil b) das „Spiel“ zugleich die „Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis über haupt“ realisiert – die, als auch zum „gesunden und gemeinen Verstand“ gehörig, „man bei jedermann voraussetzen darf“ (293, 1 ff.) –, ist c) die Lust als Wirkung auch Ausdruck der Erfüllung dieser Bedingung, welche d) stets unterstellt werden muß, wenn objektive Erkenntnis (= ein Verstandes urteil) zustande kommen soll. Daraus ergeben sich zwei Fragen. Erstens: Was garantiert eigentlich b)? Zweitens: Sind das „Gefühl des freien Spiels“ und die Empfindung der Lust tatsächlich ein und dasselbe und daran anschließend: Was ist das genau, was die Empfindung der Lust „bewirkt“? Die erste Frage markiert die für die Deduktion fundamentale Voraus setzung: die Gleichsetzung von „Spiel“ und „subjektiver Bedingung von Erkenntnis überhaupt“. Ist diese Gleichsetzung zwingend? Meines Erach tens ist dies nicht der Fall. Um das jedoch mit der nötigen Sorgfalt darstel len zu können, müßte man jetzt die Bedeutung und die phänomenolo gische Triftigkeit des die ästhetische Erfahrung kennzeichnenden Begriffs – „freies Spiel von Einbildungskraft und Verstand“ in Ansehung einer gegebenen Vorstellung – erläutern, um dann zu zeigen, daß die schlichte Identifikation dieses Vollzugs mit der Erfüllung der subjektiven Bedingung von Erkenntnis überhaupt nicht einleuchtet, weil dadurch eine doch sehr spezielle Tätigkeit der Erkenntnisvermögen mit einem durchaus generellen Verhältnis derselben in eins gesetzt wird. Stimmt man dieser, hier nur angedeuteten Kritik (ausführlich: Kohler 1980, 335–362) zu, wird das Ergebnis von § 39 zweifelhaft, mindestens hinsichtlich der Art und Weise, wie Kant es begründet. In eher lockerer Form läßt sich das Kantische Argument aber gleichwohl halten: Was die ästhetische Erfahrung und das ihr entsprechende Urteil ermöglicht und trägt, sind im Prinzip ja keine anderen Fähigkeiten und Vorausset zungen als diejenigen, über die wir auch verfügen, wenn wir gewöhnliche Verstandesurteile fällen und dabei ohne weiteres unterstellen dürfen, daß sie intersubjektiv mitteilbar sind.
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8.2.2.2 Gefühl, Lust, (ästhetische) Reflexion Zu meiner zweiten Frage, die das Verhältnis zwischen dem Gefühl des „freien Spiels“ und der Empfindung der (ästhetischen) Lust betrifft, welche Kant gelegentlich auch unter dem einen Begriff der „Lust der bloßen Reflexion“ in eins faßt: Daß das „freie Spiel“ und dessen Präsenz im Bewußtsein und die Empfindung der (ästhetischen) Lust nicht unmittelbar gleichgesetzt werden dürfen, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß die Lust am Schönen, die nach § 9 die Wirkung der „Beurteilung“ – also des „Spieles“ der frei reflektierenden Urteilskraft – ist, nicht ihre eigene Ursache sein kann. „Lust der bloßen Reflexion“ bezeichnet demnach ein komplexes Verhältnis: jene Empfindung, die primär in der Erfahrung des „Spiels“ besteht und die sekundär – als Folge der freien Reflexion – lust voll ist. Doch weshalb verursacht dieses freie Reflektieren der Urteilskraft, das „Spiel von Einbildungskraft und Verstand“ aus Anlaß einer gegebenen Vorstellung, überhaupt die Empfindung von Lust? Die Antwort ist nicht ohne Umwege zu finden, da der Text der Kritik der Urteilskraft hier durchaus zweideutig ist. Einerseits gilt – § 9 – unbestreit bar, daß der Vollzug der Reflexion (= die „Beurteilung“) Ursache für das ästhetische Wohlgefallen ist. Anderseits braucht die Kritik der Urteilskraft den Terminus „Gefühl“ eben auch, um den Vollzug der ästhetischen Refle xion selbst und als solchen zu qualifizieren (vgl. Kohler 1980, 249–257). – Evident geschieht dies im § 15, der das ästhetische Urteil als ästhetisches (und nicht begriffliches) kennzeichnet (vgl. 228, 27–31). Daß Kant oft nicht präzis trennt, was er an anderer Stelle explizit unter scheidet, ist phänomenologisch einleuchtend, argumentativ jedoch verwir rend. Hält man aber den phänomenologischen Aspekt des „Spiels“ und die argumentativ entscheidende Markierung der kausalen Abhängigkeit der Lustempfindung einigermaßen sorgfältig auseinander, wird auch erkenn bar, warum das gelingende „Spiel“ von der Kritik der Urteilskraft sowohl als lustverursachend wie selber als nur im Modus des Fühlens gegenwärtig bestimmt wird. In der Anmutung des Schönen im Vollzug ästhetischer Erfahrung sind Lust und Reflexion offensichtlich nicht so klar voneinander abgehoben wie beim Naturforscher, der nach der Entdeckung der „Vereinbarkeit zweier heterogener Naturgesetze“ Freude empfindet, weil er deren Möglichkeit gemäß dem transzendentalen Prinzip der Urteilskraft zwar „subjektiv notwendig“ erwartet, gleichzeitig aber wissen muß, daß deren Eintreffen objektiv zufällig ist (vgl. 184, 10–21; s. a. Kohler 1980, 41–74).
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Das „Spiel“ der ästhetischen Reflexion ist kein eindeutiges Auf-BegriffeBringen, es verweist allemal ins „Unnennbare“; in ihm werden die Regeln der prädikativ eindeutigen Rede überschritten, so daß für sie das Nichtmehr-Sagbare nicht als Grenze existiert, sondern als Versprechen weiterer, erneuter, unendlicher Kommunikation erscheint, was ein zugleich bele bend-lustvoller und vermutend-ahnender emotionaler Vorgang ist, für den der Ausdruck des „Gefühls“ ebenso paßt wie für das, was er auslöst – die Empfindung jener Lust, die letztlich aus dem „subjektiv notwendigen“, aber „objektiv zufälligen“ Weltentwurf des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft überhaupt erklärbar ist. 8.2.2.3 Die (ästhetische) Lust und die Hoffnung, in „die Welt zu passen“ In der „Einleitung“ heißt es, daß das Gefühl der Lust dadurch „erweckt wird“, daß die Einbildungskraft zum Verstand „in Einstimmung versetzt ist“ (190, 9). Warum „erweckt“ der Vollzug des „Spiels“ Lust? Weshalb kann er Ursache von (und nicht bloß selber das Gefühl der) Lust sein? – Aus keinem andern Grund als aus demjenigen, aus dem auch die „Vereinbar keit zweier heterogener Naturgesetze“ die Freude des Forschers bewirkt; letztlich also darum, weil die primäre Furcht, für welche das transzenden tale Prinzip der Urteilskraft die eher euphemistische Beruhigung liefert – die Furcht der denkbaren, grundsätzlich möglichen Unangemessenheit der gegebenen Wirklichkeiten an die menschlichen Verstandeskräfte zu begegnen –, für einmal durch eine faktische Erfahrung widerlegt worden ist (s. Kohler 1980, 241–248). Die Erfahrung des Schönen durch das „freie Spiel“ bekräftigt so eine Idee, die die menschlich-endliche Subjektivität im ganzen angeht, als eigener Gedanke aber erst in der „Dialektik“ (§§ 57 f.) ein Stück weit entfaltet wird: die Möglichkeit „eines Grundes überhaupt von der […] Zweckmäßigkeit der Natur für die Urteilskraft“ (340, 14 f.), das heißt die Idee einer umfassenden Einheit, durch die Ich und Welt in einer – bezogen auf die Ansprüche der praktischen Vernunft – „intelligi bel-übersinnlichen“ Ordnung der wechselseitigen Entsprechung zusam mengehalten werden. Die Lust, das Wohlgefallen, aufgrund der in der ästhetischen Reflexion einer gegebenen Vorstellung entdeckten Stimmig keit von Einbildungskraft und Verstand, ist also die Folge der bestärkten Hoffnung, daß wir so, wie wir sind, in „die Welt passen“. Die §§ 41 und 42 behandeln das „Interesse am Schönen“, ein Thema, das Kant sehr genau vom „interesselosen Wohlgefallen“ abhebt, das zum ästhetischen Urteil gehört. Die obige Erörterung läßt aber schon jetzt erkennen, was das „intellektuelle“ Interesse am Schönen (§ 42) eben auch
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erfüllt, nämlich die konstitutive Hoffnung und das Bestreben der prak tischen Vernunft, in der Welt, wie sie uns gegeben ist, ihre eigene Bestim mung – menschliche Existenz in Selbsttätigkeit als „Subjekt der Moralität“ (vgl. § 84) – realisieren zu können.
8.2.3 Geschmack, sensus communis, gesunder Menschenverstand § 40 – „Vom Geschmack als einer Art von sensus communis“ – zieht die Konsequenz aus der in § 39 konstatierten „Mitteilbarkeit“ der spezifisch ästhetischen Empfindung. Auf dieser Basis definiert er den Geschmack, die ästhetische Urteilskraft, als jenes Vermögen, das zu Recht den Namen eines „Sinnes“, der aber „gemeinschaftlich“ ist, verdient. Gleichzeitig werden drei Punkte erörtert. Erstens der Unterschied zwischen „gemeinem (oder gesundem) Menschenverstand“ (sensus communis logicus) und dem Gemein sinn qua Geschmack (sensus communis aestheticus), Absatz 1 und 2; zwei tens die Qualität der ästhetischen Urteilskraft als eines gemeinschaftlichen Sinnes, der zugleich einer universalen, umfassend vernünftigen Denkungs art gemäß ist, Absatz 2 ff., 5 f.; drittens die Integration der traditionellen Begriffe „sensus communis“ und „Geschmack“ in den Ansatz der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“. 8.2.3.1 Der gemeinschaftliche Sinn Die Begriffsgeschichte von sensus communis ist alt und kompliziert (vgl. dazu Tiffany 2002 u. Wenzel 2006). Sie beginnt bei Aristoteles (koinê aisthesis) und Cicero und ist für Kant insbesondere durch Shaftesbury gegenwär tig. Auf diese Zusammenhänge kann ich hier nur hinweisen. Methodisch und systematisch wichtig ist indes die Differenz, die Cicero von Aristoteles trennt und die auch in der Kantischen Analyse eine Rolle spielt; nämlich der Gegensatz in der Betrachtungsweise zwischen dem sensus communis als einer inter-subjektiven (= von vielen Menschen geteilten) und als einer intrasubjektiven (= innerhalb eines Individuums anzutreffenden) Kompe tenz (vgl. Wenzel 2006, 128). Kant behandelt den sensus communis aestheticus unter beiden Hinsichten. Einerseits – da wird der Einfluß von Shaftesbury sichtbar – entspricht der Geschmack als sensus communis der Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes par excellence, d. i. eines Beurteilungsvermögens, „welches in seiner Refle xion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt“ (293, 30–33). Der sensus communis als Geschmack ist ein intersub jektives, auf alle Menschen ausgreifendes Vermögen, doch er kann dies –
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was sich im Kontext der Transzendentalphilosophie im Grunde von selber versteht – nicht als Produkt empirisch zufälliger Mentalitätstraditionen sein, sondern nur als ein gegenüber den jeweiligen Vorurteilen der gege benen sozialen Welt kritischer Anspruch; als eine „idealische Norm“ (§ 22: 239, 26), die auf der Möglichkeit einer universell intersubjektiven Gefühls stimmung basiert, die aus anderen als aus kulturell-historisch kontingenten Quellen stammt. Das schlägt die Brücke vom inter- zum intrasubjektiven Aspekt: Die Qualität universeller Intersubjektivität muß im Rekurs auf eine intrasubjektive Struktur erklärt werden, die für das menschliche „Gemüt“ bzw. „Erkenntnisvermögen“ überhaupt konstitutiv ist – was die „Deduk tion“ von § 38 als gegeben ja bereits expliziert hat: Die vom „Spiel“ verur sachte ästhetische Lust indiziert ein Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand als wirklich, „das wir berechtigt sind […] allgemein bei jedem Menschen vorauszusetzen“ (290, 19 f.). Die transzendentalphilosophische Analyse der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft macht also sichtbar, wie und wodurch es einen sensus communis in der eigentlichen Bedeutung des Wortes gibt. Anders als seine Vorgänger in der Theorie des Geschmacks oder Gemeinsinns nimmt Kant nicht von vornherein die Existenz eines sensus communis an, sondern er verfährt umgekehrt: Er will sie erklären und ableiten. Dem entsprechend beginnt § 40 mit der Problematisierung des Sprachgebrauchs, wonach der sensus communis einfach der „gemeine Menschenverstand“ sei. Kant lehnt diese Rede nicht schlechthin ab (vgl. seine Anmerkung zu 295, 24); dafür ist sie zu häufig. Aber er will sie marginalisieren und den Geschmack, genauer gesagt: die ästhetische Urteilskraft in ihrer Funktions weise, als exemplarische Realisierung dessen plausibel machen, was tatsäch lich sensus communis heißen darf und – normativ betrachtet – heißen muß. Die ästhetische Urteilskraft ist dreierlei: Sie ist Urteilskompetenz, sie erhebt einen prinzipiellen Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit und sie findet ihr Urteil „ästhetisch“, also nicht mittels begrifflicher Subsumption, sondern sinnlich, durch das Gefühl der Reflexion (vgl. 228, 27–31). Sie ist es also, die den Titel a) eines (urteilenden) Sinnes und b) eines gemeinschaftlichen, intersubjektiv anspruchsvollen Urteilsvermögens primär verdient. Der zweite Abschnitt von § 40 skizziert diesen Gedankengang (der im Absatz 4 ff. durchgeführt wird), indem er das Geschmacksurteil hinsicht lich seines Universalitätsanspruchs erfaßt: Dieser ergibt sich „nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urteile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man […] von den Beschränkungen,
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die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert“ (294, 1–4). Die angemessen „interesselos“ vollzogene ästhetische Refle xion operiert nach diesem Muster, indem sie in bezug auf eine als schön zu beurteilende Sache ja allein das als Kriterium verwendet, was jedermann a priori, also intersubjektiv universell, als beurteilbar zugemutet werden darf: ob sich aus Anlaß einer gegebenen Vorstellung ein Zustand der „Lust der bloßen Reflexion“ einstellt oder nicht. 8.2.3.2 Die „Maximen des Menschenverstandes“ In der richtig ausgeübten Reflexion der ästhetischen Urteilskraft geschieht notwendigerweise das, was Kant auch vom „gemeinen Menschenverstand“ (sensus communis logicus) erwartet, sofern dieser nicht schlicht „vulgär“ (vgl. 293, 27), sondern „gesund“, also der rechte und universal mögliche Ausdruck alltäglicher Menschenvernunft ist: daß vorurteils- und selbst kritisch, fair, das heißt, die eigenen Interessen überschreitend, insgesamt kohärent und konsistent nachgedacht wird (294, 16–19). § 40 verfolgt nun allerdings ein doppeltes Ziel. Neben der Klärung des begrifflichen Zusammenhangs zwischen sensus communis, „gemeine[m] Menschenverstand“, „Geschmack“ und „ästhetische[r] Urteilskraft“ will er zeigen, daß und warum das urteilende Gefühl für das Schöne zugleich vorbildlich für den richtigen, sowohl theoretischen wie praktischen Gebrauch unserer Geisteskräfte ist. Er eröffnet, was im Fortgang der Kritik der Urteilskraft im Blick steht: die Behandlung jener Momente der ästhe tischen Erfahrung, die sie mit den großen Fragen der praktischen (und theoretischen bzw. teleologischen) Vernunft verknüpfen. Die von Kant so genannte „Episode“ des dritten Absatzes von § 40 ist darum weniger ein Exkurs als vielmehr die Ankündigung der „konse quenten“ (vgl. die dritte Maxime, Absatz 3) Ausweitung des Untersu chungsbereichs. Ich kann den Absatz 3, diese berühmte Passage, die bekanntlich Hannah Arendt zu einer eigenen (und ziemlich einseitigen) Theorie der politischen Vernunft (vgl. Arendt 1985 und 1993) angeregt hat, hier nicht hinreichend kommentieren. In nuce enthält er mit den „Maximen des Menschenver standes“ nicht weniger als die normative Pragmatik unserer Vernunft, also ein Stück Aufklärungstheorie. Er entwickelt, über den Begriff der ästhe tisch reflektierenden Urteilskraft hinaus, denjenigen der reflektierenden Urteilskraft überhaupt (vgl. Kohler 1980, 14–39), und er demonstriert dabei eine spezifische „Affinität des Ästhetischen mit dem Moralischen“ (vgl. Recki 2001, 122 f.).
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Durch die Freilegung jener Reflexionsleistung, die der praktischen Vernunft wie der ästhetischen Urteilskraft eigen ist, bereitet § 40 den Boden für das, was die folgenden Paragraphen diskutieren: das Interesse am Dasein des Schönen, das als Schönes zwar nur in „interesseloser“ Einstel lung erfahrbar wird, aber – aufgrund dieser Erfahrung – in einem zweiten Akt doch auch selber Gegenstand interessierter Bezugnahme sein kann. Eine Bezugnahme, die einerseits eine „empirische Neigung“ (§ 41), andererseits ein intellektuell-moralisches Motiv (§ 42) zum Vorschein bringt. 8.3.1.1 Neigung und/oder Vernunftinteresse § 41 macht von Anfang an klar, daß die Interessiertheit in ästhetischen Zusammenhängen, die für das Geschmacksurteil i. e. S. nicht relevant ist, aus einem andern Grund als aus der Erfahrung der ästhetischen Reflexion zu erklären ist. Er nennt sie darum „indirekt“, das heißt: „Der Geschmack muß […] mit etwas anderem verbunden […] werden, um mit dem Wohl gefallen der bloßen Reflexion über einen Gegenstand noch eine Lust an der Existenz desselben (als worin alles Interesse besteht) verknüpfen zu können“ (296, 21–24). Dieses „Andere“ ist entweder eine „Neigung der menschlichen Natur“, nämlich der „Hang zur Geselligkeit“, die das Schöne als „Beförderungs mittel“ kommunikativen Austausches zu schätzen weiß (297, 4 ff.), oder „etwas Intellektuelles als Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können“ (296, 28 f.). Die gesellige, dem Interesse am Austausch von Gefühlen und Gedanken entspringende Freude am Schö nen ist für die Kritik der Urteilskraft von lediglich sekundärer Bedeutung, da wir in ihrem Kontext eigentlich „nur darauf zu sehen haben, was auf das Geschmacksurteil a priori […] Beziehung haben mag“ (297, 32 f.), denn nur was diesem Kriterium genügt, taugt für den wirklich tragfähigen „Über gang unseres [ästhetischen] Beurteilungsvermögens von dem Sinnengenuß zum Sittengefühl“ (297, 35 f.). 8.3.1.2 Theorie der Zivilisierung Allerdings widmet § 41 dem „empirischen Interesse“ gleichwohl ein paar bemerkenswerte sozialpsychologische und zivilisationstheoretische Über legungen. Das Schöne bzw. die geselligkeitsstärkende Lust an seiner Gegenwart ist, wie gesagt, ein nicht zu unterschätzendes „Beförderungsmittel“ von Kultur und Zivilisierung. Kant bemüht ethnologische Befunde, um das evolu tionshistorisch zu verdeutlichen: Er erinnert zunächst an die „Karaiben“
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und „Irokesen“, die den ästhetischen Reiz von Farben, Ornamenten der organischen und anorganischen Natur, von formal gelungenen Artefakten und Gebrauchsdingen nutzen, um durch schöne Vorstellungen gemein same Gefühle und Gefühle der Gemeinsamkeit zu bewirken (297, 17–23). Offenbar gibt es also ein in der Anthropologie zu beobachtendes, über die Intimität der Familie hinausreichendes Urbedürfnis nach gelingender, vor allem emotionaler Verständigung, das die Kunst und die ästhetische Sensi bilität in Dienst nimmt und dabei über Stufen der Verfeinerung bis zur Kulturgemeinschaft freundschaftlicher Intersubjektivität fortschreitet. Weil Kants Aufklärungsoptimismus aber stets moderat bleibt und die Einsicht in die „gesellig-ungesellige Natur“ des Menschen (vgl. Idee) nie verdrängt, kommt § 41 im letzten Abschnitt auch auf die Kehrseite und Ambivalenz des rein „empirisch“ durch den Wunsch nach sozialer Interak tion und gesellschaftlicher Anerkennung vermittelten Interesses am Schö nen zu sprechen. Dieses kann daher nur einen „sehr zweideutigen Über gang“ vom Ästhetischen zum moralisch Guten liefern (vgl. 298, 6 ff.). 8.3.1.3 Geschmack und Ethik Im Rahmen der §§ 41 und 42 wird im übrigen eine Bedeutungsverschie bung spürbar, die den Kantischen Gebrauch des Ausdrucks „Geschmack“ von demjenigen des Begriffs der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft abheben kann, obschon der erstere mit letzterer – transzendental betrachtet – ja identisch ist (vgl. Tiffany 2002, 177). „Geschmack“ als real vorhandene Kompetenz entwickelt sich empirisch durch kulturelle Arbeit und durch die Schulung in einem konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Umfeld. Außerdem: Während § 42 im Tun der ästhetischen Urteilskraft ein spezi fisch moralisches Moment entdeckt, bezeichnet § 41 den mit der Forma tion von „Geschmack“ allemal gegebenen ethischen, also den stets auch mit einer historisch zufälligen Tradition und einer je besonderen Gemeinschaft verbundenen Charakter der Empfindung von Schönheit. 8.3.2.1 Das Interesse am Naturschönen Nicht das Interesse am Schönen überhaupt offenbart ein „intellektuelles“, vernünftig-moralisch inspiriertes Interesse, sondern allein das Interesse an der Erfahrung von Naturschönem weist auf einen „moralischen Charakter“ und auf jenes besondere Motiv hin, welches „der Verwandtschaft nach“ moralisch ist (300, 33 f.). Das ist der zentrale Gedanke von § 42. Schon § 41 markiert die Tatsache, daß ästhetische Empfänglichkeit nicht eo ipso auf moralische Tugenden schließen läßt, und § 42 bekräftigt gleich
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zu Beginn diese Feststellung; die häufig anzutreffende „Eitelkeit der Virtuo sen des Geschmacks“ kann „Kennzeichen einer guten Seele“ (298, 35) nicht sein. Das hingegen sei „jederzeit“ (ebd.) der Fall, meint Kant, wenn jemand „ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen“ (298, 33 f.) fähig ist. Und präzisierend fügt er hinzu, daß dies Interesse sich in und mit der vornehmlich einsamen „Beschauung der Natur“, und zwar ihrer „Formen“, nicht ihrer „Reize“ zeige (299, 3 ff.). Der Differenz zwischen „Form“ und „Reiz“, zwischen „Reflexion“ und „Sinnengefühl“, geht am Ende des § Absatz 10 nach; freilich nur, um sie ein Stück weit zu nivellieren. Aber bloß insoweit, als das Entscheidende – der Gedanke, daß wir im ästhetischen Gefallen „gleichsam eine Spra che, die die Natur zu uns führt“, hören – nicht verloren geht. In diesem Zusammenhang findet sich dann auch die bekannte Anekdote über den „lustigen Wirt“, der seine Gäste durch die Imitation des „bezaubernd schönen Schlags der Nachtigall“ unterhalten will – und für Enttäuschung sorgt, sobald man die Illusion durchschaut hat (302, 23–36). Das Wesen von Naturschönheit besteht in ihrer grundsätzlichen Nichtmachbarkeit; ihr Erfahrungsgehalt ist der des a priori Anderen, was allem menschlichen Tun vorausliegt (vgl. Adorno 1970, 108). 8.3.2.2 Intellektuelles Interesse und moralisches Gefühl Naturschönes ist für die Kritik der Urteilskraft dasjenige, was im Bereich ästhetischer Phänomene am innigsten jene Möglichkeit einer ursprüng lichen Einheit von Ich, Menschlichkeit und Welt zum Vorschein bringt, die das ganze Werk im Grunde und von Anfang an zu bedenken geben will (vgl. oben 8.2.2.3). Die Idee dieser Einheit ist jedoch nicht schon das eigentliche Thema von § 42. Sein Ziel ist lediglich die rekonstruktive Erläu terung derjenigen, nicht mehr bloß ästhetischen, „indirekten Lust“ (§ 41), die ein „unmittelbares“, das heißt ohne lange Überlegung sich meldendes Interesse am Dasein von Naturschönheit (298, 33) indiziert, das bei denen, die es besitzen, eine „schöne Seele“ (300, 6), also einen im Kern moralisch gut gestimmten Charakter, erwarten läßt. Die diesbezügliche, ziemlich knappe und gleichzeitig komplexe Argu mentation findet sich in den Absätzen 6 ff. Ich versuche, Kants Beweisfüh rung zu reformulieren: Darzulegen ist (a), daß es ein eigenständiges Inter esse für und ein „Wohlgefallen“ am Dasein des Naturschönen gibt, und (b) was letzteres in besonderer, „intellektueller“ Weise interessant macht. Absatz 6 erinnert an die „intellektuelle Urteilskraft“ bzw. „Vernunft“ (vgl. 300, 16 u. 300, 23), welche das Interesse am Sittlich-Guten „hervor
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bringt“; ein Interesse, das zugleich der Grund des Wohlgefallens an allem ist, was dem Guten entspricht. Dies „Wohlgefallen“ bezeichnet Kant als das „moralische Gefühl“. Die „Vernunft“ ist nun aber auch daran interessiert, daß ihre normativen Ideen, die sie dem menschlichen Handeln vorgibt, „objektive Realität“ besitzen (300, 23 f.), das heißt wirklichkeitstauglich sind und von den Faktizitäten des Gegebenen bzw. „der Natur“ nicht prin zipiell durchkreuzt werden; was, ins Positive gewendet, bedeutet, daß die Vernunft hofft, „daß die Natur […] eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich […] einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Produkte zu unserem [moralischen] Wohlgefallen [und dem mit ihm verbundenen Sollen, G. K.] anzunehmen“ (300, 25–29). Wo aber eine vergleichbare („ähnliche“) Übereinstimmung (300, 30) von Natur und menschlichem Geist auftritt – wie in der ästhetischen Naturer fahrung –, „kann das Gemüt über die Schönheit der Natur nicht nachden ken, ohne sich dabei interessiert zu finden“ (300, 31 ff.). – Damit ist Aufgabe (a) erledigt; das spezifisch „intellektuelle Interesse am (Natur)Schönen“ als notwendigerweise existent aufgewiesen und inhaltlich erläutert. Der zweite Schritt, (b), der Aufweis der inneren Zusammengehörigkeit von „intellektuellem Schönheitsinteresse“ bzw. „Wohlgefallen“ und mora lischer Gesinnung, ist dann nicht mehr schwierig: Das „intellektuelle Inter esse“ am Schönen ist ja eine Art Abkömmling des moralischen Vernunft interesses, Kant sagt: mit ihm „verwandt“ (300, 33); daher überhaupt nur dort zu finden, wo bereits die „Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich ist“ (301, 8 f., vgl. 300, 34 ff.). 8.3.2.3 Kritik Ganz und gar zu überzeugen vermag dieser Beweis wohl nicht. Jedenfalls können wir uns heute, nach den bösen Signaturen des 20. Jahrhunderts, unschwer einen Naturliebhaber vorstellen, der dennoch durch und durch unmoralisch ist. Und auch Kant selbst scheint gewisse Zweifel an der Trif tigkeit seiner Argumentation zu hegen (vgl. 301, 3–6). Gleichwohl bleibt § 42 unter verschiedenen Perspektiven wichtig für den Aufbau und die Auslegung der Kritik der Urteilskraft: Er ist ein Pfeiler des Übergangs von der Geschmackslehre zur Teleologie. Er präzisiert, was das Naturschöne vom Erhabenen trennt. Er führt – sehr viel deutlicher als es in früheren Paragraphen geschehen ist – den Gedanken einer tätigen, dem Menschen antwortenden Natur ein, der das Werk im ganzen inspiriert. Und er beendet die Auseinandersetzung mit dem spezifischen Thema des
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Naturschönen, so daß nun mit der besonderen Theorie des Kunstschönen begonnen werden kann.
Literatur Adorno, Theodor W. 1970: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. Arendt, Hannah 1985: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München/ Zürich. – 1993: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München/Zürich. Kohler, Georg 1980: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung, Berlin/New York. Recki, Birgit 2001: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt/M. Tiffany, Monika K. 2002: Der Begriff des sensus communis in Kants Kritik der Urteilskraft. Eine historische und systematische Analyse, Dissertation Zürich. Wenzel, Christian H. 2006: Gemeinsinn und das Schöne als Symbol des Sittlichen, in: R. Hiltscher, S. Klingner, D. Süß (Hrsg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants „Kritik der Urteilskraft“, Berlin, 125–139.
9 Andreas Kablitz
Die Kunst und ihre prekäre Opposition zur Natur (§§ 43–50)
9.1 Die Erörterung der Kunst und ihre Funktion in der Logik von Kants Kritik der Urteilskraft Zielsetzung meiner folgenden Überlegungen ist es, die innere Logik dieses Passus der Kritik der Urteilskraft herauszuarbeiten. Zu einem solchen Vorhaben gehört es aber auch, die Logik des hier untersuchten Teils dieser Schrift innerhalb ihres gesamten Aufbaus zu klären, und dies bedeutet vor allem, die Frage zu stellen, ob Kants Erörterung der Kunst und ihrer Eigenheiten sich unmittelbar aus der voraufgehenden Argumentation ergibt, oder ob sie sich gewissermaßen kontingent einstellt. Die äußere Gliederung suggeriert durchaus einen in der Sache selbst gegebenen Zusammenhang, insofern die Beschäftigung mit der Kunst den – als solchen nicht sonderlich gekennzeichneten – zweiten Teil der „Deduktion der reinen ästhetischen Urteile“ bildet. Indessen bietet diese Einteilung aus sich heraus kein unmittelbar ersichtliches Argument, worin der betreffende Zusammenhang des näheren besteht. Wie also, so muß die hier aufgeworfene Frage genauer lauten, gelangt Kant von der Analyse der Struktur des Geschmacksurteils zu seiner Untersuchung der Kunst? Den Schlüssel zur Antwort auf diese Frage bieten die beiden Paragraphen, die dem hier genauer betrachteten Abschnitt der Kritik der Urteilskraft vorauf gehen, § 41 „Vom empirischen Interesse am Schönen“ sowie § 42 „Vom intellektuellen Interesse am Schönen“. Den konzeptuellen Ausgangspunkt des Gedankengangs, aus dem heraus auch die Charakteristik der Kunst ihre Bedeutsamkeit wie ihre argumenta tionslogische Schlüssigkeit innerhalb der Systematik der Kritik der Urteilskraft gewinnt, bietet ein Begriff, der in der Tat ins Zentrum von Kants
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Analyse des Geschmacksurteil führt: der Begriff des Interesses. Während es zum einen zu den entscheidenden Voraussetzungen dieses Geschmacks urteils gehört, daß die Lust am Schönen auf einem interesselosen Wohlge fallen gründet, schließt dies zum anderen nicht aus, daß es gleichwohl ein Interesse an dem schönen Gegenstand gibt, anders gesagt „eine Lust an der Existenz desselben“ (296). Diese Differenzierung steht im größeren Zusammenhang von Kants Anliegen, eine strukturelle Verbindung der Disposition des Menschen zum Ästhetischen mit derjenigen zum Moralischen nachzuweisen. Auch dieses Vorhaben ergibt sich nicht sozusagen nebenher, sondern erwächst seinerseits aus der Logik von Kants Schrift insgesamt, im letzten Grund wohl aus einem systematischen Bedürfnis, das über die Kritik der Urteilskraft hinausreicht. Denn es geht um nichts Geringeres als um ein Verbin dungsglied zwischen dem empirischen und dem moralischen Erkennt nisvermögen. Der Rahmen unserer Untersuchung verbietet es, diesem Interesse als solchem sowie der Stichhaltigkeit von Kants Bemühungen um den Nachweis einer wesenhaften Verbindung von ästhetischem und moralischem Urteil, einer – ebenso schlüssigen wie faktischen – Wechsel beziehung zwischen Geschmack und Sittlichkeit nachzugehen. Er selbst gibt durchaus Zweifel, jedenfalls Zweifel an der unmittelbaren Evidenz des hier von ihm postulierten Zusammenhangs zu erkennen: „Man wird sagen: diese Deutung ästhetischer Urteile auf Verwandtschaft mit dem mora lischen Gefühl sehe gar zu studiert aus, um sie für die wahre Auslegung der Chiffreschrift der Natur zu halten, wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht“ (301). Was uns an dieser Stelle indessen zu interessieren hat, ist der Konnex zwischen der Erörterung des Interesses an der Existenz des Schönen mit demjenigen an einer Analyse der Kunst; und in dieser Hinsicht geben die zitierten Zeilen in einer bemerkenswerten Formulierung einen interessanten Hinweis. Gemeint ist Kants Rede von der „Chiffreschrift der Natur“, die „figürlich zu uns spricht“ (ebd.). Wir werden bemerken können, daß just die mit dieser Formel bezeichnete Eigenschaft des Naturschönen einen Vorteil bezeichnet, welcher es dem Kunstschönen überlegen macht. Es ist die Diskussion des Unterschieds zwischen diesen beiden Erscheinungsformen des Schönen, welche Kant dann konsequent zu einer Erörterung der Kunst als solcher führen wird. Für den ersten Eindruck wirkt es paradox, daß just dem schönen Gegenstand der Natur der Charakter einer Mitteilung zugesprochen wird, müßten wir doch eine solche Wirkung des Schönen weit eher beim Kunstschönen erwarten, das sich als ein Produkt bewußter Fertigung in viel höherem Maße zur Übermittlung einer Botschaft an einen Adressaten
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zu eignen scheint. Doch just die Unwahrscheinlichkeit der Existenz einer solchen Schrift in der Natur ist es, welche schließlich das wahre Inter esse am Naturschönen wird plausibel machen können. Zur Stütze seines Arguments beruft sich Kant auf die Erfahrung, daß sich das Interesse am Schönen in dem Moment verliert, in dem man bemerkt, daß etwas für ein Naturschönes Gehaltenes sich als artifizieller Gegenstand erweist. So insi stiert Kant denn verschiedentlich auf dem Umstand, daß eine unverzicht bare Bedingung für ein Interesse am Schönen darin besteht, daß „die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat“ (299). Bemerkenswert an der ostenta tiven Hervorhebung dieser unabdingbaren Voraussetzung allen Interesses für das Schöne ist im besonderen, daß die Entdeckung der Künstlichkeit des schönen Gegenstands sogar den Eindruck der Schönheit selbst zerstö ren kann: „Aber dieses Interesse, welches wir hier an Schönheit nehmen, bedarf durchaus, daß es Schönheit der Natur sei; und es verschwindet ganz, sobald man bemerkt, man sei getäuscht, und es sei nur Kunst: so gar, daß auch der Geschmack alsdann nichts Schönes, oder das Gesicht etwas Reizendes mehr daran finden kann“ (302). Es ist höchst signifikant, daß hier der Verlust des Interesses an der Schönheit in den Verlust des Eindrucks von Schönheit als solcher umschlägt, und dies, obwohl es im selben § 42 ausdrücklich heißt, daß die Naturschönheit von der Kunstschönheit „der Form nach […] sogar übertroffen“ werden kann (299). Gleichwohl, die Einsicht in die Künstlichkeit des Gegenstandes kann den Effekt seiner Schönheit zunichte machen, und damit berührt das Interesse am Schönen die Struktur des Geschmacksurteils selbst. Zugespitzt formuliert und auf jene latente Paradoxie hin ausgerichtet, die sich hier beobachten läßt, mag man sagen: Wo sich das Interesse am Schönen verliert, gibt es kein interes seloses Wohlgefallen mehr. Umso dringlicher aber wird damit die Rekonstruktion der Ursachen dieses Interesses am Naturschönen, wozu sich das folgende Argument Kants als besonders aufschlußreich erweist: „Da es aber die Vernunft auch interessiert, daß die Ideen […] auch objektive Realität haben, d. i. daß die Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Produkte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen […] anzuneh men: so muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen Übereinstimmung ein Interesse nehmen“ (300). Was das Inter esse am Naturschönen also begründet, ist die Ungewißheit, ob das Schöne sich auf etwas anderes zu seiner Grundlage berufen kann als seine subjek tiven Prinzipien. Doch begegnen wir hier fürs erste einer neuerlichen Para doxie. Denn es hat den Anschein, als suche sich die Vernunft damit gewis
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sermaßen eine empirische Rückversicherung für etwas, dessen Preisgabe gerade eine wesentliche Grundlage des Geschmacksurteils bildet. Denn dieses Urteil ist ja gerade kein empirisches. Die Erkenntnis von Schön heit kommt ausdrücklich nicht durch die Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff zustande, sondern erwächst aus dem freien Spiel der Erkenntnisvermögen, in welchem der Geschmack die Einbildungskraft als solche unter das Vermögen der Begriffe subsumiert. Der Geschmack also operiert nicht mittels einer empirischen Erkenntnis, sondern ist auf einer höheren Abstraktionsstufe angesiedelt: Er reflektiert die Bedingung der Möglichkeit von empirischer Erkenntnis, ohne eine solche auch schon hervorzubringen. Stellt man nun diese Struktur des Geschmacksurteils in Rechnung, dann muß es in der Tat ein besonderes Interesse an der Existenz eines Schö nen geben, das diesen Effekt nicht durch ein absichtsvolles Arrangement zustande kommen, sondern eben natürlich entstehen läßt, das heißt ohne eine Einwirkung derer, die in ihren subjektiven Erkenntnisvermögen die Voraussetzung für die Erkenntnis des Schönen besitzen. Wenn der Geschmack also auf dem freien Spiel der Erkenntnisvermögen beruht und in der Reflexion auf die subjektiven Voraussetzungen empirischer Urteile seine Grundlage hat, dann gewinnt der Verstand in Gestalt der Naturschönheit gewissermaßen so etwas wie eine „empirische“ Bestäti gung für die Möglichkeit einer empirischen Erkenntnis, die ja gleichfalls auf subjektiven Erkenntnisbedingungen gründet. Im Geschmacksurteil, so ließe sich folgern, sichert sich die Möglichkeit aller Empirie empirisch ab. Gerade weil es aller Empirie voraufliegt, wird es als Hinweis auf die Möglichkeit empirischer Erkenntnis bedeutsam, wenn das Geschmacks urteil für die in ihm repräsentierten subjektiven Voraussetzungen einer solchen empirischen Erkenntnis eine Übereinstimmung mit den Produkten der Natur findet. Wenn Kant seinen ausdrücklich werdenden Absichten zufolge die Erörterung des Interesses am Naturschönen vor allem um des Nachweises willen betreibt, daß dieses Interesse sich als ein Indiz für die Sittlichkeit des dadurch interessierten Menschen begreifen lasse oder doch zumindest dessen Anlage zur Sittlichkeit zu erkennen gebe, dann läßt seine Argumentation ungenannt zugleich ein weiteres, und zwar theoretisches Anliegen bemerken: die Rückversicherung für die Möglichkeit empirischer Erkenntnis in der Natur selbst. Denn wenn gilt, daß alle Erkenntnis der Natur abhängig ist von den subjektiven Voraussetzungen der Erkenntnis, wenn die res also auf diese Weise abhängig werden von den Kategorien des Erkenntnissubjekts, die ihre Erkennbarkeit allererst ermöglichen, wird unweigerlich jeder „Wink“ der Natur belangvoll, der belegt oder doch
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zumindest suggeriert, daß diese subjektiven Erkenntnisbedingungen auch angemessen für die Erkenntnis der Natur sind. Man kann sich darum kaum einen begrüßenswerteren Hinweis auf die Berechtigung einer solchen Zuversicht denken als einen Wink der Natur, der andeutet, daß gerade die subjektiven Voraussetzungen aller empirischen Erkenntnis des Menschen sich in Übereinstimmung mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten befinden, wie es im Geschmacksurteil mit dem „freien Spiel“ der Erkenntnisvermögen der Fall ist. Übernähme das Schöne in Kants Kritik der Urteilskraft insofern auch die Aufgabe der Sicherung einer Leistung, welche die Erkenntnistheo rie in einer traditionellen Metaphysik gewissermaßen selbstverständlich erbrachte? Denn solange die res das Bewußtsein bestimmen, stellt sich die Frage nach der Adäquatheit menschlicher Erkenntnisvermögen in sehr viel geringerem Maße. Sie wird erst dort brisant oder zumindest virulent, wo die Erkennbarkeit der Natur als solche von den subjektiven Voraussetzungen des Erkenntnissubjekts abhängig gemacht wird, die Kategorien also die res determinieren. Jene Harmonie der Erkenntniskräfte, welche Kant als eine Eigenheit des Geschmacksurteils beschreibt und als maßgeblich für die Entstehung der mit dem Schönen verbundenen Lust erklärt, beträfe inso weit nicht allein die Beziehung der verschiedenen Erkenntnisvermögen zueinander, sondern gewönne im Falle des Naturschönen auch die Gestalt einer Harmonie mit der Natur, in welcher der Mensch sich aufgehoben weiß – oder aufgehoben zu wissen, doch eine gewisse Berechtigung besitzt. Die Chiffreschrift der Natur verbürgt in ihrer Schönheit insoweit auch die empirische Erkennbarkeit dieser Natur. Wenn die Natur mit Hilfe der Schönheit zu uns spricht, dann versichert sie uns im Grunde ihre Zugäng lichkeit für unsere empirische Erkenntnis. Das Naturschöne aber erbringt solchermaßen eine Leistung, welche für das Kunstschöne kategorial ausge schlossen bleiben muß, weil in diesem Fall auch die Existenz des schönen Gegenstands ja abhängig ist von den subjektiven Bedingungen derer, die ihn hervorbringen. Das Geschmacksurteil gründet bekanntlich auf einer strukturellen Para doxie. Sie kommt zumal in der es charakterisierenden Formel von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck zum Ausdruck. Es ist daher auch von Belang, daß das Naturschöne letztlich aus dieser Paradoxie, also einer logisch ein Stück weit prekären Figur, hinausführt: „Dazu kommt noch die Bewunde rung der Natur, die sich an ihren schönen Produkten als Kunst, nicht bloß durch Zufall, sondern gleichsam absichtlich, nach gesetzmäßiger Anord nung und als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, zeigt: welchen letzteren, da wir ihn äußerlich nirgend antreffen, wir natürlicher Weise in uns selbst […] suchen“ (301). Die paradoxe Figur der Zweckmäßigkeit ohne Zweck erklärt
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sich aus jener Eigenheit des Geschmacksurteils, daß es zwar das formale Prinzip der Zweckmäßigkeit voraussetzt, indem es seinem Gegenstand die Form der Zweckmäßigkeit bescheinigt, diesem Gegenstand jedoch zugleich einen konkreten Zweck abspricht. Im Naturschönen aber wird diese para doxale Kombination der Zweckmäßigkeit mit dem Fehlen eines faktischen Zwecks im Grunde aufgelöst. Denn die Paradoxie wird überführt in die Suche nach dem Zweck im Subjekt – eine Suche, der ja durchaus ein Erfolg in Aussicht gestellt wird. So wird der vordergründige Eindruck des Fehlens eines Zwecks schließlich in eine höhere Form der Zweckhaftigkeit über führt und die logisch prekäre Figur des Paradoxons im gleichen Zug zum Verschwinden gebracht. Auch dies dürfen wir als einen Effekt jener figür lichen Sprache verstehen, welche die Natur zu uns spricht – eine Sprache, die darum informative Mitteilungen zu bieten vermag, weil sie eben nicht auf die Redundanz eines Selbstgesprächs angewiesen ist. Wie aber steht es dann um ein Kunstschönes, dem eine solche Perspektive verschlossen bleiben muß, weil die Reflexivität des Geschmacksurteils hier unweiger lich eine unhintergehbare Selbstreflexivität der subjektiven Erkenntnisver mögen erzeugt? Auch dort, wo das Geschmacksurteil so etwas wie eine Rückversicherung über die Möglichkeit empirischer Erkenntnis der Natur bietet, überschreitet ja, wie gesehen, seine Reflexivität das bloße Kreisen in einer selbstreflexiven Bewegung. Wenn die Kunst in der Kritik der Urteilskraft ins Zentrum der Erörterung gerät, dann erklärt sich das Interesse an ihr nicht zuletzt aus den dem Kunstschönen gegenüber dem Naturschönen bescheinigten Defiziten. Diese Defizite aber haben in der Charakteristik des Schönen selbst ihren letztendlichen Grund, weil diese Charakteristik das Schöne dem Naturschönen affin macht. Nirgend wird dies deutlicher als in jener Bemerkung Kants, mit der er festgestellt hatte, daß die Enttäu schung, welche die Entdeckung der Künstlichkeit eines Naturschönen mit sich bringt, das Schöne selbst zerstören kann. Konsequenterweise wird die Analyse der Kunst dem Kunstschönen eine Natürlichkeit zurückzu gewinnen versuchen, welche letztlich eine maßgebliche Voraussetzung des Effekts der Schönheit selbst darstellt. Indessen gilt gleichermaßen, daß die genauere Analyse der Kunst wie des Kunstschönen auch generelle Eigenschaften der Schönheit herausarbeiten wird, die dazu führen, daß die zunächst angenommene Rangordnung zwischen Natur- und Kunst schönem zugleich relativiert, wo nicht revidiert wird.
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9.2 Die Relation von Kunst und Natur Wenn die Analyse der Kunst darum bemüht ist, dieser Kunst eine sozusa gen sekundäre Natürlichkeit zu bescheinigen wie zu verordnen, dann stellt sich die Beziehung zwischen Kunst und Natur unvermeidlich als eine hoch komplexe dar. Diese Komplexität kommt vor allem in der zumindest parti ellen Widersprüchlichkeit des Verhältnisses zwischen Kunst und Natur zum Vorschein. Denn während beide zum einen in Opposition zueinander gestellt sind, werden sie zum anderen ebenso in ein Verhältnis der Analo gie gerückt. Der betreffende Umschlag läßt sich recht genau mit dem § 45 „Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint“ benennen, und auch die sich daran anschließenden Ausführungen zum Begriff des Genies beruhen wesentlich auf der hier zutage tretenden, sagen wir es ruhig, ein wenig prekären Relation von Kunst und Natur. Wie ich weiterhin zu zeigen versuchen werde, kommt in dieser Widersprüchlichkeit in letzter Konsequenz eine latente Aporie in Kants Begriff der Vernunft als solcher zum Ausdruck; und diese Aporie weist zugleich der Kunst wie der Diskussion ihrer Eigenheiten im Gesamtzusammenhang von Kants Philo sophie eine spezifische Aufgabe zu. Beginnen wir indessen unseren Blick auf Kants Analyse der Kunst mit den in § 43 aufgelisteten Oppositionen, welche die Kunst in einen zunächst klar umrissen scheinenden Gegensatz zur Natur rücken: „Kunst wird von der Natur, wie Tun (facere) vom Handeln oder Wirken überhaupt (agere), und das Produkt, oder die Folge der erstern, als Werk (opus) von der letz tern als Wirkung (effectus) unterschieden“ (303). Klare Oppositionen zwischen Tun und Wirken, zwischen Werk und Wirkung also regeln hier die Beziehung zwischen Kunst und Natur, und in beiden Gegensatzpaa ren scheint ein Moment der Bewußtheit, scheint eine absichtsvolle Tätig keit das Kriterium zu sein, welches diesen Unterschied begründet. Kant selbst spricht hier, wie sogleich zu ersehen sein wird, von Willkür. Diese Differenzierung bleibt auch im folgenden aufrecht erhalten, wenn Kant nun scheinhafte von wirklicher Kunsthaftigkeit abgrenzt: „Von Rechtswe gen sollte man nur die Hervorbringung durch Freiheit, d. i. durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunst nennen. Denn ob man gleich das Produkt der Bienen (die regelmäßig gebaueten Wachsscheiben) ein Kunstwerk zu nennen beliebt, so geschieht dieses doch nur wegen der Analogie mit der letzteren“ (ebd.). Was hier unterschie den wird, sind eigentliche und uneigentliche Formen der Rede. Nur um einer äußerlichen Ähnlichkeit willen bezeichnet man – letztlich irrtümlich – auch das als Kunst, was keine Willkür, also ein bewußtes Gestalten, zur
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Ursache haben kann, was nur so aussieht, als wäre dies der Fall. Es ist nun, so scheint mir, für den Fortgang der Argumentation Kants in den hier betrachteten Paragraphen von nicht geringem Belang, daß die an dieser Stelle strikte Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit für die Kunst nicht durchgängig aufrechterhalten wird. Genauer gesagt, sie ist nicht umkehrbar. Jedenfalls hat es zunächst den Anschein, als sei es so – aber dazu später mehr. Für den Augenblick gilt in der Tat das Fehlen einer solchen Reziprozität. Denn während wir es dort, wo die Natur den Anschein von Kunst erweckt, mit einer uneigentlichen und insofern für Kant letztlich unangemessenen Redeweise zu tun haben – „von Rechts wegen“, so heißt es immerhin, soll sie vermieden werden –, verhält es sich anders, wo es gilt, die Kunst als Natur wahrzunehmen. Machen wird deshalb einen Sprung in § 45. Dort heißt es: „An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei“ (306). Die Herstellung einer Analogie der Kunst zur Natur, wohlgemerkt zur „bloßen Natur“, meint hier durch aus nicht mehr nur eine uneigentliche Form der Rede, sondern bezeichnet eine für die Kunst konstitutive Form ihrer Wahrnehmung. Man hat sich im Falle des Kunstschönen ebenso der Tatsache bewußt zu sein, daß wir es eben mit Kunst und nicht mit Natur zu tun haben, und dennoch muß das Produkt der Kunst so aussehen, als sei es eine Wirkung der – bloßen – Natur. Das in dieser Konstellation implizierte „als ob“ produziert nun also nicht mehr eine uneigentliche Redeweise, sondern es wird zu einer konstitutiven Voraussetzung der Kunstschönheit schlechthin. Woher aber kommt eine solche, an die Widersprüchlichkeit heranreichende Komplexi tät im Verhältnis von Kunst und Natur? Warum läßt sich Natur nur unei gentlich als Kunst verstehen, während die Umkehrung nicht gilt, weil die schöne Kunst nur dann als solche zu wirken vermag, wenn sie wie Natur erscheint? Aus welchem Grund bedarf es zudem der Ähnlichkeit mit der Natur, die doch der Kunst entgegengestellt wird, um die Kunst als eine solche wahrnehmen zu können? Nun haben wir bereits in unserer Analyse der §§ 41 und 42 bemerkt, daß das Kunstschöne darin einige strukturelle Defizite gegenüber dem Natur schönen zu erkennen gab. Insofern erscheint es durchaus konsequent, wenn eine zumindest scheinhafte Natürlichkeit vorauszusetzen ist, damit die Kunst Schönheit erzeugen kann. Denn ein solches Postulat schließt sich nahtlos an Kants Beobachtung an, daß die Erkenntnis der Künstlich keit des schönen Gegenstandes seine Schönheit selbst tangiert, wo nicht
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zerstört. Was liegt also näher, als der Kunst wenigstens eine scheinhafte Natürlichkeit zu verordnen? Zu klären aber bleibt dann, wie ein solcher Schein der Naturhaftigkeit zustande kommt. Und vor allem: Warum wird eine solche Scheinhaftig keit eben nicht als bloße Illusion bemerkbar, um damit den Eindruck von Schönheit nachhaltig oder gar grundsätzlich zu behindern, wie es Kants zitierte Bemerkung nahelegen müßte? Beginnen wir mit der Antwort auf die erste Frage, die sich im § 45 findet. Während zum einen unabweisbar ist, daß alle Kunst eine Absicht verfolgt und folglich einem Zweck dient, gilt doch zugleich, daß alle Zwecke, die ein Künstler verfolgen könnte, jedweden Effekt von Schönheit behindern müßten. Zielt ein Künstler auf eine Sinnesempfindung, kann sein Werk allenfalls angenehm, nicht aber schön sein: „Nun hat Kunst jederzeit eine bestimmte Absicht, etwas hervorzubringen. Wenn dieses aber bloße Empfin dung (etwas bloß Subjektives) wäre, die mit Lust begleitet sein sollte, so würde dies Produkt, in der Beurteilung, nur vermittelst des Sinnengefühls gefallen“ (306). Hat seine Absicht statt dessen einen Begriff zur Grundlage, wäre gleichermaßen kein Raum für ein Geschmacksurteil gegeben. Wäre die Absicht auf die Hervorbringung eines bestimmten Objektes „gerichtet, so würde, wenn sie durch die Kunst erreicht wird, das Objekt nur durch Begriffe gefallen“ (ebd.). Also bedarf die schöne Kunst eines Zweckes, der ihr qua Kunst unweigerlich eignet, indessen eines Zwecks, der nicht ersicht lich ist. Sie muß zwecklos aussehen – und eben dadurch den Eindruck von Natur erwecken. Dieser Zweck der Kunst wirft im Grunde eine doppelte Frage auf. Denn zum einen darf er für einen Betrachter nicht zu erkennen sein: „Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d. i. schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist“ (306 f.). Diese Leerstelle bezieht sich auf den Rezipienten des Kunst werks. Doch damit ist noch nicht gesagt, wie es um den Künstler selbst steht. Bleibt nur dem Adressaten des Kunstschönen der Zweck verbor gen, während sein Produzent einen solchen, bestimmbaren Zweck genau verfolgt? Oder gilt auch für den Künstler, daß er nur formaliter einen – aus diesem Grund auch unbestimmten – Zweck verfolgt, dessen Identität also für ihn gleichermaßen wie für den Rezipienten nicht zu benennen wäre? Kants Antwort fällt etwas zwiespältig aus. Zunächst scheint alles darauf abgestellt, durch die Handhabung der Kunstfertigkeit den Eindruck der Zwecklosigkeit hervorzubringen, die Eigenheit der Kunst wäre folglich eine Frage der Herstellungstechnik: „Als Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit den
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Regeln, nach denen das Produkt werden kann, was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform durchblickt, d. i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe“ (307). Zur Präzisierung dient Kant also eine Opposition von Pünktlichkeit und Peinlichkeit. Diese Begriffe bestimmen den Umgang mit den Regeln, die nun in die Funktion von Zwecken oder Begriffen einrücken. Sie sollen nicht durchblicken, heißt es. Alles kommt mithin für den Künstler darauf an, die Schulform, also die erlernbaren Techniken, ebenso einzusetzen, wie sie zu verbergen. Kant bedient sich hier eines althergebrachten Arguments der klassischen Kunstlehre, des celare artem genannten Prinzips. Seit altersher wird der Kunst ein besonderer Effekt zugesprochen, wenn sie wie Natur wirke. Das hat schon Aristoteles in seiner Rhetorik (1404b18) festgestellt. Baldassare Castiglione hat in seinem Cortegiano dieses überkommene Prinzip über den Bereich der Kunst hinaus in Gestalt des Begriffs der sprezzatura zur allgemeinen Verhaltensnorm gemacht. Der Höfling, so heißt es bei ihm, solle sich stets so verhalten, daß seine auf großem Können beruhenden Fertigkeiten nicht als Kunst erscheinen, sondern natürlich wirken, vor allem jeden Anschein von Anstrengung vermeiden (Castiglione 1528/1981, 59 f.). Greift Kant in der Opposition von Pünktlichkeit und Peinlichkeit also auf das tradierte Argument des celare artem zurück, scheint insoweit der Effekt der Zwecklosigkeit der Kunst vor allem in einer Wirkung auf den Rezipienten zu beruhen, die mittels geschickter Herstellungsverfahren des Produzenten zustande kommt. Indessen zeigt der Schluß der zuletzt zitierten Zeilen, daß das überkom mene Argument hier in einem Zusammenhang steht, der die herkömmlichen Implikationen der Strategie des celare artem übersteigt. Denn der Betrachter soll nicht nur ein Produkt vor Augen haben, dem kein bestimmter Zweck anzusehen ist. Vermeidung von „Peinlichkeit“ bedeutet vielmehr auch, das Kunstwerk habe keine „Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen schwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe“ (307). Dies betrifft in der Tat weit mehr als das Raffinement einer Fertigungs technik. Nicht nur soll das Kunstwerk zwecklos wirken, sondern es soll auch von solcher Art sein, daß sich darin die Freiheit der Gemütskräfte des Künstlers zeigt, also genau dasjenige, was allen Regeln, die ja unvermeid lich Beschränkungen bedeuten, entgegensteht. Das Prinzip des celare artem ist insoweit deutlich überschritten, als das Fehlen eines bestimmten Zwecks eben nicht mehr nur den beim Betrachter auszulösenden Effekt betrifft, sondern nun auch den Produktionsprozeß selbst steuert. Genau genom men, vermutlich aber peinlich genau betrachtet, müßten wir an dieser
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Stelle noch immer die Einschränkung machen, daß auch bei diesem Argu ment letztlich von der Betrachterperspektive aus gedacht wird. Denn das Kunstwerk solle, wie Kant sagt, keine Spur zeigen, daß seinem Urheber bei seiner Fertigung Fesseln der Freiheit durch Regeln auferlegt waren. Doch die folgenden, dem Genie gewidmeten Paragraphen, werden sehr deutlich zu erkennen geben, daß es hier mit einem bloßen Effekt für den Rezipi enten nicht getan ist. Das Genie wird vielmehr in der Tat als jene Instanz in Erscheinung treten, welche genau das Widersprüchliche aller Produktion von Kunstwerken zu versöhnen hat. Ihm obliegt es, den Widerspruch aus der Welt zu schaffen, der darin besteht, daß kein Kunstwerk ohne eine ihm zugrundeliegende Absicht zustande kommen kann und daß es dennoch der Freiheit von jedem bestimmten Zweck bedarf, um dem Geschmacksurteil die Beurteilung als einen schönen Gegenstand zu ermöglichen. In der Tat folgt es ja schlüssig aus Kants Analyse des Geschmacksur teils, genau solche Postulate auch für den Produktionsprozeß, auch für die Herstellung des Kunstwerks zu erheben. Denn wenn das Schöne das freie Spiel der Erkenntnisvermögen zur Voraussetzung hat, wie sollte es dann möglich sein, einen schönen Gegenstand anzufertigen, wenn seine Herstellung von einem bestimmten Zweck geleitet wird, der eine solche Freiheit unweigerlich unterminiert? Mit Hilfe dieser Überlegungen aber läßt sich nun ein Stück weit präziser bestimmen, woher die gegenüber dem Naturschönen größere Komplexität des Kunstschönen stammt, die am Ende nach einem Genie verlangen wird, das diese auf einer Aporie gründende Komplexität zu meistern vermag. Sie rührt im Grunde aus der Verknüpfung der Frage nach der Produktion von Kunst mit den Prin zipien eines Geschmacksurteils, dessen Analyse wesentlich auf einer Rezi pientenperspektive beruht, weil sie auf die Untersuchung der Erkenntnis eines gegebenen schönen Gegenstands ausgerichtet ist. Aus der Sicht eines Herstellungsprozesses aber verschärfen sich jene Paradoxien, welche schon der Erkenntnis des Schönen im Geschmacksurteil zu eigen waren. Denn die Paradoxie des zwecklosen Zwecks läßt sich nun nicht mehr mittels der logischen Abstraktionsfigur einer nur formalen Zweckmäßigkeit auflösen, welche die Voraussetzung eines jeden bestimmten Zwecks ausmacht. Die Fertigung des Kunstwerks qua Kunst als ein konkreter Vorgang kann auch die faktische Existenz einer Absicht nicht vermeiden, welche dieses Kunst werk und seine Entstehung bestimmt. Es ist diese Verschärfung der Para doxien des Geschmacksurteils durch die Kombination mit einer Produ zentenperspektive, welcher Kant in der Figur des Genies zu begegnen versuchen wird.
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Bevor wir uns jedoch seiner Charakteristik des Genies des näheren zuwenden, sei zunächst beobachtet, wie sich im Zeichen der fortschrei tenden Analyse der Kunst jene Asymmetrie verliert, welche wir zunächst für die Beziehung von Kunst und Natur festgestellt haben. Denn während sich die Natur nur uneigentlich als Kunst bezeichnen ließ, eine solche Redeweise aber von Rechtswegen zu vermeiden war, hieß es zum andern, daß die Kunst nur dann Schönheit hervorbringen kann, wenn sie wie ein Werk der Natur erscheint. Umso erstaunlicher muß es darum wirken, daß in demselben § 45 „Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint“ nun mit aller Selbstverständlichkeit auch das umgekehrte Phänomen konstatiert wird: „Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht“ (306). Die zunächst entwickelte Priorität des Naturschönen, welche plausibel zu machen verstand, warum auch die Kunst wie Natur auszusehen habe, wenn sie Schönheit hervorbringen soll, ist nun einer schlichten Reziprozität im Verhältnis von Kunst und Natur gewichen. So wie die Kunst nur Schön heit bewirkt, wenn sie wie Natur erscheint, gilt auch für die Natur, daß sie für diesen Effekt des Anscheins der Kunst bedarf. Woher aber stammt diese sich nun zeigende Symmetrie der Verhältnisse? Bei genauerem Zusehen kommt freilich in den Sinn, daß ja bereits im § 42, also noch vor dem Beginn der eigentlichen Beschäftigung mit der Kunst als solcher, die schöne Natur in Kategorien der Kunst gedacht war: „Dazu kommt noch die Bewunderung der Natur, die sich an ihren schönen Produkten als Kunst, nicht bloß durch Zufall, sondern gleichsam absichtlich, nach gesetz mäßiger Anordnung und als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, zeigt“ (301). Was hier den Eindruck bewirkt, daß die Natur sich wie Kunst ausnimmt und eben dadurch Schönheit gewinnt, ist die Kategorie der Absicht. Diese Absicht also erlaubt es, der Ordnung des schönen Gegenstands (gesetzmäßiger Anordnung) einen Willen zuzuschreiben, der diese Ordnung dem Zufall entzieht. Doch sollten wir nicht vergessen, daß dieselbe Kategorie der Absicht in Ansehung des Kunstwerks ausgesprochene Schwierigkeiten bereitete. Ja, sie mußte in diesem Kunstwerk jedenfalls vor dem Rezipienten verborgen werden und sollte schließlich auch das freie Spiel der Gemüts kräfte des Künstlers nicht behindern, damit etwas Kunstschönes überhaupt entstehen konnte. Halten wir fürs erste also fest, daß just dasjenige, was beim Kunstschönen als mögliche Behinderung eines Geschmacksurteils in Erscheinung trat, nämlich eine Absicht, im Falle der Natur statt dessen genau jene Ähnlichkeit mit dem Kunstwerk bewirkt, welche die Natur gerade als schön erscheinen läßt. Es drängt sich im übrigen der Eindruck
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auf, daß diese Übertragung einer der Kunst entliehenen Absicht auf die Natur zugleich die Paradoxie zu plausibilisieren und damit zu entschärfen vermag, welche in der Zweckmäßigkeit ohne Zweck angelegt ist. Denn indem die Gestalt einer Zweckmäßigkeit eben nur als Analogie mit der Kunst unterstellt werden kann, der Natur vorderhand indessen keine wirklichen Absichten zugesprochen werden können, erklärt sich das Paradoxon der Zweckmäßigkeit ohne Zweck mittels dieser Interpretation des Phänomens solchermaßen, daß hier objektive Gegebenheit und bloßer Anschein durch Analogiebildung miteinander verknüpft sind. Folgen wir den Implikationen dieses Arguments weiterhin, dann wird noch einmal einsichtiger, warum die Kunst umgekehrt einer Analogie zur Natur bedarf. Denn hier liegen die Verhältnisse ja genau umgekehrt. Wenn die Natur der Ähnlichkeit mit der Kunst ein Stück Freiheit verdankt, nämlich den Eindruck, daß ihre Ordnung sich einer Absicht und damit einem Willen verdankt, dann gilt im Umkehrschluß, daß die Ähnlich keit der Kunst mit der Natur es erlaubt, jene Bestimmtheit der Ordnung, welche in diesem Fall in der Tat auf einer Absicht gründet, in Analogie zur Natur, der sich kein tatsächlicher Wille zuschreiben läßt, als einen absichtslosen Effekt zu betrachten. Auch dies sichert den Eindruck, präzi ser: den Anschein zweckloser Zweckmäßigkeit. Hier wie dort also spielt in dieser paradoxen Konfiguration das „als ob“ zu ihrer jeweiligen Entschär fung eine Rolle; und was sich aus der Sicht des einen Typus von Schönheit jeweils als Behinderung eines Geschmacksurteils zeigt, gewinnt aus der Sicht des jeweils anderen im Sinne dieses „als ob“ zugleich die Funktion einer Absicherung, wo nicht Ermöglichung eines solchen Geschmacksur teils. Werfen wir in diesem Zusammenhang noch einmal einen Blick auf eine bereits zitierte Formulierung Kants, in welcher er die Notwendigkeit der Naturähnlichkeit der Kunst präzisiert: „An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei erscheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei“ (306). Vor allem die zweite Hälfte dieses Satzes verdient unsere Aufmerksamkeit, näherhin das hier bezeichnete Verhältnis von Willkür und Zwang. Bemerkenswerterweise hat gerade die Ähnlichkeit zur Natur dafür Sorge zu tragen, daß das Kunstwerk nicht dem Zwange willkürlicher Regeln anheimfällt. Dabei war es doch die Willkür, welche der Kunst ihren Kunstcharakter allererst sicherte. Ich zitiere noch einmal: „Von Rechts wegen sollte man nur die Hervorbringung durch Freiheit, d. i. durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunst nennen“
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(303). Und ebenso war Willkür im Spiel, als die Ähnlichkeit der Natur mit der Kunst es erlaubte oder dazu veranlaßte, dieser Natur eine Absicht zu unterstellen und damit ihre Ordnung vor dem – bloßen – Zufall zu bewah ren. Auch hier steht die Willkür auf der Seite der Freiheit. Warum also wechselt dann diese Willkür in den soeben zitierten Zeilen von der Seite der Freiheit zur Seite des Zwangs? Worauf aber gründet, so müssen wir weiterhin fragen, diese Zwang haftigkeit der Willkür? Was den Unterschied zur Freiheit ausmacht, ist offensichtlich das Vorhandensein von Regeln – von Regeln freilich, die sich offensichtlich Willkür ersonnen hat und die insoweit doch ihrer Frei heit entstammen. Aber gerade weil diese Regeln der Willkür entstammen, werden sie als solche umso sichtbarer, denn sie erscheinen als individuelle Regeln und nicht als allgemeine, als bestimmte und nicht als universale und werden eben dadurch als Regeln umso bemerkbarer. Aus diesem Grund, um ihrer Bestimmtheit willen, treten sie bei demjenigen, dessen Willkür sie nicht entstammen, als Zwang in Erscheinung – ein Eindruck, der sich offensichtlich verliert, wenn die Regel als eine allgemeine wahrgenom men wird. So aber ergibt sich das kuriose, um nicht noch einmal zu sagen: paradoxe Phänomen, daß die Ähnlichkeit zur Natur, also dem Reich der Notwendigkeit, der Kunst die ihr ureigene Freiheit zu sichern hat, welche sie verlöre, wollte sie sich einer nur aus Freiheit, das heißt aus Willkür, ersonnenen Regelhaftigkeit anheimgeben, obwohl doch diese Freiheit die Kunst zur Kunst erst macht. Was in diesen Paradoxien nicht anders als in der wechselseitigen Siche rung des Kunstschönen durch die Illusion von Natur und des Naturschönen durch die Illusion von Kunst zum Ausdruck kommt, scheint mir indessen eine latente Ambivalenz der Kategorie der Vernunft selbst zum Vorschein zu bringen – eine Ambivalenz, welche im Verhältnis der Vernunft, inso weit man sie als ein Vermögen versteht, zur Vernunft, insoweit man sie als eine Ordnung begreift, angelegt wäre. Insofern die Vernunft ein Vermögen ist, bedeutet sie Freiheit. Hier bedarf sie der Willkür, denn diese Willkür durchbricht die Kette der Kausalitäten als Voraussetzung aller Freiheit. Aber Vernunft bedeutet zum anderen auch Regel, sie schafft Ordnung und steht als solche in einem unvermeidlich prekären Verhältnis zur Freiheit, weil Ordnung nur um den Preis einer Beschränkung von Möglichkeiten, folglich durch den Verlust von Freiheit zu haben ist. Willkür geht insoweit mit Ordnungsverlust einher. Kant selbst hat den Unterschied zwischen Freiheit und Gesetzmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft auf verschiedene Vermögen der Vernunft verteilt. Er stellt die Freiheit der Einbildungskraft der Gesetzmäßigkeit des erkennenden Verstandes gegenüber: So „muß
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das Geschmacksurteil auf einer bloßen Empfindung der sich wechselsei tig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit beruhen“ (287). Indessen, so scheint mir, läßt sich die Relation der beiden Kategorien nicht auf die betreffende Opposition unterschiedlicher Gemütskräfte beschränken, wie wir an der bemerkten Dialektik der Willkür zwischen Freiheit und Zwang in Kants Analyse der Kunst erkennen konnten. Denn hier verlangt ja gerade die Willkür der Einbildungskraft nach der Regel, um das Kunstwerk allererst herstellen zu können. Nicht mit Hilfe einer Unterscheidung zwischen den verschiedenen Vermögen und Leistungen der Vernunft scheint mir deshalb die Beziehung von Freiheit und Ordnung für die Vernunft zu bestimmen zu sein, sondern die Vernunft als solche ist durchzogen vom dialektischen Verhältnis dieser beiden Kategorien. Es ist diese Dialektik, so sei hier weiterhin postuliert, die an Kants Analyse der Kunst zum Vorschein kommt, und es ist dieselbe Dialektik, welche der Kunst in Kants Denken ihren besonderen Stellenwert zukommen lässt, hat sie doch keine geringere Aufgabe, als diese Dialektik von Freiheit und Vernunft zu versöhnen; und vor allem das Genie ist dazu berufen, diese Dialektik einer praktikablen Lösung zuzuführen. Wenn Kant die Kunst im strengen Sinne nur als eine Hervorbringung „durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt“, gelten läßt, dann kommt vielleicht in genau dieser Formulierung auch schon die bezeichnete Ambivalenz der Vernunft zum Vorschein. In dem Faktum, daß die Vernunft den Handlungen zugrunde gelegt wird, in der Entscheidung für die Vernunft als Urheber des Tuns liegt das Moment der Willkür und also Freiheit. Doch die Wirkung der zum Grunde gelegten Vernunft besteht in der Herstellung von Regeln – Regeln, die gerade dann den Eindruck von Zwang hervorrufen, wenn sie der Willkür entstammen, das heißt bestimmte, individuelle Regeln darstellen, die um ihrer Bestimmt heit willen ihren Charakter als Regeln nur umso markanter in Erscheinung treten lassen. Denn eine individuelle Ordnung schließt den anderen aus dieser Ordnung gerade aus. Sie erscheint willkürlich nicht mehr in dem Sinne, daß sie dem eigenen Willen unterliegt, sondern Willkürlichkeit wird nun zur Fremdheit, zu Kontingenz. Die willkürliche Ordnung aber tritt auf diese Weise eben als ein Zwang in Erscheinung. Wenn deshalb die Ähnlichkeit zur Natur, der Natur schlechthin wohlgemerkt, der Kunst zu ihrer Freiheit zu verhelfen hat, dann erfolgt dies, weil sie ein allgemeines Muster von Ordnung aufruft und diesem damit jegliche, der Willkür inne wohnende Bestimmtheit nimmt. Und umgekehrt wird die Ähnlichkeit der Natur zur Kunst zum scheinhaften Garanten dafür, daß ihre Ordnung nicht nur einem universellen Kausalgesetz geschuldet ist, sondern die Selbstset
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zung der Ordnung durch Freiheit an ihr beteiligt ist. Weil beide Anlei hen aber nur „als ob“ geschehen, gelingt es, den jeweiligen dialektischen Umschlag von Freiheit in Zwang auch zu vermeiden. Weil der Natur nur die Form einer Absicht unterstellt wird, gebiert sie nicht die aus Willkür erwachsende zwanghafte Regel; und weil der Kunst die Ähnlichkeit mit der Natur nur unterstellt wird, ist ihr Anschein von Zweckhaftigkeit keiner universellen Kausalordnung geschuldet, sondern auf einen Effekt der allein in Freiheit existierenden schönen Kunst zurückzuführen. Wenn darum die Kunst in ihrer Ähnlichkeit zur Natur nicht der ständigen Gefahr ausge setzt ist, durch die Entdeckung der bloßen Scheinhaftigkeit ihrer Natür lichkeit den Effekt der Schönheit zu verspielen, wie es manche Bemer kungen Kants zunächst nahelegen, dann deshalb, weil die Natur ihrerseits einer anscheinhaften Ähnlichkeit zur Kunst bedarf, um eine entsprechende Wirkung entfalten zu können. Die Dialektik der Beziehung von Kunst und Natur, welche letztlich auf der dialektischen Beziehung von Freiheit und Ordnung in der Vernunft selbst angelegt ist, relativiert insoweit im Laufe von Kants Analyse der Kunst jene Hierarchie zwischen dem Kunst- und Naturschönen, welche seine Untersuchung der Struktur des Geschmacks urteils zunächst errichtet hatte. Denn diese Analyse bringt zuvor nicht – oder doch nicht in dieser Konsequenz – in Rechnung gestellte Aspekte des Naturschönen zutage, welche die beiden Typen des Schönen eher als dessen interdependente, denn hierarchisch einander zugeordnete Erschei nungsformen hervortreten lassen.
