Im Stimmenwald: Mein Leben in der Welt der Oper 9783205204640, 9783205203926


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Im Stimmenwald: Mein Leben in der Welt der Oper
 9783205204640, 9783205203926

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Robert H. Pflanzl

Im Stimmenwald Mein Leben in der Welt der Oper

2016 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Der Regisseur und sein Sänger – ein Probenfoto (Jens Peter Kühl) © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Dimograf, Bielsko Biala Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU 978-3-205-20392-6

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. Eine Kindheit im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Die ersten Töne 11 | Kriegsgeräusche 14 | Nun singen sie wieder 20 2. Begegnungen in der Welt der Oper . . . . . . . . . . . . . . 33

1945 Bühnen der Landeshauptstadt Dresden  34 | 1950 Deutsche Staatsoper Berlin  40 | 1951 Bayreuther Festspiele 43 | 1954 Komische Oper Berlin  45 | 1955 Universität und Musikhochschule München  48 | 1956 Württembergische Staatstheater Stuttgart 55 | 1961 Süddeutscher Rundfunk Stuttgart  76 | 1962 Wiener Staatsoper  97 | 1963 Deutsche Gastspieloper Berlin  101 | 1965 Hamburgische Staatsoper  106 | 1965 Norddeutscher Rundfunk Hamburg 119 | 1967 Theater am Goetheplatz Bremen  125 | 1969 Stadttheater Bremerhaven  127 3. Auf fremden Bühnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

1967 USA: New York  136 | 1979 Rumänien: Iaşi  139 | 1992 Litauen: Vilnius  140 | 1998 Südkorea: Taegu  146 4. Wahlheimat Salzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Das Salzburger Jahr 1952–53 157 | Das alte Mozarteum 162 | Träumen mit Trakl 167 | Das neue Mozarteum 180 5. Leben und Überleben im Stimmenwald . . . . . . . . . . . .

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Die Singenden 190 | Die Lehrenden 194 | Die Studierenden 200 6. Zeitsprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Ein Lebenslauf 219 | Zwölf Publikationen 221 | Dreißig Buchhinweise 222 | Hundertzwanzig Personen 223 | Zweihundert Inszenierungen 227 | Bildnachweise 233





Einleitung Haben Sie auch manchmal so ein Singen in den Ohren? Hören Sie gelegentlich Stimmen, wo eigentlich nichts ist? Stimmen im Ohr? Nein? Gratuliere! Ich höre dauernd Stimmen und das seit meiner Geburt. Keine eingebildeten, sondern wirkliche, richtige Stimmen. Das ist nicht krankhaft, keine Sorge, es ist auch kein Tinnitus: Ich bin eben als Kind von Sängern auf die Welt gekommen und habe dann mein ganzes Leben in singender Gesellschaft verbracht, in einem Stimmenwald, der manchmal erschreckt, manchmal auch nervt, aber immer fasziniert. Das beginnt in Breslau im Jahr 1934, einer bewegten Zeit, von der die damals Geborenen erst sehr viel später erfahren werden: Am 2. August stirbt Reichspräsident von Hindenburg und schon am 19. August bestätigen in einer Volksabstimmung fast 90% der Bevölkerung Deutschlands die Nationalsozialisten und damit die Alleinherrschaft Hitlers. Man wird also in eine „neue Zeit“ hineingeboren, nicht ohne eine gewisse naive Euphorie, die auch die zukünftigen Eltern beflügelt haben mag. Vielleicht war es aber auch viel komplizierter, wer weiß das schon so genau. Familiär jedenfalls hat es zunächst wohl mit einem Kompromiss begonnen, denn der dreißigjährige Opernsänger Heinrich Pflanzl, engagiert am Stadttheater Breslau, heiratet eine zwanzigjährige Ballett-Elevin im März des Jahres 1934 und sechs Monate später ist schon der Nachwuchs da. Dafür sind die Geburtsumstände günstig: Der Großvater Robert Gradenwitz ist ein angesehener Gynäkologe in Breslau und so kommt mit seiner Hilfe der Enkel daheim bei den Eltern auf die Welt. Drei Tage später schreibt dieser Großvater an den anderen Großvater, den Salzburger Mundartdichter Otto Pflanzl:

Breslau, 17. September 1934 Lieber Otto! Der kleine Kerl ist ein wohlgebildetes, reizendes Kindel, der schon fabelhaft brav trinkt und behaglich in seinem hübschen Wagen schlummert. Die Mutter war sehr verständig und ist eine gute Amme für den Kleinen. Der Vater ist glücklich und stolz auf seine neue Würde, wie Du Dir denken kannst; er ist ja

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Einleitung

so kinderlieb und strahlt beim Anblick seines Söhnchens. Dass am Abend – wenige Stunden nach der Ankunft des Kleinen – der Vater erstmalig den Ochs im „Rosenkavalier“ singen musste, war eine große Nervenbelastung für ihn; aber er hat seine Rolle vorzüglich gespielt und trefflich gesungen. Trotz großer Unterschiede in Herkunft und gesellschaftlicher Positionierung scheinen sich die Großväter ganz gut zu verstehen, vielleicht irgendwo auf einer gemeinsamen deutschnationalen Ebene: Die Österreicher hoffen auf einen Anschluss an den großen Bruder, in jüdischen Kreisen glaubt man noch an ein neu erstarkendes Deutschland. Es herrscht also viel Naivität auf beiden Seiten. In diesem Sinne wird wohl auch der Kleine aufgezogen, denn das Heinerle ist noch nicht ganz vier Jahre alt, da schreibt die Salzburger Großmutter in ihrem Tagebuch:

Salzburg, 27. Juni 1938 Heinerle ist ein lieber Kerl, ein so goldiges Kind. Er grüßt so stramm „Heil Hitler“, hackt die Absätze zusammen und zeigt, wie laut er rief, als er den Führer sah: „Heil, Heil“ und ulkig, wenn er den Marschtritt der deutschen Soldaten nachmacht. Es ist ein ziemlicher Schock, als das kleine Heinerle mit siebzig Jahren diese Tagebuchnotiz das erste Mal zu lesen bekommt. Es war immer ziemlich stolz darauf, dass seine Eltern es verstanden hatten, ihn aus den ungeliebten politischen Jugendorganisationen herauszuhalten, ob die nun Jungvolk oder Hitlerjugend und in der Nachkriegszeit im Osten Deutschlands Junge Pioniere oder FDJ hießen. Inzwischen sind wieder einige Jahre vergangen, der erste Schreck hat sich gelegt und der Wunsch ist erwacht, diese Dinge einmal aufzuarbeiten, mehr zu erfahren, auch über sich selbst. Nun ist ein ganzes Buch daraus geworden, ein Bericht über Entwicklungen, die man machen musste, über Begegnungen, die man nicht vergessen wird, über Erfahrungen, die man weitergeben möchte. Es sind Bilder aus dem vorigen Jahrhundert, gesehen durch die Theaterbrille und festgehalten mit dem Ziel, nicht in Nostalgie zu versinken, sondern nach vorne zu schauen. Eine kleine Geschichte möge das illustrieren. Es war schon einige Jahre nach meiner Emeritierung, als ich im Treppenhaus des alten Mozarteums einen wesentlich jüngeren und heute noch aktiven Kollegen treffe. „Sie sehen aber noch gut aus, das ist schon irgendwie merkwürdig.“, meint er und provoziert damit natürlich meine Gegenfrage nach der vermeintlichen Merkwürdigkeit meines Aussehens. „Na ja, wissen Sie, unsere Professoren sind doch meistens in den ersten beiden Jahren nach ihrer Emeritierung

Einleitung

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verstorben.“ Die Aussage schreckt ihn nun ein wenig, er entschuldigt sich, ich finde es lustig und stelle dann zu meiner großen Überraschung beim Blättern in meinen Aufzeichnungen fest: er hat vollkommen recht! Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben das Ende ihrer Unterrichtstätigkeit nur kurze Zeit überlebt, sie haben es nicht geschafft, die gewonnene Freiheit für neue Aufgaben zu nutzen, Dinge zu realisieren, für die man einfach nie Zeit hatte. Mich hat die kleine Begegnung im Treppenhaus bestärkt, das Ende meiner Lehrtätigkeit nicht als Endstation zu sehen, sondern als Chance, etwas Neues beginnen zu können. Wenn das Ergometer langsam abkühlt, der Rasen gemäht, das Golfbesteck geputzt und die „ZEIT“ gelesen ist, dann bleibt immer noch viel Freiraum. Irgendwann landet man bei den versteckt gelagerten Schuhkartons mit alten Fotos, Briefen und Programmheften, man vergräbt sich in der Vergangenheit, eigener und fremder, und vergrößert so die Überfülle an „Lebenserinnerungen“ um ein weiteres Exemplar. Aber keine Sorge, ich bin kein Nostalgiker. Meine Begegnungen und Erlebnisse sind Bilder aus dem vorigen Jahrhundert und vielleicht inzwischen etwas aus der Mode gekommen. Aber sie haben mein Bild von der Welt des Theaters, von der Welt der Oper und von der Zukunft dieser Welt geprägt. Die klassische Frage zu allen Zeiten: „Lebt die Oper?“, die hat sich mir nie gestellt. Natürlich lebt sie und wird auch weiter leben, allerdings unter ständig wechselnden Bedingungen. Damit es nicht eines Tages heißt: „Gute Nacht, Herr Kammersänger“, muss man diese Veränderungen auch wahrnehmen, man muss auf sie antworten und das geht nicht ohne den Blick zurück. Wie soll Neues entstehen ohne Erinnerung? Jürgen Flimm, lange Zeit Intendant der Staatsoper Unter den Linden, hat es in einem Kommentar zu den neuen Studienplänen der Universität Mozarteum einmal auf die knappe Formel gebracht:

Zukunft ist Vergangenheit und Gegenwart1

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Jürgen Flimm in einem Brief vom 28. Februar 2002

1. Eine Kindheit im Krieg

Die ersten Töne Eine Rekonstruktion. Nichts! Keine Erinnerungen, keine Bilder, Stimmungen, Stimmen, Situationen, Gerüche, Farben, Bilder. Nichts. Doch: Bilder schon, alte SchwarzWeiß-Fotos, schmutzig, zerknittert, mit Löchern. Mein Vater hat sie im halbzerstörten und geplünderten Haus seiner Schwiegereltern in Breslau im Juni 1945 aufgelesen. Versuchen wir es also! Hinter gewaltigen Kastanienbäumen ist das Haus versteckt, von der Wohnung im ersten Stock schaut man direkt ins Grüne. Es ist eine schöne Wohnung, komplett neu eingerichtet, die Möbel sorgfältig ausgewählt im Stil der Dreißigerjahre. Denn es wurde nicht gespart bei der Ausstattung, bezahlt haben die Eltern der Braut. Aber das ist schon wieder einige Monate her und jetzt ist aus der Braut eine Mutter geworden. Da liegt er also, der Kleine, wir werden ihn einige Zeit das Heinerle nennen und der erste Mensch, den er auf dieser Welt sieht, das ist ausnahmsweise noch kein Sänger. Es ist ein freundlicher Herr mit Glatze, ein Gynäkologe. Wenn der Kleine schon sprechen könnte, dann würde er „Hallo, Opa!“ sagen können, aber so weit ist es noch nicht. Es kommt auch nie zu richtigen Gesprächen zwischen Großvater und Enkel, denn schon nach zwei Jahren zieht die junge Familie weiter. Im Alter von sieben Jahren komme ich noch einmal für ein Jahr nach Breslau und besuche dort die Schule. Leider hatte mein Großvater in Erkenntnis der politischen Entwicklung in Deutschland schon 1938 seinem Leben ein Ende bereitet: Es war kurz vor seiner Verhaftung. Nun darf ich in seinem ehemaligen Arbeitszimmer, an seinem Schreibtisch, meine Hausaufgaben erledigen. Es ist ein beeindruckend großes Möbelstück, dekoriert mit einer vielbändigen Napoleon-Biographie. Dort, in vielen Stunden, am Bleistift kauend vor meinen Schreib- und Rechenheften, dort ist sie wohl entstanden und gewachsen, meine Verehrung für diesen Großvater, den ich selbst kaum gekannt habe. Vielleicht sind auch meine Erinnerungen an ihn nur

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1. Eine Kindheit im Krieg

das Resultat von einigen wenigen, durch Zufall erhalten gebliebenen Fotos. Das hat aber an meinen Gefühlen für ihn nichts geändert und so habe ich schließlich mit Beginn meiner Theaterlaufbahn seinen Vornamen Robert übernommen. Als ich nach einem halben Jahrhundert mehrmals zu Vorträgen und Inszenierungen nach Wroclaw eingeladen werde, finde ich in Begleitung meiner Dolmetscherin das Geburtshaus in der ulica Jastrzebia nicht mehr, es hat den Krieg nicht überlebt. Das Reihenhaus der Großeltern in der Kirschallee 39, nun aleja Wisniowa, steht aber noch, wenn auch etwas mitgenommen durch die Kriegsereignisse und nur notdürftig saniert. Dem Vorschlag meiner Dolmetscherin, doch einfach hinzugehen und zu klingeln, wage ich nicht zu folgen. Man sollte die alten Dinge ruhen lassen. Aber zurück zu unserem kleinen Heinerle. Da tauchen jetzt andere Gesichter auf – und das sind nun alles Sänger! Da ist zunächst die Mutter, die immer von einer Karriere als Soubrette geträumt hatte und da ist dann auch der Vater, der schon mittendrin steckt in einer Karriere als Bassbuffo am Opernhaus in Breslau. Eine Sängerumgebung von den ersten Minuten an, ganz schön anstrengend. Denn zu den Eltern gesellen sich natürlich bald die lieben Kolleginnen und Kollegen, alle mit wohl ausgebildeten und voll tönenden Stimmen versehen, die in entsprechender Lautstärke eine Klangwolke um den Kleinen herum produzieren. Ein Baby ist diesen Attacken hilflos ausgeliefert, doch wenn es zu viel wird, kann man auch mal schreien, dann ist Ruhe. Aber anstrengend ist beides. Im Familienleben von Sängern dreht sich natürlich alles um das Singen und um die Stimme. Ist die Stimme in Ordnung, dann ist die größte Sorge, man könnte krank werden – ist man krank, dann ist sowieso alles aus. Ein Kleinkind hat keine Chance, diesen permanenten Gefühlsschwankungen zu entkommen, solange es noch nicht gehen kann. Ist es aber erst einmal so weit, dann kann man ja zeitweilig das Weite suchen. Unser Heinerle hat also die ersten drei Jahre seines Lebens relativ unbeschadet überstanden, der Vater hat das Engagement gewechselt, man lebt jetzt in Nürnberg, in der Parterrewohnung eines Zweifamilienhauses mit großem Garten am Platnersberg in Erlenstegen. Unser Kleiner verbündet sich nun mit Peter, dem Schäferhund der Familie. Der kann mit seinen Pfoten die Türklinke vom Gartentor herunterdrücken und so, mit vereinten Kräften befreit, verschwinden die beiden dann im nahegelegenen Wald und genießen in ausgedehnten Spaziergängen die herrliche Ruhe. Einmal kein Räuspern und Hüsteln, kein mi-mi und la-la, keine Skalen und keine Triller. Für den Großstadtmenschen bedeutet „Wald“ zunächst einmal Ruhe, Stille. Je weiter man hineingeht, desto stiller wird es. Allmählich vergessen die Ohren den Alltagslärm, sie fahren runter, wie man so schön sagt. Und ganz langsam, unmerklich, in der totalen Stille, die uns umgibt, beginnen wir zu hören. Es ist ein neues

Die ersten Töne

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Hören, das sich am Nichts orientiert. Aber nun sind sie da, diese Geräusche vom Allerfeinsten. Es raschelt, es knistert und knackt, ein Rauschen, eine Stimme – ist es ein Tier, ein Mensch? Eine Warnung, ein Hilferuf? Es sind Laute, die wir vorher nicht gehört haben. Nicht daran gewöhnt, auf dieser Hör-Ebene Informationen zu empfangen, ist es nicht mehr weit zur Panik. Wir hören so viel auf einmal wie nie zuvor, die Angst wächst und führt zur Flucht aus dem Wald, aus der Stille – hinaus in den Lärm des Alltags, der nun unsere Ohren wieder verstopfen wird. Wir wissen nicht, wie es Heinerle und Peterle im Wald von Erlenstegen damals ergangen ist. Dort soll es früher sogar Bären gegeben haben – vor langer, langer Zeit, von anderen wilden Tieren ist nichts überliefert. Ganz sicher aber gab es noch die Vöglein im Walde und auch ohne Kenntnis von Richard Wagners „Siegfried“ war es vielleicht so ein Waldvogel, der sanfte Erinnerungen an die familiäre Lautkulisse geweckt hat bei den beiden Spaziergängern und sie immer wieder sicher nach Hause führte. In einer Sängerfamilie herrscht ja permanent ein gewisser Geräuschpegel, der entsteht, wenn die beiden Zwillingsmuskelgebilde, die man als Stimmlippen bezeichnet, in Schwingung versetzt werden. Bei massivem Auftreten von Sängerinnen und Sängern, beispielsweise in einem Opernhaus, kann sich das zu einem gewaltigen Konzert steigern mit durchaus tierischen Assoziationen, es tiriliert, zwitschert, piepst und jault, es säuselt, trällert, miaut und meckert, es bellt, röhrt, grunzt und wiehert – eine akustische Arche Noah! Oder gleicht es eher einem „Show Boat“? Im Mittelpunkt all dieser Aktivitäten steht ja nicht nur die Tonerzeugung als Selbstzweck, man muss sich schließlich auch gut verkaufen können. So spielt parallel zur Tonerzeugung das persönliche Sich-in-Szene-Setzen immer eine große Rolle. Zuständig für Inszenierungen am Theater sind laut Vertrag eigentlich nur die Regisseure. Aber Selbst-Inszenierungen sind hier ein von Vielen gerne praktiziertes Spiel und so gibt es neben den Kehlkopfartisten noch ganz andere bunte Vögel, die sich gerne präsentieren. Bunt ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn da ist zum Beispiel eine ganze Gruppe, deren Mitglieder meistens schwarz in Erscheinung oder genauer: an das Pult treten. Ja, die Dirigenten. Sie besitzen die magische Fähigkeit, durch Anheben eines Stabes Sänger je nach Wunsch zum Singen oder zum Schweigen zu bringen. Das ist natürlich sehr interessant für unser Heinerle, jetzt schon fünf Jahre alt und immer auf der Suche nach Alternativen für diese ewige Singerei. Inzwischen hat es wieder einen Ortswechsel gegeben, der Vater ist nun am „Preußischen Staatstheater Kassel“ engagiert und man wohnt in der von Fußgängern stark frequentierten Kölnischen Straße. Wir sehen einen Dirigenten, er steht auf einem Stuhl, einem Esszimmer-Stuhl und er dirigiert auch zum geöffneten Esszimmer-Fenster hinaus. Da es sich um eine

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1. Eine Kindheit im Krieg

Parterre-Wohnung handelt, kann man von der Straße aus das merkwürdige Spektakel gut verfolgen, was auch zahlreiche Passanten mit Vergnügen tun. Warum steht der Dirigent auf einem Stuhl? Nun, er ist noch sehr klein, seine Großmutter meint: „Nicht viel gewachsen und blass“, und da er gesehen werden möchte, steht er eben auf einem Stuhl. Hinter ihm dröhnt aus dem Radio in Überlautstärke das sonntägliche Vormittags-Konzert. Da unser Dirigent noch keine Noten lesen kann und die Werke, die gespielt werden, nicht kennt, dirigiert er natürlich auswendig. Das soll es ja unter Profis auch geben. Dieses Ritual wiederholt sich über einen längeren Zeitraum an jedem Sonntag, ja, es erfährt sogar noch eine künstlerische Steigerung. Ein Freund der Eltern, ein echter Dirigent, erfährt von den Ambitionen des jungen Kollegen und schenkt ihm einen ebenfalls echten Taktstock mit Korkgriff. Und so kommt es zu einem ersten Höhepunkt intensiver dirigentischer Bemühungen. Allerdings unterbrechen dann zwei Katastrophen diese Entwicklung: der Eintritt in die Schule und der Kriegsbeginn 1939. Die Kinder werden sofort militärisch aufgerüstet, man lässt sich im Stahlhelm fotografieren und wird mit Kriegsspielzeug beschenkt. Auf dem großen Platz vor dem Opernhaus in Kassel präsentiert die Wehrmacht die größte im Ersten Weltkrieg gebaute Kanone, die „Dicke Bertha“. Sie hat durch einen Zufall die Zwischenkriegszeit überlebt und soll nun wieder zum Einsatz kommen. Das über 40 Tonnen schwere Monstrum ist sehr eindrucksvoll und so gibt es als Geschenk zum Schulbeginn ein Spielzeugmodell davon, mit dem man mittels Federzug leichte, dünne Objekte wie Bleistifte oder auch einen Taktstock durch die Wohnung schießen kann. Der Taktstock übersteht diese missbräuchliche Verwendung nur kurze Zeit und das ist dann auch schon das Ende einer zunächst doch vielversprechenden Alternative zu dieser ewigen Singerei in der Familie.

Kriegsgeräusche Die Alternative zum Singen ergibt sich von selbst, denn nun tritt der Krieg immer stärker in den Vordergrund. Die Industriestadt Kassel ist Einflugschneise und so gibt es vom ersten Tag an pausenlos Fliegeralarm. Unser Heinerle, inzwischen Schulkind und daher nun Heini gerufen, wird in der Nacht beim ersten Alarm in den Keller gebracht und schläft dort, zusammen mit allen Kindern des Mehrfamilienhauses bis zum frühen Morgen. Dann geht es in die Schule und manchmal, am Nachmittag, auf eigene Faust quer durch die Stadt zu den von Bomben zerstörten Häusern. Der Brandgeruch, die aufgerissenen Hausfassaden quer durch alle Etagen, der Blick in

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halbzerstörte Wohnzimmer – da es einen noch nicht selbst betrifft, hat es eine aufregende Faszination. Deutlich schmerzlicher wird registriert, als man Vaters Mercedes aus dem Nachlass des Schwiegervaters für Kriegszwecke beschlagnahmt. Nur am Rande bleibt die Erinnerung an ein Haus in der Nachbarschaft, das eines Tages verschlossen wird: Man hatte dort lange Zeit Menschen mit einem gelben Stern auf dem Wintermantel kommen und gehen sehen, ohne je weiter darüber nachzudenken. Dann wird der Krieg aber doch sehr persönlich, der Schäferhund Peter, der nicht mit in den Luftschutzkeller darf, kommt in Kontakt mit dem Phosphor einer Brandbombe und muss eingeschläfert werden. Zum rechten Zeitpunkt ergibt sich für den Vater die Möglichkeit, an die Dresdner Staatsoper zu wechseln. Man zieht also um und das wirklich im letzten Moment, denn bald darauf wird die Wohnung in Kassel von Bomben zerstört. Für das kleine Heinerle wird dies der vierte Umzug von insgesamt dreizehn, die er mit seinen Eltern erlebt. Es ist ein gutes Konditionstraining für die Zukunft, denn sehr viel später mit einer eigenen Familie wird es noch einmal dreizehn Umzüge geben. Das ist reine Gewohnheitssache. Auch der Schulwechsel erscheint nicht sehr problematisch: Von der Klassenlehrerin Eierund in Kassel wechselt man zum Klassenlehrer Dotterweich in Dresden – oder war es umgekehrt? Nach achtmaligem Schulwechsel kann da in der Erinnerung schon etwas durcheinanderkommen. Auf jeden Fall aber erscheint der Ortswechsel nach Dresden wie ein Traum, denn hier herrscht noch tiefer Frieden, Fliegeralarm und Bomben sind noch keine persönlichen Erfahrungen, das kennt man nur aus den Nachrichten. Die kleine Familie zieht in eine Vierzimmerwohnung in der Swakopmunder Straße. Es ist ein gemischtes Neubauviertel in der Südstadt von Dresden, bestehend aus einigen Zweifamilienhäusern mit Garten, umgeben von vierstöckigen Wohnblocks, benannt nach Orten und Personen in Erinnerung an Deutsch-Südwestafrika. Die Wohnung im Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses hat den für damalige Verhältnisse großen Komfort einer Etagen-Zentralheizung: Der mit Koks zu beheizende Ofen steht in der Küche. Als Einzelkind hat man ein eigenes Zimmer und sehr viele Spielsachen, beschäftigt sich auch gerne allein mit selbst erfundenen Spielen. Dazu gehört ein Lochbrett, auf dem mit kleinen Knopfsteckern Parkplätze und Garagen markiert werden für Spielzeug-Autos – im Hinblick auf die Parkplatznot im nächsten Jahrhundert eine weit vorausschauende kreative Tätigkeit. Es gibt natürlich einen Anker-Steinbaukasten und da Krieg ist, wird das Spielzeugmodell einer Hausruine umfunktioniert in ein Lazarett, mit Streichholzschachteln als Krankenbetten und zerschnittenen PapierTaschentüchern als Bettwäsche. Aber so ganz allein spielt er doch nicht, unser Heini, denn im ersten Stock wohnt eine Frau Sandvoss mit ihrer Tochter Helga. Das Mäd-

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1. Eine Kindheit im Krieg

chen mit den braunen Zöpfen ist nicht die einzige Freundin, im Haus gegenüber wohnt noch eine, die blonde Helga Rautmann. Ganz schön praktisch, zwei Freundinnen mit dem gleichen Vornamen, keine Gefahr von Verwechslungen, aber an so etwas denkt man wohl mit neun Jahren noch nicht. Die Lektüre in dieser Zeit ist ausschließlich Karl May gewidmet, man führt mit großer Sorgfalt ein Vokabelheft mit allen indianischen Ausdrücken, frühe Ankündigung einer starken Neigung für fremde Sprachen. Es ist also ein weitgehend friedliches Leben, der Krieg scheint weit weg zu sein. Aber dann werden im Herbst 1944 alle Theater geschlossen, der Vater wird als Soldat in die Festung Breslau geschickt, die Mutter muss in Heimarbeit Glimmerplättchen im Dienste der Kriegsindustrie spalten. Es hat zwar schon vereinzelt Fliegeralarm gegeben in den letzten Monaten, doch noch fühlt man sich in Dresden geschützt vor den Kriegsereignissen. Dann kommt der Faschingsdienstag, der 13. Februar 1945. Um 10 Uhr abends rollt eine gewaltige Angriffswelle über die Stadt, man hört die Einschläge und sieht beim Verlassen des Luftschutzkellers den Feuerschein über der Altstadt. Verwandte der Familie tauchen bald danach auf, sie wohnten weiter drinnen und haben alles verloren. Man leiht sich ein Fahrrad aus, um vielleicht noch einmal zum Haus zurückzukehren, muss aber den Versuch bald aufgeben, denn die Reifen haben die Hitze nicht überstanden. Dann müssen alle wieder in den Keller, ein zweiter Angriff beginnt um 1 Uhr nachts. Beim Pfeifen der Bomben zieht man unwillkürlich die Schultern hoch in Erwartung eines Einschlags und irgendwann knallt es dann auch wirklich. Die Menschen können sich noch über die Kellertreppe aus dem brennenden Haus retten und stehen dann auf der Straße. Zwei kleine Koffer in der Hand, von denen einer kurz darauf noch gestohlen wird, dann geht es in Panik hinaus aus dem Chaos, das Ziel ist ein Ferienhaus der Verwandtschaft im Erzgebirge. Die Flucht führt zunächst hinauf zur Räcknitzhöhe, nach Zschertnitz, und wenn es stimmt, dass der Name von dem Wort „Teufel“ kommt, dann passt es genau, denn hier ist wirklich der Teufel los. Die Straßen verstopft von fliehenden Menschen, am Straßenrand, in den Gräben, an den Böschungen liegen die Leichen neben- und übereinander. Man klettert einfach drüber, nur weg! Im Morgengrauen quält sich ein endloser Menschenstrom langsam auf der Landstraße dahin, keine Panik mehr, dazu fehlt die Kraft, auch kein Ziel vor Augen, die Menschen wissen nicht wohin, aber sie wissen, sie müssen weg, weit weg und so schnell wie möglich. Da taucht nach mühsamen Stunden ein paar hundert Meter von der Straße entfernt eine große Gärtnerei auf, lange ersehnte Gelegenheit für eine kleine Pause. Die Gärtner sind freundlich, sie helfen, so gut sie können, und man bekommt etwas zum Trinken. Aber da sind schon wieder die Flugzeuggeräusche, es müssen sehr viele sein und sie

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kommen immer näher. Alles flüchtet sich in den Keller und da geht es auch schon los, ein Höllenspektakel, als wäre man mitten in einer Schlacht. Dann ist es plötzlich ganz ruhig, totenstill, die Landstraße gespenstisch leer, nur im Straßengraben, da liegen die Leichen. Nach dem jüngsten Stand der Forschung soll es in Dresden damals keine Tiefflieger-Angriffe gegeben haben und so bleibt bis heute ungeklärt, durch welche Naturkatastrophe damals die Menschen umgekommen sind, die den schützenden Keller nicht mehr erreichen konnten. Nach langen Fußmärschen taucht endlich das Ziel auf, ein Ferienhaus im Oelsengrund. Es ist ein kleines Bauernhaus, zur Hälfte noch Scheune, ein Wohnraum mit Kachelofen im Erdgeschoss, oben ein paar Zimmer, eines davon wird Mutter und Sohn für die nächste Zeit zugeteilt. Das Haus ist mit sehr viel Liebe eingerichtet und voller alberner Sinnsprüche, denen man nicht entkommt und die sich daher unvergesslich einprägen. So steht außen auf der Türe zur Toilette: „Bekümmern dich Sorgen, verschieb’s nicht auf morgen – hier dieser Ort spült alles fort“ und auf der Innenseite heißt es: „Hast du beendet dein Bemüh`n, dann musst du an der Kette zieh’n. Mach’s Fenster auf, lass Luft herein, der Nächste wird dir dankbar sein“. Trotz aller Lebensweisheit, der Platz ist eng und das Miteinander nicht unproblematisch, man wird also nicht ewig hier bleiben können. Aber der Krieg geht weiter, die Front rückt näher und eines Tages sind sie da, die Russen. Auf primitiven Karren, gezogen von kleinen Panjepferden, asiatische Gesichter in Fetzen und Fußlappen. Die Angst geht um und immer, wenn sich wieder ein Trupp dem Haus nähert, werden die Frauen in der Scheune versteckt. Aber alles geht gut, das Militär zieht weiter und nun kommen die Kriegsopfer vorbei, Verwundete, Gefangene, eines Tages steht eine große Gruppe alter Frauen vor der Haustüre. Sie wurden wohl aus einem Lager befreit und sind auf dem Weg in eine neue, noch unbekannte Heimat. Sie werden ins Haus genommen, man gibt ihnen zu essen und die Älteste nimmt den Jungen bei der Hand und sagt ihm viel Glück für seinen Lebensweg voraus. Der nimmt das damals nicht so ernst und versteht es als eine Art „Dankeschön“, aber rückblickend hat die alte Frau ja wirklich recht gehabt. Es ist inzwischen Mai geworden und die Familienfreundschaft hat deutlich nachgelassen: Mutter und Sohn müssen ihr Zimmer räumen. Es ist der Abschied von dem an sich recht idyllischen Oelsengrund, den man nie wiedersehen wird, denn heute ist dort ein großer Stausee. So beginnt der Fußmarsch – zurück nach Dresden. Man wird Teil einer Völkerwanderung, hineingezogen in den Sog der Landstraße. Sie ist genauso vollgestopft wie im Februar, nur die Marschrichtung hat sich umgekehrt. Anstelle der Wehrmacht sind es nun die Russen, die überall Vorfahrt haben, aber das sind nun schon andere Russen, als bei der ersten Begegnung, europäischer,

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1. Eine Kindheit im Krieg

motorisiert und die Arme mit erbeuteten Armbanduhren gepflastert. Einmal wird es gefährlich, ein Jeep mit betrunkenen Soldaten kippt mitten in der Menschenmenge um und bleibt dann im Straßengraben liegen. Der Fahrer klettert heraus und sieht als Erstes nur ein Paar elegante Fliegerstiefel in schwarz und braun. Es sind die einzigen Schuhe von unserem Heini, sein Vater hatte sie ihm bei einem Urlaub mitgebracht. Der Russe zieht seine Pistole, er droht und will die Stiefel haben. Die Menschenschlange ist zum Stehen gekommen, ein großer Kreis hat sich gebildet. Da kommt ein zweiter Jeep, ein Offizier springt heraus, schnappt sich den Betrunkenen, entschuldigt sich bei den Umstehenden – und das Leben geht weiter. Man sollte eine Nation nie nach ihren Soldaten beurteilen, auch die russische Medaille hat ihre zwei Seiten. Es geht zurück nach Dresden in das alte Viertel, in unmittelbare Nachbarschaft zur ausgebrannten Wohnung. Einige Wohnblocks haben den Krieg überstanden und dort weist ein selbsternannter Hausmeister mit krimineller Vergangenheit Mutter und Sohn zwei Mansardenzimmer zu. Die Wohnung ist voll möbliert, ihre Besitzer sind wohl kurz vor Kriegsende geflohen. Küche und Bad müssen geteilt werden mit einer Mutter und recht lauten Zwillingen, Sybille und Sabine, oder, wie sie gerufen werden, Bille und Bine. Im Gegensatz zur Enge der Wohnsituation herrscht aber draußen die große Freiheit. Die beiden Helga-Freundinnen sind nicht mehr da, dafür landet unser Heini in einer richtigen kleinen Jugendbande. Ihre Spielplätze sind die verlassenen Kriegsschauplätze: ein ohne Räder aufgebockter Panzerspähwagen, ein großes Gelände am Zelleschen Weg, durchfurcht von Schützengräben und übersät mit Kriegsgerät in allen Größen von der Panzerfaust bis zur Artilleriemunition. Man spielt gefährliche und daher auch verbotene Spiele und so sind die Kinder immer auf der Flucht vor dem verhassten Hausmeister des Wohnblocks. Als der einmal in einem großen Feuer Sperrmüll auf einem Vorplatz verbrennt, schmuggeln sie ihm ein großes Paket mit Patronengurten für Maschinengewehre hinein und erfreuen sich dann aus sicherer Entfernung an der gewaltigen Knallerei, die den Hausmeister in die Flucht treibt und viel Aufsehen erregt. Die neuen Materialkenntnisse der Kinder haben aber durchaus auch einen hauswirtschaftlichen Nutzen. Wenn man Artilleriegranaten vorsichtig zerlegt, kommt man an eine Pulverladung, die stark an italienische Teigwaren erinnert: dunkelbraune Makkaroni oder etwas hellere Bandnudeln. Sie werden von den Müttern – in dieser Zeit gibt es keine Väter, die sind entweder gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft – gerne als Feueranzünder am Küchenherd benutzt. Der Gefahr ist man sich nicht bewusst, bis es einmal fast zur Katastrophe kommt. Ein ganzes Paket dieser Pulverstäbe liegt unter dem Küchenherd, beim Spielen mit dem Feuer fällt ein brennendes Stück Papier hinunter.

Kriegsgeräusche

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Es gibt einen riesigen Knall, aber glücklicherweise keine Verletzungen. Doch die ursprünglich weißen Küchenmöbel müssen anschließend abgeschliffen und neu gestrichen werden, denn sie hatten eine Art Sonnenbrand bekommen. Das ist dann auch das Ende für die „Große Freiheit“, zur Strafe müssen wochenlang Lindenblüten und Kamille gesammelt werden – für den Tee! Apropos Tee: In einem halbverfallenen Zirkuswohnwagen, der in der Nähe auf einem verwahrlosten Grundstück steht, finden die ersten Rauchversuche statt: mit Kräutertee! Die Freizeitaktivitäten werden nun etwas eingeschränkt, aber es gibt noch genügend Spielraum. In einer stillgelegten Lehmgrube in der Nähe hatten sich kleine Teiche gebildet, genannt die Mollie-Teiche, denn dort tummelten sich Molche, Blutegel und anderes Gewürm: Barfuß hineinzusteigen wird zur beliebten Mutprobe. Wer dann noch auf den vom Lehmabbau erhalten gebliebenen Schienen mit einer Lore den Hang hinunterfährt, der qualifiziert sich zum Anführer der Gruppe. Unser Heini wird es leider nicht. Aber ein weiteres beliebtes Spiel der Nachkriegsjahre sollte man hier nicht unerwähnt lassen. Es besteht darin, in den Hausruinen die stehen gebliebenen Innenwände zum Einsturz zu bringen. Man muss die manchmal zwei bis drei Stockwerke hohen Ziegelwände nur in Schwingung versetzen und dann im letzten Augenblick sehr schnell hinausrennen, bevor das Ganze zusammenbricht. Auf diese Weise werden sämtliche Ruinen in der Umgebung von den Kindern „aufgeräumt“. Eines Abends gibt es dann im Treppenhaus ein merkwürdiges Geräusch: „taktap-tap, tak-tap-tap“. Dann klopft es an der Wohnungstüre und das Gespenst, das vor der Türe steht, ja, wie der Spätheimkehrer Beckmann in Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, das Gespenst ist mein Vater. Er ist kurz vor der Kapitulation der Festung Breslau noch verwundet worden und kommt nun direkt aus russischer Kriegsgefangenschaft. In einem schmutzigen, zerfetzten Militärmantel, auf seinen Stock gestützt, steht er da, blass und ausgemergelt. Vater, Mutter und Sohn brauchen einige Schrecksekunden bis sie sich wirklich wiedererkennen. Nun ist also die kleine Familie wieder vereint, allerdings auf dem absoluten Nullpunkt: Man lebt in der Wohnung von fremden Leuten, der einzige Besitz sind die Kleidungsstücke, die man gerade trägt, und um zu überleben ist man auf die Gnade anderer Menschen angewiesen. So endet im Juli 1945 das „Jahr ohne Gesang“ ganz weit unten, aber nicht ohne die Hoffnung, dass es eines Tages auch wieder aufwärts gehen wird.

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1. Eine Kindheit im Krieg

Nun singen sie wieder Auch ein Elfjähriger empfindet den Wechsel vom Kriegslärm zum Kunstgesang als durchaus angenehm. Mit offenen Augen und vor allem Ohren beginnt nun ein neuer Lebensabschnitt. Die Kriegsgeräusche sind verklungen, die Städte liegen in Trümmern, die Menschen haben alles verloren, doch sie geben nicht auf. Aus allen Ecken kommen sie wieder herbei, auch die Theaterleute: Musiker, Sänger, Schauspieler. Erste Konzerte gibt es schon im Juli 1945 und im August beginnen die Proben für eine neue Spielzeit der „Bühnen der Landeshauptstadt Dresden“. Die „Staatsoper“ gibt es nicht mehr, nicht als Institution und nicht als Gebäude, es gibt überhaupt keine Theatergebäude mehr in Dresden. Man muss also Ausweichquartiere finden und da bietet sich ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert an, das in der Neustadt unbeschädigt überlebt hat: die Tonhalle in der Glacisstraße. Ursprünglich Ballsaal eines Tanzpalastes, zuletzt Betsaal einer Kirchengemeinde, der Christian Science, wird es nun als erste Spielstätte für Oper und Schauspiel notdürftig adaptiert – und dient heute noch dem Staatsschauspiel als „Kleines Haus“. Im Kurhaus Bühlau, einem Gasthaus an der Endstation der Straßenbahnlinie 11 findet man eine weitere Spielstätte, einen ehemaligen Tanzsaal, der als legendäre „Dresdner Kunstscheune“ in die Theatergeschichte der Stadt eingehen wird.

Das Haus war natürlich ausverkauft und es war in der Folgezeit ausverkauft, sooft die Staatskapelle dort konzertierte. Die Straßenbahn, damals wie heute die „Elf“, war bis zum Bersten gefüllt, manche hingen draußen auf den Trittbrettern, nur um mitzukommen, darunter auch mancher der trefflichen Kammermusiker und Kammervirtuosen, behutsam das Instrument haltend, denn sie vor allem mussten ja pünktlich sein. Und wer nicht mitkam, ging eben zu Fuß. Wir waren alle damals genügsam, bescheiden in den Ansprüchen, dankbar für jedes Geschenk aus „Himmels“-Kunsthöhen.2 Vielzitiert, beschimpft und geliebt, ist die „Kunstscheune“ geradezu zum Symbol des wiedererweckten Lebens geworden. Ein Gasthaussaal, schmucklos, primitiv hergerichtet – Kulissen, Pulte, Instrumente, wie beim Vorspiel auf dem Theater der „Ariadne“, an den Wänden lehnend. Die „Stimmung“ hatten die Besucher in ihr karges Ausweichquartier mitzubringen. Sooft wir mit der Tram, quer durch die Ruinenlandschaft der Alt- und Neustadt, den Berg hinauf zum 2 Karl Laux „Nachklang“, S. 124

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Weißen Hirsch und weiter zur Endstation in Bühlau zuckelten, in drangvoll fürchterlicher Enge eingepfercht zwischen Musikern, Geigen, Flöten und Enthusiasten, stöhnten wir nicht schlecht über die Strapazen der vielstündigen Landpartie. Aber die Kapelle spielte wieder, die Sänger traten an die Rampe – wir waren glücklich.3 Auch ich gehöre zu den Glücklichen, da ich nun möglichst jede Vorstellung besuche, wann immer es sich mit der Schule irgendwie vereinen lässt. Das ist gar nicht so schwierig, wie man glauben sollte, denn meine Schule ist ausgesprochen kunst- und theaterfreundlich. Meine schönsten Jugenderinnerungen verbinden sich daher mit der Waldorfschule in der Jägerstraße, ihr verdanke ich auch wesentliche Grundlagen für meinen späteren Berufsweg, ja für mein ganzes Leben. Unser Klassenlehrer, er ist zuständig für Deutsch und Latein, bringt am ersten Schultag einen Wechselrahmen in den Unterricht mit der Reproduktion eines klassischen Gemäldes. Er gibt uns einige Informationen über das Bild und hängt es dann im Klassenzimmer neben der Türe auf. Eine ganze Woche geht man an dem Bild vorbei, man kann sich entscheiden, ob man es mag oder nicht, auf jeden Fall beschäftigt es uns alle. Am nächsten Montag ist Bild- und Themenwechsel und so geht es das ganze Schuljahr hindurch. Nach kurzer Zeit fange ich selber an, Reproduktionen und später Bücher über Maler und Malerei zu sammeln, das Interesse ist geweckt und bleibt lebendig für ein ganzes Leben. Dann gibt es in dieser wunderbaren Schule, die so ganz anders ist als meine fünf Schulen davor, Wolfgang Gubisch, unseren Musiklehrer, der neben seinem sehr engagierten Unterricht die Zeit findet, mit uns ein Orchester aufzubauen, Theater zu spielen, ja, sogar eine Oper auf die Beine zu stellen. Bei einer Aufführung von „Bastien und Bastienne“ steht, als kleiner Mozart verkleidet wie das ganze Orchester, Peter Ronnefeld am Pult, ein guter Freund aus der Parallelklasse. Unsere Wege haben sich später am Theater mehrfach gekreuzt, er hatte inzwischen seinen Weg gefunden als ein hochbegabter Komponist und Dirigent. Ich denke gerne an ihn zurück, der uns leider viel zu früh verlassen hat. Zu unserer Schule gehört auch ein bewaldetes Hanggrundstück. An diesem Hang errichten Lehrer und Schüler gemeinsam in mühevoller Kleinarbeit ein echtes Amphitheater. Das Rohmaterial für den Aufbau der Stufen und Sitzreihen holen wir uns aus den Trümmern der zerbombten Häuser in der Umgebung, große Sandsteinquader, die von uns auf Handkarren zur Schule transportiert werden. Ein schöneres 3 Ernst Krause „Staatskapelle Dresden“, S. 33

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Symbol für den Neubeginn in dieser schwierigen Zeit als den Bau eines Theaters aus den Ruinen der Stadt kann es wohl kaum geben. Natürlich gibt es auch Fächer in der Waldorfschule, die nicht ganz meinen Neigungen entsprechen, beispielsweise Rhythmische Bewegungskunst („… bringt guten Willen zum ordentlichen Üben mit, kann dies jedoch noch nicht durchhalten und rutscht oft in Albernheiten ab“), Handarbeit („… muss noch mehr eigenes Wollen und Ausdauer bekunden“) oder Gartenbau („… im theoretischen Unterricht hielt er es für unnütz sich Kenntnisse anzueignen“). Aber im Ganzen, wie schon gesagt, ist es eine herrliche Zeit, in der ich diese Schule besuchen kann. So habe ich Dresden sehr viel zu verdanken, es war die Staatsoper mit ihren Künstlern und ihrem einmaligen Publikum und es war die Waldorfschule mit ihren Lehrern, die mir die soliden Grundlagen geliefert haben für meinen weiteren Lebensweg. Der Wechsel meines Vaters von Dresden an die Berliner Staatsoper ist für mich aber dann der Schritt in eine andere Welt. Die Stadt Berlin ist zwar geteilt, aber nicht getrennt – und ein überwältigendes Theaterparadies. Die besten Sänger und Schauspieler im deutschsprachigen Theater, drei Opernhäuser, unzählige Schauspielbühnen, es ist einfach unglaublich. Das Publikum ist international und für die Zeitumstände elegant gekleidet, sogar die Vertreter der vier Besatzungsmächte erscheinen meistens in ihren Gala-Uniformen in der Oper. Besonders kurios für mich sind dabei die Begleiterinnen der sowjetischen Offiziere, die immer nur mit drei Fingern applaudieren. Das wirkte so herrlich manieriert, so gekünstelt vornehm. Ich fand es lustig. Nicht ganz so lustig ist nun die Schulsituation, denn wir müssen als Bürger der neu gegründeten DDR im Ostsektor von Berlin wohnen. Im Kant-Gymnasium in Lichtenberg liegt man voll auf der vorgeschriebenen politischen Linie. Drei Viertel der Klasse erscheinen ausschließlich in FDJ-Uniform zum Unterricht, wichtigster Teil im Zeugnis ist die sogenannte „Gesellschaftliche Tätigkeit“. Bei mir heißt es dazu: „Obwohl nicht Mitglied der FDJ beteiligt er sich rege am Aufbau Berlins.“ Gemeint ist damit der wöchentliche Pflichteinsatz beim Enttrümmern für die spätere StalinAllee. Die dort mit Schubkarre und Schaufel zu leistenden Stunden werden in Stempelkarten nachgewiesen und in der Schule genau aufgelistet und veröffentlicht, ein Unterschreiten des Solls ist für den Verbleib auf der Schule nicht empfehlenswert. Ich bin daher sehr froh, als meine Eltern beschließen, mich für ein Jahr nach Salzburg schicken, um in der Zwischenzeit als Österreicher offiziell, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, nach Westberlin umzuziehen und mich dann mein Abitur dort machen zu lassen. Dass dabei einige Dinge von Grund auf neu gelernt werden mussten, beispielsweise Geschichte, aber zum Teil auch die deutsche Sprache, das war uns allen klar.