9.3 Die Kunst und das Genie Die Virulenz der bemerkten Dialektik im Verhältnis von Kunst und Natur aber läßt sich weiterhin in den hier zu untersuchenden Paragraphen beobachten. Dies gilt, wie bereits angedeutet, vor allem für die Begrün dung der Notwendigkeit eines Genies für alle Kunst, welches Erfordernis wir nicht zuletzt als Konsequenz jener Komplexitätssteigerung der Analyse des Schönen erkennen konnten, die im Phänomen des Kunstschönen ange legt ist. Denn hier trifft, wie gesehen, die Perspektive einer Produktion von Schönheit auf die Analyse des Geschmacksurteils, welches wesentlich aus einer Rezipientenperspektive entwickelt wurde (und sich nicht zuletzt deshalb maßgeblich am Naturschönen orientierte, das eben nicht anders als in einem Rezeptionsakt gegeben ist). Indessen lassen sich die für das Genie entwickelten Prinzipien zugleich auf jene Dialektik beziehen, welche in der Analyse der Kunst als charakteristisch für die Beziehung zwischen
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Kunst und Natur zutage trat und die – so lautete die betreffende These – in der Dialektik der Vernunft zwischen Freiheit und Ordnung ihren letzten Grund hat. Eingeführt ist das Genie bei Kant als eine Naturgabe. Für schöne Kunst gilt, sie „kann sich selbst nicht die Regel ausdenken, nach der sie ihr Produkt zu Stande bringen soll“ (307). Doch als ein Produkt der Frei heit verlangt Kunst gerade aufgrund dieses Charakters einer Hervorbrin gung durch Willkür nach der Regel, und genau hier ist der Ansatz für die Notwendigkeit des Genies zu entdecken: „Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich“ (ebd.). Verantwortlich für die Regel, ohne welche die Kunst nicht auskommt und die sie doch nicht aus sich selbst zu bestimmen vermag, zeichnet in Gestalt des Genies also niemand anderes als die Natur. Auch hier zeigt sich wiederum eine bemerkenswerte Dialektik von Freiheit und Ordnung. Einmal mehr muß die Natur einspringen, um die Versöh nung von Freiheit und Ordnung zu leisten und der Kunst ihre Freiheit zu bewahren, die sie gerade zu verspielen droht, weil die Willkür, wiewohl ein Agent der Freiheit, in der Erzeugung von Regeln eben diese Freiheit verspielt. Aus diesem Grund wird das Genie zur hybriden Konstruktion einer Naturgabe, welche gewissermaßen die Freiheit der Kunst vor sich selbst um der Freiheit willen zu bewahren hat. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch die Wirkungsweise, auf welche die Natur zu diesem Zweck zurückgreift, heißt es doch von dem Genie: „Daß es, wie es sein Produkt zustande bringe, selbst nicht beschrei ben, oder wissenschaftlich anzeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel gebe; und daher der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken“ (308). Das logisch prekäre Verhältnis zwischen der Regel, die unverzichtbar ist und doch nicht ihrem ureigensten Prin zip, nämlich der Subsumtion unter einen Begriff, folgen darf, wird gelöst in der Übertragung des Verfahrens vom Subjekt auf die Natur, die nur noch in diesem Subjekt wirkt und dies um den Preis der Einsichtsfähig keit des eigenen Denkens tut, eines Denkens, das sich weder durchschauen noch steuern läßt. Nicht das logische Problem als solches, die Vermittlung zwischen der Unverzichtbarkeit einer Regel für die Kunst mit ihrer Aufhe bung, erscheint insoweit als gelöst, vielmehr wird die Lösung des Problems gewonnen, indem sie verfahrenstechnisch verrätselt, genauer gesagt: einem
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unbewußten Prozeß überantwortet ist („selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, derglei chen nach Belieben oder planmäßig auszudenken“, ebd.). Die Freiheit der Kunst, die Ermöglichung des freien Spiels der Erkenntnisvermögen geht insoweit mit einem Stück der Entmächtigung der sich selbst uneinsichtig werdenden Vernunft einher, weil sich die skizzierten Widersprüche nur auflösen lassen, indem die Kunst auf ihr Gegenbild, die Natur, zurück greift, um eine Lösung zu ermöglichen; und wieder ist es ein Verhältnis der Uneigentlichkeit, das die Beziehung zwischen beiden regelt. Hatte das Kunstwerk nur zum Schein so auszusehen, als sei es ein Produkt der Natur, so hat nun die Natur dem Subjekt das Verfahren seiner eigenen Vernunft zu verbergen, um das logisch Unmögliche möglich zu machen. Der schein haften Ähnlichkeit des Kunstwerks mit der Natur korrespondiert so die Entstehung des Kunstwerks mittels einer Abtretung der Tätigkeit der Vernunft an die Natur im Zeichen des Unbewußten. Freiheit ist diesmal ein Produkt von Selbstundurchsichtigkeit der Vernunft, und sie zu sichern ist Aufgabe einer Naturgabe, bedarf also einer Zutat aus dem Reich der Notwendigkeiten. Wenn ich meine hier vorgestellte Interpretation der §§ 43–50 von Kants Kritik der Urteilskraft unter den Gedanken einer Dialektik von Freiheit und Ordnung als eines basalen Merkmals der Vernunft selbst gestellt habe und deren Versöhnung als die eigentliche Leistung der Kunst für Kant zu beschreiben versuche, dann bestätigt sich diese Hypothese, so scheint mir, auch dort, wo Kant, wie im umfänglichen § 49, noch einmal zu einer Vermittlung dessen ansetzt, was zuvor in seiner Phänomenologie der Kunst streng geschieden war. Eine zentrale Bedeutung fällt in diesem Kapitel dem Konzept der ästhetischen Idee zu. Darunter versteht Kant „diejenige Vorstellung der Einbil dungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann“ (314). Noch einmal also ist hier, ganz wie es die Analyse des Geschmacksurteils von Beginn an bestimmte, die Opposition zum Begriff eine Begründungsfigur der Kunst. Begriff und ästhetische Idee erscheinen als nachgerade komplementäre Identitäten. Umso auffälliger erscheint es deshalb, wenn sich diese anfängliche Opposition im selben § 49 in eine funktionale Relation verwandelt. Denn ästhetischen Ideen wächst auch eine bestimmte Leistung für dasjenige zu, was sich ansonsten
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nur begrifflich erfassen läßt: „Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungs kraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken lässt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet“ (316). Es wirkt auf den ersten Blick ein wenig erstaun lich, wenn Kant diesen Satz mit einer Paulinischen Opposition abschließt, der Opposition von Geist und Buchstaben, welcher der Völkerapostel eine ziemlich unmißverständliche Wertung eingeschrieben hatte, gehört doch nur der Geist dem Leben, während der Buchstabe im Tod gefangen bleibt. Verwunderlich aber nimmt sich der Rückgriff auf diesen Gegensatz vor allem aus, weil wir im Kontext von Kants Verwendung dieser Pauli nischen Entgegensetzung gar nicht anders können, als dem Begriff, einem sprachlichen Ausdruck, die geistlose Rolle des Buchstabens zuzusprechen, den erst die Wirkung der Einbildungskraft mit Geist zu versehen vermag. Sucht man in demselben Satz nach einer Erklärung für diese doch sehr entschiedene und eben darin ein wenig überraschende Bewertung des Begriffs, so mag man einen ersten Ansatz dazu darin finden, daß dem freien Gebrauche der Einbildungskraft der gegebene Begriff gegenübersteht. Dies setzt noch einmal Kants oben schon diskutierte Verteilung der Opposition von Einbildungskraft und Verstand auf die Leistungen der Freiheit fort. Auch hier also spielt der Gegensatz von Freiheit und Fremdbestimmtheit für alle Erkenntnis eine Rolle, und eben diesem Moment der Bestimmtheit gilt auch weiterhin Kants Aufmerksamkeit. So heißt es nun, daß „im Gebrauch der Einbildungskraft zum Erkennt nisse, die Einbildungskraft unter dem Zwange des Verstandes und der Beschränkung unterworfen ist, dem Begriffe desselben angemessen zu sein“ (316). Wenn schon der zuvor zitierte Satz den freien Gebrauch der Einbildungskraft der Fremdbestimmtheit durch den gegebenen Begriff gegenübergestellt hatte, so wird dieser Gegensatz nun sichtlich verschärft. Denn der Verstand steht nun gar im Bündnis mit dem Zwang. Näherhin erscheint hier Bestimmtheit als Beschränkung, also als Verlust an Möglich keiten – und damit eben als Einbuße von Freiheit. Die Kunst, so hatte ich behauptet, hat bei Kant die Dialektik des Verhältnisses von Freiheit und Ordnung, welche der Vernunft als solcher inhärent ist, zu versöhnen; und gerade dafür bietet, so scheint mir, die Leistung der ästhetischen Idee ein besonders prägnantes Beispiel. Es lohnt im Hinblick darauf, sich die ein wenig gewundenen Worte genauer anzu
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sehen, mit denen Kant das möglich zu machen versucht, was sich an sich zu verbieten scheint, nämlich: die ästhetische Idee zu einem Instrument der Erkenntnis zu verwandeln, also in ihrer Leistung dem Begriff anzu gleichen. Möglich aber wird dies, weil „in ästhetischer Absicht aber die Einbildungskraft frei ist, um noch über jene Einstimmung zum Begriffe, doch ungesucht, reichhaltigen unentwickelten Stoff für den Verstand, worauf dieser in seinem Begriffe nicht Rücksicht nahm, zu liefern, welchen dieser aber, nicht sowohl objektiv zum Erkenntnisse, als subjektiv zur Belebung der Erkenntniskräfte, indirekt also doch auch zu Erkenntnissen anwendet“ (316 f.). Scheint es zunächst ausgeschlossen, die ästhetische Idee für eine dem Begriff vergleichbare Erkenntnisleistung in Anspruch zu nehmen, weil die ästhetische Idee diesem Begriff ja gerade als dessen komplementäres Gegenteil gegenübergestellt war: als seine Begleitvor stellungen, für die sich kein bestimmter Ausdruck finden läßt. Gleichwohl gelingt es Kant mittels eines kleinen Umwegs, das zunächst unmöglich Scheinende schließlich ins Werk zu setzen, heißt es doch, daß vermittels der ästhetischen Idee die Einbildungskraft dem Verstand reichhaltigen Stoff liefert, den er „aber nicht sowohl objektiv zum Erkenntnisse, als subjektiv zur Belebung der Erkenntniskräfte, indirekt also doch auch zu Erkenntnissen anwendet“ (ebd.). Die Negation hat, wie der Nachsatz zeigt, letztlich keine andere Funktion, als das zu ermöglichen, was sie zu vernei nen vorgibt. So taugt die ästhetische Idee am Ende doch zur Erkenntnis, welche die exklusive Domäne des Begriffs zu sein schien. Verlockend aber muß dieser kaum verhohlene Funktionswandel der ästhetischen Idee vor allem deshalb wirken, weil er der Erkenntnis ein Stück von jener Freiheit zurückgewinnt, welche das logische Urteil aufgrund seiner Natur, das heißt um seiner Bestimmtheit willen, gerade verspielen mußte. Die logische Ordnung erhält so ein Korrektiv an Freiheit zum Zwecke der Erkennt nissteigerung. Indessen ergibt sich bei näherem Zusehen auch das Umge kehrte. Denn Kant scheint es wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, daß die Einbildungskraft ungesucht den Reichtum findet, auf den der Verstand für den Begriff keine Rücksicht nehmen konnte. Diese Betonung der Absichts losigkeit aber ergibt Sinn, weil der ästhetischen Idee damit unter der Hand das zuwächst, was sie an sich nicht haben darf: ein Zweck, der Zweck einer Erkenntnis. So gewinnt das Genie mit der Kunst der Vernunft ein Stück von der Freiheit zurück, die der Verstand beim Begriff aufgeben muß, und es gibt der Kunst selbst in Gestalt einer Quasi-Erkenntnis am Ende doch so etwas wie einen Zweck, fügt sie also einer Ordnung ein, ohne die das Wirken der Vernunft sich auch nicht recht denken läßt.
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Wenn ich die Kunst für Kant in meiner Interpretation der §§ 43–50 der Kritik der Urteilskraft als ein Werk der Versöhnung der latenten Dialek tik von Freiheit und Ordnung im Begriff Vernunft bezeichnet habe, dann kommt dies vielleicht emblematisch zum Ausdruck in Kants schon erwähnter Formel vom freien Spiel der Erkenntnisvermögen, das Lust erzeugt, weil es eine Harmonie dieser Erkenntnisvermögen voraussetzt. Harmonie aber meint Ordnung, und so sind auch im harmonischen Spiel der Kunst Freiheit und Ordnung miteinander versöhnt.
Literatur Aristoteles: Ars Rhetorica, hrsg. v. W. D. Ross, Oxford 1959; dt. Rhetorik, hrsg. v. Chr. Rapp, Berlin 2002, 2 Bde. Castiglione, Baldassare 1528: Cortegiano, Venedig; ND Mailand 1981.
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Kants System der schönen Künste (§§ 51–54)
Nachdem Kant in den vorhergehenden Paragraphen den Begriff der Kunst im allgemeinen und den der schönen Kunst im besonderen bestimmt hat, setzt er sich in den hier zu erläuternden Paragraphen die Aufgabe, das System der schönen Künste darzustellen. Er muß dazu nicht nur ein Prinzip ausfindig machen, sondern dieses Prinzip muß auch den Zusammenhang zwischen seiner Bestimmung der Schönheit und der schönen Kunst gewährleisten. Kant meint, dieses Prinzip in dem, was er „Ausdruck“ nennt, zu finden. Kant versucht nun also, einen Zusammenhang zwischen Schönheit, ästhetischer Idee und schöner Kunst über den Begriff des „Ausdrucks“ herzustellen, indem er sagt: „Man kann überhaupt Schönheit […] den Ausdruck ästhetischer Ideen nennen“ (204). Dies wäre eine sehr gute Strategie, wenn der Begriff des „Ausdrucks“ eine zentrale Rolle in Kants Bestimmung der Schönheit und der ästhetischen Ideen gespielt hätte. Aber das ist nicht der Fall. In Kants Analysen des reinen ästhetischen Geschmacksurteils war nur davon die Rede, wie die Schönheit – und damit zusammenhängend die ästhetische Idee – durch das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand konstituiert wird. Und selbst wenn es in diesem Zusammenhang sinnvoll wäre zu sagen, daß die Schönheit ästhetische Ideen ausdrückt, so hat „ausdrücken“ hier doch nicht die Bedeutung von „in einem Material darstellen“, sondern nur die ganz generelle logische Bedeutung von „stehen für“. Das Prinzip des Ausdrucks, das Kant für seine Einteilung der schönen Künste gewählt hat, bezieht sich darum nicht auf das Ins-Werk-Setzen der Schönheit bzw. der ästhetischen Ideen, sondern nur auf eine spezifische Anwendung der Einbildungskraft als eines Beurteilungsvermögens.
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Wenn man von den Werken der schönen Kunst ausgeht, kann Kant ohne Umschweife sagen: „Das Machwerk an allem diesem Schmucke mag immer mechanisch sehr unterschieden sein und ganz verschiedene Künstler erfordern; das Geschmacksurteil ist doch über das, was in dieser Kunst schön ist, […] auf einerlei Art bestimmt“ (323 f.). Wenn Kant in seinen Analysen des reinen ästhetischen Urteils eine bedeutsame Konklusion erreicht hat, so ist es die, daß die Schönheit eine einheitliche Qualität ist, ob ihr „Träger“ nun ein Produkt der Natur oder ein Produkt der Kunst ist bzw. ob das Kunstwerk ein Gedicht oder eine Plastik ist. Strenggenommen führt also der urteilsorientierte Gesichtspunkt, den Kant für seine Analysen der ästhetischen Urteilskraft angelegt hat, dazu, daß alles Gegenstand eines reinen ästhetischen Geschmacksurteils sein kann. Aber dann wird auch die Rede von den schönen Künsten und ihrer Einteilung ein hinfälliges Thema – und so ist es ja auch in der zum Teil durch Kant beeinflußten modernen Kunsttheorie gekommen. Es gibt zwei Umstände, die zumindest teilweise erklären können, warum die schöne Kunst und die Einteilung ihrer Werke in Kants Darstellung überhaupt vorkommen. Der eine Grund ist eher historischer, der andere eher systematischer Art.
10.1 Der historische Grund Zu Kants Zeit stand das System der schönen Künste fest – ein Erbe der kunsttheoretischen Debatten seit der Renaissance. Das heißt, was fest stand war, daß es so etwas wie die schönen Künste und ihr System geben müsse; und es herrschte auch eine gewisse Einmütigkeit darüber, welche Künste als schöne Künste zu gelten hatten. Worüber man zu keiner Einigkeit gelangen konnte, war jedoch die Grundlage und Begründung dieses Systems der schönen Künste. Abbé Batteux (1723–1780) hatte in seinem ungeheuer einflußreichen Werk Les beaux arts reduits à un même principe von 1746 zwar das vollständigste und im Lichte der späteren Entwicklung auch „korrekteste“ System der schönen Künste vorgelegt. Sein Prinzip der Begründung dieser schönen Künste, nämlich „Nachahmung der schönen Natur“ blieb aber heftig umstritten, weil zu sehr der traditionellen Ästhetik und ihren metaphysischen Grundannahmen verpflichtet. Eine Begründung, die mehr im Einklang mit den Gedanken der Philosophie der Neuzeit war, hatte Abbé Dubos (1670–1742) schon 1719 in seiner Abhandlung Reflexions critiques sur la poésie et la peinture vorgelegt. Seine Begründungsstrategie bestand in dem
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Nachweis einer Korrelation von gewissen Werken der Kunst und dem, was er „passions artificielles“ nannte. Diese Gefühle bezeichnete er deshalb als künstlich, weil sie reflexiver Natur waren, das heißt, sie waren einzig und allein ausgelöst und getragen von den Kunstwerken selbst. Insofern konnte man sie auch „reine Gefühle“ nennen (vgl. Barasch 1990, 24 ff.). Das neue Kunstverständnis und damit auch die Vorstellung von einem System der schönen Künste, das sich in den kunstphilosophischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts anbahnte, wurde zum kulturellen Allgemeingut durch die Artikel von Montesquieu („Goût“, 1757), Diderot („Beaux“, 1752) und D’Alembert („Discours préliminaire“, 1754) in der großen französischen Encyclopédie. Hier finden wir in der zweiten Auflage (1781) auch einen Artikel von Johann Georg Sulzer über „Ästhetik“. Derselbe Sulzer hatte auch in den Jahren 1771–74 ein zweibändiges Lexikon mit dem Titel Allgemeine Theorie der schönen Künste vorgelegt. Eine zweite Auflage war schon 1777/78 auf dem Markt (eine gute Übersicht dieser Entwicklung bei Kristeller 1990). Wir finden keine direkte Bezugnahme auf diese kunsttheoretischen Schriften in Kants Text. Es ist jedoch anzunehmen, daß Kant als gebildeter Mann seiner Zeit mit dem Gedankengut dieser Schriften einigermaßen bekannt war. Mit Sicherheit hat Kant zwei kunstphilosophische Abhandlungen gekannt, die in seinem unmittelbaren kulturellen Umfeld erschienen sind: Moses Mendelssohns Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften (1756) und Herders so genanntes Erstes Wäldchen (1769). In beiden Abhandlungen wird ausführlich auf die vorhergehende kunsttheoretische Diskussion in Frankreich und England Bezug genommen.
10.2 Der systematische Grund Kants Analysen des reinen ästhetischen Geschmacksurteils und die damit verbundene Bestimmung der Schönheit haben ohne Zweifel ihren prägenden Ursprung in seiner Transzendentalphilosophie – und nicht in den kunstphilosophischen Debatten seiner Zeit. Wollte Kant aber mit seiner transzendentalphilosophisch konzipierten Bestimmung von Geschmack und Schönheit nicht am Stand des kunstphilosophischen Diskurses seiner Zeit vorbeispekulieren, konnte er nicht darauf verzichten, in mehr oder weniger loser Anknüpfung an seine Lehre von der Schönheit auch das Thema der schönen Kunst und der Systematik der schönen Künste abzuhandeln. Die kunsttheoretische Debatte um das Problem der
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schönen Kunst im allgemeinen und der verschiedenen schönen Künste im besonderen machte einen so wichtigen Teil des Kulturbewußtseins des 18. Jahrhunderts aus, daß Kant die Leistungsfähigkeit seiner Transzendentalphilosophie auch auf diesem Kulturgebiet unter Beweis zu stellen hatte. Sicherlich war Kant der Überzeugung, mit seiner Lehre vom reinen ästhetischen Geschmacksurteil zu einer definitiven Bestimmung der Schönheit gekommen zu sein. Seine theoretischen Ansprüche in bezug auf das System der schönen Künste sind jedoch vergleichsweise bescheiden. Es handelt sich bei dieser Einteilung der schönen Künste, wie er dem Leser versichert, nur um einen „Entwurf“ und nicht um eine „beabsichtigte Theorie“ (320 FN). Kant, der ja sonst in bezug auf seine eigenen philosophischen Leistungen nicht eben bescheiden dachte, mag hier folgende Ungereimtheit gespürt haben: Wenn die Analysen des reinen ästhetischen Geschmacksurteils und der Schönheit auch den Themenbereich der schönen Künste umfassen sollen, dann kommt man nicht umhin, von Produkten oder Gegenständen zu reden. Als Ergebnis von Kants früheren Analysen steht aber fest: „Geschmack ist aber bloß ein Beurteilungs-, nicht ein produktives Vermögen, und was ihm gemäß ist, ist darum eben nicht ein Werk der schönen Kunst“ (313). Seine urteilstheoretischen Analysen der Schönheit hat Kant so angelegt, daß kein Rekurs auf die besonderen materiellen oder empirischen Eigenschaften schöner Gegenstände erforderlich war. Das reine ästhetische Geschmacksurteil hat daher die Form „x ist schön“, wobei die Schönheit einzig und allein vom urteilenden Subjekt, und zwar von dessen Gefühl der Lust, bedingt wird. Ob ich für „x“ in dem Urteil „x ist schön“ dann „Rose“, „Schalentier“, „Mensch“ oder „Kirche“ usw. einsetze, soll darum bei der Beantwortung der Frage, ob und warum das Urteil ein reines ästhetisches Geschmacksurteil ist, keine Rolle spielen. Es erweist sich aber im Laufe der Kantischen Darstellung der Problematik der Schönheit als zunehmend schwierig, die urteilstheoretischen und die objekttheoretischen (gegenständlichen) Aspekte des ästhetischen Geschmacksurteils auseinander zu halten. Und der Versuch einer solchen Trennung bricht vollends zusammen, wenn Kant sich in § 16 genötigt sieht, zwischen freier Schönheit (pulchritudo vaga) und anhängender Schönheit (pulchritudo adhaerens) zu unterscheiden. Damit gibt er indirekt zu, daß es Dinge gibt, die gegenständlich so bestimmt sind – in Kantischer Sprache: „durch einen Begriff bestimmt“ –, daß es unpassend wäre, sie an der Leerstelle „x“ des reinen ästhetischen Geschmacksurteils „x ist schön“ einzusetzen. Kant zufolge ist etwas eben dann als ein Produkt der Kunst (als ein Artefakt) aufzufassen, wenn es seinen Grund in einem Begriff hat. Produkte
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der Kunst (Artefakte) können nicht uneingeschränkt als schön gelten, weil andernfalls ihr Begriff mitbestimmend für ihre Schönheit wäre. Wenn trotzdem einige Werke der Kunst (Artefakte) als Werke der schönen Kunst klassifiziert werden können und müssen, so deshalb, weil ihr produktiver Grund nicht ein begriffliches Verfahren ist, sondern eine besondere Naturgabe, die Kant „Genie“ nennt. Durch seine Lehre vom Genie als dem produktiven Grund schöner Kunstwerke holt Kant diese gleichsam zurück in die begriffliche Unbestimmtheit des reinen ästhetischen Geschmacksurteils und begibt sich damit auch der Möglichkeit, die Werke der schönen Kunst von ihrer gegenständlich (begrifflich) bestimmten Produktseite her einteilen zu können. Angesichts seiner urteilsorientierten und subjektbezogenen Analyse des reinen ästhetischen Geschmacksurteils liegt für Kant die einzige Möglichkeit, ein Prinzip zur Systematisierung der schönen Künste zu finden, auf der Seite ihrer Produktion. Das heißt, das Prinzip der Einteilung muß im Subjekt verankert sein, aber doch so, daß es als Prinzip der materialen Produkte der Kunst zu fungieren vermag. Wie gesagt findet Kant ein solches Prinzip im Ausdruck. Die verschiedenen schönen Künste sind verschiedene Arten des Ausdrucks, und zwar nicht primär, weil sie Künste sind – das würde nämlich den jeweiligen Ausdruck zu sehr auf Begriffe einschränken –, sondern weil sie schöne Künste sind, denn Schönheit kann man „den Ausdruck ästhetischer Ideen nennen“ (320). Aber da sie doch Künste sind, ist es immerhin so, „daß in der schönen Kunst diese Idee durch einen Begriff vom Objekte veranlaßt werden muß“ (ebd.). Um als Prinzip der Einteilung der schönen Künste zu fungieren, kann der Ausdruck also nicht begriff- und regellos sein. Kunst wird, mit anderen Worten, von Kant nicht als Ausdruck schlechthin aufgefaßt, sondern als die „Art des Ausdrucks, dessen sich Menschen im Sprechen bedienen“ (320). Kant hat also die Sprache als kommunikatives Mittel absichtsvoll zum Grund des Ausdrucks gemacht, und um folglich einer Logifizierung des Ausdrucks vorzubeugen, bestimmt er den Begriff des „Ausdrucks“ als eine Einheit von Wort, Gebärde und Ton. Wort, Gebärde und Ton sind aber gegenständliche Größen, das heißt, sie haben einen materiellen Träger, der sinnlich wahrnehmbar ist. Damit Wort, Gebärde und Ton (als die konstituierenden Teile des Ausdrucks) als Prinzipien der Einteilung der schönen Künste auf der Seite des Subjekts fundiert bleiben, werden sie darum von Kant sogleich als äquivalent mit Gedanke, Anschauung und Empfindung gesetzt. Ausdruck ist zwar Sprache, aber Sprache im weitesten Sinne verstanden als ein Sprechen, in dem Gedanke, Anschauung und Empfindung vereinigt
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sind. In einem solchen Ausdruck wird also nicht nur eine Sache mitgeteilt; vielmehr teilt sich der Sprechende, vermittels des Ausdrucks, auch selbst mit. In den schönen Künsten findet mit anderen Worten so etwas wie „die vollständige Mitteilung des Sprechenden“ statt. In den schönen Künsten sollen Gedanke, Anschauung und Empfindung „zugleich und vereinigt auf den anderen übertragen“ werden können, das heißt als eine Einheit zum Ausdruck gebracht werden. In Kants Charakterisierung des Ausdrucks als Prinzip der Einteilung der schönen Künste übersieht er aber zwei Schwierigkeiten, die dann Unklarheiten in seinen späteren Ausführungen nach sich ziehen. Die erste Schwierigkeit betrifft den Ausdruck als Medium des Übertragens. Gedanken, Anschauungen und Empfindungen müssen zuerst in Wort, Gebärde und Ton „übertragen“ werden, damit diese als Ausdruck aufgefaßt werden können. Der erste Schritt der Übertragung ist sozusagen eine Übertragung von nicht-sinnlicher Bedeutung in ein sinnliches „Material“, das kraft seiner spezifischen Materialität (als Farbe, Marmor, Laut usw.) notwendigerweise irgendwie mitbestimmend dafür ist, wie (und welche) nichtsinnliche Bedeutungen (Gedanken, Anschauungen, Empfindungen) darin ausgedrückt werden können. Die zweite Schwierigkeit liegt in Kants Absicht, der zufolge sich im Ausdruck Gedanke (Wort), Anschauung (Gebärde) und Empfindung (Ton) „zugleich und vereinigt auf den anderen übertragen“ sollen. Kant zieht nämlich aus dem Ausdruck als Prinzip ohne weiteres diese Folgerung: „Es gibt also nun dreierlei Arten schöner Künste: die redenden Künste, die bildenden Künste und die Kunst des Spiels der Empfindungen“ (mit der letzten Bezeichnung meint Kant hauptsächlich die Musik, s. 320 f.). Wenn Gedanke (Wort), Anschauung (Gebärde) und Empfindung (Ton) den Ausdruck aber als Einheit konstituieren, wieso kann der Ausdruck dann als Prinzip einer Verschiedenheit der schönen Künste fungieren? Das prinzipiell Gemeinsame, der Ausdruck, muß in allen schönen Kunstgattungen vorkommen, also kann es nicht der Ausdruck sein, der für ihre Differenzierung verantwortlich ist. Dafür braucht man ein anderes Prinzip, schließlich sollen z. B. die redenden Künste als Ausdruck von den darstellenden Künsten als Ausdruck verschieden sein. Was sich hier als eine Unklarheit in Kants Erörterung auswirkt, ist die problemlose Gleichsetzung von Gedanken mit Worten, von Anschauungen mit Gebärden und von Empfindungen mit Tönen. Kant erwägt auch ganz kurz eine andere mögliche Einteilung der schönen Künste, die er „dichotomisch“ nennt. Diese Einteilung verwirft er aber mit der Begründung, sie sei „zu abstrakt und nicht so angemessen den
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gemeinen Begriffen“ (321). Da Kant vorher drei Hauptarten der schönen Künste genannt hatte, ist es nun schwer zu verstehen, wie diese dichotomisch einzuteilen wären. Er nennt in diesem Zusammenhang auch nur zwei Kunstarten, nämlich die schöne Kunst des Ausdrucks des Gedankens und die schöne Kunst des Ausdrucks der Anschauung. Aus Kants kurzen Bemerkungen ist zu entnehmen, daß so eine dichotomische Einteilung sich eher auf die Unterscheidung zwischen der Form und der Materie der jeweiligen schönen Kunstart bezieht, als daß sie das System der schönen Künste als solches betrifft. Das wäre sogar ein Gesichtspunkt, der vielleicht besser zu Kants genereller Theorie der Schönheit passen würde, aber er könnte kaum ein Prinzip für eine systematisch begründete Einteilung der schönen Künste abgeben. Wie es nun auch mit Kants Versuch, ein Prinzip der Gliederung des Systems der schönen Künste zu finden, und mit seiner Begründung dieses Prinzips bestellt sein mag, so meint er doch folgendes System etablieren zu können: I. Die redende Künste 1. Beredsamkeit 2. Dichtkunst II. Die bildenden Künste 1. Plastik 2. Malerei III. Die Kunst des schönen Spiels der Empfindungen (die von außen erzeugt werden) 1. Musik 2. Farbenkunst Die hier genannten Künste können sich wiederum miteinander verbinden, so daß sich eine vierte Hauptgruppe der schönen Künste ergibt, die man vielleicht die kombinatorischen Künste nennen könnte. Zu dieser Gruppe rechnet Kant folgende Künste: 1. das Schauspiel, 2. den Gesang, 3. die Oper, 4. den Tanz. Wenn in diese Kombinationen auch das Erhabene einbezogen wird, bekommt man zusätzlich die folgenden Künste: 1. das gereimte Trauerspiel, 2. das Lehrgedicht und 3. das Oratorium. Wie schon erwähnt, hat diese Einteilung Kant zufolge keinen gesicherten theoretischen Status. Es folgt wahrscheinlich nicht einmal aus Kants eigenem Prinzip der Einteilung der schönen Künste, daß zum Beispiel das Trauerspiel nicht als eine Unterart der Dichtkunst eingeordnet wird,
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sondern als eine Mischform der Künste. Für diese Einstufung spielt dann plötzlich die Verbindung dieser Kunstform mit dem Erhabenen eine Rolle, obwohl bei der Erörterung des Prinzips der Gliederung der schönen Künste das Erhabene mit keinem Wort erwähnt wurde. Gerade in diesem Zusammenhang macht Kant jedoch eine Bemerkung, die sehr aufschlußreich für seine Auffassung der schönen Künste ist. Er sagt nämlich, daß durch die Verbindung der schönen Künste miteinander diese zwar künstlicher werden, es aber zweifelhaft bleibe, ob sie „auch schöner […] werden“ (325). Als Begründung für diesen Standpunkt führt er an, daß eine Kunst, je künstlicher sie wird, desto mehr den Reiz oder die Rührung, also die Materie der Empfindungen, anspreche. Denn „in aller schönen Kunst besteht das Wesentliche in der Form“ (325 f.). Die Form des durch Kunst hergestellten Produkts kann, mit anderen Worten, Kant zufolge so künstlich werden, daß das durch Kunst geformte Produkt sich in seiner Form der Reinheit des ästhetischen Geschmacksurteils entzieht. Allgemein dürfte es so sein, daß die Erläuterungen, die Kant zu den einzelnen schönen Künsten gibt, mehr Licht auf seine generelle Auffassung der Schönheit werfen als auf die spezifische Eigenart und Problematik der betreffenden Künste. Ja, oft kommen als Bemerkungen zu den einzelnen schönen Künsten einfach Wiederholungen aus seinen Analysen des reinen ästhetischen Geschmacksurteils vor. Weil die beiden redenden Künste – Dichtkunst und Beredsamkeit – als Künste ein freies Spiel der Einbildungskraft betreiben, kommentiert Kant ausführlich, wie dieses freie Spiel beschaffen sein müsse, um seine Gegenstände als schöne Kunstwerke gelten lassen zu können. Den Unterschied zwischen diesen zwei redenden Künsten gibt er dagegen nur ganz knapp an. Abgesehen davon, daß die Redekunst – also die Rhetorik – selbst zu Kants Zeiten nicht mehr zu den schönen Künsten gerechnet wurde, kommt Kants philosophisch bedingte Geringschätzung der Redekunst zum Ausdruck, wenn er sie auf einer Linie mit der Dichtkunst als ein „Spiel mit Ideen“ bestimmt. Aber während der Redner eigentlich ein Geschäft des Verstandes angekündigt hat, es aber so ausführt, „als ob es bloß ein Spiel mit Ideen sei, um die Zuhörer zu unterhalten“, so hat der Dichter keine solche ernste Absicht, weshalb sein Spiel mit Ideen „dem Verstande spielende Nahrung zu verschaffen und seinen Begriffen durch Einbildungskraft Leben zu geben“ (321) vermag. Den Unterschied zwischen den bildenden und den redenden Künsten bestimmt Kant in folgender Weise: Die bildenden Künste sind Ausdruck für „Ideen in der Sinnenanschauung“ (321), während die redenden Künste es nur mit „Vorstellungen der bloßen Einbildungskraft, die durch Worte aufgeregt werden“, zu tun haben. In den redenden Künsten sind es, mit
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anderen Worten, allein die Vorstellungen der Einbildungskraft, die Träger des Ausdrucks sind, nicht aber die sinnlich hörbaren Worte, die Kant zufolge nur eine Veranlassung sind. Die Vorstellungen, die von einem Wort oder Wortgefüge angeregt werden, haben damit eigentlich nichts gemeinsam mit dem Wort als ihrem Anreger. In den bildenden Künsten sind es dagegen „Gestalten im Raume“ (322), also etwas durchaus Sinnliches, was die Vorstellungen der Einbildungskraft veranlaßt. In den bildenden Künsten sind die Ideen nicht nur Vorstellungen der Einbildungskraft, sie haben sich hier sozusagen zu Gestalten im Raum versinnlicht. Es ist eine durchaus berechtigte Frage, ob Kant bei dieser Bestimmung des Unterschieds zwischen den redenden und bildenden Künsten nicht stillschweigend ein neues Kriterium der Gliederung des Systems der schönen Künste eingeführt hat. Man könnte es versuchsweise den „Grad der Versinnlichung des Ausdrucks“ nennen. Innerhalb der bildenden Künste sieht nun Kants Einteilung so aus: Die zwei Hauptkunstarten sind Plastik und Malerei. Die Plastik teilt sich wiederum in die Unterarten der Bildhauerkunst und der Baukunst; die Hauptgruppe Malerei hat als Untergruppen die eigentliche Malerei und die Lustgärtnerei. Plastik und Malerei als die zwei Hauptkunstarten der bildenden Künste haben Kant zufolge zwar gemeinsam, daß sie „Gestalten im Raume zum Ausdrucke für Ideen“ (322) machen, sie unterscheiden sich aber darin, wie sie sich in der Sinnlichkeit präsentieren, das heißt durch die Art und Weise der Wahrnehmbarkeit ihres Ausdrucks. Die Gestalten der Plastik werden durch zwei Sinne, Gesicht und Gefühl, wahrgenommen; die Gestalten der Malerei sind dagegen nur für das Gesicht da. Wenn Kant Gestalten im Raum als Ausdruck von Ideen zu dem gemeinsamen Merkmal von Plastik und Malerei macht, dann trifft er wohl mit dieser letzten Charakterisierung nicht den eigentlich künstlerischen Unterschied zwischen Plastik und Malerei. In der Malerei ist der Raum ein von dem Künstler formbares Darstellungsmittel, so daß der Raum hier selbst zu einem Teil des Ausdrucks der Gestalten im Raum mitgestaltet werden kann. Der Bildhauer dagegen kann den Raum bei seinem Ausdruck nicht gleich mitgestalten. Innerhalb der Plastik unterscheidet Kant zwischen der Bildhauerkunst und der Baukunst. Beide stellen Dinge körperlich dar, aber sie unterscheiden sich dadurch, daß die Bildhauerkunst „Begriffe von Dingen, so wie sie in der Natur existieren könnten“, veranschaulicht, während die Baukunst „Begriffe von Dingen, die nur durch Kunst möglich sind“, darstellt (322). Die Dinge, die in der Bildhauerkunst ausgedrückt werden, haben somit
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die Natur als den Bestimmungsgrund ihrer Form; in der Baukunst gibt dagegen ein „willkürlicher Zweck“ den Bestimmungsgrund der Form der auszudrückenden Dinge an. Für die Werke der Baukunst gilt darum, daß sie zwar darstellend, aber nicht abbildend sind, das heißt, es liegt nicht im Begriff von solchen Dingen wie Tempel oder Palästen usw., daß sie „in der Natur existieren könnten“. Die Bildhauerkunst ist nicht nur darstellend, sondern auch insofern abbildend, als der Bestimmungsgrund der Form der dargestellten Dinge die Natur ist. Das alte kunsttheoretische Kriterium der Nachahmung der Natur spukt also noch in Kants Text herum; es wird aber abgemildert oder neutralisiert durch seine gleichzeitige Forderung, die Darstellung müsse „als schöne Kunst mit Rücksicht auf ästhetische Zweckmäßigkeit“ stattfinden (322). Dieses Kriterium müßte für jede schöne Kunst gelten, tritt aber merkwürdigerweise erst hier explizit auf. Damit etwas als Produkt der schönen Kunst soll auftreten können, muß also immer eine „Rücksicht auf ästhetische Zweckmäßigkeit“ vorliegen. Die natürlichen Dinge müssen, mit anderen Worten, schon durch eine ästhetische Zweckmäßigkeit überformt, das heißt mit einem künstlerischen Auge gesehen werden, um darstellbar zu sein. Dieses Kriterium verbürgt andererseits auch, daß die durch die Nachahmung entstandene „Sinnenwahrheit“ nicht so weit geht, daß das Kunstwerk aufhört, „als Kunst und Produkt der Willkür zu erscheinen“ (322). Kant hatte schon die Malerei von der Plastik nach dem Kriterium unterschieden, ob ihre Gestalten nur da sind „nach ihrer Apparenz in einer Fläche“, oder nicht (ebd.). Nun wird die Malerei, wenn er eigens auf diese Untergruppe der bildenden Künste zu sprechen kommt, ganz generell zu einer Kunst, „welche den Sinnenschein künstlich mit Ideen verbunden darstellt“ (323). Da Kant mit Ideen in diesem Zusammenhang immer ästhetische Ideen meint, hört sich dies zweifellos eher an wie eine generelle Charakteristik der (schönen) Kunst überhaupt. Man könnte versucht sein, den Grund dieser veränderten und allgemeiner eingerichteten Charakterisierung darin zu suchen, daß sie Kant die Möglichkeit gibt, diese zweite Gruppe der bildenden Künste wiederum in zwei Untergruppen einzuteilen: die eigentliche Malerei als die schöne „Schilderung der Natur“ und die Lustgärtnerei als die schöne „Zusammenstellung der Produkte der Natur“. Bei der Einteilung dieser zwei Gruppen von schönen Künsten spielt zum ersten Mal in Kants Erörterungen der Begriff des Sinnenscheins eine entscheidende Rolle. Es scheint hier seine Absicht zu sein, den vorher eingeführten Begriff der Sinnenwahrheit auf zwei verschiedene Weisen aufzuheben, um damit sozusagen den Rest von der alten Nachahmungslehre aus seiner ästhetischen Theorie zu vertreiben.
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In der „eigentlichen“ Malerei haben wir es mit dem „Schein der körperlichen Ausdehnung“ – was Kant vorher „Apparenz“ genannt hat – zu tun. Das sinnlich Erscheinende ist in der Malerei eine Illusion, das heißt, die Körper, die hier vorkommen, sind nicht, wie noch bei der Plastik als bildender Kunst, dreidimensional, sondern nur illusorisch auf einer zweidimensionalen Fläche dargestellt. So ist ihre Sinnenwahrheit Sinnenschein! In der Lustgärtnerei sind zwar die dargestellten Dinge in ihrer körperlichen Ausdehnung – oder wie Kant sagt: „nach der Wahrheit“ – da. Aber sie stellt trotzdem insofern eine Illusion dar, als sie „bloß für das Spiel der Einbildung in Beschauung ihrer Formen“ (323) da sind, und nicht, um gebraucht und benutzt zu werden. Durch diese Form des Sinnenscheins wird also die Funktionalität und Zweckmäßigkeit der Dinge, die noch mit der alten Nachahmungstheorie der Schönheit vereinbar war, untergraben. Auch die Lustgärtnerei ist „bloß zum Ansehen da, um die Einbildungskraft im freien Spiele mit Ideen zu unterhalten und ohne bestimmten Zweck die ästhetische Urteilskraft zu beschäftigen“ (323), das heißt, auch sie ist – wie alle schönen Künste – Ausdruck ästhetischer Ideen und nicht Nachahmung der Natur. Mit der Aufnahme der Lustgärtnerei in sein System der schönen Künste hat Kant nicht nur dem Umstand Rechnung getragen, daß sie zu seiner Zeit eine sehr populäre Kunstart war (Cadenbach 2004); er hat durch ihre Charakterisierung auch den Einwand von Bosanquet entkräftet, dem zufolge sie „not deal[s] with a true expressiv material“ (Bosanquet 1892, 280). Am Ende seiner Erörterungen der Hauptgruppe der bildenden Künste stellt Kant die ganz generelle Frage: „Wie aber bildende Kunst zur Gebärdung in einer Sprache (der Analogie nach) gezählt werden könne“ (324)? Seine Antwort lautet kurz und bündig: weil der Geist des Künstlers – „was und wie er gedacht hat“ – darin einen „körperlichen Ausdruck“ gefunden hat. Aber der Ausdruck muß doch ein besonderer sein, nämlich so, daß er „die Sache selbst gleichsam mimisch sprechen macht“ (324). Und das ist wiederum nur möglich, wenn der „körperliche Ausdruck“ unsere Phantasie zur Mitwirkung erweckt. Es ist, mit anderen Worten, also eigentlich unsere Phantasie, die spricht, indem sie „leblosen Dingen […] einen Geist unterlegt“ (324). Die dritte Hauptgruppe der schönen Künste wird von Kant „Kunst des schönen Spiels der Empfindungen“ genannt. Die Bezeichnung mutet heute umständlich und befremdlich an, besonders wenn man bedenkt, daß Kant damit hauptsächlich die Musik im Auge hatte und daß die andere Untergruppe, die Farbenkunst, für die eine solche Bezeichnung vielleicht Raum
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schaffen sollte, selbst zu Kants Zeiten eine recht ephemere Erscheinung war. Das schöne Spiel der Empfindungen beim Gehör (Musik) und beim Gesicht (Farbenkunst) besteht nach Kant in der „Proportion der verschiedenen Grade der Stimmung (Spannung) des Sinnes, dem die Empfindung angehört“ (324). Das veranlaßt Kant, ernstlich zu überlegen, ob wir es bei diesen zwei Künsten überhaupt mit schönen Künsten zu tun haben, weil das Geschmacksurteil hier seinen Grund doch nicht in der Reflexion hat, sondern direkt mit dem „Sinn, dem die Empfindung angehört“ (324), verbunden ist. Ein Umstand, der ja sonst nicht als Bestimmungsgrund von Schönheit, sondern von Annehmlichkeit gilt. Kant findet es, mit anderen Worten, bei diesen zwei Kunstarten höchst problematisch, seine sonst strikte Trennung zwischen dem Schönen und dem Angenehmen aufrechtzuerhalten. Es gibt nun also Kunstarten, die durch ihren „körperlichen Ausdruck“ die Sinne so affizieren, daß es schwer wird, das Schöne vom Angenehmen zu unterscheiden. Darum erwägt Kant hier zwei verschiedene Gesichtspunkte; der eine spricht dafür, daß wir es bei der Musik und der Farbenkunst nur mit dem Angenehmen zu tun haben; der andere Gesichtspunkt legt nahe, daß die Empfindungen, um die es hier geht, schon als solche mit Schönheit verbunden sind. Dafür, daß wir es hier nur mit dem Angenehmen zu tun haben, spricht der Umstand, daß es, rein physiologisch gesehen, die Wirkungen der Schnelligkeit der Luft- bzw. der Lichtbewegungen auf unseren Gehör- und Gesichtssinn sind, die empfunden werden. Bei dieser Betrachtungsweise wird aber übersehen, sagt Kant, daß die Wirkung der Schnelligkeit der Luft- bzw. der Lichtbewegungen auf unseren Gehör- und Gesichtssinn auch mit einer Zeiteinteilung verbunden ist, die die Luft- und Lichtbewegungen zu einer Ganzheit komponiert hat. Derartige Empfindungen sind also unlöslich mit Form verknüpft und können deshalb als Substrat für ein reines ästhetisches Geschmacksurteil in Frage kommen. Wie schon bei der Übersicht über Kants Einteilung der schönen Künste erwähnt wurde, so kommt in seiner Klassifikation eine „Restgruppe“ von Künsten vor. Das heißt, Künste wie Gesang, Oper und Trauerspiel waren zu Kants Zeit als schöne Künste etabliert und anerkannt, aber da sie in keiner direkten Weise aus seinem Prinzip der Einteilung der schönen Künste folgen, konnte er sie nur dadurch in seinem System aufnehmen, daß er sie als Kombinationen aus den eigentlichen Künsten bestimmte. Es geht jedenfalls sehr klar hervor, daß Kant der Meinung ist, daß je mehr die Materie der Empfindungen sich bei den schönen Künsten bemerkbar
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macht, desto mehr diese Kunstart „bloß auf Genuß angelegt“ ist (326). Die Lust darf also als Bestimmungsgrund des reinen ästhetischen Geschmacksurteils nur insofern die Grundlage abgeben, als sie zur Kultur beiträgt und den Geist zu Ideen stimmt. Der Bestimmungsgrund des reinen ästhetischen Geschmacksurteils muß zwar „ein selbständiges Wohlgefallen“ (326) sein, wenn aber „die schönen Küste nicht nahe oder fern mit moralischen Ideen in Verbindung gebracht werden“, so wird die Kunst zum bloßen Genuß und der Geist wird stumpf. Die damit angedeutete Affinität der ästhetischen Ideen mit den moralischen soll sich als durchaus zentral herausstellen, wenn Kant sich nun in § 53 die Aufgabe setzt, eine Vergleichung des ästhetischen Werts der schönen Künste untereinander zu behandeln. Wie ist aber eine solche Aufgabe anzugreifen? Ja, ist sie von Kants Bestimmung der Schönheit aus überhaupt sinnvoll? Warum hat Kant, der doch sonst so methodisch umsichtig ist, nicht die Neuartigkeit und Schwierigkeit dieser Aufgabe eigens bedacht? Vielleicht weil es zuallererst so aussieht, als ergebe sich der Wertgesichtspunkt direkt aus dem Prinzip der Gliederung der schönen Künste. Dieser Anschein kann aber nur deswegen entstehen, weil im Laufe der Kantischen Darstellung die Schönheit nicht mehr mit dem reinen ästhetischen Geschmacksurteil gleichgesetzt, sondern als „Ausdruck ästhetischer Ideen“ (320) bestimmt wird. Und hinsichtlich eines Ausdrucks ist es durchaus sinnvoll, einen komparativen Gesichtspunkt anzulegen und z. B. zu sagen, in der Dichtkunst lasse sich eine ästhetische Idee besser ausdrücken als in der Musik. Von den Künsten, die in Kants Systematik der schönen Künste vorkommen, sind es allerdings nur die Dichtkunst und die Musik, deren ästhetischer Wert ausführlich erörtert wird. Die anderen werden überhaupt nicht, oder – wie die Malerei – nur sehr knapp erwähnt. Man kann das als eine gravierende Inkonsequenz der Kantischen Darstellung auffassen oder es nur als ein Zeichen dafür nehmen, wie wenig theoretische Bedeutung Kant seiner eigenen Systematik der schönen Künste beigemessen hat. Den hohen ästhetischen Wert der Dichtkunst sieht Kant vor allem darin, daß sie „fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdankt und am wenigsten durch Vorschrift oder durch Beispiele geleitet sein will“ (326). Für diese Sonderstellung der Dichtkunst unter den schönen Künsten gibt Kant aber keine Gründe an. Genie, keine Vorschriften und Beispiele sind doch Charakteristika, die eng mit der Eigenart des reinen ästhetischen Geschmacksurteils verknüpft sind, nämlich: „Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt“ (219). Diese Charakteristika dürften darum für alle schöne Kunst als solche gelten und nicht nur für die Dichtkunst.
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Dasselbe gilt für die anderen Wertgesichtspunkte, die Kant hier anführt: „die Einbildungskraft in Freiheit setzen“ und „Darstellung einer Gedankenfülle, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist“ (326). Wenn der ästhetische Wert einer Kunst sich aber daran mißt, daß sie den Ausdruck einer ästhetischen Idee vermittelt, und Kant eine ästhetische Idee als „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann“ (314), bestimmt, dann würde doch wohl der Musik die erste Stelle unter den schönen Künsten zukommen? Wenn Kant trotzdem die Dichtkunst an erste Stelle setzt, dann deswegen, weil sie sich für ihren Ausdruck der Worte bedient und nicht der Töne. Die Freiheit (das Spiel) der Einbildungskraft, die die Dichtkunst bewerkstelligt, löst diejenige starre Verbindung von Wort und Begriff auf, womit unser Verstand sonst immer arbeitet, und belebt dadurch das Gemüt zu einer größeren Gedankenfülle. Die Musik verrichtet ihr Werk mit Tönen, und Töne können zwar auch eine Gedankenfülle erwecken, aber ohne gleichzeitig mit Begriffen verbunden zu sein. Die Musik spricht – wie Kant sagt – „durch lauter Empfindungen ohne Begriffe“. Bei der Dichtkunst ergibt sich nämlich die Gedankenfülle, die durch die Freiheit der Einbildung hergestellt wird, als Auflösung einer schon bestehenden Verbindung von Wort und Begriff. Die ästhetischen Ideen, die die Dichtkunst veranlaßt, sind zwar „inexponible Vorstellungen“, aber als solche nicht ganz ohne Bezug auf Begriffe. Die ästhetischen Ideen, die durch die Musik veranlaßt werden, sind ohne vorausgehende Leitung durch Wort/ Begriff entstanden, sie machen eine „unnennbare Gedankenfülle“ (329) aus, und geben darum auch überhaupt keinen Ansatzpunkt her, von dem aus der Verstand versuchen könnte, sie mit Begriffen zu bestimmen. Für Kant ist es das Hin und Her zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit, das der ästhetischen Idee ein Vernunftinteresse sichert. Wenn die Unbestimmtheit nur eine „unnennbare Gedankenfülle“ und also keine mögliche Bestimmtheit ist, dann überwiegt das ästhetische Moment dermaßen, daß eine solche Kunst nicht mehr im Rahmen der Vernunft lokalisierbar ist. Es ist Kant aber nicht verborgen geblieben, daß die Musik einen ganz besonderen Vorzug gegenüber den anderen schönen Künsten hat, nämlich, daß sie allgemein mitteilbar und verständlich ist. Und die allgemeine Mitteilbarkeit macht doch ein wesentliches Moment des reinen ästhetischen Geschmacksurteils und damit auch der Schönheit aus. Auch von diesem Gesichtspunkt her gesehen, dürfte die Musik auf den ersten Rang unter den schönen Künsten Anspruch erheben.
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Die Einteilung und die ästhetische Wertschätzung der verschiedenen schönen Künste schließt Kant in § 54 mit einer Reihe Anmerkungen ab. Beim ersten Durchlesen scheinen diese Anmerkungen recht wenig mit den schönen Künsten zu tun zu haben. Finden wir hier doch Bemerkungen zu Epikur, körperlicher Gesundheit, Glücksspiel, Witz und Lachen, launige Manieren und dergleichen. Wenn in der Kommentarliteratur diese Anmerkungen überhaupt erwähnt werden, dann meistens abschätzend. Aber vielleicht sollte man sie lieber als Hinweis darauf sehen, wie Kant damit „reveals a wider interest in assimilating his theory of beauty into a broader consideration of aesthetic experience“ (Wicks 2007, 141). Die einzige von den vorher abgehandelten schönen Künsten, die in diesem Paragraphen vorkommt, ist die Musik. Kant scheint also irgendwie mit der Musik nicht fertig zu werden. Und dies um so mehr als er hier einige Überlegungen anstellt, die an seiner strikten Trennung von dem Schönen, das in der Reflexion seinen Grund hat, und dem Angenehmen, das in der Empfindung seinen Grund hat, rütteln. Zuerst erinnert er an seine eigene Differenzierung, indem er sagt: „Zwischen dem, was bloß in der Beurteilung gefällt, und dem, was vergnügt (in der Empfindung gefällt) ist, wie wir oft gezeigt haben, ein wesentlicher Unterschied“ (330). Der bestimmende Grund dieser Unterscheidung war die Sorge um die Reinheit und die damit zusammenhängende Allgemeingültigkeit des ästhetischen Geschmacksurteils. Selbst bei dieser Reinheit und Allgemeingültigkeit handelt es sich allerdings um ein ästhetisches Geschmacksurteil, „dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann“ (203). In einem ästhetischen Geschmacksurteil „wird die Vorstellung gänzlich auf das Subjekt und zwar auf das Lebensgefühl desselben, unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust, bezogen“ (204). Wie das Subjekt durch die Vorstellung affiziert wird und sich selbst fühlt, kann darum aus einem ästhetischen Urteil nicht weggedacht werden. Es handelt sich nur darum, inwieweit das Wohlgefallen mit Interesse verbunden wird oder ob ein interesseloses (und darum reines) Wohlgefallen vorliegt. In Verbindung mit einem ästhetischen Geschmacksurteil wirken sich die Empfindungen insofern negativ aus, als sie Interesse mit sich führen und darum die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Geschmacksurteils beeinträchtigen. Durch ihre enge Verknüpftheit mit dem Lebensgefühl des urteilenden Subjekts wirken sie sich jedoch eher positiv aus. Ja, Kant geht hier nun so weit, daß er sagt: „Vergnügen […] scheint jederzeit in einem Gefühl der Beförderung des gesamten Lebens des Menschen, mithin auch des körperlichen Wohlbefindens, d. i. der Gesundheit zu bestehen“ (331). Und noch besser ist es, wenn die Empfindungen ein freies Spiel ausma-
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chen, „ohne daß man nötig hätte, interessierte Absicht dabei zu Grunde zu legen“ (331). Und Kant zufolge ist das eben bei der Musik der Fall. In der Musik finden wir ein Spiel „mit ästhetischen oder auch Verstandesvorstellungen, wodurch am Ende nichts gedacht wird, und die bloß durch ihren Wechsel und dennoch lebhaft vergnügen können“ (332). Hier geht es dann nicht mehr wie im reinen ästhetischen Geschmacksurteil nur um die Belebung des Verstandes durch das freie Spiel des Verstandes und der Einbildungskraft, sondern um die Belebung des ganzen Menschen, d. i. sein Lebensgefühl. Kant meint, daraus folgern zu können, daß das Vergnügen, das aus dem Spiel solcher interesselosen Empfindungen resultiert, weder der Achtung für moralische Ideen noch dem edlen Geschmack Abbruch tun muß.
Literatur D’Alembert, Jean Baptiste le Rond/Diderot, Denis 1751–72: Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Paris; ND Stuttgart/Bad-Cannstatt 1966/67. Barasch, Moshe 1990: Modern Theories of Art 1: From Winckelmann to Baudelaire, New York. Batteux, Charles 1746: Les beaux arts reduits à un même principe, Paris. Bosanquet, Bernard 1892: A History of Aesthetic, London. Cadenbach, Rainer 2004: Gartenkunst und Musik. Mutmaßungen zu ihrer Assoziation in 14 Textstellen bei Kant, in: U. Schneider, J. Wolschke-Bulmahn (Hrsg.), Gegen den Strom. Gert Grönig zum 60. Geburtstag, Hannover, 39–56. Dubos, Jean-Baptiste 1719: Reflexions critiques sur la poésie et la peinture, Paris. Herder, Johann Gottfried 1769: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften, Erstes Wäldchen, Herrn Leßings Laokoon gewidmet, Riga; auch in: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. J. Brummack, M. Bollacher, Frankfurt/M. 1994, Bd. 2, 63-245. Kristeller, Paul O. 1964: Renaissance Thought and the Arts. Expanded Edition with a New Afterword, Princeton 1990. Mendelssohn, Moses 1757: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste I.2, Leipzig, 231-268. Sulzer, Johann Georg 1771/74: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig, 2 Bde.; ND Hildesheim 1967/70. Wicks, Robert 2007: Kant on Judgement, London/New York.
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Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft und die Methodenlehre des Geschmacks (§§ 55–60)
Nachdem Kant in § 55 den Begriff einer Dialektik der ästhetischen Urteilskraft und deren Problemstellung als die Frage nach dem Prinzip der Geschmacksurteile erläutert hat, stellt er in § 56 die „Antinomie des Geschmacks“ vor im Widerspruch der These: „Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffen“ und der Antithese: „Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffen“. In § 57 löst er diese Antinomie als scheinbar auf, indem er zeigt: Es besteht hier gar kein Widerspruch. Die Antinomie des Geschmacks muß richtig heißen: These: „Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf bestimmten Begriffen“; Antithese: „Das Geschmacksurteil gründet sich doch auf einem, obzwar unbestimmten, Begriffe“. Als den fraglichen unbestimmten Begriff nennt Kant das übersinnliche Substrat des Begriffs von transzendentaler Freiheit. – In § 58 erläutert Kant, daß ein „Idealismus der Zweckmäßigkeit“ den Bezugspunkt jenes Begriffs von transzendentaler Freiheit bilde, auf den Geschmacksurteile als auf ihren unbestimmten Begriff Bezug nehmen. – In § 59 erhärtet er in der Bestimmung des Schönen als Symbol des Sittlichguten den Bezug der Geschmacksurteile auf den unbestimmten Begriff von Freiheit und gibt dabei im Begriff des Symbols als versinnlichender Darstellung eine bis dahin nicht behandelte, über die Kritik der Urteilskraft hinaus methodisch aussagekräftige Spezifizierung der Leistungen reflektierender Urteilskraft. – Der § 60 umreißt auf dieser Grundlage den bildungstheoretischen Kontext einer „Propädeutik zu aller schönen Kunst“ (355).
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§ 55 In § 55 gibt Kant zunächst den vollständigen Begriff der in der Überschrift angekündigten „Dialektik der [Kritik der] ästhetischen Urteilskraft“. Die fragliche Dialektik hat es demnach nicht sachlich mit dem Geschmack selbst zu tun; sie betrifft vielmehr allein die theoretische Geltungsebene einer „Kritik des Geschmacks“ (337) im Hinblick auf die „Prinzipien“, auf die sich Geschmacksurteile als auf den „Grund“ ihrer Möglichkeit „überhaupt“ beziehen können. Insofern in dieser Frage „widerstreitende Begriffe natürlicher und unvermeidlicher Weise auftreten“, die sich in einer Antinomie der Prinzipien des Geschmacks artikulieren und so dazu veranlassen, Zweifeln an dessen innerer Möglichkeit als eines gesetzgebenden Vermögens nachzugehen, gehört zu einer „transzendentalen Kritik des Geschmacks“ auch ein Teil, „der den Namen einer Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“ führen kann. Auf die damit bestimmte Ebene der Auseinandersetzung haben wir es bereits zu beziehen, wenn Kant zu Beginn des § sagt: „Eine Urteilskraft, die dialektisch sein soll, muß zuvörderst vernünftelnd sein“ und den Ausdruck „vernünftelnd“ durch den Anspruch der Urteile auf apriorische Allgemeinheit erläutert. In den früheren kritischen Schriften hatte Kant von diesem Ausdruck einen auffallend pejorativen Gebrauch gemacht: z. B. in Formulierungen wie durch bloße Begriffe etwas „weg vernünfteln“ (KrV B 468; vgl. auch B xxxi; 325) und „wider […] strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln“ (GMS IV 405). Diese Bewertung scheint in der Kritik der Urteilskraft einer neutralen Spezifizierung gewichen (vgl. bereits § 34: 285 f.). Die Anmerkung in § 55 unterscheidet überdies das „vernünftelnde[] Urteil (iudicium ratiocinans)“ vom „Vernunfturteil (iudicium ratiocinatum)“ als eines, das sich bloß „als allgemein ankündigt“ und „insofern“ schon als Obersatz in einem Vernunftschluß tauglich ist (vgl. dazu auch VIII 414), während das zweite als durch einen Vernunftschluß „als a priori gegründet“ gedacht wird. Die Pointe der Bestimmung: Um die reklamierte Dialektik der ästhetischen Urteilskraft in Gang setzen zu können, ist es nicht erforderlich, von bereits begründeten Vernunfturteilen auszugehen; es reichen Urteile, die mit einem noch zu prüfenden Anspruch auf Allgemeinheit auftreten – und der Gebrauch der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft impliziert in dem, was Kant später ihre Maximen nennt (s. u.), solche Urteile.
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§ 56 Vorstellung der Antinomie des Geschmacks und § 57 Auflösung der Antinomie des Geschmacks In der Sache greift Kant mit der Vorstellung der Antinomie des Geschmacks in den §§ 56 f. zurück auf das zweite Moment des Geschmacksurteils über das Schöne, das Moment der Allgemeinheit ohne Begriff. Die Antinomie besteht in den einander widersprechenden Grund-Sätzen „1) Thesis. Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffen; denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch Beweise entscheiden) 2) Antithesis. Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffen; denn sonst ließe sich […] auch nicht einmal streiten (auf die notwendige Einstimmung anderer mit diesem Urteile Anspruch machen)“ (338). Aufschlußreich für das Verständnis der Differenz von „streiten“ und „disputieren“ war bereits in § 7 der „Analytik des Schönen“ die Stelle, wo es mit Blick auf die bloß subjektiven, nicht der Verallgemeinerung fähigen Urteile des Sinnengeschmacks zunächst heißt: „Darüber in der Absicht zu streiten, um das Urteil anderer, welches von dem unsrigen verschieden ist, gleich als ob es diesem logisch entgegen gesetzt wäre, für unrichtig zu schelten, wäre Torheit“ (212). In der Einsicht, daß Streit immer möglich ist, wo wir nur auf die notwendige Einstimmung anderer mit unserem Urteil Anspruch machen, geht es offenbar um dessen Spezifizierung: Nur insofern er in der Absicht geführt wird, zudem eine logisch begründete Entscheidung herbeizuführen, hält ihn Kant hier für Torheit. Der Unterschied zwischen Streiten und Disputieren stellt sich mithin als der zwischen genus proximum und differentia specifica dar: Disputieren ist nämlich laut der These des § 56 diejenige Art des Streitens, bei der konsensuell auf einen logisch entscheidbaren, also: auf Begriffe gestützten Geltungsanspruch der strittigen Urteile Bezug genommen wird. Den mit der Antinomie gesetzten Widerspruch löst Kant nach bewährtem Muster (vgl. KrV B 472–479, B 560–586; KpV V 113 ff.) als scheinbar auf, indem er „zeigt: der Begriff, worauf man das Objekt in dieser Art Urteile bezieht, werde in beiderlei Maximen der Urteilskraft nicht in einerlei Sinn genommen“ (339). Mit der Präzisierung der Rede bloß von „Begriffen“ überhaupt wird die angemessen differenzierte Fassung der Antinomie vorgestellt: „In der Thesis sollte es daher heißen: Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf bestimmten Begriffen: in der Antithesis aber: Das Geschmacksurteil gründet sich doch auf einem, obzwar unbestimmten, Begriffe“ (340). Erläuterungsbedürftig ist hier zunächst Kants Rede von den „beiden Maximen der ästhetischen Urteilskraft“ (339). Unter einer Maxime versteht
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Kant in der praktischen Philosophie den „Grundsatz, nach dem das Subjekt handelt“ (GMS IV 421), die subjektive Handlungsregel im spezifischen Unterschied zum objektiven, da allgemeingültigen praktischen Gesetz (IV 420; s. Höffe 1983; Thurnherr 1994; Esser 2004, 273–312). Da er entsprechend seinem methodischen Ansatz bei der Selbsttätigkeit des Subjekts auch die epistemischen Vernunftleistungen nach der Art von Handlungen konzipiert, kann er den Maximenbegriff auf theoretische Leistungen übertragen, wie es in § 40 bei der Formulierung von „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ (294) und hier im Blick auf Reflexionsakte der Urteilskraft geschieht (vgl. Kaulbach 1978; Recki 2001, 114–130). Maximen der ästhetischen Urteilskraft sind dann die als Prinzipien gedachten Regeln von deren Gebrauch, die in These und Antithese der Antinomie formuliert sind (s. auch § 59: 353). Durch die Richtigstellung der Antinomie wird auch das präzisiert, was Kant in der „Analytik des Schönen“ geltend gemacht hatte: Das ästhetische Urteil, mit dem wir den anderen zumuten bzw. ihnen ansinnen, ja von ihnen fordern, dasselbe Wohlgefallen zu fühlen wie wir selber, mache darin Anspruch auf eine Allgemeinheit ohne Begriff (vgl. § 7: 212 f.; s. auch die „Deduktion“). Denn nunmehr sieht er das Geschmacksurteil auf einen unbestimmten Begriff gegründet, welchen er als den „transzendentale[n] Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen, was [der] Anschauung zum Grunde liegt“; als „Begriff[] (eines Grundes überhaupt von der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urteilskraft)“; als das „übersinnliche Substrat der Menschheit“ (340) bzw. die „unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns“ (341) bezeichnet. Aufgenommen ist mit diesen vorläufigen, rein formalen Bestimmungen des gesuchten unbestimmten Begriffs der Rekurs auf die Idee einer allgemeinen Stimme, die nach der Analyse des Geltungsanspruchs von ästhetischen Urteilen aus diesen spreche und die Kant dazu veranlaßt hatte, den Geschmack als eine Art von sensus communis zu explizieren (237 ff., 293 ff.). Es muß nun expliziert werden, als was dieses übersinnliche Substrat zu denken ist – um welchen Begriff es sich dabei handelt. Kant läßt in „Anmerkung I“ zu diesem Zweck noch einmal Revue passieren, welche Arten von Begriffen er bis dahin bereits untersucht hat – den (demonstrablen) Verstandesbegriff, der sich „jederzeit“ auf einen in der Anschauung gegebenen Gegenstand beziehen muß (342 f.); die (indemonstrable) Vernunft idee, die „einen Begriff (vom Übersinnlichen) enthält, dem niemals eine Anschauung angemessen gegeben werden kann“; schließlich die erst in der dritten Kritik eingeführte (inexponible) ästhetische Idee (s. § 49) – „eine Anschauung (der Einbildungskraft)“, der „niemals ein Begriff adäquat
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gefunden werden kann“ (342; vgl. § 49: 314). Im Zuge dieser Ausführung sagt Kant, daß das in Frage stehende übersinnliche Substrat nichts anderes sein könne als der „Vernunftbegriff“ von der „transzendentalen Freiheit“ (348) – nach „Anmerkung I“ ein indemonstrabler Vernunftbegriff (vgl. 342), den wir seit der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft im Ausgang von der Frage nach einer „absolute[n] Spontaneität der Ursachen“ als den basalen, vormoralischen Begriff der Freiheit kennen (KrV B 475 f., vgl. B 478), den Kant auch als Freiheit im negativen Verstande umschreibt und für den er seitdem den Begriff der Willkür(freiheit) reserviert (vgl. KpV V 33; vgl. GMS IV 446 f.). Der damit gestellte Anspruch ist in jeder Hinsicht erläuterungsbedürftig – am auffälligsten darin, daß wir in diesem Vernunftbegriff der transzendentalen Freiheit nicht nur, wie eingangs postuliert, das übersinnliche Substrat der Menschheit, sondern zugleich „das intelligible Substrat der Natur außer uns und in uns“ zu erkennen hätten (345). Der Klärung dieser beiden Probleme sind die folgenden §§ 58 und 59 gewidmet. Während das Problem, das mit Freiheit als übersinnlichem Substrat der Menschheit aufgegeben ist, durch eine Interpretation des § 59 aufgelöst werden kann, verweist Freiheit als das intelligible Substrat der Natur außer uns und in uns auf die den beiden Teilen der dritten Kritik gemeinsame Intention, die im § 58 „Vom Idealismus der Zweckmäßigkeit“ zwar angesprochen, deren spekulative Dimension aber erst in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ erfüllt wird: Daß transzendentale Freiheit auch als das intelligible Substrat der Natur außer uns gedacht werden kann, erschließt sich nicht aus dem analytischen Kontext der Ästhetik, sondern aus der in der „Einleitung“ zur dritten Kritik in der Frage nach dem Übergang von Natur und Freiheit geäußerten, hier reflexiv einzuholenden systematischen Absicht, die Natur in der Reflexion auf ihre zweckmäßige Verfassung als vernünftig zu denken. Eine zweckmäßige Natur, die – wie Kant in § 10 der „Analytik des Schönen“ in der Definition des Zweckbegriffs generell ermittelt hat – mithin auf das Wirken eines Willens zu beziehen ist, wäre insofern auch eine Natur, in der Freiheit als intelligibles Substrat angenommen werden muß. Diesen zunächst noch abstrakten Vorgriff bestätigt die Reflexion auf die Zweckmäßigkeit der Natur in sachlicher Hinsicht: Eine zweckmäßige Natur wäre ein solches System der Zwecke, das wir als den vernünftigen Kontext unserer eigenen Vernunftbetätigung begreifen dürften, indem wir darin durch die Implikation eines Zwecke setzenden Willens eine der unseren kompatible Handlungsrationalität am Werke denken.
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§ 58 Vom Idealismus der Zweckmäßigkeit der Natur sowohl als Kunst, als dem alleinigen Prinzip der ästhetischen Urteilskraft Der Abschnitt über den Idealismus der Zweckmäßigkeit bietet ein wichtiges Element zur Kontextualisierung dieses Gedankens. Mit dem Thema der Antinomie des Geschmacks ist nämlich in zweifacher Hinsicht der Begriff der Zweckmäßigkeit auf dem Plan: 1. weil es die Zweckmäßigkeit im Zusammenwirken zweier apriorischer Erkenntniskräfte in einem freien Spiel war, worauf sich nach dem Befund der „Analytik des Schönen“ der Anspruch des ästhetischen Urteils auf Allgemeinheit und Notwendigkeit gründete (s. 226 f., 236, 351); 2. in spekulativer Hinsicht auf eine zweckmäßige Natur. Kant unterscheidet zunächst systematisch von einem in der „Analytik des Schönen“ bereits verworfenen „Empirismus“ der Geschmackskritik, dessen Theorie sich auf das Angenehme (346) als das Objekt eines bloßen je privaten „Sinnengeschmacks“ (205 ff.) beziehen würde, den „Rationalismus“, der nur in seiner vorläufigen Form zu einer Verwechslung des Schönen mit dem durch Begriffe bestimmten Guten führen muß. Die Revision der Antinomie – das Geschmacksurteil auf einen unbestimmten Begriff zu gründen – eröffnet dagegen die Möglichkeit, das ästhetische Wohlgefallen auf der Basis eines (differenzierten) Rationalismus zu erörtern. In der Gegenüberstellung eines „Idealismus der Zweckmäßigkeit“ mit einem „Realismus der Zweckmäßigkeit“ stellt Kant sodann sicher, daß die Anknüpfung für die Frage nach dem exponierten übersinnlichen Substrat allein jener Begriff der subjektiven als der bloß formalen Zweckmäßigkeit sein kann (ad 1.), den er in den §§ 10–15 der „Analytik des Schönen“ entwickelt hat: einer (fühlbaren) Zweckmäßigkeit im Zusammenwirken der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand im ästhetischen Urteil über das Schöne. Zugleich gibt ihm aber die Erläuterung des wiewohl an dieser Systemstelle auszublendenden „Realismus der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur“ (347) die Gelegenheit zu einem Vorgriff auf die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“: In der anschaulichen Reflexion auf die Schönheit der Kristalle verbreitert Kant die Evidenzbasis für seine Spekulation auf die Zweckmäßigkeit der Natur im Blick auf ihre (nicht allein organischen) Bildungen (348 ff.).
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§ 59 Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit Der § 59 erläutert daraufhin, wie in einem jeden ästhetisch reflektierenden Urteil über das Schöne auf den „Vernunftbegriff“ von der „transzendentalen Freiheit“ (348) als dessen übersinnliches Substrat Bezug genommen wird.
1. Kants Begriff der Symbolisierung Das richtige Verständnis des Theorems von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit – innerhalb dessen Kant sich ungeachtet seiner eigenen Differenzierung zwischen Moralität und Legalität als Elementen der Sittlichkeit durchweg auf Moralität konzentriert – hängt am Begriff der Symbolisierung. Zu Beginn des § 59 erläutert Kant, was er unter einem Symbol versteht: Das Symbol ist eine Form der Darstellung (Hypotypose), und zwar die „Versinnlichung“ (351) – man darf im Anschluß an seine Ausführungen auch sagen: die Veranschaulichung – eines Abstraktums. Wenn Kant hier formuliert: „Alle Hypotypose (Darstellung[…]) als Versinnlichung ist zwiefach“, dann heißt dies: Es gibt zwei Arten von Darstellung; Kant unterscheidet die symbolische von der schematischen: Beide beziehen sich auf apriorische Begriffe, die schematische auf reine Verstandesbegriffe, die symbolische auf reine Vernunftbegriffe, also Ideen. Durch diese Zuspitzung auf die symbolische Darstellung von Ideen ist der Zusammenhang hergestellt zu dem in § 57 erhobenen Anspruch, das Geschmackurteil sei auf das übersinnliche Substrat einer Vernunftidee gegründet. „Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten“, erklärt Kant im Anschluß an diese epistemologische Differenzierung und erläutert mit Blick auf das Vermögen der Urteilskraft zu ästhetischer Reflexion: „In diesem Vermögen sieht sich die Urteilskraft nicht, wie sonst in empirischer Beurteilung einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterworfen: sie gibt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermögens tut“ (353, letzte Herv. v. m.). Nach dem ausdrücklichen Hinweis auf die Autonomie der Urteilskraft im Hinblick auf das Schöne ist die entscheidende Erläuterung im Vergleich mit der autonomen Gesetzgebung der Vernunft zu sehen: Das „so wie“ enthält den Funktionssinn dessen, was Kant als Verfahren analogischer Reflexion im Begriff der Symbolisierung faßt. An seinen berühmten Beispielen von der Handmühle, die ein Symbol für einen absolutistischen Staat abge-
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ben, und dem beseelten Körper, der einen „nach inneren Volksgesetzen“ regierten Staat symbolisieren könne, macht Kant auch anschaulich klar, worin nach seinem Begriff das Wesen der Symbolisierung besteht: „Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren“ (352, Herv. v. m.). Die Ähnlichkeitsbeziehung, die ein Symbol indiziert, ist mithin „analogisch“; sie besteht „nicht dem Inhalte nach“, sondern im Hinblick auf die „Regel des Verfahrens“ oder: die „Form der Reflexion“ (351, Herv. v. m.). Das Symbol leistet eine „indirekte Darstellung[]“. Die Eigenart der symbolischen Verweisung besteht demnach in einer „Analogie […], in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden […] wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält“ (352, vgl. bes. 351). Mit dem doppelten Geschäft ist keine mehrfache Reflexivität gemeint, sondern die Abfolge von Bestimmung und Reflexion. Bezogen auf das Beispiel und unter Anwendung der unscheinbaren, aber entscheidenden Vergleichspartikel ergibt sich hier die Aussage: Wir reflektieren über den Mechanismus eines despotischen Staates so wie über den einer Handmühle. Es verdient festgehalten zu werden, daß Kant damit, kaum daß der Begriff der reflektierenden Urteilskraft terminologisch eingeführt ist, bereits eine über die definitorischen Textstellen in der „Einleitung“ zur Kritik der Urteilskraft hinausgehende Spezifizierung der Leistungen reflektierender Urteilskraft gibt. Nicht die Ähnlichkeit zwischen dem Schönen und dem Guten ist mit Kants Analogieformel also behauptet, sondern die Ähnlichkeit in den Weisen, über beide zu reflektieren. Doch wenn die These vom Schönen als Symbol des Sittlichguten nicht mehr besagen sollte als schlechthin Ähnlichkeit, dann könnte ebenso die Umkehrung gelten, das Sittlichgute wäre das Symbol des Schönen. Das aber ist nicht gemeint. Wenn der Charakter der Symbolisierung „vermittelst einer Analogie […], in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet“ (352), richtig begriffen werden soll, so besagt dies zugleich ein Abstraktionsgefälle der symbolischen Relation. Die Symbolisierung leistet die Versinnlichung eines Abstrakten: Im Medium der Anschaulichkeit soll etwas rein Begriffliches zur Darstellung kommen, also konkret gemacht werden.
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2. Symbol als Metapher. Zu Tragweite, Wert und systematischer Bandbreite symbolischen Denkens bei Kant Hans Blumenberg hat in seiner systematischen Argumentation für Metaphorologie als philosophische Hilfsdisziplin den § 59 der Kritik der Urteilskraft zu einem methodischen Grundlagentext des Verständnisses der Metapher erklärt (Blumenberg 1960). Tatsächlich klingt in der zuletzt zitierten Funktionsbeschreibung der analogischen Reflexion (352) die Aristotelische Übertragung einer Bedeutung in einen anderen Bereich an, und es ergibt einen guten Sinn, hier den Nukleus einer Theorie der Metapher zu sehen. Kants weitere Ausführungen bekräftigen dies: An zwei Stellen des § 59 führt er zur Erläuterung des soeben entwickelten Begriffs offensichtliche Beispiele für Metaphern an – an der ersten Stelle in der philosophischen Terminologie: „So sind die Wörter Grund (Stütze, Basis), Abhängen (von oben Gehalten werden), woraus Fließen (statt Folgen), Substanz (wie Locke sich ausdrückt: der Träger der Akzidenzien) und unzählige andere nicht schematische, sondern symbolische Hypotyposen und Ausdrücke für Begriffe nicht vermittelst einer direkten Anschauung, sondern nur nach einer Analogie mit derselben, d. i. der Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff“ (352 f.). An der zweiten Stelle, am Ende des § 59, stellt Kant in demselben Sinne das Einvernehmen mit dem alltäglichen Sprachgebrauch in der Verwendung ethisch tendierender Ausdrücke her, indem er sagt: „Die Rücksicht auf diese Analogie ist auch dem gemeinen Verstande gewöhnlich […]. Wir nennen Gebäude oder Bäume majestätisch und prächtig, oder Gefilde lachend und fröhlich; selbst Farben werden unschuldig, bescheiden, zärtlich genannt, weil sie Empfindungen erregen, die etwas mit dem Bewußtsein eines durch moralische Urteile bewirkten Gemütszustande Analogisches enthalten“ (354). Diese Beispiele für das Analogieverfahren schärfen den Blick für den methodisch grundlegenden Status der Reflexion des § 59 und für Kants Metapherngebrauch an anderen Stellen der Vernunftkritik: In der Bestimmung des Schönen als Symbol des Sittlichguten ist nicht allein exemplarisch die systematische Möglichkeit und Methode der Darstellung von Vernunftideen behandelt – Kant gibt darin auch die Grundlegung jener Methode des kritischen „Als-ob“, welche die Kritik der Urteilskraft wie ein Leitmotiv der Reflexion durchzieht und die er hier im § 59 explizit als die Leistung der reflektierenden Urteilskraft ausweist. Unablässig betont Kant, das teleologische Urteilsprinzip sei und gründe keine Erkenntnis, sondern lediglich ein heuristisches Prinzip des reflektierenden Urteilens: Wir könnten – und müßten gemäß einem unabweisbaren Bedürfnis der Vernunft – die Natur
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denken, als ob sie zweckmäßig wäre, mit anderen Worten so wie einen durch einen zwecksetzenden Willen bestimmten Handlungskontext. Doch nicht erst die Teleologiekritik, indem sie die Annahme von Zweckmäßigkeit in die Klammer eines erkenntniskritischen Vorbehalts setzt, schon die praktische Philosophie kennt ausdrücklich diese Anweisung zur analogischen Reflexion. So wird die „Typik der reinen praktischen Urteilskraft“ in der KpV mit ihrer Erläuterung des Anspruchs, das Sittengesetz so wie ein Naturgesetz zu denken, als Leistung der reflektierenden Urteilskraft methodisch überhaupt erst verständlich (vgl. Recki 2001). Und wenn es schließlich in § 59 heißt: So „ist alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch“ (353), so greift dies vor auf die Bestimmungen in der Religion, durch die Kant die christliche Menschwerdung Gottes als ein Symbol – als die Personifizierung der Idee moralischer Vollkommenheit – deutet, wobei das Verfahren hier ausdrücklich als ein „Schematismus der Analogie“ (VI 65 FN) angesprochen wird (s. VI 60 ff., vgl. auch 80, s. Munzel 1991, 301 f. u. 291–316; vgl. Höffe 2003, 319–330). Allein – welchen Status mißt Kant der hier analysierten Symbolisierung zu? Ebenso wie in der Stelle zur bloß symbolischen „Erkenntnis von Gott“ (353) scheint die symbolische Darstellung in § 59 wiederholt durch die Wörter „nur“ und „bloß“ abgewertet. Von der Schematisierung des Begriffs in der Anschauung setzt Kant die symbolische Darstellung mit den Hinweisen ab, sie sei „bloß analogisch“ (351). In der Erläuterung durch das Beispiel heißt es, der Staat werde in beiden Fällen „nur symbolisch vorgestellt“. – Nicht „das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion“ enthalten nach Kants Generalisierung alle metaphorischen Ausdrücke (352, Herv. v. m.). Sollen diese Einschränkungen eine Abwertung des Symbolischen anzeigen? Es ist die in der Stelle über Gott explizite Anspielung auf die eigentliche Bedeutung des Erkenntnisbegriffs, die hierauf die Antwort enthält: Wo immer Kant das symbolische Verfahren der Darstellung derart zurückstuft, da wird es am epistemologisch maßgeblichen Begriff von empirischer Erkenntnis als Erfahrung gemessen, an einer Erkenntnis mithin, die sich, wie noch „Anmerkung I“ zu § 57 in Erinnerung gerufen hat, aus den beiden Komponenten von sinnlicher Anschauung und rationalem Begriff zusammensetzt. In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant mit Hinweis auf diese beiden Quellen alle Erkenntnis auf den Maßstab des Empirischen verpflichtet. Es war im Hinblick auf das Ziel der Aufklärung ein wichtiger Programmpunkt, daß wir vernünftigerweise nicht mit leeren Begriffen hantieren sollten: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV B 75). Im Hinblick auf das damit behauptete epistemische Kriterium wird das
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einschränkende „bloß“ in den Formulierungen des § 59 verständlich. Ein Blick auf die Tragweite der spekulativen Reflexion auf das übersinnliche Substrat, in welcher der § 59 seinen systematischen Ort hat, kann darüber belehren, daß eine Abwertung des Symbols, dessen Leistung gerade dort liegt, wo empirische Erkenntnis unmöglich ist und Vernunftansprüche gleichwohl auf Anerkennung in irgendeiner Art von Vorstellung drängen, damit ebensowenig beabsichtigt ist wie eine Abwertung der Ideen in Kants Konzession, Freiheit sei bloß eine Idee der Vernunft (vgl. GMS IV 448 ff.) Es verdient festgehalten zu werden, daß Kant die Veranschaulichung von Ideen, von denen – wie er in der Grundlegung eingeschärft hat – keine Erfahrung möglich ist (vgl. GMS IV 459), durch symbolische Darstellung doch für möglich hält. Wenigstens in einem Falle ist dies gezeigt: Die Idee der Freiheit, an der unser vernünftiges Selbstverständnis unter dem Primat des Praktischen mehr als an allen anderen hängt, ist nicht letztlich dazu verurteilt, ein leerer Begriff zu bleiben, da die Versinnlichung von Freiheit immerhin ästhetisch, d. h. im Medium des ästhetischen Gefühls, möglich ist. In § 60 wird es (ohne daß Kants Übergang zum Plural „Ideen“ durch die Ausführungen in der „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“ gedeckt wäre) heißen, daß der Geschmack, d. i. die ästhetisch reflektierende Urteilskraft, „im Grunde ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen (vermittelst einer gewissen Analogie der Reflexion über beide) ist“ (356, Herv. v. m.).
3. Die Eigenart des ästhetischen Urteils: Freiheit im spielerischen Vollzug Es bleibt zu klären, wie wir denn über das Schöne auf der einen Seite, das Sittlichgute andererseits reflektieren, und es liegt hier die Auskunft nahe, daß die Weise, auf das Gute zu reflektieren, das moralische Urteil ist, die auf das Schöne aber in nichts anderem als dem ästhetischen Urteil besteht. Moralische Urteile als solche, in denen Handlungen im Hinblick auf die in ihnen deutlich werdende Gesinnung beschrieben, bewertet oder vorgeschrieben werden, nehmen notwendig Bezug auf die Freiheit des Handelnden, sich durch Grundsätze selbst zu bestimmen, und ebendarin auf das Sittlichgute. Wenn Kants Hinweis auf die Ähnlichkeit „zwischen den Regeln, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren“ (352), derart auf das ästhetische Urteil in seiner Analogie mit dem moralischen Urteil führt, so sind wir auf die wesentlichen Bestimmungen des Ästhetischen zurückgekommen, wie sie Kant zufolge in diesem Urteil stattfinden.
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Wir reflektieren in ästhetischen Urteilen so, daß zu einem gegebenen Besonderen von der reflektierenden Urteilskraft das Allgemeine zwar – in einer spielerischen und darin lustvollen Bewegung – gesucht, aber nicht gefunden wird, und die reflektierende Urteilskraft dazu sich selbst das Gesetz der Reflexion gibt, also: autonom ist. Für die nähere Bestimmung dieser freien Reflexion ist man an die vier Bestimmungen verwiesen, die Kant als Momente des Schönen dialektisch entfaltet. Er ruft sie stark zusammengefaßt und in leicht veränderter Gruppierung in § 59 noch einmal in Erinnerung, wo er dazu übergeht, „einige Stücke“ der in Frage stehenden Analogie anzuführen. Im Interesse der deutlicheren Darstellung sollen sie hier entlang der „Analytik des Schönen“ in Erinnerung gerufen werden. In der ästhetischen Einstellung auf den Gegenstand geht es uns, wie Kant in einer Folge von Abgrenzungen klarmacht, um seine „bloße Betrachtung“, in der wir unsere Aufmerksamkeit auf die Vorstellung als solche konzentrieren. Kant nennt diese besondere Haltung im Unterschied zu jeglicher Einstellung, welche durch unsere – sei es sinnlichen, sei es auch vernünftigen – Bedürfnisse bestimmt wäre, ein „interesseloses Wohlgefallen“. Die paradoxale Formel bedeutet, daß wir die Dinge im Rahmen einer spezifischen Einstellung von theoretischen, praktischen und pragmatischen Gesichtspunkten frei halten, um ihre bloße Form auf uns wirken zu lassen. Kant bezeichnet diese ästhetische Distanz auch als das „freie Wohlgefallen“ (§ 5: 210, Herv. v. m.). Das gesteigerte „Lebensgefühl“ (§ 1: 204) im ästhetischen Erleben sucht Kant im Begriff des „freien Spiels“ zu erläutern. Während Verstand und Einbildungskraft in der Erkenntnis des Gegenstandes die Arbeit am Begriff leisten, sind wir in der ästhetischen Reflexion von solcher Mühe entlastet. Wir unterhalten auf diese Weise jenen „Zustand eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen“ (§ 9: 217, vgl. Wachter 2006), in dem nach Kant die ästhetische Lust besteht: Das freie Spiel der Erkenntniskräfte läßt dem Subjekt nämlich in zwangloser, entlasteter und darin lustvoller Weise zum Bewußtsein kommen, wie gut diese Vermögen überhaupt zusammenstimmen. Dieses im Gefühl bestehende Bewußtsein der subjektiven Zweckmäßigkeit als der Zweckmäßigkeit, mit welcher Verstand und Einbildungskraft aufeinander eingestellt sind (§ 15: 226 ff., vgl. § 58 „Vom Idealismus der Zweckmäßigkeit“), ist gerade dadurch möglich, daß aktuell kein bestimmter Zweck von der Art verfolgt wird, wie ihn diese Erkenntniskräfte sonst verfolgen; denn sie sind in dieser freien Reflexion nicht auf den Zweck der Erkenntnis aus. Dieser spielerische Gemütszustand ist lediglich, wie es Kant ausdrückt, „auf Erkenntnis überhaupt“ bezogen (§ 9: 217), d. h. auf ihre prinzipielle Möglichkeit, die an der Harmonie ihrer Bedingungen gefühls-
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mäßig bewußt wird. „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ beschreibt in anderen Worten noch einmal den Zustand des Subjekts, der bereits in der Metapher vom „freien Spiel der Erkenntniskräfte“ thematisch ist. An diesen Bestimmungen muß auffallen, daß sich zur Charakterisierung ästhetischer Urteile auf allen Ebenen der Begriff der Freiheit aufdrängt. Schon bei der grundsätzlichen Voraussetzung in der Autonomie der reflektierenden Urteilskraft geht es um ihre Freiheit von der bestimmenden Gesetzgebung des Verstandes; sie ist die Freiheit, sich selbst die Regel der Reflexion zu geben. Kant bezeichnet sie auch prägnant als die „Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen“ (§ 5: 210). Das „interesselose Wohlgefallen“ in der ästhetischen Betrachtung nennt Kant wegen seiner Unabhängigkeit von allem Bedürfnis auch ein „freies Wohlgefallen“, „da der Urteilende sich in Ansehung des Wohlgefallens, welches er dem Gegenstande widmet, völlig frei fühlt“ (211). Das „freie Spiel der Erkenntniskräfte“ schildert er uns auch so, daß dabei „die Einbildungskraft in ihrer Freiheit den Verstand erweckt, und dieser ohne Begriffe die Einbildungskraft in ein regelmäßiges Spiel versetzt“ (§ 40: 296). Selbst die paradoxale Formel von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck bleibt auf das Substrat eines freien Willens bezogen, denn wir können uns laut Kant keinerlei Zweckmäßigkeit vorstellen, ohne sie zugleich auf eine „Kausalität nach Zwecken, d. i. einen Willen“, und das heißt: einen freien Willen, zu beziehen (§ 10: 220). Weniger deutlich dürfte der Bezug des ästhetischen Urteils auf den Begriff der Freiheit allein im vierten Moment des Geschmacksurteils sein. Es braucht deshalb hier nicht eingehender berücksichtigt zu werden, weil die subjektive Notwendigkeit, die Kant hier darlegt, nicht mehr als ein anderer Ausdruck für die allgemeine Mitteilbarkeit ist, die er unter Berufung auf jenes freie Spiel der Erkenntniskräfte bereits als das zweite Moment des Gefallens am Schönen beschrieben hat. Wo Kant in § 59 „einige Stücke der Analogie anführt“, handelt er entsprechend dieser Vorgabe der „Analytik des Schönen“ die subjektive Notwendigkeit und die allgemeine Geltung in einem Punkt ab. Deshalb dürfen wir sagen, daß die Bestimmungen zum Verständnis der Analogieformel in § 59 bereits bis zur Erörterung der Zweckmäßigkeit ohne Zweck in § 15 vorliegen. Der Schlüssel zum Verständnis der Analogieformel liegt darin, daß sich schon die Erörterung des ästhetischen Urteils wie ein Traktat auf die Idee der Freiheit ausnimmt. Geradezu demonstrativ wirkt der doppelte Hinweis auf die Freiheit in der Bemerkung, mit der Kant den gesamten § 59 zum Abschluß bringt: „Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Frei-
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heit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar vorstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt“ (354, Herv.en v. m.). Damit ist in § 59 mit Blick auf die analogische Reflexion im Symbol gleichsam verfahrenstechnisch jene Bestimmung des Begriffs des übersinnlichen Substrats durchgeführt, nach der in der Reflexion auf die Antinomie die Einführung eines unbestimmten Begriffs verlangt (vgl. 343). Kants Rede vom Übergang legt es nahe, in der Symbolisierung des Sittlichguten durch das Schöne auch jenen Übergang zu vermuten, der in der „Einleitung“ zur Kritik der Urteilskraft im Interesse an der Einheit der Vernunft zwischen Naturbegriff und Freiheitsbegriff postuliert wird (vgl. 195 ff., s. Recki 2001, 172 ff.).
4. Zum Begriff der Freiheit Es fällt auf, daß Kant zwischen § 58 und § 59 – im Übergang vom Begriff der transzendentalen Freiheit als dem übersinnlichen Substrat zum Sittlichguten als dem, was im Schönen symbolisch zur Darstellung komme, die systematische Engführung zur Freiheit als Autonomie auf engstem Raume noch einmal vollzieht, die für seine praktische Philosophie charakteristisch ist. Er ratifiziert damit den gedanklichen Weg, der sich schon in der dritten Antinomie und ihrer Auflösung zeigt (s. KrV B 475, vgl. B 478, B 582 f.) und in die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten führt. Die Irritation, die es auslösen mag, daß Kant nach der Rede von transzendentaler Freiheit in den vorangehenden Paragraphen in der Überschrift des § 59 das Sittlichgute zum Gegenstand der Symbolisierung erklärt, erweist sich damit als obsolet: Kant hat zu diesem Zeitpunkt längst dargetan, wie sich transzendentale Freiheit nur durch ihren moralisch-praktischen Sinn qualifizieren läßt. Auch die Bestimmung des „Sittlichguten“ hat Kant bereits fünf Jahre zuvor gegeben, wenn er zu Beginn der Grundlegung als den einzigen Kandidaten für das, „was ohne Einschränkung“ sowohl „in der Welt“ wie „überhaupt auch außer derselben“ für „gut“ könnte gehalten werden, „allein“ – den guten Willen gelten läßt (GMS IV 393). Der gute Wille ist mithin das einzige, das auch hier am Ende der Kritik der Urteilskraft als „das Sittlichgute“ gemeint sein kann. Berücksichtigt man aber auch, daß für Kant ein guter Wille allein der Wille ist, der sich nach dem moralischen Gesetz bestimmt, dann ist damit auch erklärt, wieso das Schöne das Symbol der Freiheit sein soll (s. Krämling 1985, 304; Guyer 1979, 378 ff.; Guyer 1993, 229–274; Guyer 1998, 338–355). Wie er in der Grundlegung bereits vorgeführt hat, daß Frei-
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heit und Autonomie „Wechselbegriffe“ seien, so stellt er auch in der Kritik der praktischen Vernunft Freiheit und moralische Gesetzmäßigkeit als ein und dasselbe heraus: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselweise auf einander zurück“ (V 29; vgl. die „Vorrede“ zur KpV V 4). Das „Gesetz d[]er Autonomie“ ist für Kant kein anderes als das „moralische Gesetz“ (V 43); damit aber ist ein „Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann“, ein in selbsttätiger Gesetzgebung „freier Wille“ (V 29). Unbeschadet der Probleme, die aus dieser Argumentation für ein konsistentes Verständnis der praktischen Philosophie Kants erwachsen mögen (s. Prauss 1983; dagegen Timmermann 2003; Bojanowski 2006), dürfen wir in § 59 der Kritik der Urteilskraft die Zuspitzung der Freiheit auf das Sittlichgute als Kants Auffassung voraussetzen. Die behauptete Analogie des Schönen mit dem Sittlichguten besteht somit darin, daß das ästhetische Urteil eine freie Reflexion im Medium der Anschaulichkeit ist und als solche die Idee der Freiheit, auf die moralische Urteile über Handlungen als Äußerungen des freien Willens notwendig Bezug nehmen, im reflektierten Gefühl der Lust darstellt. Das Schöne ist insofern das Symbol des Sittlichguten, als die an ihm erlebte Freiheit der Reflexion die Idee der Freiheit exemplifiziert, die das Sittlichgute ausmacht und die Voraussetzung („Regel“) aller moralischen Urteile ist. Es kann dies sein, indem es auf anschauliche und fühlbare Weise die allen vernünftigen Leistungen zugrundeliegende Handlungsrationalität exemplifiziert. Der Symbolcharakter des Schönen bedeutet daher nichts anderes, als daß wir durch die Art, wie es uns in einem reflexiven Gefühl die Freiheit und Zweckmäßigkeit im Spiel unserer besten Kräfte bewußt werden läßt, jener Freiheit als des Vermögens, uns nach sittlichen Grundsätzen zu bestimmen, gewahr werden, die wir in unserer Eigenschaft als handelnde und darin autonome Wesen in Anspruch nehmen müssen. Die Erfahrung des Schönen in ihrer eigensinnigen Rationalität verweist der „Form der Reflexion“ nach auf den rationalen Eigensinn, der uns insgesamt als Personen, d. h. dadurch auszeichnet, daß der Mensch sich einen Willen anmaßt (GMS IV 457). So findet in der Reflexion des Schönen die Versinnlichung einer Vernunftidee durch ein Gefühl statt. Im Gefühl des Schönen ist freilich eine andere Weise von Freiheit beschrieben als in der Selbstbestimmung des Handelns: Im einen Fall geht es mit dem, was Kant die (He-)Autonomie der Urteilskraft nennt, um die Freiheit der Einbildungskraft in ihrem ungezwungenen und doch regelmäßigen Zusammenwirken mit dem Verstand, im anderen um die Autonomie des Willens als die praktische Freiheit des Handelns. Insbesondere die starke Formulierung, wir hätten in der ästhetischen Reflexion die „Frei-
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heit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen“ (§ 5: 210), könnte nahelegen, daß die ästhetische Freiheit in der Reflexion größer wäre als die praktische Freiheit im Handeln und die Freiheit im Erkennen, ja daß sie als die eigentliche Freiheit angesehen werden könnte. Dies würde ein Argument dafür erforderlich machen, daß es einen höheren Grad an Freiheit bedeutet, angewiesen auf den Sinneseindruck und dabei frei im Hinblick auf die Regel der Reflexion über diesen – als frei von sinnlichen Neigungen und dabei abhängig vom selbstgegebenen Gesetz als dem Prinzip des Handelns zu sein. So nämlich wäre der Unterschied zwischen der ästhetischen und der praktischen Autonomie mit Kant zu beschreiben: Die Einbildungskraft bleibt in der ästhetischen Reflexion stets auf das sinnlich Gegebene verwiesen, auf welches im freien Spiel reflektiert wird, während sich im moralischen Handeln der Wille als die praktische Vernunft von allen sinnlichen Neigungen gerade frei macht. Daß die Unterwerfung unter das Sittengesetz eine Unfreiheit des Handelns bedeutete, wäre mit Kant allein schon deshalb nicht zu behaupten, weil das Subjekt nach seinem Anspruch hierin allein der eigenen Einsicht und damit keinem anderen als dem eigenen Gesetz folgt. Kant hat demzufolge nicht den Anspruch verfolgt, im Ästhetischen und Moralischen verschiedene Grade der Freiheit, sondern vielmehr verschiedene kontextspezifische Weisen ihrer Realisierung zu beschreiben. Zurückzuweisen ist die Vermutung, es handle sich dabei um jeweils ganz andere Begriffe von Freiheit. Abgesehen von dem Unterschied, den Kant in der eigenen Prägung des Ausdrucks Heautonomie zum Ausdruck bringt: daß die Autonomie der ästhetischen Urteilskraft ihre Objekte nicht konstituiert (vgl. die „Einleitung“ 185 f.), geht es bei der Freiheit im praktischen Verstande und bei der Freiheit der ästhetischen Reflexion in der gemeinsamen vermögenstheoretischen Perspektive auf das Subjekt intelligenter Vollzüge um ein und denselben Begriff von Freiheit: um die auf Spontaneität beruhende autonome Bestimmung des Menschen, die sich in verschiedenen Weisen des Objektbezuges ausprägt. In beiden Fällen wird mit dem Hinweis auf die Freiheit eine (je genauer bestimmte) Möglichkeit der Fremdbestimmung zurückgewiesen; in beiden Fällen geht es um das Verständnis von Freiheit als einer Spontaneität; in beiden Fällen geht es um Freiheit als Autonomie – als der Selbstbestimmung eines vernünftigen Vermögens durch sein eigenes Prinzip. Und in beiden Fällen einer spezifischen Weise der freien Bestimmung führt der begriffliche Rekurs notwendig auf transzendentale Freiheit als auf das „übersinnliche[] Substrat aller Erscheinungen überhaupt, oder von dem, was unserer Willkür in Beziehung auf moralische Gesetze zum Grunde gelegt werden muß“ (343; vgl.
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dem entsprechend, wie die praktische Freiheit als Paradigma der transzendentalen zu begreifen sein soll V 3 f.; auch 47 ff.).
5. Was ist der Mensch? – Symbolisierte Freiheit als Auszeichnung des sinnlich-vernünftigen Wesens In § 5 der „Analytik des Schönen“ hatte es im Kontext der Abgrenzung des Geschmacksurteils über das Schöne von den anderen Werturteilstypen geheißen: „Annehmlichkeit gilt auch für vernunftlose Tiere; Schönheit nur für Menschen, d. i. tierische, aber doch vernünftige Wesen, aber auch nicht bloß als solche (z. B. Geister), sondern zugleich als tierische; das Gute aber für jedes vernünftige Wesen überhaupt“ (§ 5: 210). Im ästhetischen Urteil über das Schöne kommt dieser Analyse gemäß die Bestimmung des Menschen als eines sinnlich-vernünftigen Wesens zum Tragen: Der Mensch steht mitten zwischen den bloß sinnlichen vernunftlosen Wesen und denjenigen gedachten vernünftigen Wesen überhaupt, auf die Kant bereits in den Grundlegungsschriften zur Ethik mit Blick auf den Geltungsanspruch moralischer Urteile reflektiert. Daß auch der Mensch an der reinen Vernunft partizipiert, unterliegt dabei keinem Zweifel. Wenn Kant im „Ersten Stück“ der Religion „drei Klassen, als Elemente der Bestimmung des Menschen“, aufführt: 1. die „Tierheit“, 2. die „Menschheit“, 3. die „Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens“, dann macht die Erläuterung anhand des Extrems eines „allervernünftigsten Weltwesens“ hinreichend deutlich, daß es auch in Punkt 3 wiederum um den Aspekt des vernünftigen Wesens überhaupt geht – der hier freilich als ein Element der Bestimmung des Menschen fungiert (VI 26). Nicht daß dem Menschen der Charakter eines vernünftigen Wesens überhaupt abgesprochen werden kann, macht die Argumentationsabsicht aus, die Kant mit diesem Universalbegriff und seiner Abgrenzung verbindet – sondern daß der Mensch mehr ist, komplexer als bloß ein vernünftiges Wesen: Der Mensch ist ein vernünftiges Wesen unter Bedingungen, die zugleich Einschränkung der reinen Vernunft und Chance ihrer Realisierung sind. Diese anthropologische Kontextualisierung seiner Vernunftlehre verfolgt Kant so prägnant wie grundsätzlich in der Kritik der reinen Vernunft: „Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde“ (KrV B 8 f.). Nach Kants Einsicht gilt es, diese Vorstellung als Irrtum zu erkennen: Die Taube, die hier ganz im Sinne des
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auf analogischer Reflexion begründeten Symbolbegriffs des § 59 der dritten Kritik als Symbol des Menschen gesetzt ist, braucht, um sich „im freien Fluge“ zu erheben, gerade den Luftwiderstand. So braucht der Mensch zu jeglichem freien Gebrauch seiner Vernunft die Sinnlichkeit. Die praktische Anwendung dieser Einsicht gibt Kant selber in der „Dialektik“ der Kritik der praktischen Vernunft in einer Reflexion, die unbeschadet der Konstruktion des Sittengesetzes nach Maßgabe der reinen Vernunft, unbeschadet auch der Zuordnung des Guten zu allen vernünftigen Wesen, eines außer Zweifel setzt: Im Begriff der Moral als der Leistung aus reiner praktischer Vernunft ist es Kant nicht um ein reines Vernunftwesen zu tun – weder um jenes unbegrenzte Erkenntnisvermögen noch um jenen „heiligen Willen“, in deren Idee das Reinheitskonstrukt eines vernünftigen Wesens überhaupt hier wie in der Grundlegung kulminiert. Verfügten wir über unbegrenzte Erkenntnis, so wäre die Frage nach dem richtigen Handeln auf das Wissen reduziert, und es „würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung, und gar keine aus Pflicht geschehen. Ein moralischer Wert der Handlungen aber […] würde gar nicht existieren. Das Verhalten der Menschen, so lange ihre Natur, wie sie jetzt ist, bliebe, würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde“ (V 146 f.). Wieso dies der zu befürchtende Effekt wäre, erläutert Kant explizit und in einer Weise, die erkennbar an das Symbol der Taube aus der Kritik der reinen Vernunft anknüpft: „weil aber die Gesinnung, aus welcher Handlungen geschehen sollen, durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, der Stachel der Tätigkeit hier aber sogleich bei Hand und äußerlich ist, die Vernunft also sich nicht allererst empor arbeiten darf, um Kraft zum Widerstande gegen Neigungen durch lebendige Vorstellung der Würde des Gesetzes zu sammeln“ (ebd., letzte Herv. v. m.). Die Vorstellung vom unlebendigen bloßen Gestikulieren wie im Marionettentheater bezieht sich auf das quasimechanische Umsetzen von vollständiger Erkenntnis in Handlung und enthält einen Reflex auf die von Kant überwundene Humesche Konzeption einer bloß passiven Vernunft. Lebendig wird das durch Verstand Erkannte, so dürfen wir dem entnehmen, allein durch eine praktische Vernunft, die mit dem Prinzip ihrer Motivation zugleich die Kraft zum Widerstand in sich selbst enthält. Kant spielt hier auf seine Lehre vom Gefühl der Achtung als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft an (vgl. KpV V 71–88), die an dieser Stelle bereits als integrales Moment einer lebendigen Vernunft gedacht ist. Nicht ihre geringste systematische Pointe liegt in der Einsicht, daß eine so auf Gefühl bezogene Vernunft zugleich als die Vernunft eines sinnlichen Wesens gedacht ist (vgl. Recki 2001, 315–337).
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Auf der Folie dieser anthropologischen Kontextualisierung der Vernunft gewinnt auch die Bestimmung der Schönheit als Symbol des Sittlichguten ein schärferes systematisches Profil: Im Begriff einer Freiheit, die der Symbolisierung bedarf wie fähig ist, liegt eine besondere Auszeichnung derjenigen komplexen Wesen, die keine bloßen Vernunftwesen, sondern sinnlich-vernünftige Wesen sind. Die Formel vom Schönen als dem Symbol des Sittlichguten bekräftigt somit das, was Kant in der dritten Kritik von Anfang an herausstellt: Das Ästhetische hat – Symbol der Freiheit – exemplarische Bedeutung für das Selbstverständnis eines sinnlich-vernünftigen Wesens.
Beschluß zur Autonomie des Ästhetischen Auf den ersten Blick hatte es so aussehen können, als müßte mit der These des § 59 ein wesentlicher Ertrag der Kritik der Urteilskraft verlorengehen – als wollte Kant mit der Bestimmung, die dem § 59 die Überschrift gibt, die (He-)Autonomie des Ästhetischen (s. „Einleitung“ 185 f., vgl. Bartu schat 1974) revozieren, die er – in beständiger Abgrenzung gegen den Geltungsanspruch der Erkenntnisurteile wie der Urteile über das Angenehme, das Nützliche und das Gute (vgl. Recki 2006, 143–166) – durch die Theorie des ästhetischen Urteils in der „Analytik des Schönen“ und in der „Deduktion“ behauptet hat. Der Gedankengang zeigt jedoch, daß durch die behauptete symbolische Verbindung von Schönheit und Sittlichkeit keine Subsumtion des Ästhetischen unter die Moral beabsichtigt, sondern seine Bedeutsamkeit für ein vernünftiges Selbstverständnis artikuliert ist. Kant sagt zwar im § 59 ausdrücklich: „Das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten; und auch nur in dieser Rücksicht […] gefällt es, mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung“ (353). Aber der Ausdruck „in dieser Rücksicht“ bedeutet nicht: „aus diesem Grunde“. Darin kündigt sich bereits an, daß die Selbständigkeit des ästhetischen Urteils nicht zurückgenommen wird, indem etwa seine Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, um die es in der „Analytik des Schönen“ und in der „Deduktion“ geht, nun doch noch im Rekurs auf Moralität begründet werden sollte (s. für diese Lesart exemplarisch Crawford 1974). Es erweist sich mit Blick auf den Symbolbegriff, daß mit der Bestimmung des Schönen als Symbol des Sittlichguten nicht die geltungslogische Abgrenzung des Ästhetischen vom Moralischen zurückgenommen und daß mithin auf diese Weise nicht das Schöne im nachhinein doch noch unter moralische Ansprüche gestellt wird. Soviel sich hier zeigt, ist die Darstel-
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lung im Symbol des Schönen nur möglich auf der Grundlage von dessen (ästhetischem) Eigensinn. Die Autonomie des Ästhetischen wird somit in der Formel vom Schönen als Symbol des Sittlichguten gerade vorausgesetzt. Auch unter Berücksichtigung des § 59 Kant bleibt damit der große Kronzeuge der ästhetischen Moderne – der mit der Eigenart des Ästhetischen zugleich die Autonomie der Kunst behauptet.
§ 60 Anhang. Von der Methodenlehre des Geschmacks In selbstverständlich anmutender Weise zieht Kant hier die didaktische Quintessenz seiner umfassenden, vorrangig am Schönen der Natur orientierten Geschmackslehre für die Kunst als den Bereich ästhetischer Praxis, für den es eine Methodenlehre geben kann. Er bestimmt in einem ersten Zugriff die „Kultur der Gemütskräfte“ als die „Propädeutik zu aller schönen Kunst“ (355). Er weist dabei in der Rede von „Muster[n]“ (356) aus einem früheren und schwierigeren Zeitalter (355) der Orientierung an einer zwar humanistisch ausgelegten, aber nicht idealisierten Antike die tragende Rolle zu. Diejenigen „Vorkenntnisse“, die „man humaniora nennt“, ordnet er direkt der Beförderung der Humanität zu. Humanität aber bedeutet „einerseits das allgemeine Teilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen sich innigst und allgemein mitteilen zu können […]; welche Eigenschaften, zusammen verbunden, die der Menschheit angemessene Geselligkeit ausmachen“ (ebd.). Mit Blick auf die vorangegangenen Überlegungen der Kritik der Urteilskraft ist unschwer die Dimension zu erkennen, in der die Humaniora als humanistische Vorkenntnisse damit stehen: Jene Fähigkeit zu allgemeiner Teilnehmung und Mitteilung hatte Kant unter dem Titel eines „sensus communis“ als die emotionale Basisfunktion nicht nur des ästhetischen Urteilsvermögens ausgelegt. Auch die moralische Reflexion auf die Gesetzestauglichkeit unserer Handlungsmaximen ist in der „Maxime der Urteilskraft“ mitgemeint: sich an die Stelle jedes anderen versetzen zu können. (vgl. § 40: 294, s. KpV V 67–71). Indem die Humaniora die Humanität befördern, dienen sie also genau in diesem Sinne der Kultivierung einer universal wünschbaren menschlichen Fähigkeit zur Einrichtung jener vernünftigen Weltverfassung, in der die gleiche Freiheit eines jeden gewährleistet wäre. Die Zeitalter und Völker der Antike können in ihrer künstlerischen Produktion hierin nach seiner antiidyllischen Einschätzung gerade deshalb als mustergültig gelten, weil sie sich in der Realisierung dieses Zieles durch so große und ursprüngliche Probleme herausgefordert sahen (vgl. 355 f.). Das Modell, nach dem Kant hier interpretiert, ist das
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der Steigerung der Artikulationsfähigkeit durch Krise. Er verbindet damit die Einschätzung, daß „schwerlich […] ein späteres Zeitalter jene Muster“, die wir von der Antike haben, „entbehrlich machen“ wird, weil sie in der Authentizität, mit der sie von der unvordenklichen Größe der Aufgabe und ihrem Gelingen künden, unerreichbar seien (356). In einem zweiten Zugriff bestimmt er „die Entwickelung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls“ als „die wahre Propädeutik zur Gründung des Geschmacks“ (ebd.) und zieht damit – wofür die denkbar knappe Behandlung des Themas spricht – offensichtlich die Konsequenz aus der Reflexion des § 59. Gerade auch nach dem § 59 sollte die „Methodenlehre“ der dritten Kritik als Komplement der „Methodenlehre“ der Kritik der praktischen Vernunft gelesen werden, in der es um ästhetische Bildung an literarischen und künstlerischen Beispielen als Propädeutik der Moral geht.
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Birgit Recki
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Objektive Zweckmäßigkeit, objektive und formale Zweckmäßigkeit, relative Zweckmäßigkeit (§§ 61–63)
Die neue „Kritik der reinen Vernunft“ Gemäß dem neuen Konzept eines „Systems der Kritik“, welches Kant in der „Vorrede“, in der „Einleitung“, und in der (sogenannten) „Ersten Einleitung“ erarbeitet, soll die Kritik der Urteilskraft die zwischen der „Kritik des Verstandes“ (so wird nun die Kritik der reinen Vernunft von 1781 und 1787 interpretiert) und der „Kritik der Vernunft“ (so wird nun die Kritik der praktischen Vernunft von 1788 konzipiert) bestehende Kluft überbrücken (s. Giordanetti 2001a, Giordanetti 2001b). Nach dieser neuen Konzeption existiert nur „eine Kritik der reinen Vernunft“, welche ihrerseits in drei Kritiken unterteilt ist. Die §§ 61 ff. sind Teil einer „Kritik der teleologischen Urteilskraft“, welche – gemäß der „Vorrede“ – auch einer „Kritik des Verstandes“ hätte „angehängt werden können“ (170). Mit den §§ 61, 62 und 63 beginnt ein neuer Teil, nämlich der zweite der Kritik der Urteilskraft, welchem Kant den Titel „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ gibt. Der § 61 ist der „Analytik“ vorgelagert und hat die Funktion, in die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ einzuführen. Erst die §§ 62 f. bilden den Beginn der „Analytik“ innerhalb der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“. In § 61 setzt sich Kant das Ziel vor, in das neue Thema einzuführen, indem er die objektive Zweckmäßigkeit von der subjektiven unterscheidet und in ihrer Eigentümlichkeit charakterisiert. Mit dem Beginn der „Analytik der teleologischen Urteilskraft“ im § 62 wird dann geklärt, daß die Analyse auf die objektive materiale Zweckmäßigkeit eingehen wird. Diese Art „Zweckmäßigkeit“ unterscheidet sich von der objektiven und zugleich formalen Zweckmäßigkeit, welche Kant den geometrischen Figuren und den arithmetischen Zahlen
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zuspricht. § 63 behandelt sodann die relative Zweckmäßigkeit der Natur, welche nicht mit der eigentlichen objektiven, materialen Zweckmäßigkeit der Organismen koinzidiert, welche dann in den weiteren Paragraphen untersucht wird.
§ 61 § 61 handelt zuerst von der Zweckmäßigkeit der Natur in ihren besonderen Gesetzen und ihrer Faßlichkeit für die menschliche Urteilskraft. Kant denkt dabei an die Möglichkeit der Verknüpfung der besonderen Erfahrungen in einem System, mit welcher er sich bereits in Ziffer VI der „Einleitung“ der Schrift beschäftigt hat. Am Leitfaden des Begriffs der Zweckmäßigkeit wird sodann auch die Schönheit der Formen als Gegenstand des Geschmacksurteils als eine subjektive Zweckmäßigkeit der Natur derselben definiert. Somit übernimmt Kant die zuerst in Ziffer VII der „Einleitung“ und dann auch an anderen Orten dargestellte Theorie der ästhetischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur. Ziel der Ausführungen ist es zu beweisen, daß sich diese zwei Arten von Zweckmäßigkeit von der objektiven Zweckmäßigkeit unterscheiden. Der zweite Absatz untersucht die besondere Beschaffenheit der objektiven Zweckmäßigkeit der Natur in ihrem Unterschied von der Kausalität der Natur als Gegenstand der Sinne und der Erfahrung. Wenn wir die Zweckmäßigkeit mit der Kausalität vergleichen, fällt deutlich auf, daß sie a priori weder erklärt noch bewiesen oder eingesehen werden kann; sie kann zwar als eine Gesetzmäßigkeit bezeichnet werden, zugleich jedoch auch als eine Zweckmäßigkeit sui generis. Es kommt hinzu, daß sich die Zweckmäßigkeit weder a priori noch a posteriori beweisen läßt. Der dritte Absatz vergleicht das Prinzip des Naturmechanismus mit dem Prinzip der objektiven Zweckmäßigkeit im Hinblick auf ihre logische, transzendentale Notwendigkeit. Daraus ergibt sich, daß sich die Zweckmäßigkeit nicht notwendig mit dem Begriff der Natur verknüpfen läßt, weil sie die Zufälligkeit der Natur beweist. Aufgrund dieser Erörterungen erweisen sich die Zwecke als zufällig, wenn sie gemäß dem Begriff des nexus effectivus beurteilt werden. Es kommt an dieser Stelle diejenige Auffassung zu Wort, die dann im weiteren Verlauf der Schrift mehrmals übernommen wird, gemäß welcher sich die Natur, wenn sie als bloßer Mechanismus betrachtet wird, „auf tausendfache Art habe anders bilden können“, ohne auf ein teleologisches Prinzip „zu stoßen“. Im § 81 wird wieder von der „mechanischen Bildungskraft“ der Materie
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geredet, und zwar, um ihren Unterschied zu dem von Blumenbach theoretisierten „Bildungstrieb“ hervorzuheben. § 82 kommt zu dem Schluß, daß „die größtmögliche Bestrebung, ja Kühnheit in Versuchen, sie [die Natur] mechanisch zu erklären, […] erlaubt ist“. Überlegungen zu den mechanischen Kräften der Natur kommen auch an folgenden Stellen zu Wort: Im § 66 wird behauptet, daß „es immer sein“ mag, „daß z. B. in einem tierischen Körper manche Teile als Konkretionen nach bloß mechanischen Gesetzen begriffen werden könnten (als Häute, Knochen, Haare)“ (377). Im § 80 und wieder im § 82 („Wenn man sich […] retten können“, 427 f.) werden Betrachtungen entfaltet, die zur mechanischen Theorie der Erde gehören. Als Archäologe der Natur übernimmt und entwickelt Kant im § 80 in bezug auf die Entstehung der Organismen die bereits in anderen Schriften dargestellte Erdtheorie (I 183–192, 193–214, 215–368, 417 f., 429–462, 463–472; II 1–12; VIII 43–66, 67–76, 157–184; IX 296–305). In der Kritik der reinen Vernunft, in der Kritik der praktischen Vernunft und in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ fungiert Kants Epikureismus als Teil einer in diesen Werken enthaltenen „Physiologie“. Auf eine auf epikureischen Grundsätzen fußende „Physiokratie“ in der Naturauffassung verweist ausdrücklich die Kritik der reinen Vernunft (B 499). Auch die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ bedient sich epikureischer Begriffe und zwar im Kontext einer mechanistischen Theorie. Die Präsenz Epikurs ist hier genauso evident wie bereits in den anderen Schriften. Es handelt sich nicht um eine bloße, nur von außen festzustellende Analogie zwischen den zwei Theorien, sondern um eine durch explizite Bezugnahmen belegbare Tatsache. Epikur wird nämlich in 391 f. explizit erwähnt; implizit verweisen der Begriff einer (unabsichtlichen) Technik der Natur sowie die Rede von einem „System der Kausalität“ (391) auf den epikureisch-lukrezischen Begriff der natura daedala rerum (VIII 360), welcher in der Schrift Zum ewigen Frieden vorkommt. Wie Paul Menzer nachweisen konnte, geht auch die Lehre der generatio aequivoca auf Epikur zurück, nämlich sowohl was die Genese des einzelnen Organismus als auch was die Entstehung aller Organismen aus der Urmutter Erde im alten Zustande der Erde betrifft. Menzer schenkt zu Recht den Versen von Lukrez’ De rerum Natura Beachtung, „dessen Gedanken für Kant […] von großer Bedeutung gewesen sind“. „Demnach ist Lukrez’ Zeugungslehre auf der Annahme einer generatio aequivoca begründet“ (Menzer 1911, 83 ff.). Kant benutzt Lukrez’ Deszendenztheorie gerade im § 80, um die Idee des Mutterschoßes der Erde zu entwickeln (Giordanetti 2003). Die Nähe zwischen den Kantischen und den Epikureischen Ansichten in der Auffassung der Natur ist u. a. auch von Friedrich Albert
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Lange hervorgehoben worden. Lange findet sogar Spuren der Lukrezischen Ansichten bereits bei Empedokles und bemerkt wie Überweg (Lange 1872, 66; Ueberweg 41871, 66), die Lehre von Empedokles „könne mit der Schelling-Okenschen Naturphilosophie mit der Lamarck-Darwinschen Deszendenztheorie verglichen werden“. Lange fügt hinzu, „daß die neuere Deszendenztheorie von den Tatsachen unterstützt wird, während die Lehre des Empedokles, vom heutigen Standpunkt der Wissenschaft beurteilt, absurd und abenteuerlich erscheint“. Er schließt dann seine Bemerkungen dazu: „Und wenn bei Empedokles noch ein kritischer Zweifel gerechtfertigt bleibt, ob er die Sache wirklich so verstanden, so steht es doch völlig fest, daß Epikur der empedokleischen Lehre diesen Sinn beigelegt und sie so mit der Atomistik und mit seiner Lehre von der Wirklichkeit aller Möglichkeiten verschmolzen hat“ (Lange 1872, 44). Eine explizite Bezugnahme auf Empedokles findet sich in der Tat bei Kant, nämlich im Kontext der Erörterung der von Forster ironisch ins Spiel gebrachten Empedokleischen Lehre des Ursprungs alles Lebendigen aus dem Schlamm des Meeres der „kreißenden Erde“ (VIII 180). Die Präsenz Epikurs und Kants Konfrontation mit seinen durch Lukrez vermittelten Ansichten ist auch aus einer expliziten Bezugnahme auf Humes Dialogues concerning Natural Religion ersichtlich (Giordanetti 2001c, 461). Die im § 80 vorgenommene Formulierung der Hypothese über den Ursprung aller Organismen aus der Urmutter Erde, die Kant als „gewagtes Abenteuer der Vernunft“ bezeichnet, läßt sich jedoch nicht nur auf die Auseinandersetzung mit Lukrez zurückführen. Es muß auch berücksichtigt werden, daß Kant im § 73 gegen den Vergleich der Erde mit einem Tier starkes Bedenken äußert, wenn er den Hylozoismus und die Theorie der Weltseele diskutiert. Trotzdem übernimmt er in § 80 die Charakterisierung der Natur als eines großen Tieres, obwohl er das Wort „gleichsam“ hinzufügt, nämlich in der Absicht, sich von ihr zu distanzieren. Die Präsenz des Hylozoismus ist auch aus einer expliziten Bezugnahme auf Humes Dialogues concerning Natural Religion ersichtlich (Giordanetti 2001c, 461). Kant konfrontiert sich jedoch vor allem mit den Theorien der scala naturae von Leibniz, Pope, Bonnet, Camper, Herder und Forster. Die Formulierung, die er seinen Theorien am ähnlichsten findet, ist diejenige von Blumenbach (Giordanetti 2001c, 431–435; 460 f.). Denn in Blumenbach findet er die Leibnizischen Lehren von der besten Welt und von der prästabilierten Harmonie – jedoch ohne theologische Fundierung, und auf eine Art und Weise interpretiert, welche seiner eigenen Erklärungsart nahe ist. Auf dieser Grundlage läßt sich auch die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ als Dokument bewerten, anhand dessen wir unsere Kenntnis
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von Kants mechanistischer Theorie vertiefen können. Bei Kants Anspielungen auf den Mechanismus handelt es sich nicht um Einzelbemerkungen, die eine bloß historisch bedingte Bedeutung aufweisen, sondern um eine Präsenz, die auch den zweiten Teil der dritten Kritik durchzieht und in den systematischen Kern der Theorie gehört. Genauso wie sich Kant in der ersten, in der zweiten und in dem ersten Teil der dritten Kritik der epikureischen „Physiologie“ entgegensetzt, beurteilt er nun Epikurs Ansichten als „ungereimt“. Dies gilt jedoch für ihn erst dann, wenn er sie vom Standpunkt des eigenen Konzepts der Teleologie beurteilt. Auf der tieferen Ebene einer mechanistischen Theorie behalten Epikurs Ansichten, so wie bereits in der Theorie des Himmels, ihre positive Bedeutung, und es könnte gezeigt werden, daß es sich bei ihnen um eine Präsenz handelt, die die ganze „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ durchzieht; indem sie sich in den Begriff des Mechanismus einschreiben, werden sie von Kant in seine eigene mechanistische Theorie eingebettet. Aus den nun zu kommentierenden Absätzen ergibt sich jedoch auch eine andere Konsequenz. Der Mechanismus und mit ihm seine epikureischen Wurzeln besitzen im Hinblick auf die Organismen nicht den Status einer Wissenschaft. Obwohl die Kantischen Formulierungen oft als eine Deszendenztheorie darwinistischer Art interpretiert wurden, spricht Kant diesen kühnen Versuchen nicht den Status einer wissenschaftlichen Theorie zu. Hier tritt ein evidenter Parallelismus zu Kants Abweisung der empirischen Psychologie und der Anthropologie in den anderen Kritiken zutage. Genauso wie sich in den anderen Kritiken der Rekurs auf die generatio aequivoca der spekulativen, der moralischen und der ästhetischen Prinzipien als unzureichend erweist, wird hier die von Lukrez und Epikur behauptete generatio aequivoca zwar als wichtiger Bestandteil des Mechanismus interpretiert. Der Mechanismus selber ist jedoch nicht imstande, einen „Newton des Grashalms“ zu produzieren. Nachdem bisher erklärt wurde, daß zwischen Zweckmäßigkeit und Mechanismus eine gravierende und nicht zu überbrückende Kluft besteht, entwickelt Absatz 4 für das Verständnis der Naturwissenschaft relevante Überlegungen, welche darauf abzielen, die Bedeutung der teleologischen Beurteilung für die Naturforschung klar ans Licht zu heben. In welcher Hinsicht kann sich die auf dem Begriff der Kausalität gründende Naturwissenschaft der Teleologie bedienen? Kant weist der Teleologie eine „problematische“ Rolle zu. Die Zweckmäßigkeit kann „mit Recht zur Naturforschung gezogen“ werden, „aber nur, um sie nach der Analogie mit der Kausalität nach Zwecken unter Prinzipien der Beobachtung und Nachforschung zu bringen, ohne sich anzumaßen, sie darnach zu erklä-
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ren“. Wann kann auf den „Begriff von Verbindungen und Formen der Natur nach Zwecken“ rekurriert werden? Falls „die Gesetze der Kausalität nach dem bloßen Mechanismus derselben nicht zulangen“ (360), erweist sich die Zweckmäßigkeit als „ein Prinzip mehr“ die Erscheinungen der Natur unter Regeln zu bringen. Die Teleologie wird so sowohl von dem blinden Mechanismus als auch von den Theorien, welche „der Natur absichtlich wirkende Ursachen unterlegen“, abgegrenzt. Es wird hier noch nicht gezeigt, worin die Fundierung dieser Vereinigung von Kausalität und Zweckmäßigkeit liegt. Der § 78 wird beweisen, daß die Fundierung der Vereinbarkeit von Kausalität und Zweckmäßigkeit erst durch den Rekurs auf das übersinnliche Substrat der Natur in uns und außer uns möglich ist.
§ 62 § 62 handelt „Von der objektiven Zweckmäßigkeit, die bloß formal ist, zum Unterschiede von der materialen“. Die Argumentation zielt darauf ab zu beweisen, daß neben der subjektiven formalen Zweckmäßigkeit, welche in der „Analytik des Schönen“, in der „Analytik des Erhabenen“ und in der Genielehre untersucht wurde, noch eine objektive und ebenfalls formale Zweckmäßigkeit besteht, welche von der objektiven materialen Zweckmäßigkeit, die den eigentlichen Gegenstand der Teleologie bildet, abzugrenzen ist. Der Geschmack gründet in der subjektiven formalen Zweckmäßigkeit, welche mit dem freien Spiel der Erkenntniskräfte koinzidiert. Auch dem Erhabenen liegt eine besondere Form der formalen subjektiven Zweckmäßigkeit zugrunde, die jedoch nicht aus dem Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand, sondern aus demjenigen zwischen Einbildungskraft und Vernunft resultiert. Einbildungskraft, Verstand und Vernunft sind auch die Vermögen, die das Genie mitkonstituieren. Was ist nun die formale objektive Zweckmäßigkeit? Kant denkt bei diesem Begriff an zwei Gegenstände: zum einen an die geometrischen Gestalten, zum anderen an die arithmetischen Zahlen. Erstere sind Gegenstand der Geometrie, letztere der Mathematik als Zahlenwissenschaft. Die Argumentation berücksichtigt freilich mehr die geometrischen Gestalten, und der ganze Paragraph soll beweisen, daß ihnen der Titel der Schönheit nicht beigelegt werden darf, weil ihre Beurteilung auf Begriffen beruht und somit den Bedingungen des Geschmacks widerstreitet, der sich nicht auf Begriffe zurückführen läßt.
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Es ist besonders wichtig, sowohl in systematischer als auch in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht, darauf hinzuweisen, daß Kant in diesem Zusammenhang die Möglichkeit eines apriorischen Affekts entdeckt. Der Rekurs auf eine Modifikation des Gefühls, eben den Affekt, verdient die Aufmerksamkeit des Lesers. Der Affekt ist einerseits „nicht ganz zu billigen“, „weil aller Affekt als ein solcher Tadel verdient“ (VII 86). Diese kritische Beurteilung wird von Kant bereits seit den frühen siebziger Jahren zu Wort gebracht und kommt sowohl in der Kritik der Urteilskraft (272) als auch in der Metaphysik der Sitten vor. Sie basiert darauf, daß der Affekt die moralische Freiheit, obwohl nur momentan, hemmt und aufhebt. Der § 62 zeigt jedoch, daß – während die Verwunderung ein „Anstoß des Gemüts an der Unvereinbarkeit einer Vorstellung und der durch sie gegebenen Regel mit den schon in ihm zum Grunde liegenden Prinzipien, welcher also einen Zweifel, ob man auch recht gesehen oder geurteilt habe, hervorbringt“ – die Bewunderung „eine immer wiederkommende Verwunderung, ungeachtet der Verschwindung dieses Zweifels“ (365) ist. In der Allgemeinen Theorie der schönen Künste unterscheidet Sulzer „mit Herrn Home […] und mit seinem Übersetzer“ zwei verschiedene „Empfindungen“, welche Verwunderung und Bewunderung genannt werden können. Sulzer definiert „die Empfindung, welche aus einer gegen unsere Vermutung sich ereignenden Begebenheit entsteht“, als Verwunderung und „die Empfindung, welche aus Betrachtung einer außerordentlichen und unbegreiflichen Kraft entsteht, [als] Bewunderung“ (Artikel „Bewunderung“). Schon Platon bemerkt: „Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung, ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben“ (Theat. 155d). Aristoteles sagt: „Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens, indem sie sich anfangs über das nächstliegende Ungeklärte verwunderten, dann allmählich fortschritten und auch über Größeres Fragen aufwarfen, z. B. über die Erscheinungen an dem Mond und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des Alls“ (Met. I 2, 982b11 ff.). Quelle der Philosophie ist die Verwunderung (to thaumazein), das Staunen. Kant will dann die These bekräftigen, daß der Grund der Bewunderung in der natürlichen Wirkung der Zweckmäßigkeit liegt, welche sich in den geometrischen Figuren und in den arithmetischen Zahlen aufweist. Obwohl die „Vereinbarung jener Form der sinnlichen Anschauung (welche der Raum heißt) mit dem Vermögen der Begriffe (dem Verstande) nicht allein deswegen, daß sie gerade diese und keine
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andere ist, uns unerklärlich“ ist, ist sie jedoch zugleich „erweiternd für das Gemüt“ (365). Die Zweckmäßigkeit flößt dem Gemüt Bewunderung ein, indem sie „noch etwas über jene sinnlichen Vorstellungen Hinausliegendes gleichsam ahnen“ läßt, worin, obzwar uns unbekannt, der letzte Grund jener Einstimmung angetroffen werden mag (ebd.). Kant hebt nun hervor, daß es nicht nötig ist, diesen letzten Grund zu kennen, weil es sich hier um eine bloß formale Zweckmäßigkeit unserer Vorstellungen a priori handelt, welche zu keiner bestimmten Erkenntnis führt. Die formale Zweckmäßigkeit ist jedoch die Ursache der Bewunderung für den Gegenstand, welche uns diesen letzten Grund anzeigt. Die apriorische Fundierung der Bewunderung wird also durch den Rekurs auf etwas geleistet, welches sich nicht auf die sinnlichen Vorstellungen reduzieren läßt, sondern das Gemüt in die Richtung des Übersinnlichen orientiert. Auf der Grundlage dieser auf die geometrischen Gestalten zielenden Argumentation können wir die Betrachtungen über die Geometrie auf die Arithmetik übertragen und zugleich ihre Bedeutung für die Musiklehre erörtern. Was hat die Musik damit zu tun? Läßt sich belegen, daß Kant in seiner Analyse der formalen objektiven Zweckmäßigkeit die Musik mitberücksichtigt hat? Der Text enthält zwei Bezugnahmen auf die Eigenschaften der Zahlen, in denen sie mit den geometrischen Figuren gleichgesetzt werden. Kant redet von den Eigenschaften der geometrischen Gestalten und der Zahlen (365 f.) und bezieht sich in diesem Kontext auf Platons Auffassung der Musik, gemäß welcher das Gemüt über das Vermögen verfügt, in der Musik mit den Eigenschaften der Zahlen zu spielen (363). Woran denkt Kant, wenn er sich des Ausdrucks „die Eigenschaften der Zahlen“ bedient? Diese Eigenschaften lassen sich als die Tauglichkeit zur Auflösung von Aufgaben erklären, die sich nicht durch das diskursive Denken, sondern nur durch die Anschauung vollziehen kann. Diese Eigenschaften der Zahlen werden von anderen Autoren für schön gehalten und der Schönheit der geometrischen Figuren ähnlich vorgestellt, weil sie eine gewisse Zweckmäßigkeit aufweisen. Fragt man sich, auf welche Philosophen sich Kant bezieht, wenn er diese Auffassung der Schönheit referiert, dann ist zunächst unter den Zeitgenossen Johann Georg Sulzer in Betracht zu ziehen, weil er sich eben in diesem Sinne ausspricht und den algebraischen Formeln den Namen einer intellektuellen Schönheit beilegt. Aber auch Platon soll berücksichtigt werden, weil er in § 62 ausdrücklich erwähnt wird. Bereits 1781/82 hat Kant auf die platonische Musiktheorie in der Politeia angespielt. Platon hat begriffen, daß das Gemüt das Vermögen besitzt,
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die harmonischen Zahlenverhältnisse wahrzunehmen. Leider ist er nicht bei dieser Auffassung stehengeblieben, sondern hat nach dem Ursprung der Zahlenverhältnisse, welche der Musik zugrunde liegen, gesucht und ihn in einem göttlichen Verstande gefunden. Die Bewunderung Platons für die harmonischen Zahlenverhältnisse ist so „durch Mißverstand nach und nach bis zur Schwärmerei“ gestiegen. „Plato […] geriet über eine solche ursprüngliche Beschaffenheit der Dinge, welche zu entdecken wir aller Erfahrung entbehren können, und über das Vermögen des Gemüts, die Harmonie der Wesen aus ihrem übersinnlichen Prinzip schöpfen zu können (wozu noch die Eigenschaften der Zahlen kommen, mit denen das Gemüt in der Musik spielt) in die Begeisterung, welche ihn über die Erfahrungsbegriffe zu Ideen erhob, die ihm nur durch eine intellektuelle Gemeinschaft mit dem Ursprunge aller Wesen erklärlich zu sein schienen“ (363). Sechs Jahre später wird Kant denselben Vorwurf gegen Pythagoras erheben. Der Fehler liegt also darin, daß „die erwähnten Eigenschaften sowohl der geometrischen Gestalten, als auch wohl der Zahlen wegen einer gewissen aus der Einfachheit ihrer Konstruktion nicht erwarteten Zweckmäßigkeit derselben a priori zu allerlei Erkenntnisgebrauch Schönheit“ genannt werden, und daß man „von dieser oder jener schönen Eigenschaft des Zirkels“ (365) spricht, „welche auf diese oder jene Art entdeckt wäre“ (366). Platon (und Pythagoras) geht dann noch weiter als die Zeitgenossen, wie etwa Sulzer, der hier auch implizit kritisiert wird, weil er glaubt, daß der Ursprung einer solchen Schönheit in einer Gemeinschaft unseres Verstandes mit dem göttlichen liegt. Wenn wir nun nicht den Fehler begehen wollen, die algebraischen Formeln und die Eigenschaften der Zahlen, durch die sie für die Auflösung vielfältiger Aufgaben tauglich sind, schön zu nennen, müssen wir zuerst eine Trennungslinie zwischen dieser ihnen zukommenden Zweckmäßigkeit und der eigentlichen Schönheit ziehen. Eine „intellektuelle“ Schönheit gibt es nicht, weil die Schönheit immer sinnlich ist. Anstatt von intellektueller Schönheit müßte man von objektiver formaler Zweckmäßigkeit reden. Will man das Adjektiv „schön“ auch auf die Entdeckung von Zahlenverhältnissen und auf die Auflösung von arithmetischen Problemen anwenden, so muß geklärt werden, daß nicht die algebraischen Formeln schön sind, sondern deren mathematische Demonstration. „Eher würde man eine Demonstration solcher Eigenschaften, weil durch diese der Verstand als Vermögen der Begriffe und die Einbildungskraft als Vermögen der Darstellung derselben a priori sich gestärkt fühlen (welches mit der Präzision, die die Vernunft hineinbringt, zusammen die Eleganz derselben genannt wird), schön nennen
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können: indem hier doch wenigstens das Wohlgefallen, obgleich der Grund desselben in Begriffen liegt, subjektiv ist, da die Vollkommenheit ein objektives Wohlgefallen bei sich führt“ (XXV 366). In diesem Fall hat man nämlich ein subjektives Wohlgefallen, welches aus der wechselseitigen Stärkung von Einbildungskraft und Verstand resultiert. Somit ist klar, daß die Ablehnung der „intellektuellen Schönheit“ bloß die algebraischen Zahlen betrifft und ihren Gebrauch in der Mathematik. In diesem Sinn ist Kant Gegner Sulzers. Was jedoch die „Schönheit für die Sinne“, von der bei Sulzer die Rede ist, anbelangt, so leugnet Kant keineswegs, daß sie eine eigentliche Schönheit ist. Wenn Sulzer als Beispiel einer intellektuellen Schönheit algebraische Formeln anführt, sich auf die Mathematik als Zahlenwissenschaft bezieht und als Beispiel einer Schönheit für die Sinne die von Euler (XXX 353) entdeckten arithmetischen Proportionen unter den Schwingungszahlen in der Musik heranzieht, so ist sich Kant mit ihm einig. Gegen Sulzer zählt er die algebraischen Formeln zur objektiven formalen Zweckmäßigkeit. Mit Sulzer behandelt er die musikalischen Tonverhältnisse unter der Rubrik „Schönheit“. Die Zahlenverhältnisse, aus denen die musikalische Harmonie resultiert, stellen also nach Kant keine objektive formale Schönheit dar, sondern korrespondieren als Musik ohne Text und ohne Thema – wie der § 16 gezeigt hat – dem Spiel der Erkenntniskräfte. Ich möchte nun einen Blick auf die Quellen werfen. Wenn Kant von dem „Eifer der alten Geometer“ redet, hat er außer Platon (Politeia VII 525b–c), auch Archimedes, Euklid (X 489 f.; XXIV 379, 623, 801, 894), Pythagoras (VIII 392; XXIV 36, 801 f., 894) und Thales vor Augen (III 9; XXIV 801, 894). Kant kennt außerdem Apollonius (VIII 191; XXIV 801, 894) und setzt sich über dieses Thema mit Jean Étienne Montucla (VIII 393) und Claudius Richardus (VIII 496) auseinander. Mit Christoph Meiners und Dietrich Tiedemann und gegen Friedrich Victor Leberecht Plessing (X 363) plädiert Kant für die These, daß die Wissenschaften nicht in Ägypten, sondern in Griechenland erfunden wurden (XXV 983 f.; XXVIII 368, 536; XXIV 801). Nicht zu vergessen ist zuletzt die Diskussion mit Johann August Eberhard (VIII 191 f.; XI 42 f.; XX 390).
§ 63 Gehen wir nun über zu dem § 63, dessen Titel folgendermaßen lautet: „Von der relativen Zweckmäßigkeit der Natur zum Unterschiede von der inneren“. Der Paragraph besteht aus 6 Absätzen. Absatz 1 definiert
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die objektive und materiale Zweckmäßigkeit als den Begriff eines Zwecks der Natur, zu welchem die Urteilskraft unter der Leitung der Erfahrung gelangt. Es kann von objektiver und materialer Zweckmäßigkeit erst dann die Rede sein, wenn „ein Verhältnis der Ursache zur Wirkung zu beurteilen ist“. Kant übernimmt die im § 61 bereits aufgestellte Definition der materialen und objektiven Zweckmäßigkeit und unterscheidet zwei Arten derselben: nämlich die innere Zweckmäßigkeit einerseits, und die Nutzbarkeit für Menschen und die Zuträglichkeit für jedes andere Geschöpf andererseits. Während die innere Zweckmäßigkeit darin besteht, daß wir die Wirkung unmittelbar als Kunstprodukt, als Zweck betrachten, entstehen Nutzbarkeit und Zuträglichkeit daraus, daß wir die Wirkung nur als Material für die Kunst anderer möglicher Naturwesen, nämlich als Mittel zum zweckmäßigen Gebrauche anderer Ursachen ansehen. In dem darauffolgenden Absatz werden Beispiele der Nutzbarkeit aufgezählt. In Absatz 3 wird die Zuträglichkeit als eine bloß relative, „dem Dinge selbst, dem sie beigelegt wird, bloß zufällige Zweckmäßigkeit“ aufgefaßt, welche nicht mit der objektiven Zweckmäßigkeit der Dinge an sich selbst verwechselt werden darf. Im vierten Absatz wird ausgeschlossen, daß von einer relativen Zweckmäßigkeit die Rede sein kann, wenn sich die Menschenvernunft diejenigen Dinge als zuträglich vorstellt, denen der Mensch eine Übereinstimmung mit seinen Absichten verleiht, ohne daß er dazu von der Natur prädestiniert sei. Es bleibt damit irrelevant, ob diese Absichten „töricht“ oder „vernünftig“ sind. Absatz 5 erklärt, daß die äußere Zweckmäßigkeit als Zuträglichkeit eines Dinges für andere erst unter der Bedingung möglich ist, daß „die Existenz desjenigen, dem es zunächst oder auf entfernte Weise zuträglich ist, für sich selbst Zweck der Natur sei“ (368). Es folgt daraus, daß die relative Zweckmäßigkeit zwar „auf Naturzwecke Anzeige gibt“, ohne jedoch zu einem „absoluten teleologischen Urteile berechtigen“ zu können, indem sie bloß „hypothetisch“ (369) ist. Die Naturbetrachtung kann nämlich nicht beweisen, „daß die Existenz desjenigen“, dem ein Ding zuträglich ist, „für sich selbst Zweck der Natur“ (368) ist. Durch die eben referierten Begriffsbestimmungen verfolgt Kant das Ziel zu beweisen, daß die Naturnützlichkeit nicht der Natur als Zweck zugemutet werden darf; „eine solche Anlage auch nur zu verlangen […], würde uns selbst vermessen und unüberlegt zu sein dünken“ (369). Als Beispiele werden die Vorteile des Schnees und des Meeres für Völker, welche in kalten Ländern leben, angeführt. „Hier ist nun eine bewundernswürdige Zusammenkunft von so viel Beziehungen der Natur auf einen Zweck; und dieser ist der Grönländer, der Lappe, der Samojede, der Jakute usw. Aber man sieht nicht, warum überhaupt Menschen dort leben müssen“ (ebd.). Gegen die Anmaßungen
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der Physikotheologie behauptet Kant, daß Nutzbarkeit und Zuträglichkeit Naturanstalten sind, welche sich durch den Mechanismus der Natur leicht erklären lassen. Die hier entwickelten Gedanken werden im § 82 übernommen und einer weiteren, tieferen Analyse unterworfen.
Literatur Adickes, Erich 1924/25: Kant als Naturforscher, Berlin, 2 Bde. Aristoteles: Metaphysik, übers. v. H. Bonitz, neu bearbeitet v. H. Seidl, Hamburg 1995. Giordanetti, Piero 2001a: Estetica e sovrasensibile in Kant. Prima parte: il bello, Milano. – 2001b: L’estetica fisiologica di Kant, Milano. – 2001c: Sachanmerkungen, in: Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. H. F. Klemme, Hamburg, 431–470. – 2003: La bellezza dei cristalli. Tra Kant e Nietzsche (Vortrag, Tagung: Attualità del Classico, Politecnico Milano Bovisa, 1. Dezember 2003), in: Immanuel Kant in Italia (online), Milano (wiederabgedruckt in Secretum-online, im Erscheinen). Höffe, Otfried 1983: Immanuel Kant, München 72007. Hume, David 1779: Dialogues concerning Natural Religion, London. Lange, Friedrich Albert 1873: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn. Lukrez: De rerum Natura, hrsg. v. J. Martin, Leipzig 51969. Menzer, Paul 1911: Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte, Berlin; ND Hildesheim/Zürich/New York 2006. Platon: Politeia, in: Werke in 8 Bänden, griechisch u. deutsch, hrsg. v. G. Eigler, Darmstadt 2 1990, Bd. 4. – Theaitetos, in: ebd., Bd. 6, 1–217. Poggi, Stefano 2000: Il genio e l’unità della natura. La scienza della Germania romantica 1790– 1830, Bologna. Sulzer, Johann Georg 1771/74: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig, 2 Bde.; ND Hildesheim 1967/70. Ueberweg, Friedrich 1863: Grundriß der Geschichte der Philosophie des Alterthums I, Berlin 4 1871.
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Die Teleologie der organischen Natur (§§ 64–68)
13.1 Kants Lehre von der organischen Natur Nachdem in den präliminarischen Abgrenzungen der §§ 61 ff. die in der „Analytik“ zu untersuchende Teleologie der Natur als objektiv (§ 61), material real (§ 62) und absolut innerlich (§ 63) bestimmt wurde, entwickelt Kant in den zentralen §§ 64–68 der „Analytik“ der teleologischen Urteilskraft die eigentliche Lehre von der organischen Natur. Organische, das heißt lebendige natürliche, in heutigen Begriffen biologische Wesen zeichnen sich dadurch aus, daß sie der reflektierende Mensch als Dinge betrachtet, die sich aus eigener Kraft zweckförmig erzeugen und bilden. Es sind Gegenstände, die nicht durch mechanische Gesetze allein, sondern nur durch zusätzliche finalistische (teleologische) Erklärungen verständlich gemacht werden können. Weil die Lehre von der organischen Natur im wesentlichen als eine Theorie der Reflexion über die organische Natur gefaßt wird, welche die Bedingungen der Möglichkeiten allen Wissens über natürliche Organismen auf seiten des urteilenden Subjekts bestimmen soll, ordnet Kant sie in das Unternehmen einer „Kritik“, genauer: der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ ein. Denn die These, daß sich die organische Natur aus sich selbst ziel- und zweckförmig bildet, ist ein a priori regulatives, subjektives Prinzip der Urteilskraft, das der reflektierende Mensch notwendig bei der Erforschung organischer Gegenstände zugrunde legt. Eine erste Interpretationsschwierigkeit ergibt sich damit aus dem Verhältnis der präliminarischen Abgrenzungen in den §§ 61 ff. zur eigentlichen Lehre von der (Erkenntnis der) organischen Natur in den §§ 64–68. Denn die Bestimmungen der Objektivität (§ 61), Materialität und Reali-
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tät (§ 62) und der absoluten Innerlichkeit (§ 63) scheinen auf eine ontologische Konzeption der Teleologie zu deuten, nach der die Zweckmäßigkeit der Natur ein in der Erfahrung konkretisiertes Prinzip sein müßte, das den Dingen selbst innewohnt. In den vorliegenden §§ 64–68 wird Kant zwar zeigen, inwieweit die Natur selbst in der Erfahrung auf ihre teleologische Verfassung hinweist (366, 27), und wird dafür argumentieren, daß die Teleologie der Natur in einem gewissen Sinne konstitutiv für die Ausgrenzung biologischer Objekte überhaupt unter allen anderen Objekten ist. Er nimmt dann aber vor allem jenen Punkt ins Visier, an dem die objektive Erfahrbarkeit der Naturteleo logie definitiv versagt und der Rückzug von einem objektiv-konstitutiven organischen Naturprinzip zu einer subjektiv-regulativen Reflexionsmaxime über die organische Natur erfolgen muß. Überblick über die §§ 64–68. Nach einer allgemeinen Definition von zweckmäßigen Gegenständen und deren Binnendifferenzierung in künstliche und natürliche Zwecke, setzt Kant in § 64 mit einer vorläufigen Definition des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes ein. Dinge sind genau dann Naturzwecke, wenn sie von sich selbst Ursache und Wirkung sind. Kant veranschaulicht diese Definition am Beispiel eines organischen Gegenstandes: an einem Baum. In § 65 soll die vorläufige Definition von Naturzwecken präzisiert und von einem bestimmten Begriff abgeleitet werden. Kant führt die Selbstverursachung von Organismen zunächst auf eine Bildungskraft im Inneren der Dinge zurück. Da diese Kraft aber nicht erfahrbar ist und da sich der Mensch natürliche Organismen dennoch nur durch die Wirksamkeit einer solchen Kraft erklären kann, wird sie als ein a priori regulatives Prinzip der menschlichen Urteilskraft gedeutet, das keinen gegenstandskonstitutiven, sondern einen bloß forschungsheuristisch-regulativen Charakter hat. In den §§ 66 und 67 versucht Kant zu zeigen, daß der Mensch die Idee der Teleologie der Natur als apriorischregulatives Prinzip bei der Beurteilung einzelner natürlicher Organismen (§ 66) und der Natur als System der Zwecke im ganzen verwendet (§ 67). In § 68 wertet Kant die Ergebnisse der „Analytik“ wissenschaftstheoretisch aus. Da die Teleologie der Natur auf einem unabhängigen, immanenten Prinzip beruht, ist sie eine eigenständige systematische Wissenschaft, die vor allem von der Theologie, aber auch von der mathematischen Naturwissenschaft verschieden ist.
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13.2 Rekonstruktion und Kommentar der Naturteleologie aus den §§ 64–68 § 64 Ziel des § 64 ist es, den „eigentümlichen Charakter“ von Naturzwecken zu bestimmen. Da Naturzwecke zur Klasse der zweckförmigen Dinge gehören, werden sie zunächst von nicht zweckförmigen Dingen unterschieden: Nicht zweckförmige Gegenstände können vollständig durch die kausalmechanischen Naturgesetze des Verstandes beschrieben werden. Die Beschreibung von zweckförmigen Dingen hingegen macht zusätzlich die Vernunftidee einer Kausalität erforderlich, welche das Gesetz für all jene Züge bildet, die gegenüber den kausal-mechanischen Verstandesgesetzen zufällig, aber dennoch zur Entstehung und Erzeugung des Gegenstandes notwendig sind (370, 6 f.). Kants allgemeine Beschreibung von Dingen als Zwecken ist offen für natürliche und künstliche Zwecke; sie umfaßt Natur- und Kunstprodukte. Kunstprodukte unterscheiden sich von Naturprodukten dadurch, daß die Idee bzw. der Vernunftbegriff, der die eigentümliche Form und Gestalt eines Kunstgegenstandes verursacht („die Einheit des Prinzips der Erzeugung desselben“, 370, 19), nicht immanent im Gegenstand selbst liegt, sondern dem Gegenstand selbst äußerlich ist. Kunstprodukte setzen einen intentionalen Agenten voraus, der den Zweck des Gegenstandes von außen bestimmt, etwa einen Menschen („vestigium hominis video“, 370, 32). Naturprodukte dagegen lassen sich so verstehen, daß die kausale Zwecksetzung nicht von außen erfolgt, sondern in den natürlichen Dingen selbst geschieht: Ein „Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist“ (370, 37). Dies ist Kants erste, noch vorläufige Definition von Naturprodukten als Naturzwecken. Sie wird zunächst nur durch ein Beispiel veranschaulicht: Ein Baum verursacht sich selbst, indem er sich 1. der Gattung nach, 2. als Individuum und 3. in bezug auf seine Teile selbst erzeugt und erhält. Der Gattung nach ist ein Baum von sich selbst Ursache und Wirkung, weil er einerseits durch den Samen eines gleichartigen Baumes hervorgebracht wird, andererseits selbst den Samen enthält, aus dem ein neuer gleichartiger Baum hervorgeht. Als Individuum erhält sich ein Baum selbst, weil er etwa anorganische Nährstoffe produktiv in organische Materie umbildet, die ihm zum Wachstum verhilft. Analog zur Inokulation von Zweigen in ein artfremdes Baumauge veranschau licht Kant die Selbstregeneration verletzter Teile eines Baumes durch die Vorstellung, daß man die abgeschnittenen Äste eines Baumes auch wieder
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in das eigene Baumauge einpropfen könnte (zeitgenössisch bekannter war die Regeneration des Schwanzes von Eidechsen, eine Sensation bedeuteten die Versuche über das Regenerationsvermögen des Süßwasserpolypen Hydra von Trembley im Jahre 1744, Jahn 1982, 233 f.).
§ 65 Nach der Illustration durch das Beispiel des Baumes soll die vorläufige Definition: ein „Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist“ (370, 37) in § 65 präzisiert und „von einem bestimmten Begriffe“ abgeleitet (372, 18) werden. Diese „Ableitung“ enthält vier Schritte: (1) Die kausale Struktur des Naturprodukts wird genauer als nexus finalis, (2) dieser wiederum als eine kausale Beziehung zwischen der Idee eines Ganzen und seinen Teilen beschrieben, die (3) auf einer Bildungskraft im Inneren der Dinge beruht. (4) Da die Bildungskraft als Prinzip der Selbstorganisation im Inneren der Dinge dem Menschen niemals in der faktischen Erfahrung zugänglich, dennoch gerade jene Idee ist, durch die sich dem Menschen das organische Leben als solches erschließt, wird sie erkenntniskritisch als regulative Maxime der menschlichen Urteilskraft gedeutet, die bei der Reflexion über die Entstehung und Erzeugung von Organismen notwendig zugrunde gelegt werden muß. Schließlich erwägt Kant noch, ob die Bildungskraft dadurch verständlicher gemacht werden kann, weil sie gewisse Analogie zur menschlichen Freiheit besitzt. (1) Im ersten Schritt erläutert Kant die spezifische Struktur der Kausalität von Naturzwecken näher, indem er den nexus finalis der organischen vom nexus effectivus der mechanischen Natur unterscheidet: Der „nexus finalis“ eines Naturprodukts ist eine Kausalverknüpfung, die „sowohl abwärts als auch aufwärts Abhängigkeit bei sich“ führt (372, 19–373, 3). Von „sich selbst […] Ursache und Wirkung“ sein (370, 37) heißt daher, daß in der „Reihe“ von Ursachen und Wirkungen eine Wirkung nicht nur einseitig Ursache für eine neue Wirkung, sondern wechselseitig zugleich auch Ursache für ihre Ursache und daß eine Ursache nicht nur einseitig Ursache für ihre Wirkung, sondern wechselseitig zugleich auch Wirkung ihrer Wirkung ist. Der nexus finalis involviert „Endursachen“, d. i. Ideen bzw. „Vernunftbegriffe (von Zwecken)“, die besagen, wozu letzten Endes ein Ding vorhanden ist. Im Gegensatz zum nexus finalis besteht der nexus effectivus, das Kausalgesetz des Verstandes für die mechanische Natur, in einer einseitigen Kausalreihe, welche „immer abwärts“ geht, das heißt, in ihr kann eine Wirkung niemals wechselseitig zugleich Ursache ihrer eigenen Ursache, sondern immer nur Wirkung einer neuen Ursache sein.
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Daß Kant die spezifische Kausalstruktur des nexus finalis an dieser Stelle durch ein Beispiel aus dem Bereich der Kunst verdeutlicht (der wechselseitigen Verursachung eines Hausbaus und der Vorstellung von Mieteinnahmen), ist weniger ‚lichtvoll‘ als Frank/Zanetti (2001, 1276) meinen, denn es offenbart zugleich, daß die Struktur des nexus finalis noch kein hinreichendes Kriterium ist, um Kunstgegenstände von organischen Naturdingen zu unterscheiden, um deren spezifische Erläuterung es Kant ja eigentlich geht. Der fruchtbarere Gewinn aus dem Strukturvergleich beider Arten von Kausalitäten ist die Einsicht, daß die wechselseitige Kausalstruktur des nexus finalis die einseitige Kausalstruktur des nexus effectivus impliziert, aber nicht umgekehrt. Dadurch wird deutlich sichtbar, daß Naturprodukte, die der wechselseitigen Kausalstruktur des nexus finalis folgen, niemals durch den nexus effectivus allein erklärt werden können. (2) In einem zweiten Schritt erklärt Kant die kausale Wechselseitigkeit von Ursache und Wirkung an einem Naturprodukt sachlich genauer als ein Verhältnis, das sowohl zwischen den Teilen eines Naturprodukts besteht, die von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind, als auch zwischen den Teilen und dem einheitlichen Ganzen, zu dem sie sich verbinden. Nur wenn die Teile des Ganzen umeinander und um des Ganzen willen existieren und das Ganze wiederum um der Teile willen, ist ein Naturprodukt seinem Dasein und seiner Form nach möglich (vgl. hierzu Huneman 2007, 5 f.). (3) Ein dritter Schritt in Kants Ableitung versucht zu zeigen, daß jeder Teil eines Naturproduktes genau dann um der anderen Teile und um des Ganzen willen existiert, wenn die Teile und das Ganze einander erzeugen, wenn sie sich zueinander wie ein „Werkzeug“, wie ein „hervorbringendes Organ“ verhalten. Ein Naturprodukt ist ein „organisiertes“ und „sich selbstorganisierendes“, ein erzeugtes und sich selbst erzeugendes Wesen. Der zweckvollen Selbsthervorbringung liegt eine „bildende Kraft“ im Inneren der Dinge zugrunde, ein „fortpflanzende[s]“ Vermögen, das von einer mechanischen, bloß „bewegende[n] Kraft“ strikt verschieden ist (373, 35– 374, 8). Letztere kann zwar etwas schon Vorhandenes bewegen, nicht aber das, was sie bewegen will, selbst hervorbringen. Mit einer deutlichen Parallele zum Beispiel des Baumes aus § 64 illu striert Kant den Unterschied zwischen einer bildenden, organischen und einer bloß bewegenden, mechanischen Kraft am Standardbeispiel des mechanistischen Weltbildes, an einer Uhr. Weil eine Uhr nur eine mechanisch bewegende Kraft besitzt und sich nicht wie ein organisches Wesen selbst erzeugt und produziert, kann sie sich 1. der Gattung nach nicht selbst erhalten, denn eine Uhr bringt keine anderen Uhren hervor, kann
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sie sich 2. als Individuum nicht selbst erzeugen, denn kein Rad einer Uhr bringt ein anderes Rad hervor und kann sie 3. ihre beschädigten Teile nicht selbst reproduzieren, denn sie ersetzt „nicht von selbst die ihr entwandten Teile oder vergütet ihren Mangel“ (374, 9–21; kritische Rückfragen hierzu stellt Ginsborg 2006, 458 f.). (4) Da nach den erkenntniskritischen Voraussetzungen der ersten Kritik die Möglichkeit wahrer Erkenntnis immer an die Erfahrungsgegebenheit des Erkenntnisgegenstandes gebunden bleibt, die Bildungskraft im Inneren der lebendigen Dinge der menschlichen Erfahrung aber verborgen ist, bleibt sie dem Menschen zuletzt unzugänglich. Das Vermögen der Selbstorganisation, die Bildungskraft, ist eine „unerforschliche[] Eigenschaft“ organischer Dinge (Kreines 2005, Zammito 2003). Zwar weist der Anblick von Organismen darauf hin, daß so etwas wie eine Bildungskraft in ihnen wirksam ist, aber diese Kraft ist nicht in der Erfahrungswelt gegeben. Diese Einsicht leitet die erkenntniskritische Wende in Kants Konzeption eines Naturzwecks und den Rückzug von einer ontologisch-konstitutiven auf eine nur epistemologisch-regulative Deutung von Naturzwecken ein. Die Unerforschlichkeit der Bildungskraft für den Menschen wird noch deutlicher dadurch, daß die Bildungskraft keine Analogie zu anderen, bekannten Formen der Kausalität besitzt: Zum einen entfällt, wie bereits vorgeführt, die Analogie zur Zwecksetzung in der „Kunst“ (374, 28), da Zwecke in der Kunst durch den Künstler gesetzt werden, ein vernünftiges Wesen, das außerhalb seiner Produkte steht, während im Naturprodukt die Zwecksetzung von innen erfolgt. Es entfallen aber auch Analogien zu alternativen Theorien, die versuchen, das Phänomen des organischen Lebens verständlich zu machen: Sowohl die monistische Theorie der belebten Materie (Hylozoismus) als auch die dualistische Theorie der Seele als belebendem Prinzip der Materie sind nicht tragfähig. Der Hylozoismus muß die „Materie als bloße Materie“ mit der Eigenschaft der Lebendigkeit versehen, die ihr widerspricht. Materie ist aus sich selbst leblose Materie (MAN IV 544; 394, 26 ff.). Wird dagegen die Seele als das belebende Prinzip der Materie vorausgesetzt, gerät man in eine ähnliche Aporie wie im Falle künstlicher Zwecke: Wie für den Künstler und das Kunstwerk aus dem Künstler entstammt die Zweckintentionalität für die Seele und die Materie aus der Seele und bleibt der Materie selbst äußerlich. Will man diese Konstruktion vermeiden, muß die Materie schon als organisierte Materie vorausgesetzt werden und die Erklärung der organisierten Materie durch die organisierte Materie wäre zirkulär. Eine einzige, wenngleich auch nur „entfernte Analogie“ der Bildungskraft zu bekannten Formen der Kausalität gesteht Kant zu: die Analogie
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zum „praktischen Vernunftvermögen[]“, zur menschlichen „Kausalität nach Zwecken“ (375, 24). Was bedeutet diese Aussage? Eckart Förster meint, Kant weise implizit schon in der „Analytik“ auf den Gedanken aus den §§ 76 und 77 der „Dialektik“ hin, daß in der praktischen menschlichen Zwecksetzung vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen werde, so, wie in der Bildungskraft die Idee des Ganzen (das Allgemeine) die kausale Voraussetzung für die Gestalt und Form der Teile (das Besondere) sei. Gegen diese Deutung spricht, daß Kant drei Formen praktischer menschlicher Zwecksetzung kennt: technische, pragmatische und moralische Zwecksetzungen (GMS IV 414 ff.) und daß die vorliegende Passage eine Analogie der Bildungskraft zur Kunst, die der technischen Zwecksetzung entspricht, mit Nachdruck bestreitet. Kant scheint also in der „Analytik“ nicht an eine Analogie zwischen der Bildungskraft und allen Formen der praktischen menschlichen Zwecksetzung in genere zu denken und sich nicht auf deren gemeinsames Merkmal, den Schluß vom Allgemeinen zum Besonderen, zu beziehen. Wenn die Analogie zu technischen praktischen Zwecksetzungen ausscheidet, könnte man die verbleibenden Möglichkeiten einer Analogie zu pragmatischen oder zu moralischen praktischen Zwecksetzungen des Menschen erwägen. Pragmatische Zwecke zielen auf die Glückseligkeit des Menschen, moralische Zwecke streben danach, daß sich der Mensch in seiner Bestimmung als moralisch-sittliches Wesen verwirklicht. Die „entfernte Analogie“ der Naturteleologie zur pragmatischen menschlichen Zwecksetzung bestünde analog in einem Zug der Natur, selbst nur jene vorteilhaften Eigenschaften hervorzubringen, die für das Naturprodukt physisch beförderlich und gut sind. Die „entfernte Analogie“ zur moralischen menschlichen Zwecksetzung bestünde darin, daß die Natur in ihrem Vermögen der Selbstorganisation einen spontaneitäts- und freiheitsanalogen Zug der Ursächlichkeit besitzt, durch den sie aus sich selbst normativ ist und sich zu ihrer besten, d. i. zu ihrer zweckmäßigen Form bestimmt. Daß diese Analogie nur eine „entfernte“ bleibt, liegt daran, daß sich zwar die Freiheit für den Menschen faktisch aufweisen läßt (KpV V 31), der Mensch jedoch keine faktische Einsicht in die Spontaneität und eine freiheitsanaloge Selbstbestimmung der Natur besitzt. Auch Zumbach interpretiert Kant so, daß die ‚biologische Kausalität Freiheit involviert‘ (1984, 107, 116, 128). Allerdings ist seine Behauptung zu stark, denn Kant sagt deutlich, daß die Bildungskraft durch keine bekannte Form der Kausalität erschlossen werden kann, also auch durch die menschliche Freiheit nicht. Der Mensch erklärt sich die Natur nur so, als ob sie sich so verhielte, wie er sich selbst aus Freiheit verhält und
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versteht. Deshalb folgert Kant, der Begriff eines Naturzwecks sei kein „konstitutiver Begriff des Verstandes oder der Vernunft“, sondern nur ein „regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft“ des Menschen (375, 18 f.). Während es in den §§ 64 und 65 anfangs so aussieht, als ob Kants „Ableitung“ des Begriffs eines Naturzwecks auf eine bestimmte bildende Kraft im Inneren der Dinge selbst zurückgeführt und damit letztlich in ein ontologisches Prinzip münden soll, verursacht dessen epistemische Unzugänglichkeit als Faktum der Erfahrung schließlich den Rückzug von einer konstitutiv-ontologischen auf eine epistemologisch schwächere, erkenntniskritisch limitierte Deutung der Naturzwecklehre: Die Teleologie der Natur ist ein regulatives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, das der Mensch bei der Beurteilung der Natur zugrunde legt. Der „bestimmte“ Begriff, auf den die Ableitung der Definition von Naturzwecken zurückgeführt wird, ist die Zweckmäßigkeit der Natur als regulatives Reflexionsprinzip der menschlichen Urteilskraft.