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Viele Jahre später erzählte mir ein Sänger, der aus Westberlin stammte, eine Geschichte, die er mit seinem Neffen aus Ostberlin erlebt hatte. Der Junge durfte seinen Onkel in Westberlin regelmäßig besuchen und schien das auch sehr zu genießen, das reichhaltige Warenangebot in den Geschäften, die Autos, die Restaurants, das Leben, den ganzen Luxus. Eines Tages meinte er: „Eigentlich ist es ganz schön bei euch. Nur schade, dass ihr so blöde Kriegshetzer seid mit euren Atombomben“. Der Onkel konterte erstaunt: „Aber die Russen haben doch auch Atombomben, wieso sind wir dann Kriegshetzer und ihr nicht?“ Die knappe und klare Antwort lautete: „Wir brauchen die Atombombe doch nur zur Verteidigung des Friedens!!“ Es ist genau diese Doktrin, die den Menschen im Osten immer wieder eingetrichtert wurde, die schließlich auch zur unterschiedlichen Denkweise und sogar zu einem deutlichen Auseinanderdriften der gemeinsamen Sprache führte. Ich habe mir nie vorstellen können, dass man das eines Tages wieder zusammenführen kann. Darum bleibt für mich heute noch die Wiedervereinigung Deutschlands das größte Wunder, das ich erleben durfte. Eine lange ersehnte Erleichterung ist für mich dann das Ende der Schulzeit. Ich meine, mir nun genügend Kenntnisse angeeignet zu haben und stürze mich sofort in die Theaterwelt, konkret an die Komische Oper zu Walter Felsenstein als Regieassistent. Auch wenn dieses Abenteuer nur ein Jahr dauert und ich danach doch auf die Schulbank zurückkehre, jetzt an der Universität – dieses eine Theaterjahr bringt mir einen neuen Vornamen ein. Ein kurzer Rückblick auf die Familiengeschichte soll es erklären: Ich war, wie alle Neugeborenen, in meinen ersten Lebenstagen ohne weitere Befragung getauft worden, nach Wunsch meiner Eltern auf die Vornamen Heinrich Otto Robert. Heinrich war der Vorname meines Vaters und meines Taufpaten Heinrich Kiener, eines guten Freundes der Familie, Otto Pflanzl, der Salzburger Mundartdichter, war der Großvater väterlicherseits, Robert Gradenwitz der Stiefvater meiner Mutter aus Breslau. Im Gegensatz zu meinem Vater, der auf unseren gemeinsamen Vornamen sehr stolz war, missfiel mir der Heinrich von Anfang an, man war entweder ein „Heini“ oder ein „Heinerle“, dem bekanntlich die Gänse nachlaufen und der kein Geld hat. Mein Vater hatte bisher alle meine Bemühungen um einen anderen Vornamen kategorisch abgelehnt, doch dann kommt mir die Komische Oper zu Hilfe. In deren Programmheften wird nämlich auch der Regieassistent angeführt. Es ist „Wildschütz“-Premiere, in der Reihe vor meinen Eltern sitzen zwei ältere Damen und blättern im Programmheft. Plötzlich sagt eine der Damen: „Du, schau mal, der Kammersänger Heinrich Pflanzl von der Staatsoper, der ist jetzt hier als Regie-Assistent?“ Meint die Nachbarin: „Naja, so jung ist er wohl auch nicht mehr. Irgendwann ist es mit dem Singen vorbei und da muss man sich eben

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1. Eine Kindheit im Krieg

für die Zukunft was anderes suchen.“ Mein Vater steht noch nach der Vorstellung unter dem Schock dieses Dialoges und von nun an und für alle Zeiten heiße ich am Theater nur noch der „Robert H.“.

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Abb. 1: Das kleine Heinerle hat sie immer schon geliebt – die großen Bäume (Hellbrunn 1936) Abb. 2: Aber kein Waldspaziergang ohne den guten Freund und ständigen Begleiter – den Schäferhund Peter (Nürnberg 1937)

Abb. 3: Nur manchmal, bei gewissen gesellschaftlichen Verpflichtungen, da musste dann der Schäferhund zu Hause bleiben – zum Beispiel beim ersten Opernbesuch (Nürnberg 1938)

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Tafel 2

Abb. 4: Inzwischen hat der Krieg begonnen, und auch die Kinder werden aufgerüstet (Kassel 1939)

Abb. 5: Noch dominiert die Musik, und hinter dem Fenster rechts unten steht ein Stuhl für den jungen Dirigenten. Während der Rundfunk-Konzerte am Sonntagvormittag werden die Fenster natürlich geöffnet (Kassel 1940)

Abb. 6: Am schönsten aber ist es immer noch, auf die Stimmen im Wald zu hören (Flachau 1940)

Tafel 3

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Abb. 7/8: Meine Freundinnen, die beiden Helgas (Dresden 1943)

Abb. 9/10: Unsere Wohnung in Dresden – vor dem 13. Februar 1945 und danach

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Tafel 4

Neubeginn der Oper

Abb. 11/12: Oberspielleiter Heinz Arnold bei der Probe in Bühlau mit meinem Vater (Dresden 1945)

Abb. 13: Die erste Vorstellung im Kurhaus Bühlau am 14. September 1945 – Beethovens „Fidelio“ konzertant unter Joseph Keilberth

Tafel 5

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Abb. 14/15: Neu eingekleidet für den Winter und endlich wieder in einer eigenen Wohnung (Dresden 1948)

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Tafel 6

In der Rudolf Steiner-Schule

Abb. 16: Mein erster Bühnenauftritt Abb. 17/18: Wir bauen uns ein Amphitheater (Dresden 1949)

Tafel 7

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Abb. 19: Die Staatsoper im Admiralspalast (Berlin 1950)

Abb. 20: Ein Schulausflug zum Baumblütenfest von Werder bringt mich auf die Titelseite einer Rundfunkzeitung. Den Obstwein hat der Fotograf spendiert (Berlin 1952)

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Tafel 8

Man fährt wieder Auto

Abb. 21: Im grauen Flanellanzug zu Besuch bei Freunden (Salzburg 1949)

Abb. 22: Im Wagen des Vaters mit Mutter und Freundin (Ostberlin 1951)

Abb. 23: Im ersten eigenen Auto, einem Goggomobil. Der Abschied vom Elternhaus (Westberlin 1956)

2. Begegnungen in der Welt der Oper Waldspaziergänge können zu unerwarteten Begegnungen führen, zu erfreulichen und unerfreulichen. Aber das Leben ist bekanntlich kein Spaziergang – und schon gar nicht, wenn man sich ausgerechnet den Theaterwald dafür ausgesucht hat. Es wäre zutreffender, hier von einem Hindernisrennen, im günstigsten Fall von einem Orientierungslauf zu sprechen, für beides ist ja auch der Wald ein idealer Schauplatz. Ständig müssen neue Hindernisse überwunden werden und nur mit gutem Orientierungssinn wird man das Ziel im Auge behalten und wissen, wohin der Weg führen soll. Wichtig dafür sind möglichst umfassende Informationen und eine gute Kondition. Dann hat man auch im Wald eine Überlebenschance, im echten wie im Theaterwald. Zwischen den beiden gibt es überhaupt zahlreiche Parallelen, mehr, als man zunächst glaubt. Das beginnt schon bei den Besitzverhältnissen, über die man in der Öffentlichkeit meist wenig informiert wird. Besitzer waren früher die Landesfürsten, beim Wald wie beim Theater, im demokratischen Zeitalter sind es die Politiker geworden, sprich die Kommunen. So sitzen in den sogenannten Fürsten- oder Königslogen eben heute die Vertreter der Lokalpolitik, allerdings nur bei Premieren, denn es geht ja nur um Repräsentation, nicht so sehr um Kunstverständnis. Doch wer den ganzen teuren Spaß finanziert, wenn auch nicht aus der eigenen Tasche, der sollte immerhin gewisse Privilegien genießen dürfen. Wie im richtigen Leben gibt es immer neben den Repräsentierenden dann die wirklich Arbeitenden. Sie verwalten den Besitz, sichern den Fortbestand, sorgen für Ordnung und tragen Verantwortung über eine große Schar von Mitarbeitern: Im Wald nennt man sie Förster, im Theater sind es die Intendanten. Den Waldarbeitern, die hegen und pflegen, Bäume pflanzen und Bäume fällen, entsprechen dann die Bühnenkünstler und die Bühnenhandwerker, wobei Kunst und Handwerk im Theater eigentlich eine untrennbare Einheit bilden sollten. Wie im Wald findet man auch hier richtige Vorarbeiter, man nennt sie Dirigenten, Regisseure, Choreographen und Bühnenbildner, sie herrschen über das sprechende, singende, musizierende und tanzende Fußvolk. Schließlich nicht zu vergessen die Autoren und Komponisten, sie sind die Baumschulen, die unseren Wald am Leben erhalten. Jetzt fehlt mir nur

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2. Begegnungen in der Welt der Oper

noch eine Parallele für die Begriffe Wildfütterung und Jagd, aber vielleicht könnte man das an die Berufsgruppe der Theaterkritiker delegieren, die füttern die Besten mit Lob und die Anderen schießen sie ab. Mein Wald, ja, das ist nun der Stimmenwald und der ist vor allem ein akustisches Phänomen. Der amerikanische Schriftsteller Henry van Dyke meinte schon vor hundert Jahren: „Die Wälder wären still, wenn nur die begabtesten Vögel sängen“. Er hatte sicher Recht, aber wir sollten uns keine Sorgen machen, denn in unserem Stimmenwald ist es nicht still, hier singen sie alle, die Begabten und auch die Anderen. Wie meinte doch einmal der Staragent eines Stardirigenten zu mir: „Falls Sie zum Theater wollen, glauben Sie mir: Das hat nur Sinn, wenn Sie eine Sensation sind!“. Also, wenn ich mich recht erinnere, eine Sensation bin ich nicht gewesen, doch ich denke voller Dankbarkeit an meine Theaterjahre zurück, an eine aufregende und arbeitsreiche, aber auch herrliche Zeit. Da ich also von keiner weltbewegenden Karriere zu berichten habe, verzichte ich hier gerne auf eine Chronik der Erfolge oder Misserfolge. Das Entscheidende im Leben für mich waren immer die Begegnungen mit den Menschen und vielleicht gelingt es mir, diese Spezies, die Theatermenschen im Stimmenwald meines Lebens, in dem Licht zu zeigen, in dem ich sie erlebt habe.

1945 Bühnen der Landeshauptstadt Dresden Am Anfang steht natürlich die wichtigste Begegnung, die entscheidend wird für meine Berufswahl. Es ist im Herbst 1945, ich bin elf Jahre alt. Bei günstigen Wetterbedingungen finden die szenischen Proben für die Oper im Freien statt, im Gastgarten vom Kurhaus Bühlau. Da ich Schulferien habe, darf ich bei den Proben zusehen. Hier mache ich nun die Entdeckung meines Lebens, denn es gibt da einen Mann, der meinem Vater sagt, was er zu tun hat, ganz freundlich und ruhig, und mein Vater folgt ihm, er setzt sich, steht auf, geht nach rechts, geht nach links, ist lustig oder traurig, wie es von ihm verlangt wird. Das hat mich sehr beeindruckt und mir ist sofort klar, dass ich mit elf Jahren hier meinen zukünftigen Beruf entdeckt habe, ich muss Regisseur werden. Ich meine auch heute noch, dass es eine gute Entscheidung war, eine echte Alternative, um in einer Sängerwelt überleben zu können. Dass ich mein Vorbild sehr gut ausgewählt hatte, war mir natürlich damals noch nicht bewusst. Es war der Oberspielleiter der Oper, Heinz Arnold, ein hervorragender Regisseur, der mit seinen Inszenierungen meine Vorstellungen von

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Theater ganz entscheidend prägt. Es gibt für mich zu diesem Zeitpunkt noch keine Vergleichsmöglichkeiten, ich kenne nichts Anderes, darf aber gleich auf einem hohen Niveau erste Erfahrungen sammeln. Arnold oder, wie er sich selbst vorstellte, „Pofesso Anold aus Damstadt“, war ein Regisseur ohne „r“, aber seine Inszenierungen waren geprägt von einem analytisch vorgehenden Verstand und gleichzeitig großer Musikalität. Er war sich der Problematik einer zeitgemäßen Darstellung im Musiktheater gegenüber dem Sprechtheater sehr wohl bewusst und hat das in noch heute gültigen Formulierungen festgehalten:

Oper ist nie Schauspiel! Darüber ist wohl nicht zu streiten: Oper ist Musik, Schauspiel ist Literatur. Diese Trennungslinie ist nicht zu überspringen, auch wenn man beide unter dem gemeinsamen Aspekt des lebendigen Theaters betrachtet. Das Schauspiel wendet sich in erster Linie an den Intellekt; es diskutiert eine geistige Problemstellung. Die Oper dagegen spricht vor allem das Gefühl an, wendet sich an das Gemüt und elektrisiert mit ihren musikalischmotorischen Kräften endlich den ganzen Menschen. (Dass dies eine Dichtung auch bewirken kann, soll damit nicht geleugnet werden.) Oper und Schauspiel sind strukturmäßig zwei ganz verschiedene Gattungen des Theaters, daran ist nicht zu deuteln. Und trotzdem preist sich immer wieder das Schauspiel aus einer gewissen intellektuellen Überheblichkeit heraus als Arzt für die nach seiner Meinung geistig so arme Oper an. Wir haben aber keine Transfusion nötig: In uns pulsiert das lebendigste, das kräftigste Blut: die Musik … Die Partitur ist die Grundlage und Richtschnur unserer Arbeit!4 Von 1945 bis 1950 inszeniert Arnold in Dresden 32 Opern, von Mozart bis Blacher und Orff. Es sind zu diesem Zeitpunkt die Hauptwerke des Opernrepertoires und sie werden für mich zur Grundlage aller späteren Erfahrungen. Die technischen Voraussetzungen für diese Aufführungen sind relativ bescheiden, man spielt ja in zwei ehemaligen Ballsälen praktisch auf dem nackten Bühnenboden. Verlässlicher Partner des Regisseurs in genau sechzehn Produktionen ist der Ausstattungsleiter Karl von Appen, dessen Grundsatz „die Gestaltung des Bühnenraums aus dem Geist der Musik heraus“ den Intentionen der Regie sicher voll entsprochen hat. Für mich war damals unter den doch eher behelfsmäßigen Bedingungen die Bedeutung einer Raumgestaltung wohl kaum erkennbar. Aber wenn ich mir heute die Entwürfe 4 Heinz Arnold „Musik oder Drama – Zum Problem der Operndarstellung“ in „Gestaltung und Gestalten“, Dramaturgische Blätter der Bühnen der Landeshauptstadt Dresden, Heft 2, 1947.

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2. Begegnungen in der Welt der Oper

von damals ansehe, dann verblüfft mich die Nähe zu den Ideen der beiden großen Reformatoren des Bühnenbilds im 20. Jahrhundert, zu Adolphe Appia und Edvard Gordon Craig. Karl von Appen wurde später als Ausstattungsleiter am Berliner Ensemble ein wichtiger Mitarbeiter von Bert Brecht, der die Handschrift seines Bühnenbildners als „fantasievoll realistisch und poetisch kritisch“ bezeichnete. Ich war damals sicher noch nicht so kritisch wie heute, aber das Realistische wie das Poetische ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Ich lerne diese Inszenierungen fast auswendig, ob im Kurhaus Bühlau, in der Tonhalle oder einige Jahre später dann im ehemaligen Schauspielhaus, das als „Großes Haus“ wieder aufgebaut und im September 1948 eröffnet wird. Es sind unvergessliche Aufführungen, die Inszenierungen von Heinz Arnold, die Bühnenbilder von Karl von Appen und – nicht zu vergessen – Joseph Keilberth am Pult der Dresdner Staatskapelle. Mein erster Eindruck von ihm: ein riesengroßer Schock. Keilberth ist ab 1945 neuer Chefdirigent der Dresdner Staatskapelle, für mich als Elfjährigen eine eindrucksvolle Respektsperson. Bei einer Bühnen-Orchesterprobe, die der Erste Kapellmeister Hans Löwlein dirigiert, ein temperamentvoller, hervorragender Musiker, sitzt Keilberth in der ersten Reihe direkt hinter dem Dirigentenpult, ich sitze hinter ihm in der zweiten Reihe. Die Probe findet im Kurhaus Bühlau statt, wo das Orchester auf gleicher Höhe mit dem Publikum spielt, nur durch ein niedriges Holzgeländer getrennt. Im Verlauf der Probe beugt sich Keilberth plötzlich vor, packt den linken Arm des Dirigenten und hält ihn fest. Es wird weiter dirigiert und musiziert, Keilberth hält die unbequeme Position einige Minuten durch, lehnt sich dann aber wieder zurück. Schluss und aus, keine Reaktion des Dirigenten, auch nach der Probe nicht: es ist, als wäre nichts geschehen. Ich habe überhaupt nichts verstanden, denn es ist meine erste Begegnung mit Hierarchien im Theater, bis mir mein Vater erklärt: Im Unterschied zu Verkehrspolizisten sollten Dirigenten ihren linken Arm nur sparsam einsetzen, das habe Keilberth wohl mit seiner Aktion ausdrücken wollen. Und als Generalmusikdirektor konnte er das auch ungestraft tun – ich war jedenfalls erschüttert. Es dauert eine ganze Weile, wir sind inzwischen umgezogen zum Weißen Hirsch und Keilberth wohnt ganz in der Nähe, da ruft man aus der Oper bei uns an. Keilberth hat offensichtlich eine Probe vergessen und bei ihm zu Hause meldet sich niemand. Ich werde also geschickt und es gelingt mir, durch heftiges Klopfen den Schlafenden zu wecken. Ein GMD in der Unterhose – seit diesem Erlebnis ist meine Welt dann wieder im Gleichgewicht. Mein musikalisches Weltbild aber wird in den Jahren in Dresden ausschließlich von diesem großen Dirigenten und seinem Orchester, der Sächsischen Staatskapelle, geprägt. Unvergessen für mich ist bis heute der

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15. September 1949: die Gedächtnisfeier für Richard Strauss mit den „Metamorphosen“ und „Tod und Verklärung“. Durch diese Fülle an Theatereindrücken verändert sich natürlich auch meine Einstellung zum singenden Menschen. Während das kleine Heinerle die von Stimmlippen erzeugten Geräusche noch als recht störend empfand, entsteht nun ein gewisses Verständnis für das Phänomen Gesang und – wie so oft nach intensiver Beschäftigung – eine Art Zuneigung. Für einen Zwölfjährigen verlangt das dann automatisch nach einer Personifizierung und so schwärme ich bald für einen Sopran, eine wunderschöne Frau mit einem leicht erotisierenden Silberblick und einer herrlichen Stimme, ganz besonders im slawischen Fach, für Elfride Trötschel. Sie wird meine erste große Liebe und der Tag, an dem ich von ihr ein Bild mit persönlicher Widmung erhalte, wird zum Höhepunkt des Jahres. Auf dem Foto, das ich heute noch besitze, ist sie mit ihrem kleinen Sohn Andreas. Als die Dresdner Staatsoper 2013 eine Matinee zum Gedenken an Elfride Trötschel und meinen Vater Heinrich Pflanzl veranstaltet, gibt es ein rührendes Wiedersehen mit dem „Kleinen“, der inzwischen auch schon ein älterer Herr geworden ist. Das Solisten-Ensemble der Oper ist für heutige Begriffe nicht sehr groß, etwa fünfundzwanzig Sängerinnen und Sänger bestreiten das gesamte Repertoire (heute sind es mit den Gästen etwa sechsmal so viele), aber die einzelnen Stimmfächer sind ausgezeichnet besetzt. Das ist vor allem bei den Damen Christel Goltz, die mit Salome und Antigone für unvergessliche Eindrücke sorgt, dann aber bald Dresden verlässt, um an der Wiener Staatsoper ihre grandiose Karriere fortzusetzen, bei den Herren der Tenor Bernd Aldenhoff, vor allem in Wagner-Partien und damit auch in Bayreuth bekannt geworden, der Bariton Arno Schellenberg, ein hervorragender Liedsänger, und natürlich das Bassisten-Trio Kurt Böhme, Gottlob Frick und Heinrich Pflanzl. Der Bühnenlaufbahn meines Vaters habe ich ein eigenes Buch gewidmet, aber eine kleine Geschichte möchte ich hier doch noch einfügen, weil sie so schön beleuchtet, wie gefährlich die Vermischung von Privatleben und Bühnenpräsenz sein kann. Bei den Salzburger Festspielen findet im August 1949 die Uraufführung der Oper „Antigonae“ von Carl Orff statt und Dresden plant schon in der folgenden Spielzeit die deutsche Erstaufführung, natürlich mit Christel Goltz in der Titelpartie. Aber es gibt Schwierigkeiten mit der männlichen Hauptrolle, dem Kreon. Geschrieben für einen hohen Bariton, abgelehnt vom eigentlich dafür zuständigen Ensemblemitglied wegen der großen Schwierigkeiten lässt sich mein Vater von Carl Orff persönlich überreden. Da er auch ein sehr guter Pianist ist, lernt er die komplizierte Partie überwiegend daheim. Ich sitze im Nebenzimmer bei den Schulaufgaben und

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2. Begegnungen in der Welt der Oper

lerne natürlich ungewollt mit. Die erfolgreiche Premiere ist schon vorbei, wir sitzen beim Mittagessen und am Abend ist wieder einmal „Antigonae“. Wie in Sängerfamilien durchaus üblich, lässt mein Vater einmal kurz seine Stimme in voller Resonanz mit dem Auftrittssatz Kreons erklingen: „Ihr Männer, wär`s die Stadt allein“. Das genügt ihm schon, Stimme spricht gut an, alles in bester Ordnung, aber nun singe ich einfach weiter: „… die haben, nachdem in großer Flut …“ und so weiter. Mein Vater, etwas überrascht: „Wieso kannst Du das?“ und ich erkläre es ihm. Am Abend, ich sitze natürlich wieder in der Vorstellung, mein Vater tritt auf: „Ihr Männer, wär´s die Stadt allein, die haben …“ und bricht ab, steht einige Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, stumm da, das Orchester spielt weiter, man ahnt die verzweifelten Rufe der Souffleuse und dann singt er endlich wieder. Nach der Vorstellung erklärt er mir, er habe bei seinem Auftritt kurz daran gedacht, wie jetzt sein Sohn da unten stumm mitsingt – und im gleichen Augenblick fiel er in ein großes schwarzes Loch: Text und Musik waren wie ausgelöscht. Das war für meinen Vater und für mich wohl die größte Schrecksekunde unseres gemeinsamen Theaterlebens. Als Familienmitglied eines Opernsängers lernt man eben ungewollt alle Partien mit. Noch heute sind viele Texte aus dem Repertoire meines Vaters bei mir jederzeit abrufbar. Das waren übrigens damals ausschließlich deutsche Texte, wie an allen deutschsprachigen Theatern bis weit in die Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Die Verdeutschung bei fremdsprachigen Opern ging oft so weit, dass man etwa bei den italienischen Komponisten, aber auch bei Mozart, die Rezitative gerne durch gesprochene Dialoge ersetzte. Sänger, die normalerweise immer dem Taktstock des Dirigenten untergeordnet sind, nutzten die so gewonnene Freiheit dann sofort für Improvisationen. So wurde in Rossinis „Barbier von Sevilla“ beim ersten Auftritt des Don Basilio (Kurt Böhme) und der Begrüßung durch Don Bartolo (Heinrich Pflanzl) von den beiden Sängern jedes Mal eine eigene Szene erfunden. Ein Beispiel von vielen: Basilio öffnet die Tür, ist völlig erschöpft, Bartolo eilt ihm zu Hilfe, beide schleppen gemeinsam einen offensichtlich wahnsinnig schweren Koffer bis vor den Souffleurkasten. Bartolo: Aber Don Basilio, was haben Sie denn in dem Koffer? Basilio: Ziegelsteine. Bartolo: Ziegelsteine? Was machen Sie denn mit Ziegelsteinen? Basilio: Ich sammle sie. Bartolo: Aber wofür sammeln Sie denn Ziegelsteine? Basilio: Na, für den Wiederaufbau der Semperoper.

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Das gab natürlich großen Applaus und erst danach konnte das Stück weitergehen. Im Rezitativ sind das zwei Takte mit einer Viertelpause, nur in Sekunden messbar, die Improvisation dauerte etwa fünf Minuten, die der Dirigent hilflos über sich ergehen lassen musste. Als Regisseur habe ich derartige Improvisationen immer gehasst und energisch bekämpft, heute sehe ich das etwas lockerer, denn sie gehören wohl einfach zu einer lebendigen Theaterpraxis. Und dem Publikum hat es Spaß gemacht, sicher mehr als heute, wo man den Text als Projektion über dem Bühnenausschnitt nachlesen soll. Einen ganz wichtigen Herren aus dem Ensemble hätte ich nun fast vergessen: den Heldenbariton Josef Herrmann. Er ist für mich fester Bestandteil der Erinnerungen an Dresden, vielleicht weniger wegen seines Hans Sachs, der mir immer ein wenig zu finster war. Aber Herrmann wohnte in einer Villa am Stadtrand, die den Krieg unbeschädigt überstanden hatte. Dort durfte ich manchmal Bücher ausleihen: Die linke Hälfte seiner Bibliothek bestand aus Karl May, da hatte ich freie Wahl, die rechte Seite war für mich tabu, das war wohl noch zu früh für meine Altersgruppe. Außerdem schenkte mir Herrmann einen aus längst vergangenen Zeiten noch erhaltenen hellgrauen Flanell-Anzug – auch wenn er mir nicht so recht gepasst hat, es war ein tolles Gefühl, in der Nachkriegszeit ein Kleidungsstück aus den Dreißigerjahren zu tragen. Meine Theaterbesuche beschränken sich natürlich nicht auf die Oper allein, denn die „Bühnen der Landeshauptstadt Dresden“, aus denen dann bald wieder die „Staatstheater Dresden“ wurden, verfügten auch über ein hervorragendes Schauspiel-Ensemble mit ganz großen Namen wie Edith Heerdegen, Paul Hoffmann, Erich Ponto. Sie haben noch viele Jahre die deutsche Theaterszene mitgestaltet und noch viel später, in Stuttgart, bin ich ihnen wieder begegnet .Aber mein Favorit in Dresden damals war eindeutig Helmuth Hinzelmann. Das war wohl auch eine politische Entscheidung, denn wenn er als Marquis Posa im „Don Carlos“ seine berühmte Forderung nach „Gedankenfreiheit“ formulierte, dann tobte das ganze Haus. So wird das Theater für mich schon sehr früh Bestandteil meines Lebens, dort erlebe ich meine Abenteuer, meine Träume, dort sind auch die Freiräume vor dem immer stärker werdenden politischen Druck. Als sich dann für meinen Vater der Weg nach Berlin öffnet und ich ihn erstmals begleiten darf, da sind die Erwartungen groß.

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2. Begegnungen in der Welt der Oper

1950 Deutsche Staatsoper Berlin Eine Fülle von neuen Theatereindrücken überwältigt den Sechzehnjährigen in Berlin, aber über allem steht zunächst ein Name: Ernst Legal, der Intendant der Staatsoper. Ich hatte noch nie einen Intendanten kennengelernt. Berechtigte Frage also: Was ist das überhaupt, ein Intendant?

„Dieser seltsame und komplizierte Beruf ist, falls er recht ausgeführt werden soll, kaum erlernbar, wenn auch eine Menge rein äußerlicher Kenntnisse für ihn vorausgesetzt werden. Eher könnte man schon sagen, dass er durch Erleiden zu erwerben wäre, nämlich durch eine Kette von erlebten Misserfolgen und Nackenschlägen, also sozusagen auf negativem Wege. Ich wollte nie Intendant werden und habe mich nie um einen Intendantenposten beworben. Aber mein Schicksal war anderer Meinung und hat mich sechsmal in eine Stellung gestoßen, die ich nicht angestrebt habe, Wiesbaden, Darmstadt, Kassel, Berlin. Die Frage liegt nahe, warum ich das Amt trotzdem immer wieder übernommen habe. Darauf kann ich nur ganz banal und meinetwegen auch ganz bürgerlich antworten: aus Pflichtbewusstsein.“5 Es ist Ernst Legal, der diese Sätze formuliert hat für seine Lebenserinnerungen, aus denen leider nie ein Buch geworden ist. Er war nie mein Intendant, denn ich ging noch in die Schule, als ich ihn kennenlernte. Aber er gehört für mich zu den eindrucksvollsten Persönlichkeiten, die mir am Theater begegnet sind. Das fing schon mit der äußeren Erscheinung an. Wolfgang Langhoff, Schauspieler, Regisseur und Intendant des Deutschen Theaters hat ihn präzis beschrieben:

„Seine seltsame Gesichtsbildung, der überhohe Schädel auf kleinem Körper, das graue, struppige Bärtchen auf der Oberlippe, der etwas knarrende Klang seiner Stimme, der einen großen geistigen und seelischen Reichtum ahnen ließ, gaben ihm etwas Besonderes, manchmal auch Skurriles, Kauziges – vor allem, wenn er seine dunkle, die Augen und gelegentlich den Schlaf schützende Brille aufhatte, wirkte er, als sei er einer Novelle E. T. A. Hoffmanns entstiegen.“6

5 Zitiert bei Hermann Barkhoff „Ernst Legal“ 6 Zitiert bei Hermann Barkhoff „Ernst Legal“

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Fast ein halbes Jahrhundert als Schauspieler, Regisseur und Intendant liegen schon hinter Ernst Legal, als er 1945 mit der Leitung der Deutschen Staatsoper Berlin beauftragt wird. Man hat die Staatsoper nach der Zerstörung der Lindenoper im Admiralspalast untergebracht, einem vom Krieg verschonten ehemaligen Revue- und Operettentheater. Der Zugang zum Admiralspalast führt durch einen großen Hinterhof. In den oberen Etagen über dem eigentlichen Theatereingang ist die Direktion und die Verwaltung untergebracht. Nach Ende einer Vorstellung wird einem die Wartezeit bis zum Erscheinen der abgeschminkten und umgezogenen Künstler sehr oft auf einzigartige Weise verkürzt: aus einem der noch erleuchteten Fenster hörte man ein Cembalo, vorzugsweise mit Werken französischer Komponisten des 18. Jahrhunderts, Couperin und Rameau. Es ist der Intendant Ernst Legal, der am Ende eines Opernabends noch gerne für sich allein musiziert. Einer Hugenotten-Familie entstammend gilt seine große Liebe der französischen Sprache und der französischen Musik. Er hat Moliere, Rostand und Scribe übersetzt, aber auch Shakespeare und selbst einige Theaterstücke geschrieben. Ich durfte ihn zweimal mit meinem Vater in seiner Zehlendorfer Wohnung besuchen und war überwältigt von dem Anblick: Bücher über Bücher, in den Gängen und den Zimmern bis an die Decke, das war seine Welt. Unglaublich, wenn man sich vorstellt, dass Ernst Legal neben seiner Tätigkeit als Schauspieler, Regisseur und Intendant auch noch in rund einhundert Filmen seit 1920 mitgewirkt hatte. So gibt es von Mozarts „Figaros Hochzeit“ eine Verfilmung aus dem Jahr 1949 (mit Willy Domgraf-Fassbaender, dem Vater von Brigitte Fassbaender, als Figaro), in der er den Gärtner Antonio spielte. Ich habe im Laufe meines Lebens noch einige bedeutende Intendanten kennengelernt, aber es war keiner mehr dabei mit einer so umfassenden Theaterlaufbahn und der abends nach der Vorstellung im Theater noch Cembalo spielte. Vom Zuschauerraum im Admiralspalast konnte man durch eine kleine Türe links im Parkettfoyer in das sogenannte Konversationszimmer gelangen, wo in den Vorstellungspausen Mitwirkende und Angehörige zusammenkamen. Direkt neben diesem Raum lag das Dirigentenzimmer. An einem großen Theaterabend, Erich Kleiber dirigiert den „Rosenkavalier“, fliegt die Türe des Dirigentenzimmers plötzlich auf, ein Herr drängt sich verlegen durch die Umstehenden und aus dem Zimmer hört man, sehr laut, Kleibers Stimme: „Lassen Sie sich nie mehr hier sehen, Sie Menschenhändler!“. Der Hinauswurf galt einem bekannten Theateragenten. Ich habe inzwischen eine bessere Meinung von dieser für Bühnenkünstler so sehr wichtigen Berufsgruppe, aber ein kleiner Wahrheitskern steckt schon drin in dieser Geschichte. Die politischen Grenzen waren zu dieser Zeit ja noch durchlässig in Berlin. Es gab zwar bereits getrennte Währungen, aber aus Prestigegründen waren promi-

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nente Gäste aus dem Westen durchaus erwünscht – und wurden auch in DM-West honoriert. Das eröffnete den Theateragenturen ein reiches Betätigungsfeld, dem Publikum in Ostberlin bescherte es das Beste aus dem deutschen Stimmenwald. Zu den regelmäßigen Gästen gehörte auch der Tenor Rudolf Schock, damals auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er sang in Berlin das gesamte große Tenor-Repertoire, sowohl in der Staatsoper wie in der Komischen Oper, ich habe ihn bewundert, seinen jungenhaften Charme und natürlich seine Stimme, aber vor allem die Tatsache, dass er im Winter von München nach Berlin in seinem offenen BorgwardCabriolet fuhr. Das Auto allein war schon toll, es war seiner Zeit weit voraus, und ist leider schon lange vom Markt verschwunden, aber dann noch ein Tenor, mit offenem Dach – im Winter: es war sensationell! Der Tenor als der Liebhaber ist ja in der Oper automatisch immer Partner der Soprane. Aber meist gibt es in den Liebesgeschichten auch einen Gegenspieler, der dann vom Bass verkörpert wird. So wurden Rudolf Schock und mein Vater im reichen Spielopern-Repertoire Dauerpartner, vom „Liebestrank“ über den „Barbier von Bagdad“ bis zur „Verkauften Braut“. Sie hatten schließlich Mühe, auf der Bühne ihre Freundschaft zu verheimlichen, was Walter Felsenstein in einem seiner berühmten Kritikbriefe dann auch kritisierte:

23. Dezember 1950 Lieber Herr Pflanzl! … Die große Szene zwischen Ihnen und Schock im 2. Akt nimmt, wie mir letzthin auffiel, bei aller gleichgebliebenen äußeren Präzision inhaltlich einen gänzlich anderen Verlauf. Ich hatte das Gefühl, Sie wären sich beide ziemlich einig und trieben in diesem Einverständnis mit viel Humor ein abgekartetes Spiel um den Brauthandel. Ich kann mir auch erklären, worauf das ohne Ihre Absicht zurückzuführen ist. Ihre Garderobenkameradschaft hat sich im Laufe der Aufführungen so gefestigt, dass darüber das Verhältnis zweier Feinde, denen es beide um höchste Einsätze geht und die einander mit aller List betrügen, immer mehr verlorengeht.7 Im herrlichen Sänger-Ensemble der Staatsoper habe ich inzwischen meinen idealen Hans Sachs gefunden, Jaro Prohaska. Auch wenn er vielleicht nicht ganz dem historischen Vorbild entspricht, er strahlt bei aller Listigkeit so viel Sympathie aus, dass man ihm auch als Sohn des „Beckmesser“ nicht böse sein kann. Dennoch, in 7 Walter Felsenstein: „Schriften zum Musiktheater“, S. 254/255

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den zahllosen „Meistersinger“-Vorstellungen habe ich immer nur auf einen ganz bestimmten Augenblick gewartet: Richard Wagner hat im dritten Akt in der Schusterstube am Ende des Quintetts in Takt 31 der führenden Sopranstimme der Eva einen Triller vorgeschrieben. Wann immer Tiana Lemnitz die Rolle sang, ich habe nur auf diesen Triller gewartet, ja, ich war geradezu süchtig auf diese Stelle. Tiana Lemnitz, zu dieser Zeit bereits über fünfzig, für einen Sopran also in durchaus fortgeschrittenem Alter, sang das mit einem warmen Piano, das – zumindest in meiner Erinnerung – vor Erotik vibrierte. Ich habe auf diese Weise ein paar hundert Stunden „Meistersinger“ tadellos überstanden, mein Interesse gilt damals aber ausschließlich dem Stimmklang, nicht der Sängerin. Ich habe den Klang noch heute im Ohr und rückblickend ist für mich die Erkenntnis faszinierend, wie damals aus dem Theaterkind, das eben noch für bestimmte Sängerinnen und Sänger schwärmen konnte, eine Art Stimmenfetischist entstanden ist. Im Verlauf meiner Bühnentätigkeit hat sich das dann wieder relativiert, aber von diesem Zeitpunkt an hat der „Stimmenwald“ einfach eine andere Dimension bekommen. Schon kurz danach, bei den Bayreuther Festspielen, gibt es für mich mit Astrid Varnay dann eine durchaus vergleichbare Begegnung.

1951 Bayreuther Festspiele Bei den ersten Bayreuther Festspielen nach dem Kriege singt mein Vater – alternierend mit Erich Kunz – den Beckmesser und den Kothner in den „Meistersingern“ und die Alberiche im „Ring“. Es ist für mich der erste Ausflug in die westliche Welt und da wir nun wieder ein Auto haben – ein wunderschönes Wanderer-Cabriolet aus den dreißiger Jahren – und ich auch schon einen Führerschein besitze, wird es ein unvergesslicher Sommer. Die Begegnungen mit den großen Künstlern, die Aufführungen, aber auch die herrliche Umgebung, es ist wirklich einmalig. Wenn man in Bayreuth die Königsallee in Richtung Eremitage fährt, trifft man auf ein altes Gebäude aus dem 16. Jahrhundert, die „Rollwenzelei“. Hier verkehrte im 19. Jahrhundert regelmäßig der Dichter Jean Paul, er hatte hier seine eigene Einkehr- und Dichterstube. Diese historische Gedenkstätte wird im Verlauf der ersten Bayreuther Festspiele nach dem Krieg noch zu einer oft zitierten witzigen Aktualität kommen – bezogen auf Herbert von Karajan. Zusammen mit meinem Vater treffen wir ihn eines Tages auf dem Bahnhofsvorplatz in Begleitung von Horst Taubmann, einem ehemaligen Sänger, nun in leitender

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Position bei einer Schallplattenfirma. Die drei Herren sind sofort in ein Fachgespräch vertieft, dem der Jüngling nur stumm lauschen darf. Aber irgendwann ist dann auch die Rede von meinen Berufsplänen, die ja inzwischen eindeutig in die Richtung Regie gehen. Da meint doch Herr Taubmann: „Junger Mann, wenn Sie wirklich einmal zum Theater gehen wollen, dann hören Sie auf meinen Rat: Das macht nur Sinn, wenn Sie eine Sensation darstellen.“ Ich fand diesen Spruch damals ziemlich albern, aber als Manager eines großen Dirigenten musste man das wohl so formulieren. In meiner Berufswahl hat mich das nicht beeinflusst und meine Erfahrungen haben es auch nie bestätigt. Diese ersten Bayreuther Festspiele waren natürlich eine aufregende Zeit. Ich rede noch nicht von dem Aufruhr, den Wieland Wagner mit der neuen Sicht auf das Werk seines Großvaters hervorrief. Aber wenn man sich vorstellt, dass da ein Regisseur und Bühnenbildner in einer Person gleichzeitig fünf Opern zu inszenieren und auszustatten hatte, die vier Werke des „Rings“ und „Parsifal“, dann kann man sich ungefähr die chaotischen Verhältnisse während der Probenzeit vorstellen. Vieles wurde improvisiert, manches nie richtig probiert und nur dank eines routinierten Sängerensembles konnte das überhaupt gelingen. Ganz anders bei den „Meistersingern“, denn die lagen in den Händen eines erfahrenen Regisseurs, Rudolf Hartmann. Seine Inszenierung folgt der damals allgemeinen Aufführungstradition der Wagneropern, hier gibt es keine Revolution und auch keine Proteste. Allerdings hat der musikalische Leiter, Herbert von Karajan, manchmal mehr als alle Hände voll zu tun, vor allem während der großen Prügelfuge im 2. Akt. Er greift dann häufig auf eine bewährte Methode der Dirigenten zurück, anstelle eines taktmäßig orientierten Dirigierens vollführt er mit beiden Händen kreisförmige Bewegungen, was ihm beim Orchester sehr schnell den bayreuthspezifischen Spitznamen „Rollwenzel“ verschafft. Den ersten Zyklus der „Ring“-Vorstellungen dirigiert Hans Knappertsbusch. Bei den Bühnenorchesterproben darf ich im Zuschauerraum sitzen und ich erinnere mich noch gut an eine „Siegfried“-Probe. Wilma Lipp singt den Waldvogel, in Begleitung eines Korrepetitors irgendwo hoch oben im Bühnenhaus postiert. Natürlich klappt der erste Einsatz nicht, Knappertsbusch unterbricht und brüllt hinauf: „Welches Rindvieh steht denn da oben?“ – womit er wohl den Korrepetitor meinte. Mit hoher piepsiger Stimme kommt die Antwort von Wilma Lipp: „Ich, Herr Professor“. Die Reaktion von Knappertsbusch, der ja für seine deftige Ausdrucksweise bekannt ist, geht glücklicherweise im allgemeinen Gelächter des Orchesters unter. Was bleibt einem Sechzehnjährigen von diesem ersten Festspielsommer? Vor allem natürlich der persönliche Kontakt mit den großen Sängerinnen und Sängern,

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allen voran Astrid Varnay. Sie kam aus Amerika mit einer eigenen Gesangstechnik, die ihr erlaubte, Spitzentöne ganz leicht von unten anzusingen, was zu einer ganz interessanten chromatischen Reibung führte mit einem eigenen Reiz, den ich damals als ziemlich aufregend empfand. Sie wurde der führende Wagnersopran in Bayreuth für viele Jahre, ihre außerordentlichen darstellerischen Qualitäten sind mir erst später bei der Zusammenarbeit in Stuttgart bewusst geworden. Dann waren da natürlich die großen Dirigenten Furtwängler, Karajan und Knappertsbusch und der gewaltige Orchesterklang, den man so nur in Bayreuth erleben kann. Das szenische Angebot hat mich relativ wenig berührt, ich finde es nicht aufregend, sondern langweilig und vor allem viel zu dunkel auf der Bühne, für die „archetypischen Aspekte“ der Inszenierungen von Wieland Wagner bin ich wohl noch zu jung. Das ändert sich auch nicht im Jahr darauf, denn bis auf einen neuen „Tristan“ wird das Programm von 1951 wiederholt, wenn auch mit vielen szenischen Korrekturen. Für mich ändert sich dann aber Grundsätzliches, denn ich gehe für ein Jahr nach Salzburg, ein Jahr intensiver Auseinandersetzung mit der Gesangstechnik, aber auch ein Jahr ohne Opernbesuch – Urlaub vom Stimmenwald. Doch davon wird später die Rede sein.

1954 Komische Oper Berlin Im Sommer 1953 komme ich zurück nach Berlin, nun aber in den Westen der Stadt. Doch das Thema „Gesang“ beherrscht sofort wieder den Alltag. Meine Eltern wohnen in Dahlem in einer Doppelhaus-Hälfte. In der anderen Hälfte erscheint einmal in der Woche eine Vierzehnjährige und übt dort ausdauernd und mit sehr kräftiger Stimme den Frühlingsstimmen-Walzer. Das ist ziemlich enervierend, aber wohl Schicksal, denn ich werde der Stimme später in Stuttgart und in Hamburg wieder begegnen: es ist Anja Silja, die sich dann sehr schnell zu einer der ganz Großen auf der Opernbühne entwickelt hat. Hauptthema für mich ist aber zunächst der Schulabschluss, der wegen der starken Unterschiede zum ostdeutschen Schulsystem nun nicht in einem normalen Gymnasium erfolgen kann. Die zweitbeste Lösung ist ein Abendgymnasium und das führt auch zum erfolgreichen Abitur – Matura heißt es in Österreich – im Frühjahr 1954. Diese Monate bringen eine deutliche Reduzierung der Theaterbesuche wegen der Unterrichtszeiten am Abend, aber auch viel Freizeit tagsüber. Diese freien Tageszeiten sind ein Glücksfall für mich, denn ich habe zwei Menschen getroffen, denen ich für meine weitere Entwicklung unendlich viel zu

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verdanken habe. Der Sänger Paul Schmidtmann und seine Frau, die Tänzerin Anna Kapama, waren schon zusammen mit meinem Vater am Theater in Breslau engagiert und sind seitdem gute Freunde der Familie. Zwanzig Jahre lang hatte ich nur in einer Art „Theaterwelt“ gelebt, nun wurden mir die Augen geöffnet für tausend neue Dinge. Weit über seinen Sängerberuf hinaus hatte Paul Schmidtmann viele Begabungen und Interessen, er beschäftigte sich mit den „Sieben freien Künsten der Antike“, besonders mit Rhetorik und Grammatik, mit Gedächtnistraining und mnemotechnischen Experimenten, mit Sprache, Literatur, Malerei. Er hat mich Kleist lesen und lieben gelehrt und Karl Kraus: In seinem Bücherregal standen die Originalhefte der „Fackel“ und an den Wänden der skandinavisch eingerichteten Wohnung hingen seine Gemälde aus der finnischen Wahlheimat. Erst sehr viel später ist mir die Bedeutung dieser Zeit für mich selbst bewusst geworden, die Anregungen, Anleitungen und Denkanstöße, die ich dort erhalten habe. Als im Frühjahr 1954 der Lebensabschnitt Schule mit dem Abitur abgeschlossen ist – übrigens gleichzeitig mit meinen ehemaligen Schulkollegen im Osten Berlins - gibt es für mich nur noch ein Ziel und das ist das Theater. Mit Beginn der Spielzeit 1954/55 bin ich dann Regie-Assistent an der Komischen Oper bei Walter Felsenstein. Es ist ein großes Ereignis, in der Behrenstraße als Mitarbeiter aufgenommen zu werden. Man gehört nun zu einer großen Familie und Familienvater ist der Intendant. Man darf jederzeit zu ihm kommen, er ist immer zu sprechen und alle Mitglieder seines Hauses sind ihm gleich wichtig. Zwischen dem Theaterleiter und dem Regisseur Felsenstein gibt es keine Unterschiede und das ist wohl auch eine seiner großen Qualitäten, sein großes und doch so einfaches Rezept, Alles und Alle ernst zu nehmen. Die Lebendigkeit der Chorszenen in Felsensteins Inszenierungen beruht einfach darauf, dass er den Chor nicht als anonyme Masse behandelt, sondern individuell führt. Der Aufruf des Inspizienten zum Bühnenauftritt des Chores ergeht daher immer an die „Damen und Herren Chorsolisten“ und das entspricht auch der Realität. In den Regie-Auszügen werden die Chormitglieder namentlich von 1 bis 70 durchnummeriert und in ihren Aktionen und Reaktionen oft einzeln aufgezeichnet. Das erfordert natürlich eine ausgiebige Probenarbeit und so sind die täglichen Proben lang und die Gesamtprobenzeit außergewöhnlich. Während im normalen Opernbetrieb kaum mehr als sechs Wochen für eine Inszenierung zur Verfügung stehen, manchmal müssen sogar vier Wochen reichen, kann es an der Komischen Oper ein halbes Jahr – oder auch länger – dauern. Die einmal erreichte Präzision einer Aufführung wird peinlichst genau kontrolliert und, falls es notwendig erscheint, durch neuerliche Proben sofort wieder hergestellt. Als Abendspielleiter hat man nicht einfach durch eine Unterschrift den ordnungsgemäßen Ablauf

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der Vorstellung zu bestätigen, es müssen ausführliche Protokolle erstellt werden über eventuelle Abweichungen vom Originalablauf, gesondert für Solisten, Chor, Ballett, Bühne, Beleuchtung und schließlich auch über die Publikumsreaktionen. Dieser Bericht liegt am nächsten Morgen auf dem Schreibtisch des Intendanten und kann bei entsprechend kritischem Inhalt dramatische Folgen haben, denn Felsenstein ist ein Mann der schnellen Entscheidungen. Da gibt es die berühmten Briefe an die Darsteller, Vier-Augen-Gespräche oder auch Versammlungen, schlimmstenfalls neue Proben. Nur so kann die Qualität der Aufführungen oft über lange Jahre erhalten werden, Besucher der fünfzigsten, hundertsten oder gar zweihundertsten Vorstellung werden genauso ernst genommen wie das Premierenpublikum. Es sind kostbare Aufführungen, wie sie bei den heute herrschenden Produktionszwängen nur noch selten zu finden sind, aber es ist auch eine kostspielige Art, Theater zu machen. Premieren werden verschoben, wenn man mit den Proben nicht fertig wird, Vorstellungen fallen aus bei Erkrankungen im Ensemble. Dafür hat man Lautsprecher über dem Theatereingang installiert, die die Besucher über aktuelle Änderungen informieren sollen. Denn Gäste, die bei einer Erkrankung im Ensemble am Vormittag eingeflogen werden und am Abend auf der Bühne stehen, die gibt es bei Felsenstein nicht, kann es einfach nicht geben mit einem darstellerisch so stark profilierten Ensemble. Felsensteins große Persönlichkeit prägt seine Sängerinnen und Sänger so intensiv, dass er einmal augenzwinkernd klagen kann: „Da probiert man und probiert man und dann stehen lauter kleine Felsensteins auf der Bühne!“. Wenn es um die Qualität seines Hauses geht, dann kann Felsenstein auch radikale Entscheidungen treffen. So hat ein Gastregisseur die „Schweigsame Frau“ von Richard Strauss bereits bis zur Generalprobe fertig, der Intendant will sich trotz zahlreicher Klagen aus dem Ensemble vorher nicht einmischen, setzt dann aber nach der Generalprobe die Premiere ab, entlässt den Regisseur und inszeniert selber in Rekordzeit das Stück noch einmal neu. Es wird eine seiner besten Inszenierungen. Und als er bei Probenbeginn für seine später so erfolgreiche „Verkaufte Braut“ die Unzulänglichkeiten der damals noch üblichen deutschen Bearbeitung erkennt, lässt er sich das Original in der tschechischen Botschaft wörtlich übersetzen und passt die täglich eintreffenden Texte dann in Nachtarbeit der Musik an. Die Mitwirkenden erhalten vormittags zum Beginn der Probe die neuesten Texte. Man kann sich ungefähr vorstellen, was das für eine zusätzliche Belastung für die Sängerinnen und Sänger ist, denn sie müssen im letzten Augenblick längst vertraute Texte vollständig umlernen und das ist bekanntlich schwieriger, als etwas Neues zu lernen. Es ist eine eigene Welt, die Komische Oper in der Behrenstraße. Das Bewusstsein, zu dieser Theaterfamilie zu gehören, vermittelt das Gefühl von Geborgenheit, führt

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aber auch leicht zu einem gewissen Elitedenken gegenüber dem üblichen Repertoiretheater, das man gerne mitleidig belächelt. Doch dann meint Felsenstein eines Tages zu mir: „Du musst doch noch kein Geld verdienen oder? Dann sei doch nicht dumm, lern’ doch noch was, geh auf die Uni, so lange Dein Alter das zahlen kann. Das Theater läuft Dir nicht davon, was Du hier machst, kannst Du später auch noch machen. Du bist doch noch so jung.“ Ich folge seinem Rat, denn er hat wohl recht. Aber als ich die Komische Oper nach einem Jahr verlasse, da komme ich mir so einsam vor als hätte ich eine Familie verloren. In Erinnerung bleiben die intensivsten Probenzeiten meines Lebens und unzählige aufregende Theaterabende. Und mein Reisegepäck ist wieder um grundsätzliche Erkenntnisse bereichert worden:

Es gibt sehr viele bedeutende Werke der Opernliteratur, denen eine echte theatralische Vision zugrunde liegt und deren Durchführung den Gesetzen des Theaters lückenlos entspricht. Die Musik solcher Werke dient ausschließlich der dramatischen Handlung und Situation, der Gesang ausschließlich dem Ausdruck des handelnden Menschen. Die gültige Wiedergabe solcher Werke im Sinne der Autoren erfordert freilich künstlerische Persönlichkeiten und Arbeitsmethoden, die im Opernberuf leider nur selten anzutreffen sind. Die Interpretation bleibt daher in den meisten Fällen hinter den Intentionen des Komponisten und Autors zurück … Das wirkliche musikalische Theatererlebnis … kommt nur zustande, wenn Musik und Gesang in einer dramatischen Funktion richtig erkannt und konsequent eingesetzt werden.8

1955 Universität und Musikhochschule München Zunächst finden nun die neuen Begegnungen eher auf der wissenschaftlichen Seite statt. Ich habe mich, einem guten Rat Walter Felsensteins folgend, noch einmal auf die Schulbank gesetzt und er hat recht gehabt, es gibt noch unendlich viel zu lernen für mich. So stürze ich mich mit Begeisterung in das studentische Leben in München, zentrales Thema meines Studiums soll natürlich die Theaterwissenschaft sein. Der Schriftsteller Hugo Hartung, ein Freund meines Vaters, hat einen Empfehlungsbrief an seinen ehemaligen Professor Arthur Kutscher geschrieben und so werde ich 8 Walter Felsenstein „Schriften zum Musiktheater“, S. 66

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schon in der ersten Woche meiner Universitätslaufbahn vom Doyen der deutschen Theaterwissenschaft – Kutscher ist damals 77 Jahre alt – liebenswürdig empfangen. Kutscher hat auf seinem Schreibtisch ein Papier vorbereitet und überreicht mir, dem gerade erst eingeschriebenen Studienanfänger, freundlich lächelnd das Thema für eine Diplomarbeit: „Felix Mottl und die Münchner Oper“. Bis zum Ende des ersten Semesters erwartet er von mir eine genaue Disposition. Das kommt nun schon etwas überraschend, aber im Grunde ist es mir sehr recht, denn ich will ja in kürzester Zeit möglichst viel erreichen. Die ersten Schritte in die Ludwig-Maximilians-Universität sind geprägt von dem Gedanken, dass hier vor zwölf Jahren Studierende wie ich, die Geschwister Scholl und die „Weiße Rose“, für ihre Überzeugung sterben mussten. Wir werden zwar auch protestieren und etwa gegen Hans Sedlmayrs „Verlust der Mitte“ auf die Straße gehen, aber vergleichen darf man es nicht, es war eine andere Welt. Vom Heute aus gesehen hat sich die Welt noch einmal verändert, bei Demonstrationen geht es jetzt meistens nur um das Geld, wir hatten doch wenigstens die Kunst und ihre wissenschaftliche und ideologische Aufarbeitung im Kopfe. Dafür stehen nun an der Uni große Namen zur Verfügung, zu denen neben Arthur Kutscher eben auch der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr und vor allem der Archäologe Ernst Buschor gehören. Die großen Massenvorlesungen der Germanistik erspare ich mir nach einigen Versuchen, die wichtigsten Texte kann man als Skript kaufen, nachts durcharbeiten und damit sehr viel Zeit gewinnen.