§ 66 Daran anschließend argumentiert Kant in § 66 dafür, daß die Zweckmäßigkeit ein a priori gültiges, regulatives „Prinzip der Beurteilung“ der Natur ist, das mit „Allgemeinheit und Notwendigkeit“ von einzelnen Naturprodukten ausgesagt wird (vgl. KrV B 3 f.). Das Argument für die Notwendigkeit des Prinzips der teleologischen Beurteilung der Naturprodukte ist, daß die Fachleute, das heißt Naturforscher und Anatomen (die „Zergliederer der Gewächse und Tiere“), die teleologische Maxime, „daß nichts in einem solchen Geschöpf umsonst sei“, „notwendig“ immer schon benutzen. Dabei ist es gar nicht entscheidend, daß Kant sich hier auf die Spezialisten beruft, denn deren Urteil könnte nur komparative, aber nicht universelle Allgemeinheit beanspruchen, sondern darauf, daß die Fachleute als urteilende menschliche Subjekte überhaupt gar nicht anders „können“ (376, 31), als teleologisch über natürliche Produkte zu reflektieren: ein transzendentales Argument. Der Grund für die Allgemeinheit der Geltung des Prinzips der Beurteilung einzelner Naturprodukte als zweckmäßiger Organismen ist, daß ihr eine „Idee“ zugrunde liegt. Da eine Idee nicht nur eine bedingte, sondern „eine absolute Einheit der Vorstellung“ ist, muß sie, wenn sie als apriorischer „Bestimmungsgrund“ für die Form eines Dinges angesetzt wird, auf alle Aspekte des Gegenstandes erstreckt werden, das heißt, sie besitzt für den natürlichen Gegenstand nicht nur eine respektive und relative,
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sondern eine absolute und allgemeine Geltung: „Alles“ (377, 9) an dem Ding muß aus der Idee des Ganzen erklärt werden können. In § 66 gibt Kant außerdem noch einmal eine alternative Definition von Naturzwecken. Die Reformulierung: „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“ (376, 11 ff.) schärft den Blick für die paradox anmutende und dennoch zutreffende Konstellation, daß die finale Idee eines organischen Naturdings im ganzen, die den einheitlichen Zweck des organischen Gegenstandes formuliert, zugleich das Mittel für die Teile des Naturdinges ist, die ihrerseits den Zweck für das Ganze bilden. Weitere Varianten des Teleologieprinzips, die der kurze Paragraph enthält, wie: nichts geschieht in einem Naturprodukt „von ungefähr“, „[n]ichts in ihm ist umsonst, zwecklos“, sind traditionelle, teils popularisierende, teils trivialisierende Versionen des Teleologiegedankens.
§ 67 Der § 67 ist der zerstreuteste Paragraph der gesamten „Analytik der teleologischen Urteilskraft“. Auf § 66 aufbauend will Kant zeigen, daß nicht nur einzelne Naturdinge, sondern auch die Natur insgesamt a priori regulativ als System der Zwecke beurteilt werden muß. Kant probiert nicht weniger als sechs verschiedene Argumente. Keines davon scheint die These wirklich beweisen zu können. Kant schlägt zunächst zwei Wege ein, die sich für das Argumentationsziel als unbrauchbar herausstellen. Da die Frage nach der Zweckmäßigkeit der Natur im ganzen so verstanden werden könnte, daß sie sich auf das zweckmäßige Verhältnis zwischen allen einzelnen Naturdingen richtet, scheint sich die relative Zweckmäßigkeit aus § 63 als Lösungsansatz aufzudrängen (377, 27–378, 11), weil sie die Zweckrelationen zwischen den einzelnen Naturdingen betrachtet. Allerdings sind die von der relativen Zweckmäßigkeit beschriebenen äußerlichen Nützlichkeitsverhältnisse zwischen den einzelnen Naturdingen nur hypothetisch und zufällig. Sie setzten auch keinen Bezug auf die Idee der Natur als Ganze voraus. Für die Erklärung einer zweckmäßigen Beurteilung der Natur im ganzen sind relative Zweckbezüge daher zu schwach. Kant läßt den ersten Weg fallen. Im zweiten Weg (378, 12–34) setzt Kant so an, daß man, um nachzuweisen, daß der Mensch die Natur im ganzen als zweckförmig beurteilt, zeigen müßte, daß er die Existenz aller einzelnen Naturdinge als Zweck der Natur betrachtet. Dafür müßte man aber wiederum wissen, was denn der notwendige und letzte Zweck der Natur ist. Da der „Endzweck“ der Natur jedoch „über die Natur hinaus“ liegt und eine „Beziehung derselben auf etwas
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Übersinnliches“ voraussetzt (378, 16–19), geht diese Argumentation über den Kontext der Naturwissenschaft (Naturteleologie) hinaus. Im Hintergrund des Gedankenganges steht Kants These aus der „Methodenlehre“, daß der Endzweck der Natur der Mensch als moralisches Wesen ist (435, 32), der als Wesen der Freiheit und des moralischen Glaubens außerhalb der Natur liegt. Da dieser zweite Weg nur unter der zu starken Voraussetzung moralteleologischer, schließlich moraltheologischer Annahmen gangbar wäre, läßt Kant auch den zweiten Ansatz fallen. Er sucht im Rahmen einer „Analytik“, der Prinzipienlehre für die organische Natur, nach einem Argument für die Zweckförmigkeit der Natur im ganzen, das innerhalb der Naturwissenschaft vertreten werden kann. Trotz eines schwer verständlichen Gedankensprunges meint Kant nun in einem dritten Vorstoß folgern (!) zu können, es sei „also“ nur die Materie, „sofern sie organisiert ist“, die „notwendig“ auf die subjektiv-regulative Reflexionsmaxime einer „Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke“ führt. Man sei „durch das Beispiel“, welches die Natur an ihren einzelnen organischen Produkten gibt, „berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im Ganzen zweckmäßig ist, zu erwarten“ (378, 35–379, 9). Während die erste dieser beiden äußerst knappen und thetischen Teilbemerkungen so klingt, als ob Kant von einer bestimmten Materiekonzeption aus auf die Zweckmäßigkeit der Natur im ganzen schließen will, scheint der zweite Satz eher einen Analogieschluß von der Organisation einzelner Organismen auf die organische Natur als Gesamtorganismus zu intendieren. Wieder geht Kant zu andersgearteten Argumenten über, etwa einer Reihe von empirischen Belegen dafür, daß man bei genauerem Nachdenken auch in allen vordergründig zweckwidrigen Dingen einen tieferen Zweck entdecken könne (379, 10 ff.). Allerdings kann über empirische Beispiele keine apriorische Deduktion geführt werden, daß der Mensch die organische Natur im ganzen als System der Zwecke beurteilen muß. Daß es außerdem die „Schönheit der Natur“ sei (380, 13 ff.), die auf eine „objektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihrem Ganzen, als System“ schließen lasse, ist ebenfalls kein überzeugendes Argument. Denn wenn nur aus der Schönheit der organischen Natur auf ihre Zweckmäßigkeit im ganzen geschlossen wird, die organische Natur aber offensichtlich schön und unschön ist, wie kann es dann möglich sein, daß der Mensch die organische Natur im ganzen als zweckmäßig beurteilen muß? In Verlegenheit um ein überzeugendes Argument setzt Kant schließlich selbst die unbefriedigenden Textpassagen mit einer entschiedenen Geste beiseite („Wir wollten in diesem § nichts anders sagen […]“, 380, 26–381,
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7) und kehrt zu seinem Gedanken aus § 66 zurück, den er, um das Beweisziel von § 67 doch noch erreichen zu können, stärker verallgemeinert: Weil der Mensch schon bei der Beurteilung eines einzelnen Naturprodukts als Naturzweck die absolute Idee der Einheit des einzelnen Dings im ganzen verwendet, die nicht in den mannigfaltigen Aspekten des erfahrbaren Einzeldings gegeben ist und insofern über die Sinnenwelt hinausweist, geht er auch weiter und wendet „die Einheit des übersinnlichen Prinzips“ auf „das Naturganze als System“ an. Das heißt, der Mensch verfährt bei der Beurteilung der mannigfaltigen Züge eines Einzeldings durch die Idee des jeweiligen Dings im ganzen genauso wie bei der Beurteilung aller Aspekte der Natur durch die Idee der Natur im ganzen – in beiden Fällen legt er seiner Beurteilung der Vielfalt der Erfahrung die übersinnliche Vernunft idee eines einheitlichen Ganzen zugrunde.
§ 68 In den §§ 64–67 hat Kant dafür argumentiert, daß die Erforschung der organischen Natur ein eigenes, immanentes Prinzip, die Teleologie der Natur als subjektive Reflexionsmaxime, besitzt. Da eine Wissenschaft nach Kant genau dann zu einer eigenständigen, systematisch aufgebauten Disziplin wird, wenn sie nicht aus fremden Begriffen abgeleitet werden muß, sondern auf einem eigenen, unabgeleiteten Prinzip beruht, folgert Kant in der wissenschaftstheoretischen Auswertung der „Analytik“ in § 68, daß die Naturteleologie eine eigenständige Wissenschaft ist, die vor allem weder mit der Theologie vermengt, aber auch nicht mit der mathematischen Naturwissenschaft gleichgesetzt werden darf. Richards (2000, 27) geht demnach in die Irre, wenn er gegen die Textevidenz von § 68 behauptet, daß die Organismuslehre für Kant keinen Status einer Wissenschaft haben kann. Auch in § 79, wo Kant deutlicher zwischen doktrinalen Wissenschaften und der kritischen Wissenschaft der Naturteleologie unterscheidet, betont er den Status der „Teleologie als Wissenschaft“ (417, 15). Für eine Abgrenzung der Naturteleologie von der Theologie gibt Kant drei Gründe: 1. Da die Gegenstände der Natur und die Natur als Ganze hinreichend nach „bekannten Erfahrungsgesetzen“ (Naturgesetzen) erklärt werden können, zu denen Kant auch das Gesetz der Teleologie zählt, wäre es redundant, sich zusätzlich auf Gott zu berufen, um die Natur zu erklären. Im Hintergrund steht das Sparsamkeitsprinzip, nach dem eine Theorie dann als leistungsfähiger gilt, wenn sie auf der Basis von weniger Prinzipien dieselbe Erklärungsmacht besitzt wie eine komplexere Theorie
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(382, 7–15). 2. Man begeht einen argumentativen Zirkel, wenn man sich innerhalb derselben Theorie auf Gott beruft, um die Existenz der Natur zu erklären, und umgekehrt die Existenz Gottes durch die Ordnung der Natur plausibel macht. Die Frage nach Gott liegt gänzlich außerhalb der Naturwissenschaft, sie gehört zur Theologie bzw. zur Metaphysik (381, 25–30). 3. Zwar trifft es zu, daß man in der Teleologie so spricht, als ob die Zweckmäßigkeit der Natur „absichtlich sei“ und als ob sie sich wie ein freier, intentionaler Agent (ein Gott, ein Mensch) verhalten würde, der zwischen verschiedenen Absichten wählen kann. Aber die quasi-intentionale Redeweise von Absichten in der Natur ist kein Indiz dafür, daß ein Gott im Verhalten der Natur waltet. Denn sie beruht nur auf einer Ähnlichkeit, nicht aber einer Selbigkeit der Gesetze und Regeln frei wählender Wesen in praktischen Zwecksetzungen und der Gesetze einer zweckmäßigen Entfaltung der Natur. In Absatz 5 des Paragraphen wiederholt Kant noch einmal die Abgrenzung der Naturteleologie gegen die mathematische Naturwissenschaft aus § 62. Die Mathematik und die Geometrie weisen zwar eine „technische Zweckmäßigkeit“ auf, aber diese ist von der Zweckmäßigkeit in Naturdingen verschieden. Mathematische Beschreibungen der Natur, etwa „[a]rithmetrische“ und „geometrische Analogien“ oder „allgemeine mechanische Gesetze“, können „ohne allen Beitritt der Erfahrung“ eingesehen und „a priori“ in der Anschauung demonstriert werden (382). Für teleologische Erklärungen in der Physik dagegen gilt, daß die Urteilskraft durch die „Erfahrung“ (366) auf die Zweckmäßigkeit der Natur verwiesen wird. Die Grundlage der zweckmäßigen Beurteilung der Natur ist ‚material‘ (real), nicht ‚formal‘ (§ 62), das heißt, sie setzt die empirische Anschauung der Naturgegenstände in der Erfahrung voraus.
13.3 Zwei Interpretationskontexte der Naturzwecklehre 1. Die aktuelle historische Kantforschung zur Organismuslehre der Kritik der Urteilskraft problematisiert vor allem Kants Verhältnis zur Präformations- und zur Epigenesistheorie. Die Präformations- oder auch Evolutions theorie (von lat. evolvere: nicht ‚entwickeln‘, wie man heute den Terminus ‚Evolution‘ versteht, sondern nur auswickeln) behauptet, daß der gesamte „Bauplan“ eines natürlichen Lebewesens bereits im Keim, entweder im männlichen Spermatozoon (Animalkulismus) oder im weiblichen Ei (Ovismus, Ovulismus), vorgebildet und „eingeschachtelt“ ist. Häufig ist sie mit der theologischen These verknüpft, daß Gott den Bauplan des Lebewesens
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im Keim vorherbestimmt hat. Die Aufgabe der Natur in präformationi stischen Theorien besteht allein darin, den „Bauplan“ auszuwickeln; das Lebewesen ist nur ein „Edukt“ (371, 24), das aus dem Keim herausgefaltet wird. Die Epigenesislehre dagegen schreibt dem lebendigen Naturgegenstand selbst Kräfte oder Gesetzmäßigkeiten zu, aus denen er sich erzeugt und produziert. Während die frühen Vertreter der Epigenesis diese Kräfte noch in newtonianischer Tradition mechanisch interpretieren (Maupertuis’ Anziehungs- und Abstoßungskraft, Needhams force vegetative, Buffons force pénétrante, Wolffs vis essentialis), führt Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) mit dem Bildungstrieb oder nisus formativus eine stärker vitalistische Deutung der körpereigenen Bildungskräfte ein. In epigenetischen Theorien ist der Organismus kein Edukt, sondern ein Produkt, ein sich selbst hervorbringendes Wesen. Besonders stark umstritten ist in der Forschung, wie Kants Verhältnis zur Annahme vitalistischer Kräfte in der Epigenesislehre gedeutet werden muß. Während Huneman Kant in das Programm der ‚Enlightenment vitalists‘ einordnet (2006, 653; 2007, 12), hat Zumbach deutlich dagegen argumentiert, daß Kant ein Vitalist ist (1984, 79 ff.). Auch die wechselseitige Beeinflussung zwischen Blumenbach und Kant ist kontrovers. Nach Lenoirs harmonisierender Darstellung (1980, 78; 1982, 17–34) verfolgen Blumenbach und Kant dasselbe Programm eines „vital materialism“ oder „teleomechanism“. Richards (2000, 12) dagegen argumentiert dafür, daß die Beziehung zwischen Kant und Blumenbach eher durch ein ‚kreatives Mißverständnis‘ geprägt ist. Zammito (2003, 80; 2007) hat mehrfach auf Kants ambivalentes Verhältnis zur Epigenesislehre hingewiesen. Es ist ein textegetisches Faktum, daß Kant in den vorliegenden §§ 64–68 implizit für und gegen die vorhandenen naturphilosophischen Theorien Stellung nimmt. Mit den drei Aspekten eines produktiven Vermögens der Selbsterzeugung im Sinne der Gattung, des Individuums und der Teile des Individuums, das in § 64 am Beispiel der Selbstbildung eines Baumes demonstriert wird, und mit der Lehre von der Bildungskraft aus § 65 eignet sich Kant zeitgenössische epigenetische Argumente gegen die im 18. Jahrhundert vorherrschende Präformationstheorie an und scheint sich zunächst als ein Vertreter der Epigenesis positionieren zu wollen. In der Schrift Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte (1781) schreibt Blumenbach, daß in allen belebten Geschöpfen „ein besonderer, eingeborener, lebenslang tätiger wirksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja zerstört worden, wo möglich wieder herzustellen“; ein Trieb, „der sowohl von den allgemeinen Eigenschaften der Körper überhaupt, als auch von den übrigen eigentümlichen Kräften der organisier-
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ten Körper ins besondere gänzlich verschieden ist“ und „der eine der ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduktion zu sein scheint“. Blumenbach gibt ihm den Namen eines „Bildungs-Triebes (Nisus formativus)“ (1781, 12 f., vgl. schon im Handbuch zur Naturgeschichte 1779/121830, 14 ff.). Mit den Phänomenen der „Generation, Nutrition und Reproduktion“, denen Blumenbach einen Bildungstrieb zugrunde legt, werden genau jene drei Aspekte der Selbstorganisation angesprochen, die Kant im Beispiel des Baumes als Erhaltung der Gattung durch die Erzeugung eines neuen Individuums („Generation“), als Wachstum des Individuums durch dessen Ernährung („Nutrition“) sowie als Ersetzung von Teilen des Individuums im Falle von Verletzungen („Reproduktion“) differenziert und denen er analog zum Bildungstrieb eine Bildungskraft zugrunde legt. Außerdem benutzt Kant die Termini „Edukt“ und „Produkt[]“ aus der zeitgenössischen Debatte in § 64 äußerst bewußt und konzise. Daß er Organismen ausdrücklich als Produkte versteht, weist ebenfalls darauf hin, daß er mit der Epigenesis sympathisiert (Zammito 2003, 90; vgl. XXVIII 684, XXIX 760 f.). Schließlich wurde auch das Problem von Mißbildungen, das Kant am Ende des § 64 anspricht, als Argument gegen die Präformationstheorie verwendet. Denn wenn die Form und Gestalt eines natürlichen Gegenstandes eine Auswickelung des göttlich präformierten Keimes ist, dann müßte Gott die Mißbildungen in den Bauplan des Gegenstandes hineingelegt haben, ein Gedanke, der sich mit der Vortrefflichkeit des Schöpfungsplanes schwer vereinigen läßt. Kant analogisiert das Phänomen der Mißbildungen der Reproduktion der verletzten Teile eines Gegenstandes. Es sind Mängel, die durch ein produktives Verhalten der Natur ausgeglichen werden können. Die unaufhebbare Differenz zwischen der vitalistischen Deutung der Epigenesislehre und der Kantischen Theorie kommt dadurch zustande, daß die Annahme einer körpereigenen, vitalistischen Naturkraft für Kant erkenntniskritisch gebrochen wird, da die Bildungskraft nicht in der Erfahrung gegeben ist. Kants Konzeption einer Bildungskraft ist nicht wie bei den Vitalisten, etwa bei Blumenbach, ein konstitutiv-ontologisches Prinzip, ein wirklicher Trieb, der den Dingen selbst zugeschrieben wird, sondern schwächer nur eine regulativ-epistemologische Reflexionsmaxime der menschlichen Urteilskraft, die dazu dient, zweckförmige Prozesse in der organischen Natur erklärbar zu machen (§§ 66 f.). 2. Die stärksten systematischen Herausforderungen an eine Konzeption der Naturteleologie wie die Kantische sind dadurch entstanden, daß sich in den letzten etwa 35 Jahren von seiten einer an den empirischen Naturwissenschaften orientierten Philosophie der Biologie eine intensive Debatte
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um teleologische Erklärungen biologischer Phänomene gebildet hat, in der die unverzichtbare explanatorische Bedeutung teleologischer Erklärungen von Organismen überwiegend anerkannt wird (vgl. die Anthologien von Rescher 1986, Allen/Bekoff/Lauder 1998, Buller 1999, Ariew/Cummins/ Perlman 2002). Wie in der Kantischen Theorie gelten teleologische Erklärungen für Organismen als unabdingbar. Im Unterschied zur Kantischen Konzeption der Teleologie jedoch werden die teleologischen Prozesse der organischen Natur vollständig naturalistisch analysiert. Das heißt, die moderne Debatte erkennt das von Kant beschriebene Phänomen der Zielgerichtetheit organischer Prozesse an, erklärt es aber empirisch und deter ministisch. Die Fortbildungen zweier Ansätze aus den 70er Jahren prägen diese Theorielandschaft: evolutionistische Ansätze (evolutionary functions) und der kausale Ansatz (causal-function, auch Cummins-function). Nach der „causal role-theory“ (Cummins 1975 in Allen/Bekoff/Lauder 1998 und Buller 1999) bestimmt sich der Zweck bzw. die Funktion eines Teiles von einem System schlicht durch dessen Beitrag zu einer spezifischen Aktivität oder Kapazität des gesamten Systems. Evolutionistische Ansätze (initiiert durch Wright 1973, in Allen/Bekoff/Lauder 1998 und in Buller 1999) dagegen analysieren die Konzeption der Teleologie in darwinistischer Tradition im Rahmen der Evolutionstheorie und der natürlichen Selektion. Der Zweck eines Charakterzuges oder eines Organs wird anhand seiner Rolle im Selektionsprozess bestimmt. Die drei Unterformen des evolutionistischen Ansatzes, die „etiology theory“ (Wrigth 1973, Millikan 1984, Neander 1991, Godfrey-Smith 1994, alle in Allen/Bekoff/Lauder 1998 und in Buller 1999), die „propensity view“ (Bigelow/Pargetter 1987 in Allen/ Bekoff/Lauder 1998 und in Buller 1999) und die „relational view“ (Walsh/ Ariew 1996 in Buller 1999) unterscheiden sich dadurch, daß jeweils ein verschiedener Zeitpunkt in der selektiven Geschichte eines Gegenstandes als relevant angesehen wird, von dem aus die Funktion eines Charakterzuges festgelegt wird Aus der Sicht der gegenwärtigen Deutungen zweckgerichteter Prozesse der organischen Natur in den empirischen Naturwissenschaften muß sich die Kantische Konzeption der Teleologie vor allem gegen drei Vorwürfe gewappnet halten: 1. gegen den Vorwurf eines fehlenden Reduktionismus, weil sie a) nicht gänzlich auf die problematische Annahme einer vitalistischen, nicht mechanisch erklärbaren Kraft verzichtet, weil sich b) die Finalkausalität im nexus finalis nicht auf den Mechanismus (kausalen Determinismus) zurückführen läßt und weil c) das apriorische Beurteilungsprinzip der Teleologie auf der mentalistischen Annahme des menschlichen Geistes
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beruht; 2. gegen den Vorwurf, daß die Finalkausalität eine kontraintuitive Umkehrung der kausalen Zeitordnung zwischen Ursache und Wirkung enthält (Problem der „backwards“ oder „reverse causation“) und 3. gegen den Vorwurf, daß die teleologischen Behauptungen nicht vollständig empirisch getestet werden können (nach Allen/Bekoff in Buller 1999, 244). Eine erste Verteidigung von Kants Theorie der Teleologie im Angesicht naturalistisch und deterministisch argumentierender Teleologiekonzepte haben unter anderem McLaughlin (1990), Ginsborg (2001, 2006), Quarfood (2004) und Walsh (2006) versucht.
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Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft und Kants Ablehnung alternativer Teleologien (§§ 69–71 und §§ 72–73) 14.1 Einleitung Die §§ 69–73 machen die erste Hälfte der „Dialektik der teleologischen Urteilskraft“ aus, und enthalten deshalb, wie die Dialektiken im allgemeinen bei Kant, sowohl eine Kritik als auch eine Diagnose von Fehlschlüssen, die wir ganz natürlicherweise geneigt sind zu ziehen. Die „Dialektik“ folgt unmittelbar auf die „Analytik der teleologischen Urteilskraft“, die eine detaillierte Analyse des Begriffes eines Naturzweckes liefert. Dieser zufolge stellt ein Naturzweck ein Prinzip dar, in dem die Teile sich gegenseitig unter einem Ganzen bedingen, wodurch sich ein Naturzweck sowohl von Kunstprodukten und relativen Zwecken unterscheidet, deren Prinzipien nicht intern sind, als auch von der mechanistischen Kausalität, deren Prinzip zwar intern ist, aber ansonsten grundlegend anders strukturiert ist. Die §§ 69–73 haben zwei Hauptziele. Erstens will Kant die Antinomie der reflektierenden Urteilskraft vorstellen, die vom Begriff eines Naturzwecks ausgeht und in Form eines Konflikts zwischen zwei Arten der Erklärung der Erzeugung von Organismen ausgetragen wird. Genauer: Ein Widerspruch bestehe zwischen dem Mechanismus, der behauptet, daß alles, was in der Natur geschieht, durch mechanische Gesetze erklärt werden kann, und der Teleologie, welche auch nicht-mechanische Endursachen benötigt. Zweitens will Kant vier verschiedene alternative Teleologien darstellen, die in der Geschichte der Philosophie entwickelt worden sind, und sie als dogmatisch widerlegen. In den verbleibenden Paragraphen der „Dialektik“ (§§ 74–78) wird der in der Antinomie dargestellte Widerspruch dadurch aufgelöst, daß Kant eine Unterscheidung zwischen unserem diskursiven und einem möglichen intuitiven Verstand einführt.
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14.2 Struktur und grundlegende Behauptungen der §§ 69–73 In § 69 blickt Kant auf die Unterscheidung zwischen der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft zurück, die in der 1. Einleitung KU (XX 211) gemacht wurde, und beschreibt, warum nur für die reflektierende Urteilskraft eine Antinomie entstehen kann. Da die bestimmende Urteilskraft nur Gegenstände unter Gesetze oder Begriffe, die ihr von außerhalb gegeben werden, subsumiert, hat sie keine eigenen Prinzipien, die einander in einer Antinomie widersprechen könnten. Die reflektierende Urteilskraft hingegen fängt mit einzelnen Gegenständen an und muß dann Gesetze oder Begriffe aufsuchen, unter die die einzelnen Gegenstände subsumiert werden können; in diesem Falle fungieren die Gesetze oder Begriffe als Prinzipien. Da sie selbst die verwendeten Prinzipien auswählt, kann sie mit sich selbst in Konflikt geraten (z. B. wenn diese Prinzipien einander widersprechen). Kant bemerkt, daß die reflektierende Urteilskraft notwendig ist, weil Gesetze oder Begriffe für die Erkenntnis der empirischen Naturgesetze ausgesucht werden müssen. Sie ist aber dennoch bloß subjektiv, da diese Gesetze oder Begriffe weder von Objekten noch von unserem Verstand, der solche Objekte möglich macht, sondern von unserer eigenen Urteilskraft gegeben werden. Kant zeigt also, inwiefern die Antinomie der reflektierenden Urteilskraft wirklich eine Antinomie ist, indem er darlegt, daß sie zumindest einige Bedingungen erfüllt, die in der Kritik der reinen Vernunft dafür aufgestellt werden, daß eine Antinomie unabläßlich und auf natürliche Art von unseren eigenen Vermögen erzeugt und durch eine kritische Analyse ihrer Grundlage in unseren Erkenntnisvermögen aufgelöst wird. In § 70 erläutert Kant zuerst ganz allgemein, wie eine Antinomie für die reflektierende Urteilskraft entstehen kann. Dann wendet er sich dem spezielleren Problem zu, welche Prinzipien oder Maximen der reflektierenden Urteilskraft miteinander in Konflikt geraten könnten. Im Vergleich mit den notwendigen Gesetzen, die der Verstand der Natur a priori vorschreibt und die die reflektierende Urteilskraft nicht in Anspruch nimmt, benötigt die zufällige Einheit der verschiedenen empirischen Gesetze, die uns eine vereinheitlichte Erkenntnis der Welt liefern sollen, doch die reflektierende Urteilskraft, und zwar in bezug auf zwei Maximen: Die eine wird benötigt, weil der Verstand der Natur nicht nur apriorische Gesetze, sondern auch empirische Gesetze vorschreibt. Die andere wird gebraucht, weil es bestimmte Erfahrungen gibt, die wir nicht mechanisch erklären können und deshalb nach einer anderen Erklärungsweise suchen müssen. Wenn
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diese zwei Maximen in Konflikt geraten, wird die reflektierende Urteilskraft mit sich selbst uneinig. Kant stellt zwei Formulierungen von einander widersprechenden Sätzen dar. Die ersten zwei Sätze drücken einen Widerspruch der reflektierenden Urteilskraft aus, und zwar so, daß die eine Maxime Urteile fordert, die mechanische Gesetze verwenden. Die andere behauptet, daß solche Urteile nicht ausreichen und daß deshalb zusätzlich Urteile, die teleologische oder Endursachen verwenden, benötigt werden. Die zweite Gruppe von kontradiktorischen Sätzen hingegen drückt einen Widerspruch zwischen den analogen konstitutiven Prinzipien der bestimmenden Urteilskraft aus. Kant argumentiert, daß die zweite Gruppe keine Antinomie bildet, da die Vernunft keines der widersprüchlichen Prinzipien a priori beweisen kann (was zu einer echten Antinomie erforderlich wäre), weil diese Prinzipien einen nicht-trivialen empirischen Gehalt haben. Also nur wenn dieser Inhalt in Form von regulativen Prinzipien ausgedrückt wird, hat man eine angemessene Darstellung dieser Antinomie: Denn dann gibt es erstens einen Widerspruch zwischen beiden Sätzen und beide Sätze können zweitens a priori bewiesen werden. In § 71 bereitet Kant die Auflösung der Antinomie zwischen Mechanismus und Teleologie vor, indem er die Aufmerksamkeit von den Fragen ablenkt, i) wie die Natur in der Tat funktioniert und ii) wie wir sie durch die bestimmende Urteilskraft erkennen können, und sie stattdessen auf die Fragen leitet, i) wie wir in Ansehung der Einschränkungen unserer epistemischen Fähigkeiten die Natur beurteilen müssen und ii) inwiefern die reflektierende Urteilskraft die relevante Kraft für solche Urteile ist. Er merkt auch an, daß es einen zusätzlichen Vorteil gibt, wenn wir in dieser Weise auf die reflektierende Urteilskraft achten, nämlich, daß wir in unseren Untersuchungen dazu geführt werden, weiterhin innerhalb der sinnlichen Welt zu suchen, statt daß wir von der bestimmenden Urteilskraft dazu gezwungen werden, solche Untersuchungen zu früh zu beenden und Zuflucht zur transzendenten Welt zu nehmen. In § 72 beschreibt Kant verschiedene Erklärungen einer wirklichen oder nur scheinbaren Teleologie in der Welt, die entstehen, wenn man überlegt, wozu Endursachen führen, wenn sie dogmatisch über das Reich der Naturwissenschaften hinaus verfolgt werden. Er erwägt vier Positionen: 1. Für Epikur und Demokrit sind Endursachen nur scheinbar. Sie lassen sich auf den blinden Zufall in der leblosen Materie, das heißt auf rein mechanische Bewegungsgesetze (auf einen physischen, idealen Grund) reduzieren. 2. Auch für Spinoza sind Endursachen nur scheinbar. Denn sie hängen eigentlich von der notwendigen Natur eines leblosen Gottes (von
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einem hyperphysischen, idealen Grund) ab. 3. Eine dritte Position erklärt Endursachen entweder durch die lebende Materie oder durch eine belebende Weltseele (durch einen physischen, realen Grund). 4. Der Theismus wiederum führt Endursachen auf die bewußten Absichten eines lebendigen Gottes (auf einen hyperphysischen, realen Grund) zurück. In § 73 argumentiert Kant, daß keine der in § 72 beschriebenen Erklärungen zufriedenstellend ist. Die Erklärung Epikurs scheitert, da der „blinde Zufall“ nichts erklärt. Die Erklärung Spinozas greift zu kurz, weil die Notwendigkeit und das Fehlen des Verstandes, das einem leblosen Gott zugeschrieben wird, die zur Zweckmäßigkeit erforderte Zufälligkeit und Verständlichkeit ausschließen. Die erste realistische Ansicht ist zu verwerfen, weil der Begriff einer lebenden Materie widersprüchlich ist. Auch jede Erklärung, die von ihr ausgeht, wäre notwendigerweise zirkulär, da eine Erklärung der Zweckmäßigkeit aufgrund der lebendigen Materie die Frage aufwirft, wie man die Möglichkeit von lebendiger Materie beschreiben kann, wenn nicht wiederum durch den Begriff der Zweckmäßigkeit. Theistische Deutungen der Zweckmäßigkeit hingegen sind dogmatisch und werden fälschlicherweise als Wirkungen der bestimmenden Urteilskraft verstanden und nicht als Resultat kritischer Überlegungen auf der Ebene der reflektierenden Urteilskraft. Also kann keine der vier Erklärungsarten eine zufriedenstellende Erklärung für die Zweckmäßigkeit der Natur bieten. Daher kann sich Kant in den §§ 74–78 der Auflösung der Antinomie und seiner eigenen positiven Erklärung der Zweckmäßigkeit widmen, die aus einer angemessenen Beurteilung der reflektierenden Urteilskraft entwickelt wird.
14.3 Kommentar zu den §§ 69–73 § 69 Was eine Antinomie der Urteilskraft sei Im ersten Absatz faßt Kant mehrere Eigenschaften der bestimmenden Urteilskraft, die schon in der Kritik der reinen Vernunft eingeführt worden sind, zusammen. Bekanntlich will die Kritik der reinen Vernunft unter anderem zeigen, daß die reinen Begriffe des Verstandes oder Kategorien für die Erkenntnis notwendig sind, jedoch nur, wenn die darunter zu subsumierenden Objekte auch die sinnliche Bedingung erfüllen, daß sie durch unsere raum-zeitlichen Formen der Anschauung gegeben werden. Im Rahmen dieser Definition von Erkenntnis kann man sagen, daß die Urteilskraft bestimmend ist, weil sie die Kategorien des Verstandes benutzt, um
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einzelne in der sinnlichen Anschauung gegebene Objekte zu bestimmen, indem sie dieselben unter allgemeine, von den Kategorien vorgestellte Eigenschaften subsumiert. Da die Kategorien aus dem Verstand und nicht aus der Urteilskraft stammen, erzeugt die bestimmende Urteilskraft keine eigenen Prinzipien, das heißt, sie ist nicht nomothetisch. Folglich hat sie keine eigenen Prinzipien, die sich selbst widersprechen könnten, und eine Antinomie kann für sie nicht entstehen. Wenn die bestimmende Urteilskraft keine Antinomie erzeugen kann, wie kann Kant dann immer noch meinen, daß die Kritik der reinen Vernunft, die vornehmlich die bestimmende und nicht die reflektierende Urteilskraft thematisiert, eine Antinomie enthält? Der Hauptpunkt ist hier, daß die Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft nicht in der Urteilskraft, sondern in der Vernunft entsteht. Kant meint, die Vernunft suche ihrer Natur nach notwendigerweise nach den Bedingungen von bedingten Gegenständen, ganz gleich, ob diese Bedingungen nun in Objekten liegen, die uns gegeben werden können, oder nicht. Wenn die bestimmende Urteilskraft von der Vernunft dazu verleitet wird, ein Objekt unter eine Kategorie zu subsumieren, ohne daß uns das Objekt in der Anschauung gegeben wird, dann macht die bestimmende Urteilskraft eine ungerechtfertigte Behauptung, die zudem anderen, ebensolchen Behauptungen widersprechen könnte. Die bestimmende Urteilskraft tut dies dann aber aufgrund der Bedürfnisse der Vernunft und nicht aufgrund ihrer eigenen Prinzipien. Obwohl auf diese Weise ein Widerspruch zwischen den Behauptungen, die die bestimmende Urteilskraft macht, entstehen kann, liegt die Quelle der widersprüchlichen Urteile in einem unvermeidlichen Schein der Vernunft und in ihrem Bedürfnis, eine unbedingte Bedingung für bedingte Objekte zu finden. Im zweiten Absatz wendet sich Kant der reflektierenden Urteilskraft zu, um zu beschreiben, wie eine Antinomie für sie entstehen kann. Die reflektierende Urteilskraft unterscheidet sich von der bestimmenden darin, daß ihr kein Prinzip oder objektives Gesetz von außen gegeben werden kann, welches sie benutzen könnte, um einzelne Objekte unter Begriffe zu subsumieren. Da wir aber unsere Erkenntnisvermögen nicht anwenden können, ohne irgendein Prinzip zugrunde zu legen, muß die reflektierende Urteilskraft sich selbst als Prinzip zugrunde liegen, und zwar so, daß sie sich in der Suche nach allgemeinen Gesetzen oder Begriffen von ihren eigenen Maximen leiten läßt. Zwei Folgerungen können hieraus gezogen werden: Erstens, weil die reflektierende Urteilskraft die Quelle ihrer eigenen Prinzipien oder Maximen ist, sind diese Prinzipien subjektiv, nicht objektiv, auch wenn sie 1)
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(zum zweckmäßigen Gebrauch unserer Erkenntnisvermögen) notwendig sind und 2) eine wichtige regulative Rolle in der Erzeugung der Erkenntnis der empirischen Naturgesetze spielen. Eine Antinomie der Urteilskraft kann auf diese Weise entstehen, aber nur für die reflektierende Urteilskraft.
§ 70 Vorstellung dieser Antinomie Kant beginnt seine Besprechung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft, indem er zwei verschiedene Arten von Naturgesetzen unterscheidet. Erstens gibt es allgemeine Gesetze, die der Verstand der Natur a priori vorschreibt und für die die Urteilskraft keiner Prinzipien zur Reflexion bedarf, da sie einfach die Objekte gemäß diesen Gesetzen a priori bestimmt. Z. B. bestimmt die zweite Analogie der Erfahrung a priori, daß jedes Ereignis eine Ursache haben muß. Zweitens gibt es gewisse empirische Gesetze, die doch Prinzipien zur Reflexion benötigen. Einerseits braucht man ein Prinzip, um darüber zu reflektieren, inwiefern die apriorischen Gesetze des Verstandes Einschränkungen für empirische Naturgesetze erzeugen. Also wird ein Prinzip gebraucht, das dazu verhilft, von der Behauptung der zweiten Analogie, daß alle Ereignisse (nach irgendeinem Gesetz) verursacht werden müssen, zur Behauptung, daß alle Ereignisse nach mechanischen Gesetzen verursacht werden müssen, übergehen zu können. Andererseits braucht man ein Prinzip, um von den sehr verschiedenen empirischen Gesetzen zu einer durchgängig zusammenhängenden und gesetzmäßigen Erfahrungserkenntnis zu gelangen. In diesem Fall betont Kant, daß besondere Erfahrungen (von Organismen) anhand eines besonderen, teleologischen Prinzips beurteilt werden müssen. Also werden zwei Arten von Maximen der reflektierenden Urteilskraft benötigt, um die Einheit von empirischen Gesetzen zu erklären: die eine stammt vom Verstand a priori, die andere wird einzelnen Erfahrungen entnommen. Da es Unterschiede in bezug auf ihren Ursprung (Verstand a priori versus einzelne Erfahrungen) und ihren Inhalt (mechanische versus telelogische Ursachen) gibt, könnten diese zwei Arten von Maximen in Konflikt geraten. Kant formuliert anschließend zwei Paare von Sätzen und Gegensätzen, um zu beschreiben, wie die Antinomie der teleologischen Urteilskraft richtig dargestellt werden müßte. Im ersten Paar macht jede Aussage eine Behauptung darüber, wie Körper beurteilt werden sollen. Kant verwendet diese Prinzipien in einem regulativen Sinne. Das zweite Paar hingegen beschäftigt sich mit der Frage, wie Objekte wirklich sind, wodurch der Inhalt des ersten Paares von regulativen in konstitutive Prinzipien umge-
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wandelt wird. Beide Antinomienpaare können (etwas vereinfacht) wie folgt wiedergegeben werden: Satzr: Alle Erzeugung materieller Dinge muß als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden. Gegensatzr: Die Erzeugung einiger materieller Dinge (z. B. Organismen) kann nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden (da ihre Beurteilung nach teleologischen Gesetzen oder Endursachen erfolgt). Satzk: Alle Erzeugung materieller Dinge ist nach bloß mechanischen Gesetzen möglich. Gegensatzk: Einige Erzeugung materieller Dinge ist nach bloß mechanischen Gesetzen nicht möglich. Kant argumentiert, daß im zweiten Paar Satzk und Gegensatzk keine Antinomie darstellen. Das Paar beinhaltet zwar einen Widerspruch und entspricht damit einer Bedingung, die erfüllt werden muß, um eine Antinomie zu erzeugen. Dennoch kann es eindeutig nicht die gemeinte Antinomie sein. Denn erstens handelt es sich nicht um Behauptungen der reflektierenden Urteilskraft, weil diese Behauptungen auf die bloße Möglichkeit von Objekten gehen, und nicht darauf, wie wir sie beurteilen sollen. Zweitens betont Kant, daß Satzk und Gegensatzk nicht a priori bewiesen werden können, vermutlich weil sie einen empirischen Inhalt haben, der mit einem apriorischen Beweis nicht vereinbar ist. (Deswegen kann es auch keine Antinomie der Vernunft anstelle der Urteilskraft sein.) Wenn man wiederum die widersprüchlichen Sätze nicht beweisen kann, liegt keine Antinomie vor. Also stellt das zweite Paar gar keine Antinomie dar, egal wie man es deutet. In dem letzten, sehr schwierigen Absatz versucht Kant m. E. zu argumentieren, daß aus den genannten Gründen nur das erste Paar, Satzr und Gegensatzr, die eigentliche Antinomie der teleologischen Urteilskraft bilden kann. Auch dieses Paar beinhaltet einen Widerspruch, aber einen solchen, der wesentlich anders ist als derjenige, der im zweiten Paar ausgedrückt wird, da er die reflektierende und nicht die bestimmende Urteilskraft betrifft und, mehr noch, sowohl Satzr als auch Gegensatzr bewiesen werden können. Kant beginnt damit, daß er den Unterschied zwischen Satzr und Satzk (und damit auch den Unterschied zwischen den zwei dadurch ausgesprochenen Widersprüchen) benennt. Genauer: Da Satzr eine Maxime der reflektierenden Urteilskraft ist, kann er wahr sein, egal ob Satzk wahr ist oder nicht. Wir können sicherlich nach Erklärungen von Ereignissen durch mechanische Gesetze suchen, egal, ob sie in der Tat aufgrund solcher
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Gesetze geschehen. (Man sollte sich nicht von dem ersten Satz des Absatzes [„Was dagegen die zuerst angeführte Maxime […]“, 387] irreführen lassen: Wenn man ihn genau liest, besagt er, daß die erste Maxime, also Satzr, keinen Widerspruch beinhaltet. Das heißt nicht, daß es keinen Widerspruch zwischen Satzr und Gegensatzr gibt. Diesen gibt es auf jeden Fall. Mein obiger Vorschlag ist, ihn so zu deuten, daß die erste Maxime Satzk nicht widerspricht.) Kant begründet anschließend Satzr, indem er behauptet, daß es „ohne ihn“ gar keine „eigentliche Naturerkenntnis geben kann“ (ebd.). Später (§ 78) wiederholt er, daß ohne den Mechanismus „keine Einsicht in die Natur der Dinge erlangt werden kann“ (410). Kant beschreibt danach Gegensatzr (vornehmlich durch eine Abgrenzung von anderen Behauptungen) und begründet ihn. Zunächst bemerkt er, daß die Tatsache, daß wir immer nach mechanischen Erklärungen suchen müssen, die Möglichkeit nicht ausschließt, daß wir auch teleologische Erklärungen oder Endursachen erwägen können, besonders dann, wenn wir einigen Naturdingen begegnen, die wir bisher nicht befriedigend mechanisch erklären können. Denn wenn man solche Dinge durch Endursachen erklärt, ist es uns dennoch nicht verboten, weiterhin nach mechanischen Gesetzen oder Erklärungen zu suchen. – Und Kant geht sogar weiter, denn er behauptet, daß es uns geboten wird, soweit wir können, nach mechanischen Erklärungen für die Dinge zu suchen. Zweitens merkt Kant an, daß Gegensatzr nicht die Falschheit von Satzk impliziert, wie man vielleicht meinen könnte, wenn man die bestimmende und die reflektierende Urteilskraft nicht sorgfältig unterscheidet. Denn auch wenn wir Gegensatzr zufolge einige Naturdinge nach einem Prinzip der Endursachen erklären müssen, könnten alle Ereignisse in der Natur immer noch durch bloße mechanistische Prinzipien möglich sein, wie Satzk meint. (Also scheint Kant so zu argumentieren, daß Satzr und Gegensatzr, das heißt beide Maximen der reflektierenden Urteilskraft, zu keinem Prinzip der bestimmenden Urteilskraft verpflichtet sind.) Wenn aber Gegensatzr nicht auf diese Weise verstanden werden soll, wie ist er dann positiv aufzufassen? Kant sagt emphatisch, daß „die menschliche Vernunft“, wenn sie nur nach mechanischen Erklärungen sucht, „niemals von dem, was das Spezifische eines Naturzwecks ausmacht, den mindesten Grund […] wird auffinden können“ (388). Denn dieses werden wir nur mit Hilfe von Endursachen verstehen können. Eine solche Interpretation von Gegensatzr legt nahe, daß er durch unsere Erfahrung von Organismen als einzelnen Naturzwecken gerechtfertigt wird, die wir nicht mechanisch erklären können. Also auch wenn Organismen nach mechanischen Gesetzen möglich sind oder auch wenn mecha-
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nische und finale Ursachen letztlich in einem einzigen Prinzip begründet werden, ist unsere Vernunft weder in der Lage, diese Erklärungsarten zu vereinen, noch ihr einheitsstiftendes Prinzip zu fassen, da es „in dem uns unbekannten inneren Grunde der Natur selbst“ (ebd.) liegt.
§ 71 Vorbereitung zur Auflösung obiger Antinomie Im ersten Absatz zeigt Kant, inwiefern die Beschränkungen unserer Erkenntnisvermögen es uns verbieten zu erkennen, wie Organismen eigentlich erzeugt werden: Eine Möglichkeit ist, daß Organismen auf mechanische Art erzeugt werden, aber wir einfach nicht verstehen können, wie das zugeht, „weil wir die unendliche Mannigfaltigkeit der besonderen Naturgesetze, die für uns zufällig sind, da sie nur empirisch erkannt werden, ihrem ersten innern Grunde nach nicht einsehen und so das innere, durchgängig zureichende Prinzip der Möglichkeit der Natur (welches im Übersinnlichen liegt) schlechterdings nicht erreichen können“ (ebd.). Deswegen müssen wir auf Endursachen rekurrieren. Eine andere Möglichkeit ist, daß dasjenige, was Organismen eigen ist, in der Tat eine andere Art von Kausalität als die mechanische erfordert, weil es „gar nicht in der materiellen Natur oder ihrem intelligibelen Substrat enthalten sein kann“ (ebd.). Davon können wir aber keine Erkenntnis a priori haben, denn „unsere in Ansehung des Begriffs der Kausalität, wenn er a priori spezifiziert werden soll, sehr enge eingeschränkte Vernunft“ kann darüber „schlechterdings keine Auskunft geben“ (389). Aufgrund des Umfanges dieser Beschränkungen haben wir keine Wahl: Wir müssen die regulativen Maximen, die zur Antinomie führen, annehmen. Kant bemerkt alsdann einige Vorteile, die man hat, wenn man so verfährt. Indem man Satzr als ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft annimmt, muß man immer dafür offen bleiben, mechanische Erklärungen von dem, was in der sinnlichen Welt stattfindet, zu finden, womit die wissenschaftliche Forschung eindeutig gefördert würde. Wenn jedoch diese Maxime als ein Prinzip der bestimmenden Urteilskraft verstanden würde, verliert man sich über die Sinnenwelt hinaus „ins Überschwengliche“ (ebd.). Denn wir müßten eine objektive mechanische Ursache von dem setzen, was wir erfahren. Aber dies ist in der Sinnenwelt nicht möglich, weil wir nicht imstande sind, derartige Ursachen in der Natur zu finden. Deshalb müßten wir sie in die für uns unerkennbare, intelligible Welt setzen. Als ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft jedoch ist es völlig in Ordnung, daß eine Kausalität einer „nach Zwecken handelnden (verständigen) Weltursache gedacht werden müsse“ (ebd.). Implizit schlägt Kant damit vor, ähnlich
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wie in der Kritik der reinen Vernunft und Kritik der praktischen Vernunft, daß wir unsere Erkenntnisse von der Idee leiten lassen, daß Gott die Welt mit bestimmten Zwecken vor Augen hat, ohne daß wir zugleich behaupten müssen, diesen Sachverhalt auch erkennen zu können. Im zweiten Absatz scheint Kant, zumindest zunächst, eine sehr überraschende Behauptung aufzustellen, die einige Kommentatoren grundlegend irregeführt hat. Denn es sieht so aus, als ob er behaupten würde, daß die Antinomie darauf beruht, daß man die bestimmende und die reflektierende Urteilskraft durcheinander bringt. Das kann jedoch nicht Kants Auffassung sein. Denn wie wir oben gesehen haben, besteht die Antinomie in Satzr und Gegensatzr, wo kein derartiger Fehler auftritt. Ferner, wenn dies die Antinomie wäre, hätte sie Kant schon gelöst, indem er zwischen der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft unterscheidet; und alles, was in der „Dialektik“ noch folgt, wäre vollkommen unnötig. Eine bessere Lesart kann entwickelt werden, wenn man Kants Äußerungen so versteht, daß sie den Leser darauf aufmerksam machen, daß er sich auf die Auflösung der Antinomie vorbereiten kann, wenn er sich über die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Urteilen Klarheit verschafft, wodurch man sich besser auf die wahre Antinomie in der reflektierenden Urteilskraft konzentrieren kann. Diese Lesart paßt sehr gut mit dem letzten Absatz des § 70 zusammen, der andernfalls schwer verständlich wäre.
§ 72 Von den mancherlei Systemen über die Zweckmäßigkeit der Natur Kant bemerkt am Anfang, daß wir auf jeden Fall den Begriff der Endursachen benutzen müssen, um Organismen zu verstehen. Was damit nicht geklärt ist, ist die Frage, ob dieser Begriff ein bloß subjektiv gültiges oder ein objektives Prinzip ist. Diese Frage muß man aber nicht beantworten, meint er, wenn wir bloß die Natur erforschen wollen und nicht versucht sind, den Ursprung von Organismen ausfindig zu machen. Die Vernunft hat aber ein Interesse daran, die Verbindung zwischen Endursachen und dem „höchsten Punkt in der Reihe der Ursachen“ zu entdecken, und Probleme entstehen, wenn wir dieser Verbindung nachgehen. Bevor wir jedoch diesen Problemen in § 73 nachgehen, beschreibt Kant vier verschiedene Arten von objektiven Systemen, die die Zweckmäßigkeit in bezug auf den Ursprung zu erklären versuchen. Zuerst unterscheidet er einen Idealismus und einen Realismus der Naturzwecke. Jener behauptet, daß alle Zweckmäßigkeit in der Natur unabsichtlich ist, das heißt eine
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Wirkung von Ursachen bezeichnet, die keine bewußten Absichten haben. Dieser vertritt die Ansicht, daß die Zweckmäßigkeit zumindest manchmal Absichten voraussetzt. Kant diskutiert zuerst zwei Arten des Idealismus. Die Zweckmäßigkeit der Natur kann entweder durch die leblose Materie oder durch einen leblosen Gott gedeutet werden. (Beide Deutungen verwenden den Terminus „leblos“, da sie als idealistische Ansichten die Zweckmäßigkeit auf einen „blinden“ Mechanismus irgendeiner Art zurückführen müssen.) Epikur und Demokrit sind Vertreter der ersten Ansicht, Spinoza der letzteren. Kant ist der Meinung, daß eine Zurückführung der Endursachen auf einen bloß physischen Grund (die mechanischen Gesetze der Bewegung) bei Epikur und Demokrit nicht ernst genommen werden soll. Die Ansicht Spinozas, welche die finale Kausalität auf den Fatalismus eines hyperphysischen und übersinnlichen Grundes der ganzen Natur zurückführt, indem die Welt nicht aus dem göttlichen Verstand oder Willen, sondern zwar aufgrund der göttlichen Natur, aber durch blinde Notwendigkeit besteht, ist nach Kant schwieriger zu widerlegen, da uns der Begriff eines solchen Urwesens gar nicht verständlich werden kann. Anschließend diskutiert Kant die zwei „realistischen“ Ansichten, die ebenfalls in eine physische und in eine hyperphysische Deutung eingeteilt werden, weil sie Organismen entweder auf die lebendige Materie oder auf einen lebendigen Gott zurückführen. Die physische Ansicht, der Hylozoismus, behauptet, daß die Natur teleologisch ist – sei es in Form einer Vielzahl von einzelnen lebendigen Substanzen (wie Aristoteles zu behaupten scheint) oder einer einzigen Weltseele (wie man vielleicht die Ansicht Platons verstehen kann). Die hyperphysische Ansicht, der Theismus, schreibt die Zweckmäßigkeit „dem Urgrunde des Weltalls“ (392), das heißt Gott, zu. In einer Fußnote vertritt Kant die Ansicht, daß diese vier Auffassungen alle möglichen Optionen erschöpfen, und legt nahe, daß wir alle derartigen objektiven Aussagen über die Erklärungen von Zwecken aufgeben sollen, damit wir „unser Urteil bloß in Beziehung auf unsere Erkenntnisvermögen kritisch“ (ebd.) erwägen können, welches in einem nicht-dogmatischen Gebrauch von Maximen für unsere Erkenntnisvermögen resultieren wird.
§ 73 Keines der obigen Systeme leistet das, was es vorgibt Kant argumentiert, daß die vier eben beschriebenen Ansichten in ihren Bemühungen, die Zweckmäßigkeit der Natur zu erklären, nicht erfolgreich sind.
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(A) Der Einwand gegen die Ansicht Epikurs, der den Unterschied zwischen Endursachen und mechanischen Ursachen leugnet und behauptet, alles, auch das, was als ein Naturzweck erscheint, durch einen blinden Zufall verursacht werde, ist, daß er keine adäquate Erklärung für die folgenden beiden Phänomene geben kann: Das eine Phänomen ist, daß unsere Begriffe von Zwecken eine Analogie zu Kunstprodukten haben. Das andere ist, daß ihre Erzeugung wirklich nach mechanischen Gesetzen geschieht. Das erste Phänomen wird nicht erklärt, da Zwecke, die seiner Ansicht nach von bloß mechanischen Gesetzen verursacht werden, keine Ähnlichkeit mit Kunstprodukten aufweisen. Und zu sagen, daß sie aufgrund eines blinden Zufalles übereinstimmen, erklärt eigentlich gar nichts. Außerdem: Wenn man sagt, daß es der blinde Zufall ist, der bewirkt, daß Zwecke gemäß den Gesetzen der Bewegung erzeugt werden, hat es keinen explanatorischen Wert. Denn das, was man gerne wissen will, ist, wie die Gesetze der Bewegung solche Zwecke erzeugen, und der „blinde“ Zufall verbietet hier jede Einsicht. Nach Kant ist Epikur nicht einmal in der Lage, den Schein der Zweckmäßigkeit zu erklären. (B) Kants Analyse stellt einige bemerkenswerte Aspekte von Spinozas Ansicht heraus. Spinoza behauptet nicht, daß ein mit Verstand und Willen begabtes Urwesen gemäß bestimmten beabsichtigten Zwecken lebendige Geschöpfe hervorbringt, sondern daß lebendige Wesen als notwendige Modi in einer notwendigen Substanz bestehen, die keinen freien Willen und entsprechend auch keine Absichten hat. Die Ansicht Spinozas hat im Vergleich mit anderen Ansichten einen unmittelbaren Vorteil, weil in ihr lebendige Organismen eine Art von Einheit bilden, indem sie in einer und derselben Substanz (und nicht in einer Vielzahl von Substanzen) existieren. Kant jedoch betont wiederholt, daß diese ontologische Einheit (das heißt, daß die Modi in einer Substanz existieren) anders ist als die Einheit, welche Zwecke haben, da letztere eine Einheit von besonderer Art ist, die nicht jedem Modus zukommt. Genauer gesagt: Lebendige Wesen folgen nach Spinoza mit blinder Notwendigkeit aus einem Wesen, das keine Absichten hat und keine Kontingenz aufweist, was sich nicht mit der Möglichkeit eines einheitlichen Zweckes verträgt. Also kann die Ansicht Spinozas das, was Zwecken eigentümlich ist, nicht erklären. (C) Kants Haupteinwand gegen den Hylozoismus ist, daß er nicht in der Lage ist, die Möglichkeit entweder der lebenden oder der belebten Materie a priori verständlich zu machen. Gegen die Möglichkeit einer lebendigen Materie wiederholt Kant seinen Einwand aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften (IV 544), daß der Begriff der lebenden Materie einen Widerspruch in sich selbst enthält und sich gar nicht denken
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läßt, weil der Begriff der Trägheit, der der Materie wesentlich ist, gerade Leblosigkeit bedeutet. Gegen die Möglichkeit einer (von der Weltseele) belebten Materie lautet sein Haupteinwand, daß es keine apriorische und keine nicht-zirkuläre Erklärung ihres Begriffes gibt. Denn zwar könnte die Erfahrung die Möglichkeit von Organismen dadurch aufweisen, daß ihre Wirklichkeit gezeigt wird, aber die Erfahrung ist a posteriori, nicht a priori. Man könnte den Begriff eines Organismus aus dem Begriff der lebendigen Materie herleiten, aber nur, wenn man schon vorher Gründe angeführt hat, warum man den Begriff der lebendigen Materie annehmen soll. Aber gerade solche Gründe sind es, die am Anfang gefehlt haben. Der Hylozoismus kann also die Zweckmäßigkeit nicht erklären, sondern nur voraussetzen. (D) Kant gibt zu, daß der Theismus einen Vorzug vor den anderen drei Ansichten hat, nämlich, daß er zumindest mit einem Begriff anfängt, der eine wahre Kausalität nach Absichten besitzt, indem er den göttlichen Verstand als die Ursache der Welt setzt. Das Problem des Theismus ist jedoch, daß seine Erklärung der Zweckmäßigkeit letzten Endes dogmatisch ist, zumindest wenn die bestimmende Urteilskraft im Spiel ist. Um zu beweisen, daß Gott die Ursache der Zweckmäßigkeit der Organismen ist, müßte man beweisen, daß die Materie durch ihre mechanische Kausalität keine Zweckmäßigkeit erzeugen kann. Aber unsere Erkenntnisvermögen sind einfach zu beschränkt, um eine solche Möglichkeit auszuschließen. Stattdessen müssen wir angesichts unserer Beschränkungen die Erzeugung von Organismen so beurteilen, als sei sie von einem höchsten Verstand verursacht. Aber solche Urteile können für uns nur auf der Ebene der reflektierenden, nicht der bestimmenden Urteilskraft stattfinden. Also ist eine dogmatische theistische Ansicht der Zweckmäßigkeit nicht gerechtfertigt.
14.4 Fragen der Interpretation und der Diskussionstand der Literatur Die Diskussion der in den §§ 69–73 eingeführten Themen kann effektiv anhand von vier Fragen gegliedert werden: Erstens: Was ist die Antinomie, oder, genauer, der darin ausgedrückte Widerspruch? Zweitens: Was ist Kants Argument für den Satzr? Drittens: Was ist sein Argument für den Gegensatzr? Viertens: Welche Relevanz besitzen die vier als dogmatisch bezeichneten Ansichten von Endursachen für Kants Verständnis der Antinomie?
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1. Die bedeutendste Interpretation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde u. a. von Cassirer (1921) und Ewing (1924) vertreten und behauptete, daß die Antinomie in Satzk und Gegensatzk bestehe und leicht aufgelöst werden könne, indem man einfach die reflektierende Urteilskraft zum regulativen Verstandesgebrauch benutzt. In der Tat gibt es einige Sätze, die einen solchen Deutungsversuch nahelegen. Wie wir oben gesehen haben, kann eine solche Interpretation aber kaum auf konsequente Weise verteidigt werden, da sie dem Hauptpunkt von § 69 widerspricht. Sie würde auch den Titel von § 71 („Vorbereitung auf eine Auflösung“) unsinnig machen. Drittens wäre der Rest der „Dialektik“ überflüssig, in dem die Anti nomie aufgelöst wird. 2. Eine zweite, in der Literatur besprochene Frage betrifft den Mechanismus und das Argument für Satzr. Einige haben vorgeschlagen, daß er durch die zweite Analogie der Erfahrung gerechtfertigt werden sollte. Aber die zweite Analogie ist ein konstitutives Prinzip, während Satzr eindeutig ein regulatives Prinzip ist. Man könnte meinen, wie Butts (1984), daß dies ein ernsthaftes Problem für Kant ist, aber die üblichere Auffassung – vertreten von McLaughlin (1990) und Allison (1991) – ist, daß es einen wichtigen Unterschied zwischen der zweiten Analogie und dem Mechanismus gibt. Ich stimme dieser Auffassung zu, denn die zweite Analogie besagt, daß jedes Ereignis gemäß einem Naturgesetz verursacht werden muß, aber nicht, daß dieses Naturgesetz ein mechanistisches Gesetz sein muß. Was ist dann Kants Begründung des Satzesr? Warum sollten wir meinen, daß alle Erzeugung auf mechanistische Weise erklärt werden muß? Kants ausdrückliche Aussagen darüber sind sehr spärlich. Die Textstelle 387 besagt einfach, daß es, ohne den Mechanismus „zum Grunde der Nachforschung zu legen“, gar keine „eigentliche Naturerkenntnis geben kann.“ Aber Kant gibt an dieser Stelle keinen weiteren Aufschluss über die Begründung dieser Behauptung. Er mag wohl gedacht haben, daß die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften schon die Notwendigkeit der mechanistischen Erklärungsart gezeigt haben, was auch die Kürze seiner Aussagen rechtfertigen könnte. Diesem Vorschlag stehen aber zwei Einwände entgegen. Erstens könnte man zugeben, daß die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften mechanistische Grundsätze zum Zwecke der wissenschaftlichen Erklärung einiger Erscheinungen dartun, daß sie aber auf keinen Fall die Notwendigkeit einer mechanistischen Erklärung für die Gesamtheit der Natur beweisen. Denn die Gesetze der Mechanik sind nur Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung im Blick auf die Mitteilung der Bewegung (in einem Teil der Physik) und beziehen sich weder auf andere Phänomene in der Physik noch auf nicht-physikalische
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Phänomene. Zweitens sind die Gesetze der Mechanik konstitutive, nicht regulative Prinzipien. Eine weitere mögliche Rechtfertigung des Satzesr könnte man von der Tatsache herleiten, daß die teleologische Erklärung die mechanistische voraussetzt, auch wenn diese beiden Erklärungsarten typischerweise als Alternativen aufgefaßt werden. Weil die Teile von Organismen nicht nur vom Ganzen möglich gemacht werden, sondern auch zum Ganzen einen kausalen Beitrag liefern müssen, kann es keine teleologische Erklärungen geben, ohne daß auch mechanistische Erklärungen angewendet werden. Z. B. ist es einem Baum wesentlich, daß seine Blätter ihn durchgängig durch mechanistische Prozesse erhalten. Also wenn Kant behauptet, daß wir ohne Mechanismus keine Naturerkenntnis haben können, könnte das einfach heißen, daß jede andere uns zugängliche Erklärungsart auch eine mechanistische Erklärungsart braucht. Eine solche Begründung würde zwar denjenigen Skeptiker nicht widerlegen, der wissenschaftliche Erklärung überhaupt in Frage stellt, aber wir haben keinen Grund anzunehmen, daß Kant überhaupt ein Interesse an einem solchen Gegner hat. Ein ernsthafteres Problem ist hier, daß diese Begründung die Notwendigkeit der mechanistischen Erklärungsart nur im allgemeinen beweist, aber nicht für die Möglichkeit der Erzeugung von Organismen. Noch weniger beweist sie, daß Organismen ausschließlich mechanistisch erklärt werden müssen. 3. Drittens wird Gegensatzr in der Literatur diskutiert. Eine Hauptfrage ist dabei die folgende: Warum können einige materielle Produkte nicht nach mechanistischen Gesetzen erklärt werden? In den §§ 69–73 sagt Kant nur, daß „besondere Erfahrungen“ Anlaß zu „einem besonderen Prinzip“ geben (386). Aufgrund der „Analytik“ könnte der Leser wohl annehmen, daß es unsere Erfahrung von Organismen ist, die teleologische Erklärungen an die Hand gibt. Später (§ 75) behauptet Kant ausdrücklich: „Es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß nicht etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde“ (400). Solche Aussagen drängen die Frage auf: Warum kann die Erzeugung eines Grashalms nicht gemäß mechanistischen Gesetzen erklärt werden? Warum also sind uns Organismen mechanistisch unerklärlich? McLaughlin (1990) hat behauptet, daß ein Organismus deshalb nicht mechanistisch erklärbar ist, weil für einen Naturzweck gilt, daß „die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind“ und „die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache
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und Wirkung ihrer Form sind“ (373), das heißt, ein Organismus hat eine andere kausale Struktur als Maschinen, weil seine Teile nur durch das Ganze möglich sind – der Organismus als ein Ganzes verursacht seine Organe, seine Zellen usw. – und seine Teile bilden ein Ganzes aufgrund der wechselseitigen kausalen Beziehungen. Die Zellen und Organe wirken so auf einander ein, daß der ganze Organismus erzeugt wird. Spezifischer gesagt haben Pflanzen und Tiere die Vermögen zu „Wachstum, Reproduktion und Selbsterhaltung“. Eine Maschine oder ein Kunstprodukt dagegen sind deshalb mechanistisch erklärbar, weil ihre Teile die Eigenschaften und Kräfte auch unabhängig von größeren Komplexen haben, die sie bilden mögen. Auch eine Uhr hat wechselseitig aufeinander wirkende Teile, aber sie verursacht ihre Teile und ihre Teile verursachen einander nicht, selbst wenn sie um der anderen Teile willen vorhanden sind. Ein weiterer Unterschied ist, daß Maschinen keine Naturzwecke sind, weil sie von einer äußeren absichtsvollen Ursache hervorgebracht werden. Ginsborg hat diese Auffassung kürzlich verworfen, weil man gleicherweise ein Bedürfnis nach teleologischen Erklärungen hat, um eine Maschine, z. B. eine Uhr, wie um einen Organismus zu verstehen (2004, 37), das heißt, sowohl bei Uhren als auch bei Vögeln gibt es Verhältnisse zwischen ihren jeweiligen Teilen, die vom Wesen des Ganzen bestimmt werden (auch wenn Uhren nicht Naturzwecke sind, sondern Kunstprodukte). Zugegeben, Uhren können sich selbst weder vermehren noch reparieren, aber das heißt noch lange nicht, daß sie nicht „products of design“ sind und deshalb teleologische Erklärungen benötigen, genauso wie Vögel. Deshalb argumentiert Ginsborg, daß ein Organismus mechanisch unerklärlich ist, weil er nicht durch die „bloßen Kräfte der Materie als solcher“ oder durch die grundlegenden Eigenschaften der Materie erklärt werden kann, egal ob es die Materie überhaupt oder eine besondere Art der Materie ist. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften entwickelt Kant eine Theorie der anziehenden und abstoßenden Kräfte, die erklärt, wie Körper durch die Ausübung solcher Kräfte einen bestimmten Raum einnehmen und einander gemäß der Gesetze der Mechanik Bewegung mitteilen können. Wenn die Reproduktion, das Wachstum und die Erhaltung eines Organismus nicht aufgrund derartiger Anziehungs- und Abstoßungskräfte erklärt werden können, dann ist ein Organismus, so Ginsborg, mechanistisch unerklärbar. Zwei Fragen sind in dieser Diskussion zu unterscheiden, damit man nicht nur verstehen kann, was Kants Argument für Gegensatzr ist, sondern auch, was das eigentliche Thema der Antinomie ist. Erstens: Geht es bei der Antinomie bloß um den Ursprung von Organismen (wie Ginsborg meint) oder
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auch um das tagtägliche Funktionieren von Organismen (wie McLaughlin vertritt)? Zweitens: Ist es Organismen wesentlich, daß sie nicht durch eine reduktionistische Erklärung (also durch Kausalität der Teile) erschöpfend erklärt werden (wie McLaughlin behauptet), oder ist es vielmehr so, daß sie eine eigenartige Komplexität haben, die grundlegend anders ist als die Komplexität von Maschinen (wie Ginsborg argumentiert)? Für diese (und verwandte) Fragen ist es hilfreich, Kants Interpretation der Ansichten von Bonnet, Blumenbach und von anderen Naturforschern im 18. Jahrhundert sowie Kants Behandlung derselben in der vorkritischen Periode zu Rate zu ziehen (vgl. Fischer 2007). 4. Eine letzte Frage betrifft das Verhältnis zwischen der in den §§ 69 ff. beschriebenen Antinomie und Kants Diskussion der vier alternativen Ansichten zur Teleologie in den §§ 72 f. Um eine Antinomie zu haben, muß man zwei einander widersprechende Behauptungen beweisen können, aber nur aufgrund einer bestimmten Annahme. Die Antinomie wird dadurch aufgelöst, daß man diese Annahme aufgibt. In der Kritik der reinen Vernunft war die Annahme, welche zu den kosmologischen Antinomien führte, der transzendentale Realismus, nach dem es keinen Unterschied zwischen Erscheinungen und Dingen an sich selbst gibt. Der transzendentale Idealismus wurde benötigt, um die Antinomie aufzulösen. Denn seine Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich selbst erlaubte es, die verschiedenen Widersprüche zu vermeiden. Angesichts dieser Sachlage wäre es natürlich zu erwarten, daß die vier alternativen Ansichten zur Teleologie deswegen relevant für die Antinomie der Kritik der Urteilskraft sind, weil sie veranschaulichen, wie wichtige Philosophen in der Vergangenheit eine Annahme machen können, die zu einem Widerspruch führen kann. Leider paßt diese sehr natürliche Erwartung nicht besonders gut zum eigentlichen Text. Zum einen benutzt Kant § 73, um diese Ansichten zu widerlegen, und nicht aufgrund eines Widerspruchs mit einer anderen entgegengesetzten Behauptung, sondern aufgrund interner Unstimmigkeiten, was für eine Antinomie gar nicht erforderlich ist. Kant hat ja schon die Behauptungen bewiesen, die einen Widerspruch bilden, also braucht er ihre internen Unstimmigkeiten nicht aufzuzeigen. Zum anderen ist es nicht eindeutig, wodurch genau diese Ansichten in die Irre geführt werden. Manchmal scheint Kant den folgenden Gedanken zu haben: Es ist „wohl eine gewisse Ahnung unserer Vernunft, oder ein von der Natur uns gleichsam gegebener Wink, daß wir vermittelst jenes Begriffs von Endursachen wohl gar über die Natur hinauslangen und sie selbst an den höchsten Punkt in der Reihe der Ursachen knüpfen könnten“ (390). Aber was Kant an diesen Ansichten hauptsächlich bemängelt, ist ihre
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dogmatische Absicht, das heißt, ihre Bestrebung, „objektive Prinzipien der Möglichkeit der Dinge“ zu erfassen (391), statt sich einer angemessenen kritischen Analyse unserer subjektiven Vermögen und der subjektiven Maximen zu unterziehen. Wenn sie aber in diesem Sinne dogmatisch sind, dann veranschaulichen sie weder Satzr noch Gegensatzr, machen keine Annahme, die zu einer Antinomie führt, und sind auch für die Auflösung der Antinomie nicht direkt relevant, da diese auf der Ebene der reflektierenden Urteilskraft und ihrer Maximen geschehen muß.
Literatur Allison, Henry E. 1991: Kant’s Antinomy of Teleological Judgment, in: Southern Journal of Philosophy 30 (Supplement), 25–42. Butts, Robert E. 1984: Kant and the Double Government Methodology, Dordrecht/Boston. Cassirer, Ernst 1921: Kants Leben und Lehre, Berlin. Ewing, Alfred Cyril 1924: Kant’s Treatment of Causality, London. Fischer, Mark 2007: Organisms and Teleology in Kant’s Natural Philosophy, PhD, Emory University, Atlanta. Ginsborg, Hannah 2001: Kant on Understanding Organisms as Natural Purposes, in: E. Watkins (ed.), Kant and the Sciences, New York/Oxford, 231–258. – 2004: Two Kinds of Mechanical Inexplicability, in: Journal of the History of Philosophy 42, 33–65. McLaughlin, Peter 1990: Kant’s Critique of Teleology in Biological Explanation: Antinomy and Teleology, Lewiston.
15 Eckart Förster
Von der Eigentümlichkeit unseres Verstands in Ansehung der Urteilskraft (§§ 74–78)
Die von Kant in den §§ 74–78 der Kritik der Urteilskraft angestellten Überlegungen gehören zu den subtilsten und folgenreichsten seiner ganzen Philosophie. So äußerte z. B. Goethe gegenüber Schopenhauer, er habe beim Lesen dieses Textes das Gefühl gehabt, als sei er aus dem Dunklen in ein helles Zimmer gekommen, und Schelling bemerkte speziell zum § 76: „Vielleicht aber sind nie auf so wenigen Blättern so viele tiefe Gedanken zusammengedrängt worden, als in der Kritik der teleologischen Urteilskraft § 76 geschehen ist“ (Schelling 1795 in Werke I 166). Zum besseren Verständnis von Kants Gedankengang möchte ich den Textabschnitt in drei Teile gliedern: 1. die begriffliche Fassung des Problems (§§ 74 f.); 2. die transzendentalphilosophische Bedeutung des Problems (§§ 76 f.); 3. die methodologische Konsequenz der Überlegung (§ 78).