14. November 1955 Die erste Universitätswoche ist nun vorüber. Sie verlief noch ziemlich lückenhaft, aber im Allgemeinen hat es Spaß gemacht. Nur, ein alter Mann werde ich hier wohl nicht werden. Es ist zwar sehr schön, sich viele Anregungen zu holen, aber nur um der Wissenschaft willen? Sicher nicht! 4. Dezember 1955 Die vorweihnachtliche Zeit scheint eine Periode der fortlaufenden, gleichmäßig zunehmenden Vereinsamung der Universität zu sein. Gestern las ich in der Zeitung ein Inserat: „Student sucht für den 8.12. Fahrtmöglichkeit nach Berlin.“ War aber nicht von mir. Ich bleibe, da die Professoren hoffentlich bis zum Schluss lesen werden. Dann sind immer noch drei Wochen Urlaub. 11. Januar 1956 An der Uni ein ziemlich müder Tag, ein Teil der Studenten ist bis heute noch nicht zurück. Die Hörsäle waren dementsprechend leer oder nur teilweise von

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Schlafenden und Gähnenden bevölkert, die sich aber allmählich verdrückten, um ihre Reisemüdigkeit auszuschlafen 27. Januar 1956 Der Fechtkurs im Sportinstitut war heute viel netter als am Anfang, da die Teilnehmerzahl von ursprünglich zwanzig jetzt auf sechs zusammengeschrumpft ist. Diese Erscheinung der Abwanderung ist überall an der Universität zu beobachten bei Kursen, die irgendwelche Mitarbeit verlangen ohne direkten Zusammenhang mit dem Studiengang. So sind im anfangs etwa achtzig Teilnehmer zählenden Italienisch-Kurs jetzt nur noch etwa dreißig übrig geblieben. Es ist kostbare Zeit, die ich hier nicht vertrödeln will, denn mir geht alles viel zu langsam: Je älter ich werde, desto eiliger habe ich es. Ich verbringe die frühen Morgenstunden meistens in Bibliotheken und Archiven auf der Suche nach Material für meine „Diplomarbeit“, tagsüber ist dann die Universität dran und ein Teil der Nachmittage gehört der Musikhochschule. Vom Musikschriftsteller Wilhelm Zentner und seiner Vorlesung über Operndramaturgie angelockt, haben mir die dunkel getäfelten Räume der alten Stuckvilla sofort gefallen. Dort ist die Opernklasse untergebracht und deren Leiterin, Kammersängerin Hedwig Fichtmüller, spannt mich auch gleich in die Regiearbeit ein, ich darf mit den Gesangsstudenten arbeiten, Programme entwickeln und neue Texte erfinden. Die Höhepunkte dieser anregenden Aktivitäten können wir dann sogar im Theater am Gärtnerplatz der Öffentlichkeit präsentieren. Das Theater spielt natürlich die Hauptrolle in meinem Universitätsleben, wenn auch die Versuchungen groß sind, die mich zu so unterschiedlichen Bereichen wie Film und Journalismus, zu Archäologie und Kunstgeschichte locken. Aber der Besuch von Kutschers Vorlesungen über Theatergeschichte ist ein Muss, wenn auch manchmal die Dias auf dem Kopf stehen, ohne dass es der Vortragende bemerkt. Die Atmosphäre ist locker, fast gemütlich und es herrscht eine angenehme Dunkelheit im Saal. Und unvergessen natürlich die Exkursionen unter Kutschers Führung, ob es nun zur Landshuter Fürstenhochzeit geht, wo man staunend die lebensgroßen Commedia dell’ Arte-Figuren auf der „Narrentreppe“ der Burg Trausnitz besichtigt oder zu den Kiefersfeldner Ritterspielen in der Comedihütte. Im Januar 1956 ist die Uraufführung von Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ und so ist es uns ein unverzichtbares Bedürfnis, bei der Rückfahrt mit einem alten Bummelzug an jeder Station auf dem Bahnsteig laut „Güllen! Güllen! Alles aussteigen!“ zu rufen. Unsere Exkursionen enden dann traditionsgemäß in einem urigen Münchner Bierlo-

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kal, natürlich unter Führung des Professors. Somit sind also auch zahlreiche Nächte vergeben. Es bleiben nur noch die Abende und die werden gleichmäßig auf drei Theater verteilt. Zunächst versucht man es mit Studentenkarten bei der Oper im Prinzregententheater, wenn es dort nicht klappt, geht es im Eilschritt zum Schauspiel im Residenztheater oder ein paar Meter weiter in die Kammerspiele. Das ursprünglich als Wagner-Festspielhaus errichtete Prinzregententheater beherbergt seit Kriegsende die Bayerische Staatsoper. Mit einem hervorragenden Sängerensemble wird unter dem Staatsintendanten Rudolf Hartmann die Tradition der Mozart – Wagner – Strauss – Pflege konsequent fortgeführt, daneben garantieren führende Dirigenten und Regisseure eindrucksvolle Begegnungen mit dem klassischen Opernrepertoire. Neu für mich sind die Akzente, die im vorklassischen Bereich mit Händel gesetzt werden, und die zeitgenössische Oper. Das Prinzregententheater hat viele Uraufführungen erlebt, nicht nur von Werner Egk und Carl Orff, den beiden „Hauskomponisten“. Im März 1956 ist es die Uraufführung von Henri Tomasi „Don Juan de Mañara“ mit Bernd Aldenhoff in der Titelrolle, einem guten alten Bekannten aus Dresden. Inzwischen schreibe ich regelmäßig Kritiken für die Studentenzeitung, nicht immer sehr konziliant. So stelle ich bei der Erstaufführung der Oper „Dantons Tod“ von Gottfried von Einem fest, dass „bedauerlicherweise das Werk seinen eigenen Höhepunkt überleben muss und im letzten Bild musikalische Erschöpfung eintritt“. Dennoch, die Aufführungen im Prinzregententheater sind Repertoiretheater auf höchstem Niveau, sängerisch, musikalisch und szenisch. Natürlich gibt es auch andere Facetten und eine eher merkwürdige entdecke ich an einem großen Wagner-Abend. Die Karte habe ich von Kammersänger Hans Hopf bekommen, den ich von seinen Gastspielen in Dresden kenne. Ich sitze neben seiner Gattin, er singt den Stolzing in den „Meistersingern“. Regisseur dieser Aufführung ist Heinz Arnold, mein großes Vorbild aus Dresden und inzwischen Oberspielleiter der Bayerischen Staatsoper. An ihm kann es nicht liegen, dass im ersten Akt der Stolzing immer wieder an der gleichen Stelle in der Mitte der linken Bühnenhälfte steht, oft völlig widersinnig. Als ich in der Pause davon spreche, meint meine Nachbarin, verschmitzt lächelnd: „Weißt du, das haben wir lange ausprobiert und dort ist akustisch einfach der beste Platz. Immer wenn der Hans etwas zu singen hat, stellt er sich da auf, das funktioniert ganz vorzüglich.“ Als angehender junger Regisseur bin ich natürlich erschüttert, heute als Regisseur im Ruhestand weiß ich: so selten ist diese Einstellung auf der Opernbühne gar nicht. Es ist ein Problem, das mich auf meinen Wegen durch den Stimmenwald noch oft beschäftigen wird. Daneben gibt es in München aber noch eine ganz andere Theaterwelt: in den Kammerspielen. Der Gegensatz ist gewaltig und manchmal bin ich mir nicht mehr

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so sicher, ob ich die richtige Berufswahl getroffen habe. Nach der Premiere von Brechts „Guter Mensch von Sezuan“ in der Inszenierung von Hans Schweikart und der Bühne von Caspar Neher spaziere ich stundenlang allein durch das nächtliche München, um meine Gefühle und meine Gedanken wieder einigermaßen zu ordnen. Es ist für mich damals und in der Erinnerung auch heute noch einer der größten Theaterabende, die ich erleben durfte! Ergänzend zu dieser Fülle von Eindrücken gibt es dann noch eine familiäre Verbindung zur Familie Steingräber. Erich Steingräber ist Konservator am Bayerischen Nationalmuseum, später wird er Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemälde Sammlungen und er möchte mich gerne hinüberlocken in seine spannende Berufswelt. Er sammelte, wie ich, in seiner Jugend Reproduktionen und ich darf einen Teil seiner Sammlung übernehmen – irgendwann muss man sich ja davon wieder trennen, eine schwierige Entscheidung, vor der auch ich heute stehe. Eine andere Art von Sammlung beginnt aber in München, auf die ich heute noch stolz bin. Ein „Verein der Freunde junger Kunst“ verleiht zeitgenössische Graphik sehr günstig in Monatsmiete, die bei Gefallen dann auf den Kaufpreis angerechnet wird. Mir gefällt gleich mein erstes Blatt, ein Zweifarbendruck von Otto Eglau aus dem Jahre 1952. Und es erinnert mich auch heute noch immer wieder an diese anund aufregende Zeit in München. So hätte München eigentlich der ideale Standort für meine Weiterbildung werden können, wenn nicht eines Tages die Kammersängerin Fichtmüller von der Opernklasse mich nach meinen weiteren Berufsplänen gefragt hätte. Ich wollte später bei einem großen Regisseur als Assistent arbeiten und nenne als ein Wunschziel den Namen Günther Rennert. Kurze Zeit danach fragt die Staatsoper Stuttgart bei Frau Fichtmüller an, ob sie nicht einen geeigneten Assistenten für Rennert weiß, denn der würde die Intendanz in Hamburg aufgeben und ganz nach Stuttgart kommen. Während der Semesterferien 1956 im September erreicht mich dann ein Anruf aus Stuttgart, am nächsten Tag treffe ich dort Rennert, wir spazieren zwei Stunden um den damals noch runden Theatersee und danach ist es perfekt. Ich steige sofort in die bereits laufenden „Cosi“-Proben ein und komme erst zwei Monate später dazu, mein Zimmer in München aufzulösen und mich von Universität und Musikhochschule abzumelden. Aus dem Studium wird also nichts, die „Diplomarbeit“ liegt immer noch in einer Schublade, und das Theater hat mich wieder oder vielleicht sollte man besser sagen: Ich habe das Theater wieder. Die Aussicht auf eine Rückkehr in die Theaterpraxis verstärkt natürlich sofort das Interesse für den aktuellen Stand im Stimmenwald. So zieht es mich noch einmal nach Bayreuth, jetzt aber in einer besonderen Konstellation: ich bin dort verabredet

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mit einem Freund aus der Berliner Zeit, mit Felsensteins Bühnenbildner Heinz Pfeiffenberger. Das verspricht interessante Erkenntnisse, denn einen größeren Gegensatz als das Festspielhaus in Bayreuth und die Komische Oper in Berlin kann man sich wohl kaum vorstellen.

23. Juli 1956 Bei meiner Ankunft sind die Proben schon fast vorbei, auch die Generalproben „Walküre“, „Siegfried“ und „Parsifal“. Aber für den Rest bekomme ich im Büro von Wolfgang Wagner sofort Karten, das ist immer noch eine ganze Menge. Gleich am ersten Tag treffe ich mit Heinz Pfeiffenberger zusammen, wir haben uns sehr gut verstanden und haben bis jetzt die ganze Probenzeit gemeinsam verbracht. Heute ist nun der Ruhetag vor der Eröffnung, gestern war die letzte Generalprobe. Pfeiffenberger verlässt heute Bayreuth, der ist vollkommen fertig, wagnermüde! Es war auch ziemlich anstrengend. Die „Götterdämmerung“ beispielsweise ging mit Unterbrechungen von 10 Uhr bis 23 Uhr! Der „Ring“, soweit ich ihn gesehen habe, ist enttäuschend! Kein Vergleich mehr zu den ersten Jahren. Durch die fortwährenden Veränderungen im Lauf der Jahre hat die ganze Inszenierung sehr gelitten, es ist sehr uneinheitlich geworden. Manchmal hat man auch den Eindruck, als hätte Wieland Wagner einen kleinen Rückzug angetreten. So musste Kostümdirektor Palm wieder (grauenvolle) Kostüme aus der alten Kiste machen! Im Ganzen ist durch die vielen Veränderungen manches schlechter, anderes geblieben, aber fast nichts besser geworden. Das Schlimmste war der Schluss von „Rheingold“, ein einziger Riesenfarbtopf. Wieland sagte zu Pfeiffenberger während der Probe entschuldigend: „Es hat noch nichts geklappt jetzt, das war ja alles Joghurt!“. Aber die Vermutung liegt nahe, dass es auch später nicht mehr sein wird. Es sind nämlich jetzt an die Stelle der wechselnden Projektionen starre getreten, die ganze Akte durch am Horizont kleben, meist in den kräftigsten Farben. So war es im Falle der Nornenszene in „Götterdämmerung“ eine Wölkchenprojektion im intensivsten (Loge-)Rot. Vieles ist sehr statuarisch geworden, dadurch manchmal etwas ermüdend. Gestern nun „Meistersinger“, bei weitem das Erfreulichste dieses Jahres. Nicht, weil hier nun eine vorbildliche Darstellung gefunden worden wäre, das ist es sicher nicht, aber wegen der Unbekümmertheit, mit der ein Enkel seinen Großvater entrümpelt hat. Es ist mir nur leider nicht klar, ob das aus Überzeugung oder aus Sensationslust geschieht. Denn dass man so die „Meistersinger“ nicht an anderen Bühnen geben wird, steht wohl ziemlich fest. Aber diese Ra-

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dikalkur, die leider nicht überall konsequent durchgeführt wird, die Wielands Neuinszenierungen folgerichtig fortsetzt, gibt die Möglichkeit nun eine gültige neue Sicht für das Werk zu finden. Erster Akt rechteckige Schräge mit Breitseite parallel zur Rampe, zu den Bühnenseiten von festem Gestühl umschlossen. Vorne links und rechts Singstuhl und Gemerk, beide aus hochaufstrebendem schlankem Schnitzwerk. Ebensolche Schnitzerei oben hängend. Im zweiten Akt zungenförmige Schräge, Horizont kräftiges Blau, Fliederscheibe. Wieland meinte, das Bild sei Wagners Sommernachtstraum, und so hat er es auch inszeniert. Ein wenig Kunstgewerbe, aber schon sehr eindrucksvoll. Nur ergeben sich viele Schwierigkeiten, so dass zeitweilig sogar der Text verändert werden musste, um Peinlichkeiten zu vermeiden. So wird beispielsweise Sachs während der Walter-Evchen-Szene einfach abgedunkelt und später wieder angestrahlt, er bleibt die ganze Zeit sitzen. Die Schusterstube ist nicht weiter sensationell, erst das Schlussbild, „Der Bundestag“, wie es allgemein heißt. Alles in Gelb und Weiß, nur einige Silberrüstungen, die eine Art Ritterspiel innerhalb des Bewegungschores aufführen, und dann ein roter Tänzer, der – vom Beifall des Chores belohnt – das Gesungene pantomimisch erläutert. 31. Juli 1956 Für ein endgültiges Urteil warte ich noch die zweite „Meistersinger“-Vorstellung ab. Vorläufig bin ich noch sehr begeistert, und sei es nur wegen der unbekümmerten Frechheit, mit der Wieland den ganzen Zauber losgelassen hat. Bei allen Schwächen (und es sind genug!) zweifle ich doch nicht an der Genialität der Konzeption. Es muss eben nur noch einiges Ausreifen, so wie es an den älteren Inszenierungen zu beobachten ist. Mit diesen anderen Aufführungen – bis auf „Götterdämmerung“ sind sie jetzt schon vorbei – habe ich etwas Eigenartiges erlebt. Während der Proben wurde jedes Detail im Bunde mit anderen Leuten, meist sehr kaltschnäuzige Theatermänner vom Schlage Pfeiffenbergers, zerpflückt und fertiggemacht. Aber mit den ersten festlichen Aufführungen hat sich doch eine ganz eigenartige Verzauberung eingestellt. Schon der erste Abend mit „Holländer“ war sehr einheitlich und eindrucksvoll, besonders George London. Der tosende Beifall war offensichtlich eine Demonstration für den konservativeren Regisseur Wolfgang Wagner (am Vortag war „Meistersinger“Premiere gewesen). „Parsifal“ und „Ring“ mit zahlreichen Veränderungen und Verbesserungen, teils abstrakter, teils konservativer und infolge dessen nicht mehr so geschlossen und konsequent wie in den ersten Jahren. Aber es waren auch diesmal wieder große Eindrücke, an der Spitze sicher die „Walküre“.

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Die Sänger sehr unterschiedlich. Der Beste für mich war George London (Holländer), den ich auch am letzten spielfreien Sonntag in einem Liederabend im Markgräflichen Opernhaus hörte, und Varnay (Senta). Weber (Gurnemanz) ist alt geworden, die Stimme hat keinen Klang und Glanz mehr, vielleicht war es aber auch nur Ermüdung. Mit Mödl (Kundry, Brünnhilde) ist es auch etwas eigenartig. Wenn sie zwei Akte am Abend zu singen hat, dann ist der erste großartig (= ausgeruht), der zweite teilweise eine Qual für den Hörer. So geschehen in „Parsifal“ und „Walküre“. Windgassen ist mir als Stolzing und Siegfried etwas zu schwach auf der Brust, es fehlt der letzte heldische Glanz, wie ihn ein Aldenhoff immer noch hat. Neidlinger nach wie vor sehr stimmgewaltig. Ich bin gespannt, ob er als Sachs auch piano singen kann! Meine Aufnahmefähigkeit hat auch ihre Grenzen erreicht, so schön es war. Nun kommt noch einmal „Meistersinger“ – und aus ist der Traum. Ich bin ein bisschen traurig, besonders heute über das Ende des „Ringes“. Man kannte schon alle Leute, es waren ja immer dieselben. Wann ist ein Theaterpublikum auch schon 24 Stunden zusammen? Heute nun war der große Abreisetag, Schichtwechsel, lauter fremde Leute. Da bin ich auch froh, wenn ich wegkomme. Das Schönste der Festspiele, das Festlichste, sind doch die ersten Vorstellungen. Immerhin, dieser dritte Bayreuth-Besuch hat mich anschließend dazu gebracht, meine eigene Version einer Ring-Interpretation zu entwickeln, die von der Urzeit über das industrielle Zeitalter bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs reicht, die in dieser Form auch nie realisiert wird und die seit dem Jahrhundert-Ring von Patrice Chereau auch nicht mehr zeitgemäß ist. Aber: immerhin!

1956 Württembergische Staatstheater Stuttgart Es ist ein Beginn unter Hochdruck. Günther Rennert hat seinen Intendantenposten in Hamburg zurückgelegt und seinen Wohnsitz nach Stuttgart verlegt, wo er in Zukunft in der Oper und im Schauspiel inszenieren wird. Er startet mit voller Kraft durch und das wird für mich als seinem persönlichen Assistenten nach dem doch eher geruhsamen Studentenleben in München eine ziemlich harte Neuorientierung. Nach „Cosi“ geht es sofort weiter mit den Proben für Alban Bergs „Wozzeck“. Rennert kommt grundsätzlich als Erster ins Theater, er verlässt es als Letzter, den As-

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sistenten natürlich immer an seiner Seite. Die Proben sind so intensiv, dass ich mich nachts gegen das Einschlafen wehre in der Annahme, es sei doch noch Probe und da dürfte ich ja nicht einschlafen. So sitze ich öfters nachts im Bett, hellwach, und weiß nicht mehr was los ist. Dazu komm eine gewisse Unsicherheit, denn Rennert bespricht zwar alle zwei, drei Tage mit mir den Regie-Auszug, korrigiert, wo er es für notwendig erachtet, aber sonst höre ich von ihm kein Wort, keine Kritik, kein Lob. Bis er eines Tages ins Theater rauscht, während ich noch beim Pförtner stehe mit meinem Vater, der am Vorabend im „Rosenkavalier“ als Ochs gastiert hat und sich von mir verabschieden will, um nach Berlin zurückzufliegen. Rennert winkt mich zu sich, hat schon einige Aufträge bereit und wir rasen zusammen auf die Bühne. Plötzlich bleibt er stehen und fragt: „War das nicht Ihr Vater?“, dreht sich um und läuft zurück, erwischt meinen Vater noch gerade vor dem Einsteigen in ein Taxi und überschüttet ihn mit Lob über seinen Assistenten. Mein Vater hat mir später erzählt, er wäre wie im Traum in das Taxi gestiegen, so glücklich war er. Das waren die zwei Seiten Günther Rennerts, er war ein sehr harter Arbeiter und eher kühl, distanziert, aber er konnte auch sehr herzlich sein.

24. Januar 1957 Heinrich Pflanzl an seinen Sohn Über diesen Stunden steht wie ein leuchtender Stern die Aussage von Dr. Rennert. Da man mir immer weiterhin versicherte, wie selten er lobt oder sich äußert, so war mir das, was er sagte, doppelt und dreifach wertvoll. Als ich es Deiner Mutter erzählte, standen uns die Tränen in den Augen und wir schämten uns auch nicht, denn ein sehr großes Glücksgefühl presste uns die raus. Ich glaube auch, dass Du selbst eine Überraschung erlebt hast, denn Dein Gesicht war fassungslos. Wir danken Dir für diese Freude! Und ich danke Dir, dass Du so lieb und gut warst. Sohn zu mir und doch schon auch in einer männlichen Ruhe und Bestimmtheit wie ein sehr guter Freund, na eben wie der Freund, den ich außer Dir nicht habe. Sehr beglückt und beschenkt bin ich heimgekommen und werde diese Begegnung nicht vergessen. Ich danke Dir. Theater ist nicht immer nur lustig und auch ein Rennert nicht. Wenn er nun an so einem Probenmorgen nicht gut drauf ist, dann beginnt es mit immer derselben Prozedur. Er hat ein Faible für Stühle und da genügt ein kalter Blick um festzustellen, dass doch wieder ein Stuhl falsch steht. Wir alle, Assistent wie Requisiteure, sind auf diese Situation natürlich bestens vorbereitet, denn die Möbelstellungen auf der

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Bühne werden am Ende jeder Probe überprüft, nachgemessen und im Plan notfalls korrigiert. Dieser Plan wird Rennert nun vorgelegt, Nachmessungen ergeben die Korrektheit der Möbelposition, worauf Rennert den Stuhl nimmt, ihn um 5 cm in eine beliebige Richtung dreht mit der Bemerkung, da habe man sich wahrscheinlich gestern geirrt und man möge das jetzt so korrigieren. Dieses Spiel konnte man beliebig oft wiederholen und es wurde auch von allen Beteiligten mit großer Begeisterung gespielt, natürlich mit einem entsprechend ernsthaften Gesichtsausdruck. Günther Rennert war nicht nur der kreative und durchsetzungsstarke Regisseur, gleich kompetent in allen Opernjahrhunderten von Monteverdi bis Strawinsky, er war auch ein verantwortungsbewusster Pädagoge, der seine Sängerinnen und Sänger von Stück zu Stück führen und in ihren Leistungen steigern konnte. Dafür verlangte er Einordnung, Disziplin, Präzision. Nicht jeder mochte das am Anfang und man konnte da leicht auf Kollisionskurs geraten. Heinz Cramer, ein verdienter Sänger im Ensemble, ist in Alban Bergs „Wozzeck“ mit dem 1. Handwerksburschen besetzt, einer wichtigen, aber doch relativ kleinen Rolle. Bei der ersten Bühnenprobe für das Wirtshausbild erscheint der Sänger schon verspätet, Rennert ignoriert das aber und beginnt mit dem Chor zu arbeiten. Cramer begründet sein Zuspätkommen dann genau mit dem Argument, Rennert hätte doch zunächst mit dem Chor zu tun gehabt. Als beim Beginn der nächsten Bühnenprobe des gleichen Bildes wieder kein 1. Handwerksbursche anwesend ist, bleibt Rennert ganz ruhig, sagt kein Wort und lässt Chor und Solisten auf der Bühne wartend herumstehen. Es werden sehr lange fünfzehn Minuten für alle Anwesenden, denn Cramer erscheint eine Viertelstunde später, gerät aber sofort in ein lautstarkes Bühnengewitter von gewaltigen Dimensionen, vor versammelter Mannschaft. Von diesem Tag an ist C ­ ramer immer schon vor Probenbeginn auf der Bühne und er hat dann in der Arbeit mit Rennert noch hervorragende Leistungen erbracht, wie zum Beispiel den Bartolo im „Barbier von Sevilla“. Rennerts Wutanfälle sind legendär, für die Betroffenen ein elementares Naturereignis, für Rennert selbst eine kühl vorbereitete pädagogische Maßnahme,die er bewusst nur selten einsetzt und die auch nie ihr Ziel verfehlt. Auslöser können Disziplinlosigkeiten, technische Pannen, Inspizienten und sehr gerne auch Bühnentelefone sein. So zeugte ein aus der Wand heraushängendes Kabel auf der Bühne des neuerbauten Schauspielhauses in Stuttgart von der Hektik der Proben für die Eröffnungsvorstellung „Ariadne auf Naxos“, das ständige Klingeln des Bühnentelefons hatte Rennert einfach nicht mehr ertragen. Eine ähnliche Spur hinterließ er auf der Probebühne der Wiener Staatsoper, wo mit dem Telefon auch gleich ein Stück der Wand herausgerissen wurde, vom Ensemble in „Dr.-Rennert-Gedächtnislücke“

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getauft. Ich habe sehr schnell gelernt, diese Ausbrüche vorauszusehen, werde allerdings einmal von ihm doch ziemlich überrascht. Es ist bei den Proben für die Uraufführung von Werner Egks „Revisor“. Als Probenraum dient das sogenannte Kammertheater, vor der Bühne hatte man ein paar Sitzreihen entfernt, damit sich der Regisseur dort frei bewegen kann. Ich sitze als Einziger an einem kleinen Tischchen in seiner Nähe und bemühe mich, die sehr bewegte Choreographie der dreizehn Solisten in meinem Regieauszug möglichst präzis festzuhalten. Irgendwie habe ich das herannahende Gewitter nicht erkannt, Rennert tigert schon einige Zeit hin und her, hat sich bereits mit dem Inspizienten angelegt und einigen Darstellern, dann packt er plötzlich mein Tischchen samt Regieauszug und allen Schreibutensilien und donnerte es auf die Bühnenrampe. Der Rest der Probe verläuft dann sehr intensiv, Rennert ist sofort wieder bester Laune, nur das Tischchen war nicht mehr zu gebrauchen und an meinem Regieauszug hatte ich längere Klebearbeiten auszuführen. Das ist mir dann nie mehr passiert, drohendes Unheil war für mich später relativ leicht zu erahnen und ich konnte dann Rennert manchmal sogar ein geeignetes Objekt zur Zerstörung anbieten, nachdem ich mich selbst in Sicherheit gebracht hatte. Rennert brauchte diese reinigenden Gewitter, bei denen er sich selbst, wie ich meine, überhaupt nicht aufgeregt hat. Er war ein immer konzentrierter, intensiver Arbeiter und das erwartet er auch von seinem Ensemble. Natürlich gibt es Kritik von seiner Seite, aber nie unfair, wenn auch manchmal sehr trocken. So meinte er zu einer Sängerin, die sich darüber aufregt, dass sie als Rosina im „Barbier von Sevilla“ dauernd Konfekt essen soll: „Irgendwie muss man dem Publikum doch eine Erklärung für Ihren dicken Hintern geben!“ Als bei den Proben für die legendäre Aufführung der „Schweigsamen Frau“ bei den Salzburger Festspielen 1959 Hans Hotter, der Sir Morosus, nach einer Verletzung beim Tennis hinkend und mit Stock zu den ersten Proben erscheint, nimmt Rennert das stillschweigend zur Kenntnis und baut es in seine Inszenierung ein. Nach der Generalprobe, ein strahlender Hotter hat erstmals ohne Stock gespielt, meint Rennert zu ihm: „Schade! Der Stock war eigentlich das Beste.“ Da gibt es noch einen ganz jungen Sänger, neu im Ensemble wie ich, der sehr schnell Rennerts starke Hand zu spüren bekommt. Es ist der junge Fritz Wunderlich, hochbegabt, aber noch unerfahren auf der Bühne. Er singt den Andres im „Wozzeck“ und die fünfundzwanzig Takte, die er in der 2. Szene zu singen hat, die werden wir endlos in stundenlangen Proben nur mit ihm allein am Nachmittag auf der Probebühne exerzieren. Da kann Rennert unerbittlich sein: ein Satz, ein Takt, ja oft nur ein Wort oder ein Ton, dutzendmal wiederholt, korrigiert und immer und immer wieder, bis zur totalen Erschöpfung. Zum Ausgleich spielen wir dann auf der

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gleichen Probebühne zwischen den Proben wie besessen Fußball, natürlich ohne Rennert, aber mit Fritz Wunderlich, dem Bariton Hans-Günter Nöcker und einem ebenfalls noch jung gebliebenen Kapellmeister. Total verausgabt danach Rückzug in einen winzigen, fensterlosen Raum, in dem die am Vorabend getragenen Kostüme hängen, denn dort steht für uns immer eine gefüllte Bierkiste bereit! Verschwitzt, wie wir sind, stören uns die herumhängenden gleichfalls verschwitzten Kostüme nicht im Geringsten und so breiten wir uns auf den Beginn der Nachmittagsprobe vor. Es ist schon eine wilde Zeit, aber einer der Wildesten ist sicher der Fritz. Er lebt sein Leben im doppelten Tempo, als hätte er damals schon gewusst, dass ihm nicht viel Zeit zur Verfügung stehen wird. An einem Abend, ich habe mich auf die unbenützte Probebühne zurückgezogen zum Klavierspielen, geht die Türe auf und Fritz Wunderlich kommt herein. Er hat einen großen Sandsack in der Hand, wie sie zum Gewichtsausgleich bei den Schnürbodenzügen auf der Bühne benutzt wurden: Er wolle nur etwas ausprobieren, ich solle mich nicht stören lassen. Ich spiele also ruhig weiter, bis es plötzlich hinter mir so furchtbar laut knallt, dass ich fast vom Hocker falle. Fritz hatte sich eine Pistole gekauft und nun zum ersten Mal damit geschossen – in den Sandsack! Sein Interesse für technische Dinge war sehr ausgeprägt, es musste aber immer das Beste, das Modernste sein. Auf diese Weise habe ich einmal von ihm eine komplette Schmalfilm-Schneideausrüstung geerbt, als er auf ein professionelleres Format umsteigen wollte – ich besitze sie noch heute. So schnell, wie er lebt, so hat er auch seine Partien gelernt, was Fritz in seinen wilden Anfängerjahren dann gerne damit demonstriert, dass er die bereits auswendig beherrschten Seiten aus seinen Klavierauszügen einfach herausreißt. Allerdings gab es auch eine Stelle, die er nie so ganz beherrschte, im Schlussteil des Duettes mit Figaro im „Barbier von Sevilla“. Eines Tages erscheint er zur Vorstellung und verkündet, heute würde er nicht „schmeißen“, er hätte sich das noch einmal genau angesehen. Er ist so von sich überzeugt, dass er uns Wetten anbietet, die wir natürlich annehmen. Die bewusste Stelle kommt, er singt sie zum ersten Mal völlig richtig, dreht sich singend und triumphierend grinsend zu den in der ersten Gasse lauernden Wettpartnern um – und verpasst total seinen nächsten Einsatz, allerdings diesmal acht Takte später. Die Wette hat er dennoch gewonnen, denn die Töne hatten gestimmt. Von den Texten wollen wir lieber nicht reden. Damals wurde ja noch auf Deutsch gesungen und Wunderlich hat sich in den turbulenten Rossini- Ensembles nie die Mühe gemacht, Text zu lernen. Er hatte da einen Einheitssatz, den er einfach der Musik anpasste: „Leck die schwarze Katz am Arsch“, das passte immer und verstanden hat man ohnehin kein Wort.

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2. Begegnungen in der Welt der Oper Neben seiner einmaligen Stimme und seiner großen Musikalität und bei allem

Spaß, den er am Leben hat, Fritz Wunderlich lernte auch sehr schnell als Darsteller dazu. Er verdankt da Rennert sicher sehr viel und ich denke noch gerne an einen der Höhepunkte seiner Rollengestaltung in Rossinis „Türke in Italien“ zurück. Wunderlich als Narciso, der verschmähte jugendliche Liebhaber, hat eine tränenreiche Arie vor dem Vorhang zu singen, in der er Tröstung bei den Sternen sucht. Er macht das so vollendet, dass dem Publikum in jeder Vorstellung die Tränen kommen. Die eine Hälfte weint, weil es herrlich gesungen und so gefühlvoll und traurig ist, die andere weint vor Lachen über die geniale Parodie eines italienischen Tenors. Diesen so schwierigen Balance-Akt zwischen belcanto und buffa hat niemand so vollendet beherrscht wie Fritz Wunderlich. Wie schwer das in Wirklichkeit ist, soll ein Zitat des Baritons Raymond Wolansky belegen, ebenfalls mit einer herrlichen Stimme begabt, der auf einer Bühnenprobe für den Kothner in „Meistersinger“ auf die Bitte des Regisseurs, er möge doch ein bisschen komischer sein, antwortet: „Entweder bin ich komisch oder ich singe schön. Beides gleichzeitig kann ich nicht.“ Wunderlich kann es und da der Applaus nach dieser Arie einfach kein Ende nimmt, müssen wir schließlich dem Publikum ein Schild zeigen mit dem Text „Danke! Habe leider Umzug“. Es waren etwa fünfzehn Inszenierungen Rennerts in Stuttgart, die ich betreut habe, nicht nur in der Oper, sondern auch im Schauspiel. Die Schauspieler waren noch in einem Ausweichquartier in der Kleinen Königstraße untergebracht, aber was für Persönlichkeiten spielten da unter der Direktion von Paul Hoffmann: Elisabeth Flickenschild, Edith Heerdegen, Mila Kopp, Hans Mahnke, Max Mairich, Erich Ponto, um nur einige zu nennen. Die Arbeit mit Schauspielern war für mich eine neue Erfahrung und um es gleich zu sagen, es war eine aufregende, sehr lehrreiche positive Erfahrung. Ein Sänger, der auf der Bühnenprobe noch mit dem Klavierauszug erscheint, den schickt man am besten gleich wieder nach Hause, die Schauspieler haben bei den ersten Bühnenproben alle ihr Textbuch in der Hand und versuchen zunächst einmal, ihre Figur zu finden und ihren Platz im Stück. Dann erst beginnt der Prozess des Auswendiglernens. Ich habe in der Oper immer wieder versucht, diesen viel vernünftigeren Weg zu gehen: noch vor Beginn der musikalischen Proben mit dem Ensemble die grundsätzlichen szenischen Fragen zu klären, damit nach Möglichkeit bei den musikalischen Proben nicht nur die Noten, sondern auch schon die Inhalte erfasst werden. Aber man muss auch zugeben, das Erlernen einer Rolle in der Oper ist ein langwieriger Vorgang, schließlich soll zunächst die Musik mit der persönlichen Gesangstechnik bewältigt werden und ihren Platz im Körper finden, bevor man an Interpretation,

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an Ausdruck, an Darstellung denken kann. Oper ist eben nicht einfach ein Schauspiel mit Musik, es ist eine andere Gattung, bei der die Musik den eigenen Gestaltungsrahmen sehr deutlich einschränken kann. Andererseits kann Musik sehr hilfreich sein und wann immer Schauspieler bei uns in der Oper für eine Sprechrolle eingesetzt wurden, sie bewunderten und sie beneideten die Sänger: „Wenn ihr auf die Bühne kommt, dann hat die Musik schon eine Stimmung geschaffen, in die man einfach einsteigen kann. Wir müssen immer bei Null beginnen wenn wir auftreten“. Von den Schauspielinszenierungen, die ich mit Rennert machen kann, ist mir vor allem Brechts „Leben des Galilei“ mit Hans Mahnke in der Titelrolle in Erinnerung geblieben. Mahnke war dafür bekannt, dass er seine Auftritte und Abgänge mit einem möglichst kurzen Weg zwischen Bühne und Kantine verknüpfte, und ich musste ihn auch mehrmals zur Vormittagsprobe erst aus dem Bett holen, denn er wohnte direkt neben dem Theater. Aber wenn er auf der Bühne stand, dann war da ein Urgestein, dessen Ausstrahlung man sich nicht entziehen konnte. Für die Bühnengestaltung war Caspar Neher vorgesehen, der dieses Stück bereits ein halbes Jahr vorher, im Januar 1957, im Theater am Schiffbauerdamm für das „Berliner Ensemble“ ausgestattet hatte, der letzten Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Man schickt mich also nach Berlin, um bei der gestrengen Elisabeth Hauptmann, der Sachwalterin von Brechts Erbe, einige Tage zu arbeiten und die so hervorragend dokumentierten Aufführungen zu studieren. Diese Aufzeichnungen, in denen jede Ausdrucks- und Haltungsvariante der Darsteller, Bühne, Licht und selbst das kleinste Requisit in Bild und Text festgehalten werden, sind eine faszinierende Lektüre, vor allem dann, wenn man am Abend die gleiche Inszenierung auf der Bühne erleben kann. Es war eine eindrucksvolle Aufführung mit Ernst Busch in der Titelrolle, eine vom Autor mitgestaltete authentische Interpretation. Als ich nach Stuttgart zurückkehre, meine ich, den „Galilei“ nun genau zu kennen – und entdecke dann zu meiner Überraschung in der Interpretation durch Rennert völlig neue Aspekte. Sogar Neher hat seine Bühnengestaltung noch einmal deutlich verändert und den Vorstellungen des Regisseurs nachgegeben. Dieses Aufeinanderzugehen zwischen Bühnenbildner und Regisseur, die Grundvoraussetzung für eine fruchtbare Zusammenarbeit, war bei Rennert und Neher sicher kein einfacher Vorgang, sondern fast immer die Folge langwieriger Gespräche und Briefwechsel. Neher war seit 35 Jahren „Bühnenbauer“, die Namen seiner Regisseure lesen sich wie eine Geschichte des deutschen Theaters: Otto Falckenberg, Jürgen Fehling, Erich Engel, Max Reinhardt, Leopold Jessner, Karl Heinz Martin, Erwin Piscator und und und … Neher war ein Arbeitstier, manchmal waren es mehr als

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zwanzig Produktionen im Jahr, vor allem gemeinsam mit Bertolt Brecht. Er hatte schon mehrmals mit Rennert zusammengearbeitet, in diesem Jahr 1957 waren es vier Inszenierungen von insgesamt siebzehn: im Februar in Stuttgart Händels „Jephta“, im März in Wien Orffs „Trionfi“, im Juni in Stuttgart Brechts „Leben des Galilei“ und im Oktober ebenfalls in Stuttgart Shakespeares „Macbeth“, mit Walter Richter und Elisabeth Flickenschild. Die gemeinsam erkämpfte Grundkonzeption für diese Aufführung beschreibt Caspar Neher in einem Brief an Rennert: „Hoher halbkreisförmiger Rundbau mit 2 m hohem Umgang, mehrere Türen oben und unten, je nach Bedarf verschiebbare Treppe. Vordergrund: als Hauptspielfläche 16 cm hohes Achteck (alles in dunklen, grau-grünen Tönen).“ Neher hatte sich also mit seinem für antike Dramen und szenisch-oratorische Opern entwickelten „halbes AmphitheaterModell“ durchgesetzt. Er benutzte diesen Grundaufbau, allerdings in rot-goldener Pracht, auch für Händels „Jephta“ und zwei Jahre später für die Uraufführung von Orffs „Oedipus der Tyrann“, ebenfalls in Zusammenarbeit mit Rennert. Der Grundaufbau war zwar ähnlich, aber Nehers Bildvorstellung überraschte dann doch die gesamte Technik in Stuttgart. Man hatte nach seinen Angaben eine Vollholz-Dekoration erstellt mit einem halbkreisförmigen Chorgestühl, alles in elegantem samtigen Grau gehalten, ein Luxusmobiliar wie aus den „Deutschen Werkstätten“, das Ganze auf der Hauptbühne aufgebaut. Voll Stolz war die gesamte technische Belegschaft angetreten, als Neher kam. Er sah sich das an, sagte kein Wort, ließ sich eine große Malerbürste geben und dazu Eimer mit Farbe in Schwarz, Weiß, Grün und Blau. Dann fuhrwerkte er wie ein Besessener in der Dekoration herum, verspritzte und verschmierte scheinbar willkürlich einen Teil der Aufbauten. So sollte nun das ganze Bild bearbeitet werden, denn – wie er abschließend sagte: „In Athen herrscht die Pest, das hattet ihr wohl ein bisschen vergessen?“ Für den bemalten Rundhorizont wurden als Vorlage mit dem Elektronenmikroskop aufgenommene Pesterreger verwendet, ein Bild, das der Kritiker K. H. Ruppel sehr treffend beschreibt: „In der Agora, die Caspar Nehers grandioses Szenarium in einer modrigen Monumentalität aufbaut – vor der in verpestetem Blaugrün gefleckten Rückwand steigen nach der Blendung des Oedipus Wände von der Farbe vertrockneten Blutes hoch – spielt sich der Untergang des Herrschers in ständiger dramatisch-choreographischer Bewegtheit ab.“ Im gleichen Jahr 1959 hatte Neher schon eine ganz andere Bühne für Stuttgart gebaut, eine an der barocken Theaterform orientierte Ausstattung für Händels „Xerxes“. Neher schenkte mir damals das von seinem Assistenten gebaute perfekte Bühnenbildmodell, es steht heute an bevorzugter Stelle zwischen meinen Büchern und erinnert mich permanent an die Begegnungen mit diesem großen, vielleicht sogar unserem größten Bühnenbauer des zwanzigsten Jahrhunderts.

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Die Stuttgarter Oper hat zu dieser Zeit zwei ständige Regie-Gäste, Günther Rennert und Wieland Wagner. Rennert kommt nur für die Probenzeit nach Stuttgart, ist meistens bereits nach der Generalprobe schon wieder verschwunden, manchmal sogar noch vorher. So habe ich wirklich genug zu tun mit der laufenden Betreuung seiner Inszenierungen, will aber aus Interesse auch die andere Seite kennen lernen, die Arbeit Wieland Wagners. Ich habe drei Inszenierungen mit Wieland Wagner gemacht, gebe aber zu, von Beginn an eher negativ eingestellt gewesen zu sein. Ich hatte die Bayreuther Festspiele 1951, 1952 und 1956 aus nächster Nähe miterlebt, mit den teilweise improvisierten Aufführungen, deren künstlerische Konzeptionen aus dem entwickelt wurden, was die einzelnen Sängerinnen und Sänger an eigener Erfahrung mitbrachten. Die Arbeit mit und an Wagner lehrte mich nun doch etwas anderes. Mir gefiel die Art, wie Wieland Wagner mit trivialen Beispielen aus dem Alltag den Sängern die komplizierte Geisteswelt seines Großvaters erklären konnte, und wie die auf den ersten Blick fast dilettantisch wirkenden Bühnenbild- und Kostümentwürfe mit einer genialen Lichtregie in eindrucksvolle Bilder verwandelt wurden. Mir wurde auch jetzt erst klar: wir hatten gemeinsame Idole – Adolphe Appia und Edward Gordon Craig, die Bühnengestalter, Theaterreformatoren, Verteidiger einer leergeräumten, nur von Bewegung und Licht erfüllten Bühne. Spuren der craigschen „Über-Marionette“ entdeckte ich nun in Wielands frühen Inszenierungen mit den statischen, maskenhaften Figuren, einer Kampfansage an den Realismus eines Felsenstein. Problematisch für mich blieben dabei aber immer die von Wieland Wagners Frau Gertrud gestalteten Bewegungs-Elemente, streng rhythmisierte Aufmärsche und Massenchoreographien, die manchmal fatal an „Wege zu Kraft und Schönheit“ und „Olympia“9 erinnerten. Tiefpunkt in dieser Beziehung war wohl „Rienzi“ im November 1957. Ich schrieb damals am Tag vor der Generalprobe:

1. November 1957 Wieland Wagner hat hier wohl etwas Neues schaffen wollen. Er kopiert mit einer sagenhaften künstlerischen Gewissenlosigkeit verschiedenste Stilepochen zu einem Bild, in das er dann seine Darsteller hineinstellt wie Dekorationsteile und schafft so lebende Bilder: Trauer, Sieg, Revolution etc. Es wird nur arrangiert, und das meist noch schlecht. Ich glaube auch, dass der Stern Wielands im Verblassen ist, denn er hatte erstmals hier enorme Schwierigkeiten mit Chor, Ballett und auch Solisten. Wenn der „Rienzi“ wirklich zu einem Erfolg werden 9 Zwei Filme von Leni Riefenstahl aus den Jahren 1925 und 1936

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sollte, dann nur durch einige wirkungsvolle Dekorationen und durch den Dirigenten Matacic. Der hält übrigens den guten Wieland für genialisch. Die brutale Prognose möge man meinem jugendlichen Alter zugutehalten, erfüllt hat sie sich nicht, denn Wieland Wagner hat danach noch zahlreiche richtungsweisende Arbeiten geschaffen, die er übrigens selbst immer als „Versuche“ bezeichnete. Dieser Versuch jedenfalls war nicht ganz gelungen und Wieland Wagners Mutter Winifred Wagner meinte nach dem Besuch der Vorstellung, mit Tränen in den Augen, sie hätte noch nie so gelacht in einer Oper. Getragen wurde diese Aufführung allein durch Wolfgang Windgassen, den Sänger der Titelpartie. Windgassen war überhaupt eine der Hauptstützen aller Wagner-Aufführungen dieser Zeit. Er hat mir einmal erzählt, in jungen Jahren das Bühnengeschehen als Beleuchter verfolgt zu haben, daher wohl auch sein phänomenales Gespür, immer im richtigen Licht zu stehen – bei den Wieland-Wagner-Inszenierungen eine Grundvoraussetzung. Wieland Wagner hat in Stuttgart sechzehn Inszenierungen gemacht, darunter auch einen kompletten „Ring“. Aus einem festlichen Anlass wird wieder einmal der ganze Zyklus aufgeführt und mein Regie-Kollege hat mich gebeten, für den letzten Abend doch die Beleuchtungsregie zu übernehmen. Das Stellwerk befindet sich damals noch im rechten Bühnenportal, man kann nur einen kleinen Bühnenausschnitt sehen, muss also weitgehend blind nach dem Klavierauszug die Lichtstimmungen ansagen. Computer mit gespeicherten Lichtstimmungen gib es noch nicht, jeder Lichtwechsel wird Apparat für Apparat von Hand eingestellt und dann mit kleinen oder großen Schwungrädern durchgeführt, es ist noch richtige Schwerarbeit damals. Ich habe mich also ganz gut durch die „Götterdämmerung“ gekämpft, wir sind im 3. Aufzug und Brünnhilde hat endlich „Selig grüßt dich dein Weib“ gesungen und ist im Feuer verschwunden. Ich klappe erleichtert den Klavierauszug zu, da meint der Chefbeleuchter, etwas beunruhigt: „Herr Pflanzl, wir haben aber noch 25 Beleuchtungsstimmungen!“. Wie recht er doch hat, ich entdecke nun auch die sechs Seiten im Klavierauszug, wo Wieland Wagner noch einmal die ganze Kunst seiner Lichtgestaltung auspackt und Ferdinand Leitner am Dirigentenpult noch einmal den vollen Glanz des Orchesters entfalten kann. Leider habe ich aber inzwischen den Faden verloren, wir fahren also die verbliebenen Lichtstimmungen mehr oder weniger nach Gefühl, sind auch am Ende zusammen mit dem Orchester fertig, nur zwischendurch ging es wohl etwas durcheinander, Feuer auf der Bühne, während das Orchester von den Rheintöchtern erzählt und umgekehrt. Als Leitner zum Applaus auf die Bühne kommt, hat er für mich nur einen mitleidigen Blick, aber er sagt kein Wort. Er war eben ein feiner Herr!

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Im März 1961 inszeniert Günther Rennert in Stuttgart seine deutschsprachige Neufassung von Rossinis „Türke in Italien“, Ferdinand Leitner dirigiert. Es ist der Premieren-Abend, der Herr Generalmusikdirektor geht an das Dirigentenpult, nimmt den Begrüßungsapplaus entgegen, den Taktstock in die Hand – und wartet. Niemand weiß, worauf er wartet, denn in allen Proben vorher hat er auf einen dicken roten Knopf vor sich gedrückt, um der Technik zu signalisieren: „Bitte anfangen, das Orchester ist bereit“. Heute hat er das vergessen und wartet. Schließlich müssen wir auf der Bühne die Initiative ergreifen und einfach anfangen. Schade, denn der Beginn einer turbulenten Produktion ist damit leider danebengegangen. Rennert steht neben mir und meint auf seine trockene Art: „Die meisten Dirigenten sind ja ganz nette Menschen, aber wenn sie ihren Frack anziehen, werden sie unberechenbar!“ Auf Ferdinand Leitner bezogen ist es natürlich nur eine Momentaufnahme, denn er war als Opernchef zweiundzwanzig Jahr lang in Stuttgart der Garant für höchste musikalische Qualität und zuverlässige Zusammenarbeit mit den führenden Regisseuren dieser Zeit. Er hatte ein festes Spitzenensemble aufgebaut, wie es heute kaum noch an einem Theater zu finden ist. Er war auch ein echter Generalmusikdirektor, der nicht nur kompetent im Opernrepertoire und in seinem Einsatz für zeitgenössische Komponisten war, sondern auch in der Betreuung des gesamten künstlerischen Personals. Wenn es wirklich einmal Schwierigkeiten gab, dann rettete er die Situation mit seiner glücklichen Begabung als Erzähler und sogar Erfinder von Witzen. Auch auf diesem Gebiet war Ferdinand Leitner unübertroffen. Eher unglücklich verlief allerdings in Stuttgart das Debüt eines anderen großen Dirigenten. Carlos Kleiber, der Sohn von Erich Kleiber, ist Dirigent in Düsseldorf und soll als Gast in Stuttgart eine „Traviata“ dirigieren. Am Vormittag der Vorstellung hat Kleiber um eine Verständigungsprobe mit den Solisten gebeten, aber er wartet vergeblich auf die Hauptperson, die Sängerin der Violetta. Die anwesenden Sänger berichten später: „Herr Kleiber hat ohne ein Wort die Probe verlassen.“ Was man zunächst nicht weiß: Er hat auch seinen Koffer gepackt und die Stadt verlassen – ohne Kommentar. So ganz ohne Kommentar verlief die Abreise dann doch nicht, wie der Intendant Walter Erich Schäfer sich erinnert:

Dieses erste Gastspiel war ein durchschlagender Erfolg: Es fand gar nicht statt. Eine Sängerin kam nicht zur Probe, was natürlich ungehörig war. Carlos Kleiber, auf dem Flügel sitzend, wartete eine Zeitlang und kam dann zu mir, um mir zu sagen, dass er jetzt abreise. „Sie wollen also das Geld zur Rückfahrt?“ fragte ich ihn. „Nein“, sagte er, „Das brauche ich nicht. Ich habe genug.“ Nun,

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wir hatten beide genug voneinander. Auch ich war entschlossen, diesen Kleiber nie wiederzusehen.10 Schwaben sind nachtragend, Schäfer war es auch und so hat es dann eine ganze Weile gedauert bis zur nächsten Annäherung, aber schließlich wurde Carlos Kleiber doch noch Erster Kapellmeister unter Leitner von 1966 bis 1972. Im Frühjahr 1957 laufen die Vorbereitungen für die Uraufführung der Oper „Der Revisor“ von Werner Egk. Nach einer intensiven Probenzeit in Stuttgart zieht das ganze Ensemble an den für die Uraufführung vorgesehenen Ort: in das Schlosstheater im Park von Schwetzingen. Es ist Spargelzeit, also wird fröhlich gefeiert, aber daneben auch hart gearbeitet. Die ausgezeichnete Stimmung erreicht ihren Höhepunkt, als der Komponist in der letzten Probenwoche erscheint und offensichtlich mit der Interpretation seines Werkes sehr glücklich und zufrieden ist. Seiner Einladung an das ganze Ensemble zu einem gemeinsamen Abendessen in einem renommierten Heidelberger Lokal wird freudig zugestimmt. Auch als Oper ist „Der Revisor“ von Gogol ein personenreiches Stück und so kommt eine große Runde von über zwanzig Personen zusammen. Hinter uns liegt eine ausgedehnte Hauptprobe, die hungrig und durstig gemacht hat, und da jeder nach Belieben bestellen kann, wird auch ausgiebig gegessen und getrunken. Es ist schon ziemlich spät geworden, als Werner Egk schließlich das Zeichen zum Aufbruch gibt, er bittet um die Rechnung und zahlt, allerdings nur für sich selbst. Schlagartig wird es sehr ruhig im Raum, die Gespräche verstummen und es scheint auch spürbar kälter zu werden, zumindest stimmungsmäßig. Man hört nur noch die halblaut geführten Abrechnungsgespräche des Oberkellners mit jedem einzelnen Gast. Der Meister spürt wohl auch etwas, denn er erhebt sich und formuliert mit freundlichen Worten seinen Dank an die Anwesenden. Er schließt mit einem, sicher versöhnlich gemeinten Angebot: „Falls Sie keine Verwendung für Ihre Rechnungen haben, geben Sie es doch bitte mir, ich kann das alles von der Steuer absetzen.“ Und so haben wir ihm alle beim Abschied unsere Rechnung in die Hand gedrückt. Die Premiere wird dann ein sehr großer Erfolg und es gibt in den folgenden Tagen noch viel zu feiern in Schwetzingen. Aber die Rechnungen haben wir alle gesammelt und ganz ordentlich als kleine Pakete an den Komponisten geschickt – viele Wochen lang.

10 Walter Erich Schäfer „Bühne eines Lebens“, S. 210

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Dieses – mein erstes – Gastspiel in Schwetzingen war der Beginn einer endlosen Serie. Ich habe es nicht nachgezählt, aber die Einladungen für Produktionen der Stuttgarter Oper nahmen wirklich kein Ende. Hier also eine kleine Auswahl der teilweise kuriosen Reise-Erlebnisse in einer Zeit, da das Reisen noch nicht so selbstverständlich war wie heute.

Théâtre Sarah-Bernhardt Paris Egk „Der Revisor“ Im Juni 1958 wird die Stuttgarter Oper mit Werner Egks „Revisor“ zum Theater der Nationen nach Paris eingeladen. Es ist eine brisante Einladung, denn erst ein halbes Jahr später werden Charles de Gaulle und Konrad Adenauer die Annäherung ihrer beiden Länder in die Wege leiten. So ist die Eröffnungsvorstellung des Theaterfestivals reich an politischer Prominenz und der Beginn mit den beiden Nationalhymnen voller Symbolkraft. Ferdinand Leitner dirigiert, zunächst die Marseillaise, entsprechend ihrem martialischen Charakter mit dem ganzen Orchester in voller Lautstärke. Dann wäre die deutsche Nationalhymne an der Reihe gewesen, das Deutschlandlied, erstmals wieder in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg. Leitner aber ließ sie nun als Streichquartett spielen, getreu der Version aus dem 2. Satz von Joseph Haydns sogenanntem Kaiserquartett. Ich glaube, in diesem Moment haben alle Anwesenden die Luft angehalten, die im Saal wie die auf der Bühne. Es war ein unvergessliches Erlebnis.

Festival Theatre Edinburgh Lortzing „Der Wildschütz“ 29. August 1958 Wir sind hier finanziell gar nicht so schlecht gestellt, außer dem Zimmer mit Frühstück bezahlt das Theater auch noch pro Tag 3 Pfund. Ich bin hier bei einer richtigen Artistenmutter untergebracht, die schon die halbe Hamburgische Staatsoper bei sich beherbergt hat. Es ist ein sehr reizvolles, aber auch eigenartiges Land, viel Schmutz und Nebel, die Menschen sehr anspruchslos, aber von einer großzügigen Gastfreundschaft. Allerdings hat jede Gastfreundschaft auch ihre Grenzen und da gab es ein paar Solisten, die haben das wohl etwas überzogen. Aus der schlechten Erfahrung mit der schottischen Küche bei früheren Gastspielen vorgewarnt, hatten sie kofferweise Konserven mit den schwäbischen Leibspeisen mitgenommen. Im Nobelhotel wurde dann auf dem

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Spirituskocher aufgewärmt bis – ja, bis es zu einem mittleren Zimmerbrand kam. Danach mussten sich die Herren nach einem neuen Quartier umsehen! 8. September 1958 Der Erfolg unseres Gastspiels war nicht sensationell, aber doch ganz gut. Schließlich sind wir ja auch nur mit ganz normalen Repertoirevorstellungen angekommen, wenn auch Erika Köth, Wilma Lipp und Astrid Varnay als attraktive Gäste dabei waren. Die Stuttgarter Oper gastierte mit vier verschiedenen Werken, neben dem „Wildschütz“ auch noch mit „Entführung aus dem Serail“, „Euryanthe“ und „Tristan und Isolde“. Den größten Erfolg allerdings hatten wir mit der „Wildschütz“-Ouvertüre. Da niemand diese Oper kannte, war das Interesse bei den Journalisten besonders groß und sie bevölkerten die Bühne bei Beginn der Vorstellung, vor allem die schwäbisch-biedermeierlichen Chor-Kostüme bewundernd. Der ganze Wirbel sorgte für viel Ärger bei unseren Sängern, aber wir bekamen die Bühne einfach nicht frei, obwohl bereits die Ouvertüre lief. Nun hat Lortzing in dieser Ouvertüre einen echten Schuss vorgesehen, deutsche Opernfreunde wissen das natürlich. Unser Requisiteur stellte sich also möglichst unauffällig neben die Presseleute – Schuss – und die Bühne war in Sekunden leer. Wir haben den ganzen Abend keinen Reporter mehr in der Nähe der Bühne gesehen.

Palais Garnier in Paris Händel „Jephta“ 11. Oktober 1959 Ein Gastspiel in Paris heißt wieder einmal sehr viel Arbeit. Wir sind fünf Tage ganz allein hier, das heißt Ferdinand Leitner, der Dirigent, dann ein junger Kapellmeister, ein Tänzerpaar und ein Bühnenmeister. Wir hatten harte Arbeit, da von der Organisation unseres Theaters nichts klappte. Aber die Franzosen zeigten sich von ihrer besten Seite, sowohl Ballett als auch Technik. So macht bei aller Arbeit das Leben hier wirklich Freude. Ich bin ganz sicher, wenn ich hier eine entsprechende Position in meinem Beruf finden könnte – ich würde sofort bleiben. Das einzig Betrübliche hier ist die Arbeit unserer Verwaltung. Die Herren sind vollständig in Paris erschienen, tun nichts und reden große Worte. Aber das gibt es wohl an jedem Theater. Was es damals noch nicht an jedem Theater gab, das waren Klimaanlagen. Wir waren ja mit einer Caspar-Neher-Ausstattung gekommen, mit riesigen Kostümen,

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gefürchtet wegen ihres Gewichts und der damit verbundenen Wärmeentwicklung, die nach dem Prinzip der früher so beliebten Kaffeewärmer funktionierte. Da die Mitglieder des Chores während der ganzen Vorstellung auf der Bühne bleiben mussten, kam es nun zu einer Art Abschiedschor, besonders bei den Damen. Sie fielen nacheinander in Ohnmacht und mussten dann von der offenen Bühne so diskret wie möglich in Sicherheit gebracht werden, ein vom Regisseur nicht beabsichtigter Effekt in diesem ohnehin so dramatischen Oratorium.

18. Oktober 1959 Rückblickend freue ich mich über das so erfolgreich verlaufene Gastspiel in Paris, nicht zu vergessen die quasi selbstständige Arbeit mit dem Riesenapparat der Großen Oper, der vollständig zu meiner Verfügung stand. Für die Arbeit mit dem Pariser Ballett bekamen wir noch ein Sonderlob von oben: Eine der Tänzerinnen erzählte ihrem Vater (einem bekannten Pariser Theaterkritiker) von der guten Probenatmosphäre, dieser gab es weiter und über Botschaft – Intendanz bekamen wir es zurück. Es gibt eigentlich nur einen einzigen Fehler, den ich begangen habe und das war, wieder nach Stuttgart zurückzukehren. Mich hält nur die Aussicht aufrecht, dass ich genau in einer Woche für vierzehn Tage nach Wien abdampfen werde.

Staatsoper Wien Händel „Jephta“ 5. November 1959 Die vergangenen zehn Tage hier in Wien waren leider nicht nur mit Arbeit ausgefüllt, sondern auch mit erheblich viel Ärger. Rennert und Neher, beide zu meinem großen Kummer anwesend, ändern aus lauter Nervosität am Vormittag der „Jephta“-Premiere tausend Dinge. Ich bekomme mit beiden einen Mordskrach und kann am Abend dann sehen, was noch zu retten ist, nachdem die beiden Herren noch vor der Vorstellung Wien bereits wieder verlassen haben. Es wurde trotzdem noch ein guter Erfolg. Sonntag geht es zurück nach Stuttgart. Ich kann mich auch heute noch ganz gut an die Lehre erinnern, die mir Caspar Neher bei dieser Gelegenheit erteilte. Er kam erst gegen Mittag ins Theater, wir waren am Einrichten der Beleuchtung und er hatte sich kaum neben mich gesetzt, da ging es schon los: „Das sieht ja entsetzlich aus! Was sind denn das für Fetzen?“

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Er meinte damit die Samt-Soffitten, die in der Wiener Staatsoper den oberen Abschluss des Hauptvorhangs verdecken. Da Neher für „Jephta“ nur einen halbhohen „Brechtvorhang“ vorgesehen hatte, hatten wir diese Zusatzvorhänge etwas tiefer gefahren, damit die Zuschauer von den oberen Rängen nicht „hinter die Bühne“ schauen konnten. Neher tobte: „Die Leute werden begeistert sein, wenn sie den Herrenchor in Unterhosen sehen können. Was habt ihr jungen Leute denn nur für altmodische Vorstellungen von Theater?“ Ich habe damals schwer geschluckt, aber er hatte natürlich völlig Recht. Für Theaterbesucher gibt es nichts Schöneres als eine Panne auf der Bühne, wo man Dinge zu sehen bekommt, die man eigentlich nicht sehen sollte. Ich erinnere mich an eine Vorstellung, da ging der Vorhang auf und auf der Bühne stand ganz allein ein Feuerwehrmann mit dem Rücken zum Publikum – er bekam den größten Applaus seines Lebens. Wir haben also Neher zuliebe die „Fetzen“ wieder entfernt, sicher zum großen Vergnügen der Rangbesucher. Aber es gab für mich bei diesem Wien-Gastspiel noch eine ganz andere, merkwürdige Erfahrung.

13. November 1959 Inzwischen ist mir klar geworden, warum mir die allgemeine Atmosphäre in Wien so missfallen hat: Für den, der den Geruch kennt, riecht es immer noch nach Ostzone. Es gibt wohl sehr schöne Geschäfte, aber sowie man in die Nebenstraßen kommt, ist es aus, die Leute auf der Straße sind im Vergleich zu Deutschland oder auch zu Salzburg bescheiden angezogen, so wie in Westdeutschland 1948/49. Von dem natürlich ausgenommen die Staatsoper – das schönste, großzügigste und eleganteste Theater, das ich je sah. Und dazu wohl das beste Theaterpublikum, das man sich vorstellen kann. So waren unsere Vorstellungen ausnahmslos gute Erfolge, alles schon vorher restlos ausverkauft.

Suomen Kansallis–Ooppera in Helsinki Egk „Der Revisor“ Für dieses Gastspiel habe ich mir ein halbes Jahr lang täglich eine finnische Sprachplatte angehört. Schwedisch wäre einfacher gewesen, aber das wusste ich damals leider nicht. Nur, das Wunder bei der Ankunft in Helsinki ist mir unvergesslich: ich konnte zwar nicht sprechen, aber ich habe die Leute verstanden. Ich kam mir vor wie Siegfried mit dem Waldvogel! Vielleicht war es dieses Erlebnis, das den Aufenthalt in Finnland so verklärt hat.

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23. September 1961 Nach dem wunderbaren Flug mit einer Sondermaschine der Lufthansa bin ich vor genau vierundzwanzig Stunden in Helsinki. gelandet. Die Stadt ist eine seltsame Mischung aus Ost und West, staatlicher Vernachlässigung und privater Modernität, alles nebeneinander und bunt durcheinander, russische und amerikanische Autos, schöne moderne Bauten, aber daneben auch Anderes, schmutzig und trist, wie in der russischen Zone. Es ist aber hochinteressant und sehr sympathisch, vor allem die Menschen. Ich habe mit meinen finnischen Sprachkenntnissen viel belächelte Erfolge. Überraschend die Restaurants, in denen der Einrichtungsstil gelebt wird, den man in Deutschland nur aus den Schaufenstern der fortschrittlichsten Möbelhäuser kennt. Die Realität in den Restaurants in Helsinki beschert uns dann wieder eine ganz neue Erfahrung, denn der Umgang mit Alkohol ist hier streng reglementiert. Erst wenn man definitiv aus der Speisekarte seine Wahl getroffen hat, besteht die Möglichkeit, ein wenn auch nur leicht alkoholisiertes Getränk zu bestellen. Serviert wird aber nur beides gemeinsam. Glücklicherweise hat das Opernhaus gegen Ende des Gastspiels in einem nichtöffentlichen Restaurant des Ministeriums dann eine gemeinsame Feier der Stuttgarter mit dem finnischen Ensemble arrangiert. Bei dieser Gelegenheit gab es nun keine Einschränkungen, die Standfestigkeit des singenden Personals wurde grenzüberschreitend erfolgreich getestet und erbrachte zusätzlich eine ganz neue Erfahrung: Die finnische Sprache verträgt sich mit dem Opern-Italienisch ganz hervorragend, was in mehreren Verdi-Duetten überzeugend bewiesen wurde. Es war sicher die feuchteste Nacht, die wir je bei einem Gastspiel bestehen mussten. Das skandinavische Design hat mich übrigens so fasziniert, dass ich für meine Eltern ein kleines Keramik-Service besorge. Beim Auspacken entdecken wir dann an der Unterseite den Hinweis: „Made in Hongkong“! Aber im Ganzen bedeutet diese prächtige Synthese aus moderner Architektur und Inneneinrichtung und ihr Gegensatz zu den noch deutlich vorhandenen Spuren aus den Zeiten der russischen Besetzung ein großes Erlebnis.

28. September 1961 Wir befinden uns auf dem Rückflug vom schönsten Gastspiel der letzten Jahre. Es waren nicht nur die Vorstellungen ein großer Erfolg, auch Wetter, Land und Leute waren so einmalig, wie man es sich nur im Traum vorstellen kann. Wir konnten wunderbare Spaziergänge und Ausflüge machen, waren von den finnischen Kollegen zu einem reizenden Abendessen eingeladen worden etc. Die

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Krönung des Ganzen war der jetzt langsam zu Ende gehende Flug mit einer Sondermaschine der Lufthansa. Während des vierstündigen Fluges konnten wir einen skandinavischen Sonnenuntergang erleben und wurden vom Luxusdienst der Lufthansa bewirtet und mit Geschenken überhäuft. Jetzt haben wir schon Frankfurt passiert, in wenigen Minuten wird Stuttgart auftauchen.

Opernhaus in Leipzig Fortner „Bluthochzeit“ 24. Oktober 1965 Anfang November ist noch die Premiere von „Jacobowsky und der Oberst“ in Hamburg, dann geht es nach Stuttgart und anschließend zu einem Gastspiel mit der Stuttgarter Oper nach Leipzig. Vor zwei Tagen rief mich um 11 Uhr vormittags Herr Professor Schäfer persönlich an: Ich hätte doch bis 16.00 Uhr Fernsehen, um 16.30 Uhr ginge eine Maschine nach Stuttgart, ob ich nicht zur Abendvorstellung von „Bluthochzeit“ dort sein könnte. Ich habe ja gesagt, aber glücklicherweise gab es dann keinen Platz mehr im Flugzeug. Das wäre eine schöne Hetzerei geworden! Aber das ist typisch für Stuttgart – im letzten Augenblick fällt denen das ein. 26. Oktober 1965 Mit Stuttgart hat sich alles ganz gut arrangiert, die beiden Verwaltungsdirektoren kennen sich und haben das unter sich geregelt. Meinen Wagen lasse ich also in Hamburg, was mir auch lieber ist und fahre nach der Probe am 5. November nachts mit dem Zug nach Stuttgart, am 6. dann Proben in Stuttgart, am 7. mit dem Interzonenzug zwölf Stunden lang nach Leipzig. 9. November 1965 Wir sind hier gut untergebracht und auch keine fünf Minuten vom Theater entfernt. Arbeit gab es genug, aber jetzt ist Ballett und Beleuchtung fertig, leider auch die schöne Zeit vorbei: Heute Abend ist der Transport mit dem ganzen Haufen angekommen, jetzt ist es aus mit der Ruhe. Die längste Zeit ist aber auch schon wieder vorbei, morgen Generalprobe und Premiere, übermorgen die zweite Vorstellung.

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15. November 1965 Trotz des hochmodernen Hotels (Zimmer mit Fernsehen und Radio), einiger sehr guter Lokale und der Möglichkeit, für westliche Währungen alles zu kaufen, war es für mich eine sehr deprimierende Zeit. Es muss zwar keiner mehr hungern dort drüben, sehr viel mehr aber hat sich kaum geändert! Unsere „Bluthochzeit“ war ein großer Erfolg (zwei Vorstellungen), wohl eher eine Sympathiekundgebung für die Gäste aus dem Westen, als aus Verständnis. Nach der letzten Vorstellung am Donnerstag wurde ich zusammen mit Hans-Günter Nöcker und einem unserer Schauspieler in einem Dienstwagen des Kultusministeriums nach Westberlin gebracht. Der Vopo am Checkpoint Charly hat uns eine Stunde aufgehalten. Um vier Uhr nachts sank ich in mein Westberliner Hotelbett, um 7 Uhr ging die Maschine nach Hamburg, um 10 Uhr hatte ich Probe! Es war ein anstrengender Abstecher, aber das Schlimmste waren die letzten Kilometer in Westberlin. Trotz der späten Stunde gab es noch genügend Nachtbummler, die unser Fahrzeug sofort als ostdeutsches Regierungsauto (es war ein EMW) identifizierten und uns beschimpften und bedrohten. Wir ließen den Wagen dann nicht vor unserem Hotel am Kudamm halten, sondern in einer ruhigeren Querstraße und gingen die letzten Meter lieber zu Fuß. Es war kein schöner Abschluss unseres Gastspiels, aber es war wohl auch eine schlimme Zeit – für beide Seiten.

Odeon des Herodes Attikus in Athen Orff „Oedipus“ September 1967. Es wird mein letztes Gastspiel mit der Stuttgarter Oper sein und es wird noch einmal eine schöne Aufgabe, die nehersche Bühne in das gewaltige Amphitheater am Fuße der Akropolis zu übertragen. Nach der Landung bei Sonnenuntergang geht es sofort in das Theater, es läuft dort die „Antigone“ in der Inszenierung von Wieland Wagner. Da man im Freien ja nur nachts beleuchten kann, beginnen wir sofort im Anschluss an die Vorstellung mit der Einrichtung, die erst im Morgengrauen endet. Es war ein langer Tag mit der Anreise aus Hamburg und wir freuen uns schon auf das Hotel. Da fragt doch der Beleuchtungschef, er spricht sehr gut Französisch, nach unseren ersten Eindrücken von Athen und ist entsetzt zu hören, dass wir direkt vom Flughafen ins Theater gekommen sind. Er verfrachtet meine Frau und mich in ein Taxi und führt uns dann stundenlang durch

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„seine“ Stadt, eine engagiertere Führung kann man sich kaum vorstellen. Zum Abschluss müssen wir noch eine undefinierbare, aber sehr fette Suppe kosten im Frühstückslokal der Taxifahrer. An den Kosten darf ich mich nicht beteiligen, da ist er fast beleidigt. Die andere Seite der griechischen Gastfreundschaft lernen wir dann an einem Abend nach der Vorstellung kennen. Wir möchten noch etwas essen, finden in der Plaka, der Altstadt von Athen, ein hübsches Restaurant und lassen uns auf der Dachterrasse nieder. Das Essen wird bestellt und auch eine Flasche Wein, die sofort bereit steht. Es war ein heißer, arbeitsreicher Tag und der Durst ist entsprechend. Als die Flasche fast leer ist und immer noch kein Essen kommt, werden wir etwas ungeduldig und erfahren nun vom Ober, die Küche sei schon lange geschlossen. Hungrig, aber vom Wein beschwingt machen wir uns also auf den Heimweg. Der erweist sich nun als außerordentlich tückisch, wir müssen nämlich eine endlose oder uns nur endlos erscheinende Treppe hinunter gehen, rechts und links aneinandergereiht zahllose kleine Bars, die Tische draußen vollbesetzt. Und wir allein auf der Treppe in dem Bemühen, möglichst elegant und unfallfrei die endlosen Stufen zu überstehen. Es ist uns fast gelungen! Die Aufführungen der beiden Sophokles-Opern „Antigone“ und „Oedipus“ in einem Amphitheater am Fuße der Akropolis, das war sicher der Höhepunkt dessen, was sich der Komponist Carl Orff je hatte vorstellen können. Hier, nur wenige Meter vom Ort ihrer Uraufführung vor mehr als zweitausend Jahren entfernt, konnte deren aktuelle Interpretation in Szene, Bild und Musik eine Wirkung entfalten, die in einem konventionellen Opernhaus niemals zu erreichen war. Rückblickend darf man sich schon fragen, was denn an diesem Stuttgarter Opernhaus so Besonderes war? Waren es die Inszenierungen, war es das Ensemble? Das Haus hatte einfach einen legendären Ruf und der ist verknüpft mit dem Namen Walter Erich Schäfer, seinem Intendanten.

„Es soll eine latente Theaterkrise geben? Ich weiß von keiner. Aber natürlich, ich bin auch erst 37 Jahre beim Theater, da weiß man noch nicht alles.“11 Schäfer hat das Haus dreiundzwanzig Jahre lang geleitet, hat gemeinsam mit den Schauspieldirektoren Paul Hoffmann und später Dietrich Haugk ein hochkarätiges Schauspielensemble aufgebaut und mit seinem GMD Ferdinand Leitner eine internationale Sängerschar für lange Jahre an Stuttgart gebunden. Ein großer Teil der 11 Walter Erich Schäfer „Offenes Wort eines Ketzers“, Stuttgarter Zeitung 1965

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Sängerinnen und Sänger bei den Bayreuther Festspielen kommt aus diesem Haus. Schließlich wird auch hier das Stuttgarter Ballettwunder mit John Cranko geboren. Schäfer muss sehr dicke Brillengläser tragen und es kann schon vorkommen, dass er sich beim Gang über die dunkle Seitenbühne während einer Vorstellung bei einem Dekorationsteil entschuldigt, weil er meint, an einen Mitarbeiter gestoßen zu sein. Aber man soll sich nicht täuschen lassen, er sieht alles, was in seinem Haus passiert, er weiß alles und er kümmert sich auch um alles. Als echter Schwabe ist er allerdings nicht besonders redselig. So kommt er einmal, während einer Probe in den Zuschauerraum, hört mir eine Weile zu, winkt mich dann zu sich, nur um zu fragen: „Sprechet Sie eigentlich Französisch?“ Als ich das verneinen muss, kommt von ihm nur noch ein gemurmeltes: „Dann lernet Sie’s gefälligst.“ und er verschwindet wieder. Eine Woche lang grüble ich über dieser rätselhaften Aussage, dann frage ich ihn nach dem Grund seines väterlichen Ratschlags, den er vergessen hatte mir mitzuteilen. Ach ja, er hatte mich empfohlen für eine Inszenierung in Belgien und deshalb … Es wird leider nichts aus diesem Gastspiel, aber ich lerne nun wirklich Französisch und so wird mein Intendant ungewollt zum Ehestifter: Dank der neuerworbenen Sprachkenntnisse schnappe ich bald danach John Cranko seine erste lyrische Solotänzerin weg, die Französin Micheline Faure. Wenn man einen Termin bei Walter Erich Schäfer hat, muss man ausreichend Zeit einplanen. Zwei Sessel, ein kleines Tischchen und die Sekretärin serviert den Tee. Dann herrscht absolute Stille, lang, minutenlang, gefühlsmäßig schon stundenlang. Aber um Himmelswillen jetzt kein Gespräch beginnen, irgendwann wird der Herr Generalintendant schon etwas sagen. Mein Anliegen ist nicht ganz einfach, ich will weg, weg vom Theater und vor allem weg von der Oper – ein Fluchtversuch aus dem Stimmenwald. Schäfer fährt mit einer Hand hinter seinen Kopf und zupft sich am gegenüberliegenden Ohrläppchen, klassisches Zeichen bei ihm für intensives Nachdenken. Dann reagiert er, wie jeder andere Theaterleiter auch reagieren würde, er vermutet den Versuch, eine Gagenerhöhung zu erreichen. Aber ich will weder mehr Geld, noch habe ich ein anderes Angebot vorliegen, ich will ganz einfach etwas Neues beginnen. Das ist für ihn nur sehr schwer zu verstehen, da ich ja wirklich in einem Spitzenbetrieb der Oper in Deutschland bin und alles bestens läuft. Als wir uns trennen, ist er sehr nachdenklich und mir ist nun doch ein wenig mulmig geworden. Es ist der Abschied von einer sehr schönen Zeit – aber es ist noch nicht der Abschied von einem großen Theatermann.

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1961 Süddeutscher Rundfunk Stuttgart So ganz unvorbereitet ist mein Berufswechsel in Wirklichkeit nicht. Schon im Jahre 1957 hatte ich durch den „Revisor“ von Werner Egk, der aus dem Rokokotheater im Schwetzinger Schloss live vom Fernsehen übertragen wurde, erste Kontakte zu einem mir noch fremden Medium gefunden.

16. Mai 1957 Es ist mir gelungen, meine „Revisor“-Kenntnisse bestens zu verkaufen. Der Regisseur der Fernsehübertragung vom 28. Mai hatte von Oper keine Ahnung. Dies bemerkend heftete ich mich an seine Fersen und ackerte mit dem Hocherfreuten den Regieauszug durch zwecks Anlage eines Drehbuches. Auf diese Weise lernte ich alle wichtigen Herren vom Stuttgarter Fernsehen kennen und verdiene außerdem noch etwas. 7. Juni 1957 Die letzten Tage in Schwetzingen waren die anstrengendsten. Wir hatten vor der Übertragung zwei Proben, am Montag von 16.00 bis 24.00 Uhr, am Dienstag von 11.00 bis 14.00 Uhr. Das Schöne daran war, dass Ollendorf, der den Stadthauptmann singt, erst eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung erschien, keine Probe mitmachte, obwohl er vom Fernsehen für zwei Tage bezahlt worden war. Die Kameraleute hatten das Stück noch nie gesehen, so musste ich also Ollendorf ersetzen, in Kostüm und mit Stimme (beide Proben waren mit Orchester). Das war anstrengend, aber so konnte ich mich bei den Fernsehleuten vom Süddeutschen Rundfunk ganz gut einführen und habe jetzt jederzeit Zutritt zu den Studios am Killesberg. Leider ist bei der Übertragung auf den Bildschirm doch viel von der Inszenierung verlorengegangen, es fehlte der Raum, der auf der Bühne und besonders bei Rennert mitspielt. Wenn so etwas nicht für das Fernsehen speziell inszeniert wird, bleibt es nur eine Reportage, die Beschreibung einer Opernaufführung. Von Rennert hatte ich den strengen Befehl, keine Änderung in szenischen Dingen zuzulassen, ein manchmal schwer zu verwirklichender Auftrag. Interessanterweise war dann der Stadthauptmann fast nie im Bild zu sehen. Das war die Rache der Fernsehleute an Ollendorf, ein abgekartetes Spiel, das offensichtlich gelungen ist.

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Vielleicht hatte man aber nur versucht, mich als Karikatur des Stadthauptmanns bei den Proben einfach auszuklammern und konnte das dann bei der Live-Übertragung nicht mehr korrigieren. Immerhin wird mir schon damals die ganze Problematik von „Musik im Fernsehen“ bewusst, ein Thema, das mich in den folgenden Jahren noch sehr intensiv beschäftigen soll. Aber es gab auf alle Fälle für mich durch diese erste Zusammenarbeit eine sehr gute Verbindung zum Fernsehen.

11. Dezember 1957 Samstag bin ich aus purer Langeweile zum Fernsehen am Killesberg gegangen und da ich viele wichtige Leute dort kenne, kam ich auch als einziger Zuschauer ins Studio hinein und stolperte dort zwischen den Kameras herum. Man versprach mir, mich bei Bedarf für kleinere Aufgaben zu holen, damit ich mich auf diese Weise mit der Arbeit etwas vertraut machen kann. 5. Februar 1958 Ich soll mich bei Gelegenheit einmal bei Wirth, dem Oberspielleiter des Fernsehens, vorstellen. Eine Regie-Assistenz für Filmaufnahmen vom 3. bis 20. März musste ich leider ablehnen, in der Zeit sind noch „Wildschütz“-Proben, da kann ich nicht weg. Wenn sich die Möglichkeit einer festen Bindung für später ergeben sollte, würde ich es wahrscheinlich sofort machen. Einmalige Chance! So schnell ging es dann doch nicht und ich habe über zwei Jahre auf diese „einmalige Chance“ warten müssen.

25. November 1960 Beim Fernsehen hat man mich auf das noch unbestimmte Eintreffen des neuen Programmdirektors vertröstet und mir für April eine Assistenz bei einer Opernsendung angeboten. Allerdings: Fernsehversprechungen werden nur in den seltensten Fällen eingehalten. 2. März 1961 Bis gestern war ich immer ganztägig beim Fernsehen beschäftigt. Es wird zurzeit eine Ingrid-van-Bergen-Show gedreht, sehr mittelmäßig. Da ich aber überall freien Zutritt habe, kann ich vom Regieraum aus meine Zeit reichlich abschwitzen und eine Menge dabei lernen. Gerade bei schlechteren Regisseuren ist ja viel mehr zu lernen als bei den ganz großen. Für jemand mit offenen Augen und etwas Bühnenpraxis wäre hier noch sehr viel zu machen.

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Es ist genau diese Bühnenpraxis, die mich einen Monat später an der Seriosität der Fernsehleute zweifeln lässt. Als Regie-Assistent für eine Produktion von Nestroys „Der Zerrissene“ eingesetzt, erlebe ich eine mehrwöchige Probenzeit im Studio, man inszeniert für eine Live-Sendung, alles auf Kameras ausgerichtet. Die Schauspieler haben sich darauf eingestellt und müssen dann in einem Theater vor Publikum diese Inszenierung abliefern, anschließend wieder für das Fernsehen weiterprobieren. Es ist ein ständiges Hin und Her, sehr zur Verzweiflung der Schauspieler, die am Ende nicht mehr wissen, für wen sie nun spielen sollen, für das anwesende Publikum mit seinen Reaktionen oder für die anonyme Fernsehkamera – eine echte Nervenprobe.

21. April 1961 Wir haben für den „Zerrissenen“ zwei Wochen am Killesberg probiert, jeden Tag von 9.30 Uhr bis 16.30 Uhr etwa, mit einer kleinen Mittagspause oder auch nicht. Nächste Woche ziehen wir dann in das Schlosstheater Ludwigsburg und probieren bis Samstag. Dort findet dann eine ganz normale Vorstellung vor Publikum statt, dann beginnen in der zweiten Woche die eigentlichen Fernsehproben, gleichfalls in Ludwigsburg. Am Samstag den 6. Mai findet dann die auf Fernsehen gedrillte Zweitaufführung vor Publikum statt, die gleichzeitig live gesendet wird. Ich habe also gleichzeitig eine Theater- und eine FernsehAssistenz. Der Regisseur samt seiner „Wiener Blase“ ist wenig sympathisch und auch nicht besonders gut. Die ganze Aufführung wird wohl sehr viel derber werden, als ich mir einen Nestroy vorstelle. Aber auf jeden Fall sind die Hauptrollen mit Romuald Pekny, Hans Putz, Fritz Eckhardt und Christiane Hörbiger ausgezeichnet besetzt. Man hat mich auch noch in die Eurovisions-Übertragung aus unserem Theater, eine „Tosca“ mit Renata Tebaldi und George London, eingebaut. Eine Vorstellung haben wir am vergangenen Samstag schon mitgemacht, eine weitere und eine Probe folgen noch, die Live-Übertragung ist dann am 3. Juni. Das Fernsehen bringt mir damit 1.150 DM ein! Bei den Verhandlungen habe ich dem finanziellen Angebot sofort zugestimmt, bei einem Gespräch über „Tosca“ habe ich mich bereit erklärt, meine Theatererfahrungen quasi „nebenbei“ zur Verfügung zu stellen. Das hat einen guten Eindruck erweckt und so bin ich auch jetzt nur daran interessiert, einen existenz-ermöglichenden Verdienst zu erhalten. Mein Hauptinteresse am Fernsehen ist die Aufstiegsmöglichkeit, die man mir erneut bestätigte. Ich muss jetzt so schnell wie möglich alles Wissen auf diesem Gebiet erarbeiten, dann kann ich weiter sehen.

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21. Juni 1961 Heute hatte ich eine Unterredung mit dem Fernsehdirektor, er hat mir einen festen Vertrag mit 730.-- DM angeboten. Ich war nicht sehr zufrieden, er hat mir aber versprochen, noch einen weiteren Versuch zu unternehmen und daraufhin habe ich zugesagt. Der Vertrag wird vorerst auf ein Jahr laufen, da man annimmt, mich im nächsten Jahr schon mit kleineren Regie-Aufgaben betrauen zu können. Zunächst aber geht es noch um Regie-Assistenz beim Fernsehspiel, diesmal bei einem prominenten und im Filmgeschäft sehr erfahrenen Regisseur.

23. Juli 1961 Die Fernseh-Arbeit macht sehr viel Spaß und ist das Urlaubsopfer schon wert. Nicht nur, dass die Probenatmosphäre wirklich einmalig ist, man kann daneben auch enorm viel von Paul Verhoeven lernen. Er hat für mich eine vollkommen andere Arbeitsmethode, die wohl aus seinen Filmerfahrungen resultiert. 30. Juli 1961 Die beiden letzten Wochen waren schon ziemlich anstrengend, auf der anderen Seite war aber die Zusammenarbeit mit Verhoeven geradezu ideal, angenehmer als mit Rennert – vom menschlichen Kontakt her. Leider war die Produktionszeit für das sehr umfangreiche Stück zu kurz, der Zeitmangel wirkte sich eben doch auf die Qualität aus, es sind einige technische Mängel in der Aufzeichnung, die sich nicht mehr korrigieren ließen. Die Anstrengungen der letzten Wochen beziehen sich nicht nur auf die Studioarbeit. Aber da es dort bekanntlich nicht nur heiß zugeht, sondern auch ziemlich heiß wird, marschiert der Assistent mit seinem Meister in den Drehpausen brav in die Kantine. Verhoeven kennt nur ein Getränk: Cola mit Rum. Er ist ein großzügiger Gastgeber und so bin ich immer mit dabei. Das ist am Anfang ja ganz erfrischend, in größerer Menge genossen, wird es aber leicht zu einem Problem, überhaupt, wenn man anschließend wieder ins Studio muss. Verhoeven war da sehr standfest, ich musste noch trainieren. Später war ich für diese Trainingsphase sehr dankbar, denn ab 1. August 1961 war ich fester Mitarbeiter beim Fernsehen des Süddeutschen Rundfunks, zunächst als Regieassistent, sehr schnell dann auch als Redakteur, Autor und Regisseur. Da Fernsehen nicht nur den Zuschauer durstig macht, sondern in verstärktem Maße auch das Produktionsteam, kam mir die sommerliche Einge-

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wöhnung durch Verhoeven sehr zugute. Ich denke da an meinen ersten Drehtag im Studio. Es war gleichzeitig der Geburtstag unseres Toningenieurs, der in der Tonregie von den frühen Morgenstunden an tüchtig gefeiert wurde. Permanent wurde ich über Lautsprecher aufgefordert, wegen einer dringenden Besprechung in die Technik zu kommen. Mir war bewusst, worum es da ging, aber ich hatte Wolfgang Windgassen im Studio und wir drehten die Gralserzählung. Den Gralsbecher haben wir dann erst nach Drehschluss am Abend geleert.

29. Oktober 1961 Gewaltig viel Arbeit, aber ich bin sehr glücklich dabei. Nicht nur, dass ich bei der laufenden und den sehr zahlreichen bevorstehenden Produktionen dank unseres neuen Regisseurs viel lernen kann, sämtliche Abteilungen kommen mir auch für meine bevorstehenden eigenen Arbeiten so bereitwillig und liebenswürdig entgegen, wie ich es nicht erwartet hatte. Beim Theater habe ich dieses Entgegenkommen für eine Erstlingsarbeit nicht kennengelernt. Ich bin diese Woche jeden Tag von 8 bis mindestens 18 Uhr im Studio, daneben laufen die Vorbereitungen für meine erste „Schöne Stimme“ und für einen Film über die Eröffnung des Karnevals in Mannheim am 11.11.

Wir sind mit drei Kamerateams nach Mannheim gefahren, ich hatte einen tollen Generalstabsplan ausgearbeitet und wir haben dort gedreht, was nur möglich war. Am Schneidetisch ist dann eine ganz lustige Geschichte daraus geworden, als Sendetermin war der Faschingsdienstag im Februar 1962 vorgesehen. Dann kam am 17. Februar die Jahrhundertflut an der Nordseeküste! Als die Katastrophe überstanden war, da war auch der Fasching vorbei und so ist mein erster Film nie auf Sendung gegangen. Aber der entscheidende Schritt von der Opernbühne in das Fernsehstudio ist vollzogen und das zu einem günstigen Zeitpunkt. Einige wichtige Mitarbeiter waren einem Ruf an die Bavaria Film in München gefolgt, ich kann also sofort eine gerade entstandene Lücke ausfüllen und meine Theaterkenntnisse sind dabei sehr gefragt. So übernehme ich von Michael Pfleghar gleich zwei Sendereihen mit dem Schwerpunkt Oper: „Die schöne Stimme“ und „Die große Arie“. Studioaufnahmen mit den beliebtesten Opernstars dieser Jahre. Meine Fernsehwelt ist in Ordnung.