15.1 Die objektive Realität des Begriffs eines Naturzwecks § 74 Der Begriff von einem Naturzweck, wie er in den vorangegangenen Abschnitten der Kritik der Urteilskraft entwickelt wurde, ist der Begriff eines Dinges, das einerseits Produkt der Natur ist, dessen Form aber nicht aus einem blinden Mechanismus der Natur („nach bloßen Naturgesetzen“) verständlich gemacht werden kann, sondern nur nach Zweckbegriffen und somit Vernunft voraussetzt. Im § 64 hatte Kant drei Gründe angegeben, warum Organismen nicht mechanisch erklärt werden können und hatte derartige Naturprodukte definiert als Wesen, in denen Teil und Ganzes sich
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sowohl der Form als auch der Verbindung nach wechselseitig bedingen, somit „die Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkungen durch Endursachen beurteilt werden“ müsse (373). Jetzt, im § 74, geht es ihm um die objektive Realität dieses Begriffs. Warum ist das ein Problem? Es ist ein Unterschied, ob ich durch einen Begriff etwas nur denke oder durch ihn auch etwas erkenne. Damit ich etwas denke, muß der Begriff widerspruchsfrei sein, damit ich durch ihn etwas erkenne, muß ich auch einsehen können, daß sein Gegenstand real (nicht bloß logisch) möglich ist. Sonst hat man zwar etwas gedacht, „in der Tat aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt“ (KrV A 155). Ist der Begriff ein empirischer Begriff, dann zeigt die Erfahrung, daß sein Gegenstand real möglich ist. Ist der Begriff a priori, dann muß zum Nachweis seiner objektiven Realität gezeigt werden, wie sein Gegenstand real möglich ist, nämlich durch Darstellung der Synthese, wodurch der Gegenstand erzeugt wird. „Das ist eine Warnung, von der Möglichkeit der Begriffe (logische) nicht sofort auf die Möglichkeit der Dinge (reale) zu schließen“ (KrV A 596, vgl. B xxvi FN). Vor diesem Hintergrund zeigt sich die eigentümliche Schwierigkeit mit dem Begriff eines Naturzwecks. Einerseits ist der Begriff eines Naturzwecks kein apriorischer Begriff, denn wir wissen nur durch Erfahrung, daß es in der Natur auch solche Gegenstände gibt, die sich einer rein mechanistischen Erklärungsart widersetzen. Andererseits ist er aber auch kein empirischer Begriff. Denn der Zweckbegriff, mit Hilfe dessen wir uns organische Dinge verständlich zu machen suchen, ist nicht von deren Erfahrung abstrahiert, sondern vom Beobachter an die Phänomene, die ihm sonst unverständlich bleiben, herangetragen. Und diesen Begriff bringt er aus einem ganz anderen Bereich mit, nämlich der Praxis, z. B. in der Herstellung von Artefakten und Kunstwerken. Es ist der Begriff einer Kausalität nach Absichten, der somit auch nur durch Vernunft denkbar ist. Mit anderen Worten: Der Begriff eines Naturzwecks ist „zwar ein empirisch bedingter, d. i. nur unter gewissen in der Erfahrung gegebenen Bedingungen möglicher, aber doch von derselben nicht zu abstrahierender“ Begriff (396). Um diesem Begriff objektive Realität zu sichern, müßten also, ähnlich wie bei einem apriorischen Begriff, die Bedingungen der realen Möglichkeit seines Gegenstands erwiesen werden; genauer müßte gezeigt werden, daß ein sogenannter Organismus seiner inneren Möglichkeit nach nur durch Zwecke möglich ist. Das können wir natürlich nicht zeigen. Mehr noch, es muß so scheinen, als ob dieser Begriff gar keine objektive Realität haben kann, da die zu einem solchen Nachweis erforderliche Synthese gar
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nicht objektiv gedacht werden kann („Es kann auch nicht einmal danach gefragt werden“), weil Mechanismus und Absicht nicht zugleich Ursache der Möglichkeit eines und desselben Dinges sein können. Zwar haben die beiden Bestandteile des Begriffs je für sich objektive Realität – so der Begriff einer Naturkausalität einerseits, und ebenso der Begriff einer Kausalität durch Zwecke in der Kunst – aber nicht die Verbindung beider im Begriff eines Naturzwecks. Da objektiv hier keine Synthese der inneren Möglichkeit gedacht werden kann, kann man „weder objektiv bejahend, noch objektiv verneinend irgend etwas entscheiden“ und weiß folglich nicht, „ob man über Etwas oder Nichts urteilt“ (397). Ein Naturzweck ist, wie die Überschrift des § 74 sagt, unerklärlich. Aus diesem Grund kann auch sein Begriff niemals dogmatisch zur Erklärung organisierter Naturprodukte herangezogen werden.
§ 75 Obwohl also nicht objektiv gesagt werden kann, die Erzeugung gewisser Dinge der Natur sei nur durch eine absichtlich handelnde Ursache möglich, ist der Begriff eines Naturzwecks nach Kant subjektiv unentbehrlich. Zunächst einmal heuristisch: Ich kann, Kant zufolge, gar nicht den Gedanken einer Organisation wirklich fassen, ohne damit den Gedanken einer Erzeugung mit Absicht zu verbinden. Bei einer wirklichen Organisation ist nämlich das Ganze („die Absicht“) in allen ihren Teilen so vorhanden, daß das Spätere (z. B. die Möglichkeit der Fruchtbildung) in der Formation des Früheren (z. B. von Staubgefäß und Stempel bei der Blüte) bereits bildend am Werk ist. Lassen sich bestimmte Produkte der Natur also nicht einmal angemessen beschreiben, wenn wir ihnen eine bloß mechanische Erzeugung zugrunde legen, dann müssen wir in der empirischen Erforschung solcher Naturprodukte den Begriff einer Absicht unterlegen, als eine notwendige Maxime der reflektierenden Urteilkraft. Das heißt, „um auch nur eine Erfahrungserkenntnis ihrer inneren Beschaffenheit zu bekommen, ist jene Maxime der reflektierenden Urteilskraft wesentlich notwendig“ (398). Diese Maxime kann auch auf die Natur als Ganzes ausgedehnt werden, ist dann aber nicht mehr unentbehrlich, da uns die Natur als organisiertes Ganzes nicht in der Erfahrung gegeben ist. Vom Begriff der Zweckmäßigkeit werden wir auf den Begriff der Zufälligkeit geführt. Ein zweckmäßig gedachtes Naturprodukt ist Kant zufolge zugleich als nach Naturgesetzen zufällig anzusehen. Wäre es lediglich nach Naturgesetzen möglich, dann wäre seine Möglichkeit mechanisch erklärbar. Hier aber soll die physische Natur zusätzlich in einer bestimmten Weise zu
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einer Organisation ergriffen, also verändert werden. Dazu muß eine von der mechanischen Naturkausalität unterschiedene Ursache gedacht werden, und darum ist die Zweckmäßigkeit bestimmter Naturdinge in der Tradition, wie Kant betont, auch immer wieder als Indiz für die „Zufälligkeit des Weltganzen“ angesehen und als Beweisgrund für einen Schluß auf einen „außer der Welt existierenden und zwar (um jener zweckmäßigen Form willen) verständigen“ Schöpfer angesehen worden (398 f.). Einem solchen physiko-teleologischen Argument hat Kant nie seinen Respekt verwehrt, nicht zuletzt, weil es zur intensiven Erforschung der organischen Natur unter teleologischen Gesichtspunkten anregt. Aber als Gottesbeweis ist ein solches Argument notwendig zum Scheitern verurteilt. Es setzt nämlich voraus, was gerade nicht erwiesen werden kann: daß organisierte Naturprodukte nicht anders als durch eine absichtlich wirkende Ursache möglich sind. Das müßten wir aber zu zeigen in der Lage sein, um das Produkt als absichtlich zu bestimmen bzw. zu erkennen. Dadurch, daß wir den aus unserer Praxis entlehnten Begriff einer Absicht in die Erscheinungen hineinlegen, bestimmen wir aber nicht das Objekt selbst, sondern drücken nur eine Eigentümlichkeit unseres Erkenntnisvermögens aus – eine Eigentümlichkeit, die es gleich näher zu bestimmen gilt. Festzuhalten ist zunächst: „Objektiv können wir also nicht den Satz dartun: es ist ein verständiges Urwesen; sondern nur subjektiv für den Gebrauch unserer Urteilskraft in ihrer Reflexion über die Zwecke in der Natur, die nach keinem anderen Prinzip als dem einer absichtlichen Kausalität einer höchsten Ursache gedacht werden können“ (399). Für unsere Urteilskraft ist dieses Prinzip damit unumgänglich nötig; so unumgänglich, daß Kant hier die Prognose wagt, daß auch in der Zukunft kein „Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen“ (400; vgl. für die vorkritische Zeit: I 230, II 114). Für genauso unmöglich hält Kant es aber auch, daß eines Tages gezeigt werde, daß der hinreichende Grund für die Erzeugung von Organismen in der Natur selbst nicht liegen könne. Es sind dies für ihn nur die beiden Seiten desselben objektiven Agnostizismus, der sich daraus ergibt, daß es uns nicht möglich ist, einem Naturzweck eines dieser beiden Prädikate unter Ausschluß seines Gegenteils zuzuschreiben: Hier können wir „objektiv gar nicht, weder bejahend noch verneinend, urteilen“ (400).
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15.2 Die subjektive Notwendigkeit des Begriffs eines Naturzwecks § 76 Damit ist klar, daß der Begriff eines Naturzwecks (und mit ihm der Gedanke einer nach Absichten handelnden Ursache solcher Produkte) keine objektive Realität hat. Das Besondere der Kantischen Position ist es nun, daß er aber auch kein bloß heuristisch brauchbarer Begriff ist, den wir zur Erforschung organischer Naturprodukte verwenden, sondern ein subjektiv notwendiger Begriff, und zwar aufgrund der eigentümlichen Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens. Was ist damit gemeint? Da die Antwort hierauf von erheblicher Subtilität ist, sucht Kant sicherzustellen, daß dem Leser der entscheidende Punkt nicht entgeht. Dazu schiebt er im Text mit dem § 76 eine „Anmerkung“ ein, „welche es gar sehr verdient in der Transzendentalphilosophie umständlich ausgeführt zu werden“ (401). Das tut er hier zwar nicht, sondern führt sie nur „episodisch zur Erläuterung“ dessen ein, „was hier unser eigentümliches Geschäft ist“. Deutlich ist allerdings, daß diese „Anmerkung“ zusätzlich Licht werfen soll auf das, worauf es Kant hier vor allem ankommt. Diese „Anmerkung“ thematisiert eine Art von Vorstellungen bzw. Begriffen, die nicht nur für ein oder mehrere Subjekte Gültigkeit haben, sondern „allgemein für alle von dieser Gattung“. Sie befaßt sich genauer mit solchen Vorstellungen, wie Kant noch deutlicher sagt, die „nach der Natur unseres (menschlichen) Erkenntnisvermögens […] nicht anders als so könne[n] und müsse[n] gedacht werden: ohne doch zu behaupten, daß der Grund eines solchen Urteils im Objekte liege“ (401). Die transzendentalphilosophische Bedeutung dieser „Anmerkung“ besteht dann darin, daß gezeigt wird, daß alle drei menschlichen Gemütsvermögen – Erkenntnisvermögen, Begehrungsvermögen, Urteilskraft – notwenig über solche Begriffe verfügen müssen, weil sie ihre Funktion ohne diese Begriffe nicht erfüllen könnten, obwohl ihnen, soweit wir das sagen können, im Objekt nichts entspricht. Erkenntnisvermögen: In theoretischer Hinsicht ist es für uns unvermeidlich, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unterscheiden. Diese Unterscheidung setzt ihrerseits die beiden Vermögen Anschauung und Verstand voraus: Was sinnlich gegeben ist, ist wirklich, was ohne Widerspruch gedacht werden kann, ist (logisch) möglich. Für die menschliche Erkenntnis sind beide, Verstand und Anschauung, gleichermaßen erforderlich, denn durch unser Denken kann kein realer Gegenstand gege-
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ben, durch unsere Anschauung allein kein Gegenstand erkannt werden. Würden durch das Denken die korrespondierenden Gegenstände zugleich gegeben (= intellektuelle Anschauung), dann gäbe es für uns nur Wirkliches. Unser Verstand ist aber nicht anschauend, sondern diskursiv und daher auf eine Anschauung angewiesen, die rezeptiv, das heißt sinnlich ist. Obwohl dies für alle Menschen der Fall ist, kann es nicht für jedes erkennende Wesen als notwendig vorausgesetzt werden. „Die Sätze also: daß Dinge möglich sein können, ohne wirklich zu sein, daß also aus der bloßen Möglichkeit auf die Wirklichkeit gar nicht geschlossen werden könne, gelten ganz richtig für die menschliche Vernunft, ohne darum zu beweisen, daß dieser Unterschied in den Dingen selbst liege“ (402). Begehrungsvermögen: Als Mensch bin ich nicht nur Vernunftwesen, sondern auch mit einem Willen begabt. Ich schreibe mir Kausalität aus Freiheit und damit ein moralisches Gesetz zu, das die objektive Notwendigkeit gewisser Handlungen zur Folge hat. Diese Handlungen kann ich nur im Bereich der Sinnlichkeit realisieren. Da die moralisch gebotenen Handlungen nach der Kausalität der Naturgesetzlichkeit aber immer zufällig sind und auch ausbleiben können, erscheint das Gesetz unter dem Namen der Pflicht und als Gebot: Die Vernunft drückt die dem moralischen Gesetz entsprechende Notwendigkeit nicht durch ein Sein oder Geschehen aus, sondern durch ein Sein-Sollen. Für eine Vernunft, die ohne Sinnlichkeit als subjektive Bedingung ihrer Anwendung wirksam sein könnte (= ein heiliger Wille), fiele dieser Unterschied weg. Der Gegensatz zwischen „Sollen und Tun, zwischen einem praktischen Gesetze von dem, was durch uns möglich ist, und dem theoretischen von dem, was durch uns wirklich ist“ (404), ist folglich nur gültig für ein praktisches Vernunftwesen, das zugleich sinnlich ist, dessen Kausalität aber mit derjenigen der Sinnenwelt nicht zusammenfällt. Urteilskraft: Da unser Verstand als diskursiver in der Erkenntnis immer vom begrifflich Allgemeinen zum Besonderen gehen muß, kann er hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit organischer Naturprodukte keine Erkenntnisurteile fällen, solange kein allgemeines Gesetz bekannt ist, aus denen die Besonderheiten dieser Gegenstände abgeleitet werden können. Ein solches Gesetz kennt unser Verstand nicht, und er muß deshalb anstelle des diskursiv oder analytisch Allgemeinen zum praktisch Allgemeinen – dem Zweck, der Absicht – seine Zuflucht nehmen. Ein Verstand, für den das Allgemeine mit dem Besonderen zugleich gegeben wäre und/oder der das Besondere anders als durch einen Begriff erkennen könnte, hätte dagegen mit Organismen keine Probleme. Oder, anders gesagt: „[W]ir würden zwischen Naturmechanismus und Technik der Natur, d. i. Zweckverbindung in
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derselben, keinen Unterschied finden, wäre unser Verstand nicht von der Art, daß er vom Allgemeinen zum Besondern gehen muß“ (ebd.). Fassen wir zusammen: In allen drei Fällen sind wir bei unseren Erkenntnisbemühungen aufgrund der Eigentümlichkeit unserer menschlichen Natur zur Annahme von Begriffen bzw. Unterscheidungen genötigt, ohne daß wir sagen können, daß ihnen etwas im Gegenstand entspricht. Der letzte Fall ist von den ersten beiden allerdings in dem wesentlichen Punkt unterschieden, daß die dem Begriff eines Naturzwecks entsprechenden Gegenstände in der Natur gegeben sind, es daher so scheinen könnte, als ob der Begriff eines Naturzwecks ein konstitutives Prinzip enthielte, und nicht bloß ein regulatives. Damit ergibt sich eine weitere Komplikation, die im folgenden Paragraphen thematisiert wird.
§ 77 Weil die Gegenstände, die wir für organisiert und damit für zufällig halten, „doch in der Natur gegeben“ (405) sind, gehören sie zur Einheit der Natur und deren Gesetzlichkeit. Wir sind also genötigt, in diesem Fall eine Gesetzmäßigkeit des Zufälligen zu denken, wenn Organismen nicht aus der Natureinheit herausfallen sollen. „Gesetzlichkeit des Zufälligen“ – so etwas kennen wir Kant zufolge nur als Zweckmäßigkeit (404). Denn ein Zweck wird realisiert, indem die vorhandene Natur verändert, ihre Eigengesetzlichkeit somit unterbrochen wird (Zufälligkeit), aber nicht blind und willkürlich, sondern in Übereinstimmung mit einem Begriff oder einer Regel (Gesetzmäßigkeit). Da aber die Natur sich selbst organisieren soll, ist die Urteilskraft in ihrer Reflexion über Organismen – wie schon vorher beim Naturschönen (vgl. 220) – zur Annahme einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck genötigt: Die Natur muß in ihren organischen Produkten als gesetz- und zweckmäßig gedacht werden können, ohne daß ein Wille, dem der Zweck zugeschrieben werden könnte, bestimmt wird. Kann so etwas überhaupt widerspruchsfrei gedacht werden? „Es betrifft also eine Eigentümlichkeit unseres (menschlichen) Verstandes in Ansehung der Urteilskraft in der Reflexion derselben über Dinge der Natur. Wenn das aber ist, so muß hier die Idee von einem andern möglichen Verstande, als dem menschlichen zu Grunde liegen (so wie wir in der Kritik der r. V. eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben mußten, wenn die unsrige als eine besondere Art, nämlich die, für welche Gegenstände nur als Erscheinungen gelten, gehalten werden sollte), damit man sagen könne: gewisse Naturprodukte müssen nach der besonderen Beschaffenheit unseres Verstandes von uns ihrer Möglichkeit nach als absichtlich
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und als Zwecke erzeugt betrachtet werden, ohne doch darum zu verlangen, daß es wirklich eine besondere Ursache, welche die Vorstellung eines Zwecks zu ihrem Bestimmungsgrunde hat, gebe“ (405 f.). Diese zentrale Passage des § 77 ist nicht auf den ersten Blick verständlich; sie bedarf deshalb einer sorgfältigen Deutung. Beginnen wir also mit der Kritik der reinen Vernunft und der dort mitgedachten ‚anderen möglichen Anschauung‘. Was ist damit gemeint? In der zweiten Auflage der ersten Kritik hatte Kant nicht weniger als sechsmal (B 135, 138 f., 145, 149, 153, 159) darauf insistiert, daß die transzendentale Deduktion der Kategorien nur für einen Verstand gilt, der seine Gegenstände nicht selbst hervorbringt und dessen ganzes Vermögen darin besteht, das Mannigfaltige einer gegebenen (sinnlichen) Anschauung unter die Einheit der Apperzeption zu bringen. Würden durch das Denken die Gegenstände selbst gegeben, dann wäre eine Kategoriendeduktion unmöglich, aber auch überflüssig: „[E]in Verstand, durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten, würde einen besonderen Aktus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen, derer der menschliche Verstand, der bloß denkt, nicht anschaut, bedarf“ (B 139). Eine solche Anschauungsart, die nicht rezeptiv, sondern produktiv ist, nennt Kant in Übereinstimmung mit der Tradition eine intellektuelle Anschauung: Eine derartige Anschauung, „die der Grund und nicht die Folge der Objekte ist, ist, da sie unabhängig ist, ursprüngliches Anschauen und deswegen vollkommen intellektuell“ (De mundi II § 10; vgl. B 159). Im Gegensatz dazu enthält eine sinnliche Anschauung wie die unsrige nur die Wirkungen („die Folge“) der Dinge auf das Subjekt; ihre Gegenstände sind folglich nur Erscheinungen, nicht Dinge an sich. War also in der ersten Kritik eine andere mögliche Anschauung erwogen worden, um die Eigenart der menschlichen Anschauung zu beleuchten, so soll hier im § 77 der Kritik der Urteilskraft ein anderer möglicher Verstand herangezogen werden, um die Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes zu illustrieren. Worin besteht dessen Eigentümlichkeit? Unser Verstand ist, wie Kant sagt, „ein Vermögen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand“ (406). Ein Begriff ist dabei eine allgemeine Vorstellung, in der etwas gedacht ist (ein Merkmal), was mehreren Objekten gemein ist. So enthält z. B. der Begriff eines Baumes dasjenige, was allen Bäumen gemein ist, unter Ausschluß dessen, was sie voneinander unterscheidet (vgl. Logik IX 94 f.). Die Besonderheiten einzelner Bäume sind also durch den Begriff nicht bestimmt, „und es ist zufällig, auf wie vielerlei Art unterschiedene Dinge, die doch in einem gemeinsamen Merkmale übereinkommen, unserer Wahrnehmung vorkommen können“ (406). Zur Erkenntnis empi-
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rischer Gegenstände müssen wir also von den Begriffen zur Wahrnehmung gehen, vom Abstrakt-Allgemeinen zum Besonderen, um zu bestimmen, was aus dem jeweiligen Begriff nicht abgeleitet werden kann, sondern zufällig ist. An dieser Stelle spätestens wird deutlich, daß Kants Beschreibung des Problems als Gesetzmäßigkeit des Zufälligen wenig hilfreich ist und das wirkliche Problem eher verstellt. Denn daß das Besondere zufällig ist, folgt bereits aus der Angewiesenheit des Verstandes auf Sinnlichkeit. Wenn Kant schreibt: „Durch das Allgemeine unseres (menschlichen) Verstandes ist das Besondere nicht bestimmt“ (406), so ist dies nur eine andere Art zu sagen, daß unsere Anschauung keine intellektuelle ist, sondern daß wir abwarten müssen, was uns in der Wahrnehmung gegeben wird. Jeder empirische Gehalt ist vom Standpunkt des Verstandes aus zufällig, aber nur Organismen nötigen zur Annahme einer Absicht, um ihre innere Möglichkeit verständlich zu machen. Anders gesagt: Zwar ist jede Absicht zufällig, aber nicht jede Zufälligkeit ist absichtlich. Zur allgemeinen, durch den Begriff unbestimmten Zufälligkeit des empirisch Gegebenen kommt bei manchen Naturprodukten noch eine scheinbar absichtliche Zufälligkeit hinzu, und nur sie nötigt uns, neben einer intellektuellen Anschauung auch noch einen intuitiven Verstand zu erwägen. Wäre uns nur Unorganisches gegeben, würde es gar keinen Grund geben, neben unserem diskursiven Verstand noch einen anderen Verstand zu erwägen. Das in der Kritik der reinen Vernunft zur intellektuellen Anschauung Gesagte würde reichen. Wir können somit jetzt deutlicher sagen, was Kant zeigen muß: Eine allgemeine (unbestimmte) Zufälligkeit unter den Erfahrungsgegenständen wird durch die Sinnlichkeit unserer Anschauung bedingt; eine besondere (absichtliche) Zufälligkeit wird zudem bei manchen Naturprodukten durch die Diskursivität unseres Verstandes bedingt (ohne daß diese den Dingen selbst zukommt). Es wird folglich für das Verständnis dieses Gedankens auch wichtig sein, zwischen den Alternativen zu unserer Anschauung und unserem Verstand genau zu unterscheiden, d. i. zwischen intellektueller Anschauung einerseits, und intuitivem Verstand andererseits. Dieser Unterschied ist von der Kantforschung bisher ganz übersehen worden; erstaunlicherweise werden beide in der Literatur immer wieder miteinander identifiziert, obwohl sie nicht dasselbe sein können – im Fall der Anschauung geht es um die Alternative: rezeptiv/spontan, im Fall des Verstandes um die Alternative diskursiv/intuitiv. Deutlicher wird der Unterschied zwischen intellektueller Anschauung und intuitivem Verstand, wenn man ihn vor dem Hintergrund der Leibnizschen Theodizee betrachtet, aus der Kant
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diesen Unterschied übernommen hat. Ich möchte deshalb an dieser Stelle einen kurzen Blick auf diesen Hintergrund einschieben. Bekanntlich hat Leibniz das Übel in der Welt damit zu erklären versucht, daß Gott bei der Schöpfung der Welt zwischen Möglichkeiten wählen mußte, die von seinem Willen unabhängig sind: Er betrachtete die ewigen Wesenheiten in seinem Verstand, sah, daß ihre teilweise Unvereinbarkeiten verschieden gute Kombinationen zulassen, und entschied daraufhin, die bestmögliche Kombination zu verwirklichen, die eben auch Übel enthält: Leibniz zufolge wollte Gott „vorhergehend das Gute und nachfolgend das Beste“ (Leibniz 1710/1985, II/1, Erster Teil § 23). Kant hat sich 1753 anläßlich einer Preisaufgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften intensiv mit dieser Lehre auseinandergesetzt und besonders die angebliche Unabhängigkeit der Möglichkeiten vom Wesen Gottes kritisiert (vgl. XVII 229–239). In der Nova dilucidatio hat er zwei Jahre später den Beweis zu erbringen versucht, daß alle Möglichkeiten Realitäten voraussetzen, die gleichsam der Stoff für alle möglichen Begriffe sind, so daß diese Realitäten folglich noch vor allen Möglichkeiten in dem Wesen vereint sein müssen, das über ihre Realisierung entscheidet: „Es gibt ein Seiendes, dessen Dasein selbst seiner eigenen und aller Dinge Möglichkeit vorangeht, das demnach als unbedingt notwendig daseiend bezeichnet werden kann. Es wird Gott genannt“ (I 395). Noch in der zweiten Hälfte der 70er Jahre hat Kant in seiner Metaphysikvorlesung (Metaphysik Pölitz) diesen Begriff vom „Urwesen“ als dem Substratum aller Möglichkeiten als den Grundbegriff aller Physikotheologie vorgetragen. Und auch nach der kritischen Wende hat dieser Begriff seine grundlegende Bedeutung behalten – zwar nicht mehr als Begriff eines an sich Seienden, aber als notwendige Idee der Vernunft, als „transzendentales Ideal“ (KrV A 571 ff.). In unserem Zusammenhang taucht er im § 76 auf unter dem Namen „der unablaßlichen Forderung der Vernunft […], irgendein Etwas (den Urgrund) als unbedingt notwendig existierend anzunehmen, an welchem Möglichkeit und Wirklichkeit gar nicht mehr unterschieden werden sollen, und für welche Idee unser Verstand schlechterdings keinen Begriff hat“ (402). Doch kehren wir noch einmal zur Metaphysik Pölitz zurück. Kant argumentierte dort folgendermaßen: Ist das Urwesen das Substrat der Möglichkeiten aller Dinge, so muß auch die Möglichkeit aller Ordnung und Vollkommenheit in ihm liegen, und insofern eine nichtzufällige Ordnung ohne Verstand nicht vorstellbar ist, schreiben wir dem Urwesen auch einen Verstand zu. Wenn aber alle Dinge durch den Verstand dieses Urwesens sind, so erkennt dieser die Möglichkeit aller Dinge, sofern er sich selbst erkennt. Wie ist das zu denken? Kant zufolge nur so, „daß er alle Teile
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erkennt aus dem Ganzen, und nicht das Ganze aus den Teilen, denn er erkennt alles und determiniert limitando alle Dinge“ (XXVIII 328). Da außer Gott nichts ist und er wesentlich einig ist, müssen alle Bestimmungen als Einschränkungen seiner Wesenheit gedacht werden, analog zu der Weise, wie alle geometrischen Figuren Einschränkungen des einen Raums sind. Dann kann die göttliche Erkenntnis aber auch keine begriffliche sein, denn Begriffe sind Vorstellungen von allgemeinen Merkmalen der Einzeldinge, zu deren Bildung bereits Abstraktion erforderlich ist. Das heißt: „Er erkennt nicht per conceptus, sondern per intuitus. Denn weil der ursprüngliche Verstand nicht an Schranken gebunden ist, die diskursive Erkenntnis aber eine Einschränkung ist; so ist die göttliche Erkenntnis eine unmittelbare Erkenntnis. Der ursprüngliche Verstand ist also anschauend“ (XVIII 328 f.) – das heißt, er ist ein intuitiver Verstand. Wie erkennt Gott dagegen die wirklichen Dinge? Wiederum nicht wie wir, das heißt durch Affektion, also nicht durch Wirkungen der Gegenstände auf ihn, sondern durch das Bewußtsein, sie geschaffen zu haben: „Gott erkennt alle möglichen Dinge, so fern er sich seiner selbst bewußt ist; er erkennt alle wirklichen Dinge, sofern er sich seines Ratschlusses bewußt ist“ (XXVIII 331, Herv. E. F.). Was Kant in dieser Vorlesung mit dem göttlichen Bewußtsein seines Ratschlusses bezeichnet, ist das gleiche, was er sonst intellektuelle Anschauung nennt: „Die göttliche Anschauung aber, die der Grund und nicht die Folge der Objekte ist, ist, da sie unabhängig ist, ursprüngliches Anschauen und deswegen vollkommen intellektuell“ (II 397). Damit können wir zum Text des § 77 und zur Frage der Vereinbarkeit von Notwendigkeit (Naturmechanismus) und Zufälligkeit (Technik der Natur) zurückkehren. Soll dies keine Antinomie der Urteilskraft beinhalten, dann muß die Natur so gedacht werden können, daß dieser Unterschied in ihr keiner ist, sondern nur durch unseren Verstand entspringt. Dazu erwägt Kant erstens einen anderen Verstand, der diesen Unterschied nicht kennt, und zweitens die Natur unabhängig von unserem Verstand. Erstens: Ein Verstand, in dem Mechanismus und Teleologie gar nicht unterschieden sind, weil Ganzes und Teil nicht getrennt sind – für den es folglich auch keine Zwecke gäbe – wäre z. B. ein intuitiver Verstand im obigen Sinn, der nämlich alle Dinge limitando erkennt, indem er sich selbst erkennt. Kant führt den intuitiven Verstand hier, im § 77 der Kritik der Urteilskraft, aber anders ein, nämlich in Abgrenzung von unserem diskursiven Verstand, der immer vom „Analytisch-Allgemeinen (von Begriffen) zum Besondern (der gegebenen empirischen Anschauung) gehen muß“ (407): „Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil er nicht
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wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines [!] Ganzen als eines solchen) zum Besondern geht, d. i. vom Ganzen zu den Teilen; der also und dessen Vorstellung des Ganzen die Zufälligkeit der Verbindung der Teile nicht in sich enthält, um eine bestimmte Form des Ganzen möglich zu machen, die unser Verstand bedarf, welcher von den Teilen als allgemeingedachten Gründen zu verschiedenen darunter zu subsumierenden möglichen Formen als Folgen fortgehen muß“ (407). Damit wird deutlich: Weil unser Verstand nicht intuitiv ist und uns das Ganze nicht mit den Teilen zugleich gegeben ist, müssen wir in den Fällen, wo die Teile nicht ohne deren Ganzes zu verstehen sind, auf einen Zweck als ein gedachtes Ganzes als den einzigen uns bekannten Fall einer solchen Einheit zurückgreifen – ohne daß wir deshalb sagen können, „daß der Grund eines solchen Urteils im Objekte liege“ (401). Und uns ist nie ein Ganzes gegeben, weil unser Verstand diskursiv ist und somit auf eine Anschauung angewiesen, „die bloß sinnlich, d. i. nichts als Empfänglichkeit ist“ (KrV B 129). Deren Mannigfaltiges ist darum einerseits immer diskret (vgl. KrV A 99), und andererseits immer nur Erscheinung, nie Ding an sich. Ist aber die Natur, zu der wir selbst gehören, nur als Erscheinung gegeben, so müssen wir ihr zugleich ein übersinnliches Substrat zugrunde legen als den Grund der Erscheinungen. Zweitens: Damit sind auch alle Organismen Erscheinungen. Wären diese Dinge an sich, dann könnte, da keine der Natur äußerlichen Zwecke angenommen werden, die Einheit, die den Grund der Möglichkeit ihrer Bildung ausmacht, nur die Einheit des Raumes sein, den sie einnehmen (vgl. 409). Abgesehen davon, daß eine Anwendung räumlicher Prädikate auf Dinge an sich zu Antinomien führte (wie Kant in der ersten Kritik gezeigt hat), stellte eine räumliche Einheit nur eine formale Bedingung der Gegenstände da, aber keinen Realgrund der Verbindung ihrer Teile. Die Wahrnehmung organisierter Naturprodukte als Erscheinung nötigt die reflektierende Urteilskraft also, der Natur ein übersinnliches Substrat, „diesem aber eine korrespondierende intellektuelle Anschauung“ (409) und zugleich (wegen der Zweckmäßigkeit) eine vernunftmäßige Einheit oder einen intuitiven Verstand unterzulegen, von dem wir uns allerdings „in theoretischer Absicht nicht den mindesten bejahend bestimmten Begriff machen“ können (412). Fassen wir zusammen: Weil alle Wahrnehmungen Erscheinungen sind, die in der Sinnlichkeit als passiver immer einzeln auftreten (KrV A 99), muß der Verstand sie nach mechanischen Gesichtspunkten verbinden, um daraus Erkenntnisse zu machen. Das ist das eine. Da wir einige Wahrnehmungen zugleich teleologisch beurteilen
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müssen, können wir diese mit dem Mechanismus der Sinnlichkeit verbinden, indem wir die Einheit beider auf das übersinnliche Substrat der Natur zurückführen. Das können wir zwar nur mit Hilfe von Zweckbegriffen, aber da wir erkennen, daß der Zweckbegriff eine Eigentümlichkeit des diskursiven Verstandes ist, nicht eines intuitiven, brauchen wir diesen Zweckbegriff nicht dem Substrat der Natur selbst zuzuschreiben. Das ist das andere.
15.3 Methodologische Konsequenzen § 78 In methodologischer Hinsicht hat diese Auflösung der Antinomie der teleo logischen Urteilskraft eine gewisse Ähnlichkeit mit der entsprechenden Stelle der Kritik der praktischen Vernunft. Deren Antinomie wurde dadurch gelöst, daß Kant zeigte, daß es nicht unmöglich ist, daß Tugend mit proportionaler Glückseligkeit in der Welt vereint sein kann, weil es nicht widersprechend ist, eine verständige Ursache der Welt anzunehmen, die unsere Gesinnungen kennt und entsprechend belohnen kann. Jetzt, bei der Frage der Vereinbarkeit von mechanischen und absichtlichen Erklärungsgründen, kommt es ihm ebenfalls nur darauf an, daß „wenigstens die Möglichkeit, daß beide [Mechanismus und Teleologie] auch objektiv in einem Prinzip vereinbar sein möchten (da sie Erscheinungen betreffen, die einen übersinnlichen Grund voraussetzen) gesichert ist“ (413), damit die Einheit der Naturgesetzmäßigkeit auch bei Organismen, das heißt bei von uns als absichtlich zu beurteilenden Naturprodukten, gesichert ist. Damit ist Kant zufolge aber viel gewonnen. Wenn es um Erklärung der Phänomene geht, kann die Vernunft auf eine mechanische Erklärungsart der Erzeugnisse nicht verzichten, denn Erklären ist immer eine Ableitung aus bekannten Prinzipien, welche also selbst erkannt sein müssen. Da diese Erklärungsart aber bei organischen Naturprodukten nicht hinreicht, ist das Prinzip absichtlich wirkender Ursachen als ein zusätzliches Prinzip, den besonderen Gesetzen der Natur nachzuforschen, gleichermaßen unaufgebbar, wenn dieses auch keine Ableitung (Erklärung) besonderer Naturprodukte aus diesem Prinzip erlaubt. Da aber Mechanismus und Absicht nicht beide zugleich Prinzipien der Möglichkeit eines und desselben Dinges sein können, können sie in der Erforschung desselben Dinges nur berechtigt zusammen bestehen, wenn beide an sich nicht unterschieden sind, sondern in einem einzigen oberen Grund vereinigt sind, in dem dieser Gegensatz
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nicht angetroffen wird. Dann wären beide Prinzipien subjektiv. Daß das der Fall ist, hatte der vorherige Abschnitt erwiesen. Wenn aber für uns beide Prinzipien sich als Erklärungsgründe derselben Sache gegenseitig ausschließen, zur Erforschung derselben Sache aber gleichermaßen unerläßlich sind, dann können sie in der Naturforschung nur dadurch miteinander verbunden sein, daß eines der beiden Prinzipien dem anderen untergeordnet ist. Und das kann „nach dem transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur ganz wohl geschehen“ (414). Denn wo Absichten und Zwecke angenommen werden, müssen auch Mittel zu deren Realisierung angenommen werden; und die Wirkungsweisen solcher Mittel können selbst ganz mechanisch sein. So besteht z. B. ein Haus aufgrund mechanischer und statischer Gesetzmäßigkeiten, obwohl es selbst nur auf Grund einer Absicht entstanden ist. Entsprechend kann die reflektierende Urteilkraft die Natur als zweckmäßig betrachten, ohne auf mechanistische Erklärungen verzichten zu müssen. In der Naturforschung ist folglich das mechanistische Prinzip dem Prinzip der Zweckursache unterzuordnen, wobei unbestimmt – und daher zu erforschen – bleibt, wie viel sich in der Natur mechanistisch und als Mittel zu einer Endabsicht erklären läßt.
15.4 Nachwirkung des Textabschnitts Kants hier skizzierte Überlegungen haben sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen und den Gang der nach-kantischen Philosophie entscheidend geprägt. Das kann ich hier nicht mehr im einzelnen verfolgen (vgl. Förster 2002a, 2002b), sondern möchte nur auf zwei naheliegende Anknüpfungspunkte verweisen. Dazu empfiehlt es sich wieder, die objektive Seite (übersinnliches Substrat der Natur) von der subjektiv-methodologischen Seite (Naturforschung) des Themas zu unterscheiden. (1) Wenn es stimmt, daß eine Unvereinbarkeit von Mechanismus und Teleologie nur durch unser diskursives Denken bedingt ist, nicht im Objekt selbst begründet ist, dann ist damit zugleich etwas über das An-sich-Sein der Objekte selbst gesagt. Denn nicht nur gibt es, wie § 76 zeigen sollte, keinen Grund, den Gegensatz beider Prinzipien aufs Objekt zu übertragen. Mehr noch: Sobald wir diesen Gegensatz im Objekt begründen, entsteht unweigerlich die Antinomie der reflektierenden Urteilskraft. So wie Raum und Zeit subjektive Prinzipien sind, die zu Antinomien führen, wenn sie auf Dinge an sich übertragen werden, so auch die subjektiven Prinzipien von Mechanismus und Teleologie. Der Gegensatz beider kann also nicht widerspruchsfrei als im Objekt gegründet gedacht werden.
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Das bedeutet aber: Da bei Naturzwecken die Natur ihre Materie selbst organisiert und nicht (wie bei Artefakten) ein Zweck von außen hinzukommt, muß schon im übersinnlichen Grund der Materie diese mit einer sogenannten Zweckmäßigkeit so untrennbar verbunden sein, daß beide gar nicht zu unterscheiden sind. Ein prinzipieller Gegensatz von Natur und Geist wäre dann genausowenig wie der von Mechanismus und Teleologie im Objekt begründet. So argumentiert im Anschluß an Kant vor allem Schelling: „Die Vereinigung des Blinden mit dem unleugbar Zweckmäßigen und Absichtlichen in allen organischen Bildungen zeigt, daß hier das blinde Prinzip selbst zu Verstand und Besinnung erhoben ist. Keine philosophische Theorie kann diese Vereinigung […] des Blinden und Zweckmäßigen in der Entstehung organischer Wesen begreifen, die nicht der Natur ein blindes zwar, aber des Verstandes fähiges Prinzip zu Grunde legt“ (Schelling 1843/44 in Werke V 407). (2) Kants zweifache Charakterisierung eines intuitiven Verstandes als (a) göttlichen, sich selbst limitierenden und (b) als nicht-diskursiven lädt förmlich zu der Frage ein, ob jeder nicht-diskursive Verstand ein göttlicher sein müsse. Beide Charakterisierungen sind zunächst ja ganz unabhängig voneinander: Die erste nimmt historische Vorläufer auf, die zweite ist als Kontrastbegriff zum tatsächlichen Menschenverstand gebildet. Daß auch diese zweite Variante eines intuitiven Verstandes für uns unmöglich ist, ist von Kant nicht gezeigt worden, sondern lediglich vorausgesetzt. Hieran hat zuerst Goethe angeknüpft. Er hatte im Frühjahr 1790 seine Metamorphose der Pflanzen veröffentlicht und kurz darauf Kants Kritik der Urteilskraft zu Gesicht bekommen. Dort fand er im § 77 unter dem Namen eines intuitiven Verstandes genau das auf den Begriff gebracht, was er in seinem Werk selbst angewandt hatte, wenn auch noch ohne explizites Methodenbewußtsein. Ein intuitiver Verstand im Kantischen Sinne war für Goethe folglich nicht nur denkmöglich, sondern in der Metamorphose der Pflanzen bereits ein Stück weit realisiert und damit menschenmöglich, „und so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen“ (Goethe 1820b/101989, XIII 31, mit Bezug auf 419). Das heißt, für Goethe kam von nun an alles drauf an, die Methodologie eines endlichen intuitiven Verstandes auszuarbeiten und in der Forschung fruchtbar zu machen. Dazu suchte er einerseits die Unterstützung philosophischer Geister wie Fichte, Schiller, Schelling und Niethammer (vgl. Goethe 1820a/101989, XIII 28 f.), andererseits hatten seine Ergebnisse prägenden Einfluß z. B. auf die Entwicklung von Hegels Philosophie in der letzten Phase von dessen Jenaer Periode (vgl. Förster 2002a, 2002b). Dieser
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Eckart Förster
war allerdings selbst schon einige Jahre zuvor zu der Überzeugung gelangt, daß ein intuitiver Verstand nichts für uns Unmögliches darstellt: „[I]ndem er [Kant] selbst einen intuitiven Verstand denkt, auf ihn als absolut notwendige Idee geführt wird, stellt er selbst die entgegengesetzte Erfahrung von dem Denken eines nicht diskursiven Verstandes auf, und erweist, daß sein Erkenntnisvermögen erkennt, nicht nur die Erscheinung und die Trennung des Möglichen und Wirklichen in derselben, sondern die Vernunft und das An-sich“ (Hegel 1802/1968, IV 341).
Literatur Förster, Eckart 2002a: Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56, 169–190. – 2002b: Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie (Teil II), in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56, 321– 345. Goethe, Johann Wolfgang 1820a: Einwirkung der neueren Philosophie, in: Naturwissen schaftliche Schriften. Erster Teil, in: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. v. E. Trunz, München 1981/101989, Bd. 13, 25–29. – 1820b: Anschauende Urteilskraft, in: ebd., 30 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1802: Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: Jenaer kritische Schriften, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968, Bd. 4, 313–414. Leibniz, Gottfried Wilhelm 1710: Essais de Théodicée sur la bonté de dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, in: Philosophische Schriften, hrsg. v. H. Herring, Darmstadt 1985, Bd. 2.1. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 1795: Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: Werke, hrsg. v. M. Schröter, München 1927, Bd. 1, 73–168. – 1843/44: Darstellung des Naturprozesses (Aus dem handschriftlichen Nachlaß), ebd., Bd. 5, 431–754.
16 Siegfried Roth
Kant und die Biologie seiner Zeit (§§ 79–81)
Die §§ 79 ff. stehen am Beginn der „Methodenlehre“ der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“. Hier behandelt Kant Anwendungen der in der Kritik der Urteilskraft gewonnen Begriffe auf spezielle Wissenschaftsbereiche. Während es für die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ keine Methodenlehre geben kann, „weil es keine Wissenschaft des Schönen gibt“ (355, 1), ergeben sich für die Teleologie, die von den Naturzwecken handelt, mögliche Bezüge zu den Naturwissenschaften (Naturlehre), zur praktischen Philosophie und zur Theologie (Gotteslehre). Demgemäß enthält die „Methodenlehre“ folgende thematische Blöcke. § 79 erinnert unter Wiederholung von Argumenten aus der „Einleitung“ an die Position der Teleologie im Gesamtsystem. § 80 und § 81 behandeln Fragen der zeitgenössischen Lebenswissenschaften, die §§ 82 ff. sprechen über die Natur- und Moralteleologie und die §§ 85–91 entwickeln den moralischen Gottesbeweis.
16.1 Die Stellung der Teleologie im Gesamtsystem der Wissenschaften (§ 79) In § 79 werden Gedanken in aller Kürze referiert, die ausführlich in der „Einleitung“ der Kritik der Urteilskraft entwickelt wurden. So beginnt Kant wie in der „Einleitung, Abschnitt I“ mit einem Abriß der Einteilung seines Systems der Philosophie und ordnet die Teleologie zunächst der Naturlehre zu, denn ihr Gegenstand sind Naturerzeugungen, insbesondere das Reich des Organischen. Allerdings kann die Teleologie nach Kant kein wirklicher Bestandteil der Naturwissenschaften sein. „Eigentliche Wissenschaft kann
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Siegfried Roth
nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist“, heißt es in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften (IV 468). Dies ist nach Kant nur durch eine Einschränkung auf mechanische Erklärungen aufgrund von Wirkursachen (causae efficientes) möglich und mündet im Idealfall in eine mathematisierbare Theorie (IV 470). Die Teleologie betreibt zwar auch eine Form von Kausalanalyse, in dieser werden allerdings Endursachen (causae finales) vorausgesetzt. Da Endursachen aber nicht aufgrund bestimmender, sondern nur reflektierender Urteile erkannt werden, fehlt ihnen die Verbindlichkeit und Gewißheit naturwissenschaftlicher Einsichten. Sie liefern nur eine Beschreibung bestimmter Naturformen, die jedoch „über das Entstehen und die innere Möglichkeit dieser Formen gar keinen Aufschluß gibt“ (417, 12). Somit kann die Teleologie keiner positiven Wissenschaft (Doktrin) zugeordnet werden. Als rein philosophische Disziplin gehört sie in den propädeutischen Bereich der Kritik (KrV B 869; s. auch 194, 24 ff.). In den §§ 80 und 81 werden wir sehen, wie Kant aufgrund des apriorisch konstruierten Begriffs des Naturzwecks biologische Theorien seiner Zeit evaluiert und kritisiert.
16.2 Kant und das Problem der Evolution (§ 80) Kants Bemerkungen zur biologischen Evolution in § 80 haben einen eigentümlich schwankenden Charakter, der zum einen schlicht die zeitgenössische Diskussion wiedergibt, die selbst genau diese Uneindeutigkeit aufweist, und zum anderen aus Zwängen seiner Organismustheorie zu erklären ist (Lovejoy 1959, Ruse 2006). Die Situation der Evolutionsbiologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch empirische Fortschritte auf drei Gebieten: der Systematik (Klassifikation der Organismen) und vergleichenden Anatomie, der Geologie und Paläontologie und schließlich der Entwicklung von Spezieskonzepten verbunden mit der Erfassung der natürlichen Variabilität der Arten (Zimmermann 1953, Bowler 2003). Als wichtige theoretische Konzepte kommen verfeinerte Vorstellungen über die Stufenleiter der Wesen und neue Theorien der Ontogenese hinzu. Kant hat sich sowohl mit den empirischen als auch den konzeptuellen Entwicklungen von seinen frühesten Schriften an bis ins Spätwerk auseinander gesetzt und im Bereich des Spezieskonzeptes sogar eigene, von den Fachkollegen anerkannte Beiträge geliefert (Blumenbach 91814, 26 FN, s. auch Girtanner 1796).
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Kants Darstellung des Themenkomplexes in § 80 beginnt mit einem Lob der vergleichenden Anatomie, deren Ergebnisse ihm vermutlich aus Buffons Histoire naturelle und aus Blumenbachs Handbuch der Naturgeschichte, dessen Auflage von 1779 er in den Teleologischen Prinzipien bereits erwähnte (VIII 180), bekannt sind. Übereinstimmungen im Grundbauplan der Wirbeltiere machen es möglich, die Mannigfaltigkeit der Arten durch quantitative Veränderungen (Verkürzungen, Verlängerungen, Einwickelung, Auswickelung) einzelner Körperteile oder Organe zu erfassen und bilden somit einen Hoffnungsstrahl (vgl. 418, 30 f.) für das Prinzip des Mechanismus. Darüber hinaus deuten sie für Kant auf eine wirkliche Verwandtschaft, das heißt auf einen gemeinsamen Vorfahren hin („Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter“, 418, 36 f.). In der behandelten Passage spitzt Kant die These noch weiter zu, indem er sie über die Wirbeltiere hinaus auf das gesamte Tierreich, ja sogar auf alle Lebewesen ausdehnt. Hier folgt er der im 18. Jahrhundert beliebten Vorstellung der Stufenleiter der Naturwesen (scala naturae; Leibniz 1702, Bonnet 1764). Er läßt dabei sowohl die begrifflichen als auch die empirischen Einwände gegen die Idee der Stufenleiter, die er in der Kritik der reinen Vernunft (B 696 f.) und noch in den Teleologischen Prinzipien (sich auf Blumenbach berufend, VIII 180 FN) äußerte, beiseite und spielt mit der Möglichkeit, daß sie durch einen real-historische Evolutionsprozeß zustande kommt. Naturbeschreibung wird zur Naturgeschichte (Sloan 2006). Im nächsten Absatz wird zunächst weitere Evidenz angeführt, die den Gedanken der historischen Entwicklung stützt. Kant bezieht sich auf die Fortschritte der Geologie und Paläontologie seiner Zeit, auf die „Archäo logen der Natur“ (419). Er hält es für wahrscheinlich, daß durch weitere Fossilienfunde zunehmend bessere Belege für eine Deszendenztheorie („durchgängige zusammenhängende Verwandtschaft“, ebd.) erbracht werden. Die urzeitliche Erde wird verglichen mit einem gebärenden Mutterschoß, der die Geschöpfe hervorbringt. In dieser Phase der Erdgeschichte sind die Arten veränderlich und neue Arten entstehen durch eine „fruchtbare Bildungskraft“ (ebd.). In der Anmerkung bezeichnet Kant den Zeugungsprozeß, der eine wesentliche Veränderung bei den Nachkommen zuläßt, als „generatio heteronyma“ (419 f. FN). Nur wenn ein solche Veränderungen erlaubender Zeugungsprozeß stattfindet, kann man sich vorstellen, daß „gewisse Wassertiere sich nach und nach zu Sumpftieren und aus diesen nach einigen Zeugungen zu Landtieren ausbildeten“ (ebd.). Irgendwann muß diese Phase der Erdgeschichte zu Ende gegangen sein, da in der Gegenwart die „generatio heteronyma“ nicht mehr beobachtet wird. Von da an ist die Mannigfaltigkeit der Lebewesen weitgehend fest-
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Siegfried Roth
gelegt. Es existieren nur noch „nicht-ausartende“, das heißt in ihren essentiellen Merkmalen sich nicht verändernde Spezies (zur Terminologie von Ausartung, Abartung, Nachartung s. Rassen II 430). Der entsprechende Zeugungsprozeß wird als „generatio homonyma“ (419 FN) bezeichnet. Das Kriterium der Höherentwicklung, des Aufstiegs entlang der scala naturae, ist die der zunehmenden Verwirklichung des Prinzips der Zwecke, das als Angemessenheit, wir würden heute sagen: als Anpassung des Organismus an seine Umgebung gedeutet wird. Anfängliche Geschöpfe von „minder-zweckmäßiger Form“ bringen solche hervor, die besser an ihre abiotische („Zeugungsplatz“) und biotische Umwelt („Verhältnisse unter einander“) angepaßt sind. Im Menschen scheint „das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt zu sein“ (419). Die grundsätzliche These eines real-historischen Entwicklungsprozesses der Lebewesen ist sowohl auf der Grundlage von Kants eigenen vorausgehenden Analysen als auch im Kontext zeitgenössischer Theorien „ein gewagtes Abenteuer der Vernunft“ (419 FN). Denn es gab in der Tat wenige prominente Zeitgenossen Kants, für die eine solche Idee von grundsätzlicher Bedeutung war. Buffon und Linné, die beiden einflußreichsten Gestalten für die damaligen Lebenswissenschaften, glaubten im wesentlichen an die Konstanz der Arten, und dies, obwohl Buffon umfangreiche geologische und paläontologische Studien betrieb. Sie spekulierten gelegentlich über realhistorische Vorgänge (Zimmermann 1953), so wie dies schon Leibniz getan hatte und Bonnet am Ende seines Lebens im Zusammenhang mit der Idee der Stufenleiter tut (Zimmermann 1953, s. auch Blumenbach 1790, 28 als Beispiel für die konzeptuelle Unentschiedenheit der damaligen Situation). Im ganzen zeigt dieses Bild, warum Kant vom Konzept einer realhistorischen Veränderung der Arten sagt: „[E]s mögen wenige selbst von den scharfsinnigsten Naturforschern sein, denen es nicht bisweilen durch den Kopf gegangen wäre“ (419 FN). Die Idee tauchte überall auf, führte aber ein unsicheres Dasein neben den eigentlich dominierenden Alternativvorstellungen. In der Kritik der Urteilskraft ist diese Vorstellung für Kant nicht mehr a priori vernunftwidrig (in der Rezension Herder von 1785 ist sie noch „so ungeheuer […], daß die Vernunft […] zurückbebt“, VIII 54; in den Teleologischen Prinzipien von 1788 wird sie als unterhaltendes Spiel, aber fruchtlos bezeichnet, VIII 180; bis sie schließlich 1790, in der Kritik der Urteilskraft, den Status einer „Hypothese“ gewinnt, 419 FN). Sie bereitet seinem System jedoch mehr Probleme, als er in der Anmerkung bereit ist zuzugeben, wo er nur bemängelt, daß man für sie keine empirische Evidenz
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anführen kann. Dies liegt mittelbar an seinem Spezieskonzept und letztlich an seiner Organismustheorie. Im Gegensatz zu dem Linnéschen Konzept der Schulgattung (für Art wird der Begriff Gattung verwendet) verteidigt Kant das von Buffon eingeführte Konzept der Naturgattung, die als Fortpflanzungsgemeinschaft definiert ist (II 429). In seinen Rassenaufsätzen und in den Teleologischen Prinzipien unterscheidet er vererbbare (Rassenmerkmale) von nichtvererbbaren Eigenschaften (Spielarten, „schickliche Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach Umständen erfordert“, 374, 32 f.), wobei alles, was vererbt wird, „als Entwickelung einer in der Spezies ursprünglich vorhandenen zweckmäßigen Anlage zur Selbsterhaltung“ (420) gedeutet werden muß. Da Organismen durch eine „durchgängige innere Zweckmäßigkeit“ gekennzeichnet sind, gibt es keinen Raum für zufällige Veränderungen, die zu der Entstehung von völlig neuen, vererbbaren Merkmalen führen könnten, die in der Anlage noch nicht vorhanden waren (Ruse 2006). Wenn dieses Prinzip aufgegeben wird, bricht das ganze System zusammen, denn dann könnten auch die jetzt lebenden Organismen Strukturen besitzen, die einen zufälligen Ursprung haben. Eine mögliche Rettung des Prinzips der durchgängigen inneren Zweckmäßigkeit besteht darin, daß man diese Eigenschaft in ihrer vollkommensten Verwirklichung nur dem Urstamm zuspricht. Alle Nachkommen repräsentieren nur Teilverwirklichungen. Vermutlich liegt diese Vorstellung auch der Formulierung von der allgemeinen Mutter der Geschöpfe zugrunde: „Allein er [der Archäologe der Natur] muß gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist“ (419). Die Idee, daß Evolutionsprozesse durch die Degeneration einer anzesteralen Form zustande kommen, geht ebenfalls auf Buffon zurück, der dieses Prinzip allerdings nur auf systematisch nahverwandte Gruppen anwendete (Bowler 2003). Für Kant ist dieses Prinzip denkmöglich, aber nicht sehr attraktiv, denn das „Prinzip der Teleologie […] müßte dadurch in der Anwendung sehr unzuverlässig werden“ (420). Hier sehen wir die zu Beginn erwähnte kritische Funktion teleologischer Prinzipien am Werk. Die apriorisch konstruierte Theorie der inneren Zweckmäßigkeit alles Organischen läßt sich nur dann mit dem Evolutionsgedanken vereinen, wenn empirisch nicht verifizierbare Zusatzannahmen gemacht werden. Noch deutlicher kommt das Prinzip der Teleologie in der Ablehnung der „generatio aequivoca“, der Erzeugung von Belebtem aus Unbelebtem, zum Tragen. Obwohl Kant Kräfte erwähnt, die bei einem solchen Über-
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gang eine Rolle spielen könnten, nämlich solche, die für Formbildungsprozesse im Anorganischen verantwortlich sind (419, 4 ff.; § 58: 349, 20 ff.), lehnt er die „generatio aequivoca“ im weiteren kategorisch ab. Der Übergang von Unbelebtem zu Belebtem, ist qualitativ völlig unterschieden von allen Evolutionsprozessen, die sich im Bereich des Organischen eventuell abspielen könnten. Dieser Übergang kann nicht vernünftig gedacht werden, da die Zweckeinheit organisierter Wesen kein Pendant in der unbelebten Materie hat. „[D]ie Autokratie der Materie in Erzeugungen, welche von unserm Verstande nur als Zwecke begriffen werden können, ist ein Wort ohne Bedeutung“ (420). Deshalb scheitert die Physik hier, „sie mag es mit einer Kette der Ursachen versuchen, mit welcher sie wolle“ (424). Es muß also gleich von Anfang an ein Einheitsprinzip wirksam sein, das die „Verbindung des Mannigfaltigen außer einander“ (420, 32) zu einer Funktionseinheit garantiert. Es ist durchaus instruktiv, die Logik der Kantischen Kritik an dem Evolutionsgedanken in den Kontext der heutigen Diskussion zu stellen (Wuketits 1988). Für die Evolutionsfähigkeit von Organismen ist ein Aspekt wichtig, den Kant aufgrund seiner Theorie verneint hätte: Organismen sind niemals perfekt optimiert und perfekt angepaßt. Gerade Strukturen, die nicht restlos funktionell eingebunden sind, können den Ausgangspunkt für evolutionäre Innovationen bilden. Andererseits spielt der Begriff der „developmental constraints“ für das Verständnis der Richtung evolutionärer Veränderungen in der heutigen Diskussion eine entscheidende Rolle (Carroll 2005, Kirschner/Gerhart 2006). Auch wir gehen heute davon aus, daß in Evolutionsprozessen überwiegend solche Veränderungen realisiert werden, die im Bauplan der Vorfahren bereits angelegt sind und daß diese häufig zu einer Vereinseitigung und Reduktion von einem breiteren Potential der Ausgangsgruppe führen. Mit Kant macht auch die moderne Biologie einen kategorischen Unterschied zwischen jenen Prozessen, die für den Übergang von Unbelebtem zu Belebtem verantwortlichen sind, und allen folgenden Prozessen, in denen evolutionsfähige Organismen vorausgesetzt werden (Eigen 1987). Obwohl wir bis heute den Prozeß der Entstehung des Lebens nicht durchgehend rekonstruiert haben, gibt es doch überzeugende Experimente und theoretische Konzepte für die einzelnen Schritte dieses Übergangs. Interessanterweise wird schon bei der Beschreibung der Selbstverdopplung (Replikation) von Nukleinsäuremolekülen, mit der die Entstehung des Lebens nach heutigen Vorstellungen einsetzt, eine Begrifflichkeit notwendig, die ansonsten in der Physik und Chemie nicht auftaucht. Es muß eine Wertefunktion eingeführt werden und funktionelle Beschreibungen, in denen von
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Anpassung auf molekularer Ebene die Rede ist, treten auf (Eigen 1987). Im Sinne Kants sind wir „ein anderes Prinzip zu denken genötigt“ (419).
16.3 Kant und das Problem der Individualentwicklung (§ 81) Genauso wie mit der Evolutionsproblematik beschäftigte sich Kant sein ganzes wissenschaftliches Leben hindurch mit der Debatte um die Individualentwicklung, in der die Begriffe „Präformation“ und „Epigenese“ eine zentrale Rolle spielen (Zammito 2006a u. 2007, Huneman 2007). Mit Epigenese und Präformation werden die beiden Alternativen für die Erklärung von Entwicklungsprozessen bezeichnet, die die gesamte Geschichte der Entwicklungsbiologie von Aristoteles bis ins 20. Jahrhundert bestimmt haben (Kullmann 1979, Sander 1990). Wenn mit Entwicklung „die Entstehung wahrnehmbarer Mannigfaltigkeit“ (Roux 1895, 4) gemeint ist, dann eröffnen sich zwei Denkmöglichkeiten, diesen Prozeß zu erklären. Entweder ist die Mannigfaltigkeit bereits vorhanden, präformiert, aber in einer nicht wahrnehmbaren Weise. Entwicklung besteht im wesentlichen darin, vorgeformte, latent vorhandene Strukturen (oder Informationen) zum Vorschein zu bringen. Oder es kommt zu einer wirklichen Neuentstehung (Epigenese) von Strukturen. Die erste Alternative führt unmittelbar zu dem Problem des Regresses. Die präformierten Strukturen müssen auf vorher existierende präformierte Strukturen zurückgeführt werden, ansonsten findet eben doch an irgendeinem Punkt im Generationszyklus eine Neubildung von Strukturen statt. Die zweite Alternative verlangt von vornherein nach einem Prinzip der Selbstorganisation. Da die Strukturen, von denen hier die Rede ist, komplexe Organismen sind, die sich mit sehr geringen Abweichungen, das heißt fast identisch, reproduzieren, werden an die epigenetische Strukturbildung durch Selbstorganisation sehr hohe Anforderungen gestellt. Sie muß bis in kleinste Feinheiten hinein bestimmt sein. Das Problem der Formkonstanz stellte immer wieder ein starkes Argument für den Übergang von epigenetischen zu präformistischen Annahmen dar. Die Entstehung der Präformationslehre als Einschachtelungstheorie um 1660 hängt eng mit der Erfindung der ersten Mikroskope zusammen, die eine ungeahnte innere Strukturiertheit der Lebewesen offenbarte, die Beschreibung der Keimzellen, insbesondere der Spermien (Animalculi) sowie früher Embryonalstadien ermöglichte und zur Entdeckung einer Vielzahl von Mikroorganismen führte (Roger 1997). Diese Beobachtungen zusammen mit der Entdeckung die Infinitesimalrechnung, die als Beweis
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für die Existenz unendlich kleiner Strukturen auch in der realen Welt angeführt wird (Malebranche 1674, 64), führen zur Idee der eingeschachtelten, präexistierenden Keime. Die zukünftigen Generationen sind wie in einer russischen Puppe in verkleinerter Form in den Keimzellen der jetzigen Generation vorhanden. Bei der Erschaffung der Lebewesen wurden alle späteren Generationen bereits in dieser eingeschachtelten Form erzeugt. Entwicklung ist nur Vergrößerung von im Detail räumlich präformierten Strukturen (Malebranche 1674, 63–71). In den folgenden Jahrzehnten wird die Idee der Präexistenz der Keime zur vorherrschenden Vorstellung für die Erklärung von biologischen Entwicklungsprozessen. Sie tritt in zwei Versionen auf: als Animalkulismus (präexistierende Keime in Spermien) und als Ovismus (präexistierende Keime in Ovozyten). Prominente Philosophen übernehmen die Präformationstheorie. So bildet sie neben der oben erwähnten Idee der scala naturae einen wichtigen Bestandteil von Leibniz’ Metaphysik (Leibniz 1695). Vermutlich hat Kant die Präformationstheorie zunächst über Leibniz kennen gelernt (Düsing 1968). Die unangefochtene Gültigkeit der Präformationslehre wird um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch Fortschritte in der experimentellen Biologie in Frage gestellt. Hier sind insbesondere die 1744 veröffentlichten Arbeiten von Trembley zum Regenerationsverhalten von Süßwasserpolypen zu erwähnen. Trembley beobachtete, daß nach Zerteilung von Polypen die einzelnen Fragmente in der Lage waren, einen verkleinerten, aber in allen Teilen vollständigen Polypen zu bilden (Lenhoff/Lenhoff 1986). Ein solches Regenerations- und Regulationsvermögen schien zunächst mit der Präexistenz der Keime unvereinbar zu sein. Wenn der ausgewachsene Organismus durch Vergrößerung einer in den Keimzellen vorgeformten Miniaturform zustande kommt, dann ist es nicht einzusehen, wie dieser Organismus sich nach Zerteilung vervollständigen kann. So kommt Haller, der zunächst ein Anhänger der Präformationslehre war, nach Trembleys Experimenten zu dem Schluß, daß die Präformationslehre widerlegt sei (Haller 1772, III 296). Sowohl Haller als auch Bonnet beschäftigen sich in der Folge mit Epigenesevorstellungen, insbesondere mit den Arbeiten von C. F. Wolff, der in seiner Theoria generationis von 1759 die erste moderne, im Detail ausgearbeitete Epigenesetheorie vorlegte (Roe 1981). In dieser möchte Wolff die Entwicklungsgesetze auf allgemeine Naturgesetze zurückführen. Für den Bereich des Organischen führt er als allgemeines Prinzip, aus dem sowohl die Organisation der Pflanzen als auch der Tiere folgt, die „vis essentialis“ ein (Wolff 1759, § 242).
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Für Haller und Bonnet ist der Kraftbegriff, der der Physik entlehnt ist, selbst wenn es sich dabei um eine spezifische Kraft des Organischen handelt, nicht ausreichend um die Formkonstanz der unterschiedlichen Organismen zu erklären. „Warum produziert diese Kraft ohne Fehler ein Hühnchen aus einem Hühnerei und einen Pfau aus einem Pfauenei“ (Haller 1766, VIII 117). Ähnlich formuliert Bonnet, der sich intensiv mit einer Reihe von Regenerationsexperimenten beschäftigt hat: „Jede Kraft ist an und für sich unbestimmt. Wie wird also die zum voraus gesetzte Wachstumskraft bestimmt, vielmehr einen Schenkel als einen Arm, das ihr doch ebenso möglich gewesen wäre, hervorzubringen?“ (Bonnet 1779/1783, 105). Um die Formkonstanz bei der Regeneration zu erklären, postuliert Bonnet, daß kleine vorgeformte Keime (Ergänzungskeime), die die Information für die Herstellung von organischen Strukturen tragen, nicht nur in den Keimzellen, sondern auch in anderen Körperteilen vorhanden sind, wo sie unter bestimmten Bedingungen zu erneutem Wachstum angeregt werden können. Bonnet vertritt somit trotz der Fortschritte in der experimentellen Embryologie weiterhin die Präformationslehre und Haller kehrt zu dieser zurück. Kant bezieht sich im Kontext seiner Ideen zur Individualentwicklung auf die Schrift Über den Bildungstrieb von Blumenbach (wahrscheinlich auf deren 2. Auflage von 1789). Hier entwirft Blumenbach auf der Grundlage eigener experimenteller Beobachtungen eine Epigenesetheorie. Den Lebenserscheinungen und der Formbildung liegt ein Bildungstrieb, „nisus formativus“, zugrunde (Blumenbach 21789, 32), den Blumenbach allerdings auch mit physikalischen Kräften vergleicht. „[D]aß das Wort Bildungstrieb, so gut wie die Worte Attraction, Schwere, etc. zu nichts mehr und nichts weniger dienen soll, als eine Kraft zu bezeichnen, deren constante Wirkung aus der Erfahrung anerkannt worden“ (Blumenbach 21789, 32 f.). Wie es aber möglich sein soll, daß eine allgemeine Kraft für die artspezifischen Unterschiede verantwortlich ist, kann im Kontext von Blumenbachs Ansatz ebensowenig erklärt werden wie im Kontext der Wolffschen Theorie von 1759. Die Kritik Hallers und Bonnets gegen Wolffs „vis essentialis“ könnte sich ebensogut gegen Blumenbachs „nisus formativus“ richten. Die dargestellte Entwicklung bildet den Hintergrund für die Ausführungen Kants zum Problem der Individualentwicklung in § 81. Kant geht systematisch vor und unterscheidet zunächst „Okkasionalismus“ von „Prästabilismus“. Der Okkasionalismus nimmt an, daß bei jeder Begattung das Individuum durch einen göttlichen Eingriff erzeugt wird. Diese Theorie ist nach Kant sowohl philosophisch als auch naturwissenschaftlich völlig uninteressant. Der Prästabilismus nimmt dagegen an, daß es Mechanismen
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der Reproduktion gibt, durch die „die Spezies sich selbst beständig erhält“ (422). Dies kann in zwei verschiedenen Weisen erfolgen. Der im Fortpflanzungsprozeß erzeugte Organismus kann entweder als „Edukt“ betrachtet werden, das heißt, vor dem Fortpflanzungsprozeß liegt er bereits als fertiges Ausgangsprodukt (Edukt) vor, das im Fortpflanzungsprozeß nur in Erscheinung tritt. Oder er ist ein wirkliches Produkt, das im Fortpflanzungsprozeß neu gebildet, produziert wird. In der folgenden abstrakten Analyse wird sofort klar, daß diese beiden Fortpflanzungsmechanismen aufeinander verweisen. Der Edukt-Mechanismus wird mit drei unterschiedlichen Namen belegt: 1. individuelle Präformation, da der erzeugte Organismus aus einem räumlich bereits vorgeformten Individuum hervorgegangen ist, 2. Evolution, da dieses Hervorgehen nichts anderes ist als ein Auswikkeln (lat. evolvere) und 3. Involution, weil die räumliche Präformation notwendig zu einem Regreß führen muß. Wie eine russische Puppe muß das Erzeugte alle zukünftigen Erzeugungen schon räumlich vorgeformt, verkleinert (eingeschachtelt) in sich enthalten. Für den Produkt-Mechanismus wird der gängige Namen Epigenese erwähnt. Kant weist aber sofort daraufhin, daß dieser Epigeneseprozeß darin besteht, die spezifische Form der Vorfahren (er benutzt hier das Wort „Stamm“) hervorzubringen. Diese muß also dem Reproduktionsprozeß, wenn auch nicht räumlich, so doch „virtualiter präformiert“ (422) zugrunde liegen. Deshalb kann man anstatt von Epigenese auch von generischer Präformation sprechen. Die den Stamm (Genus) charakterisierenden, vererbbaren Eigenschaften werden im Reproduktionsprozeß erhalten. Mit der Begriffsbildung „generische Präformation“, die m. E. bei keinem anderen der oben genannten Autoren auftaucht, erfaßt Kant die gesamte Problematik der damaligen Diskussion und bringt zum Ausdruck, daß weder Epigenese noch Präformation für sich betrachtet ausreichen, um ontogenetische Prozesse zu beschreiben. Im folgenden analysiert Kant die speziellen Schwachpunkte der Einschachtelungstheorie. Er meint, sie sei im Grunde nicht besser als der Okkasionalismus. In beiden Theorien geht die individuelle Form auf einen göttlichen Eingriff zurück. Bei der Einschachtelungstheorie geschieht dieser am Anfang der Schöpfung. Die Attraktivität dieser Annahme bestand darin, daß nach Abschluß der Schöpfung alles durch einfache mechanische Gesetze des Wachstums erklärbar war. Nach Kant hat die Einschachtelungstheorie jedoch eine Reihe unsinniger Konsequenzen, die dem Okkasionalismus erspart bleiben. Kant glaubt, daß die störungsfreie Erhaltung der unzähligen eingeschachtelten Wesen über lange Zeiträume hinweg keineswegs ein einfaches mechanisches Problem darstellt, sondern „eine große Menge übernatürlicher Anstalten“ benötigt. Weiterhin ist ihm offen-
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sichtlich bewußt, daß viele (weibliche) Keimzellen nicht zur Befruchtung kommen. Nach der Einschachtelungstheorie muß die Schöpfung also „eine unermeßlich größere Zahl solcher vorgebildeten Wesen, als jemals entwikkelt werden sollten“ (423), bereit stellen. Ein anderes damals viel diskutiertes Problem war die Entstehung von Mißbildungen, die mit Hilfe einer Reihe von Zusatzannahmen erklärt wurden. Kant macht sich offensichtlich lustig über diese Kasuistik, in dem er eine der mit Sicherheit am wenigsten plausiblen Erklärungen für die Existenz von Mißbildungen anführt („die niederschlagende Bewunderung“ der Anatomen, ebd.). Für die meisten Naturforscher, z. B. auch für Blumenbach, war das Regenerationsverhalten von Organismen das entscheidende Argument gegen die Einschachtelungstheorie. Kant führt dieses Argument nicht an. Er interessiert sich auch nicht für die Weiterentwicklung der Mikroskopie, die zu berechtigten Zweifeln an der ursprünglichen Beschreibung kleiner vorgeformter Wesen im Inneren der Keimzellen geführt hat. Sein Hauptargument gegen die Einschachtelungstheorie sind Kreuzungsexperimente, in denen sowohl männliche als auch weibliche Merkmale bei den Nachkommen auftreten. In der Tat konnten die Anhänger der Präformationslehre mit Hilfe der Theorie der Ergänzungskeime zwar das Regenerationsverhalten einigermaßen plausibel erklären, die Erklärungen für genetische Hybride enthalten indes kaum nachvollziehbare Zusatzannahmen (z. B. Bonnet 1770, 100 f.). Aus all dem folgt für Kant die Richtigkeit der Epigenesetheorie (allerdings im Sinne einer generischen Präformationstheorie). Aber auch ohne empirische Evidenz würde man aufgrund rein begrifflicher Analyse der Epigenese den Vorzug geben. Kant führt zwei miteinander verschränkte Gründe an. (1) Die epigenetischen Prozesse der Selbst-Hervorbringung gehören zu den Naturmechanismen, die uns somit kausal-analytisch zugänglich sein sollten. (2) Weil dem so ist, kommen Epigenesetheorien „mit dem kleinst-möglichen Aufwande des Übernatürlichen“ aus (424). Hier zeigt sich wiederum die Aufgeschlossenheit Kants gegenüber mechanistischen Erklärungsweisen. Deshalb wählt Kant auch die Formulierung „Beigesellung des Mechanismus zum teleologischen Prinzip“ als Titel für den § 81. Nur insofern der Organismus als „Naturprodukt“ und nicht als Edukt verstanden wird, hat das Programm einer mechanistischen Analyse von Entwicklungsprozessen einen Sinn. Ein Ausblick auf die heutige Forschung belegt wiederum die Fruchtbarkeit der Kantischen Begriffsanalyse auch im Kontext aktueller Diskussionen. Mit dem Begriff „generische Präformation“ könnte man ohne Zweifel auch den heutigen Standpunkt in der Entwicklungsbiologie beschreiben (Nüsslein-Volhard 2004). Die morphologischen Eigenschaften von Organismen
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sind bis in kleinste Feinheiten durch das genetische Programm „virtualiter präformiert“. Dies zeigt sich etwa an eineiigen Zwillingen, die in kleinsten Details ihrer Körpergestalt übereinstimmen. Das genetische Programm enthält natürlich keine räumlich vorgeformten Strukturen, sondern kontrolliert einen Prozeß der Neuentstehung räumlicher Information, der z. T. die Eigenschaft von Selbstorganisationsprozessen (Epigenese) hat. Da das gesamte genetische Programm aber in fast jeder Zelle des vielzelligen Organismus komplett vorhanden ist, übt es zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung seine Kontrollfunktion aus. Insofern stehen alle Selbstorganisationsprozesse im Organischen unter der „generischen“ Kontrolle des Genoms.
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Kant und die Biologie seiner Zeit
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17 Otfried Höffe
Der Mensch als Endzweck (§§ 82–84)
17.1 Die provokative These In der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“, in deren § 83, findet sich die wohl provozierendste These der dritten Kritik. Zugleich ist sie einer der am stärksten herausfordernden Sätze von Kants gesamtem Werk. Der Mensch, lesen wir dort, ist der betitelte Herr der Natur (431). „Betitelt“ heißt, wer mit einem titulum, also einem Rechtsgrund versehen ist (vgl. RL VI 260). Kant meint also einen rechtsmoralischen Anspruch, womit er seine naturphilosophische These mit der Moralphilosophie, näherhin deren Rechtstheorie, verschränkt. Zugleich tritt exemplarisch das Systeminteresse der Kritik der Urteilskraft zutage. Deren Versuch, den Dualismus von Natur und Freiheit mit Hilfe eines dritten Erkenntnisvermögens, der Urteilskraft, zu überwinden, bündelt sich für den zweiten Aufgabenbereich dieses Vermögens, für das Zweckdenken, in der Behauptung, der Mensch als moralisches, mithin Freiheitswesen sei der Herr der Natur. Vermag Kant also sein Systeminteresse nur mittels einer provokativen Selbstüberheblichkeit der Gattung Mensch zu begründen; und setzt er damit die Überzeugungskraft seines Systemversuchs aufs Spiel? Kants These klingt deshalb so provozierend, weil sie sich in ein Denken einfügt, das zwar für Jahrhunderte im Abendland vorherrschte, mittlerweile aber als obsolet gilt: Der Mensch bilde den Mittelpunkt der Welt. Vor allem die Tierschutz- und die Umweltschutzethik erheben gegen dieses Denken, Anthropozentrik genannt, scharfen Einspruch. Als Alternative vertreten sie entweder eine Biozentrik, die alles Leben, also die Gesamtheit der Lebewesen, oder aber eine Pathozentrik, die alle empfindungsfähigen
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Lebewesen in den Mittelpunkt stellt. In diesem, damals freilich noch nicht so formulierten Streit setzt sich Kant der Sache nach für die Anthropozentrik ein, und er tut es ebenso argumentativ gründlich wie in der Sache kompromißlos. Als erstes präzisiert er die These und nimmt dabei eine kaum merkliche, aber folgenreiche Veränderung vor. Denn er versetzt nicht den Menschen in den Mittelpunkt der Welt, vielmehr erklärt er ihn zu einem Zweck, der nicht zugleich als Mittel existiert, also zu einem bloßen Zweck, einem Selbstzweck. Darüber hinaus bildet er in einer Hierarchie von Zwecken den Endzweck, sogar absoluten Endzweck der gesamten Natur. Und dieser Rang – so Kants Anthropozentrik – gebührt allein dem Menschen. Allerdings führt Kant noch eine kleine Einschränkung ein: Der Exklusiv-Rang besteht „hier auf Erden“ (426, 37). Eine zweite Einschränkung folgt noch. Der Gedanke des Menschen als des Endzwecks der Natur ist im Kantischen Œuvre neu. In der Kritik der reinen Vernunft, in der „Architektonik“ innerhalb der „Methodenlehre“, spricht Kant zwar von wesentlichen Zwecken, unterscheidet dabei subalterne Zwecke vom Endzweck, erklärt allein den Endzweck zum höchsten Zweck, identifiziert diesen als „die ganze Bestimmung des Menschen“ und ergänzt: „und die Philosophie über dieselbe heißt Moral“ (KrV B 868). Die Gedanken eines Endzwecks und dessen Identifikation mit dem Menschen sind also nicht neu. Nach der ersten Kritik gehört der Endzweck aber ausschließlich zur Moralphilosophie. Der für die dritte Kritik entscheidende Zusammenhang mit der Natur tritt nicht in den Blick; die in der ersten Kritik vorgenommene exklusive Zuordnung zur Moral schließt den Zusammenhang sogar aus. Die Grundlegung (1785) geht vielleicht einen kleinen Schritt weiter. Sie erklärt den Menschen zu einem Zweck an sich selbst, ‚dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat‘. Daraus sieht sie das moralische Gebot folgen: Der Mensch darf „nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen […] Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ (IV 428, Herv. getilgt). Über die Eigenart, „Zweck an sich selbst“ zu sein (in der Kritik der Urteilskraft ‚Zweck in ihm selbst‘: 426, 10 f.), verfügt zwar der Endzweck der Kritik der Urteilskraft auch. Er steht hier aber in einem Zusammenhang, dem Naturganzen, für den sich eine bloße Moralphilosophie nicht interessiert: Innerhalb der Natur findet sich eine aufsteigende Reihe von Zwecken, die die Frage aufdrängt, ob diese Reihe eine nicht bloß relative, sondern absolute Spitze besitzt und worin diese gegebenenfalls besteht. Weil erst die teleologische Urteilskraft die Natur als ein systematisches Ganzes betrachtet, kann erst sie die provozierende These aufstellen, der
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Mensch sei nicht bloß ein Selbstzweck, sondern zugleich ein schlechthin letzter Zweck, ein Endzweck, und dieser Rang gebühre in der Natur allein dem Menschen. Schon diese einführende Erläuterung macht das für die Urteilskraft wesentliche Vermittlungsinteresse offensichtlich: Die These verschränkt Kants moralische Anthropologie mit einer normativen Naturphilosophie.