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Bayreuther Festspiele 1956

Abb. 24/25: Mit dem Sänger Eugen Fuchs und bei der Premierenfeier in der „Eule“

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Familiengründung 1962 Abb. 26: Noch getrennt auf dem Opernball

Abb. 27: Auf dem Standesamt in Stuttgart Abb. 28: Vorfahrt im Hof von St. Peter in Salzburg Abb. 29: Vor der Rückfahrt nach Stuttgart

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Abb. 30: Auf Tournee mit Werner Egk

Abb31/32: Im Fernsehstudio mit Aurelian Neagu und meinem Vater

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Musik im Fernsehen 1965

Abb. 33/34: Mit Michael Gielen in Kiel

Abb. 35: Mit Igor Strawinsky in Hamburg

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Die Hamburgische Staatsoper an der MET 1967

Abb. 36: Auf der Bühne der MET – Ein „Hamburger“ für die Hamburger

Abb. 37: Gunther Schuller, der Komponist der Oper „The Visitation“, dirigiert das SolistenEnsemble bei einem Empfang im Hotel Plaza. Es war mein einziger Gesangsauftritt in New York

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Abb. 38/39: Peter Ustinow und die „Zauberflöte“ (Hamburg 1968)

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Bremen 1967

Abb. 40/41: Rossini „Barbier von Sevilla“; Bühne: Karl Ernst Herrmann (Bremen 1967)

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Bremen 1968

Abb. 42–44: Egk „Der Revisor“; Bühne Klaus Gelhaar (Bremen 1968)

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Abb. 45/46: Donizetti „ Don Psquale“; Bühne: Jürgen Uhlmann (Bremen 1968)

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Tafel 18

Bremerhaven 1970/71 Abb. 47: Weill „Mahagonny“; Inszenierung und Bühne Robert H. Pflanzl

Abb. 48: Janacek „Jenufa“; Bühne Hans Lukas

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Mannheim 1971/72

Abb. 49: Rossini „Barbier von Sevilla“; Bühne Herbert Stahl Abb. 50: Puccini „Gianni Schicchi“; Bühne Paul Walter

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Salzburger Sommerakademie 1969–1982 Abb. 51: Vater und Sohn als Lehrer

Abb. 52: Die gesamte Verwaltung bei einer Feier

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Am Mozarteum in Salzburg bewegt sich etwas

Abb. 53: Weill „Mahagonny“ (1977) Abb. 54: Loesser „Guys and Dolls“ (1979) mit Martina Hansen und Christian Gerl Abb. 55: Bernstein „West Side Story“ (1981)

Abb. 56: Poulenc „Dialogues des Carmelits“ ( 1987)

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Salzburg 1980 Abb. 57/58: Proben für Gounods „Margarethe“ im Landestheater

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Abb 59/60: Gounod „Margarethe“; Bühne: Knut Hetzer

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Die großen Namen trifft man jetzt nur noch bei Gesangswettbewerben

Abb. 61: Sena Jurinac, Wilma Lipp, Erik Werba und die Pflanzls (Salzburg 1988)

Abb. 62: Joan Sutherland (Vercelli 2000)

Abb. 63: Edith Mathis (Salzburg 2002)

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1962 Wiener Staatsoper Es ist im Frühjahr 1962. Wir haben soeben geheiratet, aus John Crankos Solotänzerin Micheline Faure ist eine Micheline Faure-Pflanzl geworden. Die neue Terrassenwohnung am Killesberg mitten in den Weinbergen ist fertig, die Möbel bereits geliefert. Da erreicht mich ein Anruf meines früheren Intendanten. Professor Schäfer teilt mir mit, dass er ab Herbst als Co-Direktor zu Karajan an die Wiener Staatsoper geht und mich gerne mitnehmen möchte als seinen persönlichen Mitarbeiter. Das alles ist natürlich noch ganz geheim. Fast gleichzeitig berichtet mir mein FernsehChef Gerhard Prager ebenfalls unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass es demnächst ein zweites deutsches Fernsehprogramm geben wird mit Sitz in Mainz, er dort als Hauptabteilungsleiter einsteigen wird und mich gerne mitnehmen möchte. Es wird eine sehr schwierige Entscheidung für uns, die dann aber doch zugunsten der Wiener Staatsoper ausgeht. Ich lasse mich in Stuttgart beim Fernsehen beurlauben, John Cranko trennt sich nur ungern von seiner Solistin, aber schließlich ziehen wir doch im Herbst in eine Wohnung am Opernring, ziemlich vornehm mit offenem Kamin und Barockmöbeln ausgestattet. Die neue Wohnung in Stuttgart sperren wir einfach zu.

28. Oktober 1962 Die großen Aufgaben der Staatsoper für mich lassen sich noch etwas Zeit, aber so langsam rollt es schon näher. Ich bin außer Sorge, bis Ende der Spielzeit dann reichlich eingedeckt zu sein. Vor einigen Tagen hatte ich ein sehr freundliches, aber doch deutlich abtastendes Gespräch mit dem Leiter des Opernstudios, auch in der Bundestheaterverwaltung bei Minsterialrat Dr. Haertl habe ich auf eigene Faust meine Fühler ausgestreckt, es herrschen da ja sehr delikate und schier unglaubliche Zustände. Nicht umsonst spricht man davon, Karajan wäre an einer Nierenverhaertelung erkrankt. Na, mir macht es jedenfalls viel Spaß. 8. November 1962 Neulich habe ich Klingenbeck aufgesucht, den früheren Intendanten von Salzburg, jetzt Direktor des Theaters an der Wien. Er war von unvorhergesehener Höflichkeit und zeigte mir höchstpersönlich das ganze Theater an der Wien

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– ein bezauberndes Haus, wirklich. Schäfer sagte dazu: die Staatsoper ist nur ein Gebäude, das hier ist ein Theater. Aber trotzdem, die Staatsoper ist schon auch ganz schön. Wir sind ja fast jeden Abend drin, immer in Schäfers Loge, da das Haus sonst regelmäßig ausverkauft ist. Es ist auf jeden Fall der festlichste Zuschauerraum, den ich kenne, manchmal sind dann sogar die Vorstellungen noch festlich, aber das ist nicht die Regel. Jedenfalls ist es für uns beide eine sehr lehrreiche Zeit, ob der Nutzen für die Staatsoper ebenso groß ist, das muss sich erst noch zeigen. Aber wir könnten es uns jedenfalls nie leisten, so oft in ein so teures Theater zu gehen (ein Platz unserer allabendlichen Besuche kostet an der Kasse 180 Schilling). Ich hoffe zwar sehr, dass mir Wien auch noch Anderes einbringen wird, aber das allein wäre die Reise schon wert gewesen. 15. November 1962 Noch in dieser Woche wird es losgehen. Zunächst mit „Pasquale“-Proben für eine komplette italienische Besetzung mit Graziella Sciutti, Ermanno Lorenzi, Rolando Panerai und Fernando Corena, Premiere am 6. Dezember. Vom 10. bis 20. Dezember mache ich dann „Traviata“-Proben mit sechs neuen Leuten (natürlich Italienern!) in einer grausigen Inszenierung von Frigerio mit noch grausigeren Bühnenbildern von de Nobili. Anfang Januar schließlich kommt dann die Wiederaufnahme und Umbesetzung des Schuh/Neherschen „Caesar“, dazwischen irgendwie noch kleinere Aufträge wie „Onegin“, „Igor“ und „Cavalleria/Bajazzo“. Jedenfalls fängt es nun wirklich an. Die haben hier einen Traktor engagiert und hätten eigentlich nur einen Fiaker gebraucht. So waren sie alle sehr in Verlegenheit, auch Arbeit für mich zu finden. Nun, es wird schon! Es wurde schon, das ist richtig, aber es wurde auch sehr kalt in Wien in diesem Winter. Wir bemerken sehr schnell, dass unsere Wohnung außer dem offenen Kamin keine Heizung hat, also Umzug an den Getreidemarkt, zwei Zimmer und Bad in einer großen Etagenwohnung im dritten Stock bei Frau David-Labor. Hier gibt es eine sehr komfortable Gasheizung, wird uns versprochen. Aber draußen wird es immer kälter, die Straßen brechen auf, Wasser und Gas versiegen. Das Wasser muss man vom Tankwagen unten in Eimern hinauftragen, das Zimmerthermometer bleibt trotz Elektro-Ofen bei +8° stehen. Es wird ein echter Katastrophenwinter und in dem kleinen Schnapsladen gegenüber sieht man uns oft einkaufen, Kirschlikör als Wärmespender. Aber im Theater ist wenigstens geheizt. Meine Frau darf zwar nicht, wie erhofft, in der Staatsoper mittrainieren, trotz Fürsprache durch den Ballettdirektor Aurel von

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Milloss. So streng sind hier die Bräuche bzw. die Ballettinspektoren. Mehrere Fernseh-Auftritte und die Titelrolle in Henzes Ballett „Undine“ in Linz sind aber Trost genug, daneben trainiert sie mit Marcel Luipart im Schloss Schönbrunn. Für mich gibt es Vieles zu tun und eine Menge zu beobachten. So geht ein spürbarer Ruck durch die gewaltige Wiener Staatsoper, wenn Maestro Karajan anreist. Dann läuft plötzlich alles auf Hochtouren, es knirscht im Gebälk. Aber es ist nicht nur der Dirigent und Direktor, es ist auch der Regisseur Karajan, der das Haus zum Zittern bringt. Für seine Inszenierung von Wagners „Tannhäuser“ ist die Bühne wochenlang mit Beleuchtungsproben besetzt, die etwa so aussehen: Am Morgen wird das Bühnenbild des zweiten Aktes, die Sängerhalle auf der Wartburg, aufgebaut. Dann arbeiten sämtliche Beleuchter mehrere Stunden, um dem Wunsch des Regisseurs entsprechend mit etwa 600 Scheinwerfern einen Lichteinfall ausschließlich von der rechten Bühnenseite zu produzieren. Dafür stehen auch Statisten in Chorstärke bereit, um die ausgeleuchtete Bühne zu bevölkern. Gegen Mittag erscheint der Maestro im Zuschauerraum, man führt ihm das fertige Bild vor, worauf er kurz bemerkt: „Es ist vielleicht besser, wenn das ganze Licht von links kommt. Baut das bitte um, ich sehe mir das später an!“. Also Kommando zurück, die 600 Apparate werden wieder abgebaut und auf die andere Seite geschafft. Den Statisten ist das sehr recht, die sitzen wartend in der Kantine und bekommen nach einigen Stunden immer wieder ein neues Honorar. Mir ist von der Aufführung dann nur eine gewaltige Hunde­ meute in Erinnerung, die über die dunkle Bühne tobt und ein Dirigent, der während der Vorstellung ständig von seinem Pult aus mit der Beleuchtung telefoniert und Lichtkorrekturen vornimmt. Er war eben ein Universalgenie. So vielseitig begabte Künstler kann man natürlich nicht an ein Haus allein binden und für die Leitung gab es ja auch noch den Co-Direktor aus Stuttgart, Walter Erich Schäfer. Aber Karajans lange Abwesenheiten von Wien waren beliebtes Thema bei Ensemblemitgliedern für Text-Improvisationen, die Wiederbelebung einer alten Wiener Theatertradition. Als Karajan den Winterurlaub in St. Moritz verbringt und in einer Aufführung der „Verkauften Braut“ laut nach dem Herrn Direktor gerufen wird, was durchaus zum Stück gehört, da meint Erich Kunz als Zirkusdirektor: „Herr Direktor, Herr Direktor – hier gibt es keinen Direktor. Wie sich der kleine Moritz einen Direktor vorstellt!“. Kunz hatte da immer wieder geniale Einfälle und manchmal hat er sich den Spaß auch etwas kosten lassen. So gab es in der „Zauberflöte“ in der Szene, wo Papageno von einem Löwen erschreckt wird, einen richtigen Tierstimmen-Imitator, der hinter der Bühne das schreckliche Löwengebrüll anzustimmen hatte. Bei einer Vorstellung hat Kunz nun diesen Herrn in der Kantine so intensiv eingeladen, dass der nicht mehr auf die Bühne kommen konnte. Als das Lö-

100 2. Begegnungen in der Welt der Oper wengebrüll ausbleibt, tritt Kunz als Papageno an die Rampe und teilt dem Publikum mit: „Der Löwe lässt sich heute entschuldigen, der Löwe ist indisponiert.“ Kunz war nicht der Einzige im Ensemble, der für solche Späße zu haben war, auch wenn man dabei durchaus eine Disziplinarstrafe riskierte – aber er war sicher der Größte. Der beste Geschichtenerzähler, das war Oskar Czerwenka. Eine seiner berühmten Geschichten, die heute noch in mehreren Varianten kursiert, passt vielleicht ganz gut hierher: Der Orchesterdiener der Wiener Philharmoniker führt Herbert von Karajan an das Dirigentenpult, nimmt ihm dort den Mantel ab und murmelt im Vorbeigehen an den Orchesterpulten: „Wann des so weidageht, dann wer’ma sich Blindenhunde anschaffen müssen“. Ein wenig Abwechslung vom Glanz der Staatsoper bringt mir eine Einladung, an der Wiener Kammeroper Rossinis „Liebesprobe“ zu inszenieren in neuer deutscher Übersetzung von Günther Rennert. Der möchte das Stück dann auch an der Wiener Staatsoper inszenieren, was aber nun nicht mehr möglich ist, da der Verlag die Aufführungsrechte nicht gleichzeitig an zwei Theater in derselben Stadt vergeben kann. Da war der ehemalige Assistent schneller als der Meister, aber Rennert hat es mir nicht verübelt.

8. März 1963 Meine Proben in der Kammeroper laufen wacker weiter, gestern bin ich bis zum Schluss der „Liebesprobe“ gekommen, so bleibt mir noch dieses Wochenende für ausgiebige Proben, nächste Woche fängt es dann auch schon mit Orchester an. Die Leute sind unterschiedlich, aber alle guten Willens, mit dem Dirigenten, der auch der Direktor ist, habe ich es bisher noch ganz gut geschafft. Viel Arbeit ist es halt, eigentlich ist das Stück ja eine Aufgabe für ein richtiges Theater. Dafür kann man hier aber den ganzen Tag und auch am Sonntag ungestört probieren. Ich hatte bisher nur an deutschen Theatern gelernt und gearbeitet, da ist nun Wien einfach eine andere Welt. Das wird mir sehr bald klar und ich sehne mich nach präziseren Arbeitsbedingungen, die nichtssagenden Liebenswürdigkeiten gehen mir bald auf die Nerven. Schweren Herzens marschiere ich zu Schäfer, um wieder einmal zu kündigen. Ich bin auf alles gefasst und höre schon seine Vorwürfe: zu ungeduldig, nicht gleich aufgeben, Zeit lassen, weitermachen! Aber überraschenderweise ist die Reaktion meines Lieblingsintendanten ganz anders, er strahlt mich an und sagt: „Dann gehen wir eben beide wieder nach Stuttgart zurück!“

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24. Mai 1963 Bald nach seinem Schlaganfall besuchte ich Dr. Schäfer in der Klinik. Er wirkte sehr alt und schwach, aber doch voller Pläne – für Stuttgart. Von Wien sprach er nicht und ich hatte so eigenartige Gefühle, als wäre die Wiener Zeit schon wieder ein Teil der Vergangenheit. Man weiß noch nichts Genaueres, aber ich glaube, dass ich mit dem Entschluss „Zurück nach Stuttgart“ schon dem allgemeinen Trend entspreche. Schäfer hat da auch wieder ein bisschen was vor mit mir, aber das muss man erst abwarten. Wenn man fast ein Jahr lang gegenüber dem Kunsthistorischen Museum wohnt, dann ist die Versuchung groß, einen Besuch dort aus nichtigen Gründen immer auf die nächste Woche zu verschieben. Man kann das ja jederzeit nachholen. Nun, auf den letzten Drücker, holen wir es also nach. Dann werden die Koffer gepackt und es geht wieder zurück nach Stuttgart.

1963 Deutsche Gastspieloper Berlin Das wird hier nur eine Art Zwischenstation, denn ich hatte mich in Stuttgart wirklich zwischen alle Stühle gesetzt. Natürlich war es zunächst eine große Freude, wieder in die eigene Wohnung zu kommen, dort weiterzumachen, wo man vor einem Jahr aufgehört hatte. Aber die Dinge hatten sich inzwischen verändert, nichts war mehr wie vorher: die Unterhaltungsabteilung des Fernsehens war praktisch aufgelöst worden und an der Staatsoper gab es nur noch gelegentlich Aufgaben für mich. Außerdem erwarteten wir Nachwuchs, was die Wiedersehensfreude mit seiner früheren Solotänzerin bei John Cranko deutlich einbremste. Aber ein Angebot stand noch im Raum:

19. Juli 1963 Gerhard Prager aus Mainz rief mich an, er suchte mich schon, um mir ein verlockendes Angebot in nächster Zeit zu machen. Nun, warten wir ab, was sich inzwischen in Stuttgart herauskristallisiert. In Stuttgart geschieht nicht sehr viel und das Angebot aus Mainz vom Zweiten Deutschen Fernsehen, das ist in meiner Vorstellung geprägt von irgendeiner Baracke am Stadtrand von Mainz, wo man an einem Schreibtisch sitzend öde Zukunftspläne zu

102 2. Begegnungen in der Welt der Oper verfassen hätte. Glücklicherweise hatte sich Werner Egk wieder an mich erinnert. Er will seinen „Revisor“ in der Stuttgarter Version für eine große Tournee an Hans Schlote und dessen Deutsche Gastspieloper Berlin verkaufen und auch einen Teil der Vorstellungen selbst dirigieren. Für ein Honorar von DM 4.000, das ich mir mit Rennert im Verhältnis 3:2 zu teilen habe, sollte ich nun die Inszenierung Rennerts auf eine völlig neue Besetzung übertragen. Die Organisation dieses Unternehmens ist grandios: Im Juni wird die komplette Ausstattung, Dekoration, Requisiten, Kostüme, von Stuttgart nach Berlin geschickt, dort hat man in der Hochschule für Musik eine Probebühne angemietet, wo für eine Probenzeit von vier Wochen alles im Original aufgebaut werden kann. Da die beiden männlichen Hauptrollen dreifach besetzt sind, alle anderen Partien doppelt, erwartet mich am 26. August in Berlin ein Ensemble von insgesamt 28 Sängerinnen und Sängern.

2. September 1963 Die Proben sind natürlich mörderisch, das wusste ich ja vorher, aber andererseits auch interessant. Die gleichen Szenen nacheinander mit verschiedenen Besetzungen zu probieren, das führt zu erstaunlichen Ergebnissen. Wir hatten zwei fast gleichwertige Gruppen bei Probenbeginn. Jetzt ist da ein Ensemble von fröhlichen, aber konzentrierten, arbeitsfreudigen Kollegen (mit dieser Gruppe habe ich heute von 14 – 17 Uhr den 5. Akt von Anfang bis zum Beginn der Arie Stadthauptmann nicht nur gestellt, sondern schon recht gut probiert). Die andere Gruppe ist nervös, jeder nur für sich alleine und gegen die anderen, daher mit sehr unbefriedigenden Arbeitsergebnissen. Walter Raninger ist in der zweiten Gruppe und todunglücklich, denn er ist sonst ein sehr netter und arbeitswilliger Kollege. Aber die Zeit ist knapp und ich muss Überdurchschnittliches von allen verlangen. Dafür steht auch von der ersten Probe an die Originaldekoration mit den Originalrequisiten. Beim „Revisor“ macht das schon viel aus. Meinen Geburtstag feiere ich auf meine Art: Am 14. früh habe ich „Wildschütz“-Probe in Stuttgart. Mittags klettere ich in ein Flugzeug und habe dann anschließend in Berlin noch „Revisor“-Probe. Damit man immer in Schwung bleibt! Nach Probeaufführungen in Berlin findet dann die Premiere in Bamberg statt, im erst wenige Jahre vorher renovierten Theater am Schillerplatz, in dem vor 150 Jahren E.T.A. Hoffmann dirigiert hat. Den „Revisor“ dirigiert nun der Komponist Werner Egk selbst, am Beginn einer Tournee mit rund fünfzig Vorstellungen.

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8. Oktober 1963 Hans Schlote an Robert H. Pflanzl Lassen Sie mich zum Abschluss Ihnen ein paar persönliche Worte des Dankes und der Anerkennung sagen. Ich verkenne durchaus nicht, dass ich seinerzeit nach unserem ersten Kennenlernen in München gemeinsam mit Herrn Professor Egk gewisse Bedenken hatte, die darin lagen, dass Sie doch nun noch sehr jung sind, und ich auf der anderen Seite die Erfahrung gemacht habe, dass gerade ältere Routiniers des Theaters sich oft nur sehr ungern von jüngeren Regisseuren etwas sagen lassen. Heute freue ich mich, Ihnen sagen zu dürfen, dass diese Bedenken gegenstandslos waren und Sie eine außerordentlich geschickte Hand bewiesen haben, die praktisch nebeneinander probenden Ensembles durch die Tücken der szenischen Probenarbeit zu führen. Das mit der geschickten Hand, ja, das war so eine Sache. Das zweite Bild des „Revisor“ spielt in einem armseligen Hotelzimmer. Der Sänger des Bobtschinskij, als Lauscher hinter einer Türe versteckt, soll im Verlauf der Szene mit dieser Türe ins Zimmer fallen. Das ist an sich ganz harmlos, die Fläche der Türe wirkt wie ein Fallschirm und dämpft den Aufprall vollständig. Aber unser Sänger, ein etwas rundlicher Tenor, hat Angst, er weigert sich. Also stelle ich mich selbst hinter die Türe und demonstriere die Gefahrlosigkeit dieser Aktion. Es herrscht allgemeine Begeisterung, als ich samt Tür am Boden liege, unser Tenor ist überzeugt und bereitet sofort einen neuen Sturz vor. Dummerweise hatte ich beim Fallen meine rechte Hand durch eine Türöffnung gestreckt und war mit dem ganzen Körpergewicht plus Türe auf den rechten Daumen gefallen. Als der Applaus der Anwesenden für den gelungenen Türsturz des Tenors aufbraust, wird es mir schwarz vor den Augen, ich falle in Ohnmacht. Meine rechte Hand hat in den folgenden Wochen spektakuläre Farbnuancen durchgespielt von dunkelviolett bis hellgrün. Aber der Trick mit der Türe hat immer geklappt.

28. Oktober 1963 Morgen werde ich für zwei Tage nach Bad Godesberg fahren um meinen „Revisor“ gründlich zu inspizieren und ein bisschen aufzufrischen. Die Kritiken waren bisher ausnahmslos positiv, aber nach dreißig Vorstellungen fällt dann doch einiges auseinander. Mit Schäfer führte ich neulich ein längeres Gespräch, das aber bis jetzt noch nicht abgeschlossen ist, da er für einige Zeit ins Sanatorium gehen musste. Beim Stuttgarter Fernsehen ist im Augenblick kaum etwas zu machen. Ich habe lange mit Fernsehdirektor Horst Jaedicke verhandelt, der sehr bedauert, aber in

104 2. Begegnungen in der Welt der Oper Sachen Unterhaltung gar nicht mehr selbst produziert, sondern fertig einkauft. An dieser Situation hätte auch mein Verbleiben in Stuttgart nichts geändert. Ich hoffe nun doch auf eine Möglichkeit bei Schäfer, wo man nebenbei auch auf Gastinszenierungen gehen könnte, denn die Mainzer Lösung erscheint mir halt nach wie vor ein etwas radikaler Wechsel. Nach der Geburt unserer Tochter hat meine Frau ihre Tätigkeit bei John Cranko wieder aufgenommen und ich betreue weiterhin die Rennert-Inszenierungen in der Staatsoper, Umbesetzungen, Wiederaufnahmen, Gastspiele. Gemeinsam mit meiner Frau als Bühnenbildnerin inszeniere ich im Theater der Altstadt „Die Verspätung“ von Wolfgang Hildesheimer und in der gleichen Spielzeit dann noch „Gripsholm“ nach Kurt Tucholsky. Das macht zwar viel Spaß, bringt aber leider nur wenig ein.

23. Juli 1964 Mit Schäfer habe ich eine Art Gastvertrag abgeschlossen. Er nimmt meine Dienste wie bisher für Wiederaufnahmen und Abenddienste in Anspruch, hat mir das Honorar erhöht und garantiert für einen bestimmten Mindestverdienst in der nächsten Spielzeit. Das reicht natürlich nicht ganz für unsere Existenz. Um auch noch etwas zum Familienleben beitragen zu können, habe ich jetzt drei Wochen lang schwer gearbeitet, „im Schweiße meines Angesichts und mit schwieligen Händen“ – fast auf den Spuren meines Großvaters im Braugewerbe: bei der Firma Sinalco. Morgen ist der letzte Tag, ich bin sehr froh darum, denn es war eine harte Zeit. Die Arbeit in der Leergutannahme oder das Tragen von Zuckersäcken sind neue Berufserfahrungen für mich. Doch meine Fernsehkenntnisse erweisen sich auch hier als nützlich, denn der Geschäftsführer ist ein Hobby-Autor. Er hatte einige Fernsehspiele verfasst, die er nun von mir korrigieren lässt. Dafür werden mir keine Steuern und keine Beiträge zur Sozialversicherung abgezogen. Na bitte! Vom 15. bis 30. Juni 1964 spielt die Hamburgische Staatoper unter dem Titel „Zeitgenössisches Musiktheater“ neben einer Uraufführung noch zwölf weitere Opern und zwei Ballettabende aus dem Repertoire. Als einzige Fremdproduktion wird die Stuttgarter Oper eingeladen mit Carl Orffs „Oedipus der Tyrann“. Ich bin für das Gastspiel verantwortlich, treffe am 19. Juni in Hamburg ein und gehe gleich am ersten Abend in eine Vorstellung: Strawinsky „Die Sintflut“ und Dallapiccola „Der Gefangene“ (beide Aufführungen übrigens in deutscher Sprache). Vom Büro des Intendanten habe ich eine Karte bekommen im Parterre, 2. Reihe rechts au-

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ßen. Ein leerer Platz vor mir wird erst beim Eindunkeln des Zuschauerraums von einem Herrn besetzt, es ist Rolf Liebermann, der Intendant. Wie ich später erfahren werde, ist das sein Stammplatz, den er fast jeden Abend einnimmt, und es gehört zum Ritual der Sänger, beim Aufgehen des Vorhangs einen kurzen Kontrollblick in diese Richtung zu werfen, ob der Chef auch da sitzt. Die Aufführung von Strawinskys Werk ist sehr eindrucksvoll, von einer außergewöhnlichen Präsenz der Interpreten, vor allem Helmut Melchert und Helga Pilarczyk, und einer überwältigenden Präzision, musikalisch wie technisch. Nach der Pause, der Saal ist bereits verdunkelt, Liebermann sitzt an seinem Platz und der Dirigent Horst Stein kommt an sein Pult – aber er fängt nicht an. Irgendetwas scheint nicht in Ordnung zu sein, die Unruhe im Orchestergraben überträgt sich schon auf den Zuschauerraum, da springt Liebermann auf und verschwindet durch eine Seitentüre, erscheint unmittelbar darauf auf der Bühne vor dem Vorhang, eine Hand in der Hosentasche und mit der anderen das Publikum beruhigend: Es gebe keinen Grund zur Aufregung, eine Trompetenstimme sei in der Unterbühne verschwunden, die müsse jetzt erst gefunden werden. Das Publikum lacht und beruhigt sich sofort wieder, Liebermann kommt zurück in den Zuschauerraum, schaut in den Orchestergraben und wendet sich noch einmal an das Publikum: „Die Noten sind schon wieder da, jetzt kann es losgehen.“ Sofort ist im Zuschauerraum absolute Stille und Konzentration und Dallapiccolas „Der Gefangene“ kann beginnen. Als ich mich am nächsten Vormittag bei Liebermann vorstelle und begeistert von der Aufführung und von seiner Art, mit dem Publikum umzugehen rede, schaut er mich sehr direkt an – Liebermann hatte zwei Arten, mit einem Gesprächspartner umzugehen, entweder ganz locker und mit im Raum umher wandernden Augen, wie halb abwesend oder eben sehr direkt – und meint: „Wenn Ihnen das so gut gefällt, warum kommen Sie nicht zu mir als Spielleiter?“ Und das ist es dann auch schon, genau ein Jahr später beginnt meine Tätigkeit in Hamburg. In den folgenden Jahren werde ich noch viele Opernabende im Parterre in der 1. Reihe rechts verbringen.

18. Oktober 1964 Liebermann bietet mir einen Dreijahresvertrag als Spielleiter an die Hamburgische Staatsoper an, beginnend mit 1. Februar 1965. Das finanzielle Angebot lautet: DM 1.200, ab August dann DM 1.300, und jedes Jahr noch einmal um 100 hinauf, im Ganzen ein großzügiges Angebot. Der Vertrag ist in der Zwischenzeit auch schon unterschrieben! Da meine Honorare bei der Stuttgarter Oper zurzeit etwas dürftig sind, habe ich mir eine neue Arbeit gesucht, aber es ist kein Vergleich zu meiner Sinalco-

106 2. Begegnungen in der Welt der Oper Zeit. Seit letzter Woche helfe ich aus bei einer Großbuchhandlung (KNO) und bringe als Kraftfahrer ein paar Papiere von einem Büro zum anderen. Verdienst ist besser, Arbeit ist viel angenehmer, nur fängt es früh um 7 Uhr an! Aber die Arbeit im Großbuchhandel macht direkt Spaß, ein nettes Betriebsklima und gut bezahlte Überstunden tragen dazu bei. Mit dem Ausblick auf das neue Jahr halten wir das spielend durch. Ich hatte schon immer eine enge Beziehung zu Büchern und hier wäre es fast zu einer Dauerbeziehung geworden, als mir eines Tages im Lift des Verwaltungsgebäudes einer der Direktoren vorschlägt, doch ganz in der Firma einzusteigen. Aber das Theater ruft!

8. November 1964 Nach der Vertragsunterzeichnung mit Hamburg hatte ich noch einen schweren Gang zu Schäfer zu absolvieren. Er reagierte halb traurig, halb böse, war zum Teil auch etwas ungerecht, jedenfalls ein unerfreulicher Besuch, der mir etwas auf der Seele lag. Ich habe nun mit Rennert darüber geredet. Er war ausgesprochen liebenswürdig, fand unsere Entscheidung aus beruflichen und menschlichen Motiven heraus vollkommen richtig und versprach, in diesem Sinne auch noch einmal mit Schäfer zu sprechen. Er bat mich, nach Möglichkeit von Hamburg auch weiterhin wichtige Wiederaufnahmen in Stuttgart oder Gastspiele zu betreuen, was ich natürlich gerne tun werde. Außerdem bot er mir für die Salzburger Festspiele den ersten Assistentenposten an, das muss ich aber erst mit Liebermann klären, da die Hamburger ja schon am 15. August beginnen. 18. November 1964 Meine Hamburger Verträge habe ich heute in den Ordner geheftet.

1965 Hamburgische Staatsoper Ich habe in Hamburg kaum die Koffer ausgepackt, als das Telefon klingelt. Liebermann bittet mich, am gleichen Tag eine Vorstellung von „Figaros Hochzeit“ zu betreuen mit drei Gästen, Susanna, Cherubino, Contessa, die noch nie in Hamburg gesungen haben und die erst knapp vor der Vorstellung eintreffen werden. Es gibt also keine Probenmöglichkeit vorher, aber Liebermann meint, es wäre ja eine Rennert-Inszenierung, da würde ich mich doch auskennen und das wäre schon zu

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schaffen, auch wenn ich diese Vorstellung bisher nicht gesehen habe. Es kommt dann noch ein bisschen dramatischer, da die Sängerin der Contessa (Felicia Weathers) sehr klein ist, die hauseigene Gräfin (Arlene Saunders) aber eher groß, so dass unser Gast bei einer Anprobe des Festkostüms für den dritten Akt gerade noch aus dem Dekolleté herausschauen kann. Bis zur Pause nach dem zweiten Akt nähen die Garderobieren noch immer an dem viel zu großen Kostüm. Kostüm fertig – raus auf die Bühne. Es geht aber alles ganz gut, der Inspizient sorgt dafür, dass die drei Damen immer an der richtigen Stelle auf die Bühne kommen und ich dirigiere von der linken Bühnenseite aus den szenischen Ablauf. Es ist schon sehr seltsam, wenn zum Beispiel im zweiten Akt nur diese drei Sängerinnen auf der Bühne sind, die noch nie zusammen gesungen hatten und diese Inszenierung nicht kennen und die sich führen lassen von einem, der auch nicht viel mehr weiß und der nur in den Umbaupausen schnell nachsehen kann, wo denn die im „Figaro“ so wichtigen Türen überhaupt sind. Natürlich konnte man sich auf den Regisseur Rennert verlassen, wenn man eine Inszenierung von ihm gut kennt, dann findet man sich auch in den anderen schnell zurecht. Für Hamburg ist das wirklich ein Ausnahmefall, denn Liebermann hat peinlichst auf Präzision und Qualität seiner Aufführungen geachtet, schon allein durch seine tägliche Anwesenheit im Zuschauerraum. Bei der geringsten Unregelmäßigkeit erscheint er sofort auf der Bühne und mischt sich dann meist sehr energisch ein. Wenn er einmal nicht in der ersten Reihe sitzt, dann spricht man darüber, denn dann ist er entweder krank oder im Ausland auf Sängersuche. Aber er hat das Haus mit seinen 700 Mitarbeitern und einen Spielplan mit über fünfzig Inszenierungen, darunter zehn zeitgenössischen Opern, die alle jederzeit auf Abruf gespielt werden können, stets unter Kontrolle. So wird ihm jedes Mal nach der Hauptprobe ein Entwurf für die Applausordnung bei der Premiere vorgelegt, den er dann so akzeptiert oder auch nicht. Die endgültige Fassung wird mit Liebermanns Unterschrift vervielfältigt, im Haus verteilt, bei der Generalprobe erstmals durchexerziert und sie behält Gültigkeit für alle Vorstellungen dieser und der folgenden Spielzeiten. Meistens hat Liebermann seine internationalen Netze aber von seinem Büro aus gespannt und das war wohl auch seine große Spezialität. Heute würde man sagen, er war ein genialer Event-Manager, der auf fünf Jahre voraus für ein Superereignis an einem ganz bestimmten Tag drei Weltstars gewinnen konnte. So dirigieren Komponisten (Igor Strawinsky), inszenieren Schauspieler (Peter Ustinov), Choreographen (George Balanchine) und Komponisten (Gian Carlo Menotti), Bühnenbilder entwerfen Filmarchitekten (Herbert Kirchhoff), Bildhauer (Nicolas Schöffer) und Designer (Max Bill). Das produziert natürlich automatisch ein großes Interesse, auch wenn es

108 2. Begegnungen in der Welt der Oper künstlerisch nicht immer zur erwarteten Sensation wird. Da kann es schon vorkommen, dass ein prominenter Schauspielregisseur, der „Arabella“ mit dem Textbuch in der Hand inszeniert, fassungslos zusammenbricht, weil die Sängerinnen an der Stelle, wo im Text ein Komma steht, einfach keine Pause machen wollen: Richard Strauss hatte dort keine Pause vorgesehen. Auch ist nicht jeder erfolgreiche Komponist als Regisseur eigener oder fremder Werke von gleicher Genialität. Wenn die von Liebermann geplanten personellen Kombinationen funktioniert haben, dann gab es oft sensationelle Ergebnisse, aber immer hat es nicht funktioniert. Auf jeden Fall war die Arbeit mit Liebermann voller Überraschungen und die Begegnungen mit großen Künstlern aus allen Bereichen der bildenden und darstellenden Künste bleiben in lebendiger Erinnerung. Ein sehr starker Akzent des Intendanten, der ja auch gleichzeitig Komponist ist, liegt natürlich auf dem zeitgenössischen Musiktheater. Hier werden die Klassiker des 20. Jahrhunderts im laufenden Repertoire gespielt, es werden ständig neue Kompositionsaufträge vergeben und nur ein einziger Komponist wird nie gespielt: Rolf Liebermann! Auf die häufig gestellte Frage nach seinen eigenen Werken hatte er dann eine Standard-Antwort: „Ich komponiere nicht mehr, ich lasse jetzt komponieren!“ Als Rolf Liebermann 1959 die Leitung der Hamburgischen Staatsoper übernahm, konnte er ein reiches Erbe antreten, das Günther Rennert in zehn Jahren als Intendant geschaffen hatte: ein großartiges Ensemble und rund fünfzig Inszenierungen. Von 1956 bis 1959 gab es dann unter Heinz Tietjen eine Art Interregnum. Er war unter den Nationalsozialisten Leiter der Berliner Staatsoper und zur gleichen Zeit von Winifred Wagner als künstlerischer Leiter nach Bayreuth geholt worden. So lag es nahe, dass Tietjen regelmäßig Winifreds Sohn Wieland Wagner zu Inszenierungen nach Hamburg einlud. Das war nun ein Erbteil, an dem Liebermann eher weniger Freude hatte, auch wenn zu seiner Zeit Wieland Wagner noch einen „Holländer“ in Hamburg inszenierte. Fast regelmäßig, wenn eine der Wieland-Inszenierungen auf dem Spielplan stand, klingelte das Telefon und Liebermann wollte mit mir vor der Vorstellung auf der Bühne über eventuell mögliche radikale Korrekturen diskutieren. Ich habe ihm das immer wieder ausreden können und bin heute noch stolz darauf. Man sollte einer künstlerischen Leistung Respekt zollen, auch wenn man nicht mit Allem einverstanden ist. Das waren keine einfachen Gespräche, denn bei aller Offenheit und Großzügigkeit Liebermanns, sein Führungsstil war autoritär, er konnte auf Widerspruch hart reagieren. In einem Fall ist das gut ausgegangen. Eine Neuinszenierung von Puccinis „Tosca“ ist in der Spielzeit 1965/1966 geplant, der Bühnenbildner Wilhelm Reinking aus Berlin hat seine Entwürfe vorgelegt, die Liebermann nicht gefallen. Er findet vor al-

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lem den 2. Akt, der im Palazzo Farnese in Rom spielt, ausgesprochen geschmacklos und schreibt:

Rolf Liebermann an Wilhelm Reinking Lieber Herr Reinking! Soeben sind mir Ihre Bühnenbilder zu „Tosca“ vorgelegt worden, und ich habe eine Frage an Sie: Wieso spielt eigentlich der 2. Akt in einem gerade fertiggestellten Neubau? Sowohl die Architektur als die Möbel sind so eindeutig Empire, dass, von dem um 1800 herum spielenden Stück aus gesehen, das Haus des Scarpia kurz vorher fertiggeworden sein muss und mit den modernsten Möbeln der Zeit ausgestattet wurde? Wilhelm Reinking an Rolf Liebermann Sehr geehrter Herr Intendant, herzlichen Dank für Ihr Interesse an dem Stil der Möbel und Wanddekorationen für den 2. Akt der Oper Tosca. Ich gebe Ihnen hier nun mit den besten Grüßen einen ganz kleinen Essay, betitelt: Baron Scarpias Möbel. Auf zwei Seiten analysiert Reinking nun mit fundierten historischen Kenntnissen die vermutliche Herkunft der Möbel auf seinen Entwürfen, beginnend bei den Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeji über die Geschichte des Kirchenstaates im 19. Jahrhundert bis zum Einzug des Königs Ferdinand von Neapel in Rom und er kommt zu dem Schluss:

Die Möbel sind nicht von den Besten und deshalb ist es auch mit dem Geschmack des Barons nicht weit her gewesen. Er war schon gar nicht für das Moderne und muss im Althandel gekauft haben. Baron Scarpia mag ein hervorragender Frauenexperte gewesen sein, von Möbeln verstand er nichts. Für diese Art von Witz hatte Liebermann Verständnis: Die Möbel blieben so und er hat sogar den Briefwechsel mit Reinking im Programmheft der Aufführung veröffentlicht. Aber, wie gesagt, nicht immer hat Liebermann so milde reagiert. Nicht alle Probleme, die an einem großen Haus entstehen, landen auch auf dem Schreibtisch des Intendanten, oft werden Differenzen dann im normalen Probenbetrieb unter den Mitwirkenden ausgetragen. Im November 1965 laufen die Proben für die Uraufführung der Oper „Jacobowsky und der Oberst“ von Giselher Klebe. Das Theaterstück von Franz Werfel war auch Vorlage für einen berühmten Film aus dem Jahre 1958 mit Danny Kaye und Curd Jürgens in den Titelrollen. In Hamburg

110 2. Begegnungen in der Welt der Oper wird Oskar Czerwenka von der Wiener Staatsoper als Gast den Jacobowsky singen, der phantastische Charaktertenor Gerhard Stolze ist als Oberst sein Gegenspieler. Günther Rennert inszeniert und alles verläuft in bester Stimmung, bis der Komponist erscheint. Rennert bringt ihn zur Verzweiflung, er möchte da ein paar Takte gestrichen haben, dort ein paar Takte mehr und so geht es bis kurz vor der Premiere dahin. Schließlich liegt Klebe mit einem Nervenzusammenbruch in seinem Hotelzimmer – nun hat der Regisseur freie Hand. Das ist Rennert sehr recht, denn es geht um das zentrale Stück des ganzen Werkes, um den berühmten Monolog Jacobowskys: „Es gibt immer zwei Möglichkeiten, entweder … oder …“. Hier hat der Komponist noch einmal alle Register gezogen – und der Sänger Czerwenka kann und kann es nicht lernen. So entscheidet schließlich Rennert, denn der Komponist ist ja nicht anwesend, das Orchester dieses grandiose Musikstück alleine spielen zu lassen, während Czerwenka seinen Text frei dazu spricht. Die Oper wird ein großer Publikumserfolg und in den Kritiken werden immer wieder die Verdienste des Komponisten hervorgehoben, der in Jacobowskys Monolog so gekonnt die alte Form des Melodrams, eines Musikstückes mit gesprochenem Text, wiederbelebt habe. Oskar Czerwenka war nicht nur ein hervorragender Sänger und ein hochbegabter Zeichner, er konnte auch herrliche Geschichten erzählen. Eine sei hier eingefügt, obwohl sie nicht in Hamburg, sondern in Berlin spielt und auch nichts mit dem Theater zu tun hat. Czerwenka gastierte oft in der damaligen Städtischen Oper beim Bahnhof Zoo. Nach der Vorstellung geht er gerne auf ein kleines Bier in eine der unzähligen Kneipen in der Gegend. In einer Vitrine liegen noch zwei Bouletten (Frikadellen, Fleischlaiberl, Fleischpflanzerl), er lässt sich eine geben und sieht zu, wie die Bedienung die zweite Boulette an einen Hund verfüttert. Da erscheint der Chef und schreit die Bedienung an: „Wie oft ha’ ick dir jesagt, du sollst die ollen Buletten nich an den Hund verfüttern!“ Es ist Frühjahr 1967, im Büro von Rolf Liebermann. Er bittet mich, ihm doch von meinen Erfahrungen an der Wiener Staatsoper zu erzählen, vom „Hofstaat der Perücken“12. Es wird ein langes Gespräch, Liebermann hört genau zu und stellt präzise Fragen. Sonst nichts. Einige Zeit später sickert das Gerücht durch, Liebermann hätte ein Angebot von Wien erhalten – dann ist wieder Schweigen. Irgendwann, wieder in seinem Büro, frage ich direkt nach seinen Plänen mit Wien. Da zeigt er auf seinen Schreibtisch: „Hier ist eine Schublade voll mit anonymen Briefen, die übelsten antisemitischen Beschimpfungen und Drohungen. Die habe ich alle aus Österreich erhalten, als in den Zeitungen von meinen Verhandlungen mit der Wie12 Max Kaindl-Hönig in den „Salzburger Nachrichten“ vom 16.3.1963

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ner Staatsoper berichtet wurde. Damit ist dieses Thema für mich erledigt.“ In seinen eigenen Erinnerungen verschweigt Liebermann übrigens diese Erklärung und begründet seine Vertragsverlängerung in Hamburg mit dem verspäteten Eintreffen eines Angebots aus Wien. Im September 1967 laufen die Proben für Verdis „Otello“ mit dem Stargast Tito Gobbi als Jago. Liebermann möchte die Gelegenheit nutzen und Gobbi auch in seiner Glanzrolle als Scarpia in „Tosca“ präsentieren. Ich setze mich mit Gobbi zusammen, lege ihm ein paar Fotos von unserer Inszenierung vor und denke mir, eine kurze szenische Einweisung wird dem routinierten Sänger sicher genügen. Nicht so Gobbi, er möchte ausführliche szenische Proben haben, auch mit den Partnern und vor allem der Partnerin, um sich präzis in die bestehende Aufführung einordnen zu können. Die Proben finden statt, Gobbi übernimmt alle Details unserer Produktion, fügt sich ein, als er hätte er diese Partie noch nie gesungen. Die Vorstellung wird dann auch ein großer Triumph für ihn, er ist als Sänger und Darsteller einfach einmalig – einen besseren Scarpia kann ich mir bis heute nicht vorstellen. Zwei Tage später sucht er mich im ganzen Haus, sämtliche Tageszeitungen mit den Kritiken unter dem Arm: Ich möge ihm doch bitte alles möglichst wörtlich übersetzen. Wir suchen uns einen ruhigen Platz, ich mache mich an die Arbeit und Gobbi will es nun wirklich Wort für Wort ganz genau wissen, er macht sich sogar einige Notizen. Am Ende fragt er mich mit einem kleinen, ironischen Lächeln: „Sie wundern sich vielleicht über meine Neugier? Aber wissen Sie, ich bin jetzt nicht mehr so jung, da kommen schon langsam kleine stimmliche Probleme. Deshalb muss ich mich als Darsteller weiterentwickeln, um das zu überbrücken und dafür kann ich aus jeder Kritik noch etwas lernen.“ Gobbi ist damals 54 Jahre alt! Die Ehrfurcht vor dem Beruf, Ernst und Bescheidenheit eines großen Künstlers – er steht in meinen Erinnerungen an viele große Sänger sicher an allererster Stelle! Das ist nicht so selbstverständlich, denn im Ensemble der Hamburger Oper gibt es sehr viele hervorragende Künstlerinnen und Künstler. Ich werde gleich beim Beginn meiner Tätigkeit an der Hamburgischen Staatsoper mit etwa sechzig Namen konfrontiert. Nein, ich spreche hier nicht vom Chor, der wäre übrigens mit über 80 Mitgliedern deutlich größer gewesen, ich meine das Ensemble der Solisten, die festengagierten Sängerinnen und Sänger. Ich werde jetzt nicht anfangen, hier alle diese großen Namen aufzulisten – es würde ein Sänger-Lexikon daraus. Ich habe nie wieder in meinem Leben ein so vielseitiges, aufgeschlossenes und gleichzeitig qualitativ so hervorragendes Ensemble getroffen. Hier konnte wirklich jeder alles singen, von Monteverdi über Mozart und Wagner bis Kagel. Da waren auf der einen Seite die verdienten alten Mitglieder noch aus der Rennert-Zeit und daneben die oft sehr

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glücklichen Entdeckungen Liebermanns, junge vielversprechende Stimmen. Seine wohl erfolgreichste Entdeckung machte Liebermann bei einem Vorsingen in New York mit einem total indisponierten Tenor, der sich bald an die Weltspitze singen sollte: Placido Domingo. Er wurde sofort in Hamburg zum Publikumsliebling – sogar bei der sonst so strengen Feuerwehr. Als Cavaradossi in „Tosca“ konnte er kurz vor seinem Auftritt auf der Seitenbühne noch schnell ein paar Züge aus der geliebten Zigarette inhalieren, denn neben ihm stand immer ein Feuerwehrmann mit dem Sandeimer. Dort wurde die Zigarette dann entsorgt und: Auftritt! Diesen Service gab es sonst nirgendwo auf der Welt und hier auch nur für Domingo. Aber noch ein großer Star der Opernszene wurde von Liebermann entdeckt, in einer kleinen Rolle in einem Musical, auch in New York. Es war eine merkwürdige Frau, etwas seltsam, etwas vernachlässigt und mit einem Akzent aus dem tiefsten Brooklyn, ihren einzigen Sprachkenntnissen. Liebermann nannte sie immer „mein geliebtes Scheusal“, aber er wusste genau, was er da entdeckt hatte: Tatiana Troyanos. Zunächst kam sie nur für kleinere Rollen in Frage, aber Liebermann machte mächtig Druck. So habe ich zunächst mit ihr eine Carmen erarbeitet und dann, schon etwas mühsamer, die ersten Mozartpartien ihres Fachs, Cherubino und Dorabella. Was darauf folgte, das ist allgemein bekannt, es wurde eine sensationelle Karriere im Blitztempo über Aixen-Provence, Paris und die Salzburger Festspiele in die große Welt der Oper. Da Liebermanns Entdeckungen oft aus dem amerikanischen Raum kamen, waren die Sprachprobleme nicht unerheblich. Nicht so sehr die Verständigung untereinander, das hat immer gut geklappt, aber die Aussprache in italienischen und deutschen Opern, von Dialogen ganz zu schweigen! Wir hatten da einen hervorragenden dramatischen Tenor, Richard Cassilly, der kein Wort Deutsch konnte. Er war schon eine ganze Weile im Ensemble, da passierte es endlich: Als Otello (damals schon italienisch gesungen) stürzt er im letzten Bild auf offener Bühne in eine Versenkung, er ist nicht mehr zu sehen, aber sein erstes deutsches Wort ist ganz klar hörbar, auch für das Publikum: „Scheiße!“. Dann kriecht er trotz angebrochener Rippe herauf, um noch seinen Schlusssatz zu singen. Den Rest des Abends verbringt er auf der Unfallstation. Aber sein Deutsch wurde nun von Tag zu Tag immer besser. Bei einem so großen Repertoire und einem so großen Ensemble ist es nicht leicht, jeden Abend Spitzenqualität zu liefern. Liebermann hat es geschafft, dank seiner permanenten Anwesenheit und Kontrolle, das Premieren-Niveau unserer Aufführungen oft über viele Jahre zu erhalten. Ich kann mich nur an eine einzige, nun wirklich beschissene Vorstellung erinnern. Sie soll hier nicht unerwähnt bleiben. An sich war es sogar eine sehr hübsche und erfolgreiche Aufführung, Smetanas „Verkaufte Braut“ im sehr stimmungsvollen Bild von Leni Bauer-Ecsy, ein saftig-