17.2 Fünf Interpretationsfragen Die Ansicht vom Menschen als dem Endzweck der gesamten Natur erinnert an den jüdisch-christlichen Gedanken vom Menschen als Krone der Schöpfung. Wird hier, so eine erste Interpretationsfrage, eine religiöse Ansicht, ein Theologoumenon, philosophisch erhöht? Oder leistet Kant einen Beitrag zu dem Forschungsprogramm, das er drei Jahre später unter den Titel stellt Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft? Diese Schrift handelt vier Kapitel einer christlichen Dogmatik ab: die Sündenlehre („Erstes Stück“), die Christologie („Zweites Stück“), die Eschatologie („Drittes Stück“) und die Ekklesiologie („Viertes Stück“). Sofern Kant in der Kritik der Urteilskraft ein fünftes Kapitel beifügt, die Schöpfungslehre mit einem Schwerpunkt auf der (teleologischen und theologischen) Anthropologie, sollte man die Religionsschrift nicht nur, wie des öfteren, von der ersten und der zweiten Kritik, sondern zusätzlich auch von der dritten Kritik her lesen, nämlich von der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ aus. (Nach deren § 79 gehört die diesbezügliche Teleologie aber nicht zur Theologie.) Die heute inkriminierte Anthropozentrik läßt sich auf zwei Arten vertreten. Eine bloß theoretische Anthropozentrik behauptet lediglich den sachlichen Vorrang, eine praktische Anthropozentrik dagegen Vorrechte. Und eine kombinierte, sowohl theoretische als auch praktische Anthropozentrik vertritt beide Behauptungen, wobei sie die Vorrechte in der Regel mit dem Vorrang begründet. Auf eine zweite Interpretationsfrage, welche Anthropozentrik Kant vertritt, fällt die Antwort so leicht, daß sie schon hier gegeben werden kann: In der Kritik der Urteilskraft setzen sich die §§ 82 ff. für beide Spielarten ein. Sie vertreten also die kombinierte Anthropozentrik, wobei hier, wie die Regel, die praktische Spielart auf der theoretischen aufbaut: Kant sieht die einschlägige Besonderheit des Menschen im Verstand, genauer gesagt in einem praktischen Verstand, nämlich im Vermögen, „sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen“ (431, 4 f.). Aus diesem Umstand und der zusätzlichen Behauptung, daß „auf Erden“ (426) allein der Mensch
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den praktischen Verstand besitze, leitet er den Vorrang des Menschen ab. Und daraus ergebe sich das Vorrecht, der ‚betitelte‘, also legitime „Herr der Natur“ zu sein (§ 83: 431, 5). Daß der Mensch Herr der Natur sei, behauptet schon Descartes. Im Discours de la méthode (1637, 6. Teil), also mehr als eineinhalb Jahrhunderte vor Kant, wird der Mensch zum „maître et possesseur de la nature“, mithin zum „Herrn und Besitzer bzw. Eigentümer der Natur“, erklärt. Kant übernimmt Descartes’ erste Sonderstellung des Menschen, sein Herrsein, übergeht dagegen die zweite, den Eigentümer-Status, was eine dritte Interpretationsfrage aufdrängt: Wird die zweite Sonderstellung gestrichen, oder wird sie lediglich nicht eigens hervorgehoben, im Zuge der Argumentation aber mit vertreten? Die erste Sonderstellung wird dagegen nicht bloß übernommen, sondern noch rechtsmoralisch verstärkt: Der Mensch ist nicht einfachhin der Herr der Natur; er ist es mit gutem, sogar mit bestem, weil rechtsmoralischem Grund, so daß er auf die Sonderstellung einen moralischen Anspruch hat. Die vierte, sachlich vorrangige Interpretationsfrage betrifft die Rechtfertigung: Inwiefern hat ein Vermögen, das vorhanden ist, also eine Tatsache, eine legitimatorische Kraft? Wiese folgt aus der (exklusiven) Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen, das Recht, Herr über die Natur zu sein? Um die Frage zu beantworten, ist eine doppelte Vorfrage und insgesamt fünfte Interpretationsfrage zu klären: Welche Art von Herr-sein, und ebenso: welche Art von Recht wird behauptet?
17.3 Zum systematischen Ort Um Kants These zu verstehen, muß man sich ihren systematischen Ort vergegenwärtigen: Das Grundvermögen der dritten Kritik, die Urteilskraft, ist in Kants Moralphilosophie zwar schon bekannt, sogar für zwei Aufgaben. Die „durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft“ (GMS IV 389) wendet eine allgemeine, abstrakte Regel „auf eine Handlung in concreto“ an (KpV V 67). Und die für die „Typik“ charakteristische reine praktische Urteilskraft prüft die sittliche Qualität, das Gut- oder aber Böse-sein, der Regel (ebd., 67 ff.). Bei beiden Aufgaben tritt die Urteilskraft bestimmend auf, denn im einen Fall ordnet sie den Einzelfall einer vorgegebenen Regel ein, im anderen Fall wird die Regel einem noch Allgemeineren, dem Typus des Naturgesetzes, ein- und untergeordnet. Hinsichtlich der Moral taucht die andere, reflektierende Urteilskraft erst in der dritten Kritik auf. Hier erscheint sie allerdings schon im ersten Teil,
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in deren Theorie des Schönen, dort freilich nur in der negativen Funktion, den Begriff des Schönen als des interesselosen Wohlgefallens durch Kontrast zu profilieren. Im zweiten Teil der ästhetischen Urteilskraft, in der Theorie des Erhabenen, erhält die Moral schon eine positive Aufgabe. Sie bleibt zwar vom Erhabenen begrifflich verschieden. Im Erhabenen wird das Sinnliche aber in Beziehung auf jenen Bereich, das Übersinnliche, gesetzt, in dem die Moral ihren Ort hat: Als Moralwesen empfindet sich der Mensch einer auch noch so mächtigen Naturgewalt, z. B. einem grenzenlosen, zudem in Empörung gesetzten Ozean, als überlegen (§ 28: 247). Hinzu kommt, daß das moralische Gefühl mit der ästhetischen Urteilskraft insofern verwandt ist, als „es dazu dienen kann, die Gesetzmäßigkeit der Handlung aus Pflicht zugleich als ästhetisch, d. i. als erhaben, oder auch als schön vorstellig zu machen, ohne an seiner Reinigkeit einzubüßen“ (267, 17–20). In keinem dieser Fälle wird aber die Moral, genauer: der Mensch als Moralwesen, zum direkten Gegenstand. Dies geschieht erst in jenem zweiten, teleologischen Gebrauch der Urteilskraft, der es um eine objektive, das heißt bei Kant: in den Objekten selbst anzutreffende Zweckmäßigkeit geht. Dem Begriff der Zweckmäßigkeit räumt Kant freilich bloß ein bescheidenes Recht, keine konstitutive, sondern nur eine regulative und heuristische Bedeutung ein. Im Gegensatz zu einer überschießenden Teleologie darf man sich nicht anmaßen, das Naturgeschehen teleologisch zu „erklären“. Als Teil der reflektierenden Urteilskraft tritt sie zum Kausaldenken lediglich ergänzend hinzu. Sie ist nur ‚ein Prinzip mehr‘, um die Erscheinungen der Natur selbst dort unter Regeln zu bringen, wo die Kausalgesetze „nicht zulangen“ (§ 61: 360, 19). Innerhalb der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ tritt Kants Gedanke vom Menschen als Endzweck der Natur weder in der „Analytik“ noch in der „Dialektik“ auf. Sie gehört zum „Anhang“, der „Methodenlehre“, die nach der Logik (IX 139) generell „das Mannigfaltige der Erkenntnis zu einer Wissenschaft zu verknüpfen“ hat. In der Kritik der Urteilskraft fällt die „Methodenlehre“ ungewöhnlich breit aus. Kant begründet den Gedanken vom Menschen als Endzweck in drei Schritten, denen er jeweils einen Paragraphen widmet. Der erste Schritt, in gewisser Hinsicht Vorschritt, legt unter dem Titel „Von dem teleologischen System in den äußeren Verhältnissen organisierter Wesen“ (§ 82: 425) die erforderlichen Denkmittel: Begriffe und Argumentationsmuster, bereit. Der zweite Schritt und erste Hauptschritt richtet sich auf den „letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems“ (§ 83: 429). Die Argumentation schließt mit einer Überlegung zum „Endzwecke des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst“ (§ 84: 434). Zusammen mit der noch folgenden Moral-
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theologie bildet diese Lehre vom Menschen als Endzweck der Natur den Gipfel der teleologischen „Methodenlehre“ und sogar der ganzen Schrift. Nur eine minutiöse Auslegung hilft, diese Lehre zu verstehen.
17.4 Vom teleologischen System organisierter Wesen (§ 82) Der Vorschritt beginnt mit der Erinnerung an eine Unterscheidung der äußeren Zweckmäßigkeit, der Nutzbarkeit oder Zuträglichkeit für andere Wesen, von der inneren Zweckmäßigkeit, der innerlich zweckmäßigen Organisation eines Naturwesens (vgl. § 63: 366–369). Kant fährt mit der These fort, nur bei den Organismen, also innerlich zweckmäßigen Wesen, lasse sich die Wozu-Frage stellen. Für diese Frage bieten sich zwei Antwortmuster an: Entweder hat das Dasein des betreffenden Wesens keine nach Absichten wirkende Ursache oder es hat sie doch. Im zweiten Fall wird das Dasein als Zweck gedacht, was erneut zwei Optionen eröffnet. Das Wesen kann nämlich Zweck in sich selbst, mithin Endzweck, sein, oder es existiert zugleich als Mittel, folglich nur als ein mittlerer Zweck. Daran schließt sich die wichtige Zwischenthese an, die negative Aussage, in der Natur – mit dem entsprechenden Zusatz: als Natur – gebe es keinen Zweck, der nicht zugleich ein Mittel sei. Bloße Naturdinge könnten kein Endzweck sein, was sich sogar a priori beweisen lasse. Kant tritt zwar den Beweis nicht an, und ob der Beweis später, etwa im folgenden § 83 erfolgt, wird zu prüfen sein. Man kann sich aber schon überlegen, ob die bisherige Argumentation bestimmte, vielleicht sogar die entscheidenden Elemente eines Beweises enthält. Erstaunlicherweise unterscheidet Kant den Begriff des Endzwecks von dem eines letzten Zwecks. Dies ist deshalb erstaunlich, weil man für beide Zweckarten denselben lateinischen Ausdruck „finis ultimus“ einsetzen darf. Worin liegt der Unterschied? Ein letzter Zweck nimmt in einer Hierarchie von Zwecken den höchsten Rang, die Spitze, ein; schon der letzte Zweck ist also ein Höchstes, ein Superlativ-Zweck. Einen derartigen Spitzenzweck, so räumt Kant stillschweigend ein, mag es in der Natur als Natur durchaus geben. Für einen Endzweck braucht es aber mehr; ein Endzweck ist ein „letzter Zweck plus x“, also ein Superlativ, der den Superlativ-Charakter noch steigert. Damit ein letzter Zweck auch ein Endzweck sein kann, muß man, wie Kant zuvor erläutert, die Existenz des entsprechenden Wesens „nicht anders denn als Zweck denken können“ (426, 7). Den Rang eines letzten Zwecks scheint eine Mehrzahl biologischer Arten einzunehmen, den eines Endzwecks lediglich eine Art. Und diese
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Art zeichnet sich vor den anderen Letztzwecken durch die Besonderheit aus, ein reiner Zweck bzw. nichts anderes als ein Zweck zu sein. Erfüllt wird diese Bedingung ausschließlich von einem Wesen, das sich dagegen wehrt, sogar seiner inneren Natur nach sperrt, als (bloßes) Mittel verwendet zu werden. In den nächsten Paragraphen erfährt diese Bedingung einige sachlich äquivalente Bestimmungen: Ein Endzweck ist „unabhängig von der Natur sich selbst genug“ (§ 83: 431, 9); er ist „derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“, (§ 84: 434, 7 f.); er ist „unbedingt“ (435, 6) und „in der Ordnung der Zwecke von keiner anderweitigen Bedingung, als bloß seiner Idee abhängig“ (435, 13 f.). Um die erste Interpretationsfrage aufzunehmen: Der Gedanke des Endzwecks hat, so weit entwickelt, keine theologischen Prämissen. Und zum Provokationspotential ist zu sagen: Kant vertritt keine Anthropozentrik in dem heute üblichen, gegen Bio- oder Pathozentrik gerichteten Sinn. Statt dessen behauptet er eine freilich nur partielle Ex-Zentrik: Der Mensch steht im Kontinuum der Natur und fällt trotzdem, aufgrund seiner inneren Sperre gegen Instrumentalisierung, aus der Natur heraus. Die Sperre, behauptet Kant, ist nämlich einem Naturding, sofern es nur ein Naturding ist, unmöglich; sie bleibt ihm verwehrt. Bloße Naturdinge, läßt sich aus rasch folgenden Hinweisen entnehmen (426, 36 ff.), haben weder Verstand noch Vernunft. Infolgedessen können sie sich weder einen Begriff von Zwecken („Verstand“) noch den Begriff eines Systems der Zwecke („Vernunft“) machen. Wem dieses Vermögen fehlt, der könne „notwendig zugleich als Mittel“ dastehen, sei es, daß er so „existieren“, sei es, daß er so „gedacht werden“ kann. Warum? Kant läßt im § 82 eine Hierarchie von Wozu-Fragen folgen. Der übernächste § 84 führt drei zunehmend anspruchsvollere Arten von WozuFragen ein: (1) Wozu haben Dinge in der Welt diese oder jene Form? (2) Wozu sind sie in dieses oder jenes Verhältnis zueinander gesetzt? (3) Wozu sind sie überhaupt da? (434, 19 ff. mit 434, 11). In dieser Metahierarchie von Wozu-Fragen dürften die Wozu-Fragen von § 82 allesamt zur mittleren Art gehören. Denn es geht um eine Hierarchie äußerer Zweckmäßigkeiten, an deren Spitze der Mensch steht: Das Pflanzenreich, „Gewächsreich“ (426) genannt, dient dem Tierreich zur Nahrung; im Tierreich dienen die pflanzen-verzehrenden Tiere den Raubtieren zur Nahrung; und die Gesamtheit dieser Naturreiche dient dem Menschen zu dem mannigfaltigen Gebrauch, den ihm sein Verstand lehrt. Der Mensch aber „ist der letzte Zweck der Schöpfung“, mit der schon erwähnten Einschränkung: „hier auf Erden“ (ebd., 37). Wer ist damit ausgenommen? Zweifellos außerirdische Wesen wie etwa reine Intelligentien, also jene Engel im philosophischen Sinn, die nicht
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(nur) zum diskursiven, sondern (auch) dem intuitiven Verstand befähigt sind. Wie sieht es aber mit eventuell außerhalb der Erde vorkommenden, gleichwohl mit praktischem Verstand ausgestatteten Leib- und Lebewesen aus? Kant geht dieser Frage nicht nach; die (vermutlich theologischen Formeln entnommene) Rede „hier auf Erden“ scheint aber außerirdische, gleichwohl verstandesbegabte Leibwesen auszuschließen. Dagegen spricht, daß die Begrifflichkeit, die für Kants Subjekt, den letzten Schöpfungszweck, entscheidend ist, aus der Verbindung von „Natur“ (wozu der Mensch als Leibwesen gehört) mit „Verstand“ besteht, und dieser wird wenige Zeilen später noch um „Vernunft“ ergänzt. Mangels Verstand (und Vernunft) sind nun alle subhumanen Wesen, mangels Leiblichkeit aber die reinen Verstandeswesen ausgeschlossen, während sich leibgebundene Verstandesund Vernunftwesen, die außerhalb der Erde leben, ohne Schwierigkeit einschließen lassen. Im § 84 geschieht es sogar ausdrücklich (435, 25 f.). Kant vertritt also keine biologische, sondern eine Art von ontologischer Anthropozentrik. Nicht eine einzige biologische Spezies, jene, der wir selber angehören, bildet den Endzweck der Natur, sondern jedes Wesen, dessen Verstandesvermögen leibgebunden ist. Sollte es derartige Wesen außerhalb der Erde geben, so ständen auch sie im Rang eines Endzwecks der Natur. Nun bedeutet der klassische Begriff des Menschen, der des zôon logon echon, nichts anderes als ein leibgebundenes Verstandes- und Vernunftwesen. Man braucht deshalb für Kants Position keinen neuen Ausdruck, kann bei „Anthropozentrik“ bleiben, sollte ihn aber durch einen Zusatz wie „nicht biologische, sondern ontologische Anthropozentrik“ spezifizieren. In der Hierarchie von Pflanzen und Tieren erklärt Kant den Menschen und das leibgebundene Verstandeswesen zunächst noch nicht zum Endzweck, sondern erst zum letzten Zweck. Wieso aber, fragt sich, begründet die Eigenart, der Verstand, und daran anschließend die Vernunft, einen in der Hierarchie der Naturzwecke erstens höheren und zweitens unüberbietbar höchsten Rang? Sie besteht nach Kant in einer Zweckfähigkeit von ebenso höherer, sogar schlechthin höchster Stufe. Diese liegt in erster Linie nicht in der Fähigkeit, sich andere Wesen zunutze zu machen, obwohl diese Fähigkeit mitgegeben ist. Die nicht bloß ein wenig, sondern dem Wesen nach höhere Zweckfähigkeit besteht in einer auf Handeln gerichteten, also kognitiven, genauer: praktisch-kognitiven Fähigkeit, im Vermögen, sich Begriffe von Zwecken zu machen. Diese reflexive Zweckfähigkeit läßt sich nicht bloß technisch, das heißt für beliebige Zwecke, oder pragmatisch, für das eigene Wohlergehen, einsetzen. Beide Verwendungen stehen nicht einmal im Vordergrund. Der
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reflexiven Zweckmäßigkeit ist vielmehr eine qualitative Steigerung möglich, die nicht in einem Höchstmaß der Indienstnahme der subhumanen Natur besteht. Ihr ist daher, um die dritte Interpretationsfrage aufzugreifen, Descartes’ Status des Eigentümers der Natur („possesseur de la nature“) fremd. Ohne das Thema direkt zu behandeln, erklärt Kant stillschweigend, der Mensch sei zwar zum Herrn der Natur berufen, freilich nicht in jeder Hinsicht, sondern nur in einem wohlabgegrenzten Sinn; Eigentümer der Natur mit dem Recht auf beliebige Nutzung sei er jedenfalls nicht. Die qualitativ gesteigerte Indienstnahme besteht in einer Leistung der Vernunft. Diese scheint erstaunlicherweise zunächst bloß theoretisch zu sein. Mit Hilfe der Vernunft lasse sich nämlich ein Aggregat, also eine bloße Ansammlung von Zwecken in ein geordnetes Ganzes, ein System der Zwecke bringen (427, 1 ff.). Als nächstes erwähnt Kant jene gegenüber Pflanze–Tier–Mensch scheinbar umgekehrte Abfolge von Zweckmäßigkeiten, die der „Ritter Linné“, der berühmte schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778), in seinem Hauptwerk Systema Naturae (121776, I 17) skizziert. Danach sind die pflanzenfressenden Tiere da, um den andernfalls zu üppigen Wuchs der Pflanzen, und die Raubtiere, um der Gefräßigkeit der pflanzenfressenden Tiere Grenzen zu setzen. Indem schließlich der Mensch die Raubtiere verfolgt, stiftet er unter den produktiven und den destruktiven Kräften der Natur ein gewisses Gleichgewicht. Linnés Hierarchie hält Kant nun entgegen, daß sie den Menschen zwar als Zweck würdige, vermutlich mit dem Argument, er erscheine als Spitze der Hierarchie. In anderer Hinsicht, wohl mit der Gleichgewichtsleistung, werde er aber zu einem Mittel degradiert, was dem Endzweck-Charakter nicht gerecht werde. Der nächste Absatz schließt sich an die Systemfähigkeit der Vernunft an. Ohne es auszusprechen, greift Kant auf die „Antinomie“ der teleologischen Urteilskraft (§ 70: 386 ff.) zurück und führt zunächst deren Antithese an, allerdings hypothetisch: Wenn man in der Vielfalt der Gattungen von Lebewesen („Erdgeschöpfe“) eine objektive Zweckmäßigkeit ansetzt („zum Prinzip macht“), dann entspricht es der Vernunft, sich die Natur als ein System von Zwecken („Endursachen“) zu denken (427, 14–19). Diese Antithese erhält den Status einer jetzt zweiten Vernunftmaxime. Ihr hält Kant die erste Vernunftmaxime, die der Grenzen des Kausaldenkens, entgegen. Überraschenderweise führt er sie aber nicht als Vernunftmaxime an, vielmehr beruft er sich auf die Erfahrung, die dem „laut zu widersprechen“ ebd., 19 f.) scheine. Die von Kant als Grund angeführte These, daß die Naturkräfte alle Gattungen, einschließlich des Menschen als einer Tiergattung, ausnahmslos einem zweckfreien Mechanismus unterwerfen,
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ist freilich eine strenge Allaussage, die man daher schwerlich der Erfahrung entnehmen kann. Im nächsten Absatz greift Kant auch nicht auf die Erfahrung zurück, sondern argumentiert e contrario: Die erste Bedingung für die teleologische Vernunftmaxime betrifft den Wohnplatz der Naturwesen. Dieser Wohnplatz, „Land und Meer“ (ebd., 33), sieht aber gänzlich wie ein Produkt „wilder allgewaltiger Kräfte einer im chaotischen Zustande“, also: ganz ohne Zwecke, „arbeitenden Natur“ aus (427, 36 f.). Sie zeigen einen ‚unabsichtlich wirkenden‘ Mechanismus an. Man könne zwar mit Petrus Camper (1722–1789), einem holländischen Anatom, der Ansicht sein, der Mensch sei in die einschlägigen „Revolutionen“, gemeint sind wohl die aus den allgewaltigen Naturkräften hervorgehenden Veränderungen, nicht einbegriffen. In Wahrheit hängt er jedoch in so hohem Grad ab von anderen Naturwesen, daß er in den ‚allgemeinwaltenden Mechanismus der Natur‘ (428, 18 f.) doch eingeschlossen ist. Diesem doch nur scheinbar empirischen Argument von der Allgegenwart des Naturmechanismus hält Kant entgegen, daß es mehr als beabsichtigt beweise. Es spricht nämlich nicht bloß dem Menschen die Möglichkeit ab, letzter Zweck der Natur zu sein. Es führt auch „die vorher für Naturzwecke gehaltenen Naturprodukte“ auf nichts als den „Mechanismus der Natur“ zurück (428, 26 f.). Das Argument kann aber deshalb nicht überzeugen, weil es einer vorher gewonnen Einsicht widerspricht, daß nämlich die mechanische Erklärung der Natur eine teleologische Betrachtungsweise als Ergänzung braucht. Mit der Erinnerung an die ‚obige Auflösung der Antinomie […] der mechanischen und der teleologischen Erzeugungsart der organischen Naturwesen‘ hebt Kant auch hier den angeblich lauten Widerspruch der Erfahrung auf. Da beide Erzeugungsarten „bloß Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft“ sind, lassen sie sich miteinander vereinbaren: „die größtmögliche Bestrebung, ja Kühnheit“ in Versuchen mechanischer Erklärung und die „Vorstellungsart nach Endursachen“ (429).
17.5 Vom letzten Zweck der Natur als eines teleologischen Systems (§ 83) Der nächste Argumentationsschritt, § 83, beginnt mit einer Zusammenfassung des vorangehenden § 82. Sie hebt beide, die doppelte Sonderstellung des Menschen in der Natur und den methodischen Status der Sonderstellung, hervor: Der Mensch ist erstens nicht bloß irgendein Zweck der Natur, sondern deren letzter Zweck; zweitens bilden in bezug auf ihn alle anderen
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Naturdinge ein System von Zwecken; und für diese doppelte Aussage hat die reflektierende Urteilskraft hinreichenden Grund. Als nächstes überlegt sich Kant, was „im Menschen selbst“ (429, 33 f.) der durch die Natur zu befördernde Zweck sein kann. Ohne daß er es aussprechen müßte, geht es nicht um die gewöhnlichen, mehr oder weniger konkreten Zwecke eines Menschen, sondern um einen Leitzweck. Für einen derartigen Zweck zweiter Stufe bzw. Metazweck sieht Kant rein formal nur zwei Möglichkeiten. Entweder gibt es einen Zweck, den die dann als wohltätig anzunehmende Natur direkt befördere; er wäre der Inbegriff des Erreichens aller konkreten Zwecke, die Glückseligkeit des Menschen. Oder es handelt sich um einen Zweck, der von den konkreten Zwecken absieht und sich auf die „Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken“ (430, 2 f.) konzentriert. Den Inbegriff dieser Tauglichkeit nennt Kant „Kultur“ (ebd., 5). Offensichtlich versteht er darunter nicht eine kollektive Lebensform, auch nicht einen Gegenbegriff zur Natur. Die für den Menschen eigentümliche Natur besteht nämlich in einer Fülle von Anlagen, die zunächst nicht entfaltet, daher noch zu entwickeln sind. Und diese Entwicklung, die Aktualisierung dessen, was zunächst bloß Potential ist, heißt in einer der ursprünglichen Bedeutungen des Wortes Kultur. Hier verschränkt Kant seine anthropozentrische Naturphilosophie mit seiner Kulturphilosophie. Denn zum Endzweck der Natur wird der Mensch nur durch Kultur, freilich keine beliebige, sondern eine auf den Endzweck, die Moral(fähigkeit), aus gerichtete Kultur. Gegen die erste, pragmatische, an der Glückseligkeit orientierte Option sprechen nach Kant vier Argumente zunehmenden Gewichts. Sie beginnen mit dem Begriff des betreffenden Metazwecks, also mit einem vornehmlich semantischen Argument: Die Glückseligkeit ist zwar auch für Kant der letzte Naturzweck des Menschen, und deshalb, kann man ergänzen, drängt sie sich gern als Leitzweck auf. Aber der letzte natürliche Zweck ist nicht der einzige Letztzweck des Menschen, da es noch den ganz andersartigen „Zweck der Freiheit“ gibt (430, 21). Gegen diesen Zweck legt sich aber Skepsis nahe, weshalb Kant sich klugerweise nicht darauf beruft. Er geht vielmehr vom Begriff der Glückseligkeit und zunächst allein von ihm aus: Im Gegensatz zu einer (bis heute weit verbreiteten) Ansicht lasse sich der Begriff der Glückseligkeit nicht vom Menschen, sofern er ein Naturwesen ist, gewinnen. (Kant spricht von Instinkten, womit er innere Nötigungen vor dem und ohne den Verstand meint; vgl. Religion VI 29; auch Anthropologie VII 265.) Wäre es doch der Fall, so könnte es, ist zu ergänzen, Gesetze geben, nach denen eine wohltätige Natur die menschliche Glückseligkeit beförderte. Tatsächlich ist sie
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aber eine Idee, die sich der menschliche Verstand entwirft, aber nicht für sich allein, sondern ‚mit der Einbildungskraft und den Sinnen verwickelt‘ (430, 11 f.). Infolgedessen fällt der Entwurf des natürlichen Letztzwecks unterschiedlich aus; zudem verändert er sich oft, so daß die Glückseligkeit ein ‚schwankender Begriff‘ ist, für den man „schlechterdings kein bestimmtes allgemeines und festes Gesetz annehmen“ (ebd., 13 f.) kann. Mit diesem wissenstheoretischen Gegenargument noch nicht zufrieden, trägt Kant ein zweites, sowohl naturphilosophisches als auch anthropologisches Argument vor. Es verändert die Vorbedingungen auf eine Weise, die die Überzeugungskraft des Arguments erhöht: Kant verbindet einen bescheideneren Begriff der Glückseligkeit mit einer gesteigerten technischen Fähigkeit und zeigt, daß selbst unter diesen Annahmen der gesuchte Naturzweck nicht in der Glückseligkeit liegen kann. Die eine Seite, der bescheidenere Begriff von Glückseligkeit, sieht von allen Unterschieden zwischen den Menschen ab und konzentriert sich auf die Gemeinsamkeiten der Gattung. Zusätzlich räumt er alle Irrtümer und Täuschungen aus, so daß „das wahrhafte Naturbedürfnis“ (ebd., 17) der Gattung Mensch übrigbleibt. Auf der anderen Seite werden die technischen Fähigkeiten, nämlich „die Geschicklichkeit, sich eingebildete Zwecke zu verschaffen“, enorm, geradezu unbegrenzt gesteigert (ebd., 18 f.). Aber auch nach diesen zwei Veränderungen wäre die Glückseligkeit nie zu erreichen, da der Mensch, so das entscheidende anthropologische Argument, seiner Natur nach hinsichtlich Besitz und Genuß nie endgültig befriedigt sei: Der Mensch ist ein Nie-zufrieden und Nimmer-satt. Ein naturphilosophisch getränktes Argument, nach der Fußnote von § 84 ein „Zeugnis der Erfahrung“, also ein empirisches Argument, kommt als drittes hinzu: Die Natur behandele den Menschen gar nicht so privilegiert wohltätig, setze ihn vielmehr „ihren verderblichen Wirkungen“ (ebd., 26) aus. Nach dem vierten, erneut anthropologischen Gegenargument könne man die Natur trotzdem, wider alle Erfahrung, als höchst wohltätig annehmen. Dann bleibe immer noch, daß der Mensch sich selber plagt: teils durch sich widersprechende (‚widersinnische‘, ebd. 29,) Naturanlagen, teils durch selbstersonnene Plagen einschließlich Herrschaft, Barbarei und Krieg. Aus diesen Überlegungen folgt eine argumentativ komplexe Zwischenbilanz. Sie ist nicht so leicht aufzuschlüsseln, weil einige Argumentationsschritte – noch? – nicht hinreichend ausgeführt sind. Der erste Teil ergibt sich aus der bisherigen Argumentation ziemlich problemlos: Solange man den Menschen als Naturding betrachtet und dessen letzten Zweck in der Glückseligkeit sieht, bleibt der Mensch „immer nur Glied in der Kette der Naturzwecke“ (ebd., 36 f.). Wenig problematisch ist auch der zweite
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Teil: Als einziges Verstandeswesen kann sich der Mensch selber willkürlich Zwecke setzen. Der dritte Schritt, daß der Mensch wegen seines praktischen Verstandes selber zur Herrschaft über die Natur berechtigt, nämlich deren „betitelter Herr“ (431, 5) sei, zieht den argumentationstheoretisch bedenklichen Schluß von einem Vermögen auf ein Recht. Die bloße Fähigkeit, die Natur zu beherrschen, ein Sein, schließt noch keinerlei moralische Befugnis, kein Sollen, ein. In Wahrheit hat der Mensch zunächst lediglich das Potential, freilich in dem anspruchsvollen doppelten Sinn, den Kant drei Zeilen später herausstellt: Der Mensch versteht sich (1) auf eine Herrschaft über die Natur und pflegt auch (2) den Willen dazu zu haben. Dies geschieht allerdings, worauf Kant hier keinen Wert zu legen braucht, je nach Kultur und Individuum auf unterschiedliche Weise. Wenn man die Natur als ein teleologisches System ansehe, dann sei viertens der Mensch seiner Bestimmung nach dessen letzter Zweck. Dieses trifft, ist zu ergänzen, wegen des praktischem Verstandes zu: Ein Wesen, das nicht bloß wie subhumane Lebewesen vorgegebenen Zwecken folgt, sondern sich selbst Zwecke setzen kann, ist dazu bestimmt, der letzte Zweck der Natur zu sein. Dort, wo die Zweckmäßigkeit auf eine praktische Weise reflexiv, nämlich zum Zwecke-setzen fähig wird, findet nach Kant die Hierarchie der Zweckmäßigkeit ihr „natürliches“ Ende, nämlich ihre qualitative Spitze. Dieser Rang kommt dem Menschen zwar zu, aber fünftens nur bedingt. Denn der Mensch hat zwar das doppelte Potential: Dank des praktischen Verstandes versteht er sich darauf, der Natur und sich selbst die einschlägige Zweckbeziehung zu geben, überdies hat er auch den Willen dazu. Die Realisierung des Potentials kann aber nicht im bisherigen Horizont der Überlegung, der Natur, gesucht werden. In der weiteren Begründung und zugleich Erläuterung – sechster Teil der Zwischenbilanz – taucht endlich der prominente Begriff auf, den Kant im § zuvor eingeführt (426, 13 u. 20), aber nicht weiter verwendet hat. Es ist der sich vom letzten Zweck unterscheidende Endzweck, der keinem Naturding zukomme (426, 20 f.) und deshalb, wie es jetzt heißt, „in der Natur gar nicht gesucht werden muß“ (im Sinne von: nicht gesucht werden darf; 431, 10 f.). Hier wird die begriffliche Bestimmung des Endzwecks um ein Moment ergänzt, das einer der großen Philosophen teleologischen Denkens, Aristoteles, bei der Bestimmung des schlechthin höchsten Zwecks bzw. Endzwecks verwendet, um das „sich selbst genug“-Sein (431, 9; bei Aristoteles autarkeia: Nikomachische Ethik I 5, 1097b7). Erst in diesem späten sechsten Teil der Zwischenbilanz und fast beiläufig taucht die Pointe auf: Mehr als lediglich letzter Zweck, nämlich auch ein sich selbst genügender Zweck, ein Endzweck, kann der Mensch nur sein, sofern er nicht
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im Horizont der Natur verbleibt. Die Folge ist paradox: Das Wesen, das durchaus zur Natur gehört, der Mensch, ist nur dann der Endzweck der Natur, wenn es die Natur übersteigt. Den alternativen Horizont bildet bekanntlich die Freiheit. Trotzdem springt Kant nicht von dem für einen Endzweck untauglichen Horizont, eben der Natur, zu dem tauglichen Horizont, der Freiheit. In Übereinstimmung mit dem Vermittlungsinteresse der ganzen Schrift sucht er jenes wesentliche Zwischenphänomen auf, das weder in bloßer Natur noch in reiner Freiheit besteht. Die gesuchte Vermittlung leisten Elemente in der Natur, die den Menschen vorbereiten, durch eigenes Tun Endzweck zu sein (431, 14 f.). Infolgedessen können es nicht wie bei der „Glückseligkeit auf Erden“ Dinge sein, „die man allein von der Natur erwarten darf“. Wer sie sich zum Zwecke macht, ist „unfähig […], seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen“ (ebd. 16–22). Nun bestehe die Glückseligkeit in der Materie aller irdischen Zwecke. Sieht man von ihnen ab, so bleibt von allen Zwecken in der Natur nur eine „formale, subjektive Bedingung“ übrig. Sie besteht in der „Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke“, und das heißt beliebige Zwecke, zu setzen (ebd., 23 f.). Diese schon zu Beginn des § 83 genannte (430, 2 f.) „Tauglichkeit […] zu allerlei Zwecken“ ist aber der Kultur aufgegeben. Also kann nur der zur Glückseligkeit alternative Leitzweck, eben die Kultur, „der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung“ beilegen darf (431, 32 f.). Es fällt auf, daß Kant zwar von der gesamten Natur, aber nicht – mehr? – in Hinsicht auf die gesamte Natur, sondern lediglich im Blick auf die Menschengattung spricht. Auch auf diese Weise vermeidet er jede biologische Anthropozentrik, die die Gattung der Menschen schlechthin in den Mittelpunkt der Welt stellt. Man könnte im Unterschied zu einer dogmatischen von einer thematischen Anthropozentrik oder im Gegensatz zu einer absoluten von einer relativen Anthropozentrik sprechen. Kant vertritt hier eine Sofern-Anthropozentrik, nämlich eine Anthropozentrik unter der Voraussetzung, daß man auf die Natur vom Standpunkt der Spezies homo sapiens schaut. Noch in einer weiteren Hinsicht setzt sich Kant gegen das gewöhnliche Verständnis von Anthropozentrik ab: Die Natur wird nicht im Blick auf das menschliche Wohlergehen instrumentalisiert. Im Gegenteil wird die Glückseligkeit hier auf Erden nachdrücklich ausgeschlossen und einer ihrer Gegenbegriffe, die Kultur, zum letzten Zweck erklärt. Kant fragt als nächstes, welche Art von Kultur zum gesuchten Letztzweck taugt, mehr noch: für sie hinreichend ist. Die Antwort: Die Geschicklichkeit ist unverzichtbar, zusätzlich braucht es aber eine negative Leistung, jene
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Zucht bzw. Disziplin (432, 4; später: der Neigungen: 433, 16), die den Willen vom natürlichen Despotismus der Begierden befreit. Andernfalls ist man nämlich an seine Triebe gefesselt und unfähig, „selbst zu wählen“ (432, 7). Die weitere Frage, was die größtmögliche Entwicklung der Naturanlagen ermöglicht, beantwortet Kant mit drei Faktoren, zunächst einem sozial theoretischen und einem staatstheoretischen Faktor: Der erste Faktor ist nicht bloß politisch anstößig, er kann auch argumentativ nicht überzeugen. Kant behauptet, es brauche eine elementare Ungleichheit, nämlich zwei Klassen, von denen die niedere Klasse, die Mehrheit von Menschen, „die Notwendigkeiten des Lebens gleichsam mechanisch“ (ebd., 15) besorgt, während die höhere Klasse sich der Wissenschaft und Kunst (hier nicht im Sinne der schönen Künste!) widmet. Beide Klassen – so ein gewisser Trost – haben gleich mächtig wachsende Plagen und erreichen trotzdem den Zweck, die „Entwicklung der Naturanlagen in der Menschengattung“ (ebd., 25 f.). In Wahrheit dürfte der Mensch sowohl ontogenetisch als auch phylogenetisch, also in seiner individuellen und in seiner gattungsgeschichtlichen Entwicklung zunächst auf die Notwendigkeiten des Lebens fixiert gewesen sein. Im Fortgang der Entwicklung macht er sich aber mehr und mehr vom bloß Lebensnotwendigen frei. Dieser Prozeß, den man durchaus „Emanzipation“ nennen darf, mag bei den verschiedenen Individuen, auch Kulturen, sich unterschiedlich weit entwickeln. Statt einer schlichten Zweiteilung in eine niedere und eine höhere Klasse dürfte es eine vielschichtigere, zudem nicht bloß vertikal-hierarchische Untergliederung geben. Außerdem ist der Entwicklungsprozeß nach oben weitgehend offen. Der zweite Faktor, eine „formale Bedingung“, besteht in einem Gemeinwesen, „bürgerliche Gesellschaft“ genannt, die der widerstreitenden Freiheit „gesetzmäßige Gewalt“ entgegensetzt (ebd., 31 f.). Darüber hinaus braucht es, dritter Faktor, noch ‚ein weltbürgerliches Ganzes‘ (ebd., 35). Denn wegen dreier Leidenschaften, der Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, kommt es andernfalls unvermeidlich zum Krieg (433, 1 ff.). Auch in der dritten Kritik spielt Kants Kosmopolitismus, hier als Verbindung von Geschichtsphilosophie und Völkerrecht, eine wichtige Rolle. § 83 schließt mit Überlegungen zur zweiten Erfordernis der Kultur, der „Disziplin der Neigungen“. In einem auffallenden Pessimismus, der von Rousseau infiziert sein könnte, hält Kant es für unstrittig, daß die Verfeinerung des Geschmacks, daß „selbst der Luxus in Wissenschaften“ ein „Übergewicht der Übel“ schafft. Schöne Kunst und Wissenschaften, räumt er jedoch ein, machen den Menschen zwar nicht sittlich besser, aber gesittet. Mehr noch: Sie bereiten sogar „den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll“ (433, 34 ff.).
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17.6 Vom Endzweck des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst (§ 84) Schon der Titel von § 84 scheint eine anspruchsvolle These zu enthalten, die eines ausführlichen Beweises bedarf. Der Titel setzt nämlich das „Dasein einer Welt“ mit der „Schöpfung“ gleich, unterstellt also der Welt eine entsprechend produktive und zugleich intelligente Ursache. In der Tat wird Kant für eine derartige Ursache argumentieren, allerdings ohne die in der Kritik der reinen Vernunft entfaltete Skepsis zurückzunehmen. Er bleibt bei der Ablehnung jedes theoretischen Beweises und behauptet, für das Dasein Gottes gebe es lediglich einen moralischen Beweis (s. §§ 85 ff., bes. § 87). Für die Argumentation des § 84 sind diese Überlegungen aber belanglos. Die These vom Menschen als Endzweck der Natur bleibt theologisch unkontaminiert. Denn daß nur der Mensch ein Endzweck der Natur sein kann und auch er lediglich als Subjekt der Moralität, diese Schlußthese des § 84 und zugleich Bilanz der §§ 82 ff. bedarf der Gleichsetzung von „Dasein einer Welt“ mit „Schöpfung“ nicht. Ohnehin argumentiert Kant vorsichtigerweise hypothetisch: Nach der einleitenden Erinnerung an den Begriff des Endzwecks (in der Variante „Zweck, der keines andern als Bedingung einer Möglichkeit bedarf“) heißt es: „Wenn …, so …“ Und diese hypothetische Argumentationsform wird in der Bilanz wieder aufgenommen. Nach der einleitenden Hypothese von § 84 kann man die Zweckmäßigkeit der Natur rein mechanisch erklären. Unter dieser Annahme läßt sich aber, fährt Kant fort, die Frage, wozu die Dinge in der Welt da sind, gar nicht stellen. Das entsprechende teleologische System wäre nämlich „idealistisch“, erläutert als „bloße Vernünftelei, ohne Objekt“ (434, 12 ff.). „Vernünftelnd“ („ratiocinans“) nennt Kant ein Urteil, „das sich als allgemein ankündigt“, daher „zum Obersatz in einem Vernunftschlusse“ taugt (§ 55: 337 FN). Wie der Zusatz „ohne Objekt“ betont, fehlt bei einer „bloßen“ Vernünftelei die elementare Bedingung von Objektivität: daß es ein Objekt gibt. Ein idealistisches System von Zweckmäßigkeit ist etwas bloß Gedachtes, dem jede Entsprechung in der Welt fehlt. Zweckmäßigkeiten sind folglich „Zufall, oder blinde Notwendigkeit“ (434, 15), jedenfalls ohne Absicht, und die Leitfrage nach einem etwaigen Endzweck geht ins Leere. Kant erörtert daher die alternative, „realistische“ Hypothese: daß Zweckverbindungen in der Welt real sind und für sie eine absichtlich wirkende Ursache existiert. Unter dieser Annahme stellt sich die Wozu-Frage, und sie stellt sich nicht nur irgendwie, sondern in den drei schon genannten Arten: (1) Wozu haben Dinge in der Welt diese oder jene Form? (2) Wozu sind sie in dieses oder jenes Verhältnis zueinander gesetzt? (3) Wozu sind
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sie überhaupt da? Die ersten zwei Wozu-Fragen gelten aber als unzulänglich. Kant könnte als Grund angeben, daß Wozu-Fragen grundsätzlich erst mit einem Selbstzweck und Endzweck beantwortet werden können, was zur dritten und höchsten Stufe der Wozu-Fragen gehört. Kant beruft sich auf einen Grund, der den Charakter eines Zwischenarguments hat: Die ersten zwei Wozu-Fragen setzen schon einen Verstand als absichtlich wirkende Ursache voraus (434, 21 f.). Infolgedessen ist nach dem objektiven Grund zu fragen, der den entsprechenden „produktiven Verstand zu einer Wirkung dieser Art bestimmt haben könnte“ (435, 1 f.). Und erst mit diesem Grund lassen sich die ersten zwei Wozu-Fragen beantworten. Denn in diesem Grund liegt der Endzweck, „wozu dergleichen“, nämlich die in Frage (1) und (2) genannten „Dinge da sind“ (ebd., 3). Der nächste Absatz erinnert an den Begriff des Endzwecks mit seinem Moment des Unbedingten. Seinetwegen kann das entsprechende Wesen kein Naturding sein, weder ein Ding der (materiellen) Natur außer uns noch eines der (denkenden) Natur in uns. In Umkehr taugt zum Endzweck nur etwas, das „von keiner anderweitigen Bedingung, als bloß seiner Idee, abhängig ist“ (ebd., 13 f.). Warum spricht Kant hier von „Idee“? Weil sie ein Vernunftbegriff ist und als solcher den Charakter des Unbedingten hat. Gesucht ist also ein Wesen, das einerseits der zweckgerichteten Kausalität folgt und andererseits das Gesetz, nach dem es sich Zwecke bestimmt, als unbedingt vorstellt, das heißt „von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig“ (ebd., 18 f.). Dieses Kriterium erfüllt nur eine einzige Art irdischer Wesen, nämlich der Mensch, aber auch er lediglich „als Noumenon“ (ebd., 20), mithin als moralisches Wesen betrachtet. Schon in § 42 behauptete Kant, daß der letzte Zweck der Menschheit im Moralisch-Guten liegt (298, vgl. 301). Und noch vorher erklärte er, nicht wer bloß lebe, um zu genießen, habe hinsichtlich seiner Existenz „an sich einen Wert“; denn nur durch sein Tun „ohne Rücksicht auf Genuß, in voller Freiheit“, gebe man seinem Dasein „einen absoluten Wert“ (§ 4: 208 f.). Weil das Dasein des Menschen, allerdings nur insofern er ein moralisches Wesen ist, den unüberbietbar höchsten Zweck in sich selbst hat, kann man rein begrifflich an dieses Wesen die Frage, wozu es existiere, nicht mehr stellen. In der Moralphilosophie, der Grundlegung, heißt es: ‚Der Mensch existiert als Zweck an sich selbst‘, mit dem Zusatz „und überhaupt jedes vernünftige Wesen“ (IV 428). Der § 84 der dritten Kritik spricht ebenso von „jedem vernünftigen Wesen“, setzt aber wegen des Diskussionszusammenhangs hinzu „ […] in der Welt“ (435, 25 f.). Der christliche Katechismus
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dagegen kennt noch die Frage: „Wozu ist der Mensch auf Erden“? Widerspricht Kant also einer christlichen Aussage, die damit aus dem Programm einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft herausfiele? Die Antwort auf die Katechismusfrage löst den Widerspruch als scheinbar auf. Denn in ihrer religiösen Sprache („ein gottgefälliges Leben führen“ oder „den Willen Gottes tun“, vgl. VI 104) fordert sie den Menschen genau zu dem auf, was ihm auch bei Kant aufgegeben ist: Er soll ein moralisches Wesen sein. In diesem Zusammenhang steht wieder eine auf den ersten Blick provokative, sogar anstößige Behauptung, nämlich der Mensch dürfe, „so viel er vermag, […] die ganze Natur unterwerfen“ (435, 28). Der zweite Blick hebt jede Anstößigkeit auf: Erstens schließt die „ganze Natur“ den Menschen und dessen innere Natur ein. Zweitens kommt das Recht nicht dem Menschen als solchem, sondern lediglich ihm als einem moralischen Wesen zu. Infolgedessen darf das Unterwerfen nicht willkürlich, schon gar nicht despotisch und ausbeutend, sondern lediglich im Rahmen der Moral erfolgen. Darüber hinaus wird das Unterwerfungsrecht drittens an eine Leitaufgabe gebunden, den „höchsten Zweck selbst“ (ebd., 27 f.), also den Endzweck, und dieser besteht im Menschen als Moralwesen. Kant fordert also das Moralwesen Mensch auf, die doppelte Natur, sowohl die äußere, materielle Natur als auch die innere, denkende Natur, im Rahmen der Moral und auf die Moral hin zu verändern. Das Minimum: Der Mensch darf sich auf Dauer (vgl. „halten“, ebd., 30) keinem Einfluß dieser doppelten Natur unterwerfen, der dem Endzweck, dem Menschen als Moralwesen, widerspricht. Welche Veränderung der Natur ist Kant zufolge dem Moralwesen Mensch auferlegt? Man könnte sich überlegen, ob der Mensch die Zweckmäßigkeit in der subhumanen Natur verbessern oder steigern sollte. Schaut man auf den § 82, so scheint Kant in dieser Hinsicht die Natur für wohlgeordnet zu halten. Denn die Pflanzen dienen den pflanzenfressenden Tieren, diese wiederum den Raubtieren. Die Ordnung, die der Mensch befördern kann, besteht allenfalls in einer Aufgabe, die Kant noch nicht gesehen, die zu seiner Zeit auch nicht annähernd so aktuell war. Unter Berufung auf Linné hatte Kant dem Menschen die Aufgabe oder Leistung zugesprochen, durch Vermindern der Raubtiere – man kann sich aber noch weitere Aufgaben vorstellen – „ein gewisses Gleichgewicht unter den hervorbringenden und den zerstörenden Kräften der Natur“ (427, 9 f.) zu stiften. Mehr und mehr zeigt sich aber, daß der Mensch durch Raubbau an der Natur, einschließlich Überjagen und Überfischen, das bisherige Gleichgewicht kräftig stört. Der Mensch, so eine kantianische Naturschutzethik, sorgt daher am besten für Ordnung in der Natur, indem er sich selbst zur Ordnung ruft.
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Blickt man auf die Fußnote, mit der § 84 endet, so legt sich aber von Kant her eine andere Vermutung nahe: Das Moralwesen Mensch gestalte die Welt so, daß die Übereinstimmung von moralischer Glückswürdigkeit und „naturaler“ Glückseligkeit mehr und mehr wahrscheinlich werde. § 91 wird diese Deutung bekräftigen. Denn dort erklärt Kant, der Mensch könne allein dadurch würdig werden, „selbst Endzweck einer Schöpfung zu sein“ (469, 29 f.), daß er auf den von ihm zu bewirkenden höchsten Endzweck hinarbeite. Und dieser Endzweck bestehe im ‚höchsten durch Freiheit zu bewirkenden Gut in dieser Welt‘ (ebd., 5). Und die „Allgemeine Anmerkung zur Teleologie“ ergänzt, daß ein persönlicher Wert vorausgesetzt ist, „den der Mensch sich allein geben kann“ (477, 18 f.). Die vorsichtige hypothetische Bilanz der Paragraphen 82 bis 84: Wenn (im Sinne von „unter der Annahme, daß“) Dinge der Welt einer obersten Zweckursache bedürfen – und ohne sie wäre die hierarchische Kette der Zwecke unvollständig –, so ist der Mensch, allerdings nur als Subjekt der Moralität (und man darf ergänzen: ebenso jedes andere Vernunftwesen in der Welt) „der Schöpfung Endzweck“. Denn allein dieses Wesen ist fähig, „ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“ (436, 1 f.). (Erste Überlegungen zu dieser These von KU §§ 82 ff. in Höffe 42000, Kap. 12.4.) Nimmt man zum § 84 die nächsten und zugleich letzten Paragraphen, also die §§ 85–91, sowie die „Allgemeine Anmerkung zur Teleologie“ hinzu, so endet die dritte Kritik, genauer: ihr zweiter, teleologischer Teil, ähnlich wie die erste Kritik, wie der „Kanon“ von deren „Methodenlehre“, mit Überlegungen zum Endzweck und zur Wissensart des moralischen Glaubens. Das Argument wird zwar verfeinert, Kants Grundgedanke bleibt sich jedoch gleich: Letztlich dient Kants gesamtes Unternehmen transzendentaler Kritik der Zurückweisung theoretischer und der Stärkung moralischpraktischer Ansprüche. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Neigung, Kant vornehmlich als Erkenntnistheoretiker zu rezipieren, ist er in erster Linie ein Moralphilosoph. Die Aufgabe der Moralbegründung führt er aber so gründlich und umfassend durch, daß er sie zu einer transzendentalen Enzyklopädie philosophischer Wissenschaften entfaltet.
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Literatur Aristoteles: Ethica Nicomachea, hrsg. v. I. Bywater, Oxford 1963; dt. Nikomachische Ethik, hrsg. v. O. Gigon, München 31978. Descartes, René 1637: Discours de la methode, Leiden; dt. Bericht über die Methode, hrsg. v. H. Ostwald, Stuttgart 2001. Höffe, Otfried 1993: Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt, Frankfurt/M. 42000. Linné, Carl v. 1735: Systema Naturae, Stockholm 121776, Bd. 1.
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Erklärungen für das Übersinnliche: physikotheologischer und moralischer Gottesbeweis (§§ 85–89) Dieser Ausschnitt der Kritik der Urteilskraft enthält eine neu formulierte Begründung der philosophischen Gottes- und Seelenlehre und stellt dadurch den Haupt- und Zielpunkt der kritischen Analyse der teleologischen und insgesamt der reflektierenden Urteilskraft dar. Das steht nicht im Widerspruch mit der aus „Vorrede“ und „Einleitung“ (Abschnitt II f., IX) erschließbaren Absicht Kants, durch die Analyse der (ästhetisch wie teleologisch) reflektierenden Urteilskraft die Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Vernunft und Verstand zu erforschen. Denn diese Übergangsfunktion zwischen Freiheits- und Naturprinzipien ermöglicht gerade inhaltliche Annahmen über Welt, Mensch und Gott, die sowohl praktisch als auch theoretisch (also metaphysisch) relevant sind. Zur Unterstützung dieses interpretatorischen Ansatzes ist ein Hinweis auf den Aufsatz Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788) hilfreich, welcher der Abfassung der dritten Kritik unmittelbar vorangeht. Gleich am Anfang dieses Textes, der im Hauptteil die Legitimität von teleologischen Argumenten in der Naturwissenschaft erörtert, unterscheidet Kant zwei Arten der Naturforschung (Physik und Metaphysik) und zwei verschiedene Wege der Forschung: den theoretischen und den teleologischen. Dabei behauptet Kant, daß, nachdem die erste Kritik gezeigt hatte, daß „die Vernunft in der Metaphysik auf dem theoretischen Naturwege (in Ansehung der Erkenntnis Gottes) ihre ganze Absicht nicht nach Wunsch erreichen könne“, nun „ihr also nur noch der teleologische übrig sei“; die Beantwortung der Hauptfragen der Metaphysik sei durch die teleo logische Überlegung auf einer anderen Ebene und mit anderen Mitteln möglich als die der spekulativen Philosophie als vermeintlicher Wissenschaft, „so doch, daß nicht die Naturzwecke, die nur auf Beweisgründen der
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Erfahrung beruhen, sondern ein a priori durch reine praktische Vernunft bestimmt gegebener Zweck (in der Idee des höchsten Guts) den Mangel der unzulänglichen Theorie ergänzen müsse“ (VIII 159). Der teleologische Weg der Metaphysik schöpfe mithin sein leitendes Prinzip nicht aus der (empirisch bedingten) „natürlichen Teleologie“, sondern aus der Moral als „reiner praktischer Teleologie“ bzw. „Zweckslehre“. Diese praktische Teleologie, die „ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen bestimmt ist“, solle die Möglichkeit der moralischen Zwecke in der Weltwirklichkeit angeben; sie habe dabei sowohl auf die in der Natur „gegebenen Endursachen“, das heißt auf „die natürliche Teleologie“, hinzuweisen, als auch „die Angemessenheit der obersten Weltursache zu einem Ganzen aller Zwecke“ anzunehmen, um dadurch ihrem letzten „Objekt“, dem ganzen „Zweck“, den sie „in der Welt zu bewirken vorschreibt“, (das heißt dem höchsten Gut) „objektive Realität“ zu verschaffen (VIII 182 f.). Dieser Aufsatz, worin der Gedankengang der ganzen Ethikotheologie (insbesondere fast buchstäblich der Anfang von § 87) antizipiert wird, ist deswegen unübersehbar wichtig, um die letzte, einheitliche Absicht der dritten Kritik zu verstehen. Diese leuchtet übrigens aus den letzten Abschnitten (§§ 85–91 und „Allgemeine Anmerkung“: zusammengenommen eine der umfangreichsten Texteinheiten der Kritik der Urteilskraft) genug ein, und sie findet auch in späteren Schriften Bestätigung, vor allem in der fragmentarisch gebliebenen Abhandlung über die Fortschritte der Metaphysik, die sich bemüht, eine „praktisch-dogmatische Vollendung“ der Metaphysik (XX 281) als „Überschritt zum Übersinnlichen“ (XX 293) zu verteidigen, die ihrerseits auf die „moralisch-teleologische Verknüpfung“ (XX 307) der Welt mit dem „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ (XX 294) gegründet ist.
§ 85 Von der Physikotheologie Am Anfang vom § 85 unterscheidet Kant die zwei Grundarten der teleologisch begründeten Gotteslehre innerhalb der Philosophie: „Die Physikotheologie ist der Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Natur (die nur empirisch erkannt werden können) auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen. Eine Moraltheologie (Ethikotheologie) wäre der Versuch, aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur (der a priori erkannt werden kann) auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (436).
Physikotheologischer und moralischer Gottesbeweis
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Die auf Naturzweckmäßigkeit gestützte Theologie entspricht derjenigen, die im Abschnitt über den physikotheologischen Gottesbeweis der Kritik der reinen Vernunft kritisiert wird. Sie unterscheidet sich von ihr vor allem dadurch, daß ihr Ausgangspunkt nicht mehr eine vermeintliche Naturbeobachtung, sondern eine teleologische Reflexion über Naturgegebenheiten ist. Die aus der Moral entwickelte Theologie entspricht dagegen dem nicht mehr metaphysischen Schluß, der im „Kanon der reinen Vernunft“ der ersten Kritik aus dem Begriff der „moralischen Welt“ unternommen wird und der bereits dort zu einer Konzeption Gottes als moralischen Welturhebers führt, wie sie später als Postulatenlehre in der „Dialektik“ der Kritik der praktischen Vernunft auf moralphilosophisch gesicherter Basis breiter entwickelt wird. Kant sagt nun, die „erstere geht natürlicher Weise vor der zweiten vorher“ (436, 11). Damit meint er wohl, der natürliche Gang unserer Vernunft sei zunächst der analytische, der vom Gegebenen ausgeht und es ergründet. Diese Aussage ist hier freilich nur bedingt gültig: Im § 86 lesen wir, die zweite brauche nicht die erstere zugrunde zu legen (445; vgl. 478). Die Aussage hilft aber, den etwas komplizierten Gang der Argumentation der §§ 85 ff. zu verstehen. Die Physikotheologie stellt nämlich das Grundmuster des teleologischen Schlusses von Weltdingen auf eine Weltursache dar: Sind einmal Zwecke (in der Reflexion) gegeben, kann man dann nach dem seienden Grund fragen, der sie setzt. Auch die Ethikotheologie muß diesen Weg beschreiten: Allein sind hier die vorgegebenen Zwecke nicht die der Natur, sondern die sittlichen. Die Physikotheologie basiert auf einer teleologischen Reflexion über die Zweckmäßigkeit von Naturprodukten: Diese wird einerseits auf das Ganze der Welt erweitert, andererseits auf einen dem Urheber eines Kunstproduktes analogen Grund zurückgeführt, also einem produktiven Verstand zugeschrieben (437). Die einzig legitime Reflexion ist dabei jedoch gar kein Beweis (schon gar nicht eines göttlichen Welturhebers), sondern nur eine Betrachtung der Naturwesen, als ob sie absichtliche Produkte einer verständigen Ursache wären (Einleitung, Abschnitt IV, 180 f.; § 61: 360; § 64: 370). Grundlage der Physikotheologie ist also die physische Teleologie, die eine theoretische Reflexion unserer Urteilskraft über das empirisch Gegebene der Natur ist. Durch das allgemeine Prinzip der Urteilskraft werden die Annahmen der inneren und (unter Vorbehalten) der äußeren (relativen) Zweckmäßigkeit erlaubt, die aber nicht über die Ebene der bedingten Zwecke hinausreichen dürfen (437 f.). Diese Reflexion kann sogar die
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Natur im ganzen als teleologisches System erwägen (§ 67: 380 f.; § 83: 429, 28–32), ist aber nicht imstande, dieses System zu bestimmen und zu behaupten, denn ihr fehlt der dazu erforderliche Begriff des Endzwecks, der als unbedingter außerhalb des Umkreises der in der Natur gegebenen und vorstellbaren Zwecke liegt, die insgesamt bedingt und relativ sind (§ 86: 437, 28; 441, 6 ff.; Teleologische Prinzipien VIII 182). Auf diesem Boden kann ja nicht einmal die Frage nach dem unbedingten Endzweck gestellt werden, wozu die Welt erschaffen wurde und da ist (437, 18 ff.). Aber allein von einem solchem Endzweck her könnte die Frage nach einem freien, jeder weltlichen Intelligenz überlegenen Welturheber aufgeworfen werden. Ohne das teleologische Grundprinzip des Endzwecks bedeutet die theoretische Annahme eines die Natur ordnenden Urverstands nicht unbedingt die eines weisen Welturhebers: Bei diesem muß nämlich ein Endzweck vorausgesetzt werden, während jene verständige Ursache auch aus „der bloßen Notwendigkeit seiner Natur“ durch einen einfachen, dem tierischen „Kunstinstinkt“ analogen „Kunstverstand“ wirken könnte (441 f.). Die physische Teleologie erhebt den Anspruch, die Natur als ein zweckmäßiges Ganzes aufzufassen, während sie das Prinzip eines solchen Systems nicht identifizieren kann (440 f.). Sie kann daher weder ein richtiges teleologisches System ausmachen noch eine richtige Gotteslehre fundieren. Sie scheint zu einer Theologie nur dann auszureichen, wenn man entweder niedrigere, den rationalen Erfordernissen nicht genügende Attribute der Gottheit einsetzt, oder wenn man diese durch erhebliche Zusätze ergänzt, die theoretisch willkürlich, also argumentativ ungerechtfertigt sind, weil sie eigentlich aus der moralischen Idee Gottes unbewußt geschöpft werden, die aus ganz anderen Vernunftgründen zu legitimieren ist (438 f.). Ohne eine solche versteckte moralische Begründung gerät die teleologische Weltbetrachtung entweder in den Polytheismus der Antike oder in den Pantheismus, der letzten Endes (wie im Spinozismus) Kant zufolge sowohl Teleologie als auch Theologie vernichten muß (439 f.). Die Physikotheologie ist also keine philosophische Gotteslehre, sondern nur eine „mißverstandene physische Teleologie“ (442, 6), weil sie den Begriff der verständigen Naturursache illegitim als Gottesbegriff ausgibt. Trotzdem bleibt sie zugleich eine (pädagogisch wirksame und nützliche) Vorbereitung zur eigentlichen Theologie (442, 7), weil sie die Empfindlichkeit für die Zweckbeziehungen wach hält und nicht unter mechanistischen Denkweisen erlöschen läßt, also Platz für die entscheidende praktisch-teleologische Reflexion bereit hält (Allg. Anm.: 476–479).
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Auch treibt uns die Physikotheologie an, eine Theologie zu suchen (440, 26), so wie die physische Teleologie uns antreibt, einen Endzweck zu suchen. Denn sie verweist gerade durch ihre Mängel über sich hinaus auf eine weitergehende Reflexion, insbesondere auf ein anderes, nicht nur ergänzendes, sondern eigentlich erst fundierendes Prinzip (444 f.; vgl. 478, 13–23), das nur aus den moralischen Zweckbeziehungen zu erschließen ist. Diese Reflexion aber, die in den §§ 82 ff. vorbereitet und im § 86 explizit als moralische Teleologie (444, 28 f.) bezeichnet wird, geht nicht mehr (wie der Schluß vom § 86, der Anfang vom § 87 und der ganze § 88 klarstellt) von Naturgegebenheiten aus, sondern von (moralischen) Vernunfttatsachen, um von diesen aus auf die Einbeziehung der Natur als Ganze in das umfassende teleologische System der moralischen Weltordnung zu gelangen.
§ 86 Von der Ethikotheologie Im § 86 geht Kant immer noch von der hypothetischen Annahme eines teleologischen Systems der ganzen Natur aus und stellt erneut die Frage nach dem Endzweck, vom dem her ein solches System gedacht und eine Theologie teleologisch begründet werden dürfte. Er wendet sich nun der Identifizierung eines unbedingten Zwecks des Daseins alles Seienden zu. Nach den vorangehenden Andeutungen sollte der Endzweck in der Dimension der moralischen, das heißt objektiven praktischen Zwecke gesucht werden. Es könnte daher zunächst verwunderlich erscheinen, daß Kant (an frühere Überlegungen anknüpfend: § 63: 368; § 67: 378; § 82: 426; § 84: 434 ff.) den Endzweck der Welt im Dasein von Menschen setzt (442 f.). Man muß aber einerseits berücksichtigen, daß Kant hier den Gang der theoretischen Reflexion weiter verfolgt, innerhalb deren das letzte Wozu des Daseins der Welt wiederum nur in einem Dasein, das für sich selbst Zweck sei (§ 63: 368; § 82: 425 f.), anerkannt werden kann. Andererseits wird der Mensch dabei nur als moralisches Wesen angesehen, das heißt als ein freies handlungsfähiges Vernunftwesen, das an sich selbst unbedingter Zweck ist und unendliche Würde hat, weil er sich selbst einen guten Willen bilden und dadurch seiner Existenz einen absoluten Wert geben kann, indem er den „höchsten Zweck“, das heißt „das höchste Gut in der Welt“, verfolgt (vgl. § 84: 435, 15–24). Es geht also nicht einfach um die bloße Existenz des Menschen, noch um seine moralisch gelungene Lebensführung, sondern eher um sein Dasein in einer sittlichen Weltordnung. Daher wird der Endzweck der Schöpfung
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mit der „Welt unter moralischen Gesetzen“ beinahe ausdrücklich gleichgesetzt (443, 24 f.). In diesem Sinn ist die Aussage auszulegen, daß der Endzweck der Welt „kein anderer als der Mensch unter moralischen Gesetzen sein könne“ (445, 17 f.; vgl. § 87: 448 f.; s. u. Exkurs I). Wenn nun dieser Begriff des Endzwecks als legitim angenommen wird, dann wird endlich erstens auch legitim, die Welt als teleologisches System zu betrachten, und damit wird zweitens der Weg gewonnen, den Begriff Gottes zu bestimmen und dessen objektive Realität aufzuzeigen (444, 1– 8). Die Existenz des Menschen wird nämlich als „der Bestimmungsgrund eines höchsten Verstandes zu Hervorbringung der Weltwesen“ gedacht, wobei die Schöpfung (im Sinn der „Ursache vom Dasein einer Welt“, § 87: 452) als moralische (bzw. moralanaloge) Handlung eines Welturhebers aufzufassen ist (443, 32–37). Daß der Mensch allein (und zwar nur als moralisches Wesen) Endzweck der Schöpfung sein kann, steht aufgrund der Moral a priori fest (445) und bedarf freilich keiner theologischen Annahme. Seit der Grundlegung ist praktisch-dogmatisch gewiß, daß der Mensch (aufgrund seines moralischen Personseins) als Zweck an sich selbst existiert (IV 427–437). Das bringt als Konsequenz mit sich, daß der Mensch das einzige (endliche) Wesen ist, das den Anspruch erheben kann, als Endzweck der Schöpfung angesehen zu werden, das also als Endzweck der Schöpfung gedacht werden kann. Das besagt aber noch nicht, daß geurteilt werden darf, der Mensch sei Endzweck der Schöpfung. Dazu bedarf es wohl der Annahme vom Dasein Gottes. Denn um das zu behaupten, muß man zuerst beweisen (wenn auch nur innerhalb der reflektierenden Urteilskraft), daß die Welt selbst einen Endzweck ihres Daseins hat bzw. haben muß. Dieser Beweis wird aus der moralischen Teleologie erbracht, aber nur unter der Bedingung, daß man einen Weltschöpfer annimmt, der genau diesen Endzweck gehabt haben muß. Andererseits reicht die bloße Möglichkeit aus, der Mensch sei Endzweck der Schöpfung, um die oberste Ursache der Welt samt ihrer teleologischen Ordnung als eine moralische, absolut weise Intelligenz denken zu können und also eine Ethikotheologie zunächst wenigstens hypothetisch, unter der Prämisse einer moralteleologischen Weltinterpretation zu entwerfen, die noch zu rechtfertigen ist. Im § 86 beschränkt sich Kant in der Tat darauf, den moralteleologischen Begriff Gottes einzuführen und durch seine wesentlichen Attribute zu charakterisieren: Gott muß als oberster Gesetzgeber nicht nur der Natur, sondern zugleich vor allem im „moralischen Reich der Zwecke“ gedacht werden, und in dieser Hinsicht müssen seine traditionellen Eigenschaften
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angenommen werden (die in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Metaphysik aufgrund von Begriffen der griechischen Philosophie und Denkimpulsen der jüdisch-christlichen Lehren ausformuliert und argumentativ gerechtfertigt worden sind): nicht nur Allwissen und Allmacht bzw. Ewigkeit und Allgegenwart, sondern in erster Linie Allgüte und Gerechtigkeit, also höchste Weisheit (444). Im Schlußabsatz betont Kant, daß die moralische Teleologie der physischen eigentlich nicht als Voraussetzung bedarf und in dieser nur „beiläufige Bestätigung“ findet, da sie es im Gegenteil ist, welche die Suche nach Naturzwecken anspornt (444 f.): Erstens, weil nur diese praktischteleologische Reflexion (im Unterschied zur theoretischen) für unsere Urteilskraft unbedingt notwendig und a priori begründet ist (vgl. § 87: 448 f.; Allg. Anm.: 480 f.); zweitens, weil (wie es im § 88 heißen wird) der „Endzweck bloß ein Begriff unserer praktischen Vernunft“ ist, der zugleich aufgrund seiner Inklusivität eine Zusammenstimmung der moralischen mit Naturzwecken verlangt (454 f.). Haben wir einen hinreichenden Grund, der verständigen Weltursache einen Endzweck beizulegen (445, 12–15)? Das ist die Frage, die § 86 am Schluß seines Hauptteils weitergibt und die implizit beantwortet wird mit dem Hinweis auf die moralische Teleologie, die auch eine Zweckbeziehung der (Natur)Welt auf die moralische Ordnung einschließt. Damit läßt uns Kant verstehen, die Hauptschwierigkeit bestehe in der Legitimation der notwendigen Annahme eines Endzwecks: eine Aufgabe, die nicht einmal im § 88 angemessen gelöst sein wird (s. u. Exkurs II). In der „Anmerkung“ zum § 86 betont Kant die Spontaneität der moralteleologischen und -theologischen Reflexion bei allen sittlich orientierten Menschen. Dabei wird zuerst eine Verbindung zwischen der moralischen Vorstellung Gottes und einem rein sittlichen Gefühl festgestellt, das, durch die Empfindungen der Dankbarkeit, Gehorsam und Demütigung veranschaulicht, ein selbstloses Bedürfnis des endlichen Vernunftwesens zum Ausdruck bringt, „ein moralisch-gesetzgebendes Wesen außer der Welt“ anzunehmen, dessen (freilich subjektiver) Grund nur die „moralische Anlage in uns“ sein kann (445 f.). Genauer gesagt ist dieser „reine moralische Grund“ (446, 17 f.) das Bewußtsein unserer Verpflichtung, zur Verwirklichung des höchsten Guts beizutragen. Während im Korpus des § 86 nur von einem Prinzip der Bestimmung der „uns notwendigen Beziehung der Naturzwecke auf eine verständige Ursache“ (444, 1–8; vgl. 33 ff.) und nicht von einem Beweis die Rede ist, findet man in der „Anmerkung“ (446, 28–37) eine erste knappe Antizipation des moralischen Arguments, das im § 87 etwas ausführlicher entwickelt
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wird: Da wir durch das Sittengesetz verbunden sind, „nach einem allgemeinen höchsten Zwecke zu streben“ (das heißt nach dem höchsten Gut), uns selbst aber und ebenfalls die gesamte Natur unfähig finden, diesen Zweck zu erreichen, haben wir, um diese Bestrebung nicht als unmöglich beurteilen zu müssen, einen „reinen moralischen Grund“, eine verständige, nach moralischen Zwecken wirkende Weltursache anzunehmen, welche die Erreichung dieses Endzwecks ermöglichen könnte (446, 28–37). Hier findet man außerdem eine der bündigsten, zugleich klarsten und einleuchtendsten Begründungen der moralischen Annahme Gottes: „damit wir jene Bestrebung, in ihren Wirkungen, nicht für ganz eitel anzusehen und dadurch sie ermatten zu lassen Gefahr laufen“ (446, 36 f.). Dadurch wird die frühere Bemerkung präzisiert oder korrigiert, wonach durch diese Annahme „entweder unsere Sittlichkeit mehr Stärke oder auch […] mehr Umfang, nämlich einen neuen Gegenstand für ihre Ausübung gewinnt“ (446, 10–15). Kant kommt schließlich zum Ergebnis, daß im Unterschied zur Vorstellung von „Göttern“ als übermenschlichen Mächten, die vermutlich aus Furcht entstanden ist, der Begriff von „Gott“ erst durch die praktische Vernunft hervorgebracht wurde, welche darum eine Gottesauffassung verlangt, die sittlichen Kriterien entspricht (447).
§ 87 Von dem moralischen Beweise des Daseins Gottes Hier exponiert Kant das moralische Argument auf die (gegenüber der Kritik der praktischen Vernunft) neue Weise, welche durch die teleologische Reflexion der Kritik der Urteilskraft, das heißt die kritische Theorie der reflektierenden Urteilskraft, möglich und zugleich nötig geworden ist. Dabei baut er auf die Ergebnisse der §§ 85 f. auf, daß das von der physischen Teleologie erwogene teleologische System der Natur eines Endzwecks bedarf, der nur im Menschen als moralischem Wesen anzutreffen ist; daß also nur eine moralische Teleologie den Begriff des Endzwecks liefern und die von der theoretischen Reflexion erwogene verständige Ursache der Natur als Gott (das heißt als oberste moralische Weltursache) bestimmen kann. Der erste Schritt im § 87 ist eine Bekräftigung des Bestehens und Geltens der moralischen Teleologie sowie eine Klärung und Hauptgliederung ihres Gehalts. Diese behauptet aufgrund des Sittengesetzes die notwendige Beziehung aller unserer Zwecke auf einen (von der praktischen Vernunft aufgegebenen) Endzweck, der zu seiner Realisierbarkeit (und mithin zu
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seiner objektiven Realität) eine teleologische Unterordnung der Zweckmäßigkeit der Natur unter sittliche Zwecke erfordert (447 f.). Diese ist, ohne daß Kant es hier explizit macht, die eigentliche Zulassungsbedingung für eine teleologische Betrachtung der Welt im ganzen und als Ganzes, das heißt als eines Systems aller Zwecke, das sowohl das „System der Zwecke durch Freiheit“ als auch das „System der Zwecke nach der Natur der Dinge“ (XXVIII 1099 f., 1201 f., 1307) in einem bestimmten Zusammenhang umfaßt. Kant behauptet nun, diese moralische Teleologie führe notwendig zur Frage nach einem überweltlichen, göttlichen Prinzip, weil die Synthesis beider Bedingungen unseres Endzwecks von uns als unmöglich beurteilt werden müßte, wenn wir nicht für die sittliche Weltordnung wenigstens hypothetisch ein Analogon zur exekutiven Gewalt der staatlichen Rechtsordnung annehmen könnten (448, 2–13). Die Notwendigkeit dieses Zusammenhangs wird hier jedoch übertrieben, denn für die ethische Gesetzgebung im engeren Sinn („Nomothetik der Freiheit“) ist eine äußere Exekutive weder nötig noch zuständig; es ist nur die teleologische Reflexion, nicht die immanent moralische Schlußfolgerung, die eine oberste Instanz der Ausführung der sittlichen Forderungen anzunehmen verlangt. Danach, um den „Fortschritt“ von der moralischen Teleologie über ihre Implikation der physischen zur Ethikotheologie darzustellen (448, 13 ff.), sollte Kant zuerst zeigen, warum und wie denn der sittliche Endzweck des Menschen, sofern er als inklusives Ziel, und das heißt als höchstes Gut, aufgefaßt wird, die „wechselseitige Beziehung der Welt“ (447, 32–35) und also die zweckmäßige Mitwirkung der Natur erfordert, die damit ein letztes Worumwillen ihres Daseins erhielte. Statt dessen kommt er unvermittelt dazu, erneut vom Begriff des Endzwecks der Schöpfung zu sprechen (448 ff.), um danach wieder zur Perspektive des Endzwecks des Menschen zurückkehren, beide Male ohne den Übergang, das heißt den Zusammenhang beider Perspektiven, eigens zu begründen. Die Funktion des Einschubs ist offenbar die, die Verknüpfung der teleologischen mit der moralischen Frage zu unterstreichen; die Legitimationsaufgabe wird jedoch damit nicht gelöst. Dadurch nämlich kommt Kant zunächst zum Standpunkt der theoretischen Reflexion wieder zurück, von dem aus die Warum-Frage (nach der letzten Ursache) auch als Wozu-Frage gedeutet werden kann (448, 17–28). Dieser Standpunkt ist aber nicht der der moralischen Teleologie, obwohl der Rekurs auf ihn innerhalb dieses Beweises freilich genauso notwendig ist wie der Rekurs auf den Zusammenhang von wirkender Ursache und Zweck, der in der Argumentation wieder vorgenommen werden muß, wenn
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es darum geht, die Beabsichtigung des Endzwecks der Schöpfung genau der obersten Weltursache zuzuschreiben. Im § 87 wird aber versäumt, den Grund klarzumachen, warum die praktische Reflexion, von der nun auszugehen ist, gerade diese Beiträge der theoretischen erfordert und letztere dadurch zu einem Abschluß führt, der auf der bloß theoretischen Ebene nicht erreichbar war. Im 2. und 3. Absatz des § 87 betont also Kant noch einmal, daß wir als Endzweck der Schöpfung nur den Menschen unter moralischen Gesetzen (nicht: nach moralischen Gesetzen) ansehen können (448 ff.). Die moralteleologische Ordnung der Welt besteht nicht darin, daß die Menschen sich immer wohl verhalten (was dagegen vom Moralgesetz erfordert wird), sondern darin, daß mit dem Verhalten die entsprechenden Folgen im Lebenszustand verknüpft werden (s. u. Exkurs I). Die nächsten vier Absätze bieten eine schematische Reformulierung des moralischen Arguments, wie es in der zweiten Kritik dargelegt worden war, mit den einzigen relevanten Neuerungen, daß jetzt das höchste Gut in seiner umfassenden Bedeutung explizit als der Endzweck bezeichnet wird, wozu uns das Moralgesetz verpflichtet (450, 6–9), und daß die zwei Komponenten vom höchsten Gut als die beiden Bedingungen des Endzwecks formuliert werden. Das höchste Gut enthält nämlich zwei Erfordernisse: die „subjektive Bedingung, unter welcher der Mensch […] sich […] einen Endzweck setzen kann“, das heißt die Glückseligkeit, und die jener übergeordnete „objektive Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit“ (450, 10–16). Die aufgrund des Sittengebots zu postulierende Verknüpfung beider Bedingungen können wir aber nicht durch die physische Ordnung der Dinge erwarten, sondern uns nur dann als realisierbar vorstellen, wenn „wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen“ (450, 17–27). Hier wird wieder der Endzweck des Menschen zum Motor der Argumentation. Man sieht dabei nicht, warum Kant zuvor den Endzweck der Welt so stark betont hatte, und man versteht auch nicht den Zusammenhang dieses Schlusses mit der Fragestellung der Teleologie, die letzten Endes auf die Konzeption der Welt als Systems von Zwecken zielte. Das alles wird (ebenso nur umrißhaft) im § 88 klargemacht, welcher den Gedankengang von § 87 einheitlicher und schlüssiger rekonstruiert und damit die vermißten Verbindungen wiederherstellt. Im zweiten Teil vom § 87 bringt Kant einige Präzisierungen, die eigentlich einer „Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises“ (wie allerdings die Überschrift vom § 88 lautet) gleichkommen.
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Zunächst wird bemerkt, dem Beweis könnte „leicht“ eine logisch strenge Formulierung gegeben werden, die damit als in den vorigen Absätzen noch nicht erreicht eingestanden wird. Sodann wird aber gleich betont, daß die Notwendigkeit der Annahme der Konklusion nicht die gleiche Stringenz bedeute wie die Gültigkeit des moralischen Gesetzes (450 f.). Kant will offensichtlich die Unbedingtheit des sittlichen Anspruchs noch einmal hervorheben, der weder auf metaphysischen noch auf teleologischen Voraussetzungen beruht. Hier führt er jedoch eine nähere Bestimmung dieser Einschränkung ein: Wer den Schluß nicht mitmachen wollte, müßte nur die „Beabsichtigung“ des Endzwecks, nicht die sittliche Pflicht aufgeben (451, 3–7). Dieser Satz ließe sich so interpretieren: Der Ablehnende müßte zwar die bewußte Bestrebung und Verfolgung des Zieles fallen lassen, jedoch der Sache nach den Endzweck befördern, indem er sich bemühen würde, das Gesetz zu erfüllen; nur subjektiv müßte das ihm unbewußt (also verborgen) bleiben. Das Beispiel, das Kant im folgenden bringt (451 f.), ist allerdings nicht eindeutig eine Bestätigung dieser Auslegung. Der vom Nicht-Dasein Gottes überzeugte „rechtschaffene Mann“, von dem hier die Rede ist (und der seit der zweiten Auflage den Namen des Spinoza trägt), wird zwar am moralischen Gesetz, und das heißt an der daraus fließenden Pflicht und Zielbestimmung festhalten, jedoch angesichts des zufälligen Laufs der Weltbegebenheiten den ihm wohl bewußten Endzweck „als unmöglich aufgeben“, es sei denn, er wird „in praktischer Absicht“, um seine ethische Einstellung nicht zu schwächen und den Endzweck als möglich beurteilen zu können, doch letztlich das Dasein Gottes annehmen (452 f.). Hier scheint Kant also noch einmal die subjektive Notwendigkeit der Annahme Gottes für den sittlich Gesinnten zu behaupten, während im obigen Absatz die Annahme weniger zwingend vorkam bzw. so ausgelegt werden konnte. In der zweiten Auflage antizipiert eine Fußnote bereits am Schluß des ersten Teils solche „Beschränkungen“ durch zwei Klarstellungen. Die erste schränkt direkt die Gültigkeit des moralischen Arguments auf eine nichtobjektive Ebene ein: Der „Zweifelsgläubige“ (450, 34), das heißt nicht der schlechterdings ungläubige, sondern der zweifelnde, aber am Sittlich-Guten orientierte Mensch, müsse die Existenz Gottes annehmen, „wenn er moralisch konsequent denken“ (451, 32 f.), also wenn er eine unüberwindliche Kluft in seinem Vernunftgebrauch nicht akzeptieren will (450 f.). Die zweite betrifft die Prämisse der ganzen Argumentation, das heißt das „Postulat“ des höchsten Guts (§ 91: 470, 11–14) als Endzwecks des Menschen, dessen Annahme nicht „zur Sittlichkeit“, sondern „durch sie notwendig“ sei, also wiederum nur für moralisch orientierte Menschen; was letztlich auf die glei-
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che Konsequenz hinausläuft, daß nämlich der Gottesbeweis nur „subjektiv, für moralische Wesen, hinreichend“ sei (451, 34–37).
§ 88 Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises Diesem Abschnitt ist eine viel größere Bedeutung beizumessen, als es bisher geschehen ist, denn hier wird viel mehr geleistet, als was im Titel steht. Im ersten, längeren Teil werden nämlich die Schritte des moralteleologischen Arguments genauer bestimmt und dabei vor allem die allgemeine Prämisse des ganzen Schlusses (daß der Endzweck des Menschen einen Endzweck der Welt verlangt) geklärt und begründet. Im zweiten Teil werden einige methodologische, wieder einschränkende Überlegungen angestellt. Den Abschnitt eröffnet eine tiefgehende Erörterung über die (zunächst problematisch zu fassende) „objektive Realität“ des Begriffs des Endzwecks, der die entscheidende Schlüsselrolle spielt sowohl für die Lösung der Fundamentalfrage der Teleologie als auch für die Rechtfertigung der Ethikotheologie. Der Begriff des Endzwecks legitimiert sich zunächst nur als „subjektiv-konstitutive“ Idee des Objekts unserer praktischen Vernunft, das wir (nach Maßgabe unserer Kräfte) verwirklichen sollen und das durch diese Verpflichtung „subjektiv-praktische Realität“ bekommt. Um ihm auch „objektive theoretische Realität“ zu verleihen, sollte gezeigt werden, daß auch die Welt einen Endzweck habe, der mit dem moralischen übereinstimme. Dieser Aufweis kann aber nicht von der Natur her auf theoretischem Weg (gewiß nicht durch die bestimmenden Urteile einer vermeintlichen spekulativen Wissenschaft, aber auch nicht durch die theoretisch-reflektierenden der physischen Teleologie), sondern nur von der Moralvorstellung des Endzwecks her in der praktischen Reflexion erfolgen (453 f.). Diesem Umstand muß nun der Bau bzw. die Rekonstruktion des moralischen Beweises Rechnung tragen. Die beiden mittleren Absätze des Abschnittes enthalten demgemäß eine umgeordnete Neufassung des moralischen Arguments, das jetzt ausdrücklich in zwei Schritte gegliedert wird: den „Schluß von der moralischen Teleologie […] auf einen Endzweck der Schöpfung“ und den Schluß von diesem Endzweck „auf das Dasein eines moralischen Welturhebers“ (455). Moralische Teleologie bedeutet hier im engeren Sinn die Lehre vom „Endzweck unserer praktischen Vernunft“, der uns vom Moralgesetz auferlegt ist und ein System aller Zwecke nach der sittlichen Ordnung
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begründet. Dieses System schließt aber auch die „Summe der Erreichung aller Zwecke“ (Gemeinspruch VIII 282) ein, die durch die Beachtung des Moralgesetzes nicht nur vereinbar, sondern auch der Realisierung würdig geworden seien (s. u. Exkurs II). Da nun solche Verwirklichung nicht nur vom guten Willen und Wohlverhalten abhängt, sondern auch von Seinsbedingungen, die nicht in unserem Vermögen sind, also in der Natur (als der gesetzmäßigen Ordnung des faktischen Seins) liegen, so wird die teleo logische Reflexion durch eben dasselbe moralische Prinzip dazu geführt, einen „Endzweck der Schöpfung“ anzunehmen, dem die Natur zweckhaft untergeordnet wäre, so daß sie mit dem sittlichen Endzweck zusammenstimmen könnte. Der „Endzweck der Schöpfung“ wird dabei neu definiert als eine Welt, die mit „dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft […] übereinstimmt“ (455; s. u. Exkurs I). Die Teleologie als Lehre vom Weltganzen wird so erst hier zu einem System im eigentlichen Sinn, da der Begriff des Endzwecks, dessen sie bedarf und als physische ermangelte, nur aus der Moral durch die praktisch-teleologische Reflexion geschöpft werden kann (454 f.). An diesem Punkt setzt nun der zweite Schritt ein. Denn die moralteleologische Ordnung der ganzen Welt wird nicht durch die Natur als solche ermöglicht, sondern von uns nur als möglich gedacht, wenn wir annehmen, sie sei – wie die Welt selber – die Wirkung einer nicht nur verständigen, sondern auch moralischen Weltursache. Das ist aber keine objektiv erkennende Einsicht in den Urgrund des Seins und auch keine moralische Verpflichtung, ja selbst keine moralische Motivierung bzw. Autorisierung, Gottes Dasein anzuerkennen, sondern eine Annahme, die von der reflektierenden Urteilskraft gefordert wird, weil wir sonst („nach der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens“) nicht verstehen würden, wie die zweckmäßige Unterordnung der Natur unter den moralischen Endzweck überhaupt möglich sei. Das schließt natürlich nicht aus, daß der erste Schluß (auf den Endzweck) nicht ebenfalls eine Leistung der teleologischen Reflexion sei (455). Im zweiten Teil des Abschnittes bemerkt Kant zunächst allgemein, der moralische Beweis sei nur für die praktische Vernunft „hinreichend“, wobei er das noch einmal knapp zusammengefaßte Argument als einen Gedankengang beschreibt, welcher der Idee Gottes objektive, wenn auch nur praktische Realität verschafft (456). Wichtig ist dabei, daß die physische Teleologie als theoretische, die moralische als praktische Reflexion der Urteilskraft explizit bezeichnet werden. Wie allerdings letztere aufgrund des Begriffs des Endzwecks auch die physischen Zwecke mit einbezieht, war im ersten Teil dargelegt.
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Danach will Kant „Mißverständnisse“ gegenüber dem Erkenntniswert der Ethikotheologie in bezug auf Gottes Attribute verhüten. Anfangs begnügt er sich mit der Bemerkung, „daß wir erstlich diese Eigenschaften des höchsten Wesens nur nach der Analogie denken können“ (456). Dann aber findet er nötig zu präzisieren, daß diese Merkmale uns nur erlauben, Gott zu denken, nicht zu erkennen. Durch die Analogie nehmen wir Gott nämlich als außerweltliche, moralisch gesetzgebende Ursache der Welt an, um den Grund der Ausführbarkeit unseres moralischen Endzwecks denken zu können, und also nicht um diese Kausalität theoretisch zu bestimmen, sondern nur um das Verhältnis dieses uns unzugänglichen Wesens zu unserem Endzweck auszudrücken; genauso wie wir eine Ursache nach dem Begriff benennen, den wir von der Wirkung haben, ohne dadurch ihre Beschaffenheit zu bestimmen (456 f.). Das Dasein Gottes, sein moralisches Wesen und sein Kausalverhältnis zur Welt und ihrem Endzweck sind Gegenstand einer Beurteilung, die nur eine reflektierende ist, also nur soviel Gültigkeit hat, wie es „der Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen gemäß“ subjektiv-notwendig erfordert ist (457). Ihre Gültigkeit ist nämlich die einer Handlung der reflektierenden, nicht der „objektiv bestimmenden Urteilskraft“. Es handelt sich hier aber nicht um ein bloß willkürliches Urteil, sondern um eines, das von einem Prinzip (dem Endzweck) abhängt, welches für die praktische Vernunft „konstitutiv, d. i. praktisch bestimmend“ ist, während es „ein bloß regulatives Prinzip für die reflektierende Urteilskraft“ bedeutet (457 f.). Kant scheint damit sagen zu wollen, dies Prinzip sei konstitutiv für die praktisch reflektierenden Urteile, also für die moralische Teleologie, und dagegen nur regulativ für die theoretisch reflektierenden Urteile: Da hier aber nicht die physische Teleologie im eigentlichen Sinn gemeint sein kann, ist zu vermuten, diese regulative Funktion des Endzweckbegriffs beziehe sich auf diejenige suo modo theoretische (teleologisch interpretierende und argumentierende) Leistung der reflektierenden Urteilskraft, welche die moralische Teleologie im engeren Sinn (die Lehre des Endzwecks des Menschen) auf die Welt als Ganzes ausweitet bzw. anwendet, um diese als teleologisches System zu interpretieren im Rahmen der Lehre des Endzwecks der Schöpfung als Zusammenstimmung der physischen Zwecke mit dem sittlichen, die schließlich der Annahme vom Dasein Gottes bedarf. Die „Anmerkung“ zum § 88 betont zunächst, daß der Philosoph nicht den Anspruch erheben kann, diesen Beweis erfunden, sondern nur, ihn korrekt und fehlerfrei rekonstruiert zu haben. Kant zufolge ist nämlich dieser Gedankengang jedem gut gesinnten und nachdenkenden Menschen
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seit je wohl vertraut (458). Das versucht er zu zeigen, indem er sozusagen die moralisch-psychologische Genesis dieser spontanen Bewegung eines „natürlichen“ Nachdenkens und Argumentierens beschreibt. Dabei wird ein wichtiger Punkt herausgestellt, der in den vorangehenden Formulierungen meist nur implizit war: Der Gedanke einer übersinnlichen Zweckordnung der Dinge und einer überweltlichen Ursache alles Seienden entsteht aus der moralisch geleiteten Reflexion, die den Naturlauf der Dinge mit der Sollforderung des sittlichen Bewußtseins vergleicht und dabei einen schroffen Widerspruch zwischen dem Gesollten (Endzweck) und dem Erfahrenen (Natur ohne Endzweck) wahrnimmt, dem gegen über die innere Empörung, die fordert, „es müsse anders zugehen“, einen vernünftigen Ausweg sucht und ihn in der Annahme einer „nach moralischen Gesetzen die Welt beherrschenden obersten Ursache“ findet, in der das „Prinzip der Möglichkeit der Vereinigung der Natur“ mit dem „Sittengesetz“ anerkannt werden kann (458 f.).
§ 89 Von dem Nutzen des moralischen Arguments Am Schluß der Überlegungen über den moralischen Gottesbeweis wird seine grundlegende Bedeutung für die Religion und deren richtiges Verständnis erläutert. Die kritische Begründung und zugleich Gültigkeitseinschränkung der Ethikotheologie durch eine auf den moralisch-praktischen Vernunftgebrauch gestützte teleologische Reflexion bringt, wie Kant sagt, einen „unverkennbaren Nutzen“ mit sich, der in erster Linie ein negativer, Verirrungsgefahren vorbeugender ist (459). Die moralteleologische ist Kant zufolge die einzige Theologieauffassung, welche ein Prinzip angeben kann, dem gemäß die überschwenglichen Ansprüche der Spekulation systematisch eingedämmt und damit auch gefährliche Irrtümer wie die der Theosophie oder des Anthropomorphismus vermieden werden können. Dieses Prinzip besteht vor allem in der negativen Einsicht, daß „in Ansehung des Übersinnlichen schlechterdings gar nichts theoretisch […] bestimmt werden könne“ (460). Die Gefahren, die dadurch „verhütet“ werden, sind solche im Hinblick auf die wichtigste praktische Anwendung der Theologie, die Religion heißt (vgl. XXVIII 997). Deswegen wendet sich nun Kant der Frage der Religion zu, die hier als „die Moral in Beziehung auf Gott als Gesetzgeber“ definiert wird (460). In der „Allgemeinen Anmerkung zur Teleologie“ wird es dem entsprechend heißen, die Ethikotheologie führe „unmittelbar zur Religion, d. i. der Erkenntniß unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (481), wie
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Kant sich durch Rekurs auf seine „offizielle“, oft wiederholte Definition der Religion ausdrückt. Wenn die Theologie als theoretische Erkenntnis von seiten der Moral vorausgesetzt wäre, dann würde das Moralgesetz vom willkürlichen Dekret Gottes abhängen und sowohl Moral als auch Religion würden eine unfreie Unterwerfung unter diesen äußeren Willen enthalten, die leicht „in Theurgie (ein schwärmerischer Wahn, von anderen übersinnlichen Wesen Gefühl und auf sie wiederum Einfluß haben zu können), oder in Idololatrie (ein abergläubischer Wahn, dem höchsten Wesen sich durch andere Mittel, als durch eine moralische Gesinnung wohlgefällig machen zu können)“ geraten ließe (459). Im letzten Absatz findet man die einzige relativ ausführliche Behandlung (im Rahmen der Kritik der Urteilskraft) von dem, was im § 91 (469 ff.) als dritte „Glaubenssache“ der Vernunft formuliert wird. Das betrifft die Frage der rationalen Psychologie, nicht aber in der Form einer Lehre von der Unsterblichkeit der Seele (wie in der „Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft und auch kurz danach im § 91 der Kritik der Urteilskraft), sondern in der Form der „Hoffnung eines künftigen Lebens“, welche dem Ansatz der Kritik der Urteilskraft (der die Erfüllbarkeit der Summe der subjektiven, den objektiven gemäß gewordenen Zwecke erfordert) angemessener zu sein scheint und einigen Formulierungen der Kritik der reinen Vernunft (B 839) und der Fortschritte (XX 298) näherkommt. Auch dazu betont Kant die Unfähigkeit der theoretischen Erkenntnis, etwas Positives über die Seele zu bestimmen, das über die Abweisung unzulässiger materialistischer Reduktionen hinausginge; worin sich wiederum der Nutzen der moralteleologischen Auffassung erweise, die neben der Ethikotheologie auch eine praktisch-reflektierende Seelenlehre begründe. Diese beschränke sich auf die „teleologische Beurteilung unseres Daseins in praktischer notwendiger Rücksicht“, welche nicht weiter führe als zu „der Annehmung unserer Fortdauer, als der zu dem uns von der Vernunft schlechterdings aufgegebenen Endzweck erforderlichen Bedingung“ (460). Da diese Annahme (in Übereinstimmung mit der Kritik der reinen Vernunft) niemals eine metaphysische Wissenschaft mit theoretischem Geltungsanspruch sein (noch eine solche zulassen) kann, so würden die entgegengesetzten Gefahren einer überschwenglichen Pneumatologie einerseits, und des Materialismus andererseits von vornherein ausgeschlossen (461).
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Exkurs I: Erläuterungen zum Endzweckbegriff Der Begriff vom Endzweck der Schöpfung, der in den §§ 84–87 innerhalb einer theoretischen Fortsetzung der physisch-teleologischen Reflexion eingeführt wird, ist im Rahmen dieser theoretischen Reflexion selbst unbegründbar. Der § 88 macht klar, daß nur erst die praktische Reflexion, die von dem durch das Moralgesetz bestimmten Endzweck des Menschen ausgeht, diesen Grundbegriff und seine Anwendung legitimiert. Dabei ist eben der grundsätzliche Unterschied zwischen beiden Endzweckbegriffen, der freilich nur in der Kritik der Urteilskraft (und zwar im § 88) betont wird, strenger zu berücksichtigen, als es gewöhnlich der Fall ist. Der Begriff vom Endzweck des Menschen ist eine Idee der reinen praktischen Vernunft und fällt zusammen mit dem Begriff vom (abgeleiteten) höchsten Gut, der den Eckstein der moralischen Teleologie, also der praktischen Reflexion darstellt. Der Begriff vom Endzweck der Schöpfung ist dagegen zunächst eine Idee, die innerhalb der theoretischen Reflexion eingeführt wird, die aber in deren Rahmen nicht zu rechtfertigen und deshalb auf eine Begründung innerhalb der praktischen Reflexion angewiesen ist. Außerdem trifft man bei Kant grundsätzlich auf zwei verschiedene Definitionen vom Endzweck der Schöpfung mit den äquivalenten Begriffen „Endzweck aller Dinge“ (§ 86: 447) und „Endzweck der Welt“ (§ 87: 449 f., Allg. Anm.: 476) oder „Endzweck der Natur“ (§ 67: 378; § 88: 454). Nach §§ 84–87 kann als Endzweck der Schöpfung allein der Mensch als moralisches Wesen behauptet werden. Im § 87 heißt es mit aller Klarheit: „[D]ie Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen kann allein als Endzweck vom Dasein einer Welt gedacht werden“ (449 f.). Nach § 88 ist Endzweck der Schöpfung „diejenige Beschaffenheit der Welt, die zu […] dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft […] übereinstimmt“ (455, 1–5), das heißt, eine Weltordnung, die so beschaffen ist, daß in ihr das höchste Gut als der Endzweck des Menschen nicht nur möglich, sondern realisiert ist (oder wird). Eine dieser Definition nahestehende Stelle vom Gemeinspruch formuliert den Endzweck aller Dinge als „eine Welt als das höchste auch durch unsere Mitwirkung mögliche Gut“, das heißt „eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen“ (VIII 279 f.). Nach der ersten Definition ist der Endzweck des Weltganzen ein Dasein (eines bestimmten Wesens), nach der zweiten eine Beschaffenheit bzw. eine Einrichtung der Welt selbst; welche letztere vielleicht sogar einen (End-)Zustand bedeuten könnte, der zugleich Ziel des menschlichen Wollens und Tuns wäre.
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Die zwei prima facie ganz verschiedenen Definitionen sind aber zumindest nicht inkompatibel. Die zweite kann ja die erste einschließen, denn eine dem moralischen Endzweck untergeordnete Welt ist eine Welt, in der moralische Subjekte vorkommen. Aber auch die erste impliziert die zweite: Eine Welt, die als Endzweck des eigenen Daseins die Existenz von moralischen Wesen in ihr hat, ist eine besonders beschaffene Welt, die diesen Wesen und daher auch der sittlichen Ordnung, der diese Wesen unterstehen, untergeordnet und in sie eingeschlossen sein muß. Die zweite Definition läßt sich demnach als erläuternde Ergänzung der ersten verstehen. Außerdem: Wenn die Einrichtung der moralischen Weltordnung auch durch freie Mitwirkung der Menschen realisiert werden soll (ihnen also als Endbestimmung aufgegeben ist, wobei ihr Beitrag vor allem im Aufbau des juridischen wie des ethischen gemeinen Wesens bestehen kann), dann schließt der Endzweckgedanke auch das Konzept eines dem sittlichen Ideal angemessenen Endzustands der Welt mit ein. Kant betrachtet wohl diese Unterordnung des Endzwecks der Schöpfung unter den Endzweck des Menschen als so selbstverständlich, daß an einigen Stellen der erste mit dem höchsten Gut sogar identifiziert wird (so z. B. § 86: 444, 15 ff.; 446, 29–33). Die Identifikation (dem Inhalt oder der Sache nach, nicht dem formalen Begriff nach) findet man an späteren Stellen (Theodizee VIII 256, Gemeinspruch VIII 279 f., Ende aller Dinge VIII 336, Vornehmer Ton VIII 396) weiter belegt, worunter die eindeutigste und wichtigste (die freilich zugleich Differenzierung voraussetzt) in der Religion anzutreffen ist: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (VI 6).
Exkurs II: Zur Legitimation des höchsten Gutes Die nicht erörterte Prämisse des moralischen Beweises ist das notwendige Gebot der Bewirkung des höchsten Guts. In der Kritik der Urteilskraft wird das Gebot mehrmals aufgegriffen und besonders betont, wobei das Ziel des höchsten Guts ausdrücklich als Endzweck des Menschen bzw. als Endzweck der reinen praktischen Vernunft bezeichnet wird; niemals wird das Gebot selbst gerechtfertigt, noch der Bereich seiner Geltung präzisiert, vor allem in bezug auf den naheliegenden Einwand, daß ein Gebot, dessen vollständige Befolgung a priori außerhalb des Umkreises des uns Erreichbaren
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liegt, eben in solchem Maße sinnlos und geltungslos ist. Das Gebot selbst, wie es in der Kritik der praktischen Vernunft etwas ausführlicher dargestellt wird, gebietet allerdings nichts Unmögliches oder Absurdes: Es fordert, daß die Menschen sich alle Mühe geben, zur Verwirklichung des „höchsten in der Welt auch durch ihre Mitwirkung möglichen Gutes“ beizutragen (vgl. Gemeinspruch VIII 279 f.). Die Erreichung dieses absolut-objektiven Zwecks bleibt durch die sittliche Anstrengung allein nicht garantiert, denn ihre Möglichkeit hängt nicht nur von dieser ab, sondern auch vom Weltgeschehen, das den Naturgesetzen unterworfen ist. Aber das Ziel selbst bleibt objektiv gültig und für uns, für unser Handeln in der Welt, letzte Orientierung: „Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (Religion VI 5). Wie und in welchem Sinn geht aber aus dem Moralgesetz, das zunächst bloß Einschränkung des Willens ist, durch das übermoralische Gebot, das höchste Gut zu befördern, ein notwendiger Gegenstand des Willens hervor? Nur kraft der Verbindung zwischen dem apriorischen Faktum der Vernunft (dem Sittengesetz) und der strukturellen Tatsache des Willens, die jederzeit auch einen subjektiven Gegenstand (Zweck) haben muß: Das Moralgesetz kann den subjektiven Willen nicht einschränken, ohne zugleich zu fordern, daß das Ganze der subjektiven Zwecke, sofern sie auf die Bedingungen der Objektivität des Wollens eingeschränkt sind, realisiert wird; das Gesetz des freien Willens kann nicht die (Selbst)Verwirklichung dieses Willens nicht verlangen (vgl. Religion VI 5–8). Die Wiedereinführung der Thematik und der Rede von Zwecken und vom Endzweck, wie sie in der Kritik der Urteilskraft und speziell in der Lehre der moralischen Teleologie geschieht, ist eine wichtige Prämisse für eine derartige Deduktion des höchsten Guts. Der § 87, wo dieser Begriff noch einmal eine Schlüsselrolle spielt, bringt dazu einen spezifischen Beitrag, der nur vom Umfang her gering erscheint, doch alles andere als unbedeutend ist. Er besteht hauptsächlich in der ausdrücklichen Bezeichnung des höchsten Guts als Endzweck, der von der reinen praktischen Vernunft aufgegeben wird, und in der expliziten Formulierung von den zwei heterogenen Komponenten des Begriffs als Bedingungen (subjektiv und objektiv) des Endzwecks und seiner Möglichkeit (450), wodurch ihre Heterogenität nicht vermindert, ihre wechselseitige Ergänzung jedoch (beim Vorrang der objektiven Bedingung) viel direkter plausibel gemacht und stärker betont wird. Gerade dadurch ermöglicht diese Neubestimmung des Begriffs, so wenig sie sich auch um eine eingehende Begründung bemüht, ein leichteres Verständnis und bereitet eine überzeugendere Rechtfertigung vor, die freilich nirgends sonst eindeutig und ausführlich geleistet, aber in der
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Vorrede der Religion (VI 5–8) skizziert und später im Gemeinspruch (VIII 279 f.) und in den Fortschritten (XX 294–301, 305–310) teilweise fortgesetzt wird.
Zum Schluß Zusammenfassend schlage ich vor, den ganzen Gedankengang dieses Ausschnitts der Kritik der Urteilskraft, worin die finale Anwendung der teleologischen Urteilskraft auf das Ganze der Welt einen kritisch bedachten Überschritt zum Übersinnlichen als Sinn des endlichen Daseins begründet, als eine dreifache, zusammenhängende interpretatorische Leistung einer „fragenden“ und verstehen wollenden Vernunft (vgl. 477) zu lesen. Die praktisch reflektierende Urteilskraft stellt nämlich zunächst eine teleologische Interpretation des Moralgesetzes dar: Sie betrachtet es als auf einen Endzweck ausgerichtet, der über den strikt moralischen hinausgeht, auch wenn er diesem gemäß ist. Sie bringt zweitens die teleologische Deutung der Natur und der Welt insgesamt zustande, leistet also das, was Kant als Übergang von der moralischen Teleologie zu der in ihr gegründeten teleologischen Weltauffassung versteht (§ 87) und als (synthetischen) „Schluß“ vom Endzweck des Menschen auf einen Endzweck der Schöpfung bezeichnet (§ 88). Der dritte Schritt der Reflexion der Urteilskraft besteht in der teleologischen Auslegung Gottes als moralischen Welturhebers; diese expliziert die Bedingung, unter der allein unsere Urteilskraft jene „Zusammenstimmung“ der Natur mit der Sittlichkeit als ausführbar denken kann, und erschließt dadurch einerseits einen „bestimmten Begriff“ des höchsten Wesens als höchsten ursprünglichen Guts, andererseits dessen objektive Realität, womit der praktische Glaube an dessen Dasein legitimiert wird, ohne freilich die theoretischen Zweifel aufzuheben (vgl. § 91: 472).
Literatur Auxter, Thomas 1982: Kant’s Moral Teleology, Macon. Cunico, Gerardo 1998: Moralische Teleologie und höchstes Gut bei Kant, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 30, 111–124. – 2001: Il millennio del filosofo, Pisa. Langthaler, Rudolf 1991: Kants Ethik als „System der Zwecke“, Berlin. Lenfers, Dietmar 1965: Kants Weg von der Teleologie zur Theologie, Köln. Loock, Reinhard 1998: Idee und Reflexion bei Kant, Hamburg.
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Menegoni, Francesca 1988: Finalità e destinazione morale nella „Critica del Giudizio“ di Kant, Trento. Rovira, Rogelio 1986: Teología ética, Madrid. Sala, Giovanni B. 1990: Kant und die Frage nach Gott, Berlin. Schmitz, Hermann 1986: Was wollte Kant?, Bonn. Triebener, Ingolf 1999: Zusammenstimmung, Bonn. Wood, Allen W. 1970: Kant’s Moral Religion, Ithaca.
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Status des Glaubens (§§ 90–91) und Allgemeine Anmerkung über Teleologie
19.1 Von der Art des Fürwahrhaltens in einem teleologischen Beweise des Daseins Gottes Der Titel von § 90 verknüpft vier Themen miteinander: (A) Fürwahrhalten, (B) Teleologie, (C) Beweis und (D) Gott. Mit dem ersten Absatz von § 90 schließt Kant an seine frühere Diskussion physikoteleologischer und ethikoteleologischer Beweise (§§ 85 f.) an, indem er behauptet, daß der erste teleologische Argumenttyp, insofern er den Anschein erweckt, bei Gott anzukommen und wahrlich theologisch zu werden, auf eine unbemerkte „Verschmelzung“ (462, vgl. 477) mit der Überzeugungskraft des zweiten Argumenttyps zurückgreift. Insofern der physikoteleologische Beweis gezielt der Absicht unterliegt, zu dem Schluß zu kommen, daß Gott in der Weise, die Kant die „angemessene“ Bedeutung eines höchsten moralischen Wesens nennt, existiert, stellt er sich als bloß subjektiv heraus. In Kontrast dazu hat der ethikoteleologische Beweis eine höhere Stellung und der restliche Paragraph widmet sich der Ausarbeitung einer Würdigung exakt dessen, was diese Stellung sein kann. Hierbei wird an dieser Stelle im Text die Gültigkeit des Beweises und die Tatsache, daß der moralische Beweis nichtsdestotrotz in irgendeiner Hinsicht als auch „subjektiv“ charakterisiert werden muß, vorausgesetzt (446, 450, 453, 457). Im zweiten Absatz von § 90 fährt Kant mit der Aufgabe fort, eine einleitende Klärung des Beweisens im Allgemeinen zu geben und unterscheidet dafür zwischen überzeugenden Argumenten und Argumenten, die zumindest „auf Überzeugung wirken“ können (463). Diese Unterscheidung überschneidet sich mit einer weiteren grundlegenden Unterscheidung, die Kant hier macht, nämlich der Unterscheidung zwischen dem, was er
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„bestimmendes“ Beurteilen dessen, was ein Objekt an sich ist, nennt, und dem, was er „reflektierendes“ Urteilen nennt. Reflektierendes Urteilen ist Urteilen darüber, was ein Objekt für uns ist (462, Kants Herv.), das heißt für Menschen, die generell auf sehr eigene Weise epistemischen Begrenzungen unterliegen, z. B. weil sie nicht in der Lage sind zu sehen, inwiefern die organischen Einheiten, die zweckmäßig eingerichtet erscheinen, dennoch einen letzten mechanischen Grund haben können. Vermutlich soll diese spezifische „für uns/an sich“-Unterscheidung von Urteilstypen (reflektierend/bestimmend) nicht direkt Kants metaphysische Unterscheidung von phaenomenon und noumenon abbilden, denn reflektierendes Urteilen bezieht sich nicht nur auf Phänomene und bestimmendes Urteilen über Phänomene ist letztlich nicht Urteilen darüber, wie ein Objekt „an sich“ beschaffen ist. Kant verkündet anschließend schlicht, daß reflektierendes (teleologisches) Urteilen, wenn es theoretisch ausfällt, „niemals auf Überzeugung wirken“ kann, während reflektierendes Urteilen, wenn es praktisch ausfällt, „sehr wohl auf eine in reiner praktischer Absicht hinreichende […] Überzeugung Anspruch machen kann“ (463). Bevor er die positive Behauptung weiter ausführt, widmet er sich für den Rest des § 90 lediglich der Erklärung dessen, warum die vier theoretischen Argumenttypen – syllogistische, analoge, probabilistische und hypothetische Argumente – im Hinblick auf die Existenz Gottes nicht „in der dem ganzen Inhalt dieses Begriffs angemessenen Bedeutung“ (ebd.) überzeugen können. Die Schwäche, die Kant am analogen Vernunftgebrauch hervorhebt, ist die, daß, obwohl dieser uns erlaubt, über einen Gegenstand, der das Reich der Sinne übersteigt, nachzudenken, er uns nicht erlauben kann, zu bestimmen, was dieser Gegenstand „an sich“ (465 FN), das heißt ganz für sich genommen, sei. Wenn wir zum Beispiel denken, daß die Ursache der Welt durch einen Verstand wirkt (465), können wir dennoch nicht sehen, was es denn ist, das die innere Beschaffenheit dieses transzendenten Verstandes ausmacht. Diese Kritik führt ein kompliziertes metaphysisches Problem ein, welches im Text oft wieder auftaucht. An verschiedenen Stellen kritisiert Kant eine Art zu argumentieren, die der Absicht unterliegt zu zeigen, was etwas „an sich“ – im Sinne von „ganz für sich genommen“ – sei, und er bezeichnet diese Art als beschränkt in dem Sinne, daß sie eine Behauptung über das „an sich“ eines Gegenstandes nicht gewährleisten kann. Man könnte auf den ersten Blick glauben, daß diese Beschränkung nur Kants phaenomenon/noumenon-Unterscheidung widerspiegelt, aber so eine simple Annahme kann hier nicht gemacht werden. Es kann überaus sinnvolle Urteile über einen Gegenstand geben, der in irgendeiner Weise noumenon (weil nicht empirisch) ist, selbst wenn diese Urteile nicht hinreichen,
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direkte „Einsicht“ in seine Beschaffenheit „an sich“ im Gegensatz zu seinen relationalen Merkmalen zu geben. Menschliche Freiheit zum Beispiel, oder die bloße kausale Kraft Gottes, sind sehr sinnvolle Begriffe, aber hier werden sie nicht selbst als Merkmale „an sich“ im gekennzeichneten Sinne behandelt und können, Kant zufolge, doch ebensowenig als phaenomena behandelt werden (s. Langton 1998, Ameriks 2003, Kap. 5). Eine zusätzliche Schwierigkeit ist die, daß Kant, obwohl er selbst mehrmals die Eigenschaft der menschlichen Freiheit als etwas bezeichnet, das uns „übersinnlich“ zukommt und „noumenal“ ist (435), außerdem sagt, daß menschliche Freiheit sich auf das, was „in dieser Welt“ passiert, bezieht, und deswegen, in diesem weiten Sinne, auf das, was sich innerhalb des Reiches der Natur befindet (zu Kants implizitem „zweifachen Naturbegriff“ s. Ricken 2002, 193–197, und KrV A 811/B 893, KpV V 124). Hier muß abermals einem verführerischen und relativ einfachen Weg, sich Kants grundlegende Unterscheidungen zurechtzulegen, Einhalt geboten werden. Obwohl es den Anschein erwecken mag, daß die Unterscheidung phaenomenal/noumenal exakt mit der Unterscheidung weltlich/transzendent korrespondiert, ist auch das nicht in jedem Sinne richtig. Für Kant ist der Ausdruck „Welt“ oder der Kosmos definiert über den Begriff der größten Menge reziprok interagierender Dinge. Folglich bewahrt also ein transzendentes Wesen wie Gott, egal wie sehr es auch auf unsere Erde wirken mag, seine Unabhängigkeit vom Bewirkt-Sein durch andere Wesen davor, im wörtlichen Sinne Teil der Welt zu sein. In gleicher Weise gilt: Während Kant uns nachhaltig ermuntert, uns selbst als Wesen zu denken, die nicht nur empirische oder sinnliche (raumzeitliche) Merkmale haben, stellt sich heraus, daß diese Gedanken klarerweise auf uns als Seiende, die nicht vollständig „die Welt“ übersteigen, angewendet werden müssen. In einem entscheidenden Sinn und ungleich dem, was über Gott wahr sein kann, kann nichts uns Zugehöriges vollständig „jenseits der Welt“ im wortwörtlichen Sinne sein, obwohl man in einem schwachen Sinne – und Kant tut das oft – über etwas, das unsere mögliche nichtsinnliche Seite mit sich bringt (etwa absolute Freiheit), sprechen kann als würde es uns in „eine andere“, „intelligible“ Welt befördern. All dies eröffnet mindestens vier Ebenen metaphysischer Komplexität: erstens die nur empirischen und sinnlichen Merkmale empirischer Gegenstände; zweitens die nichtsinnlichen Merkmale empirischer Gegenstände (insbesondere uns) – manche, etwa Freiheit, relational, und manche vermutlich nichtrelational; drittens die nichtempirischen, aber (externen) relationalen Merkmale von allem, was nicht an der Sinnlichkeit teilhat (z. B. Gottes Verstand); und viertens die intrinsischen Merkmale, die tran-
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szendenten Wesen „an sich“ zukommen. Es ist wichtig, zu sehen, daß nur Wissen über Gegenstände der ersten Ebene klar phaenomenal ist, während Denken oder Wissen über Gegenstände aller anderen Ebenen, und nicht nur der letzten oder höchsten, auf etwas hinauslaufen würde, das Kant selbst Wissen oder Denken über noumena nennt. Dies impliziert, daß, wenn Kant sagen würde, daß unser reflektierendes Urteilen grundsätzlich beschränkt ist in dem Sinne, daß es schlechthin nichts über die höchste Ebene sagen kann, dies nicht eindeutig bedeuten würde, die Behauptungen dieses Urteilens seien nicht dennoch höchst bedeutungsvoll in einem metaphysischen Sinne. Die oben durchgeführten Ebenenunterscheidungen bringen es mit sich, daß wir nicht davon überrascht sein sollten, daß entscheidende Kantische Ausdrücke wie „letzter Zweck“ und „höchstes Gut“ eine komplexe Vermischung von Ebenen einschließen können. Es verwundert deshalb nicht, daß es eine Streitfrage ist (s. Förster 2002, Beiser 2006), ob Kant denkt, daß diese Ausdrücke für „diese“ oder vielmehr „eine andere“ Welt gelten. Richtig verstanden, können beide Antworten korrekt sein, und sogar die erste in einem noumenalen Sinn. Insofern das höchste Gut menschliche Freiheit erfordert, ist es bereits teilweise jenseits der ganzen sinnlich wahrnehmbaren Welt, und doch ist es noch Teil, noumenaler Teil, der ganzen Welt „unter“ Gott. Das höchste Gut ist also gewissermaßen sowohl jenseits als auch innerhalb der Welt. Eine letzte verwandte Schwierigkeit betrifft eine lange Fußnote, die Kant seiner Diskussion des analogen Vernunftgebrauchs hinzufügt. Diese Fußnote stellt heraus, daß, obgleich Tiere wie Biber komplexe Erzeugnisse herstellen, die auf vielerlei Art und Weise unseren Artefakten ähneln, dies nicht zeigt, daß ihre Leistungen gerade auf Vernunft, in Kontrast zu Instinkt (464 FN), zurückzuführen seien. Auf gleiche Weise betont Kant, daß wir, selbst wenn wir ein höheres Wesen als einen Grund der Welt als Ganzer und eine Wirkung, die uns im reflektierenden Urteilen als ein Artefakt erscheinen muß (ein Produkt rationaler Absichten), postulieren, dennoch nicht sagen können, daß die herstellende Tätigkeit dieses Wesens definitiv dieselbe Form höherer Fähigkeit, wie sie uns eigen ist, mit einschließt, weil unser Verstand sinnlich ist und der Verstand des höheren Wesens eben gerade nicht sinnlich gedacht wird. Kants Anmerkung bricht an diesem Punkt ab, aber es gibt zwei bedeutsame Möglichkeiten, sie fortzuführen, und beide sind es wert, genannt zu werden. Erstens: Nach allem, was wir theoretisch wissen, könnte selbst ein transzendentes höheres Wesen mittels einer Kraft wirken, die tatsächlich eher instinktive und mechanische Notwendigkeit als zweckmäßige Intelligenz sei (441 f.). Folglich ist unser Bild dieses Wesens als ein zweckmäßiges
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nur ein reflektierendes oder „subjektives“ Urteilen derart, daß wir, obwohl wir nicht genau sehen, wie das Wesen seine Wirkungen mit weniger ausgefeilten Mitteln erreichen könnte, nicht sagen können, daß wir in der Lage sind zu bestimmen, daß dies nicht passiert. Es gibt eine zweite Möglichkeit, eine theologisch anregendere. An dieser Stelle ist alles, was Kant sagt, daß die Idee einer Ursache der Welt an sich „keinen Gattungsbegriff […] gemein hat“ mit der Art von Verursachung, die wir kennen, außer „[dem] eines Dinges überhaupt“ (464 FN). Das ist nun allerdings nicht die ganze Geschichte, denn wir kennen durch unser eigenes Auffassungsvermögen Handlungen der Vernunft ebenso wie solche nur des Verstandes, und deshalb könnte es einen angemessenen Weg für uns geben, ein höheres Wesen nicht einfach als Ursache der Welt zu denken, sondern als Ursache der Welt durch eine Fähigkeit zur Vernunft, die in einem wichtigen Sinne doch wie unsere eigene ist. Genau das ist es, wofür Kant selbst argumentiert, wenn er sich den Überzeugungen der praktischen Vernunft zuwendet.
19.2 Von der Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben Kant beginnt den § 91 mit einer Unterscheidung der metaphysischen Frage der direkten Untersuchung der „Möglichkeit der Dinge selbst“ und der methodologischen oder epistemologischen Frage nach einem einfachen Vergleich zwischen verschiedenen Arten „erkennbare[r] Dinge“ (467): Sachen der Meinung (opinabile), Tatsachen (scibile) und Glaubenssachen (mere credibile). Diese Anordnung ist eine bedeutende Abweichung von Kants Diskussion in der Kritik der reinen Vernunft (A 822/B 850) und der Logik (IX 65; vgl. Orientieren VIII 140, Religion VI 153, Vornehmer Ton VIII 395), wo der Kontext primär ein theoretischer ist („Vollkommenheit des Erkenntnisses der Modalität nach“) und Glaube erst einmal als dem Wissen vorgängig aufgelistet ist, als wäre er schlicht dem Wissen untergeordnet. In der jetzigen Diskussion bezeichnet „Meinung“ ein nur theoretisches Fürwahrhalten mit sowohl subjektiv als auch objektiv unzureichenden Gründen; „Glaube“ wird zunächst einfach als eine praktische Einstellung mit subjektiv zureichenden und objektiv unzureichenden Gründen bezeichnet; „Wissen“ wird in dem rigorosen Sinne verstanden, daß es Gründe verlangt, die beides, subjektiv und objektiv hinreichend sind, und es wird ausschließlich anhand der theoretischen Vernunft erläutert.
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Ein mißliches Merkmal dieser Taxonomien ist es, daß sie keinen expliziten Platz für eine vierte, sehr wichtige Art des Fürwahrhaltens bereithalten: die grundlegende praktische Erkenntnis des moralischen Gesetzes und seiner unmittelbaren Implikationen. In der Logik (IX 69 f.) erinnert Kant daran, daß diese Ebene „des praktischen Vernunfterkenntnisses in der Moral“ zu sicher ist, um „Glauben“ genannt zu werden, aber sie ist immer noch nicht explizit unter der Rubrik des Wissens (IX 72) plaziert (als „praktische Überzeugung“ wird sie kurz diskutiert, aber als „fester als alles Wissen“ – was einen scharfen Kontrast darstellt). In der Kritik der reinen Vernunft könnte Kant diese Art der Erkenntnis übersprungen haben, weil er – gänzlich beschäftigt damit, die Aufmerksamkeit auf Moralität in den Begriffen ihrer Zwecke zu richten, so daß er die schlußendliche positive Folgerung seines ganzen Systems ziehen konnte – die Beleuchtung der grundsätzlicheren Doktrin des moralischen Gesetzes der Kritik der praktischen Vernunft überließ. Von den drei Arten „erkennbare[r] Dinge“, die in § 91 diskutiert werden, hat Kants Behandlung der „Meinung“ am wenigsten neue Informationen anzubieten. Sie ähnelt der früheren Diskussion der Wahrscheinlichkeit und Hypothese in § 90: Meinung ist nur in unsicheren empirischen Fällen angebracht, für welche es eine vorherige sinnliche Basis oder prinzipiell eine spätere Bestätigung geben kann (467), die jedoch noch nicht bewiesen sind. Der größte Anteil der Diskussion betrifft Gegenstände, die aus dem Bereich empirischer Überprüfbarkeit ausgeschlossen sind, wie beispielsweise „Ideen der Vernunft“, die über die Reichweite möglicher Erfahrung hinausgehen. Unter der Rubrik der „Tatsachen“ führt Kant Fälle an, die durch theoretische Anschauung – entweder empirisch oder rein (wie z. B. geometrische Eigenschaften) – aufgewiesen werden können. Daran aber knüpft er die von ihm selbst „merkwürdig“ genannte Bemerkung, daß sich die „objektive Realität“ der menschlichen Freiheit in ihrer absoluten und theoretischen Bedeutung (als unverursachtes Verursachen) als eine „Vernunft idee“ „durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin der Erfahrung dartun läßt“ (468). Das ist offensichtlich eine Bezugnahme auf die neue Doktrin des „Faktums der Vernunft“, wie sie in der Kritik der praktischen Vernunft (V 42) vorgestellt wird. Kants starke positive Behauptung an dieser Stelle mag auf den ersten Blick den Anschein erwecken, eine dogmatische Verletzung seiner generellen kritischen Restriktion zu sein, daß wir durch „Erfahrung“ nicht die Wahrheit in irgendwelchen nichtsinnlichen und unbedingten Angelegenheiten bestimmen und deshalb unsere absolute Freiheit nicht bewei-
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sen oder auch nur wahrscheinlich machen können. Was Kants gewagte Behauptung in § 91 mindestens mit seinem kritischen System kompatibel machen kann, ist jedoch der Fakt, daß er klarmacht, daß er sie nur auf die praktische Vernunft gründet. Darüber hinaus versteht Kant, daß selbst diese grundsätzlichsten Behauptungen der praktischen Vernunft (das moralische Gesetz und die Freiheit) keinen Grund liefern, welcher der Widerlegung radikaler Skepsis dienen kann (vgl. „die hartnäckigste Zweifelssucht“, KrV A 829/B 857). Sie drücken schlicht aus, daß, wenn jemand Moralität im fundamentalen Kantischen Sinne akzeptiert, was den Kategorischen Imperativ mit einbezieht, es dann folgt, daß jemand in der Tat behaupten kann und sollte, frei zu sein und seine tatsächlichen Handlungen als Ausdrücke dieser Freiheit zu begreifen. Die vorausgesetzte grundlegende Wahrheit, die diesem „Faktum“ unterliegt, impliziert aber nicht, daß man wirklich moralisch (das heißt aus Pflicht) handelt oder auch nur die Priorität der Moralität intendiert. Dies liegt daran, daß Kant glaubt, daß zwar alle menschlichen Akteure sehen können, daß es die moralische Anforderung gibt, und damit implizit auch sehen, daß sie die Freiheit haben, auf diese zu reagieren, die meisten von ihnen aber nicht wählen, ihr zu folgen (KrV A 830/B 858 FN). So verstanden erfordert die Idee des moralischen Gesetzes und die Erkenntnis der Tatsache der Freiheit nicht eine spezielle pro-moralische Einstellung, und von ihr kann weiterhin behauptet werden, daß sie eine einzigartige konkrete metaphysische Wahrheit sei, die allgemein zugänglich ist. Sie nimmt die Form dessen an, was selbst Kants Logik eine gewisse „Erkenntnis“ (Logik IX 68 FN, XVI 513) nennt, und deshalb sollte es nicht überraschen, wenn sie in der Kritik der Urteilskraft als eine „Tatsache“ anstelle eines Glaubens angeführt wird, selbst wenn er sie nicht direkt „Wissen“ nennt. Kant sollte ebenso nicht auf die Weise mißverstanden werden, daß er behauptete, unsere Freiheit sei etwas wortwörtlich Gegebenes im Sinne jeglicher Art einer Anschauung einer unverursachten Verursachung als solcher, selbst in grundlegender moralischer Erfahrung. Was gegeben ist, ist das Bewußtsein des moralisches Gesetzes und dann, innerhalb und nur auf Basis mindestens einer Anerkennung dieses Gesetzes, kann man behaupten, daß man sich selbst (qua Voraussetzung) dabei als frei ansehen muß – „unmittelbar“, das heißt in genau diesem Bewußtsein und seinen analytischen Voraussetzungen, und doch auf „noumenalem“ Weg, das heißt auf eine Weise, die nie durch sinnliche Evidenz garantiert werden kann. Ungeachtet all dieser Vorbehalte ordnet Kant hier weiterhin die Wirklichkeit unserer Freiheit (und ihrer ratio cognescendi) in die Rubrik der „Tatsache“ und nicht des „Glaubens“ ein. Als eine „Tatsache“ würde sie
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weiterhin die Gewißheit einer objektiven Fundierung, die gemäß Kants Logik nur im Wissen im Gegensatz zum Glauben gefunden werden kann, implizieren. Aber § 91 geht nicht explizit so weit, und obgleich die Logik zugesteht (IX 72), daß es eine gewisse moralische „Erkenntnis“ gibt, fährt sie, wie die Kritik der reinen Vernunft, sehr schnell damit fort, die verschiedenen Themen des „moralischen Vernunftglaubens“ bzw. der Postulate zu diskutieren, die sie als ein subjektives statt objektives Fürwahrhalten beschreibt – obgleich Kant erlaubt, daß selbst hier die subjektiven Gründe „so viel als objektive“ gelten (wenn auch auf eine „nicht logische, sondern praktische“ Weise). Es sollte nicht vergessen werden, daß sogar die paradigmatischen Urteile Kants theoretischer Philosophie von ihm selbst mancherorts „subjektiv“ statt „objektiv“ genannt werden, schlicht in dem Sinne, daß sie mit Fällen der Erfahrung zu tun haben, welche transzendental ideal sind. Weiterhin bleibt es – obwohl Kant zeitweilig den speziellen Charakter der ersten Person des Glaubens betont und den Anschein erwecken mag, daß er wegen der Einbeziehung der freien Verpflichtung des Subjekts diesen Charakter auf die moralische Erkenntnis an sich ausweitet (Logik IX 70; vgl. KrV A 829/B 857) – wahr, daß er der Behauptung verpflichtet ist, alle rationalen Akteure könnten notwendigerweise eine Anerkennung des moralischen Gesetzes und selbst der Wahrheiten des Glaubens teilen, weshalb diese Angelegenheiten auf keinen Fall subjektiv in einem bloß individuellen oder willkürlichen Sinne sind. Darüber hinaus legt Kant in der Kritik der reinen Vernunft nahe, daß es eine Subjektivität im Glauben gibt, die mit der Tatsache zu tun hat, daß es etwas über praktisches Wissen gibt, das man nicht mitteilen kann, weil es beinhaltet, was er „moralische Gesinnung“ nennt (KrV A 829/B 857). Und doch, spätestens in der Kritik der praktischen Vernunft, stellt Kant klar heraus, daß, wie privat die Gesinnung und die freien Entscheidungen des moralischen Akteurs auch sein mögen, die echte Erkenntnis des moralischen Gesetzes ihre letztendliche Fundierung bleibt, und dieses Gesetz ist nicht nur ein „natürliches Inter esse“ (KrV A 830/B 858 FN), sondern eine Wahrheit, deren universelle Gültigkeit selbst über die Menge aller natürlichen Wesen hinausgehen kann. Deshalb kann argumentiert werden, daß Kant so weit hätte gehen sollen, explizit zumindest die grundlegenden moralischen Erkenntnisse der praktischen Vernunft (das moralische Gesetz und Freiheit) nicht anders denn als „objektive“ Formen des Fürwahrhaltens und eventuell sogar als „Wissen“ zu bezeichnen. Statt dessen hat es zeitweilig den Anschein, daß er die besondere Komplexität der nicht unmittelbaren praktischen Erkenntnisse der „zwei Artikel des Glaubens“, „Gott und ein künftig Leben“ (KrV A
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rationale Wesen also immer nach Konsequenzen Ausschau halten, die uns glücklich machen, kann keine dieser Konsequenzen für sich selbst eine direkte und notwendige Verbindung zu unserem Wollen, oder, deswegen, einen notwendigen Wert haben. Die grundlegende metaphysische Unterscheidung zwischen Absicht und Produkt ist es also, die Kant sowohl dazu führt, jegliche Annahme abzulehnen, der zufolge Glück einen unbedingten Wert hat (s. Langton 2007), als auch weiterhin dafür zu argumentieren, daß wir als endliche Wesen unausweichlich und richtigerweise interessiert daran sind, anzustreben, was auch immer auf indirektem Weg garantieren könnte, daß unsere Handlungen irgendwie die richtigen Konsequenzen haben und uns proportional zu entsprechenden Absichten zum Glück führen. Dieses Bedürfnis, für eine mögliche „Garantie“ zu sorgen, ist genau das, was Kants dritten und höchsten Typ des Fürwahrhaltens definiert, den moralischen Glauben. Glaube umfaßt eine dreistufige Entwicklung, zuerst von der Erkenntnis des grundlegenden moralischen Gesetzes zur Anerkennung des höchsten Guts als eines notwendigen Ideals, dann zum Erkennen und Anerkennen der notwendigen Bedingungen einer möglichen Verwirklichung des höchsten Guts und zuletzt zum annähernd oder vollständig verwirklichten höchsten Gut selbst, das Wirklichkeit zusätzlich zum Akteur selbst und nicht ein bloßes Ideal darstellt. Weil die Beziehung zwischen allen drei Objekten des Glaubens und unseren ursprünglichen moralischen Absichten metaphysisch eher extern als intern ist, muß unser Vertrauen in ihre Existenz oder Verwirklichung sehr beschränkt ausfallen, das heißt, daß es Gründe erfordert, die nicht nur – wie die Gründe unserer Behauptung der Freiheit – in dem Sinne subjektiv sind, daß sie auf praktischer Vernunft basieren. Es erfordert Gründe, die als subjektiv in einem besonderen und reflexiven Sinne gelten können, schlicht weil sie eine gefährliche externe Beziehung beinhalten, für welche es uns immer an bestimmender Sicherheit mangeln wird. Diese Gefährlichkeit ist, denke ich, der ausschlaggebende Grund, warum Glaube davor bewahrt werden muß, als das, was Kant eine Sache des Wissens nennt, betitelt zu werden, selbst wenn er dadurch ausgezeichnet ist, daß er mehr als Meinung ist und eine Grundlage hat, die für alle menschlichen Akteure verbindlich besteht. In der Logik sagt Kant, daß der Glaube wegen seines Verhältnisses zur Handlung generell über bloße Meinung hinausgeht: „So bedarf z. B. der Kaufmann, um einen Handel einzuschlagen, daß er nicht bloß meine, es werde dabei was zu gewinnen sein, sondern daß er es glaube, d. i. seine Meinung zur Unternehmung aufs Ungewisse zureichend sei“ (Logik IX 68 FN, XVI 513; vgl. Steven-
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son 2003, 92 u. Chignell 2007, 345). Mit „Glauben“ in diesem allgemeinen Sinne meint Kant offenbar eine praktische rationale Einstellung, die nicht nur Angelegenheit der individuellen Subjektivität ist, sondern eine Basis in der Anerkennung externer Faktoren hat, die relevant für jemandes „Unternehmen“ sind. Solch „externer Faktoren“ wegen gibt es eine unvermeidliche Gefahr bei allen Formen des Glaubens, nicht nur dem moralischen, auf den sich in § 91 Kants Hauptaugenmerk richtet. In der Kritik der reinen Vernunft, anders als in der Kritik der Urteilskraft, gab Kant in diesem Zusammenhang zusätzlich der Diskussion des „pragmatischen“ und „doktrinalen“ Glaubens Raum (KrV A 824 ff./B 852 ff.). Die erste Art des Glaubens gleicht dem Kaufmannbeispiel; letzteres ist Kants Ausdruck für die Einstellung, die mit dem physikoteleologischen Argument einhergeht. Kant klassifiziert diese Einstellung als eine Form eher der theoretischen als der praktischen Vernunft. Was diese beiden Arten des Fürwahrhaltens gemein haben, ist, daß sie bezüglich kausaler Verbindungen die Gefahren in einer Weise implizieren, die über gewöhnlichen wissenschaftlichen Vernunftgebrauch hinausgeht und eng verknüpft ist mit Anliegen, die wir mit Handlungen verfolgen – wenn auch auf sehr verschiedene Arten und Weisen: Der pragmatische Glaube ist an einen „Lohn“ geknüpft, an dem wir ein empirisches praktisches Interesse haben, der doktrinale an das Auffinden eines Standpunkts, der es uns erlauben würde, die ganze natürliche Welt um uns herum selbst als einen Ort der Handlung im wortwörtlichen Sinne zu verstehen, als Artefakt einer absichtlichen Ursache und nicht bloß eines blinden Mechanismus. Vor diesem Hintergrund kann Kant als jemand gelesen werden, der etwas ziemlich Realistisches und Vertretbares meint, wenn er sagt, daß moralischer Glaube „nur“ „in praktischer Beziehung“ gültig ist. Wir können sein Hauptanliegen hier abermals so auffassen, daß Glaube im allgemeinen externe Handlungen zum Thema hat („diese moralische Teleologie betrifft uns doch als Weltwesen und also als mit anderen Dingen in der Welt verbundenen Wesen“), das heißt eine wirkliche Trennung innerer Absichten und natürlicher Wirkungen (447). Er kann deswegen niemals die Art von interner Zugänglichkeit und demonstrativer Sicherheit haben, die Kant für Wissen im strikten Sinne reserviert, sei er Glaube über theoretische Gesetze oder grundsätzliche Gesetze der moralischen Vernunft. Glaube wird dieser Lesart zufolge nach wie vor als Fürwahrhalten von etwas, das es tatsächlich gibt, aufgefaßt; es ist nur so, daß er eine Einstellung ist, die der außerordentlichen Gefahr begegnen muß, alles, was auch immer schlicht in uns ist, zu überschreiten. Das ist kompatibel damit, daß Glaube verschiedene bedeutende Arten von Rationalität und Notwendig-
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keit impliziert, selbst wenn er über die Sicherheit bestimmender Urteile hinausgehen muß. Die verschiedenen Arten der Notwendigkeit (im folgenden als [A] bis [G] aufgeführt), die am Glauben beteiligt sind, müssen von ihren Voraussetzungen unterschieden werden. Das Erfassen der ursprünglichen bloßen Idee des höchsten Guts, das heißt, [A] seine Notwendigkeit als ein Teil des Ideals, das praktische Vernunft ausmacht, verlangt nicht selbst bereits Glaube, kann aber eine „praktische […] Vernunfterkenntnis“ (470) genannt werden, die Voraussetzung für Glauben ist. Das höchste Gut in diesem Sinne ist praktisch notwendig in einem reinen und nicht nur im Klugheits- oder hypothetischen Sinn, weil es für uns als moralische Akteure das einzige Ziel definiert, das von unentbehrlichem und unbedingtem Wert ist. Die Akzeptanz dieses Ideals ist überhaupt ein grundsätzlich freier, aber [B] „gebotener“ Glaube. Kant nennt deshalb dieses Ziel das einzige „unbedingte“ „Bedürfnis“, das wir haben, und deshalb läßt es das „Primat des Praktischen“ (s. Gardner 2006) erkennen, im Unterschied zu allen bedingten Plänen, bei denen theoretische Informationen angehäuft werden, oder selbst im Unterschied zu dem Versuch, abzuleiten, daß die gegebene theoretische Komplexität der natürlichen Welt eine mindestens ebenso komplexe externe und von einer Absicht geleitete Ursache verlangt. Die Primat-Doktrin bedeutet nicht, daß Behauptungen der praktischen Vernunft in jeglicher Hinsicht primär sind, da sie wie alle anderen Behauptungen, die verantwortungsvoll für wahr gehalten werden können, die allgemeinen theoretischen Bedingungen für Erkenntnisgewinn einhalten müssen. In dem Sinne stellt sich das Wissen, das in den grundlegenderen Formen des Fürwahrhaltens – etwa den Wahrheiten der Wissenschaft und ihren transzendental idealen Erklärungen – enthalten ist, ebenso als eine notwendige Bedingung für Glauben heraus. Während es praktisch notwendig ist, daß rationale Akteure, egal was sie tun, Interesse an einem extern verwirklichten Zweck ihrer Handlungen haben, ist der einzige bestimmte in normativer Hinsicht notwendige Zweck als das höchste Gut definiert. Deshalb ist es eine „gebotene Wirkung“ und als eine Wirkung [C] verlangt seine erforderte Verfolgung (anders als nur interne Anerkennung) nach Glaube: „Diese gebotene Wirkung, zusamt [D] den einzigen für uns denkbaren Bedingungen ihrer Möglichkeit, nämlich dem Dasein Gottes und der Seelenunsterblichkeit, sind Glaubenssachen […], und zwar die einzigen unter allen Gegenständen, die so genannt werden können“ (469). Die Passage „[die] einzigen für uns denkbaren Bedingungen“ ist eine wichtige Einschränkung und signalisiert, daß diese Gegenstände des Glaubens, anders als das bloße mora-
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lische Gesetz und sein ideales Ziel, nur für unsere reflektierende Urteilskraft notwendig sind. Wir werden dahin gelenkt, sie innerhalb des Kontextes unberechenbarer Variablen unseres wirklichen Handelns zu postulieren, ohne das bestimmende Urteil fällen zu können, daß es keinen anderen Weg gibt, über den sich das beabsichtigte Ergebnis einstellt. In dieser Hinsicht sind die Postulate derselben grundsätzlichen Gefahr ausgesetzt wie jede Hypothese (451); es mag etwas anderes als die „einzigen Bedingungen“, die wir sehen können, geben, aber dieses Andere befindet sich schlicht nicht in der Reichweite unseres reflektierenden Urteils. Im moralischen Fall mündet unser reflektierendes Urteil jedoch unausweichlich in eine Handlung, weil wir, wenn tatsächlich kein anderer Weg des rationalen Vorgehens für uns im Blick ist, den Postulaten beipflichten müssen. In der Logik (IX 73) sagt Kant, wir müßten „zuvörderst überlegen, das heißt sehen, zu welcher Erkenntniskraft ein Erkenntnis gehöre“. In diesem Kontext kann Reflexion zeigen, daß uns, obgleich es keine theoretischen Wege gibt, über die wir „Wissen“ darüber erlangen können, wie die notwendigerweise „gebotene Wirkung“ des höchsten Guts wirklich möglich ist, angeboten bleibt, an die Postulate zu glauben, um nicht die eigenen praktischen Anforderungen der Vernunft an unsere Handlungen aufgeben zu müssen. Das gesamte Argument Kants für die Postulate setzt eindeutig einige sehr gewichtige, aber weitgehend implizite empirische Prämissen voraus, z. B. diese, daß die Welt morgen nicht ganz von selbst oder durch eine bizarre Umordnung des Kosmos oder eine weltweite Revolution plötzlich in beste Ordnung gebracht wird. Mithin setzt Kant nicht nur die grundsätzlichen Notwendigkeiten voraus, die von dem bloß praktischen „Faktum der Vernunft“ impliziert werden, das heißt die Kernerfahrung des Bewußtseins des moralischen Gesetzes, sondern auch [E] verschiedene reflexive Notwendigkeiten (bzw. Unmöglichkeiten), welche die zusätzliche „Erfahrung“ mit sich bringt, daß die Welt, die unseren sinnlichen Erkenntnisvermögen offen steht, nicht von sich aus auch nur annähernd ein Ort der sich selbst belohnenden Moralität ist. Kant setzt voraus, daß seine Reflexion nicht dazu führte und nicht dazu führen wird, irgendwelche unentdeckten „Erkenntnisvermögen“ zu enthüllen, die aufzeigen könnten, wie wir uns unabhängig vom Glauben auf die Idee des höchsten Guten beziehen könnten. Es ist eben die jetzige Situation, in der wir „gezwungen“ sind, dem zuzustimmen, was der einzige für uns vorstellbare und [F] deswegen notwendige Weg ist, die Einheit unserer Vernunft als Ganzer zu bewahren, nämlich durch das Postulieren der theoretischen Tatsachen der Existenz nicht-natürlicher Entitäten, welche die Zwecke unserer praktischen Vernunft ermöglichen.
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Wenn Kant den Glauben den „beharrlichen Grundsatz des Gemüts, das, was zur Möglichkeit des höchsten moralischen Endzwecks als Bedingung vorauszusetzen notwendig ist, […] als wahr anzunehmen“ nennt (471; 472 wiederholt: „ohne ihn [den Glauben] hat die moralische Denkungsart […] keine feste Beharrlichkeit“), macht er ihn eindeutig zu einer Form des „Fürwahrhaltens“ im allergrundlegendsten Sinne. Er muß wortwörtlich ein „Halten“ implizieren und nicht ein nur gelegentliches Sagen oder Annehmen, weil er etwas damit zu tun hat, einen Weg zu finden, [G] konstant ein Projekt des Handelns auf ein sicheres Ziel hin und angesichts der Tatsache, daß es keine theoretische Evidenz dafür gibt, es jemals zu erreichen, beizubehalten. Und er hat dabei mit einer wörtlichen Verpflichtung zur Wahrheit zu tun, weil wir unserem eigenen reflektierenden Urteil zufolge von nichts außer den Entitäten, die postuliert wurden, vorstellen können, daß sie das gebotene Ziel verwirklichen. Kant bemerkt, daß sein Glaubensbegriff auf keine Weise äquivalent ist zu dem, was man den „historischen“ Begriff von „Glaube“, ausgedrückt in Vertrauen in die Wahrhaftigkeit des Zeugnisses und der biblischen Darstellung außergewöhnlicher Ereignisse (469; vgl. Logik IX 73 FN), nennen könnte. Die Kantische Art Glaube übersteigt gänzlich empirische Evidenz, während Kant annimmt, daß die Behauptungen des traditionellen Glaubens Tatsachen innerhalb der sinnlichen Welt betreffen, prinzipiell an empirischer Evidenz gemessen werden müssen und deshalb Behauptungen darstellen, die nur theoretisch und kontingent, nicht praktisch und notwendig sind. Am Ende allerdings pflichtet Kants Glaube dennoch der mutigen Kernbehauptung seiner religiösen Tradition bei: Daß wir denken und es für notwendigerweise rational halten sollten, das jede natürliche Existenz auf einen Schöpfer zurückzuführen ist, der den „bestimmenden Begriff […] eines moralischen Urhebers in der Welt“ erfüllt (474) und zu seinem letztendlichen Anliegen nichts weniger als genau dasselbe Anliegen hat, dessen wesentliche co-agierenden Co-Produzenten wir sind, nämlich das höchste Gut. All dies ist denkbar, weil die praktische Vernunft sich anschickt, ein gemeinsames bestimmendes Gesetz anzubieten, eine Formel der Vernunft für uns und diesen moralischen Urheber. Der analoge Vernunftgebrauch, der gänzlich erfolglos im Bereich theoretischer Teleologie war, stellt sich nun als zentral für den Erfolg der Moralteleologie heraus, und das gesamte System Kants endet in nicht weniger als einer Verteidigung von Theologie in einem wörtlichen und rationalen Sinne.
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19.3 Allgemeine Anmerkung zur Teleologie Seine abschließende Anmerkung beginnt Kant damit, seine Standardeinwände gegen die ontologischen und kosmologischen Argumente noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Er betont anschließend erneut, daß das physikoteleologische Argument, egal wie wohlwollend es interpretiert wird, nicht Anfang eines Beweises für ein Wesen mit Kräften, die festgelegt genug sind, den Begriff Gottes als eines höchsten Wesens zuzulassen, sein kann (477). Keine Menge feinjustierter Ordnungen in der Natur beweist die Anwesenheit eines allmächtigen oder perfekten Wesens (480). Kant betont außerdem, daß dieser Argumenttyp nicht erklären kann, warum Natur überhaupt existiert, sondern nur in der Lage ist, auf einen Verstand zu verweisen, der einfach die Gestalt, welche Natur annimmt, hergerichtet haben könnte, nämlich die Gestalt eines komplexen organischen Ganzen. Dieser Punkt soll einen Kontrast bilden zu den reicheren Folgerungen des moralischen Glaubens, aber man kann durchaus fragen, ob selbst Kants moralischer „Urheber“, wie Kant es hier wiederholt tut, als ein wortwörtlicher Schöpfer der Natur begriffen werden muß statt nur als ihr „weiser Architekt“ in bezug auf eine dazugehörige moralische genauso wie natürliche Komplexität (vgl. Adams 1979). Man könnte ferner argumentieren, daß der moralische Architekt nicht wörtlich allmächtig, allgütig und allwissend sein muß; ein Seiendes oder eine Gruppe Seiender, die ausreicht, eine Situation des höchsten Guts hervorzubringen, könnte alles sein, was das moralische Argument verlangt. Zusätzlich zur Wiederholung einiger der früheren kritischen Themen bekräftigt Kants Anmerkung die vorrangige positive Wichtigkeit der Erklärung des Glaubens. Obwohl der größte Teil der Kritik der Urteilskraft dem Phänomen natürlicher Teleologie gewidmet ist, der er den Verdienst zugesteht, uns auf das moralische Argument zu stoßen, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf die augenscheinlich erstaunliche Zweckmäßigkeit organischer Formen lenkt (478), stellt sich das Phänomen dieser Formen nicht als entscheidend heraus. Selbst mit einer Welt, die als lediglich mechanisch aufgebaut begriffen und uns nicht ästhetisch beeindrucken würde, könnte man das moralische Argument anbringen (479), und darum ist es nicht nur eine „Ergänzung“ zur Physikotheologie, sondern ein selbstgenügsamer Ersatz. Kant geht außerdem so weit zu argumentieren, daß das moralische Argument näher an der traditionellen Theologie ist, als es Physikotheologie jemals wird sein können, da der moralische Glaube Religion als „[die] Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (461, Kants Herv.) umfaßt. Dies ist ein Thema, das er in seinem späteren Werk weiterführend wieder
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aufnimmt (s. Religion und Hare 2001). Hier scheint er primär darum besorgt zu sein klarzustellen, daß Gott nicht als ein zufälliger Schöpfer moralischer Werte aufgefaßt werden sollte. Wir können ganz im Gegenteil sagen, daß die Anweisungen Gottes, eben weil unser Wissen von Gott durch unser vorgängiges Wissen über Moralität vermittelt wird, sich als übereinstimmend mit den normativen Standards, die wir bereits aus einer prä-theologischen „Erkenntnis unserer Pflichten“ kennen, herausstellen müssen. Im vorletzten Absatz des Buches wendet Kant sich unvermittelt einem ernsten „vorgebliche[n] Widerspruch“ zwischen den Behauptungen seiner Moralteleologie und dem, „was die Kritik der spekulativen Vernunft von den Kategorien sagte“ (482), zu. Der abschließende, sich über drei Seiten erstreckende Absatz zielt darauf ab, die „Befremdung“ zu beenden, die Kant bei denen vermutet, welche sehen, daß er darauf insistiert, „sie [die Kategorien] zu einer Erkenntnis Gottes“ (ebd.) zu gebrauchen. Die Lösung ist zu sagen, daß dieser Gebrauch nicht die Grenzen, die unserem Wissen durch die erste Kritik gesetzt sind, verletzt, weil er „nicht in theoretischer […], sondern lediglich in praktischer Absicht“ (ebd.) vorgenommen wird. Die letzte Herausforderung bei der Aufgabe, Kants System zu verstehen, besteht nun darin, einen Weg zu finden, dieses Merkmal seiner Moralteleologie so zu lesen, daß es weder in einen unzulässigen Dogmatismus zurückführt noch irgendeiner Behauptungskraft der „Objektivität“ und „Wahrheit“ beraubt wird, die sich, nach unserer früheren Analyse, als erlaubt herausgestellt hat. Es gibt zwei sich direkt widersprechende Wege zu versuchen, die Passage „lediglich in praktischer Absicht“ zu lesen, einen engen eher objektiven und einen weiteren eher subjektiven. Gemäß der starken, objektiven Lesart ist alles, was gebraucht wird, eine Unterscheidung zwischen Prämissen und ihrer epistemischen Kraft sowie Konklusionen und ihrer ontologischen Bedeutung. Zu sagen, daß etwas „praktisch“ in diesem Sinne ist, bedeutet schlicht zu sagen, daß ein Teil seiner Rechtfertigung etwas mit Überzeugungen zu tun hat, die nicht vollkommen theoretisch und sicher sind. Das würde auf keine Art und Weise die Behauptung untergraben, daß die Konklusionen dennoch als in ihrem Wortlaut wahr gemeint dastehen können (Kant nennt die Konklusionen „theoretische Sätze“, KpV V 122); es würde nur bedeuten, daß sie zum Teil auf normativen und reflektierenden anstelle von deskriptiven und bestimmenden Urteilen basieren. In Gegensatz dazu würde eine streng subjektive Lesart sagen, daß von den Postulaten nicht behauptet wird, daß sie objektiv im Wortsinne seien; sie sind nur Formeln, die eines bloß psychologischen Effekts wegen ins Feld
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geführt werden, namentlich, um die Selbstverpflichtung eines moralischen Akteurs weniger schwächeanfällig zu machen (vgl. Guyer 2000). Jede dieser Lesarten hat etwas Rückendeckung. Subjektivistische Interpreten würden zweifellos von Kants Aussage, daß „ihm [dem Wesen Gott, der im moralischen Argument postuliert wurde] Verstand beizulegen und es dadurch, als durch eine Eigenschaft desselben, erkennen zu können sich schmeicheln, keineswegs erlaubt ist“ (489, Kants Herv.; vgl. 457), bestätigt werden. Objektivistische Interpreten würden betonen, daß Kant fortfährt wie folgt: „Aber nach der Analogie mit einem Verstande kann ich, ja muß ich mir wohl in gewisser anderer [praktischer] Rücksicht selbst ein übersinnliches Wesen denken, ohne es gleichwohl dadurch theoretisch erkennen zu wollen […] da alsdann ein Erkenntnis Gottes und seines Daseins (Theologie) durch bloß nach der Analogie an ihm gedachte Eigenschaften und Bestimmungen seiner Kausalität möglich ist, welches in praktischer Beziehung, aber auch nur in Rücksicht auf diese (als moralische) alle erforderliche Realität hat“ (485, Kants Herv.). Was mit der einen Hand weggenommen wird, scheint beinahe mit der anderen Hand zurückgegeben zu werden. Das heißt, daß der Objektivist sagen könnte, daß Kant uns einfach davor warnt, daß die Zuschreibung nicht behauptet, auf nur theoretischer Evidenz zu basieren, und nicht sagt, daß sie eine sichere Bestimmung „in theoretischer [Absicht] (nach dem, was seine uns unerforschliche Natur an sich sei)“ (482), darstelle. Dieser Lesart zufolge ist Moraltheologie weiterhin nicht begrenzt darauf, nur psychologische Aussagen über menschliche Subjekte zu machen, sondern ist ein rationalerweise eigenes Fürwahrhalten von Behauptungen über eine transzendente Entität, obgleich nur auf eine nicht-theoretisch begründete Weise und nur in bezug auf verschiedene Beziehungen, welche die transzendente Entität zu uns hat. Mit anderen Worten, das moralische Argument kann erschließen, was früher als die zweite und dritte Ebene noumenaler Bedeutung bezeichnet wurde, selbst wenn es nicht zur vierten und höchsten Ebene aufsteigen kann, das heißt zur Bestimmung dessen, was ein transzendentes Wesen ganz für sich genommen ist. Noch einmal anders ausgedrückt: Wir finden uns auf rationalem Wege dazu angewiesen, durchzusetzen, was praktische Erkenntnis für ihre gebotenen Wirkungen verlangt: „Es ist also wohl eine Ethikotheologie möglich; denn die Moral kann zwar mit ihrer Regel [dem grundsätzlichen moralischen Gesetz], aber nicht mit der Endabsicht [dem höchsten Gut und seinen Bedingungen, z. B. einem Wesen mit dem Vermögen eines weisen und guten Gottes], welche ebendiese auferlegt, ohne Theologie bestehen, ohne die Vernunft in Ansehung der letzteren im Bloßen zu lassen“ (485).
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Das mag klingen als ob Kants theologische Schlußfolgerungen, selbst wenn sie auf einem starken Umweg erreicht werden, nach allem gänzlich objektiv sind. Genau bevor Kant beginnt, dieses ganze Problem zu behandeln, betont er jedoch, daß wir die Theologie „lediglich zur Religion, d. i. dem praktischen, namentlich dem moralischen Gebrauche der Vernunft in subjektiver Absicht“ (482) benötigen. Hier kann man sich immer noch wundern, warum denn der Bezug zur Subjektivität gebraucht wird. Warum ist ein praktisches Argument noch mehr über Subjektivität besorgt als ein theoretisches Argument, wo doch in jedem Fall beide auf unseren begrenzten Geist Bezug nehmen müssen? Die beste Antwort, denke ich, ist es, daß Kants ewige Wiederholung, die Subjektivität betreffend, nicht an der bloßen Tatsache hängt, daß unser Geist, oder daran, daß Moralität (im Gegensatz zu Logik oder Wissenschaft) überhaupt beteiligt ist (weil das moralische Gesetz selbst die grundlegende Objektivität einer Tatsache hat), sondern daran, daß ein „letztes Ziel“ beteiligt ist, und das schließt verschiedene und kontingente Wirkungen ein, Wirkungen, die an unser Streben nach Glück durch Erfüllung in einer Welt, die eben nicht unserer Kontrolle obliegt, geknüpft sind. Der klarste Grund für diese Lesart taucht in einer Fußnote eines Abschnitts vor der „Anmerkung“ selbst auf. Hier erklärt Kant, daß, wenn er das moralische Argument „subjektiv, für moralische Wesen, hinreichendes“ anstelle von „objektiv-gültig[es]“ (450 FN, Kants Herv.) nennt, dies nichts mit dem zu tun hat, was „zur Sittlichkeit notwendig“ ist, nämlich das moralische Gesetz selbst, sondern eher mit einer Annahme bezüglich der „Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen“ (ebd.). Anders gesagt haben wir ein charakteristisches und letztlich kontingentes Bedürfnis, das befriedigt werden muß, etwas Wirkliches und von uns Verschiedenes in dieser Welt zu fühlen – und deswegen nicht in der Lage zu sein zu wissen, wie die Befriedigung mittels irgendeines unserer Vermögen des bestimmenden Urteilens stattfinden soll. Dieses Bedürfnis ist es, welches dem moralischen Argument das spezielle Kennzeichen der „Subjektivität“ verleiht. Solange auf diesem Weg klar ist, was die genaue Basis für Kant darstellt, das moralische Argument und den Glauben als Dinge, die unverwechsel- und unvermeidbar „Subjektivität“ erfordern, zu bezeichnen, solange ist es wahrscheinlich egal, welches Wort man allgemein nimmt, um seine Position zu charakterisieren. Selbst ein „Objektivist“ sollte nicht davon überrascht sein, daß, insofern Glaube am Ende in Richtung auf Glück orientiert ist, er einen speziellen subjektiven (ebenso wie objektiven) Charakter in der Kantischen Philosophie haben würde.