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grüner Rasen auf einer Bühnenschräge, umgeben von weißen Häusern, das Ganze durch eine Drehbühne spielerisch verwandelbar. Der Auftritt des Zirkusdirektors erfolgte hoch zu Pferd, beide, Sänger wie Pferd waren bestens eingespielt und hatten diese Situation schon oft gemeistert. Eines Abends allerdings ging es dem bühnenerfahrenen Pferd wohl nicht so gut. Wir wussten nichts davon, aber wir sahen die Bescherung sofort, sie war nicht zu übersehen. Das arme Pferd hatte wohl schon längere Zeit an einer Verdauungsstörung gelitten, die sich dann mit den ersten Schritten auf der Bühne gewaltig Luft machte. Es war ein Ereignis, das alle Sinne einbezog, optisch, akustisch und auch olfaktorisch, sehr zur Freude des animierten Publikums, das begeistert applaudierte. Vielleicht war es ja der hohle Bühnenboden, jedenfalls war das Bühnenbild von diesem Moment an um einen gewaltigen Hügel reicher. Unglücklicherweise lag dieses Produkt der Verzweiflung einer gequälten Kreatur genau auf der Kante der Drehscheibe und da es im Verlauf der Aufführung noch sehr viele Veränderungen, sprich Drehungen geben musste, verteilte sich die Chose allmählich wie ein Ring um die ganze Bühne. Die Darsteller mussten jeweils mit einem kleinen Sprung auftreten, um die Bühnenmitte zu erreichen. Für die Abgänge galt natürlich das Gleiche! Da der Bühnenboden mit einem Rasenteppich bedeckt war, half auch die gründliche Reinigung nach der Vorstellung nicht viel: Ein dunkelbrauner Ring rief immer wieder die Erinnerung an diesen denkwürdigen Abend zurück. Dem Pferd übrigens ging es in der Folge ganz hervorragend. Auf der Opernbühne sind kleine Kinder und Tiere immer wieder gern gesehene Gäste. Sie sind beim Publikum beliebt, weil ihre Unberechenbarkeit oft für Überraschungen sorgt. Aber auch das Zusammentreffen von ganz normalen erwachsenen Gästen, Sängern und Dirigenten, kann manchmal zu Katastrophen führen. Wir sind in einer Repertoire-Vorstellung von Puccinis Oper „La Bohéme“, es dirigiert als Gast Nello Santi und auch die beiden männlichen Hauptrollen sind mit Gästen besetzt, Arturo Sergi singt erstmals in Hamburg Rodolfo, den Liebhaber Mimis, Raimund Wolansky von der Stuttgarter Oper ist Marcello, der Maler. Wir befinden uns im vierten Akt, kurz vor dem Ende der Oper, Mimi liegt im Sterben. Auf die Frage Musettas, was man denn im Hause habe, antwortet Marcello nicht wie von Puccini vorgesehen mit „Nulla“, sondern mit „Nello“. Darauf muss jetzt Musetta antworten: „O miseria!“. Von nun an wagt keine der sechs Personen auf der Bühne mehr einen Blick zum Dirigenten Nello Santi. Aber es kommt noch schlimmer, denn Rodolfo, von sehr großer und raumfüllender Statur und daher in seinen Bewegungen in der engen Mansarde behindert, bleibt nach seinem letzten Ton mit dem Fuß an einem Möbelstück hängen. Beim Schließen des Vorhangs liegt Rodolfo am Boden, über ihm ist die Malerstaffelei samt Gemälde zusammengebrochen, Mimi ist vor Schrecken wieder aufgewacht und

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an der Rampe stehen vier Personen mit dem Rücken zum Publikum, man sieht nur ihre Schultern zucken. An diesem Abend ist der Dirigent nicht zum Schluss-Applaus auf die Bühne gekommen. Maestro Nello Santi ist regelmäßiger und beliebter Gast an der Hamburgischen Staatsoper, Spezialist vor allem für die italienische Oper und hier besonders Puccini. Die nächste Geschichte über ihn ist allerdings eine Geschichte ohne ihn. Es ist noch etwa eine Stunde bis zum Beginn der Abendvorstellung „Tosca“, als mich der Orchesterwart anruft und fragt, ob ich denn Herrn Santi gesehen hätte, der doch sonst immer früh ins Theater käme, heute wäre das Dirigentenzimmer aber noch leer. Also sofort Alarm, eine Suche im ganzen Haus bringt kein Ergebnis. Nun wird es kritisch, denn auch in seinem Hotel ist nichts bekannt und für heute war auch nichts reserviert. Ein Anruf bei Santi in Zürich bringt dann die Erklärung: Er sitzt gerade daheim mit Familie beim Abendessen und hat den Vorstellungstermin in Hamburg einfach übersehen. Die Suche hat einige Zeit gedauert, inzwischen hat sich das Theater gefüllt und wir müssen einen Ersatz finden, möglichst schnell. Draußen läuft alles wie gewohnt, es wird eingeläutet, man nimmt Platz, der Saal wird verdunkelt und dann erzähle ich unserem Publikum die ganze Geschichte. Große Heiterkeit im Saal, aber wir haben natürlich eine Lösung bereit. Ein beliebter, bereits pensionierter Dirigent der Oper, Albert Bittner, saß auch daheim beim Abendessen mit seiner Familie, glücklicherweise in Hamburg. Er sucht gerade seinen Frack heraus, das Taxi ist bereits unterwegs. Wir bitten also um eine Viertelstunde Geduld und schicken das Publikum noch einmal hinaus. An diesem Abend werden wir auf den spektakulären Sprung, mit dem Nello Santi seine „Tosca“ immer eröffnet, verzichten müssen. Dafür erhält ein verdienter Dirigent des Hauses einen gewaltigen Begrüßungssturm, wie er ihn wohl noch nie erlebt hat. Es wird ein großer Opernabend. Dass es auch schon bei Proben zu unvorhergesehenen Situationen kommen kann, dafür sorgen dann meistens die Regisseure. Es war sicher ein Zufall: genau zweimal habe ich unseren Gastregisseuren in Hamburg bei Proben kurz zugesehen und jedes Mal wurde eine Geschichte daraus. Oscar Fritz Schuh inszeniert „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss, man ist am Beginn des zweiten Bildes im zweiten Akt. Wenn der Vorhang aufgeht, bleiben noch zwanzig Takte herrlicher Musik, um die Stimmung vor dem Falknerhaus und den Auftritt des Kaisers zu beschreiben. Ernst Kozub, verdientes Mitglied des Hauses und ein kräftiger, heldischer Typ, singt den Kaiser. Schuh hat ihm aufgetragen, er müsse jetzt auftreten „wie ein Playboy“. Mehrere Versuche des Sängers werden von Schuh immer wieder unterbrochen, mit schriller, hoher Stimme stellt er seine „Nein! Nein! Nein!“ in den Raum und provoziert allmählich eine sehr unangenehm spürbare Reaktion von passiver Renitenz bei den

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Anwesenden. Der Regisseur spürt das wohl auch, er springt auf und bewegt sich auf die Bühne. Ich muss hier kurz ergänzen: Schuh hatte von Jugend an ein schweres Hüftleiden, ging immer mit Stock. Nun stürzt er also auf den Sänger zu, schickt ihn in den Zuschauerraum und wird ihm zeigen, wie ein Playboy aufzutreten hat, natürlich ohne Stock. Die Musik beginnt, Schuh tritt auf und quält sich stark hinkend bis zur Bühnenmitte, verkündet dort triumphierend: „So, jetzt wisst ihr, wie ein Playboy geht!“ Es ist totenstill, wir alle halten die Luft an und erst nach einer längeren Pause geht die Probe weiter. Aber so war Schuh, ein Schwieriger, der sich auch nicht scheute, seine Behinderung als Waffe einzusetzen. Den wahren Menschen Oscar Fritz Schuh und auch den großen Theatermann habe ich dann erst sehr viel später kennengelernt, in Salzburg. Ich spreche hier nicht von seinen Inszenierungen für die Festspiele, die habe ich nicht mehr erlebt. Aber er hat sich hier noch mit ganz anderen Theaterformen beschäftigt und so konnte ich beim „Fest in Hellbrunn“ einige Inszenierungen machen und habe dann auch sein „Straßentheater“ eine Weile betreut. In vielen Stunden bei Oscar Fritz Schuh in seinem Haus in Großgmain, unterhalb der Burgruine, da wurde mir klar, dass hinter der Maske, die er selbst einmal so formuliert hat:

„Schwer wird man es immer mit mir haben, denn schwierig werde ich wohl immer bleiben.“13 dass hinter dieser Maske nicht nur die Erfahrungen eines großen Theatermannes bewahrt wurden, sondern auch wichtige Ideen für die Zukunft des Theaters. Schade, dass man ihn so schnell vergessen hat, besonders hier in dieser Stadt, über die sich Schuh in seiner „Salzburger Dramaturgie“ so viele kreative Gedanken gemacht hat. Eine wesentlich lustigere Begegnung gab es dann mit Peter Ustinov. Es ist Herbst 1968. Die seit Jahrhunderten beliebteste Oper aller Zeiten, Mozarts „Zauberflöte“, steht in der nun auch schon jahrelang sehr erfolgreichen Inszenierung von Günther Rennert ein letztes Mal auf dem Spielplan. Als Weihnachtspremiere soll es eine Neuinszenierung geben mit Georg Solti als Dirigent und Peter Ustinov als Regisseur. Das Problem dabei: Ustinov ist derzeit unauffindbar. Liebermann lässt ihn in der ganzen Welt suchen, von Skandinavien bis Hollywood, alles vergeblich. Dabei ist es höchste Zeit für Besetzungsfragen und für die Probendisposition. Plötzlich flattert dann doch ein Telegramm ins Haus: „Just bought a score. Peter.“ Große Erleichterung im Haus. Immerhin, er hatte also schon einen Klavierauszug und 13 Zitiert von Rolf Michaelis in der „Zeit“ vom 26. Oktober 19841.

116 2. Begegnungen in der Welt der Oper dann kam er auch wirklich selbst. Damit begannen die unterhaltsamsten Wochen, die die Hamburgische Staatsoper wohl je erlebt hat. Ich war nur bei der ersten Probe dabei, aber das allein wurde ein unvergesslicher Vormittag. Es beginnt mit beträchtlicher Verspätung, nicht nur, weil Ustinov sich mit seinem Erscheinen Zeit lässt, sondern auch, weil der erste Kontakt mit den Sängern bei Ustinov eine Fülle von Opernparodien aus seinem unerschöpflichen Repertoire auslöst. Wir bekommen eine Exklusivvorführung der besten Nummern des Allroundgenies. Dann geht es endlich an die Arbeit. Die Nummer 1 der „Zauberflöte“ beginnt mit dem Auftritt des Prinzen Tamino, der auf der Flucht vor der Schlange in Ohnmacht fällt. Das passiert ohne Anweisung Ustinovs, der Sänger des Tamino macht das, was er bisher in allen Vorstellungen auch gemacht hat. Nun greift der Regisseur aber ein. Wir werden zunächst darüber belehrt, dass es sich bei Tamino um einen deutschen Prinzen aus dem „Fürstentum Reuß-Schleiz-Greiz jüngere Linie“ handelt (er spricht es in seinem englisch verfremdeten Deutsch aus wie Rois-Schlois-Grois, allerdings sehr nasal und vornehm). Für Sir Peter Alexander Baron von Ustinov war die soeben gezeigte Ohnmacht natürlich viel zu bürgerlich und banal und er spielt uns nun eine Serie von für diese Situation möglichen und unmöglichen Ohnmachten vor, was zu einer längeren Unterbrechung der gerade erst begonnenen Probe führt. Erschöpft vom Lachen bleibt der Tenor am Boden liegen, die Stimmung ist ausgezeichnet und nun treten die drei Damen auf. Hier folgt bekanntlich ein längeres Terzett mit sehr viel Musik. Der Regisseur lässt nicht unterbrechen, die Sängerinnen machen also einfach immer weiter und führen das Arrangement der letzten Inszenierung vor. Ich habe den Eindruck, als würde Ustinov im Verlauf dieser Szene irgendwie schrumpfen, er sieht jedenfalls viel kleiner aus als vorher. Auch seine Frage am Ende des Terzetts klingt eher bescheiden: „Das war ja schon ganz schön, wie ihr das gespielt habt. Aber ist dieses Terzett immer so lang? Ich habe das viel kürzer in Erinnerung. Na ja, vielleicht war das auf meiner Schallplatte auch nur ein Querschnitt!“ Man wusste bei Peter Ustinov nie, ob er etwas wirklich so meinte, oder ob es nur die nächste Pointe war, die er gerade erfunden hatte. Für eine gute Pointe war er bereit, alles zu riskieren. Ich habe den weiteren Probenverlauf dann nicht mehr verfolgen können, da ich zur gleichen Zeit in Bremen meinen ersten „Rosenkavalier“ inszeniert habe. Aber eine kleine Randbemerkung zu dieser „Zauberflöte“ kann ich noch liefern. Ustinov hatte für eine Szene, in der der böse Monostatos mit der gefangenen Pamina allein sein will und deshalb seine Wachen fortschickt, zwölf Statisten im Hintergrund der Bühne postiert, in gewaltigen Lederkostümen und Ledermasken, die sich dann auf Befehl nur umdrehten. Ustinovs optischer Gag: Die Rückseite der Kostüme war identisch mit der Vorderseite, die Wachen hatten sich zwar umgedreht, aber sie blickten immer noch

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nach vorne. Bei der Hauptprobe kam das wohl nicht so gut an, es wurde gestrichen, die fertigen Kostüme nie mehr benutzt. Diese zwölf Kostüme und die Masken hatten genau so viel gekostet, wie mein Ausstattungsbudget für den gesamten „Rosenkavalier“ in Bremen: DM 30.000! Viel Geld für einen Gag, aber auch das ist eine echte Peter-Ustinov-Geschichte. Ein Theater besteht aber nicht nur aus Künstlern und da sind es dann manchmal die Verwaltungsdirektoren, an denen man sich die Zähne ausbeißen kann.

11. Februar 1968 Das Ergebnis eines längeren Gespräches zwischen Verwaltungsdirektor Paris, Liebermann und mir verlief nicht ganz nach meinem Wunsch – ich habe jetzt DM 1.600.-- und ich wollte DM 2.000.--, bekommen habe ich DM 1.800.--. Liebermann wäre wohl auch noch weiter gegangen, aber ich bin in eigener Sache immer ein schlechter Verhandler. Man hat mir dann einen Dreijahresvertrag angeboten mit der von mir gewünschten Endgage im dritten Jahr. Das habe ich aber abgelehnt, denn wenn ich nichts Besseres finde, kann ich so einen Vertrag auch jedes Jahr neu aushandeln und ich bin dann nicht auf so lange Zeit gebunden. Ich habe meinen Ärger ziemlich deutlich gezeigt, denn zwei Tage später kam Paris mit dem Angebot einer Gastinszenierung in Kopenhagen zu mir („Liebesprobe“), „als kleiner Trost“, wie er sagte. Leider hat sich das inzwischen schon wieder zerschlagen bzw. es wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Im Frühjahr 1968 gastiert die Staatsoper in Rom mit „Frau ohne Schatten“ und „The Rake’s Progress“. Neun Tage im April in Rom, da habe ich mir von der Verwaltung den Flug auszahlen lassen und bin dann lieber mit meiner Frau mit dem Auto nach Rom gefahren. Das hat allerdings zu ziemlichen Turbulenzen geführt, vor allem mit dem Verwaltungsdirektor, präziser: dem Staatsoperndirektor Herbert Paris.

30. Mai 1968 Herbert Paris an Robert H. Pflanzl Nachdem wir in Rom eine Aussprache wegen verschiedener disziplinwidriger Verstöße gegen den Normalvertrag hatten, von der ich annehme, dass ich diese in einer sehr loyalen, fast väterlichen Form mit Ihnen führte, bin ich außerordentlich enttäuscht, dass Sie erst gestern gegen 19 Uhr erstmalig nach dem Rom-Gastspiel im Theater waren, d. h., dass Sie für Ihre Rückfahrt, von der ich Sie spätestens am 28. Mai abends in Hamburg erwartet habe, 4 Tage benö-

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2. Begegnungen in der Welt der Oper

tigten, ohne einen Urlaub beantragt noch erhalten zu haben. Dass Sie außerdem das Theater nach einer Stunde wieder verließen, statt sofort Ihren Dienst anzutreten, ist mir unverständlich. Ich kann Ihnen meine tiefe Enttäuschung über dieses Verhalten nicht verbergen und behalte mir disziplinarische Schritte vor. Dazu ist es glücklicherweise nicht mehr gekommen, da ich am nächsten Tag in einer Vorstellung für einen plötzlich erkrankten Schauspieler einspringen konnte:

5. Juni 1968 Herbert Paris an Robert H. Pflanzl Wir danken Ihnen sehr, dass Sie zur Rettung der Vorstellung am 1. Juni beigetragen und sich so selbstlos zur Verfügung gestellt haben. Mit freundlichen Grüßen … Was ist mir sonst von diesem Rom-Gastspiel in Erinnerung geblieben? Neben der Arbeit eine herrliche Zeit, denn mit dem Auto war man natürlich in der Freizeit unabhängig. Ob unsere Vorstellungen beim römischen Publikum so begeistert akzeptiert wurden, da bin ich mir nicht so sicher. Aber mit Staunen habe ich registriert, dass das Publikum im Foyer (vor allem auch bei den hauseigenen Vorstellungen) minutengenau informiert wird über die Länge der Pausen, die Beginnzeiten der einzelnen Akte und vor allem über den Beginn der Finali mit Ballett. Zur Orientierung der Besucher gibt es zusätzlich eine riesengroße Normaluhr im Zuschauerraum über der Bühnenöffnung. Damit hing es wohl zusammen, dass bei den Vorstellungen ein ständiges Kommen und Gehen war, der Zuschauerraum zeitweise halbleer war, sich dann aber wieder füllte. Die Antwort fand ich später bei den zahlreichen Restaurants rund um das Theater. Auch dort waren die Zeiten, in denen man das Theater ungeniert verlassen konnte, auf die reservierten Tische übertragen worden. Die Höhepunkte einer Oper wurden sozusagen in den Pausen des Abend-Menus konsumiert! Bei allem Verständnis für die kulinarischen Seiten des Lebens: da waren mir die eher werkorientierten Opernfreunde in Hamburg doch wesentlich sympathischer. Ja, und dann ist es wieder einmal so weit. Ich sitze Liebermann in seinem Büro gegenüber, er ist sehr schweigsam, wohl auch ein wenig enttäuscht von mir, denn ich habe ihm gerade mitgeteilt, meinen Vertrag mit Hamburg nicht verlängern zu wollen. Ich hatte dort wohl die interessantesten Arbeitsbedingungen, die man sich nur vorstellen kann, aber ich wollte nun endlich auch selbst Verantwortung übernehmen für ein Sängerensemble, für Engagements, für einen Spielplan und es schien mir, ich wäre jetzt alt genug dafür. Ähnliches denkt wohl auch Liebermann,

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denn er fragt mich nach meinem Alter und meinte dann: „Wissen Sie, was ich mit 34 Jahren war? Bridgelehrer in Ascona! Ich glaube, Sie könnten sich ruhig noch ein bisschen Zeit lassen und bei mir bleiben.“ Aber es hat ihm nichts genützt, ich hatte meine eigenen Pläne und habe dann 1969 Hamburg verlassen. Wir sind uns noch einmal begegnet, als er 1983 für fünf Jahre die Leitung der Internationalen Sommerakademie am Mozarteum in Salzburg übernahm. Es war eine ähnliche Situation wie damals mit Wien, ich konnte ihn ein wenig in die salzburgischen Vernetzungen einweihen, denn er wollte „Leben in die Bude bringen“14. Der Sommerakademie hat das neuen Schwung verliehen, mehr war wohl nicht drin, obwohl Liebermann auch andere Perspektiven im Auge hatte. Seine interessanten Ideen über Ausbildung an Hochschulen, Führung von Theatern und Gestaltung von Festspielen hätten es verdient gehabt, auch in Salzburg einmal in der Praxis erprobt zu werden.

1965 Norddeutscher Rundfunk Hamburg Neben seiner Funktion als Intendant der Hamburgischen Staatsoper war Liebermann auch sehr gut vernetzt mit dem Norddeutschen Rundfunk, speziell mit dem Fernsehen. Er hatte dort einen guten Freund aus der Schweiz, den Musiker und Musikschriftsteller Hansjörg Pauli, als Leiter der Abteilung Musik untergebracht und plante selbst als Produzent eine Reihe von Musikfilmen. Schon von Stuttgart aus hatte ich Kontakt zum Fernsehen des NDR aufgenommen und so wurden mir bei meiner Ankunft in Hamburg sofort mehrere Regie-Arbeiten angeboten. Es war für Liebermann, der meine Fernseh-Vergangenheit nicht kannte, eine ziemliche Überraschung, als er erfuhr, dass sein neuer Spielleiter in der Oper auch der Regisseur seiner nächsten Fernseh-Produktionen sein werde. Diese Kombination war dann manchmal ein wenig stressig, aber sie hat gut funktioniert. Das Angebot des NDR, die Seiten zu wechseln und fest als Regisseur und Redakteur nur noch für das Fernsehen zu arbeiten, habe ich nicht angenommen, trotz der finanziellen Verlockungen. Denn dieses ständige Wechseln zwischen den doch sehr unterschiedlichen Welten war spannend und anregend und es hat mir eine ganze Reihe hochinteressanter neuer Begegnungen gebracht. Am 24. Juni 1965 erwartet das Hamburger Konzertpublikum ein Ereignis: das Cleveland Orchestra unter George Szell in der Hamburger Musikhalle. Im Mittel14 Zitiert von Werner Thuswaldner in den „Salzburger Nachrichten“ vom 28. Januar 1983

120 2. Begegnungen in der Welt der Oper punkt des Programms steht die grandiose Fünfte Sinfonie von Prokofjew, im sogenannten „Vorprogramm“ das Klavierkonzert KV 503 von Mozart. Der NDR überträgt das Konzert und so habe ich mit den Kameraleuten einige Tage im Studio Trockentraining betrieben, vor allem die Kamera-Einstellungen für den Prokofjew. Aber auch das Klavierkonzert war Teil unserer Vorbereitungen, denn ich hatte den Ehrgeiz, eine musikalische Analyse in Bilder umzusetzen und nicht nur die jeweils spielenden Musiker. Es ist ziemlich aufwändig, wenn man im Fernsehen die Strukturen einer Komposition optisch hervorheben möchte und das ist damals noch wesentlich komplizierter als heute. Die technische Entwicklung für eine magnetische Bildaufzeichnung hat erst begonnen, die Kameras haben meistens nur drei Wechselobjektive, ein Transfokator („Gummilinse“ oder Zoomobjektiv) ist noch eine kostspielige Seltenheit. So müssen die Objektivwechsel während der Aufzeichnung von der Bildregie angesagt werden und da das Orchester erst am Vorabend in Hamburg ankommt, haben wir eben vorprobiert. Am Vormittag des Konzertes ist eine Verständigungsprobe vereinbart und Szell spielt also einmal den Prokofjew durch, möchte dann Schluss machen. Er reagiert eher ungehalten auf meinen Wunsch, das Klavierkonzert von Mozart doch wenigstens anzuspielen, gibt dann aber doch nach. Ich traue meinen Ohren nicht nach den ersten Takten und unterbreche sofort. Unsere Unterhaltung über Mikro und Lautsprecher wird immer unfreundlicher. Auf Szells Frage, was ich denn jetzt schon wieder wolle, frage ich ihn nach dem Köchel-Verzeichnis des soeben angespielten Konzertes und da stellt sich heraus, Szell hat das Programm geändert und spielt statt KV 503 eben jetzt KV 491. Für ihn war das nicht der Rede wert, für mich eine Katastrophe. Das ist dann auch schon das Ende der Probe, aber mir bleiben ja noch ein paar Stunden bis zum Konzert. So kann ich mir eine Partitur besorgen und dann auf einer Parkbank im Grünen ein neues Drehbuch für meine vier Kameraleute entwickeln. Es wird ein hektischer Juni-Nachmittag, aber am Abend klappt es gerade noch – ohne die geplante Analyse. Eines war mir jedoch klar: Eine Oper möchte ich mit diesem Dirigenten nicht machen. Diese Konstellation hat es glücklicherweise auch nie gegeben. Im August 1965. Zum ersten Mal seit elf Jahren gastiert das „New York City Ballet“ wieder bei den Salzburger Festspielen. Auf dem Programm stehen acht Choreographien von George Balanchine, davon drei nach Kompositionen von Igor Strawinsky. Das bringt Rolf Liebermann auf eine seiner genialen Ideen: „Herr Pflanzl, ich habe soeben Balanchine dazu überredet, auf der Rückreise von Salzburg nach New York mit seinen Solisten ein paar Tage in Hamburg zu bleiben und außerdem habe

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ich Igor Strawinsky eingeladen, er kommt zur gleichen Zeit aus Hollywood nach Hamburg. Machen Sie mir daraus bitte einen schönen Fernsehfilm, es wird Ihnen schon was einfallen.“ Nun gut, ich mache mich also an die Arbeit und mein Vorschlag heißt dann: „Ballett mit Balanchine“: zunächst ein Training der Solisten mit ihrem Ballettdirektor, anschließend Strawinskys „Apollon Musagète“ in der Choreographie von Balanchine, gedreht wird im Studio Hamburg. Das Sinfonie-Orchester des NDR wird vorher eine neue Aufnahme unter der Leitung des Komponisten einspielen. Das einzige kleine Problem dabei ist eine Terminfrage: wenn Balanchine in Hamburg eintrifft, wird Strawinsky schon wieder abgereist sein, die Beiden sehen sich also erst in Amerika wieder. Glücklicherweise! Strawinsky kommt also und dirigiert noch einmal den „Apollon“ im Großen Sendesaal des NDR, wir machen neben den Tonaufnahmen natürlich auch Filmaufnahmen des dirigierenden Komponisten. Ein Woche später treffe ich Balanchine im Studio Hamburg. Wir haben ihm einen richtigen Ballettsaal gebaut für das Training und daneben die Dekoration für „Apollon Musagéte“. Es läuft alles bestens, bis wir zum ersten Mal die neue Aufnahme von Strawinsky einspielen. Balanchine, an sich ein sehr zuvorkommender, höflicher Herr, dreht buchstäblich durch. Strawinsky hatte so breite Tempi genommen, dass die Solistinnen auf den langen Noten buchstäblich verhungern und Balanchine gezwungen ist, grundsätzliche Änderungen in seiner Choreographie vorzunehmen. Noch heute habe ich es in den Ohren, wie Balanchine auf seinen alten Freund Igor schimpft. Das Zusammentreffen der beiden Herren in Amerika wird wohl recht lebhaft gewesen sein. Der Choreograph Balanchine ist auch ein erfolgreicher Opernregisseur. Da in der Staatsoper noch seine Inszenierung von Tschaikowskijs „Eugen Onegin“ läuft, nutzt er den Aufenthalt in Hamburg für einige Korrektur-Proben mit dem Chor, der im großen Ballsaal beim Fürsten Gremin anspruchsvolle choreographische Aufgaben zu bewältigen hat. In der entspannten Probenatmosphäre im Theater fühlt sich der Meister offensichtlich sehr wohl und wir kommen immer mehr ins Plaudern, vor allem über seine große Liebe, die russische Literatur. Am Ende erhalte ich sogar noch eine Privatvorlesung über die reiche Märchenwelt in Russland – unvergessliche Lektionen. Aber auch der erfahrene Regisseur hat noch einen guten Rat für mich. Ich bereite gerade eine Inszenierung von „Samson und Dalila“ vor, eine Oper von Saint-Saëns, die mit dem Einsturz des Tempels von Gaza endet. Balanchine hat das Stück schon an der Scala in Mailand inszeniert und er warnt mich: „Wir hatten damals ein Bühnenbild aus Styropor, da sind dann die Trümmer zum Teil in den Orchestergraben gehüpft – das war ein Lacherfolg!“. Ich werde seinem Rat folgen und aus dem Tempel ein Zelt machen, das am Ende wirkungsvoll zusammenbricht.

122 2. Begegnungen in der Welt der Oper Einen Monat später kommt dann Strawinsky noch einmal nach Hamburg. Es wird sein letzter Besuch in Europa sein. Wir drehen mit ihm zwei neue Werke (Introitus und Variations), die er allerdings von seinem Assistenten Robert Craft dirigieren lässt. Er will aber unbedingt mit seiner Partitur neben dem Dirigentenpult sitzen, auch während der Filmaufnahmen. Natürlich akzeptieren wir das, auch wenn er uns dann bei den Aufnahmen ein paar Mal einschläft. Immerhin, der große Meister ist zu diesem Zeitpunkt schon 83 Jahre alt, außerdem ist es ziemlich heiß im Licht der Scheinwerfer. Aber es gibt noch einen weiteren Grund für diese große Müdigkeit, den erfahre ich allerdings erst am letzten Drehtag. Die Künstler sind schon alle weg, meine Kameraleute sind noch am Einpacken, da kommt aus der Kantine des Funkhauses der verzweifelte Orchesterdiener zu mir mit einer Rechnung, die Herr Strawinsky zu bezahlen vergessen hatte: 1. Drehtag - mehrere Kännchen Tee, mehrere Toasts, Mittagessen, ein Steinhäger 2. Drehtag - 1 Kännchen Tee, Toast, Mittagessen, drei Steinhäger 3. Drehtag - Toast, Mittagessen, eine Flasche Steinhäger. Strawinsky hatte offensichtlich bei seinem Deutschlandaufenthalt den guten alten Steinhäger wiederentdeckt und da ihn bei den Dreharbeiten auch ein guter alter Freund, der Komponist Nicholas Nabokov, besuchte, gemeinsam entsprechend konsumiert. Ich habe die Rechnung damals mit Freuden bezahlt – wann hat man schon die Gelegenheit, einen Igor Strawinsky einzuladen. Ein anderes Großprojekt Liebermanns war ein Film über Igor Strawinsky, den der Kameramann Richard Leacock in Amerika drehen sollte. Mit diesem Namen verbindet sich der Begriff des „Direct Cinema“, einer Aufnahmetechnik mit der Handkamera, die unsere Kameramänner vom Fernsehen als „mit eingeschalteter Kamera durch alle Räume des Hauses gehen“ zwar ironisch, aber nicht ganz falsch beschrieben. Der Film ist fertig und muss nun pro forma vom Abteilungsleiter Hansjörg Pauli, dem alten Freund Liebermanns abgenommen werden. Nach der Vorführung im Studio Hamburg in Anwesenheit Liebermanns lehnt Pauli zur großen Überraschung von Liebermann die Abnahme wegen technischer Mängel ab: es sind die unscharfen und häufig verwackelten Bilder, die allerdings zum künstlerischen Credo Leacocks gehören. Zwei Tage später wird Hansjörg Pauli vom NDR fristlos entlassen, noch im gleichen Monat verlässt er mit seiner Familie Hamburg. Der Film „A Stravinsky Portrait“ wird natürlich gesendet – ohne Korrekturen. Bei Liebermann wurden Majestätsbeleidigungen umgehend geahndet, auch im Fernsehen.

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Boris Blachers „Reportage für Elektronik, Instrumente und Sänger“, die Oper „Zwischenfälle bei einer Notlandung“, ein Auftragswerk Liebermanns, wird im Februar 1966 an der Staatsoper uraufgeführt. Es ist ein kompliziertes Werk mit ungeheuer viel technischem Aufwand, sowohl auf der Bühne wie im Orchestergraben, dazu ein hochgestochenes Libretto „für ein mündiges Publikum“15, das dann leider auf wenig Publikumsverständnis trifft. Aber Liebermann möchte einen einstündigen Film über die Aufführung haben und so drehen wir mehrere Tage auf der Bühne, mit voller Besetzung, Ensemble und Orchester samt Elektronik eine fernsehgerechte Kurzfassung der Oper. Als ich einige Wochen später Boris Blacher den Film im Studio vorführen kann, meint er: „Jetzt ist es doch noch eine richtig gute Oper geworden!“. Das war nun wirklich ein großes Kompliment aus dem Munde eines Komponisten, denn die Problematik „Oper im Fernsehen“, die war mir schon damals bewusst:

Ich möchte an die Versuche erinnern, die der Regisseur Robert H. Pflanzl mit Reimanns „Traumspiel“ und Blachers „Notlandung“ unternommen hat. Pflanzl hat damals je einige charakteristische Szenen ausgewählt, sie gefilmt; was er streichen musste, hat er mit Standfoto-Montagen belegt und dazu von einem Sprecher den Fortgang der Handlung schildern lassen. So schuf er einen neuen dramaturgischen Zusammenhang: Die erzählte Story fungierte nun als Grundlage, als tragendes Element; die gesungenen Partien fügten sich ein als voneinander isolierte Beispiele – entschärft auch die affektiv exponierten, weil aufgehoben in einem fast schon didaktischen Kontext. Das hier an zeitgenössischen Opern Erprobte sollte, so denke ich, ohne Mühe aufs Repertoire sich übertragen lassen. Ein Fernseh-„Figaro“ von 60 Minuten – welche Wohltat …16 Man kann Opern aber auch aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Wir befinden uns im Jahr 1966, Liebermann hat von einem Institut erfahren, das an Filmaufnahmen mit einer Röntgenkamera experimentiert. Er ist fasziniert von der Idee, seine Ensemblemitglieder einmal nicht kostümiert, sondern „durchsichtig“ zu präsentieren, sozusagen in einer Verbindung aus Wissenschaft und Unterhaltung: Mir musste also wieder was einfallen. So entsteht der Film „Sänger – durchleuchtet“ mit den führenden Fachvertretern der Hamburgischen Staatsoper vom Sarastro bis zur Königin der Nacht, Kehlköpfe und Lungenflügel von vorn und seitlich beobachtet bei der Produktion von edlen Tönen. Die technische Seite war dann nicht ein-

15 Der Librettist Heinz von Cramer auf einer Pressekonferenz 16 Hansjörg Pauli in „MELOS“, Juli 1968

124 2. Begegnungen in der Welt der Oper mal so schwierig zu bewältigen, viel mühsamer war es, die Sängerinnen und Sänger von der Gefahrlosigkeit des Unternehmens zu überzeugen. Da wir auch Schuberts „Hirt auf dem Felsen“ im Programm hatten und ein wenig Unterhaltung schon sein sollte, lieferte uns der Klarinettist mit seinem Instrument in den Zwischenspielen die entsprechend bizarren Röntgenbilder. Es sind nicht nur faszinierende neue Aufgaben, die mir das Fernsehen beschert, es kommt bei dieser Arbeit auch zu Begegnungen mit guten alten Bekannten zum Beispiel mit zwei Dirigenten aus der Stuttgarter Zeit. Gerd Albrecht ist inzwischen in Lübeck Generalmusikdirektor und hat dort mit großem Erfolg begonnen, Gesprächskonzerte à la Leonard Bernstein zum besseren Verständnis für die Musik des 20. Jahrhunderts zu veranstalten. Das Fernsehen des NDR interessiert sich sehr schnell dafür. Unser erstes gemeinsames Konzert im Kolosseum in Lübeck (Webern op. 6 und Kelemen „Les Mots“) hätte fast zur Katastrophe geführt, denn die im Dachgebälk des alten Gebäudes aufgehängten Scheinwerfer für das Fernsehen verursachen in der Nacht zwischen Probe und Aufzeichnung einen Glimmbrand, der gerade noch rechtzeitig gelöscht werden kann. Allerdings ist der ganze Saal nur wenige Stunden vor dem öffentlichen Konzert durch die Feuerwehr noch „tief verschneit“, die Reinigungsarbeiten dauern bis zum Publikumseinlass. Wesentlich friedlicher, wenn auch nicht ganz konfliktfrei, verläuft dann ein Jahr später das nächste Gesprächskonzert in Kassel, wo Gerd Albrecht inzwischen wieder als GMD gelandet ist. Das Opernhaus ist voll, die Stimmung hervorragend und der Dirigent erklärt und demonstriert brillant die Musik von zeitgenössischen tschechischen Komponisten (Cikker „Schütz-Variationen“, Havelka „Schaum“). Das Publikum darf natürlich Fragen stellen, die von Albrecht auch geduldig beantwortet werden. So entwickelt sich folgender Dialog zwischen Albrecht und einem Zuhörer: Zuhörer

Sie machen das wirklich ganz ausgezeichnet, Herr Albrecht.



Aber es tut mir sehr leid, ich verstehe diese moderne Musik einfach nicht.

Albrecht Zuhörer

Das ist aber schade. Gibt es denn auch eine Musik, die Sie verstehen? Ja, natürlich. (muss kurz nachdenken) Mozart! Das ist Musik, die ich verstehe.

Albrecht

Aha, sehr schön. Was denn von Mozart?

Zuhörer

Na ja, zum Beispiel die Jupiter-Sinfonie.

Albrecht

Wunderbar. Würde es Ihnen was ausmachen, wenn Sie uns jetzt mit ein paar Worten die Jupiter-Sinfonie erklären?

1967 Theater am Goetheplatz Bremen

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Es gibt natürlich ein Riesengelächter im Saal und einen etwas beleidigten Herrn. Zugegeben, das war nicht ganz fair von Gerd Albrecht. Aber irgendwie ist diese Szene doch sehr typisch für das Verhältnis zwischen den Konzertbesuchern und den Komponisten unserer Zeit. Vielleicht war das ja schon immer so? Jedenfalls hat sich Gerd Albrecht unverdrossen für mehr Verständnis in dieser Beziehung eingesetzt und damit große Verdienste erworben. Ich bin schon nicht mehr in Hamburg, da gibt es zum Abschluss meiner Arbeiten für das Fernsehen des NDR noch eine besonders schöne Begegnung: mit dem GMD, dem ich damals in Stuttgart die Beleuchtung für seine „Götterdämmerung“ vermasselt habe, mit Ferdinand Leitner. Er dirigiert das NDR-Sinfonieorchester in einem Konzert mit Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr.2 und „Agon“ von Igor Strawinsky, ich mache einen Film über die Probenarbeit, Interpretation und Aufführung. Da der viel beschäftigte Dirigent nach dem Konzert gleich wieder abreisen muss, hat er seinen Film leider nie gesehen und schreibt mir daher diese Zeilen, mit denen ich das Kapitel „Fernsehen“ abschließen möchte.

17. Juli 1970 Ich freue mich, dass alles wohl gelungen zu sein scheint und wollte Ihnen sagen, dass ich unsere Zusammenarbeit wieder höchst erfreulich fand. Schön, dass Sie an der „Leonore“ noch etwas ändern konnten. Strawinsky war sicher sehr viel schwieriger. Bedauerlicherweise musste ich zweimal über „Agon“ sprechen, glaube aber, dass die erste Fassung von mir besser war. Ich bin natürlich traurig, dass ich nie meine eigenen Sachen sehe. So lege ich unser gemeinsames Werk vertrauensvoll in Ihre Hände. Ferdinand Leitner

1967 Theater am Goetheplatz Bremen „Hätten Sie Lust, in Bremen Rossinis „Barbier von Sevilla“ zu inszenieren?“ Die Anfrage kommt nicht ganz überraschend, denn ich kenne den Intendanten Kurt Hübner noch aus der Zeit, als er Chefdramaturg in Stuttgart war. Er ging damals nach Ulm als Intendant, wir hatten eine Gastinszenierung geplant, die leider nie zustande kam, und als Intendant in Kassel wollte er mich dann 1965 als 1. Spielleiter haben. Das scheiterte leider am Widerstand Liebermanns, denn ich hatte in Hamburg einen Dreijahresvertrag. Diesmal sollte es aber klappen, denn es geht ja nur um eine Gast­

126 2. Begegnungen in der Welt der Oper inszenierung und da Liebermann einverstanden ist, fahre ich sofort nach Bremen. Es wird für mich die Fahrt in eine andere Theaterwelt, Schock und Offenbarung zur gleichen Zeit. Ich will versuchen, es zu erklären. Die Hamburgische Staatsoper war unter Rolf Liebermann ja so etwas wie der Nabel der Opernwelt, wir brachten pro Spielzeit zwei Uraufführungen heraus von den jeweils berühmtesten Komponisten, im Ensemble standen die besten Sänger bereit, trainiert auf zeitgenössische Musik – und Geld spielte keine Rolle. Man konnte sich also etwas darauf einbilden, zum progressivsten Musiktheater Deutschlands zu gehören, sozusagen zur Avantgarde. Und nun Bremen. Im Vergleich zu Hamburg war alles nur halb so groß, Ensemble, Bühne und Budget. Aber was für ein Gegensatz! Hier wurde Theater gespielt, wie ich es bisher noch nicht erlebt hatte. Die Namen Peter Stein, Wilfried Minks, Peter Zadek und Karl-Ernst Herrmann kannte ich natürlich, aber hier war ich nun plötzlich mittendrin. Es waren diese Theatermacher, die in den kommenden Jahrzehnten die Bühnen im deutschen Sprachraum beherrschen sollten. Das Eintauchen in diese Welt, in der alles offen und alles möglich war, in der weder Konventionen noch Traditionen zählten und wo am Abend in der Kantine der GMD im Frack neben dem Statisten in ausgebeulten Jeans am Flipper stand, das war für mich wie ein unbegreifliches Wunder. Ich habe mich also auf meinen „Barbier“ ordentlich vorbereitet. Es ist mir bewusst, ich muss mich von dem so erfolgreichen Rennert -Modell so weit wie möglich entfernen und so verbringe ich viele Stunden in der Universitätsbibliothek in Hamburg und komme mit einer Konzeption nach Bremen die lautet: Die Figuren und die Handlung sind reine commedia, das Ambiente ist nach der Vorstellung der Autoren aber Spanien. Mein Bühnenbildner ist Karl-Ernst Herrmann, es ist seine erste Oper und er hört sich meine Vorschläge zu unserer gemeinsamen Arbeit geduldig an. Was er aber dann daraus entwickelt, übertrifft meine Vorstellungen um ein Vielfaches, es ist total anders und doch genau so, wie ich es mir irgendwie vorgestellt hatte. Er setzt Bartolos Haus auf ein graues Bretterpodest, umgeben von spanischen Fassaden in Spielzeuggröße. Figaro kann mit einer Kurbel das ganze Haus zum Drehen bringen und lässt es so bei Gewitter und Sturm hilflos auf der Bühne rotieren. Ergänzt durch erlesene Kostüme von Herrmann á la Goya ergibt das eine, wie ich auch heute noch glaube, ideale Synthese aus commedia, Beaumarchais und Rossini. Die Bühnenbauer in Bremen, das war eine eigene, eine wirklich sensationelle Welt und Hübner hatte da immer das richtige Händchen für die Kombination Regie – Bild. So wollte er später unbedingt, ich sollte einen „Rosenkavalier“ mit Jürgen Rose machen. Da es mein erster „Rosenkavalier“ war, wollte ich lieber mit einem mir vertrauten Bühnenbildner zusammenarbeiten und ich setzte mich auch durch mit meinem Wunsch – was

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ich heute noch bedauere, wenn ich mir die Bühnen ansehe, die Jürgen Rose in den folgenden Jahren geschaffen hat. Es war wohl eine der ganz großen Chancen in meinem Leben, die ich einfach auf eigenen Wunsch verpasst habe. Wenn dann im Theater wirklich einmal kein Geld mehr da war für die Ausstattung, dann ist den Bremern immer noch etwas eingefallen. So kann ich mich ganz gut an eine „Fledermaus“ erinnern, die zum Jahresende Premiere hatte. Da das Ausstattungsbudget zu diesem Zeitpunkt bereits erschöpft war, hatte man einfach Dekorationsteile aus dem Fundus zusammengestellt und das Ganze mit einem Preisausschreiben verbunden: Wer die meisten Teile anderen Inszenierungen zuordnen konnte, der wurde beim Intendanten zum Kaffee eingeladen. Das Gefühl für die gemeinsame Verantwortung beschränkte sich aber nicht auf die Bühnenbildner allein. Für meine „Rosenkavalier“-Proben hatte man ein ehemaliges Kino als Probebühne adaptiert, dort konnte ich mich nach Belieben austoben. Als einmal an einem Samstagnachmittag der Dirigent Hans Wallat erscheint und bei dem Korrepetitor nach vierstündiger Probenzeit leichte Ermüdungserscheinungen konstatiert, schickt er ihn nach Hause, setzt sich selbst hin und spielt noch einmal drei Stunden für mich. Das hat es wirklich nur in Bremen gegeben. Ich habe dort gelernt, dass die Qualität eines Theaters nicht vom Budget abhängig ist, sondern von dem, was die Menschen dort erreichen wollen, von ihrer Kreativität, ihrer Phantasie und ihrer Kollegialität.

1969 Stadttheater Bremerhaven 18. Dezember 1968 Mit meinen Plänen für 69/70 bin ich noch völlig im Unklaren. Das Oberspielleiter-Angebot nach Bremerhaven habe ich nicht angenommen, obwohl es finanziell gleich Krefeld war. Es ist mir zu nahe an Bremen, das ich dadurch nicht verlieren möchte. Gastinszenierungen sind dank Agentur Schömmer sehr viele angeboten: Hagen „Carmen“, Strasbourg „Rosenkavalier“, drei Stücke in Bremerhaven, zwei in Regensburg, eines in Oldenburg, eines sicher wieder in Bremen. Kein einziges davon ist aber bis jetzt auf dem Papier vertraglich fixiert – und so lange gebe ich die Hamburger Staatsoper nicht aus der Hand. Ideal erschiene mir in der jetzigen Situation ein Vertrag mit Hamburg zu gleichen finanziellen Bedingungen, aber mit wesentlich mehr Urlaub zu Gastinszenierungen.

128 2. Begegnungen in der Welt der Oper Das ist mein ganz vernünftiger Standpunkt noch im Dezember – und im Januar wird dann alles plötzlich ganz anders. Nach der „Rosenkavalier“-Premiere in Bremen fahre ich mit meiner Frau nach Bremerhaven. Wir spazieren durch den Hafen, bewundern die „Seute Deern“, ein als Restaurant genutztes altes Segelschiff, und treffen dort zufällig den Intendanten des Bremerhavener Theaters. Es ist ein Wiedersehen unter alten Bekannten, denn er war Assistent bei Kutscher an der Uni in München und er war in der Dramaturgie in Stuttgart und verschaffte mir dort meine erste eigene Inszenierung, Büchners „Dantons Tod“ mit einer freien Theatergruppe. So ist es dann passiert, ungeachtet der Warnungen aller Freunde in Hamburg und Bremen und gegen alle Vernunft: Ich gehe im September 1969 für zwei Jahre als Oberspielleiter nach Bremerhaven. Nun habe ich das, was ich immer schon wollte – Verantwortung für einen Spielplan und für ein Ensemble und in der ersten Spielzeit acht Opern zu inszenieren. Man stürzt sich also voller Begeisterung in die Arbeit, es geht ja darum, möglichst schnell alle Mitarbeiter und damit auch die Leistungsfähigkeit eines Hauses kennenzulernen. Das alles ist erstaunlich gut, Werkstätten, Technik, Orchester, Chor und das Solisten­ ensemble. Natürlich kann man die Mittel nicht denen eines Staatstheaters gleichsetzen, aber es gibt doch die Möglichkeit, recht ordentliches Theater zu machen. Alle Türen stehen offen, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist offensichtlich und auch Stammpublikum und Presse sind bereit, einen vorsichtig angedeuteten neuen Weg mitzugehen, wie die ersten Premieren zeigen. Für Gastinszenierungen oder Fernsehen bleibt da natürlich kaum noch Zeit, mit Mühe kann ich gerade noch einen „Rosenkavalier“ in Strasbourg machen, alles andere muss ich absagen. Die Arbeit macht Spaß und man übersieht dabei ein wenig, dass man in Bremerhaven praktisch am äußersten Rand der Opernwelt agiert, sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. So gehen die Kontakte allmählich verloren und von der eigenen Arbeit dringt nur wenig nach außen. Aber zunächst stehen ja die neuen Aufgaben im Mittelpunkt. Wie baut man seine Sänger auf, wie setzt man sie sinnvoll ein, was kann man ihnen abverlangen? Da gibt es einen sehr guten Tenor, der leider immer am Premierentag krank wird. Ich möchte ihm sehr gerne die Titelrolle in „Hoffmanns Erzählungen“ anvertrauen, werde aber vor den Konsequenzen gewarnt. Also treffe ich eine Verabredung mit dem gleichfalls besetzten Fachkollegen und sage dann zu unserem Sorgenkind: „Ich würde mich freuen, wenn Sie die Premiere singen könnten, aber das sollen Sie selbst entscheiden – am Tag der Vorstellung. Wenn es Ihnen nicht gut geht, steht Ihr Kollege sofort zur Verfügung.“ Er hat diese Premiere gesungen und nie mehr eine andere Premiere abgesagt! Das sind Erfolge, über die man sich mehr freut, als über gute Kritiken. Ich war also voll

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beschäftigt, wie dieser Auszug aus meinem Arbeitskalender von 1970 belegen soll, der bei der Lektüre bitte in Gedanken zu ergänzen wäre mit dem Hinweis: an allen nicht angeführten Wochentagen szenische Proben von 10.00 bis 13.00 und von 17.00 bis 20.00 Uhr.