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Urteilskraft und Sittlichkeit. Ein moralischer Rückblick auf die dritte Kritik
20.1 Einführung Nach der orthodoxen Lektüre geht es der Kritik der reinen Vernunft vornehmlich um dreierlei: um Erkenntnistheorie, komplementär dazu um Gegenstandstheorie, schließlich um ein neues, mit den Einzelwissenschaften endlich konkurrenzfähiges Philosophiekonzept, um die kritische Transzendentalphilosophie mit dem synthetischen Apriori als ihrer Schicksalsfrage. Eine heterodoxe, vielleicht sogar häretische Lektüre (Höffe 2006) korrigiert weder den Philosophiebegriff noch die Schicksalsfrage, wohl aber das wie selbstverständlich unterstellte Leitinteresse. Der überwiegende Teil der ersten Kritik, ihre „Elementarlehre“, untersucht zwar das Erkenntnisvermögen, sowohl dessen Möglichkeiten als auch Grenzen. Die nur im Umfang kleinere, durch die Gliederung als zweiter Teil aber für gleichrangig erklärte „Methodenlehre“ geht jedoch über eine Erkenntnistheorie weit hinaus. Und wer die „Elementarlehre“ unvoreingenommen liest, stößt dort, namentlich in der dritten Antinomie, auf Hinweise, die die zweite Auflage der Kritik noch verstärkt, da Kant sie hier schon in das (neue) Motto und in die ebenfalls neue „Vorrede“ aufnimmt: Nach ihrem Weltbegriff im Unterschied zum Schulbegriff dient die Philosophie letztlich dem einzig notwendigen Zweck, der Sittlichkeit. In diesem Sinn sucht Kant „allen Einwänden wider Sittlichkeit […] auf sokratische Art, nämlich durch den klärsten Beweis der Unwissenheit der Gegner, auf alle künftige Zeit ein Ende zu machen“ (KrV B xxxi). Die sokratische, vor allem negative Art, Moral-Skeptiker und MoralLeugner zu widerlegen, wird in der zweiten Kritik um ein positives und zugleich konstruktives Vorgehen ergänzt. Kant zeigt, daß die Moral als
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reine praktische Vernunft zu denken ist; er begründet ihr Kriterium, die Verallgemeinerbarkeit von Maximen; und im Faktum der Vernunft stellt er ihre eigentümliche Wirklichkeit vor. Das, was viele Leser in der ersten Kritik noch übersehen, tritt also in der zweiten Kritik unübersehbar zutage: Kants moralisch-praktisches Leitinteresse. Wie aber verhält es sich in der dritten Kritik? Auf den ersten Blick hat sie mit der Moral wenig, in positiver Hinsicht recht eigentlich nichts zu tun. Denn die Fähigkeit, zum Besonderen das Allgemeine aufzusuchen, die reflektierende Urteilskraft, richtet sich auf Gegenstandsbereiche, die der Moral fremd sind: Die ästhetische Urteilskraft untersucht am ausführlichsten das Schöne, das gegen das (moralisch) Gute ausdrücklich abgesetzt wird; und der Hauptgegenstand der teleologischen Urteilskraft ist von der Moral meilenweit entfernt. Der zweite Blick nimmt eine gründliche Korrektur vor. Sieht man von der „Einleitung“ ab, so besteht die Kritik der Urteilskraft aus sieben größeren Teilen: aus (1) der „Analytik des Schönen“, (2) der „Analytik des Erhabenen“, (3) der „Deduktion der reinen ästhetischen Urteile“, (4) der „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“, (5) der „Analytik der teleologischen Urteilskraft“, (6) der „Dialektik der teleologischen Urteilskraft“ und (7) deren „Methodenlehre“. Von den ersten vier, ästhetischen Teilen hat jeder einzelne einen bedeutsamen Bezug zur Sittlichkeit bzw. Moral: In der „Analytik des Schönen“ gilt das ästhetische Ideal als Ausdruck von Sittlichkeit; nach der „Analytik des Erhabenen“ ist dieser Gegenstand mit der Moral verwandt; nach der „Deduktion“ läßt ein Interesse am Naturschönen eine Anlage zur Moral vermuten; schließlich erklärt die ästhetische Urteilskraft in ihrer „Dialektik“ die Schönheit zum Symbol der Sittlichkeit. Bei den drei teleologischen Teilen findet sich zwar ein wichtiger Moralbezug nur im letzten Teil, dort aber sehr ausführlich, zudem auf zwei sich ergänzende, sogar sich steigernde Weisen: Einerseits gilt der Mensch als Endzweck der Natur, dieses freilich nur als Moralwesen, andererseits entwickelt Kant einen moralischen Gottesbeweis. Wegen dieser erstaunlich vielfachen Bezugnahme auf die Moral darf man die Moral als ein Band ansprechen, das den unterschiedlichen Themen der dritten Kritik zu einer gegenüber dem Titelbegriff, der (reflektierenden) Urteilskraft, zwar nachgeordneten, aber nicht zu unterschätzenden Einheit verhilft. Und in dem Maß, wie dieses zutrifft, erweist sich die Moral als ein Einheitsband von Kants gesamtem kritischen Werk. Der in allen drei Schriften prominente Titelbegriff, die „Kritik“, betont zwar andere Gemeinsamkeiten, namentlich die richterliche Auseinandersetzung mit Dogmatismus und Empirismus (einschließlich Skeptizismus)
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und die Suche nach jener Erkenntnisart, dem synthetischen Apriori, die die Philosophie zur eigenständigen Wissenschaft befähige. Simplifizieren, nämlich auf einen einzigen Gesichtspunkt einschränken, darf man also die Einheit von Kants kritischem Denken nicht. Aus diesem Grund, dem Veto gegen ein übermäßiges Vereinfachen, darf man allerdings jenes Einheitsmoment nicht vernachlässigen, das im Titelbegriff „Kritik“ fehlt und doch ein wesentliches, wenn auch nicht das exklusiv dominante Motiv Kants kritischer Transzendentalphilosophie ausmacht; es besteht im Interesse an der Sittlichkeit bzw. Moral.
20.2 Das ästhetische Ideal als Ausdruck von Sittlichkeit Zunächst taucht die Moral in Kants Theorie des Schönen nur negativ auf. In der ausführlichen „Analytik“ wird das Schöne gemäß den vier Titeln der Urteilstafel aus der ersten Kritik auf vierfache Weise bestimmt. Kant grenzt es dabei jeweils von zwei anderen Arten positiven Begehrens ab, von dem lustvollen Wohlgefallen des Angenehmen und vom vernunftbestimmten Wohlgefallen des (moralisch) Guten. Läßt man das Angenehme beiseite, so ist schön, was lediglich gefällt, gut dagegen, was geschätzt, gebilligt wird. Für das Schöne ist ein freies, interesseloses Wohlgefallen, die Gunst, eigentümlich, für das Gute hingegen die Achtung: Der Qualität nach gefällt das Schöne ohne alles Interesse, während sich das Gute mit einem Interesse am Dasein des Gegenstandes verbindet. Nach demselben Muster geht es weiter; zum Schönen gehört jeweils ein Ohne, zum Guten ein Mit: Der Quantität nach ist schön, was ohne Begriff, gut dagegen, was mit einem Begriff gefällt. Der Relation nach ist eine Form der Zweckmäßigkeit schön, sofern man sie ohne, gut dagegen, sofern man sie mit Vorstellung eines Zwecks wahrnimmt. Schließlich ist der Modalität nach schön, was ohne, gut dagegen, was mit Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird. Wegen dieser durchgängig negativen Bestimmungen ist es erstaunlich, daß Kant sowohl in dem „Deduktion“ überschriebenen Teil der ästhetischen Urteilskraft als auch in deren „Dialektik“ eine positive und zugleich konstruktive Beziehung von Schön und Gut behauptet. Liegt hier eine Unstimmigkeit, vielleicht sogar ein Widerspruch vor? An einer Stelle der vierteiligen Begriffsklärung greift Kant der positiven Beziehung vor. Beim „Ideal der Schönheit“ (§ 17) überträgt er die aus der Kritik der reinen Vernunft bekannten Begriffe auf das Ästhetische: Das Urbild des Geschmacks ist eine bloße Idee, also ein Vernunftbegriff. Genauer ist lediglich von einem
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Quasi-Vernunftbegriff zu sprechen, denn die ästhetische Idee bezieht sich nicht wie eine Idee der ersten Kritik auf objektive Erkenntnis, sondern auf eine nur subjektive Allgemeinheit. Das Ideal bleibt aber die Vorstellung eines einzelnen als eines der Idee adäquaten Wesens (die erste Kritik, B 596 f., bestimmt sie als eine Idee „in individuo“); es ist ein absolutes Maximum, das Größte an Vollkommenheit. Die erste Kritik versteht allerdings die Begriffe moralisch: Als Idee wird die Tugend genannt und als deren individuelle Verkörperung, als deren Ideal, der stoische Weise. In der ästhetischen Urteilskraft wandert nun Kant von der Moral zum Geschmack, das ästhetische Ideal, das des Schönen, bleibt aber eine individualisierte Idee. Es ist das konkrete Urbild des Geschmacks, das aber nicht mehr wie beim Weisen in Gedanken existiert. Denn das Denken vollzieht sich in Begriffen, die dem Schönen seiner Qualitäts-Definition zufolge fehlen. Aus diesem Grund tritt ein für die Schönheit zuständiges Vermögen auf den Plan, die Einbildungskraft, und das Ideal des Schönen ist lediglich deren Ideal, nicht das der Vernunft. Allerdings hält Kant nicht jede Schönheit für idealisierbar, sondern lediglich jene, die ‚durch einen Begriff von objektiver Zweckmäßigkeit fixiert‘ sei. Das wiederum sei nur bei dem möglich, was den „Zweck seiner Existenz in sich selbst“ habe, also beim Menschen, aber auch bei ihm nicht schlechthin, sondern lediglich, sofern er noch eine bestimmte Qualifikation erfüllt. Zu deren Bestimmung führt Kant zwei sich ergänzende Begriffe ein: Eine musterhafte Darstellung, die ästhetische Normalidee, gibt es auch für nichthumane Wesen. Beispielsweise gelingen Myron, dem griechischen Bildhauer, vollkommene Tier-Darstellungen. Im Ausdruck „Normalidee“ ist nämlich „Normal“ nicht im Sinne von Durchschnittsbild der Einbildungskraft (Eisler 1964, 251) zu verstehen. Gemeint ist die das Wesen der jeweiligen Gattung, etwa einer Kuh oder eines Menschen, treffende „Norm“ (vgl. Deutsches Wörterbuch XIII 899: „NORMAL […] als norm dienend oder ihr gemäß“). Als Beispiel für den Menschen führt Kant Polyklets berühmten Speerträger (Doryphorus) an. Obwohl eine derartige Darstellung das Muster für vollkommene Harmonie in den Proportionen eines menschlichen Körpers abgibt, schätzt er sie degradierend als bloß schulgerecht ein (235). Im Unterschied zur Normalidee kommt im Ideal etwas Sittliches zur Erscheinung. Es macht etwa Seelengüte oder Reinigkeit, Stärke oder Ruhe „in körperlicher Äußerung […] gleichsam sichtbar“ (ebd.). Man darf hier das einschränkende Wörtlein „gleichsam“ nicht überlesen. Als ein Begriff, den nur die Vernunft denken kann, als etwas Übersinnliches (Noumenales), läßt sich das Sittliche selbst nicht versinnlichen. Sogar dort, wo man zum
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Beispiel die Seelengüte nicht durch eine menschliche Figur symbolisiert, sondern sie selbst darzustellen vermag, erreicht man keine eigentliche und volle, sondern lediglich eine Als-ob-Versinnlichung des Sittlichen. Kant selbst nennt als Beispiel von Symbolisierung eine Maschine „wie etwa eine Handmühle“ für einen despotischen Staat und einen „beseelten Körper“ (352) für einen nach Volksgesetzen beherrschten monarchischen Staat. Um nun die Seelengüte nicht bloß zu symbolisieren, sondern sie selbst zu versinnlichen, muß man einen Mensch, naheliegenderweise sein Gesicht, so darstellen, daß die Art und Weise, wie der Mensch blickt, die gemeinte sittliche Haltung ausdrückt. Im § 59 unterscheidet Kant noch zwei Arten der Versinnlichung, die direkte im Schema eines Verstandesbegriffs und die indirekte, analogische im Symbol eines Vernunftbegriffs. Auch wenn er nicht ausdrücklich die symbolische Versinnlichung gegen das gleichsam-Sichtbarmachen absetzt, besteht zwischen beiden ein Unterschied. Es ist eines, die Gerechtigkeit in einem Symbol auszudrücken, etwa als eine Frau mit verbundenen Augen (für Unparteilichkeit), mit einer Waage (für ein sorgfältiges Abmessen und eine strenge Proportionalität von Schuld und Strafe) und einem Schwert (für Strafbefugnis, bis hin zur Todesstrafe), etwas anderes, einen gerechten Menschen darzustellen. Nur im zweiten Fall gelangt eine innerliche Kraft zu einer ‚körperlichen Äußerung (als Wirkung des Innern)‘, womit man sittlichen Ideen, „die den Menschen innerlich beherrschen“, zu einem sichtbaren Ausdruck zu verhilft (235). Nun könnte man einwenden: Warum soll Polyklets Speerträger nicht dasselbe leisten können, also beispielsweise gesammelte Kraft, sprich: Stärke und zugleich Ruhe, auszudrücken? Kant würde sagen, im sittlichen Sinn sei Stärke als Tapferkeit und Ruhe, als „tranquillitas animi“, als Gemütsruhe und heitere Gelassenheit zu verstehen. Diese Eigenschaften wären aber weniger wie bei Polyklet im Gesamtkörper als dort auszudrücken, wo am deutlichsten das Innere eine äußere Darstellung findet, eben im Gesicht. Und dieses Gesicht, müßte Kant fortfahren, würde in Polyklets Speerträger weder Tapferkeit noch heitere Gelassenheit hinreichend deutlich versinnlichen.
20.3 Verwandtschaft mit der Moral: das Erhabene Beim zweiten Gegenstand der ästhetischen Urteilskraft, dem Erhabenen, steigert sich noch die Bedeutung der Moral. Sie taucht hier nicht bloß in einem schmalen, zudem außergewöhnlichen Bereich des Gegenstandes,
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dem ästhetischen Ideal, auf. Vielmehr ist sie für den gesamten Gegenstand wichtig, sogar in der starken Form einer Verwandtschaft. Diese wird zwar auf das moralische Gefühl bezogen und auf das Schöne erweitert (Allg. Anm. 267, 17 ff.), die Verwandtschaft der ästhetischen Urteilskraft mit dem moralischen Gefühl wird aber nur für das Erhabene erläutert. Der Grund dürfte in der größeren Bedeutsamkeit liegen; nur beim Erhabenen reicht die Verwandtschaft bis in den Begriffskern: Eine schiere Übermacht der Natur wie zum Beispiel ein sturmempörter „Ozean“ (261) erscheint nur dann als erhaben, wenn er dazu motiviert, die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit einer höheren, letztlich absoluten Zweckmäßigkeit zu beschäftigen. Die schiere Übermacht der Natur taucht bei Kant in zwei Gestalten auf. Beim mathematisch Erhabenen ist etwas schlechthin (im Sinne von unendlich, absolut), über allen Vergleich groß. Dabei wird die Überlegenheit, das Vermögen des Absoluten und der Totalität, die Vernunft, gleichsam anschaulich gemacht. Beim dynamisch Erhabenen erscheint dagegen die Natur als eine Macht, die trotz ihrer Übermacht keine Gewalt über uns hat, womit der Mensch sich als selbst der allgewaltigen Natur überlegen erfährt. Indem beim Erhabenen sinnliche Naturerscheinungen als für einen möglichen übersinnlichen Gebrauch tauglich beurteilt werden (Allg. Anm. 267), findet ein „Widerstand gegen das Interesse der Sinne“ statt. Genau darin, im entsprechenden Urteil einer Tauglichkeit für das Übersinnliche, liegt die Verwandtschaft von ästhetischer Urteilskraft und moralischem Gefühl. Kant nimmt hier Bezug auf die moralische Kultur. Unter Kultur ist daher nicht der Bereich der schönen Künste zu verstehen, die dann moralischen Forderungen unterworfen werden. Näher bei der ursprünglichen Bedeutung von Pflege, Verbesserung und Verfeinerung geht es um jene Ausbildung der Anlagen und Begabungen, mit deren Hilfe der Mensch seine anfängliche „Rohigkeit“ überwindet (vgl. § 83 und schon Idee, Vierter Satz). Nun lassen sich Urteile über das Erhabene nicht so leicht und so selbstverständlich wie die über das Schöne fällen. Denn das Gemüt muß schon für Ideen empfänglich geworden sein. Dafür bedarf es, sagt Kant, der Kultur. Wo sie, die Entwicklung der einschlägigen Begabungen, fehlt, folglich noch keine sittlichen Ideen entwickelt sind, also beim „rohen Menschen“, nimmt man die Gewalt der Natur nicht als erhaben, sondern lediglich als „abschreckend“ wahr (265). Daß man bei der Betrachtung der rauhen Größe der Natur nicht einfachhin voraussetzen darf, Wohlgefallen zu empfinden, bekräftigt Kant bei der „Mittelbarkeit der Empfindung“ (§ 39). Man darf das Wohlgefallen aber
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„jedermann ansinnen“ (292), also zumuten, sogar abverlangen. Allerdings ist der Ausdruck „jedermann“, was selten so deutlich gesehen wird, einzuschränken. Nicht wirklich jedem Menschen kann man das Wohlgefallen abverlangen, es sei denn, man beginnt mit einem Proto-Verlangen, nämlich der Aufforderung an jeden Menschen, ein Gefühl für seine übersinnliche Bestimmung zu entwickeln. Kant selbst führt dieses Proto-Verlangen nicht ein, weshalb man ihm zufolge das Wohlgefallen nur bei dem Menschen erwarten kann, der schon vorab ein Gefühl für seine übersinnliche, also moralische Bestimmung entwickelt hat. Das Gefühl darf freilich „dunkel“, gewissermaßen schwach entwickelt sein; es braucht keine klare, unmißverständliche Präsenz. Weil jedenfalls beim Erhabenen, aber nicht beim Schönen das moralische Gefühl vorausgesetzt ist, erweist sich das Erhabene als weit stärker mit der Moral verbunden denn das Schöne. Daß es für die Erhabenheitsurteile Kultur braucht, bedeutet nicht etwa, diese Urteile seien konventionell. Im Gegenteil, sagt Kant, haben sie eine Grundlage in der menschlichen Natur, in der „Anlage zum moralischen Gefühl für (praktische) Ideen“ (265). Kant spricht sogar von einer dem moralischen Gefühl ähnlichen Gemütsstimmung und schränkt diese Ähnlichkeit auf das Erhabene ein. Schon beim Schönen gebe es eine „Unabhängigkeit des Wohlgefallens vom bloßen Sinnengenusse“. Es handele sich freilich mehr um die „Freiheit im Spiele“ als um die für die Sittlichkeit charakteristische Freiheit, bei der die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antue. Im Erhabenheitsurteil wird hingegen „diese Gewalt durch die Einbildungskraft selbst, als durch ein Werkzeug der Vernunft, ausgeübt vorgestellt“ (268, 35–269, 4). Und darin dürfte jene größere Verwandtschaft des Erhabenen mit der Moral liegen, die auch äußerlich, in der weit intensiveren Erörterung zutage tritt.
20.4 Moral im Interesse am Naturschönen Obwohl die Schönheit in einem von allem Interesse freien Wohlgefallen besteht, erlaubt sie die Frage, welches Interesse man am Schönen habe. Es ist freilich eine Interessefrage zweiter Stufe, nämlich die Frage nach dem Interesse am interesselosen Wohlgefallen. In der ästhetischen Urteilskraft, in der Mitte des mit „Deduktion“ überschriebenen Teiles, stellt Kant diese Frage unter dem Gesichtspunkt, ob das Interesse am Schönen „Zeichen eines guten moralischen Charakters“ sei. Der positiven Antwort gesteht er eine ‚gutmütige Absicht‘ zu. Ihr widerspreche jedoch, wie der Gegner „nicht ohne Grund“ sage, die
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„Erfahrung“, daß „Virtuosen des Geschmacks“ gewöhnlich „eitel, eigensinnig und verderblichen Leidenschaften ergeben“ sind (298). In dem damit skizzierten Streit schlägt sich Kant auf keine der beiden Seiten. Er unterscheidet zwischen dem Interesse am Kunstschönen und am Naturschönen und vertritt sodann für das Kunstschöne die negative, für das Naturschöne aber die positive Antwort. Hier vertritt er zwar einen Vorrang des Natur- vor dem Kunstschönen; er behauptet jedoch nicht, wie oft gesagt wird, eine ästhetische Priorität. Weder erklärt Kant, das Naturschöne sei dem Kunstschönen in dem Sinne überlegen, daß es in der Natur mehr Schönheit oder größere Schönheit als in der Kunst gebe, zugespitzt: Natur ist schöner als Kunst. Noch erklärt er im Kriterium des Schönen, dem interesselosen Wohlgefallen, gäbe es eine Steigerung, so als ob man die pure Privation, die reine „-losigkeit“, mehren, das Naturschöne noch interesseloser als das Kunstschöne gefallen könnte. Denn die Interesselosigkeit im Begriff des interesselosen Wohlgefallens ist absolut gemeint; es gibt keinerlei Interesse, Punkt; hier läßt sich nichts steigern. Dasselbe trifft auf die Mittelbarkeit zu. Das Wohlgefallen am Kunstschönen ist um nichts weniger jedermann anzusinnen als das Wohlgefallen am Naturschönen. Ohnehin herrscht beim ästhetischen Ideal der umgekehrte Vorrang des Kunstschönen vor dem Naturschönen. Denn die höchste Stufe des Ästhetischen im Bereich der Schönheit ist der Mensch, der Sittlichkeit ausdrückt. Die Priorität liegt also bei einer thematisch bestimmten künstlerischen Darstellung. Der im § 42 vertretene Unterschied betrifft einen neuen, nicht mehr innerästhetischen Aspekt. Es handelt sich nicht bloß um den Geschmack, sondern zusätzlich um eine indirekte, „Interesse“ genannte Lust an der Existenz eines Gegenstandes. Ein derartiges Wohlgefallen am Dasein findet man nach Kant aber nicht am Kunstschönen, sondern lediglich am Naturschönen. Für die negative Antwort, „nicht am Kunstschönen“, fehlt freilich jedes Argument. Kant behauptet lediglich: „daß das Interesse am Schönen der Kunst […] gar keinen Beweis einer dem Moralisch guten […] geneigten Denkungsart abgebe“. Ein „Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen“, sei dagegen „jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele“. Dabei ist „gut“, wie die Fortsetzung des Satzes zeigt, als „moralisch gut“ zu verstehen. Und dort, wo „dieses Interesse habituell ist“, zeige es „eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung“ an (298 f.). Da bei einem moralischen Interesse alles empirische Interesse beiseite bleiben muß, stellt Kant, um das im vorangehenden § 41 erörterte empirische, näherhin soziale Interesse an der Mitteilung ästhetischer Einschät-
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zungen voll auszuschließen, ein Gedankenexperiment an. Er geht von einer ‚einsamen‘ Person aus, der also jede „Absicht, seine Bemerkungen mitteilen zu wollen“, fehlt. Wenn nun diese Person „die schöne Gestalt einer wilden Blume, eines Vogels, eines Insekts usw. betrachtet, um sie zu bewundern, zu lieben“ (299), wenn sie die schöne Gestalt selbst dann nicht gern vermissen will, vielmehr an ihrem Dasein Wohlgefallen empfindet, obwohl sie keinen Nutzen erwartet, sogar Schaden zu befürchten hat (z. B. weil die Blume einen giftigen Duft ausströmt, der Vogel aggressiv ist und das Insekt wie eine Mücke lästig oder wie ein Malaria-Überträger gefährlich ist), so nimmt diese Person, weil sie von allem empirischen Interesse abgekoppelt ist, an der Schönheit der Natur ein rein intellektuelles Interesse. Sie findet „gleichsam Wollust für seinen Geist“ (300, 3 f.). Zu einem derart rein intellektuellen Interesse ist aber nur ein a priori durch Vernunft bestimmter Wille fähig (296, 28 f.). Man kann sich, gegen Kant kritisch, überlegen, ob das Kunstschöne nicht nach denselben Bedingungen bewundert und geliebt werden könne. Auch ein Gedicht, ein Lied oder ein schönes Gebäude kann man „ohne Absicht, seine Bemerkungen andern mitteilen zu wollen“ (299), also im Kantischen Sinn einsam betrachten. Man kann Poesie, Musik und Architektur auch ohne einen Nutzen, vom Ästhetischen abgesehen, lieben und ein Wohlgefallen an ihrem Dasein haben, selbst wenn „dadurch einiger Schaden geschähe“ (ebd.). Der „moralische“ Vorrang des Naturschönen leuchtet aber noch nicht ein. Warum aber liegt überhaupt eine moralische Bedeutung vor? Nach Kant „kann das Gemüt über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden“ (300, 31 ff.). Dieses Interesse sei aber der Verwandtschaft nach moralisch; der stillschweigende Grund: Man hat, was für die Moral typisch ist, kein empirisches, vielmehr ein intellektuelles Interesse. Auf die Anschlußfrage, warum das Interesse am Naturschönen mit der Moral nur verwandt und nicht selber moralisch ist, kann man antworten: Weil sich das Interesse auf die Betrachtung der Natur beschränkt. Kontemplativer, nicht praktischer Natur verbleibt es im Bereich der Urteilskraft und geht nicht ins Begehren und von dort schließlich ins Handeln über. Warum ist aber die Verwandtschaft nicht vom bescheidenen Typ des Symbols bzw. der Analogie? Warum hat man „Ursache, wenigstens eine Anlage zu guter moralischer Gesinnung zu vermuten“ (301)? Im Interesse am Schönen findet statt, was für die Moral nicht nur typisch, sondern auch eigentümlich, spezifisch ist. Daß etwas geschätzt und gebilligt wird, geht über die für die Schönheit charakteristische Gunst hinaus. Man
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unternimmt nämlich etwas, das keinerlei Nutzen erbringt, das eventuell sogar das Eigenwohl beeinträchtigt. Allerdings beschränkt es sich auf das Kontemplative, da man weder in die Natur noch in die Gesellschaft eingreift. Infolgedessen läßt sich, daß man in seinem Handeln moralisch ist, zumindest eine Anlage dazu besitzt, nur vermuten.
20.5 Schönheit als Symbol der Sittlichkeit Die „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“ gipfelt im Gedanken der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit. Die hier einschlägige Antinomie besteht nach Kant im Gegensatz, daß das Geschmacksurteil nicht auf Begriffe gründe, da man andernfalls über Geschmack nicht disputieren (so die These), und daß es doch auf Begriffen gründe, da man sonst über Geschmack nicht streiten könne (Antithese). Kants Auflösung der Antinomie gibt beiden Seiten Recht, aber nur mit einer Einschränkung: In Übereinstimmung mit der Antithese gründet er das Geschmacksurteil auf einen Begriff, in Übereinstimmung mit der These aber auf einem unbestimmbaren, daher zur Erkenntnis untauglichen Begriff. An diese Auflösung schließt sich die Behauptung vom moralischen Symbolcharakter der Schönheit. Im Unterschied zum ästhetischen Ideal findet sich dieses Moralpotential nicht bloß beim Menschen bzw. dessen Darstellung, vielmehr ist jede Schönheit, alle Kunst- und alle Naturschön heit, zu diesem Symbolcharakter fähig. Ein Symbol ist nach Kant die Versinnlichung eines Begriffs, die im Unterschied zu dessen Schema den Begriff nur indirekt darstellt. Die bloße Indirektheit hat ihren Grund in der Art des darzustellenden Begriffs. Einem Begriff, „den nur die Vernunft denken kann“, also bei einem Begriff wie der Sittlichkeit, kann „keine sinnliche Anschauung angemessen sein“ (351). Um trotzdem nicht alle Segel zu streichen, sondern doch noch eine Versinnlichung vorzunehmen, kann es nur als empirische Anschauung in Form einer Analogie, eben als ein Symbol, geschehen. Dabei wird die Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andersartigen, nämlich jeder Anschauung sich sperrenden Begriff übertragen. Im genannten Beispiel Kants, einer Maschine wie der Handmühle als Symbol für einen despotischen Staat, wird keinerlei Ähnlichkeit von Maschine und Staat behauptet. Für sich genommen hat eine Handmühle keinen staatlichen noch weniger einen despotischen Charakter. Die Ähnlichkeit bestehe lediglich zwischen den Regeln, nach denen man über die Kausalität beider reflektiere. Die Maschine und der despotische Staat
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folgen zwar unterschiedlichen Gesetzen, beide gehören aber zur selben, mechanistischen Art von Gesetzen. Die Schönheit als Symbol der Sittlichkeit sagt nicht, ausschließlich jene Gegenstände oder Darstellungen seien schön, in denen sittlich Gutes und keinesfalls Schlechtes oder sogar Böses dargestellt werde. Andernfalls sprächen Darstellungen von Lastern und Sünde, vom Teufel oder der Hölle, später Baudelaires Fleurs du mal (Blumen des Bösen) gegen Kants These. Noch weniger behauptet Kant, Kunst solle sich um das ästhetische Ideal bemühen, solle also möglichst Moralisches zum Ausdruck bringen, infolgedessen sich auf die Darstellung etwa von Seelengüte oder moralischer Stärke konzentrieren. Gemäß der Leitaufgabe der „Dialektik“ geht es um die Fähigkeit von Geschmacksurteilen, mitteilbar zu sein und die Beistimmung von jedermann zu finden. Bei dieser Fähigkeit handelt es sich nicht um eine vielleicht hochwillkommene, aber für das Wesen der Schönheit verzichtbare Zusatzleistung, vielmehr steht das Wesen selbst zur Debatte: Wie jede transzendentale Kritik so sucht auch die dritte Kritik ein synthetisches Apriori und findet die für jedes Apriori charakteristische Allgemeinheit in der bloß subjektiven Allgemeinheit des interesselosen Wohlgefallens. Den dafür zuständigen gemeinschaftlichen Sinn, den sensus communis aestheticus (295), hatte Kant in den mittleren Paragraphen des mit „Deduktion“ überschriebenen Teiles der ästhetischen Urteilskraft untersucht. Dieses Lehrstück wird, wie meist übersehen, erst in der „Dialektik“ und ihrem „Symbol“-Paragraphen zu Ende gebracht. Erst hier erklärt Kant, daß das Schöne nur als („in Rücksicht“) Symbol des Sittlichguten gefällt. Ohne diesen Symbolcharakter, also bei fehlendem Bezug auf das Sittlichgute, kommt es nicht zu der für ästhetische Urteile wesentlichen allgemeinen Mitteilbarkeit. Zur Bestärkung und zugleich Präzisierung ergänzt Kant, daß es tatsächlich um das im strengen Sinn allgemeine Gefallen, nämlich um eines mit dem „Anspruche auf jedes anderen Bestimmung“, geht (353). Für die Beziehung zum Sittlichen gibt Kant noch einige Erläuterungen, die der in der „Analytik“ so betonten Eigenständigkeit des Schönen, darüber hinaus der Autonomie von Kunst zu widersprechen scheinen. Einerseits sei die Symbol-Beziehung des Schönen zum Sittlichguten für „jedermann natürlich“, andererseits sei die genannte Beziehung „jedermann anderen als Pflicht“, selbstverständlich zu verstehen: als moralische Pflicht, zuzumuten (ebd.). Zum Wesen des Erhabenen gehört ein moralisches Selbstbewußtsein (s. Abschnitt 20.4). Kant hatte das Schöne nachdrücklich gegen die Moral
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scharf abgesetzt. Erstaunlicherweise spricht er ihr hier etwas zu, das sich dem Begriff des Erhabenen annähert: Beim Schönen werde sich das Gemüt „einer gewissen Veredlung“ bewußt. Kant ergänzt „und“, was man explikativ lesen darf: Die Veredlung des Gemüts geschieht dadurch, daß es sich der „Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneseindrücke bewußt“ (353) ist. Der Ausdruck „Sinneseindrücke“ erinnert an den sinnlichen Charakter alles Schönen, der Ausdruck Lust daran, daß die sinnlichen Objekte angenehm sein könnten, eine Option, die aber beim Schönen, so der Ausdruck „Veredlung“, überwunden wird. Worin liegt oder aber zeigt sich der Symbolcharakter? Beide, das Schöne und das Sittlichgute, haben einen intelligiblen Charakter; auch die Urteilskraft ist mit „dem Übersinnlichen verknüpft“. In diesen Fällen ist das zuständige Vermögen, dort die Urteilskraft, hier das Begehrungsvermögen, nicht „einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterworfen“. Das Vermögen gibt sich vielmehr „selbst das Gesetz“, womit Kant die Autonomie auch der Urteilskraft zubilligt (353). In der 1. Einleitung KU, Abschnitt VIII, spricht er ausdrücklich von Autonomie. Er charakterisiert sie aber im Unterschied zur objektiven Autonomie der „Vernunft, in praktischen Gesetzen der Freiheit“, und erstaunlicherweise, weil den Begriffen der ersten und zweiten Kritik widersprechend, zur ebenfalls objektiven Autonomie der Naturgesetze des Verstandes als „bloß subjektiv“. Genauer nennt er sie Heautonomie, „da die Urteilskraft nicht der Natur, noch der Freiheit, sondern lediglich ihr selbst das Gesetz gibt“ (XX 226). Kants nähere Erläuterung hebt den Widerspruch vom nichtmoralischen Begriff und moralischen Symbolcharakter der Schönheit als bloß scheinbaren Widerspruch auf. In vierfacher Weise ist das Schöne dem moralisch Guten analog, aber auch nur analog. Beide Dinge sind also inhaltlich verschieden und nur formal ähnlich: (1) Beide gefallen unmittelbar, das Schöne aber nur in der reflektierenden Anschauung, die Sittlichkeit dagegen im Begriff. (2) Beide gefallen ohne alles Interesse, jenes, das Schöne, überhaupt ohne, dieses, das Sittlichgute, ohne ein dem Urteil vorhergehendes Interesse. (3) Bei beiden herrscht Freiheit vor, dort in der Einbildungskraft, hier im Willen, was dort Heautonomie und nur hier die Autonomie bedeutet. (4) Bei beiden wird das Beurteilungsprinzip als allgemeingültig vorgestellt, dort aber bloß subjektiv, hier dagegen objektiv. Diese vierfache Analogie mache verständlich, warum man schöne Gegenstände (sowohl der Natur als auch der Kunst) mit scheinbar sittlichen Eigenschaften versehe, zum Beispiel Gebäude oder Bäume majestätisch und Farben unschuldig oder bescheiden nenne.
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Der Symbolcharakter bedeutet also nicht, daß das Schöne im Gegensatz zur anfänglichen Begriffsbestimmung einen moralischen Charakter hat, ebensowenig hat das Moralische einen Schönheitscharakter. Zwischen beiden Sphären, die streng unterschieden bleiben, besteht nur eine Beziehung der Analogie. Diese muß man auch in der anderen Richtung lesen können. Obwohl Kant es nicht ausspricht, da es in seinem Diskussionszusammenhang darauf nicht ankommt, muß wegen des Analogiecharakters die Umkehrung zutreffen: Das Sittlichgute ist Symbol des Schönen.
20.6 Teleologie und Moral In der teleologischen Urteilskraft taucht die Moral sehr spät auf, ist dann aber um so gewichtiger präsent. Kant setzt bei der mehrfachen Bedeutung des Zwecks an und gelangt über die objektive und die objektiv-materiale zur inneren Zweckmäßigkeit von Organismen. Bei ihnen findet nun die kausal-mechanische Erklärung eine Grenze, allerdings keine Schranke. Auch organische Prozesse lassen sich nämlich mechanisch erklären, die entsprechende Erklärung soll sogar gesucht werden. Um aber das Organische als Organisches zu verstehen, zum Beispiel als etwas, das von sich selbst Ursache und Wirkung ist („reflexive Kausalität“) und bei dem sich das Ganze und die Teile wechselseitig bedingen („Teile-Ganzes-Reziprozität“), ist eine innere Zweckmäßigkeit anzunehmen, mithin teleologisch zu denken. Die Teleologie ist also für die Naturwissenschaft unverzichtbar, aber auf höchst bescheidene Weise. So braucht man sie nicht in jeder Naturwissenschaft, insbesondere nicht in der Physik, wohl aber in der Biologie. Weiterhin tritt sie nicht an die Stelle des mechanischen Denkens, sondern ergänzt es nur. Wer organische Prozesse im strengen Sinn erklären will, muß sie aus kausal-mechanischen Gesetzen ableiten. Mit deren Hilfe versteht man aber nicht die Eigentümlichkeit von Organismen, weder ihre reflexive Kausalität noch die Teile-Ganzes-Reziprozität. Jeder Naturforscher kann einem derart bescheidenen Anspruch der Teleologie bedenkenlos zustimmen. Denn hier werden keine geheimnisvollen, wissenschaftlich nicht nachweisbaren Kräfte eingeführt. Auch der Biologe bleibt zum rein innerwissenschaftlichen Forschen berechtigt, er ist sogar zu ihm verpflichtet, da lediglich kausal-mechanische Erklärungen als strenge Erklärungen gelten. Warum aber soll der Biologe von der bescheidenen Teleologie zur Moral und über die Moral sogar zu einem Gottesbeweis übergehen? Vorausge-
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setzt ist eine epistemische Neugier, eine noch nicht gestillte Wißbegier. Ihretwegen gibt sie sich mit einer Wissenschaftstheorie der Biologie nicht zufrieden, sondern geht weiter zu einer umfassenden Theorie der Gesamtnatur. Erst in dieser Theorie erhalten anthropologische, moralphilosophische und theologische Elemente einen prominenten Platz. Bei diesem thematischen Übergang verändert sich das argumentierende Subjekt. Nicht der Biologe als Biologe und auch nicht der Naturforscher als Naturforscher, sondern der Philosoph nimmt den Übergang vor. Dabei folgt er aber keinem Sonderinteresse, noch weniger beruft er sich auf ein Sonderwissen. Sowohl in motivationaler als auch in kognitiver Hinsicht bleibt alles Esoterische ausgeschlossen. Ebensowenig kommen Annahmen herein, die einige Nichtphilosophen bei der Philosophie befürchten, andere von ihr erhoffen: religiöse oder weltanschauliche Annahmen. Kant unterzieht sich lediglich einer Aufgabe, die sich der Philosophie generell stellt und die jedem Menschen dank seiner natürlichen Wißbegier offensteht; er will sowohl ein Thema zu Ende zu denken als auch Gründe radikal, bis zu ihren veritablen Wurzeln aufdecken. Der angedeutete Übergang hat nicht den Charakter eines Sprungs. Wie es im Zu-Ende-Denken anklingt, findet vielmehr ein immanenter Übergang statt. Dessen Argumentationshauptschritt lautet: Die mechanische und die teleologische Erklärung sind heterogen; sie können also nicht zugleich die Möglichkeit eines Dinges oder Vorganges erklären. Es braucht vielmehr zweierlei, eine übergeordnete Perspektive, die nur im Übersinnlichen liegen kann, und eine Hierarchie der Erklärungen, derentwegen die eine Erklärung der anderen untergeordnet ist. So erfolgt ein Hausbau nach mechanischen Gesetzen, unterliegt aber vorrangig der Absicht, dergleichen man überhaupt ein Haus und zusätzlich genau dieses Haus bauen will. Da in der Hierarchie der Erklärungen die Teleologie den Vorrang besitzt, denkt der zweite Argumentationshauptschritt das teleologische Denken zu Ende. Erster Teilschritt: Man denkt sich die gesamte Natur als ein teleologisch geordnetes Ganzes, als ein teleologisches System. Zweiter Teilschritt: Dafür braucht es einen Zweck, der nicht zugleich als Mittel existiert, also einen Endzweck. Dritter Teilschritt: Jedes Naturding kann einem anderen auch als Mittel dienen, also kann kein Naturding ein Endzweck sein. Viertens: Ein Wesen, das nicht Natur ist, ist ein moralisches Wesen. Fünftens: Das einzige „Naturwesen“, das wir als zugleich moralisches Wesen kennen, ist der Mensch. Er allein kann also Endzweck sein, dem vierten Teilschritt zufolge aber nicht als Naturwesen, sondern ausschließlich als Moralwesen.
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Warum, muß man sich fragen, findet die Argumentation nicht hier ihr Ende; warum führt Kant noch einen dritten Argumentationshauptschritt ein, der für das Übersinnliche eine Erklärung sucht und sie in einem moralischen Gottesbeweis gegeben sieht? Als einem Moralwesen kommt es dem Menschen auf eine Welt an, die unter moralischen Gesetzen steht, also auf eine sittliche Weltordnung. Der Mensch ist aber nicht nur ein Moral-, sondern zugleich ein Naturwesen, das infolge seines Naturcharakters, einer praktischen Sinnlichkeit, zum unmoralischen Handeln verführt werden kann und oft genug tatsächlich verführt wird. Die sittliche Weltordnung, bei der Kant auch von moralischer Teleologie spricht, kommt daher durch den Menschen allein nicht zustande. Damit die moralische Welt trotzdem wirklich werden kann, bedarf es eines obersten Gesetzgebers, der für beide Welten, die natürliche und die moralische Welt, gleichermaßen zuständig ist. Und dieser braucht, um seine Aufgabe moralisch zu erfüllen, außer Allwissen, Allmacht und Allgegenwart vor allem Allgüte und Allgerechtigkeit. Für die Annahme dieses Wesens, eines moralischen Welturhebers, hat der Mensch keinen demonstrativen Beweis, wohl aber einen moralischen Grund. Das höchste Gut, verstanden als Übereinstimmung des höchsten physischen Guten, der Glückseligkeit, mit dem Gesetz der Sittlichkeit, der Würdigkeit glücklich zu sein, ist ohne diese Annahme gar nicht möglich. So schließt die dritte Kritik mit Gedanken, die Kant in der zweiten Kritik entfaltet, die er sogar schon in der ersten skizziert hat, mit: den Menschen qua Moralwesen als Endzweck, mit der Annahme einer sittlichen Weltordnung, mit der Annahme eines moralischen Welturhebers als Bedingung der Möglichkeit einer sittlichen Weltordnung und mit dem moralischpraktischen Glauben als dem der Moraltheologie eigentümlichen kognitiven Status.
20.7 Vorläufige Bilanz Im Verlauf des knappen Jahrzehnts, das von der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bis zur Erstauflage der Kritik der Urteilskraft verstreicht, hat Kant seine kritische Transzendentalphilosophie in mancher Feinheit verändert. In einer wesentlichen, in seiner Tragweite aber selten bemerkten Hinsicht bleibt sein Programm aber unverändert. Kant entfaltet diese Hinsicht in einem argumentativ ungewöhnlich langen Atem. Infolgedessen entgeht Lesern, die den langen Atem nicht aufbringen, die Gemeinsamkeit. Ob Kant bei der objektiven Erkenntnis ansetzt (erste Kritik), bei
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praktischen Grundsätzen (zweite Kritik) oder beim Schönen, Erhabenen und der Zweckmäßigkeit (dritte Kritik) – um all diese Themen gründlich zu Ende zu denken, stellt er gegen Schluß der jeweiligen Schrift moralische Erörterungen an. In ihnen, in Erörterungen zu einer moralischen Welt, zu einem Urheber dieser Welt und zur besonderen „Wissens“-Art dieser Erörterungen, erreicht die kritische Transzendentalphilosophie einen, vielleicht sogar den Höhepunkt.
Literatur Deutsches Wörterbuch, hrsg. v. J. u. W. Grimm, Leipzig 1854–1960. Eisler, Rudolf 1930: Kant-Lexikon, Berlin; ND Hildesheim 1964. Höffe, Otfried 2006: Moral im Zeitalter der Naturwissenschaften: Eine häretische Einführung in Kants „Kritik der reinen Vernunft“, in: H. Lenk, R. Wiehl (Hrsg.), Kant Today – Kant aujourd’hui – Kant heute. Results of the IIP Conference, Actes des Entretiens de l’Institut International de Philosophie, Karlsruhe/Heidelberg 2004, Münster, 99–111.
Auswahlbibliographie 1. Originalausgaben Critik der Urtheilskraft von Immanuel Kant, Berlin/Libau bey Lagarde und Friedrich, 1790. – Zweyte Auflage, Berlin bey F. T. Lagarde, 1793. – Dritte Auflage, Berlin bey F. T. Lagarde, 1799. Außerdem sind drei Nachdrucke erscheinen: – Frankfurt und Leipzig 1792. – Neueste Auflage. Frankfurt und Leipzig 1794. – Neueste, mit einem Register vermehrte Auflage, Grätz 1797, 2 Bde.
2. Editionen Immanuel Kant. Kritik der Urtheilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademieausgabe), Berlin 1908, Bd. 5, 165–485; ND in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 5, 165–485. Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956–1964, Bd. 5, 233–620 (ND: Darmstadt 1963/64; seitenidentische Taschenbuchausgabe, Frankfurt/M. 1968, 12 Bde., hier: Bd. 10.) Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Gerhard Lehmann, Stuttgart 1986. Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Heiner Klemme, Sachanmerkungen v. Piero Giordanetti, Hamburg 2001. Immanuel Kant. Critik der Urtheilskraft (1793), hrsg. v. Andrea Marlen Esser, in: Kant’s gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Berlin, Abt. I, Bd. 4, erscheint voraussichtlich 2010.
3. Übersetzungen Bulgarisch Immanuel Kant. Kritika na sposobostta sa sejdenie, übers. v. Zevko Torbov, Sofia 1980/21994.
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Castiglione, Baldassare 160, 171 Chignell, Andrew 340 f., 349 Cicero, Marcus Tullius 143 Cohen, Ted 68, 77 Crawford, Donald 71 f., 77, 207, 209 Crowther, Paul 209 Cummins, Robert 237 f. Cunico, Gerardo 328
Bacon, Francis xi Barasch, Moshe 175, 188 Bartuschat, Wolfgang 25, 39, 207, 209 Batteux, Charles Abbé 174, 188 Baumgarten, Alexander Gottlieb 10, 21, 43, 58, 88, 97, 129 Beck, Lewis White 25, 39 Bekoff, Marc 237 f. Beiser, Frederick 334, 349 Bigelow, John 237 Blumenbach, Johann Friedrich 212 ff., 235 f., 238, 257, 276 ff., 283, 285 f. Blumenberg, Hans 114, 119, 197, 209 Bojanowski, Jochen 30, 34, 39, 203, 209 Bonnet, Charles 214, 257, 277 f., 282 f., 285 f. Bosanquet, Bernard 183, 188 Bourdieu, Pierre 126, 136 Bowler, Peter J. 276, 279, 286 Brandt, Reinhard 23, 25, 39, 41 f., 52, 57 f. Buffon, Georges-Louis Leclerc Comte de 235, 277 ff., 286 Buller, David J. 237 f. Burke, Edmund 10, 21, 99 f., 103, 119 Butts, Robert E. 254, 258
Eberhard, Johann August 220 Eigen, Manfred 280 f., 286 Eisler, Rudolf 354, 366 Empedokles 214 Epikur 187, 213 ff., 243, 251 f. Esser, Andrea Marlen 192, 209 Euklid 220 Euler, Leonhard 83, 220 Ewing, Alfred Cyrill 254, 258
Cadenbach, Rainer 183, 188 Camper, Petrus 214, 298 Carroll, Sean B. 280, 286 Cassirer, Ernst 209, 254, 258
Darwin, Charles 56 Demokrit 243, 251 Descartes, René 1, 292, 297, 308 Diderot, Denis 175, 188 Dubos, Jean-Baptiste Abbé 174 f., 188 Dumouchel, Daniel 99, 119 Düsing, Klaus 25, 39, 209, 282, 286
Fischer, Mark 257 f. Förster, Eckart 23, 25, 39, 229, 272 ff., 334, 359 Forster, Georg 214 Frank, Manfred 25, 39, 47, 58, 227, 238 Fricke, Christel 122, 126, 131, 133, 136 Gadamer, Hans-Georg 95, 97 Gardner, Sebastian 342, 349 Gerhardt, Volker 209 Gerhart, John 280 Ginsborg, Hannah 64, 67 f., 72 f., 76 f., 228, 238, 256 ff. Giordanetti, Piero 211, 213 f., 222 Girtanner, Christoph D. 276, 286 Godfrey-Smith, Peter 237 Goethe, Johann Wolfgang xii, 259, 273 f. Guillermit, Louis 100, 117, 119 Gunkel, Andreas 209 Guyer, Paul 64, 66 f., 69, 71 f., 75 ff., 202, 209
Personenregister Haller, Albrecht von 282 f., 286 Hampshire, Stuart 136 Hare, John E. 345 f., 349 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 80, 97, 273 f. Herder, Johann Gottfried 10, 21, 175, 188, 214, 278 Höffe, Otfried 2, 5, 21, 192, 198, 209, 222, 308, 351, 366 Home, Henry Lord Kames 217 Horstmann, Rolf-Peter 25, 39, 134, 136 Hume, David 1, 10, 41 f., 44, 47, 50 f., 58, 99, 214, 222 Huneman, Philippe 227, 235, 238, 281, 286 Jahn, Ilse 4, 21, 226, 238 Kaulbach, Friedrich 192, 210 Kirschner, Marc W. 280, 286 Kohler, Georg 71 f., 77, 140 ff., 145, 150 Krämling, Gerhard 202, 210 Kreines, James 228, 238 Kristeller, Paul O. 175, 188 Kulenkampff, Jens 67, 77 Kullmann, Wolfgang 281, 286 Lange, Friedrich Albert 213 f., 222 Langthaler, Rudolf 328 Langton, Rae 333, 340, 349 Lauder, Georg 237 f. Lebrun, Gérard 109, 119 Leibniz, Gottfried Wilhelm 1, 99, 214, 267 f., 274, 277 f., 282, 286 Lenfers, Dietmar 328 Lenhoff, Howard M. 282, 287 Lenhoff, Sylvia G. 282, 287 Lenoir, Timothy 235, 238 Linné, Carl von 278 f., 297, 306, 308 Locke, John 1, 197 Longuenesse, Béatrice 64, 69, 73, 77 Loock, Reinhard 328 Lovejoy, Arthur O. 276, 287 Lukrez 114, 213 ff., 222 Lyotard, Jean-François 118 f. Lysipp 92 Malebranche, Nicolas 281 f., 287 Marc-Wogau, Konrad 122, 136 Martínez Marsoa, Felipe 82, 97 Maupertuis, Louis Moreau de 235 McLaughlin, Peter 238, 254–258
377
Meiners, Christoph 220 Mendelssohn, Moses 10, 21, 175, 188 Menegoni, Francesca 329 Menzer, Paul 129, 136, 213, 222 Mertens, Helga 25, 39 Millikan, Ruth Garrett 237 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de 175 Montucla, Jean-Ètienne 220 Munzel, Felicitas 198, 210 Myron 354 Neander, Karen 237 Needham, John Turberville 235 Niethammer, Friedrich Immanuel 273 Nüsslein-Volhard, Chrsitiane 285, 287 Odebrecht, Rudolf 25, 39 Pargetter, Robert 237 Patzig, Günter 28, 39 Perlman, Mark 237 f. Platon 217–220, 222, 251 Plessing, Friedrich Victor Leberecht 220 Poggi, Stefano 222 Pollok, Konstantin 28, 39 Polyklet 92, 354 f. Pope, Alexander 214 Prauss, Gerold 27, 39, 203, 210 Pythagoras 219 f. Quarfood, Marcel 238 Recki, Birgit 145, 150, 192, 198, 202, 206 f., 210 Reinhold, Carl Leonhard 13 f., 23, 27, 85 Rescher, Nicholas 237 f. Richards, Robert J. 233, 235, 238 f. Richardus, Claudius 220 Ricken, Friedo 333, 349 Rilke, Rainer Maria 13, 21 Rivera de Rosales, Jacinto 81, 97 Roe, Shirley 282, 287 Roger, Jacques 281, 287 Roose, Theodor Georg August 4 Roux, Wilhelm 281, 287 Rovira, Rogelio 329 Ruse, Michael 276, 279 Sala, Giovanni B. 329 Sander, Klaus 281, 287
378
Personenregister
Santozki, Ulrike 42, 58 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 259, 273 Schiller, Friedrich 12 f., 21, 43, 87, 97, 273 Schlegel, Friedrich 43 Schopenhauer, Arthur 24 f., 39, 259 Schmitz, Hermann 329 Schultz, Johann 57 Seneca, Lucius Annaeus 54 f., 58 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 95, 99, 143 Sloan, Phillip R. 277, 287 Spinoza, Baruch de 1, 243 f., 251 f., 319 Stadler, August 25 f., 39 Stevenson, Leslie 340 f., 349 Sulzer, Johann Georg 175, 188, 217–220, 222
Triebener, Ingolf 329
Thales 220 Thurnherr, Urs 192, 210 Tiedemann, Dietrich 220 Tiffany, Monika K. 143, 147, 150 Timmermann, Jens 203, 210 Trembley, Abraham 226, 282
Zammito, John H. 228, 235 f., 239, 281, 287 Zanetti, Véronique 25, 39, 47, 58, 227, 238 Zimmermann, Walter 276, 278, 287 Zumbach, Clarke 229, 235, 239
Ueberweg, Friedrich 214, 222 Uehling, Theodore E. 53, 58 Vollrath, Ernst 13 Wachter, Alexander 200, 210 Walsh, Denis M. 237 ff., 287 Wenzel, Christian Helmut 143, 150 Wicks, Robert 187 f. Wieland, Wolfgang 136 Wolff, Caspar Friedrich 235, 282 f., 287 Wolpert, Lewis 287 Wood, Allen W. 329 Wright, Larry 237 Wuketits, Franz M. 280, 287
Sachregister Zentrale Abschnitte sind kursiv hervorgehoben. Achtung 34, 42, 85, 94, 113, 115–118, 123, 188, 206, 353 Analytik – ~ der ästhetischen Urteilskraft 42, 59–188 – ~ der teleologischen Urteilskraft 8, 42, 211, 216–239, 241, 352 – ~ des Erhabenen 15, 99–119, 216, 352 – ~ des Schönen 8, 59–97, 99, 102, 191– 194, 200 f., 205, 207, 216, 352 Angenehme, das 9 ff., 15, 59, 61 ff., 69 f., 87 f., 90, 99, 102, 121, 124–127, 135 f., 184, 187, 194, 207, 353 Antinomie – ~ der teleologischen Urteilskraft 241– 274, 297 – ~ des Geschmacks 189, 191 ff., 194 Architekt, architektonisch 7, 64, 290, 345 Ausdruck 173–188, 352–355 Baukunst 181 f. Beredsamkeit 179 f. Bildhauerkunst 181f. Bildungskraft 212 f., 224–230, 234 ff., 277 Bildungstrieb 212 f., 234 ff., 283 Deduktion 75, 93, 135, 232, 266, 327 – der ästhetischen Urteile 8, 51, 60, 64, 93 f., 100 f., 121–188, 192, 207, 352 f., 357, 361 – des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft 26, 35–38, 41 ff., 47 Dialektik – der ästhetischen Urteilskraft 189–208 – der teleologischen Urteilskraft 241–274 Dichtkunst 179 f., 185 f. Edukt 235 f., 284 f. Einbildungskraft 12, 15, 48, 54, 63 f., 69– 72, 74 ff., 81–84, 86 f., 89, 91–97, 100, 103 ff., 107–113, 115–118, 125, 130–133, 137–142, 144, 154, 164 f., 168 ff., 173, 180 f., 183, 186, 188, 192, 194, 200 f., 203 f., 216, 219 f., 300, 354, 357, 362 Einheit xi f., 7, 14, 18, 20, 23–39, 41, 44, 46 f., 54 ff., 69, 75 f., 81, 83, 89, 101,
108–111, 135, 137, 142, 148, 177 f., 202, 225, 230, 233, 242, 246, 249, 252, 255, 265–274, 280, 332, 343, 352 f. Endzweck s. Zweck xi, 2, 8, 13, 16, 18 ff., 55 f., 138, 231 f., 289–307, 310–328, 339, 344, 352, 364 f. Epigenesis 234 ff. Erhabene, das – Dynamisch-~s 101, 107, 112–118, 356 – Mathematisch-~s 101, 106–112, 356 Ethikotheologie 20, 310 f., 313–316, 317, 320, 322 ff., 347 Evolution 20, 234, 237, 276–281, 284 Farbenkunst 179, 183 f. Freiheit xi, 5, 12, 14, 16, 18, 20 f., 23, 27 f., 57, 62 f., 77, 81 ff., 86 f., 89 f., 94, 106, 113–116, 131, 133, 157, 160 f., 163–171, 186, 189, 193, 195, 199, 201, 202–207, 208, 217, 226, 229, 232, 264, 289, 299, 302 ff., 305, 307, 309, 317, 333 f., 336– 340, 357, 362 – ~sbegriff 12, 24, 26–30, 52, 93, 101, 202 – ~sgesetz 11 f., 24 ff., 30, 56, 362 Fürwahrhalten 331–344, 347 Gefühl 9, 12, 14, 24, 32, 41–52, 56, 59 ff., 64 f., 69, 71, 73 f., 82, 84 ff., 89, 91–97, 99–105, 107, 113 f., 116 ff., 122 ff., 127, 131, 137–150, 152, 159, 169, 175 f., 181, 187 f., 199 f., 203, 206, 208 f., 217, 293, 315, 324, 356 ff. – moralisches ~, s. Achtung 52, 101, 117, 148 f., 209, 293, 356 f. Gemeinsinn 8–11, 13, 94–97, 121, 131, 137– 150 Genie xii, 8, 13, 89, 126, 157, 161 f., 165, 166– 171 Geschmack 5, 14, 60, 64, 69, 83, 85–92, 95 ff., 121, 126–129, 131, 137–140, 143–149, 152 ff., 175 f., 188 f., 190–193, 194, 199, 201, 208 f., 216, 303, 353 f., 358, 360 Geschmacksurteil xii, 5, 9, 11, 51, 54, 60, 63 f., 69, 71, 82 ff., 88 f., 95 ff., 100, 102, 104, 106, 115, 121–136, 137, 139, 144, 146, 151–156, 159, 161 ff., 165 f., 168,
380
Sachregister
173–177, 180, 184–192, 194 f., 201, 205, 212, 360 f. Gewalt 113, 115, 293, 298, 356 f. Glaube, moralischer/ praktischer 13, 232, 307, 313–328, 331–349, 365 Gott s. a. Urwesen 6, 20 f., 46 f., 49, 57, 83, 91, 198, 219, 233–236, 243 f., 250 f., 253, 268 f., 273, 283 f., 304, 306, 309–328, 331–349 – ~esbeweis, moralischer/ ethikotheologischer 7 f., 275, 309, 313–328, 331– 349, 352, 363, 365 – ~esbeweis, physikotheologischer 268, 309–313 – ~esbeweise, theoretische 16, 49, 262 Größe 104, 106–112 Gut, höchstes 310, 313, 315, 317 ff., 325 ff., 334, 339 f., 342–345, 365 Gute, das 11 f., 59, 61 ff., 82, 86–90, 118, 137–150, 189, 194–197, 199, 202 f., 205 ff., 268, 305, 319, 352 f., 361 ff., 365 Harmonie 12, 50, 70, 75, 82, 86, 94, 104, 135, 155, 171, 200, 214, 219 f., 354 Hylozoismus 214, 228, 251 ff. Ideal der Schönheit 90 f., 353 Idee xi f., 20, 38, 47, 54, 56 f., 71, 75, 83, 89–93, 97, 105, 108 f., 111 f., 115–119, 123, 138, 142 f., 147 ff., 153, 167–170, 173, 177, 180–183, 185 f., 188, 192, 195, 197 ff., 201, 203, 206, 209, 213, 219, 224 ff., 229– 233, 250, 265, 268, 274, 277 ff., 282 f., 295, 299 f., 305, 310, 312, 320 f., 325 f., 335 ff., 339, 342 f., 353–357 Kontemplation, kontemplativ 82 f., 85, 94, 102, 117, 138, 359 f. Kunst xii, 5 f., 13 f., 25, 28, 51, 80–83, 89 f., 92, 95, 101, 128, 147, 151–171, 173–188, 194, 208, 221, 227 ff., 261, 303, 358, 361 – bildende ~ 83, 178–183 – kombinatorische ~ 179 – redende ~ 178–181 – schöne ~ s. a. System der Künste 8, 10, 90, 121, 157 ff., 162 f., 166 f., 173–188, 189, 208, 303, 356 – ~ des Genies 89 – ~ des Spiels der Empfindungen 178 f. – ~gegenstand/ ~produkt/ ~werk 12 f.,
15, 84, 97, 126, 157, 159–163, 165, 168, 174 f., 177, 180, 182, 221, 225, 227 f., 241, 252, 256, 260, 311 – ~kritik 1 – ~schönes 138, 150, 152 f., 155 f., 158 f., 161 f., 164, 166, 358 ff. Lust 9, 14 f., 24, 32, 41, 43, 44–52, 56, 59 ff., 63 ff., 68–74, 76, 79, 83–86, 90, 102, 104, 106, 113, 115, 117, 121, 134, 137–140, 141 ff., 144 ff., 148, 152, 155, 159, 171, 176, 185, 187, 200 f., 203 f., 358 f., 362 – ~gärtnerei 181 ff. Macht 105 ff., 109–119, 123, 315 f., 356 Malerei 179, 181–183, 185 Mechanismus, mechanisch xi, 5, 9, 15–19, 27, 46 ff., 55, 80 f., 102, 115, 174, 196, 206, 212–216, 222 f., 225 ff., 234 f., 237, 241– 256, 259–274, 276 f., 283 ff., 297 f., 303 f., 312, 332, 334, 341, 345, 361, 363 f. Methodenlehre 2, 8, 19, 189, 232 – ~ der teleologischen Urteilskraft 275– 349 – ~ des Geschmacks 189, 208 f. Mitteilbarkeit s. sensus communis 51, 71 ff., 76, 137–150, 186, 201, 361 Modalität 11, 57, 64, 79, 93–97, 100, 106 f., 112–118, 335, 353 Moral, moralisch 2–5, 7, 11 ff., 15–19, 24, 26–30, 42, 52, 57, 61, 63, 68, 79, 82, 85, 88, 90 f., 95 ff., 101 f., 106, 113 f., 116 ff., 123 f., 137 ff., 143, 145–149, 152, 185, 188, 193, 195, 197 ff., 201–209, 215, 217, 229, 232, 264, 289–307, 309–328, 331–349, 351–366 – ~teleologie 20, 56, 232, 275, 289–307, 314, 318, 320 f., 324 – ~theologie 7 f., 13, 18, 20, 232, 309– 312, 313–328, 331–349, 365 Musik 83, 87, 89 f., 178 f., 183–188, 218 ff., 359 Natur passim – ~begriff 12, 26–30, 52, 93, 101, 105, 202, 333 – ~ding/ ~gegenstand/ ~produkt 16, 18, 37, 41, 46, 48 f., 54 ff., 123, 125 f., 225– 231, 233 f., 248, 259, 261–267, 270 f., 285, 294 f., 298–301, 305, 364 – ~gesetz/ ~kausalität 3 f., 11 f., 16, 18,
Sachregister 24 ff., 27, 29 f., 32–38, 45, 54 f., 141 f., 198, 225, 233, 242, 246, 249, 254 f., 259, 261 f., 264, 271, 282, 292, 327, 362 – ~schönes 53, 147–150, 152–156, 158, 161 f., 164, 166, 265, 352, 357 ff. – ~wissenschaft, naturwissenschaftlich 4, 6 f., 15, 18, 215, 224, 232 ff., 236 f., 243, 252, 254, 256, 275 f., 283, 309, 363 – ~zweck/ ~zweckmäßigkeit 7 f., 14, 17, 19, 42, 45, 54 ff., 81, 221, 224 ff., 228, 230 f., 233 f., 241, 248, 250, 252, 255 f., 259–271, 275 f., 296, 298 ff., 309, 311, 315 Organische, das, organisch xii, 7, 15, 18 f., 54, 87, 147, 194, 223–239, 260, 262–265, 267, 271, 273, 275, 279 f., 282 f., 286, 298, 332, 345, 363 Organismus 18, 25, 213, 232–235, 253, 255 f., 260, 276, 278 f., 282, 284 ff. Physikotheologie, physikotheologisch 20, 222, 268, 309, 310–313, 345 Plastik 174, 179, 181 ff. Präformation 234 ff., 281–286
16,
Qualität 10 f., 60–64, 79, 82 ff., 102, 104, 116, 353 f. Quantität 11, 64–77, 79, 83, 93 ff., 104, 108, 110, 112, 353 Reiz 53 f., 88, 99, 103, 135, 146–148, 153, 180, 201 f. Relation 11, 45, 55, 64, 79, 82–88, 104, 106, 112, 353 Rührung 54, 88, 99, 103, 180 Schöne, das 43 f., 48, 50, 59–97, 99, 106, 118, 121–124, 127, 129, 131–134, 136–142, 145, 147, 149, 151–155, 157, 161 f., 166, 184, 187, 189, 191–197, 199–203, 205, 207 f., 216, 276, 292 f., 352 ff., 356–359, 361 ff., 366 Selbstorganisation 4, 15, 42, 46, 55, 226– 237, 261 f., 265, 270, 273, 280 f., 286, 293–298 sensus communis 9 f., 94 ff., 118, 137 f., 143– 146, 192, 208, 361 Sittlichkeit 12, 16, 57, 90, 92 f., 138, 146,
381
148, 152, 154, 189, 195–199, 202 ff., 206–209, 229, 292, 303, 311, 313, 315– 323, 325–328, 348, 351–366 Spiel, freies 62 f., 69, 71–77, 131, 135, 137, 139–142, 154 f., 161 f., 168, 171, 173, 180, 183, 186, 188, 194, 200 f. Symbol 89, 115, 189, 195–208, 352, 355, 359, 360–363 System – ~ der Künste 173–188 – ~ der Philosophie xi, 1 f., 5 ff., 11 f., 19, 23 f., 26–32, 41, 137, 211, 250– 253, 275, 289, 297, 336 f., 344, 346 – ~ der Zwecke 7 f., 193, 224, 231 f., 293 –307, 311–314, 316 ff., 320 ff., 364 Technik 55, 82, 92, 101, 105, 213, 264, 269 Teleologie s. a. Zweckmäßigkeit xi, 4 f., 7 ff., 14–21, 33, 42–45, 48–52, 54–57, 80 ff., 137 f., 145, 149, 197 f., 212, 215 f., 223– 238, 241, 243, 246 ff., 250–253, 255 ff., 262, 269–273, 275 f., 279, 285, 289 ff., 293 f., 298, 301, 304, 307, 309–328, 331 f., 341, 344–348, 352, 362–365 Theologie s. a. Ethikotheologie, Physikotheo logie 16, 19 f., 214, 224, 233 f., 291, 295 f., 304, 310–316, 323 f., 331, 335, 344–348, 364 Übersinnliche, das 12, 30, 57, 83, 106 f., 116, 118, 142, 189, 192–195, 199, 202, 204, 216, 218 f., 232 f., 249, 251, 270–273, 293, 309–329, 347, 354, 356 f., 362, 364 f. Unbedingte, das 107, 115, 119, 203, 245, 305, 312 f., 336, 340, 342 Unlust 9, 14, 24, 32, 43 f., 50 f., 56, 60 f., 64, 84 f., 113, 115 ff., 138, 187 Urgrund 251, 268, 321 Urmutter 213 f., 277 Urteil – ästhetisches ~/ Schönheits~ 10, 42 f., 50–54, 59–68, 70–74, 76, 80, 91, 93, 97, 99 f., 102 f., 106, 113, 117, 121– 136, 142, 151 f., 174, 187, 192, 194, 199–202, 205, 207, 352, 361 – bestimmendes ~ 111, 320, 332, 342 f., 346, 348 – kognitives ~ 59–63, 65, 67 – moralisches ~ 63, 124, 197, 199, 203 – reflektierendes ~ 102, 121 f., 197, 276, 322, 332, 334, 343
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Sachregister
– teleologisches ~/ Zweckmäßigkeits~ xi f., 19, 42, 221, 332 Urteilskraft – ästhetische ~ 7 f., 9–13, 15, 42, 45, 79, 81, 99, 104, 106, 121, 126, 137, 143– 147, 174, 183, 189–192, 194, 199, 204, 213, 275, 293, 352–357, 360 f. – bestimmende ~ 3, 17, 20, 32, 35 f., 45, 48, 242–245, 247 ff., 253, 322 – reflektierende ~ xi f., 4, 7, 9, 14, 19 f., 25 f., 30–34, 37 ff., 44 ff., 48 f., 54, 81, 94, 103, 105, 129, 134 f., 141, 144 f., 147, 190, 196 ff., 199 ff., 230, 241–250, 254, 258, 261, 270, 272, 292 f., 298 f., 309, 314, 316, 321 ff., 328, 343, 352 – teleologische ~ xii, 7 ff., 16–21, 42, 44 f., 50, 81, 193 f., 211, 213 ff., 223, 231, 241, 246 f., 259, 271, 275, 289 ff., 293, 297, 328, 352, 363 Urwesen s. a. Gott 251 f., 262, 268 Vollkommenheit 335, 354
88, 91 f., 198, 220, 268,
Wohlgefallen, interesseloses 9, 11 f., 14 f., 59–73, 79, 82, 84, 87 ff., 91, 94, 102, 104, 121 f., 131 f., 134 ff., 138, 142, 145 f.,
152 f., 187 f., 200 f., 293, 353, 357 f., 361 f.
Zweckmäßigkeit s. a. Teleologie 4, 7 ff., 11– 14, 16–21, 25 f., 36 ff., 41, 48–52, 55 f., 80–84, 88, 104 f., 118, 122, 131, 135, 155 f., 158 f., 162 f., 183, 189, 193 f., 198, 200 f., 203, 211–222, 230, 234, 244, 261 f., 265, 270, 273, 293, 297, 301, 304, 306, 311, 345, 353, 356, 366 – absolut innerliche ~ 17 f., 87, 221, 279, 294, 363 – ästhetische ~ 41, 49, 182, 194 – äußerlich relative ~ 55, 105, 211–222, 231, 294 f., 311 – formale ~ 17, 35, 41, 85, 88, 161, 194, 211–222 – logische ~ 41, 52 – materiale ~ 17, 211 f., 221 – moralische ~ 11 f. – objektive ~ 11,17, 20, 88, 91, 211–222, 232, 297, 354 – subjektive ~ 9, 17, 57, 128, 200, 212, 216 – ~ der Natur 4, 14, 34 ff., 41–58, 80, 100, 142, 192, 194, 211–222, 224, 230– 234, 244, 250–253, 272, 304, 311, 317
Hinweise zu den Autoren Karl P. Ameriks, geb. 1947, Ph. D. in Yale (1973), ist McMahon-Hank Professor für Philosophie an der University of Notre Dame. Er ist Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher zu Kant, u. a. von Kant’s Theory of Mind (1982, 22000), Kant and the Fate of Autonomy (2000), Interpreting Kant’s Critiques (2003) und Kant and the Historical Turn (2006). Jochen Bojanowski, geb. 1974, Promotion an der Universität Freiburg (2005), ist gegenwärtig Visiting Professor der University of Pittsburgh und arbeitet als Stipendiat der Fritz-Thyssen-Stiftung an einem Kommentar zur „Analytik“ der Kritik der praktischen Vernunft. Er ist Autor des Buches Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung (2006). Reinhard Brandt, geb. 1937, Promotion (1965), 1972–2002 Philosophieprofessor in Marburg, Gastprofessuren in Südamerika, Italien, den USA und Australien, Christian-Wolff-Professur in Halle, Gast des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Herausgeber der Anthropologievorlesungen Kants in der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften (mit Werner Stark). Zu seinen für Kant einschlägigen Büchern zählen u. a. Die Urteilstafel (1991), D’Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte 1, 2, 3 / 4 (1998, ²1999, ital. 1999), Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie (1999) und Die Bestimmung des Menschen (2007). Gerardo Cunico, geb. 1949, Laurea in Filosofia an der Università di Genova (1974), ist seit 2005 professore straordinario an der Università di Genova. Er ist Autor von Da Lessing a Kant. La storia in prospettiva escatologica (1992), Il millennio del filosofo: chiliasmo e teleologia morale in Kant (2001) und hat die Bücher Immanuel Kant. Guerra e pace: politica, religiosa, filosofica. Scritti editi e inediti (1775–1798) (2004) und Kant e l’idea di Europa (2005) herausgegeben. Michaël Fœssel, geb. 1974, Habilitation an der Université de Rouen (2002), ist gegenwärtig Maître de conferences an der Université de Bourgogne in Dijon. Er ist Autor der Bücher Kant, Vers la paix perpétuelle. Zum ewigen Frieden. Kommentar (2001), Kant et l’équivoque du monde (2008) und Kant et la question du mal (2008).
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Hinweise zu den Autoren
Eckart Förster, geb. 1952, Ph. D. an der Oxford University (1982), ist gegenwärtig Professor of Philosophy, German and the Humanties an der John Hopkins University in Baltimore und Honorarprofessor an der HumboldtUniversität zu Berlin. Seine wichtigsten Bücher zu Kant sind Kant’s final Synthesis. An Essay on the Opus postumum (2000) und Kant’s Transcendental Deductions. The three „Critiques“ and the „Opus postumum“ (ed. 1989). Christel Fricke, geb. 1955, Promotion (1988) und Habilitation (1998) an der Universität Heidelberg, ist seit 2003 Professorin für Philosophie an der Universität Oslo. Sie ist Autorin der Bücher Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils (1990), Zeichenprozeß und ästhetische Erfahrung (2001) und Herausgeberin von Das Recht der Vernunft. Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln (1995). Hannah Ginsborg, geb. 1958, Ph. D. an der Harvard University (1989), ist Professor of Philosophy an der University of California in Berkeley. Sie ist Autorin des Buchs The Role of Taste in Kant’s Theory of Cognition (1989) und zahlreicher wichtiger Aufsätze zu Kants Ästhetik, zu Kants Philosophie der Biologie und zur Theorie der Urteilskraft. Piero Giordanetti, geb. 1965, Promotion in Mailand (1996), ist seit 2006 Professore aggregato an der Università di Milano. Er ist Autor der Bücher Hume, Kant e la bellezza (1997), Kant e la musica (2001, dt. Kant und die Musik 2005), L’estetica fisiologica di Kant (2001) und hat die Sachanmerkungen zur neuen Ausgabe der Kritik der Urteilskraft im Meiner-Verlag geschrieben (22006). Ina Goy, geb. 1972, Promotion an der Universität Tübingen (2006), 2006/07 postdoc-Stipendiatin der Fritz-Thyssen-Stiftung in Tübingen und Stanford, ist seit 2007 Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar in Tübingen. Sie ist Autorin des Buchs Architektonik oder die Kunst der Systeme. Eine Untersuchung zur Systemphilosophie der „Kritik der reinen Vernunft“ (2007). Otfried Höffe, geb. 1943, Promotion (1970) und Habilitation (1975) in München, ist nach Professuren in Duisburg (seit 1976) und Freiburg/CH (seit 1978) seit 1992 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur Ethik, zur politischen Philosophie, zu Aristoteles und zu Kant, hier u. a. Immanuel Kant (1983, 72007, engl. 1994), Introduction à la philosophie pratique de Kant. La morale, le droit, l’histoire et la religion (1985, 21993), Kategorische Rechts-
Hinweise zu den Autoren
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prinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne (1990, 31995, engl. 2002), „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie (2001, engl. 2006) und Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie (2003, 42004, engl. in Vorbereitung). Andreas Kablitz, geb. 1957, Promotion zu Lamartines Méditations poétiques (1983), Habilitation über Die Diskussion um das ridiculum im 16. Jh. in Italien (1987), ist seit 1994 Professor für Romanische Philologie an der Universität zu Köln. Er ist Autor der Bücher Mimesis und Simulation (1998), Interpretation und Lektüre (2000) und Zeit und Text: philosophische, kulturanthropologische, literarhistorische und linguistische Beiträge (2003). Georg Kohler, geb. 1945, Promotion zum Dr. phil. (1977) und zum lic. iur. (1979), Habilitation (1987), ist seit 1994 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Zürich. Sein bedeutendes Buch über Kant ist Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Auslegung von Kants ‚Kritik der ästhetischen Urteilskraft‘ (1980). Steinar Mathisen, geb. 1942, Promotion in Philosophie (1983), ist gegenwärtig Assistant Professor an der Universität Oslo. Er ist Autor der Bücher Tranzendentalphilosophie und System. Zum Problem der Geltungsgliederung (1994), Skjønnhet – Tanke & Kunst (1999) und Virkelighetens skjønnhet og skjønnhetens virkelighet (2005). Er hat Übersetzungen zu Hegels Einleitung in die Ästhetik (1986) und zu Kants Kritik der reinen Vernunft (zusammen mit C. Serck-Hanssen u. Ø. Skard, 2005) angefertigt. Birgit Recki, geb. 1954, Promotion (1984) und Habilitation (1995) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, arbeitet seit 1997 als Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg. Sie ist Autorin der Bücher Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant (2001), Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant (2006) und Co-Herausgeberin von Bild und Reflexion: Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik (1997), Kant lebt. Sieben Reden und ein Kolloquim (2006). Jacinto Rivera de Rosales, geb. 1949, Dissertation mit der Arbeit La realidad en sí en Kant an der Complutense Universität Madrid (1987), ist gegenwärtig Profesor Titular de Universidad in Madrid. Er ist Autor der Bücher El punto de partida de la metafísica transcendental. Un estudio crítico de la obra kantiana (1993), Immanuel Kant: El conocimiento objetivo del mundo. Guía
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Hinweise zu den Autoren
de lectura de la „Crítica de la razón pura“ (1994), Kant: la „Critica del Juicio teleológico“ y la corporalidad del sujeto (1998, 22005) und Sueño y realidad. La ontología poética de Calderón de la Barca (1998). Siegfried Roth, geb. 1957, Studium der Philosophie und Biochemie an der Universität Tübingen, Promotion zum Dr. rer. nat. in Entwicklungsge netik am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen (1990), Forschungsaufenthalt am Department of Molecular Biology Princeton University, USA (1991–1995), Habilitation in Genetik an der Universität Tübingen (1997). Seit 1998 Professor für Entwicklungsbiologie an der Universität Köln. Zahlreiche Arbeiten zur Genetik und Evolution von Entwicklungsprozessen bei Insekten, u. a.: The origin of dorsoventral polarity in Drosophila, Philosophical Transactions of the Royal Society (2003); Gastrulation in other insects, in: Gastrulation. From cells to embryos (2004). Eric Watkins, geb. 1964, Ph. D. mit der Arbeit Kant’s Third Analogy of Experience an der University of Notre Dame (1994), ist gegenwärtig Professor of Philosophy an der University of California in San Diego. Neben zahlreichen Aufsätzen zu Kant sind seine wichtigsten Bücher Kant and the Metaphysics of Causality (2005) und die Herausgabe von Kant and the Sciences (2000).