Samstag, 3. Januar 10.00 Gespräch mit GMD Kindler: Besetzungen für 1970/71, Striche „Rosenkavalier“ Freitag, 16. Januar 10.00 Bühnenprobe „Hoffmanns Erzählungen“ um 11.00 abgebrochen wegen erheblicher Differenzen mit dem Dirigenten 13.00 Gespräch mit GMD, Intendant und Dirigent Volk 14.00 Projektionstest für „Mahagonny“ (2 PRO 3 KW 13 x 13 von Beleuchterbrücke, 3 PRO 3 KW 13 x 13 von rückwärts, 1 Diawechsler 24 x 36 von rückwärts, 1 Filmprojektor 16 mm vom linken Turm) Abends zuhause mit Bühnenbildner Herbert Kirchhoff ganzes „Mahagonny“ durchgearbeitet. Samstag, 17. Januar Vormittags Kirchhoff zum Bahnhof gebracht, dabei am Auto rechten Scheinwerfer eingedrückt. 11.00 Besprechung mit Kindler: Stückauswahl für Kleines Haus und „Oper ohne Krawatte“, 15 Werke bei Verlagen bestellt incl. Cage, Kagel, Kelemen. 13.00 Gespräch mit Dirigent Volk wegen „Hoffmann“ Donnerstag, 12. Februar 20.00 Generalprobe „Hoffmanns Erzählungen“ (mit Sooter als Hoffmann) Freitag, 13. Februar 12.00 Gespräch mit Intendant und Kindler. Haben ihnen statt der vom GMD gewünschten „Aida“ ein Musical vorgeschlagen. Leider ohne Erfolg. Premiere „Hoffmanns Erzählungen“ (erstmals singt Soltermann eine Premiere!)

130 2. Begegnungen in der Welt der Oper Samstag, 14. Februar Besprechung mit Kindler: Besetzungen für „Entführung“ und „Mahagonny“ fixiert. Kurze Probe der Einakter „Heiratsantrag“ und „Vertrauenssache“ für das Gastspiel in Bremen. Sonntag, 15. Februar Brief an Kirchhoff, er hat aus Termingründen „Mahagonny“ abgesagt, ich muss das leider akzeptieren. Donnerstag, 12. März Premiere „Rosenkavalier“ in Strasbourg Mittwoch, 15. April Premiere „Entführung aus dem Serail“ in Bremerhaven Donnerstag, 21. Mai Premiere „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Bremerhaven Samstag, 30. Mai In Bremen bei musica nova (Kagel „Klangwehr“, Nono) Montag, 1. Juni Stoffauswahl für die Kostüme „Aida“, Bühnenbildner Lukas hat Entwürfe für „Schule der Frauen“ fertig. Probenbeginn „Aida“ Montag, 20. Juli – Samstag, 29. August Szenische Leitung des Opernkurses der Sommerakademie Mozarteum Salzburg Mittwoch, 16. September Premiere „Aida“ in Bremerhaven

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Samstag, 26. September Anruf Hamburg, ob ich von 5.–10. November „Mathis“ probieren kann, B. O. wäre am 16./17. 11. Donnerstag, 15. Oktober Premiere „Schule der Frauen“ in Bremerhaven Dienstag, 20. Oktober Anruf Stuttgart. Besetzung „Barbier“ fix mit Peters, Unger, Reich, Geszty, Plümacher, Linke, Dirigent Leopold Hager Freitag, 23. Oktober Probe Bühnenball Samstag, 24. Oktober Bühnenball in Bremerhaven Dienstag, 27. Oktober Vormittags Besprechung mit Intendant, Verwaltungsdirektor, Techn. Direktor und Bühnenbildner wegen der Einakter Freitag, 30. Oktober 12.00 Bühnenbildbesprechung „Rosenkavalier“, 1. und 2. Akt klar. 18.00 Diskussion Bühnenball, Erfahrungsaustausch Montag, 2. November 9.00 Besprechung „Einakter“ 18.00 Regiesitzung Dienstag, 10. November – Donnerstag, 12. November Proben in Hamburg Samstag, 14. November Brief erhalten vom Intendanten Dienstag, 17. November Bühnenorchesterprobe „Mathis“ in Hamburg

132 2. Begegnungen in der Welt der Oper Mittwoch, 18. November Wiederaufnahme „Mathis der Maler“ in Hamburg Donnerstag, 19. November 11.45 Gespräch mit Intendant: gratuliert zu den „Einaktern“, kritisiert „Schule der Frauen“ (ein Regisseur könnte eben nicht alles machen). Teilt mir die Nichtverlängerung des Vertrages als Oberspielleiter mit und bietet mir für nächste Spielzeit drei Gastinszenierungen an, den Rest sollen andere Regisseure machen. Meine Antwort: Es ist ungewiss, ob ich in der nächsten Spielzeit Zeit für drei Inszenierungen in Bremerhaven habe. Telefonisch ersuche ich ihn dann noch um eine schriftliche Bestätigung unseres Gespräches. Das war es dann also, kurz und schmerzlos. Das Leben im Theaterwald ist doch nicht so ungefährlich, wie der harmlose Spaziergänger glaubt. Aber ich bin nicht über Baumwurzeln gestolpert, von herabfallenden Ästen verletzt oder von Raubtieren attackiert worden, nein – es war der Oberförster, in dessen Schussfeld ich geraten bin und das kam so: Im Laufe der Spielzeit hatte sich ein kleiner Arbeitskreis herauskristallisiert, um den Oberspielleiter herum, mit dem Studienleiter, dem Chefdramaturgen und einem neuen Bühnenbildner, alles junge Theatermacher. Erstes erkennbares Zeichen unserer Ideen war dann im Mai 1970 die Aufführung von Kurt Weills „Mahagonny“. Die Zusammenarbeit mit einem Gastbühnenbildner, den ich mir gewünscht hatte, war aus Termingründen leider geplatzt, so hatte ich mir selbst meine Bühne geschaffen: ein alter VW, Bild- und Filmprojektionen mit starkem Lokalbezug, Werbeflächen von Bremerhavener Firmen – das genügte. Der Erfolg war groß, aber ein gewisser, leicht warnender Unterton war nicht zu überhören:

Nordsee-Zeitung vom 22. Mai 1970 Der Erfolg, fast ist man versucht, es zu sagen, wird zu eigentlichen Sensation des Abends: Beifall schon in die Szene hinein, Füßetrampeln und laute Zurufe bestätigten den alarmierenden Eindruck der mutigen Aufführung. Bremer Bürgerzeitung vom 29. Mai 1970 Politisches Musiktheater … mit revolutionärem Elan alle Operntradition wegfegend, gewissermaßen auf dem nackten Bühnenboden.

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Dies war der Weg, der uns vorschwebte und diesen Weg wollten wir auch weiter gehen: das Zerstören der Legende, in der Oper müsse man die Augen schließen und den Verstand zu Hause lassen. Wenn wir hier nicht bald zu einer neuen Einstellung finden würden, dann könnte es eines Tages auf die Frage „Und wer geht morgen in die Oper?“ keine befriedigende Antwort mehr geben, schon gar nicht von der Jugend. Soziale Medien in der heute geläufigen Form gab es damals leider noch nicht, also musste man Wege finden, um in einen Dialog mit unserem Publikum zu kommen. So stand dann eben im Programmheft meine private Telefonnummer mit dem Hinweis, jeden Sonntag ab 11.00 Uhr für einen Meinungsaustausch bereit zu sein. Das Echo war erstaunlich, Kritik und Zustimmung hielten sich die Waage und wenn auch meine Sonntage nun über längere Zeit blockiert waren – es war ein erfrischendes Signal für echte Kommunikation. Noch während der Probenzeit für „Mahagonny“ muss also die Bauprobe für die Eröffnungspremiere der nächsten Spielzeit stattfinden: Verdis „Aida“. Das ist der Herzenswunsch des Generalmusikdirektors, gegen den ich mich – leider vergeblich – wehre. Nach meiner Meinung ist unser Stadttheater mit dieser Oper überfordert, sowohl Ensemble, Chor und Orchester und nicht zuletzt auch das Budget. Aber es hilft alles nichts – wir machen also „Aida“. Natürlich werden wir dabei den einmal eingeschlagenen Weg fortsetzen. Damit ich richtig verstanden werde, es ging uns damals nicht um eine Aktualisierung der Oper, wir haben nur versucht, den Schutt einer hundertjährigen, immer wieder blind übernommenen Aufführungstradition wegzuräumen, um zu zeigen, dass Verdi ein Stück gegen den Krieg geschrieben hat – und nicht eine Marschmusik für die siegreichen Heimkehrer von einem Eroberungsfeldzug. Vierzig Jahre später hat der Dirigent Michael Gielen in einem Zeitungsinterview genau das formuliert, was wir uns damals gedacht hatten:

Wenn man die „Aida“ gescheit liest, geht es um Krieg und Liebe und Kirche und Militär. Verdi war glühender Pazifist und hatte sicher seine Zweifel an den kolonialen Aspekten seines Kompositionsauftrages. Dass das zweite Finale in der „Aida“ so schlechte Musik ist, ist doch inhaltlich begründet. Das find ich toll. Es ist die wunderbarste Musik davor und danach, und das zweite Finale ist wirklich Kacke – diese Märsche und das Tschingbum. Das muss so sein! Die Vulgärmusik wird ausgestellt.17

17 Michael Gielen im Interview mit Volker Hagedorn in der „ZEIT“ vom 28. ApRil 2010

134 2. Begegnungen in der Welt der Oper Wir haben also auf einer von ägyptischer Archäologie befreiten neutralen Bühne mit allgemeinverständlichen Symbolen gearbeitet und für den sogenannten TriumphAkt hatte uns die Deutsche Presse-Agentur in Hamburg fünfzehn authentische Fotos zum Thema „Soldaten bedrohen Zivilisten“ von den zahlreichen Kriegsschauplätzen des 20. Jahrhunderts für Projektionen zur Verfügung gestellt. Diese Konzeption hatte die Zustimmung der Theaterleitung, wurde sogar vom Intendanten nach außen propagiert – bis zur Generalprobe. Da schalteten sich die Stadtpolitiker ein mit der Feststellung: „Die Gräueltaten in Vietnam sind ja bekannt, das ist in Ordnung, aber es hat im Zweiten Weltkrieg niemals einen deutschen Soldaten gegeben, der einem Kind die Pistole an die Schläfe setzte. Dieses Bild muss raus!“ Bei der Premiere waren dann sämtliche Projektionen gestrichen und wir haben öffentlich gegen einen „autoritären Akt“ protestiert. Der Intendant durfte bleiben, ich habe noch bis zum Ende der Spielzeit meine allmonatlichen Inszenierungen abgeliefert und das war es dann. Das Leben im Stimmenwald ist eben keine Idylle, das hatte ich inzwischen gelernt. Und was hat Bremerhaven von meiner zweijährigen Tätigkeit am Stadttheater gehabt? Immerhin den Besuch von zwei prominenten Komponisten, die zu den Premieren ihrer Opern anreisten: Ernst Krenek zur „Vertrauenssache“ und Rolf Liebermann zur „Schule der Frauen“. Mir bleibt die Erinnerung an ein architektonisches Detail des Jugendstil-Theaters, das an seiner Fassade auf der Hafenseite vier Köpfe als Schluss-Steine aufweist mit den Inschriften „Tiefsinn“, „Zorn“, „Frohsinn“ und „Gleichmut“. Ich habe mich für die letzte entschieden. Glücklicherweise war meine Frau, die ihre Karriere als Solotänzerin für unsere kleine Familie mit Tochter Caroline und Sohn Stephan aufgegeben hatte, inzwischen zur diplomierten und sehr gefragten Tanzpädagogin geworden und eine große Ballettschule in Würzburg konnte ihr den entsprechenden Arbeitsplatz anbieten. So zogen wir also in die Mitte Deutschlands und ich habe von dort aus meine Gast­ inszenierungen in Karlsruhe, Mannheim, Stuttgart und Wien bestritten. Das Kapitel „Begegnungen“ ist damit allerdings beendet, denn von den Großen habe ich jetzt berichtet und den Kleinen bin ich von nun an lieber aus dem Weg gegangen.



3. Auf fremden Bühnen Wer immer nur im vertrauten Gelände unterwegs ist, der sieht am Ende den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Grenzüberschreitungen sind daher sehr empfehlenswert, in welchem Sinn man sie auch verstehen mag. Der Blick über die eigenen Grenzen – das ist es, was wir alle von Zeit zu Zeit brauchen, um zu erkennen, wo wir selber stehen. Im Theater, in der Oper, im Gesang – wo auch immer wir künstlerische Leistungen erbringen wollen, es sind auch diese Erfahrungen, die uns weiterbringen. Damit meine ich jetzt nicht den Blick von Stadttheater zu Stadttheater – mal sehen, was der Nachbar macht – sondern den Blick nach oben und nach außen, ins Ausland. Ich war in meinem ganzen Leben immer Ausländer – zunächst als Österreicher in Deutschland, dann als „Deutschsprechender“ in Österreich. Der Begriff Ausland ist für mich irrelevant, Heimat ist für mich immer dort, wo sich gerade der Mittelpunkt meines Lebens befindet, ob das nun im Salzburger Flachgau ist oder in der französischen Provence. Voraussetzung ist allerdings dabei die Kenntnis der Landessprache oder wenigstens das Bemühen darum, um die Menschen zu verstehen und sich ein wenig verständlich zu machen. Da Gastspiele immer langfristig vorbereitet werden, war immer ausreichend Zeit vorhanden, um die Grundkenntnisse in den gängigen europäischen Sprachen auch noch um finnische, griechische, litauische, rumänische und schließlich noch koreanische Brocken zu erweitern. Es war meist nur für das Kurzzeitgedächtnis, schnell wieder verblasst, hat aber jedes Mal seinen Zweck voll erfüllt. Man wird in jedem Land der Welt bedeutend herzlicher empfangen, wenn man sich auf sprachliche Verständigung vorbereitet hat, überhaupt, wenn man nicht als Tourist kommt, sondern um dort zu arbeiten. Aber auch für Touristen sind Sprachkenntnisse durchaus sinnvoll, wie ein selbst erlebtes Beispiel zeigen soll. Es gibt nur dieses eine Beispiel, denn ich war auch nur einmal in meinem Leben als Tourist unterwegs, nach meiner Emeritierung, in der Türkei für eine Woche, um Golf zu spielen. Allerdings ist es ein Beispiel in zwei Varianten: Wir kaufen in Antalya bei einem Juwelier zwei kleine Schmuckstücke für Tochter und Schwiegertochter, eine Verkäuferin bedient uns und wir zahlen ohne zu handeln. Beim Verlassen des

136 3. Auf fremden Bühnen Geschäfts verabschiede ich mich mit „Hayirli işler“, also dem Wunsch für gesegnete Geschäfte. Das klang wohl ein bisschen ironisch, denn sofort eilt der Chef herbei, lässt uns nicht gehen und verbringt einen Teil des Nachmittags mit uns beim Tee. Die energische Variante: Wir werden in einem Bazar von einem Jungen bedrängt, der uns unbedingt seine Teegläser verkaufen will. Als ich ihn mit den Worten „Ne ayip!“ (in etwa „Eine Schande!“) ziemlich heftig anfahre, weicht er erschreckt zurück und fragt – auf Deutsch – mit weit aufgerissenen Augen: „Du Türke?“ Das ist natürlich kein geeigneter Wortschatz, wenn man im Ausland zu arbeiten hat, denn Arbeit gibt es bei einem Theatergastspiel immer genug. Eine Produktion mit allen ihren technischen Details muss ja in einen fremden Raum übertragen werden. Die Begriffe Theater und Reisen waren aber schon immer eng miteinander verbunden. In der Frühzeit des Theaters mussten die Künstler reisen, wenn sie ihr Publikum erreichen wollten. Mit zunehmender Sesshaftigkeit der Theater reisten dann nur noch die großen Stars, im Zeitalter des Ensembletheaters musste der interessierte Zuschauer reisen, wenn er bestimmte Aufführungen erleben wollte. Die Stars reisen auch heute noch, aber sonst reisen eher die Dekorationen, denn aus Gründen der Kostenersparnis werden aufwendige Produktionen gerne von mehreren großen Häusern gemeinsam geplant und finanziert. Aber damals, vor fünfzig, sechzig Jahren, also „zu meiner Zeit“, da wurden eben Theater mit ihren außergewöhnlichen Produktionen gerne herumgereicht. Meine Erinnerungen an unendlich viele Auslandsgastspiele stammen aus dem vorigen Jahrhundert und haben im Zeitalter der Globalisierung an Aktualität eingebüßt. Einige habe ich schon erwähnt, die hier ausgewählten vier Beispiele bringen nun keine neuen Begegnungen, aber sie können vielleicht auch heute noch Grundsätzliches aussagen über die Bedingungen für Theaterarbeit in anderen Ländern. Es ist immer nur ein kleiner Satz, der schlagartig Situationen beschreibt, wie wir sie bei uns nicht kennen.

1967 USA: New York „Robert, watch your guys!“ Nach dreijähriger Planung ist es endlich so weit: Die Hamburgische Staatsoper gastiert mit sechs Produktionen an der neuen Metropolitan Opera im Lincoln Center. Drei Containerschiffe haben Dekorationen und Kostüme bereits nach New York geschafft, ich bin mit zwanzig Bühnenmeistern und Bühnentechnikern als Vorhut

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unterwegs, die 350 Mitwirkenden werden in einigen Wochen folgen. Wir sind auf schwierige Zeiten vorbereitet, denn zwei unserer Opern spielen auf einer Drehbühne und die Drehbühne der MET funktioniert nicht, zwei weitere Opern sind für Podienfahrten konzipiert und die Hubpodien an der MET sind derzeit außer Betrieb. Auch vor der Allmacht der Gewerkschaften hat man uns gewarnt, aber es kommt dann doch noch massiver als erwartet. Der Lernprozess für mich beginnt schon unmittelbar nach der Ankunft in New York. Mit dem Leiter der Statisterie habe ich bereits für den ersten Abend von Hamburg aus einen Termin vereinbart zum Aussuchen der Statisten für unsere Vorstellungen. Wir treffen uns beim Pförtner der MET, fahren mit dem Fahrstuhl in unergründliche Tiefen und beim Aussteigen empfängt mich schon ein beachtliches Stimmengewirr. Eine Saaltür wird geöffnet und gibt den Blick frei auf eine Menschenmenge, man sagt mir, es wären etwa 300. Ich brauche nur 30 und der Statistenführer, der Herr über alle diese erwartungsvollen Gesichter, wartet auf meine Entscheidung. Ich habe keine große Lust, mich durch die Menge zu kämpfen um auszusuchen und so komme ich auf eine, wie ich glaube, geniale Idee. Da in einer Szene unserer „Visitation“, die in einer Disco spielt, auch getanzt wird, meinte ich, es wäre gut, nur die auszuwählen, die auch etwas tanzen können. Das bringt mir einen verzweifelten Blick und die in leicht vorwurfsvollem Ton vorgetragene Information ein, dass alle hier anwesenden Personen gleichzeitig professionelle Schauspieler, Sänger und Tänzer sind, Engagements an Broadwaybühnen, beim Fernsehen und beim Film haben und in zwischenzeitlichen Produktionspausen eben auch als Statisten an der Met arbeiten, das alles natürlich streng gewerkschaftlich organisiert. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, ich muss mich doch durchkämpfen und wähle nun nach Belieben die interessantesten Typen aus, an sich ja eine paradiesische Situation, wie wir sie an unseren Theatern daheim nicht kennen. Ich habe sehr schnell meine dreißig Personen zusammen, wundere mich nur, dass mein Begleiter, der immer mitschreibt, dann auch noch mit anderen als den von mir Ausgewählten spricht: er hatte sofort ein typmäßig passendes Double bestimmt. Zweihundertvierzig Enttäuschte verlassen den Saal, ich beginne mit meiner Gruppe erste Kontaktgespräche und dreißig Ersatzleute hören aufmerksam zu. Die Probenarbeit mit derart engagierten, einsatzfreudigen Profis ist dann eine reine Freude. Als am nächsten Tag ein Mann fehlt, springt sofort dessen Double ein. Etwa zehn Minuten später öffnet sich die Saaltüre, aber nur kurz. Der immer anwesende Boss ist sofort dort und verschwindet nach draußen. Später erfahre ich, es war der fehlende Mann, der auf dem Weg vom Filmstudio im Verkehr stecken geblieben ist. Ich habe ihn nie wieder gesehen! Das war meine erste, deutliche Begegnung mit der amerikanischen Theatergewerk-

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3. Auf fremden Bühnen

schaft. Ihre Licht- und Schattenseiten habe ich dann in den folgenden Wochen gründlich kennengelernt in der Zusammenarbeit mit den jeweiligen Bossen. Da stehen sie nun auf der Bühne, unsere zwanzig Techniker aus Hamburg, aber nicht zum Arbeiten, das hätten die zwar liebend gerne gemacht und auch gekonnt, sondern nur um Anweisungen zu geben. Ich habe die Oberaufsicht und muss darüber wachen, dass ja nicht einer unserer Jungs etwa ein Möbelstück oder ein Dekorationsteil mit der Hand berührt. Denn dann steht sofort der Gewerkschaftsboss der amerikanischen Bühnenarbeiter vor mir mit seinem obligaten: „Robert, watch your guys!“. Wochenlang, nächtelang habe ich mir diesen Spruch anhören müssen. Natürlich habe ich wie ein Luchs auf unsere Leute aufgepasst, aber wenn etwa ein Stuhl mitten auf der Bühne steht und eine große Wand im Begriff ist, genau auf diese Stelle zu fallen, dann nimmt man natürlich schnell den Stuhl weg. Im gleichen Augenblick ist auf der Bühne Totenstille, nichts rührt sich mehr, alle Augen wandern zum Boss und dann zu mir: Ein Hamburger hat etwas angefasst! Das ist natürlich ein schönes Spiel, es kann stundenlang dauern und beliebig oft wiederholt werden. Verhandlungen, Entschuldigungen, Belehrungen, schließlich zum gütigen Abschluss eine umfangreiche Bierspende, dann wird die Arbeit wieder aufgenommen. Was für eine Arbeit? Es müssen Container entladen werden, die auf der Rückseite bereits englisch beschrifteten Dekorationen aufgebaut und den Bühnenverhältnissen der MET angepasst werden. Diese Arbeiten führen wir wochenlang nachts durch: Nach Ende einer Vorstellung der Met wird die Dekoration abgebaut, um Mitternacht kommen wir dazu und dann wird durchgearbeitet bis 4 Uhr früh, manchmal bis 6 Uhr. Um 9 Uhr geht es dann weiter mit Beleuchtungsproben bis 15.00 Uhr. Dann müssen wir raus und die MET bereitet ihre Abendvorstellung vor. Dann geht man schlafen ins Hotel, gleich gegenüber dem Lincoln Center, das „Empire“, nachmittags in eine Broadway-Vorstellung, abends in die MET oder in das New York City Theatre, das direkt daneben steht und dann nachts wieder siehe oben. Aber es gibt am Ende auch einen versöhnlichen Abschluss: Nach der letzten Vorstellung bedanken sich die Bühnentechniker der MET mit einer Party auf der Bühne und einem „RiesenHamburger“. Von Hans Stahn, dem großartigen Technischen Direktor der Hamburgischen Staatsoper, der für die Organisation der gesamten Technik verantwortlich war, bekamen seine „Jungs“ und auch ich je einen Silberdollar, allerdings mit einer schwerwiegenden Auflage: man muss ihn immer bei sich tragen, wer ohne erwischt wird, zahlt eine Runde. Als ich einige Jahre später wieder einmal in der Staatsoper in Hamburg auftauche, wurde ich innerhalb einer halben Stunde drei Mal nach dem Silberdollar gefragt. Ich trage ihn heute noch bei mir, man kann ja nie wissen …

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1979 Rumänien: Iaşi „Ein kleiner Spaziergang wäre jetzt gut“ Es ist März, der perfekte Service in der rotweißroten AUA-Maschine von Wien nach Bukarest verspricht eine angenehme Reise nach Iaşi, einer rumänischen Stadt mit 200 000 Einwohnern an der Grenze zur Sowjetunion. Doch schon am Flughafen in Bukarest ist der Traum zu Ende. Eine von der staatlichen Agentur zugesagte Betreuerin sollte mir die Einreiseformalitäten samt Zwangsumtausch von Devisen ersparen, ist aber leider nicht erschienen. Nach einer Stunde habe ich dann alle Formulare ausgefüllt, alle Fragen beantwortet und mein ganzes Geld in rumänische Lei umgetauscht. Ich trete also endlich wieder als freier Mensch vor das Flughafengebäude – da erscheint die versprochene Betreuerin im Taxi: „Entschuldigung, der Verkehr!“ Gut, Kommando zurück, wieder hinein und die ganze Prozedur wird rückgängig gemacht. Ich bin ja schließlich kein Tourist, sondern Gast der Staatlichen KünstlerAgentur. Das dauert nun wieder eine Stunde, begleitet von lautstarken Diskussionen, an denen ich mich glücklicherweise nicht beteiligen kann, da sie in erregtem Rumänisch geführt werden. Meine rumänischen Sprachkenntnisse erschöpfen sich zu diesem Zeitpunkt in dem Zahlwort „16“, das ausgesprochen etwa klingt wie „Scheißpresetsche“, was manchmal ganz hilfreich sein kann. Dann geht es endlich mit dem Taxi zum Inlandflughafen. In der überfüllten Wartehalle überlässt man mich meinem Schicksal, nicht ohne den Hinweis, dass irgendwann auf einer großen Tafel der Name Iaşi erscheinen wird, was auf die Ankunft meiner Maschine hindeuten könnte. Ich sitze sie also geduldig ab, meine dritte Stunde in Rumänien und auch die vierte. Nichts rührt sich, kein Kommen oder Gehen, keine Landungen und keine Abflüge. Aber ich habe Glück, neben mir wartet eine Italienisch sprechende Rumänin. Von ihr erfahre ich beunruhigende Dinge über die Unregelmäßigkeit der Inlandflüge und deren Wetterabhängigkeit. Das ist es dann auch: eine kurze Information besagt, dass die Maschine in Iaşi wegen des schlechten Wetters nicht starten konnte und erst am nächsten Tag fliegen wird. Die verhinderten Flugpassagiere scheinen mit dieser Situation vertraut zu sein, sie tragen es jedenfalls mit Fassung. Man beschließt, gemeinsam den Nachtzug nach Iaşi zu nehmen und in der Zwischenzeit mir, dem einzigen Fremden, die Sehenswürdigkeiten von Bukarest zu zeigen. Das wird dann ein ausführlicher Spaziergang im Dorfmuseum beim Herăstrău-Park mit seinen über zweihundert bäuerlichen Originalbauten aus allen Regionen Rumäniens, eine Rundfahrt durch die Innenstadt, ein gemeinsames Abendessen und schließlich die Reise im engen Zugabteil mit lebhaften Diskussionen und meinem ersten Kon-

140 3. Auf fremden Bühnen takt mit ţuica, dem gefährlichen rumänischen Pflaumenschnaps. Für mich wird es die unvergessliche Begegnung mit gelebter rumänischer Gastfreundschaft. Am nächsten Morgen besucht mich mein rumänischer Dirigent im Hotel. Unser Gespräch unterbricht er aber sofort mit einem: „Ein kleiner Spaziergang wäre jetzt gut.“ Ich bin etwas überrascht, erfahre im Freien aber dann den Grund: Alle Hotelzimmer sind mit Kameras und Mikrofonen ausgestattet, daher sollte man Gespräche möglichst nur im Freien führen. Ein kräftiger Schock also zur Begrüßung, aber die künstlerischen und die menschlichen Kontakte sind eindeutig das Dominierende dieses Aufenthaltes. Ich treffe hervorragende Musiker, Sänger und Tänzer, die Arbeit mit ihnen im Opernhaus von Iaşi macht große Freude. Ja, das Teatrul Naţional: Es liegt in einer schönen, gepflegten Grünanlage mit großer Auffahrt und breiter Eingangstreppe unter einem Säulenportal, großzügiger Eingangshalle und weiten Foyers, ein grandioses und wirklich großstädtisches Opernhaus, im Inneren identisch mit dem Salzburger Landestheater Für mich wird es also fast ein Heimspiel, nicht so für die rumänischen Künstler. Wir erarbeiten ein anspruchsvolles Programm, Strawinsky „Geschichte vom Soldaten“ und Schönberg „Pierrot Lunaire“, das nach einer Aufführung in Iaşi auf Tournee in Deutschland mit dreißig von der Konzertdirektion Schlote organisierten Konzerten geht. Meine Rückreise nach Bukarest erfolgt dann wirklich mit einem Flugzeug, offensichtlich einer ehemaligen sowjetischen Militärmaschine, nach dem zweiten Weltkrieg ausrangiert und ohne wesentlichen Umbau nun für den zivilen Flugverkehr genutzt. Ich bin froh, als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe und schwöre mir noch am Flughafen in Bukarest: „Solltest du wieder einmal nach Iaşi kommen, dann nur noch mit der Eisenbahn!“ Und die zweite Lehre: „Gespräche immer nur im Freien!“

1992 Litauen: Vilnius „Bitte kein Russisch!“ Salzburg ist Partnerstadt von Vilnius und so kommt es eines Tages zu dem Angebot, im Opernhaus von Vilnius Joseph Haydns Oper „I Pescatrici“ zu inszenieren.

Freitag, 4. September 1992 Meine Maschine vom Flughafen Schwechat fliegt zwar nach Vilnius, aber zunächst über Kiew. Mein Sitznachbar, ein Holländer, der demnächst eine Ukra-

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inerin heiraten wird, am Schwarzen Meer elf Textilgeschäfte besitzt und unter seinem Sitz soeben das vierte Telefax-Gerät nach Kiew schmuggelt, der kennt den Grund: es gibt zu wenig Fluggäste nach Vilnius für die großen AUA-Maschinen, deshalb der Umweg. In Kiew soll es sehr schnell gehen, aber leider sind dort nur zwei Mann zum Entladen aller Maschinen, also dauert es eine Stunde. Sonst ist der Flug sehr angenehm, herrliches Wetter, bei dem man die entsetzliche Luftverschmutzung in Russland beobachten kann, die fürchterlich verqualmten Industriegebiete. Da unsere Maschine einen anderen Kurs fliegen darf, hält sich am Ende die Verspätung in Grenzen, wir landen gegen 17.00 Uhr in Vilnius. Allerdings ist es dort bereits 18.00 Uhr, was ich aber erst am nächsten Tag bemerke, als ich fast meine erste Probe verpasse. Ich bekomme anstandslos mein Visum und werde von einer dreiköpfigen Abordnung des Theaters, dem Manager, der Sekretärin des Intendanten und dem Fahrer empfangen und mit einem sehr bunten, aber doch älteren Fahrzeug sowjetischer Bauart ins Theater gebracht, einem modernen Riesenbau aus Glas und Holz, erbaut von skandinavischen Architekten. Direkt gegenüber das theatereigene Wohnhaus, im Erdgeschoss ein Restaurant „Opera“, sonst Wohnungen und Zimmer für Theaterleute und im fünften Stock eine Wohnung für Gäste. So wie alle öffentlichen Gebäude (Post, Restaurants, Theater, Geschäfte) immens große, hohe Räume. Mein Zimmer hat etwa 30 m², großes Fenster und Tür auf Balkon (verrostet, bitte nicht betreten, aber ohnehin nur Ausblick auf einen Hinterhof ), Parkettboden mit Abnutzungsspuren, Riesenküche, Riesenbad. Nachdem ich die Küche wegen der Ameisen mit Insektenpuder bearbeitet und die Dusche im Bad repariert habe, funktioniert soweit alles. In dem sehr großen Vorzimmer gibt es noch eine gepolsterte Sitzgruppe, ein Klavier und einen Schwarzweiß-Fernseher. Damit ist das Wohnen zufriedenstellend geregelt, schwierig wird es mit der Ernährung. Dank der übersehenen Zeitumstellung fällt am nächsten Tag mein Frühstück wegen Probenbeginn aus, mittags lässt man mich in das Theaterrestaurant „Opera“ gar nicht erst rein, irgendein anderes Restaurant kann ich nicht entdecken und nach der Abendprobe ist natürlich auch nichts mehr zu machen. Am Morgen des dritten Tages ziehe ich in aller Früh hungrig los und kann nach einigen vergeblichen Versuchen schließlich irgendwo eine Tasse Kaffee, zwei Scheiben Brot und Konfitüre bekommen. Dank der Unterstützung durch die Direktion bekomme ich auch mein Mittagessen im „Opera“, werde aber einen Tag später wieder abgewiesen – niemand weiß, warum, niemand kann es erklären, man spricht nichts außer Litauisch. Nun hole ich mir Hilfe

142 3. Auf fremden Bühnen bei meiner Dolmetscherin. Sie erklärt mir die Stadt, sie zeigt mir: „Das ist ein Restaurant! Das ist die Post! Das ist eine Bank!“ Diese Erklärungen braucht man wirklich, denn von außen ist das nicht zu erkennen. Nun kann ich endlich Geld wechseln und telefonieren. Beides dauert je anderthalb Stunden: Schlange stehen, richtigen Schalter finden, Papiere ausfüllen, Verbindung abwarten etc. An die finanziellen Verhältnisse muss man sich auch gewöhnen: ich habe für 200 DM etwa 26.000 Rubel erhalten, ein Riesenpaket Papier, das ich aus Sicherheitsgründen immer bei mir trage. Ein Telefonat nach Österreich hat 1.800 Rubel gekostet, für hiesige Verhältnisse sicher ein Vermögen, für das Mittagessen bezahle ich 300 Rubel. Vom Theater gibt es ein Tagegeld von 1.500 Rubel für zehn Tage! Der Intendant hat sich entschuldigt, mehr Geld hätten sie nicht. Im Monat zahlt man mir also 4.500 Rubel als Tagegeld, ich bewohne kostenlos eine Dienstwohnung und das alles hat mit meinem Regie-Honorar nichts zu tun. Aber die Solistengagen hier am Haus betragen 4.000 Rubel monatlich brutto!! Das hat mich so schockiert, dass ich eigentlich auf dieses Tagegeld verzichten möchte. Nun verstehe ich auch, warum die Restaurants hier so leer sind: ein Essen für 3 DM bedeutet für einen Einheimischen 10% seines Monatsgehaltes. Also die Menschen hier haben schon irrsinnige Probleme – und dann kommt die Inspizientin auf die Probe und legt mir eine große Weintraube hin als Geschenk – das bekommt man nur auf dem schwarzen Markt! Es ist mein erster Probentag am „Operos ir Baleto Teatras“ in Vilnius, ein erstes Kennenlernen mit dem Ensemble. Obwohl ich mich zwei Semester lang an der Uni in Salzburg mit der litauischen Sprache beschäftigt habe, stelle ich mit Freude fest, dass unter den Sängern auch Litauer russischer Abstammung sind. Mein Russisch ist deutlich besser als mein Litauisch, wird aber leider sofort von der Dolmetscherin – sie ist die Sekretärin des Intendanten und spricht fließend Deutsch – abgeblockt: „Wir haben uns darauf geeinigt, dass hier im Theater nicht mehr Russisch gesprochen wird. Bitte halten Sie sich auch daran!“ Ich habe das verstanden und auch respektiert, denn die Menschen in Litauen hatten schwere Zeiten hinter sich. Der erbitterte Kampf um staatliche Unabhängigkeit von der Sowjetunion während der Perestroika hatte am 13. Januar 1991 in Vilnius seinen schrecklichen Höhepunkt gefunden, die sogenannte „Singende Revolution von 1978–1992“ war soeben erst erfolgreich beendet worden. Die Leute im Theater sind von einer außerordentlichen Liebenswürdigkeit, Hilfsbereitschaft und Arbeitswilligkeit. Ich probiere fünf bis sechs Stunden am Tag, im-

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mer mit Pianistin + Cembalistin + Cellistin – für die Rezitative und das bei jeder Probe. Die Sänger vom Haus sind zum Teil sogar sehr gut und ungeheuer lernbereit. Natürlich gibt es darstellerische Grenzen, aber alle bemühen sich um Fortschritte und ich habe das Gefühl, es macht ihnen auch Spaß. Der tägliche Kampf um Probentermine, um Unklarheiten bei der Ausstattung, bei den Kostümen, zu spät eintreffende Sänger – das ist genau wie an jedem anderen Theater auch.

Donnerstag, 10. September 1992 Nun bin ich schon fast eine Woche hier. Die Arbeit läuft sehr gut. Es sind jetzt auch alle Sänger da, leider ist der zu spät gekommene Bass die einzige Fehlbesetzung, ein absoluter Anfänger ohne Talent, er wird aber von der Theaterleitung aus mir nicht bekannten Gründen unterstützt, na ja. Alle anderen sind mit einer bei uns unbekannten Disziplin und Begeisterung dabei, bemühen sich außerordentlich, eine für sie neuartige Arbeitsweise (Ausdruck und Beweglichkeit auch beim Singen, Präzision) in den Griff zu bekommen. Auch die Zusammenarbeit mit Technik und Verwaltung funktioniert sehr gut. Der einzige Gast im Ensemble ist ein ungarischer Tenor. Mit ihm gehe ich meistens essen, er spricht kein Wort litauisch, ich inzwischen doch schon etwas mehr. Wir haben ein Restaurant gefunden nahe beim Theater, im Stil der sowjetischen Gigantomanie und mit dem Charme eines Bahnhofsrestaurants, eine gewaltig hohe Halle mit etwa 150 Sitzplätzen, mehr als drei, vier Tische sind aber nie besetzt. Die Speisekarte ist immer gleich und hat etwa fünf Hauptgerichte, wir kommen also gerade einmal durch die Woche. Montag, 14. September 1992 Der Montag ist im Theater ein freier Tag, dafür wird den ganzen Samstag und Sonntag vormittags gearbeitet. Da es außerdem mein Geburtstag ist, habe ich für heute eine besinnliche Geburtstagstour geplant. Zunächst in das jüdische Museum, ein altes Holzhaus mit fünf Ausstellungsräumen, schrecklich primitiv, aber gerade dadurch so erschütternd. Früher gab es in Vilnius 200.000– 250.000 Juden, das war etwa die Hälfte der Bevölkerung. Heute leben noch fünftausend Juden hier, alle anderen wurden von den Nationalsozialisten ausgelöscht. Als ich wieder ins Freie komme, ist mir richtig schlecht. Ich bin dann auf einen Hügel im Stadtzentrum marschiert, dort stand einmal die Stammburg. Ein Turm ist noch übrig und wenn man sich da hinaufgewendelt hat, gibt es einen tollen Rundblick über die ganze Stadt mit ihren zahllosen Kirchen bis hinaus zu den Neubauvierteln.

144 3. Auf fremden Bühnen Ich bin dann weitermarschiert, etwa eine Dreiviertelstunde, bis zu einem Friedhof. Das ist eigentlich ein riesengroßer Wald in einer Hügellandschaft, dazwischen immer wieder Gräber. An einer Hügelseite die Ehrengräber für die 1991 von den Russen getöteten Männer (im Alter zwischen 19 und 50 Jahren). Ein paar hundert Meter weiter dann eine gigantische Anlage, die sowjetischen Kriegsgräber, Tausende, alle einen Hang hinauf gebaut mit Treppen und Etagen, alles in poliertem Granit, gewaltig. Seitlich von dieser Anlage dann die Prunkgräber der alten Politfunktionäre, nur Männer, und jeder mit einer aus dem Stein gemeißelten Porträtbüste. Oberhalb geht das Waldgebiet weiter und ich habe mir da oben, im Gras liegend unter einer Kiefer, die Septembersonne ins Gesicht scheinen lassen und über den Wahnsinn der Kriege nachgedacht. Als ich gegen Abend von meinem Ausflug zurückkomme, steht an meiner Zimmertür eine Vase mit drei Rosen und ein kleines Ölbild mit einem Altstadtmotiv – ein Geburtstagsgruß von den Solisten. Montag, 21. September 1992 Gestern, Sonntag, war ich zusammen mit unserer Dirigentin und meiner Dolmetscherin bei unserer Inspizientin zum Essen eingeladen. Um 17.00 Uhr holt uns ihr Mann, ein ehemaliger Opern- und Operettentenor, daneben aber auch Trainer einer Gewichtheber-Mannschaft, Akrobat und jetzt Maler, mit dem Wagen ab, einem klapprigen sowjetischen Auto wie alle hier. Mir war schon vorher aufgefallen, dass die Autos hier ohne Scheibenwischer fahren, jetzt erfuhr ich den Grund: Scheibenwischer legt man ins Handschuhfach und steckt sie nur bei Regen an, sonst werden sie einem gestohlen! Die Wohnung in einem der riesigen Wohnblocks um die Stadt herum hat vier Zimmer bei 50 m² Gesamtfläche. Für uns schon recht eng, für hier sicher Spitzenqualität, was Größe, Ausstattung und auch Einrichtung betrifft. Die Tochter lernt Klavier, hat einen hundertjährigen Blüthner-Flügel im Zimmer, im Wohnzimmer steht ein weiteres Klavier! Wir werden bewirtet wie die Fürsten: endlose Vorspeisen, das meiste Gemüse aus dem eigenen Garten, aber auch Kaviar, Fischsalat, Hühnchen, geräucherte Wurst und dann, als man schon nicht mehr kann, das litauische Nationalgericht cepelinai, so genannt nach der Zeppelin-Form, rohe Kartoffelklöße gefüllt mit Hackfleisch. Getrunken wird dazu süßer Obstsaft und russischer Kognak. Es war wirklich rührend, denn man kann davon ausgehen, dass diese Menschen ein halbes Monatsgehalt ausgegeben haben für uns. Inzwischen ist es ganz schön kalt geworden, aber weil man in Litauen sparen muss, wird noch nicht geheizt. Die gesamte Heizungs- und Warmwasserversor-

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gung der Stadt kommt aus zentralen Heizkraftwerken und das Öl aus Russland – darum gibt es Warmwasser nur am Wochenende. Weil auch bei der Straßenbeleuchtung gespart wird, die Straßen abends also ganz schön dunkel sind, beginnen die Vorstellungen im Theater schon um 18.00 Uhr. Übrigens: sogar im Theater wird das hier überall übliche Schlangestehen zelebriert: nach der Vorstellung nicht das übliche Gedränge an der Garderobe, sondern bei jeder Garderobenfrau bildet sich eine riesige Schlange durch das gesamte Foyer. Neulich in der Pause habe ich eine Schlange von 40 Damen vor der Toilette gezählt. Das ist hier eine Art Nationalsport. Als ich einmal mit dem einzigen Ausländer in meinem Ensemble, dem ungarischen Tenor, vom Essen komme, zeige ich ihm in einer Fußgängerzone einen Kiosk, wo man gutes Gebäck bekommt. Es ist mittags, der Kiosk geschlossen, aber wir haben neugierig durch die Scheiben geguckt. Als wir weggehen, stehen schon vier Leute hinter uns, die sich einfach auf Verdacht angestellt hatten. In einem fremden Land, in einer fremden Stadt, da will man natürlich den Theaterspielplan kennenlernen. Das Opernhaus ist ein moderner Bau in Glas und Holz, von skandinavischen Architekten erbaut. Ich gehe in Vorstellungen, so oft es nur möglich ist – übrigens nicht nur in die Oper. Ich besuche auch das Russische Theater und das Schauspielhaus, trotz bescheidener Sprachkenntnisse, aber es ist einfach so spannend, andere Theaterwelten zu erleben. Im Opernhaus gehe ich unter anderem in eine Vorstellung von „Nabucco“, die erst kurz vorher Premiere hatte. Es ist eine eher konventionelle, brave Aufführung und doch gibt es eine große Überraschung. Der berühmte Gefangenenchor „Va, pensiero“, von Verdi zwar schon als Largo bezeichnet, wird hier extrem langsam gespielt und im Saal von den Zuschauern mit spürbarer Bewegung aufgenommen. Ich spreche am nächsten Tag mit dem jungen Dirigenten, Gintaras Rinkevicius, und er sagt mir: „Ich dirigiere diesen Chor im Tempo unserer litauischen Nationalhymne, die wir jahrzehntelang nicht spielen durften. Unser Publikum hat das sofort verstanden und bei der Premiere sind alle schweigend aufgestanden.“ Ich bin davon überzeugt, Verdi hätte mit Begeisterung zugestimmt.



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1998 Südkorea: Taegu „Der Ältere hat das Vorrecht!“ Die Zahl der Studierenden aus Korea hat am Mozarteum im Lauf der Jahre gewaltig zugenommen und ich werde auch in der Opernklasse damit konfrontiert. Da sich in der Arbeit gewisse Defizite im beiderseitigen Verständnis abzeichnen – Sprache und Mentalität liegen doch sehr weit auseinander, beginne ich als Autodidakt ein wenig Koreanisch zu lernen. Ein koreanischer Dirigierstudent mit sehr guten Deutschkenntnissen hilft mir dann weiter und sehr schnell zeigen sich auch Erfolge im Umgang mit unseren koreanischen Sängerinnen und Sängern. Das Bemühen, eine fremde Sprache zu erlernen, kann das Eis brechen und die Türen öffnen auf dem Weg zum Verständnis einer anderen Kultur. So kommt es eines Tages im Jahre 1997 zu einer Einladung nach Korea, ich soll in Taegu die Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“ inszenieren. Der Gedanke erscheint mir zunächst ein wenig abwegig, Otto Nicolai und seine so sehr deutsche, heitere Spieloper dorthin zu exportieren. Ich mache daher zur Bedingung eine Aufführung in Koreanisch, da ich mir immer ein Publikum wünsche, das auch versteht, was da auf der Bühne passiert. Das wird akzeptiert, die Übersetzung der Gesangstexte und deren Anpassung an die Musik findet statt, ebenso wie der von mir gekürzte Dialog. Im August 1998 beginnt meine Arbeit mit einem ausnahmslos koreanischen Ensemble, ich bewege mich wochenlang als einziger Europäer in einer fremden Welt und einer fremden Sprache, das einzig Vertraute ist die Musik von Otto Nicolai. Taegu liegt etwa eine Flugstunde südlich von Seoul, nach der Schätzung des dortigen Bürgermeisters hat die Stadt etwa 5 Millionen Einwohner, ein großes Theater, aber kein festes Ensemble. Es läuft also nach dem stagione-Prinzip, alle Künstler werden speziell für diese Produktion engagiert und da es eine ganze Aufführungsserie gibt, wird alles doppelt besetzt. Ich konnte die Besetzungen nicht mitentscheiden wegen der langen Vorbereitungszeit, werde aber von der Qualität des Ensembles überrascht. In einer Probenzeit mit Doppelbesetzungen kommt irgendwann der von allen gefürchtete Augenblick, wo man sich entscheiden muss, wer nun die Premiere singen soll. Das ist an allen Theatern der Welt so, auch in Korea. Die Sänger sind alle hervorragend, aber es muss eine Entscheidung geben. Kurz nach der Bekanntgabe der Premierenbesetzung möchte mich ein junger Bassist, der mit einer kleinen Basspartie besetzt ist, dringend sprechen und mir schwant schon die übliche Diskussion, warum denn der singt und nicht ich, ich wäre doch viel besser

1998 Südkorea: Taegu

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usw. Zu meiner großen Überraschung kommt es aber ganz anders: „Bitte lassen Sie meinen Kollegen die Premiere singen, ich übernehme dann gerne die zweite Vorstellung. Warum? Nun, er hat an der gleichen Universität studiert wie ich, hat aber sein Studium ein Jahr vor mir abgeschlossen – er ist der Ältere.“ Ich habe das natürlich respektiert, da beide Sänger gleichwertig waren, aber ich habe mir oft gedacht danach, wie schön es doch wäre, wenn auch bei uns am Theater ab und zu etwas mehr Respekt vor den älteren Kollegen herrschen würde.



Tafel 25

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Immer wieder die Soprane …

Abb. 64: Camila Nylund in Argento „Miss Havisham’s Wedding Night“ (1994 im Oktogon, Salzburg)

Abb. 65: Vitalija Blinstrubyte in Mozart „Le Nozze di Figaro“ (1997 im Großen Studio des Mozarteum, Salzburg)

Abb. 66: Der Nachwuchs in Dargomyschskij „Der Steinerne Gast“ (1989 im Großen Studio des Mozarteum, Salzburg)

150 Tafel 26

Abb. 67/68: Mozart „Die Zauberflöte“ mit Nikolai Schukoff als Tamino. Bühne: Christian Baumgärtl, Katharina Horn, Ingeborga Rosenbusch (1995 im Großen Studio des Mozarteum, Salzburg)

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Abb. 69/70: Mozart „Cosi fan tutte“ mit Vitalija Blinstrubyte und Astrid Hofer. Inszenierung und Bühne: Robert H. Pflanzl (1997 im Großen Studio des Mozarteum, Salzburg)

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Abb. 71/72: Mozart „La Finta Giardiniera“ mit Ruxandra Urderean, Lauri Vasar und Bernd Lambauer (1997 im Großen Studio des Mozarteum, Salzburg)

Tafel 29

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Abb. 73/74: Mozart „Don Giovanni“ (1999 im Großen Saal der Stiftung, Mozarteum Salzburg)

154 Tafel 30 Abb. 75–77: Mozart „Die Zauberflöte“, Bühne Fabian Vogl (2001 im Großen Studio des Mozarteum, Salzburg)

Tafel 31

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Abb. 78/79: Orff „Carmina Burana“ mit Lauri Vasar. Bühne Fabian Vogl, Eleni Lapata (2002 im Großen Studio des Mozarteum, Salzburg)

156 Tafel 32

Abb. 80: Die Premierenfeier nach „Carmina Burana“ wird zum endgültigen Abschied vom Innenhof (2002 Mozarteum Salzburg) Abb. 81: Das Mozarteum in Salzburg 2004

4. Wahlheimat Salzburg

Das Salzburger Jahr 1952–53 Wer seine Jugendjahre in fünf verschiedenen Großstädten verbracht hat, der kann sich nur schwer unter dem Begriff „Heimat“ etwas vorstellen. Im besten Falle gibt es so etwas wie eine „fragmentierte Heimat“.18 Als Theaterkind ist man eben immer auf der Wanderschaft, die Städte ziehen vorüber wie bei einer Bahnfahrt. Einziger fester Bezugspunkt in meinem Leben ist Salzburg, denn mein Vater hatte hier seine Wurzeln und so gehört ein Kurzbesuch zum jährlichen Ritual, wenigstens für ein paar Tage. Ausnahmen gibt es nur, wenn die Zeitumstände dagegen sind: Politik, Krieg, Besatzung. Doch genau diese Verhältnisse bringen mich dann für ein ganzes Jahr nach Salzburg. Es ist das Jahr 1952, wir leben in Ostberlin, sind inzwischen wieder österreichische Staatsbürger geworden und meine Eltern wollen nun ganz offiziell als Ausländer nach Westberlin umziehen. Um mir die Problematik des Umzugs von Ost nach West zu ersparen, werde ich für ein Jahr zur Großmutter nach Salzburg geschickt. Ich besuche dort eine Abendschule, da ein normales Gymnasium für meine Sprachkenntnisse Latein – Englisch – Russisch nicht in Frage kommt. Daneben möchte ich am Mozarteum Klavier studieren. In den Briefen an die Eltern habe damals ich meine Studienerfahrungen aufgelistet.

30. September 1952 Im Mozarteum hab ich mich zur Aufnahmeprüfung angemeldet, die schon am Montag sein sollte. Es war aber so ein Andrang, dass ich nicht dran kam. Nächster Termin ist Donnerstag.

18 Originalton des Kabarettisten Georg Ringsgwandl

158 4. Wahlheimat Salzburg 6. Oktober 1952 Im Mozarteum hat es noch immer nicht geklappt, weil mir der Trottel dort einen falschen Termin gegeben hatte. Jetzt bin ich, hoffentlich endgültig, auf übermorgen hinbestellt. 8. Oktober 1952 Heute war der endgültig festgesetzte Termin für die Aufnahmeprüfung im Mozarteum. Ich war um 10 Uhr dort und kam auch bald dran. Es waren vorläufig drei Herren anwesend, die meine theoretischen Kenntnisse überprüften. Dann spielte ich ihnen mein Stücklein vor, recht brav und gut. Daraufhin sagte man mir, dass ich für mein Alter noch zu wenig technisches Können besäße, um als Hauptfachschüler ans Mozarteum zu kommen. Wir haben uns dann noch ein bisschen unterhalten und plötzlich sagt einer der Herren Professoren aus der inzwischen deutlich größer gewordenen Prüfungskommission: „Wenn Sie zum Theater gehen wollen, warum studieren Sie dann nicht Gesang?“ Ein Klaviersachverständiger setzte sich gleich an den Flügel und spielte mir einzelne Töne und Tonfolgen zum Nachsingen vor. „Musikalisch sind Sie ja“ sagte er, verschwand und kam nach einer Weile mit einem „Gesangsprofessor“ wieder. Dieser unterzog mich einer erneuten Stimmprüfung. Befund: lyrischer Bariton. Wir haben dann ausgemacht, dass ich neben den 2 Gesangsstunden wöchentlich auch noch 1 Stunde Klavier nehmen kann, jetzt aber als Nebenfach. 18. Oktober 1952 Ich bin wieder ins Mozarteum zu den Herren von der Prüfungskommission. Ja, es wäre nun eigentlich alles in bester Ordnung, sagten sie, man könnte mir nun einen Lehrer zuteilen. Aber da wäre ein Brief meines Vaters an den Direktor Bernhard Paumgartner eingetroffen, und sie wollten dem Herrn Direktor nicht vorgreifen und ihm die Wahl meines Lehrers überlassen. Also am nächsten Tag wieder ins Mozarteum. Paumgartner war sehr freundlich, hatte aber keine Zeit und nahm mich kurzerhand als Gast in sein Seminar mit (praktische Musikgeschichte, Generalbass, Auslegung von Mozart-Rezitativen etc.) Trotz meiner spärlichen musikgeschichtlichen Kenntnisse konnte ich ihm doch einmal ein „Sehr gut, Herr Pflanzl“ entlocken. Von den acht Teilnehmern waren zwei Deutsche, die anderen Engländer und Amerikaner. Es war hochinteressant, aber zu meinem Ziel kam ich natürlich wieder nicht: nach Schluss des Unterrichts (drei Stunden später!) hatte der Herr Direktor es wieder sehr eilig.

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Jetzt darf ich kommende Woche (nach Voranmeldung natürlich) zum achten Mal erscheinen und ihm irgendein Lied vorsingen. Ich werde noch einmal zu Bernhard Paumgartner bestellt und nach einem kurzen Gespräch meint er, ich solle ihm am nächsten Tag Schuberts „Forelle“ vorsingen. Ich lerne also über Nacht dieses nicht ganz einfache Lied und erscheine am nächsten Morgen vor der Türe zum Heiligtum, dem ersten Zimmer rechts vom Eingang, mit der einzigen Türe im Hause, die man von innen verriegeln kann. Der Herr Direktor persönlich begleitet meinen Liedvortrag und dann bin ich endgültig aufgenommen für das Hauptfach Gesang, ganz einfach, ohne Prüfungssenat oder Protokoll, der Herr Direktor hat entschieden und das genügt.

27. Oktober 1952 Mit dem Mozarteum hat es endlich geklappt. Zu Paumgartner durfte ich zwar erst noch fünf Mal kommen (er hatte nie Zeit), bis er mich für aufnahmewürdig befand. Infolge dieses Zeitaufschubs ist aber jetzt leider nicht mehr möglich, einen Klavierlehrer zu bekommen. Der Unterricht läuft ja bereits seit 14 Tagen, alles Lehrkräfte waren schon belegt. Auch mit Gesang hat es gerade noch geklappt. Mein Vater hat die Entwicklung in Salzburg sehr aufmerksam verfolgt und versucht nun, das neue Studienziel mit guten Ratschlägen abzusichern:

1. Oktober 1952 Pass nur beim Gesangsstudium auf, Du hast viel gute und viel schlechte Sänger gehört und dadurch ein gutes Ohr bekommen. Übe viel auf die „NG“-Verbindungen (h—nnnng, h-nnnngö, hnnnnga), achte, dass die Zunge immer gut unten liegt und mit den Vorderzähnen Fühlung hat, verbrüll Dich nicht und singe lieber das erste Jahr um zwei, drei hohe Töne weniger, übe den Übergang Mittellage Tiefe, Mittellage Höhe, immer leicht und locker singen, nicht mit dickem Hals und Anstrengung, Nase als gewölbten Schild denken und den Ton reinlenken, aber nie näseln. Atemübungen machen, lernen, die Luft so als ob man pfeifen möchte ausblasen, aber beherrscht ausblasen, dabei gedanklich die Einstellung des Singens verfolgen, wie sich das A, das O, das I verschieden formt. Wenn Du Schwierigkeiten hast, frage mich, wenn ich auch kein guter Sänger bin, so habe ich doch ein gutes Gefühl dafür. Merke Dir: es gibt keine Methode, die allein selig macht. Du musst Dich kennen lernen, hineinhorchen

160 4. Wahlheimat Salzburg in Dich, das ist die große Kunst. Aber raussingen, Burschl, gelt. Es muss mit der Stimme etwas werden, sonst ist es ein Hungerleiden. Als alter Salzburger kann ich Dir sagen, dass auch der Geist der Stadt, der Landschaft, der schönen Bauten, der ausgeglichenen Plätze, dass diese Melodie des salzburgischen Geistes für Dein Leben ein Beglückendes bleibt, wahrhaftig ohne Maß. Sei der „städtische Genius“ mit Dir, sei aber auch etwas mit vom Geiste Paracelsus, vom Boden des alten Rom, sei alles in allem Deine Salzburger Zeit, nach dem Fundament unseres bisherigen gemeinsamen Lebens, die erste gute Bauhütte! Dein Vater 11. November 1952 Mein Gesangslehrer (er heißt also endgültig Haupt-Stummer) ist zurzeit krank, es ist sehr langweilig ohne Unterricht. 19. November 1952 Mein Gesangslehrer ist schwer erkrankt und wird vor Weihnachten bestimmt nicht unterrichten. Als Vertretung habe ich ab nächsten Freitag Unterricht bei Prof. Franz Koblitz, dem Leiter der Opernschule. 2. Dezember 1952 Ich gehöre zu den fünf Auserwählten, die Prof. Koblitz zugeteilt wurden. Er hat mir im Laufe eines Tages rund 1½ Stunden Unterricht erteilt, mit langen Pausen natürlich. Der Unterricht bei ihm ist noch interessanter. Er ist sehr vorsichtig mit meiner Stimme, aber auch sehr genau in Allem. 9. Januar 1953 Seit vorgestern wird im Mozarteum wieder die alte Leier gedreht. Der Anfang ist immer unangenehm und man braucht ein paar Tage, ehe alles richtig eingespielt ist. Heute hatte ich Gesangsstunde, zu meiner großen Freude noch bei Koblitz. Mein alter Lehrer ist zwar schon wieder da, aber nur, weil man ihm sein Gehalt entziehen wollte. Er ist noch nicht gesund und so übernimmt Koblitz weiterhin einen Teil seiner Schüler. 16. Februar 1953 Im Mozarteum macht man mir wieder einmal Schwierigkeiten: Ich könnte die ganzen Nebenfächer (ohne Gesang) nur belegen, wenn ich jedes Fach einzeln

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bezahle. Außerdem wäre an einen Klavierunterricht nicht zu denken, da gar kein Platz frei sei. Bin dann sofort zu Koblitz gegangen, der die Sache jetzt wohl regeln wird. Mit Frl. Benedikt, der Klavierlehrerin, geht es schon in Ordnung. Das Mozarteum ist halt leider ein großer Saustall. 1. März 1953 Im Mozarteum habe ich natürlich wieder großen Ärger. Vierzehn Tage bin ich in die Kanzlei gelaufen, aber es war nichts zu erreichen. Frl. Benedikt hatte man einfach einen anderen Schüler zugewiesen, bei dem schon „Alles erledigt sei, während es bei mir noch ungewiss wäre, ob ich überhaupt käme“. Wie ich das hörte, hab’ ich es satt bekommen und meinen Wunsch geäußert, ganz auszutreten. Am nächsten Tag ging es dann plötzlich: Ich habe Klavier als Hauptfach bekommen (was ja im Herbst anscheinend unmöglich war), allerdings bei einer anderen Lehrerin, daneben besuche ich „ausnahmsweise“ sämtliche Nebenfächer für Gesang. Außerdem kostet das Ganze jetzt noch um 70 Schilling weniger als im ersten Semester. Es ist eben alles Protektion im Mozarteum. – Übrigens habe ich die Semesterabschlussprüfung bei Sauer mit 1 bestanden. Italienisch kommt morgen dran. 8. März 1953 Im Mozarteum geht jetzt alles in bester Ordnung, meine Klavierlehrerin ist sehr nett. Koblitz musste letzte Woche die Gesangstunden ausfallen lassen, er wird sich wohl wieder einmal überarbeitet haben. 15. März 1953 Professor Koblitz ist schwer erkrankt. Er wurde vorige Woche schon ins Krankenhaus gebracht und muss wahrscheinlich operiert werden. In der Zwischenzeit soll ich bei seiner Frau Korrepetitionsstunden nehmen (einfachere Schubertlieder). Der reine Gesangsunterricht muss allerdings so lange ausfallen. Was macht so ein Achtzehnjähriger tagsüber, wenn der Hauptfachlehrer krank ist? Jedenfalls mehr, als er seinen Eltern berichtet. Natürlich ist abends immer die Maturaschule, im alten Schulgebäude am Hanuschplatz. Dafür muss man dann auch ein bisschen lernen, vor allem Heimatkunde (was weiß schon ein Berliner vom Innergebirg?) und überhaupt einmal das österreichische Deutsch, wenigstens um es zu verstehen. Man besucht auch regelmäßig seinen Lehrer im Krankenhaus, eine bis heute entsetzliche Erinnerung, denn die Lungenabteilung des Landeskrankenhauses

162 4. Wahlheimat Salzburg ist damals in Baracken untergebracht, die noch aus Kriegszeiten direkt neben den Eisenbahnschienen stehen. Aber es gibt auch angenehmere Aspekte. Das Stadtbild wird von der amerikanischen Besatzungsmacht geprägt, die am Alten Markt in einem Eckhaus ein Amerikahaus eröffnet hat mit einer Bibliothek im ersten Stock. Hier kann erheblicher Nachholbedarf in amerikanischer Literatur befriedigt werden, was ich auch regelmäßig wahrnehme. Bei schönem Wetter dann mit dem Postbus auf den Gaisberg, auf der Zistelalm stehen Liegestühle bereit, noch schnell ein Kracherl in den Schnee gesteckt und einem herrlichen Tag steht nichts mehr im Wege.

13. Mai 1953 Am Samstag wurde Prof. Koblitz aus dem Krankenhaus entlassen, und er benützte gleich den Zeitraum bis zu seiner Abreise zur Nachkur, um mir mehrere Stunden zu geben. Er war ganz erstaunt über die Fortschritte, die meine Stimme angeblich gemacht hat. Vom Tenor ist er aber doch abgekommen und tippt jetzt mehr auf lyrischen Bariton. Er war wohl etwas traurig, als ich ihm von meinen Heimkehrplänen erzählte, aber er hielt es auch für vorteilhafter. Bei meinem zweisemestrigen Gesangsstudium habe ich also in kurzer Folge zwei Gesangslehrer verbraucht, aber an meinem kleinen lyrischen Bariton wird es hoffentlich nicht gelegen haben. Wichtig ist daneben die ganze Palette der zur musikalischen Ausbildung gehörenden Nebenfächer, vor allem die Sprecherziehung bei Geza Rech, dessen Kollege ich dann viele Jahre später werden darf, und am Freitagnachmittag die gefürchtete Harmonielehre samt Kontrapunkt bei Professor Franz Sauer im Chorsaal. Das Studium dauert nur zwei Semester, dann geht es zurück nach Berlin. Ein Berufsziel „Sänger“ steht in dieser Zeit für mich nie zur Diskussion, schließlich habe ich meinen Traumberuf ja schon mit elf Jahren entdeckt. Aber es gab in diesem einen Jahr in Salzburg sehr viele nützliche Dinge für mich zu lernen und wertvolle Begegnungen mit großen Lehrerpersönlichkeiten.

Das alte Mozarteum Als es in Salzburg noch die Rote Elektrische gab, die vom Hauptbahnhof durch die Schwarzstraße nach Morzg und weiter fuhr, da soll ein Schaffner an der Haltestelle in der Schwarzstraße immer „Morzgateum“ ausgerufen haben. Mein Onkel Erich hat das gerne erzählt und der war ein echter Salzburger, einer, der in Gnigl

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schon Heimweh bekam, wie er immer wieder betonte. Es muss also eine wahre Geschichte sein. Vielleicht war damals der Name Mozarts noch nicht so im Bewusstsein der Salzburger verankert? Inzwischen hat es sich aber herumgesprochen, dass eine Zauberflöte sehr wohl „Menschenglück und Zufriedenheit“ vermehren kann, in allen Gassen der Altstadt hört man das Lied der Registrierkassen: „Das klinget so herrlich, das klinget so schön“. In dieser Zeit nun führt mein Weg wieder nach Salzburg, zurück an das gute alte Morzgateum in der Schwarzstraße, auch das eine merkwürdige Geschichte. Es ist im Herbst 1968, ich inszeniere gerade an der Stuttgarter Oper, als mich am Ende einer Bühnenprobe ein Herr anspricht: Alexander Paulmüller, Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker und musikalischer Leiter der Opernklasse am Mozarteum in Salzburg. Er fragt mich, ob ich nicht Lust hätte, im nächsten Jahr die szenische Leitung des Opernkurses bei der Internationalen Sommerakademie des Mozarteums zu übernehmen. Ich weiß bis heute nicht, wie man damals ausgerechnet auf mich gekommen ist, erbitte mir aber eine Bedenkzeit, da es immerhin um sechs intensive Arbeitswochen im Sommer geht. Als ich dann doch zusage, beginnt eine Zusammenarbeit mit dem Mozarteum, die zunächst einmal dreizehn Jahre in der Sommerakademie dauern wird und schließlich zu einer festen Bindung an das Haus führt, an dem ich vor siebzehn Jahren in zwei Semestern zwei Gesangslehrer verbraucht hatte. Das Wiedersehen mit den alten Unterrichtsräumen in der Schwarzstraße sechzehn Jahre später – nun als Lehrer an der Sommerakademie 1969 – wird daher ein berührender Augenblick. Die von außen so harmonische Jugendstilarchitektur beherbergt in ihrem Inneren ja nicht nur die Stiftung Mozarteum mit Konzertsälen, Bibliothek und Direktion, die „Salzburger Liedertafel“ und die „Schlaraffia“, sondern daneben noch eine komplette Musikhochschule. Entsprechend sind im Sommer auch sämtliche Kurse der Internationalen Sommerakademie in diesem Gebäude untergebracht. Beim Betreten der nostalgisch trüb beleuchteten Gänge mit dem schrecklichen Linoleumboden fühlt man sich um hundert Jahre zurückversetzt. Aber die Sommerakademie ist jung und voller Leben, Lehrer aus aller Welt, Jugend aus aller Welt. Die Arbeit ist anstrengend, denn es werden in der Regel rund dreißig Teilnehmer in den Opernkurs aufgenommen und die jungen Leute verlangen etwas für ihr Geld. So wird der Probenbeginn von 10.00 Uhr auf Wunsch der Studierenden oft um ein bis zwei Stunden vorverlegt und das geht dann dahin bis spät in den Abend. Hier gelten keine Ruhezeiten, hier werden keine Pausen reklamiert, alle wollen so viel wie nur irgend möglich profitieren, das heißt: arbeiten. Lernen durch Lehren – das wird hier meine Devise, denn man muss wirklich das gesamte

164 4. Wahlheimat Salzburg Opernrepertoire im Kopf haben und sich gleichzeitig in mindestens vier verschiedenen Sprachen ausdrücken können. Der Unterschied zur Regie-Arbeit am Theater wird sehr schnell deutlich, der Unterschied zwischen inszenieren und unterrichten. Mein Urlaub ist in den folgenden Jahren zwar auf ein Minimum reduziert, aber es macht Spaß, gerade im Gegensatz zum Berufstheater, wo Probendauer und Ruhezeiten streng reglementiert werden. Und natürlich trifft sich im Sommer in Salzburg der halbe Stimmenwald, Wiedersehen am laufenden Band mit Sängerinnen, Sängern und Dirigenten: Rita Streich, Kim Borg, George London und sogar der eigene Vater! Unvergesslich für mich gleich im ersten Jahr 1969 die Begegnung mit Bruno Maderna. Aber auch aus der Teilnehmerliste der Opernkurse bleiben Namen in Erinnerung, die man später in den Programmheften der Salzburger Festspiele finden kann, wie Kristine Ciesinski, Laurence Dale, Siglinde Damisch, Maria Fausta Gallamini, Marjana Lipovsek, Georgette Sezonow, Deon van der Walt oder Edith Wiens. Ein Name aber bleibt vor allen anderen: Paul Schilhawsky. Die Sommerakademie ist ja immer in zwei Kursperioden geteilt, an deren Ende eine kleine Feier für die Lehrenden in der Frohnburg stattfindet. Der Opernkurs läuft über beide Kursperioden und so kann ich zweimal an dieser Feier teilnehmen. Das habe ich nun wirklich genossen, denn dort hält Schilhawsky, Rektor des Mozarteums von 1971–1979 und damit auch Leiter der Sommerakademie, jedes Mal eine Rede, brillant formuliert, witzig und dabei so locker, dass sie wie improvisiert wirkt. Ich bin beeindruckt von der Persönlichkeit, vom Wissen und von der Eleganz, mit der dieses Wissen präsentiert wird. Schilhawsky hat mir gleich zu Beginn meiner Tätigkeit das Versprechen abgenommen, der Sommerakademie treu zu bleiben, solange er sie leiten würde. Es war ein hartes Versprechen, denn die Kursdauer ist identisch mit den Theaterferien in Deutschland. Ich komme also Ende Juni direkt vom Theater nach Salzburg und fahre nach sechs Wochen Opernkurs von Salzburg wieder direkt zum Probenbeginn! Aber so folgen dem ersten Jahr in der Sommerakademie noch zwölf weitere Jahre und im Laufe dieser Jahre entsteht eine sehr persönliche Beziehung zu Paul Schilhawsky, von der ich sehr viel profitieren kann. Er weiht mich ein in die Geheimnisse österreichischer Bürokratie: dass die Hälfte aller an ein Amt gestellten Anträge durch das Ableben der Antragsteller erledigt wird, dass „Schubladieren“ zu den bevorzugten Amtstätigkeiten gehört und dass unter seinen Lehrern die „Wartburger“ (die noch keine Professur haben) wesentlich intensiver unterrichten als die „Habsburger“. Aber auch, was ich heute über das Lied weiß, das verdanke ich ihm. Wir haben viele Pläne geschmiedet, eine Sendereihe über das Lied für das Fernsehen geplant unter Verwertung der unglaublichen Schätze, die das ORF- Archiv in

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Wien verwahrt, viele Projekte, die leider nicht mehr realisiert werden konnten. Aber ich bin stolz darauf, dass er meiner Anregung gefolgt ist und seine Erfahrungen schriftlich festgehalten hat – für die Lied-Freunde der nächsten Generationen. Noch einen Tag vor seinem Tod hat er mir geschrieben, aus Paris, voller Optimismus, wir wollten uns hier in Salzburg treffen. Den Brief habe ich erst zwei Monate später erhalten – es war wie ein Gruß aus einer anderen Welt. So wird dann eines Tages aus dem Sommer-Aufenthalt in Salzburg ein fester Wohnsitz und aus dem Sommerkurs werden sechzig Unterrichts-Semester am Mozarteum. Das ist nun doch ein großer Wechsel, der Schritt vom Theater zur Hochschule: der Verzicht auf professionelle Arbeitsbedingungen, keine öffentlichen Reaktionen auf die geleistete Arbeit, kein Inszenieren, sondern Lehren, Weitergeben, Geben und immer wieder Geben. Und noch eine große Veränderung gibt es im Verhältnis zu den Kolleginnen und Kollegen. Am Theater trifft man sich, rauft sich zusammen und bleibt einige Zeit, dann trennt man sich, begegnet sich irgendwo wieder. Hier kommen und gehen die Studierenden, die Lehrenden bleiben als Gruppe immer zusammen, eine Art Lebensgemeinschaft, die ein gewisses Umdenken erfordert. Es ist fast wie in einer Ehe, nur kann man sich die Partner nicht immer aussuchen. Auch die Aufgabenstellung ist eine andere geworden. Man lebt zwar immer noch im Stimmenwald, aber die herrlichen großen Bäume sind weit weg, es ist eine Schonung daraus geworden, pflege- und schutzbedürftig. Wenn es einen Borkenkäfer für Stimmen geben würde, dann wäre es ja noch relativ einfach, man müsste ihn eben vernichten. Die Borkenkäfer, von denen Stimmen bedroht werden, die heißen nicht nur ganz anders, sie sind auch schwieriger zu bekämpfen. Das Ganze also findet damals im alten Haus des Mozarteums in der Schwarzstraße statt. Noch einmal zur Klarstellung, denn für manche Salzburger ist das immer noch verwirrend: Das Gebäude mit seinen Konzertsälen und der Bibliothek gehört der „Stiftung Mozarteum“, die „Akademie Mozarteum“, aus der später die „Kunsthochschule Mozarteum“ wird, hat hier nur die Unterrichtsräume gemietet. Man kann es sich kaum vorstellen: der gesamte Unterrichtsbetrieb einschließlich der Verwaltung mit Ausnahme von Schauspiel, Bühnenbild und dem Orff-Institut ist im Gebäude in der Schwarzstraße untergebracht. Das ist natürlich eng, aus Platzmangel sind in jedem Unterrichtsraum mehrere Klassen untergebracht. Der Unterricht muss also schichtweise erfolgen, es funktioniert wohl oder übel. Und während offiziell aus der Akademie nun eine Kunsthochschule wird, gibt es einen Fehlbestand an 45 Unterrichtsräumen und 14 Übezimmern. Die Gesangsklassen sind im Erdgeschoss verteilt, rechts und links von der Treppe. Da gilt es für die Studierenden genau zu beachten, auf welcher Seite ihr Unterrichts-

166 4. Wahlheimat Salzburg raum liegt. Sieht man sie zufällig auf der anderen Seite, kann das leicht zu einem peinlichen Verhör durch den eigenen Lehrer oder die eigene Lehrerin führen. Es könnte ja sein, dass sie mit einer anderen Gesangsklasse kokettieren? Im Zentrum der Ausbildung in der Gesangsabteilung steht natürlich der Gesang. Bewegung ist Nebensache und stört eher, denn es lenkt von der Konzentration auf die Gesangstechnik ab. Es genügt, wenn man sich beim Singen am Flügelknopf festhält. Wozu sonst hätten alle Flügel in der Rundung diesen Drehgriff? Ausdruck, was ist das? Wir sind doch keine Schauspieler! Vermittelt wird also die zugegebenermaßen recht komplizierte Gesangstechnik. Dafür hat man eine Art Geheimsprache entwickelt, jeder für sich, in orientalischer Bildhaftigkeit. So lassen die einen „die Glocke schwingen“, während die anderen „den Schnorchel ausfahren“, man konzentriert sich auf „die Begegnung des Zungenrückens mit dem weichen Gaumen“ und man sollte immer an die Grundregel denken „Erst einfädeln, dann saugen!“ Unterrichtet wird so, wie man selber singt – was nicht immer als Kompliment zu verstehen ist. Die Kunst des Singens lässt sich nicht nur mit Worten vermitteln, gelegentlich braucht man auch die Hände dazu. Das ist nicht ganz ungefährlich, denn manchmal präsentieren sich noch unterentwickelte Stimmen in schon ganz schön entwickelten weiblichen Körpern. Daher mein Rat an den unbefangen vor verschlossenen Zimmertüren Wartenden: Wenn man draußen nichts mehr hört, heißt das nicht immer, dass drinnen kein Unterricht stattfindet! Für zukünftige Primadonnen kann dies auch als wertvolles Überlebenstraining im späteren Umgang mit Agenten, Intendanten, Generalmusikdirektoren und Oberspielleitern verstanden werden. Das mit dem Oberspielleiter ist aber erst einmal vorbei, es heißt wieder ganz klein beginnen. Szenische Aufführungen können nur im Wiener Saal stattfinden und einmal pro Jahr im Großen Saal der Stiftung Mozarteum, einem herrlichen Konzertsaal. Es gibt aber keine richtige Bühne, keine Technik, keinen Orchestergraben – der Ernstfall Oper kann hier praktisch nicht probiert werden. Im Grunde ist das auch gar nicht erwünscht – von den anderen Klassenleitern. In meiner Naivität denke ich mir, wenn man den Konzertbereich ausklammert (Solisten- und Orchesterkonzerte), dann wollen eigentliche alle, die hier im Hause studieren, später einmal an einem Theater engagiert werden. Aber irgendwie passt das alles nicht zusammen, denn die Leiter der Instrumentalklassen protestieren, wenn ihre Studenten im Orchester spielen sollen, die Pianisten weigern sich, als Korrepetitoren mit den Sängern zusammenzuarbeiten und die Gesangslehrer schimpfen, wenn ihre Studenten im Chor singen sollen. Tenor aus allen Klassenzimmern: „Wir bilden nur zukünftige Solisten aus! Bitte keine Störungen in unserem Einzelunterricht!“ Im gleichen Zeitraum setzt sich der Chor des Salzburger Landestheaters etwa zur Hälfte aus ehe-

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maligen Studierenden des Mozarteums zusammen, beim Orchester habe ich nicht nachgezählt. Das war eben so, immer schon, was soll man tun? Da türmt sich also ein Gebirge an Vorurteilen auf, gestützt auf nicht mehr ganz aktuelle Ausbildungsziele. Paul Schilhawsky als erster Rektor des soeben zur Kunsthochschule aufgestiegenen Mozarteums fordert daher in seiner Inaugurationsrede am 19. Juni 1971 zu Recht eine „permanente Aktualisierung“. Wo fängt man damit an? Am besten immer bei den Institutionen. Die Studieneinrichtungen am Mozarteum bestehen damals aus acht Abteilungen und dem Orff-Institut. Die von den Abteilungen gewählten Abteilungsleiter bilden zusammen mit dem Rektor das Gesamtkollegium und haben gegenüber dem Ministerium die Interessen der Kunsthochschule zu vertreten (1971 sind das etwa 140 Lehrer, 1000 Studierende und 24 Verwaltungsangestellte). Man lässt sich also möglichst schnell in das Abteilungskollegium wählen, steigt vom Schriftführer bald zum Abteilungsleiter auf und kann nun schon kleine Schritte unternehmen. Zunächst einmal gegen die Wissenschaftsfeindlichkeit im Gesangsunterricht. Dank einer Initiative aus Wien kommt es zu mehreren gesangspädagogischen Symposien, wo die Gesangs-Lehrkräfte der drei österreichischen Kunsthochschulen mit dem neuesten Stand der Wissenschaft konfrontiert werden, wo führende Mediziner und Phoniater aus Dresden, Erlangen, München und Wien in Vorträgen und Diskussionen wichtige neue Erkenntnisse vermitteln. In der Folge fährt dann einmal im Jahr ein Bus von Salzburg nach Wien zur phoniatrischen Untersuchung für neu aufgenommene Gesangsstudierende. Auch das Märchen von einer Gesangsausbildung, die durch zu viel Bewegung empfindlich behindert wird, kann bei dieser Gelegenheit relativiert werden. In Zusammenarbeit mit meiner Frau entsteht ein Ausbildungsprogramm ab dem ersten Studiensemester, das damals von den anderen beiden Kunsthochschulen in Österreich übernommen wird. Das alles liest sich leicht, ist aber in Wirklichkeit ein harter Kampf, der mit der Zeit die schönen Seiten unseres Stimmenwaldes vergessen macht. Damit man nicht beim Lesen auch noch in diesen Tunnelblick hineingezogen wird, folgt jetzt eine kleine Unterbrechung. Es gibt ja schließlich hier in Salzburg auch noch andere Dinge neben dem Mozarteum.

Träumen mit Trakl Nun ist also Salzburg unser fester Wohnsitz geworden, wir wohnen mitten in der Stadt, ich gehe täglich durch die engen Gassen. So wird man vom Touristen zum

168 4. Wahlheimat Salzburg Einheimischen – nein, das stimmt nicht ganz: auch nach Jahrzehnten bleibt man doch ein Fremder. Es liegt wohl an der Sprache und wenn man ein halbes Leben im deutschen Sprachraum verbracht hat, dann kann und will man das nicht einfach auslöschen, das Österreichische bleibt den echten Einheimischen vorbehalten. Wann immer ich in Salzburg meinen Namen nenne und auf Befragen zugebe, der Enkel des Mundartdichters Otto Pflanzl zu sein, dann heißt es: „Und dann reden Sie so ein scheußliches Deutsch?“ Wann immer wir, meine Frau und ich, in einem Geschäft der Innenstadt etwas bestellen möchten, dann heißt es: „Wie viele Tage sind Sie denn noch hier?“ Nun, wir leben schon über vierzig Jahre hier in dieser Stadt, die weltweit die „Mozartstadt“ heißt. Aber es tut mir leid, ich finde hier nur wenig vom Geiste Mozarts, weder seine Verspieltheit, noch seine Gefühlstiefe und schon gar nicht seine Genialität. Das Ganze ist wohl eine Erfindung des Tourismus – allerdings, das muss man zugeben, eine geniale. Und im Namen Mozarts gibt es hier auch alles, was man sich nur wünschen kann: das Geburtshaus, das Wohnhaus, das Mozarteum, die Mozartwoche, die Festspiele – mehr können die Nachgeborenen für ein Genie fast nicht mehr tun. Nur Mozarts Stimme, die kann ich hier nicht hören. Vielleicht liegt es ja daran:

Mozart hat diese Stadt nun wirklich gehasst und hat ihre Bewohner bekanntlich mit einem Vokabular bedacht, das an Verbalinjurien grenzt. Darüber freilich hat Salzburg von je hinweggesehen und behauptet seinen ethnischen Anspruch, der ja immer dort herhalten muss, wo das Verhältnis harmonischer Beziehung zwischen Held und Heimat versagt.19 Nun, wie auch immer, doch nach meinem Gefühl hätte Salzburg eher das Prädikat einer „Traklstadt“ verdient und es ist diese Stimme, der ich jetzt eine Weile folgen möchte, der wichtigsten Stimme, die diese Stadt im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat: Georg Trakl. Geboren in der Enge der Altstadt wie Mozart, allerdings in einer Kaufmannsfamilie, beschwört er einerseits in seinen Gedichten immer wieder „Die schöne Stadt“. So heißt es in einem Brief an seine älteste Schwester Maria:

Ich weiß nicht ob jemand den Zauber dieser Stadt so wie ich empfinden kann, ein Zauber, der einem das Herz traurig vor übergroßem Glücke macht.20

19 Wolfgang Hildesheimer „Mozart“, S. 13 20 Georg Trakl, Brief vom Oktober 1908

Träumen mit Trakl

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Aber er ist sich der Widersprüche bewusst, von denen dieses Salzburg lebt und die eigentlich erst seinen unvergleichlichen Reiz ausmachen: die mittelalterliche Enge einer Stadt von biederen Kaufleuten, durch die aus Italien eingebürgerten Kirchenfürsten aufgesprengt, mit weiten Plätzen versehen und mit jeweils aktueller Weltarchitektur konfrontiert, Mittelalter gegen Renaissance und Barock. Wenn man das vermischt mit kleinbürgerlichem Geschäftssinn und großherrschaftlicher Drohgebärde, dann ergibt sich schon ein ganz gutes Bild, vielleicht so falsch nicht bis in unsere Tage:

Wie dunkel ist diese vermorschte Stadt voll Kirchen und Bildern des Todes.21 Das Haus Rudolfskai 32 ist das Geburtshaus von Georg Trakl. Man hat sich erst spät seiner erinnert und 1947, also wohl aus dem Anlass „60. Geburtstag“ eine Straße nach ihm benannt, nein, nicht in der Altstadt, wo er gelebt hat, am Stadtrand, draußen in Parsch am Fuße des Kühbergs. Seit dem „60. Todestag“ 1973 heißt das Geburtshaus „Trakl-Haus“ und trägt auch seitdem die attraktivere Anschrift Waagplatz 1a. Dort ist heute die Trakl–Gedenkstätte und ich hatte die Gelegenheit, dort ein Jahr lang arbeiten zu dürfen. Der Aufenthalt in diesen Räumen, in denen Georg Trakl einen Teil seiner Jugend verbracht hat, die Bilder und Dokumente, die ganze Atmosphäre, da konnte man schon mit ihm träumen:

„Ich sah mich durch verlass’ne Zimmer gehen“ 22 Vertretungsweise durfte ich sogar manchmal Besucher durch diese Zimmer begleiten, doch eigentlich hatte meine Arbeit weniger mit Trakl zu tun: Die Gedenkstätte wird von der Salzburger Kulturvereinigung verwaltet und dort hatte ich die Betreuung des Salzburger Straßentheaters übernommen, durfte daneben auch ein wenig an der Gestaltung der Konzertprogramme mitwirken. Den Umgang mit zeitgenössischer Musik gewohnt, schien mir das Musikangebot in Salzburg von Anfang an etwas einseitig, um nicht zu sagen konservativ. Meist beruft man sich dann auf einen Publikumsgeschmack, der die Programmgestaltung beeinflusst, auf Wünsche, die bedient werden müssen. Meine Theatererfahrungen sagen genau das Gegenteil, denn bei vernünftiger Dosierung lassen sich auch eingeschworene Abonnenten durchaus zu neuen Hör- und Sehgewohnheiten verleiten. Aber Salzburg ist doch

21 Georg Trakl, Brief vom Februar 1913 22 Georg Trakl „Das Grauen“

170 4. Wahlheimat Salzburg anders, ich hätte gewarnt sein müssen, denn als im Juni 1976 die Tschechische Philharmonie mit einem wirklich interessanten Programm gastierte – Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ und Beethovens Symphonie Nr. 9 – da liefen die Telefone heiß in der Kulturvereinigung. Mit höflicher Stimme erkundigte man sich, wie lange denn das Stück von Schönberg dauern würde. Ich ahnte Schreckliches und so war es dann auch: Das Große Festspielhaus füllte sich erst nach der Pause! Dabei ist diese Kombination Beethoven – Schönberg schon beinahe ein Klassiker, Michael Gielen hatte das viel früher und wesentlich radikaler in den Konzertsälen eingeführt. Ich habe aber meine Bemühungen nicht gleich aufgegeben und als ich dann wirklich erreichte, das renommierte Göbel-Trio aus Berlin mit dem Tripelkonzert op. 32 von Heimo Erbse ins Programm zu nehmen, war ich richtig stolz auf den erreichten „Fortschritt“. In einer Kritik war dann zu lesen: „Der Großteil des Publikums reagierte verärgert, ein Teil verließ schon nach dem 2. Satz den Saal, Pfiffe und Buhs gab es auch.“23 Als das Konzert stattfand, war ich allerdings schon nicht mehr bei der Kulturvereinigung, meine Verehrung für Trakl aber habe ich mitgenommen.

Verzaubert glänzt im Grau ein Opernhaus24 Man kennt in Salzburg – wenn man ihn kennt – vor allem den Lyriker Trakl. Aber auch der weniger bekannte Dramatiker hat hier schon sehr früh, mit 19 Jahren, seine Stimme erhoben. Am 31. März 1906 findet im Stadttheater die Uraufführung des Einakters „Totentanz“ statt, zwar umrahmt von einem Lustspiel und einer Operette von Offenbach, aber immerhin. Die Gründe für diese Kombination kennen wir inzwischen: ohne Offenbach wäre wohl keiner hingegangen. Meine Großmutter war in dieser Vorstellung – von Anfang an! – und darauf bin ich heute noch stolz. Die Presse war nicht so schlecht und so präsentierte man noch im gleichen Jahr einen weiteren Einakter von Trakl: „Fata Morgana“. Das wurde leider ein richtiger Reinfall, die Presse war schlecht und Trakl vernichtete daraufhin den Großteil seiner dramatischen Werke. Das haben wir jetzt davon! Thomas Bernhard dürfen wir nicht spielen, Trakl können wir nicht. Ich verzichte wohl lieber darauf, an dieser Stelle ein Zitat von Thomas Bernhard zu bringen! In meinen Träumen habe ich mir oft dieses Jahr 1906 vorgestellt – es muss ein ziemlicher Schock für das Salzburger Publikum gewesen sein, nach den seriösen Opern und den erfolgreichen Operetten nun plötzlich den „Totentanz“ eines Neun-

23 „Salzburger Volksblatt“ vom 5. März 1979 24 Georg Trakl „Unterwegs“

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zehnjährigen. Der Theaterbesuch gehörte ja zum guten Ton des gehobenen Bürgertums, man hatte ein hübsches Haus, in dem man sich zeigen konnte. Damals hieß es noch Stadttheater, erbaut 1893 als eines der vom Architekturbüro Helmer und Fellner erbauten fünfzig Theater, schon bei der Eröffnung mit einem Etikett versehen: „Es ist unansehnlich von außen, sehr schmuck und sehr akustisch im Inneren.“25 Daran hat sich in den vergangenen 120 Jahren nicht viel geändert. Vielleicht ist es heute seit der letzten Renovierung von außen attraktiver geworden, dafür wird der Innenraum durch den ständig wachsenden Bedarf an Beleuchtungstechnik immer weiter verschandelt. Aber aus dem Stadttheater von damals ist inzwischen ein Landestheater geworden, in der englischsprachigen Eigenwerbung nennt man sich sogar Salzburg State Theatre. Wie dieses Haus in der Vorstellung seiner Architekten hätte aussehen können, das kann man heute noch in Iaşi, einer Stadt in Rumänien nahe an der Grenze zu Moldavien, überprüfen. Der Zuschauerraum ist identisch mit dem in Salzburg, aber das Theater liegt nicht neben einem Park, sondern mittendrin und hat daher den Architekten nahezu unbegrenzte Möglichkeiten geboten. Es beginnt mit einer großzügigen Auffahrt, mit breiten Freitreppen und ausgedehnten Foyers – alles das, was wir hier leider nicht haben. Es gibt eben viele Dinge, für die in Salzburg kein Platz mehr gewesen ist, wie ein kleiner Rundgang durch die Stadt leicht beweist. Wo sind sie denn geblieben, die großen Projekte: das Guggenheim-Museum im Mönchsberg, das Pflaster für den Residenzplatz, das Spaßbad, die Tiefgarage unter dem Makartplatz oder wenigstens eine zweite U-Bahn-Station? Wenn für etwas kein Platz vorhanden ist, dann hat das nicht immer mit Raumfragen zu tun, sondern eher mit Geschmacksfragen. Da kann man nun unserem Salzburg und seinen Bürgern nur ein mittelmäßiges Zeugnis ausstellen. Kunst im öffentlichen Raum war hier nie besonders beliebt. Nur schüchtern erinnern ein paar Zungenbärte im Hof des Rupertinums an den „echten Skandal“, den Friedensreich Hundertwasser damit anzettelte. Sie verhalten sich möglichst still, denn vor ihren Augen wurde vor gar nicht so langer Zeit der „Arc de Triomphe“ von der öffentlichen Meinung exekutiert. Kunstmäzene müssen ihre Geschenke immer sehr gut bewerben, damit sie auch angenommen werden. So ein Spaziergang durch die Stadt an Plätze, wo nicht ist, was hätte sein sollen, das wäre doch noch etwas Neues für unsere Fremdenführer. Da bliebe dann viel Raum für Erinnerungen, für Träume.

25 „Neue Freie Presse“ vom 2. Oktober 1893

172 4. Wahlheimat Salzburg Tief im Schlummer aufseufzt die bange Seele26 Auch Spaziergänge in die eigene Vergangenheit können sich in Traumwelten abspielen. Da vermischen sich dann manchmal die Fakten mit den Ahnungen. Hier ist einer meiner Albträume, der wie so oft in einem Theater spielt: Während einer Pause der Bühnenproben sitze ich mit dem technischen Direktor allein im Zuschauerraum und beklage mich wieder einmal, weil während der ganzen Probenzeit im Hintergrund der Bühne ein entsetzlicher Waldprospekt hängt – wie die Karfreitags­ aue im „Parsifal“ von 1882 in Bayreuth. Mein Gesprächspartner entschuldigt das mit umbautechnischen Gründen und meint, wir sollten aber jetzt einmal über die Müllaktion reden. „Müllaktion?“ „Ach so, hat Ihnen der Intendant das noch nicht erzählt? Er wird in Ihrer Inszenierung tonnenweise Müll aus dem Schnürboden auf die Bühne werfen lassen – an der Stelle mit dem lauten Zwischenspiel, da passiert ja sonst nichts auf der Bühne.“ Der Schock ist so gewaltig, dass ich sofort aufwache und erst langsam beruhigend feststellen kann: es war ja nur ein Traum. Aber nun beginnt die Grübelei. Wie kommt man auf so einen Traum? Hat es schon mal einen Intendanten gegeben, der… - nein. Aber dann doch, ja, nicht gerade mit Müll, aber immerhin! Wie alles damals zustande kam, habe ich erst sehr viel später erfahren: Mein Stuttgarter Intendant Schäfer hatte sich für mich um eine Gastinszenierung bemüht Dies führte dann zu meiner ersten Begegnung mit dem Salzburger Landestheater.

2. September 1960 Nach der Rückkehr aus dem Urlaub fand ich unter meiner Post einen sehr merkwürdigen Brief von Fritz Klingenbeck, dem Intendanten des Salzburger Landestheaters: „Wenn ich richtig informiert worden bin, haben Sie sich in der letzten Zeit in Salzburg aufgehalten ohne mich aufzusuchen, worüber ich sehr verwundert bin.“ Nun, ich bin es auch – schließlich bin ich doch kein Hellseher. Ohne mich je beworben zu haben, werde ich also 1960 für eine Inszenierung von „Figaros Hochzeit“ (richtig: auf Deutsch) an das Landestheater Salzburg eingeladen. Bühnenbildner wird Ernst Bruzek, er ist noch jünger als ich und Assistent von Caspar Neher. Wir treffen uns in Salzburg, entwerfen ein tolles Projekt und gehen dann zum Intendanten damit. Der sieht sich das an, sagt kein Wort, nimmt uns 26 Georg Trakl „Föhn“

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anschließend mit väterlich-nachsichtiger Fürsorge bei der Hand und führt uns in sein Dekorationsdepot beim Mirabellgarten (später war dort das Barockmuseum untergebracht und wenn nicht alles täuscht, wird hier in Zukunft für „The Sound of Music“ geworben werden). Er zeigt uns in einer Ecke ein halbes Dutzend alter Holzrahmen, mit ausgebeulter Leinwand bespannt. „Daraus könnt ihr jetzt euer Bühnenbild machen, zusätzlich stehen noch 500 Schilling zur Verfügung. Das wird wohl reichen für die Farbe.“ So fängt das Ganze an, aber wir sind jung und wir haben Ehrgeiz. So möchte ich im 3. Akt nicht die übliche Balletteinlage stattfinden lassen, sondern habe mir selbst eine kleine Choreographie erarbeitet und werde diese dann mit den Solisten und dem Chor selber einstudieren. Dummerweise nicht bedenkend, dass die Gattin des Dirigenten Erste Solotänzerin am Landestheater ist, der wichtigste Theaterkritiker mit der Ballettmeisterin des Landestheaters verheiratet ist und sogar der Intendant eine tänzerische Vergangenheit hat. Noch vor der ersten Probe habe ich es mir mit allen verscherzt.

16. Oktober 1960 in Salzburg Dauernde Änderungen der Grundrisse zwingen mich zwischen den Proben an den Schreibtisch. Die Probenarbeit selbst geht überraschend gut, es herrscht eine positive Atmosphäre. Die Leute sind sehr willig, natürlich unterschiedlich begabt. Mühsam ist die bekannte österreichische Mentalität, sprich Schlamperei. Es hat sich gezeigt, dass man mit jeder Abteilung des Hauses einmal Krach gehabt haben muss, um etwas zu erreichen. Überhaupt ist eben doch die Arbeitsweise an kleinen Theatern erschreckend. Mit meiner Arbeit bin ich gut vorangekommen. Das Stück ist mit den Solisten durchgestellt und auch schon leidlich probiert. Ich bin aber seit zwei Tagen mit mir selbst unzufrieden und finde das, was mir da eingefallen ist, fad und langweilig. Als ich dann bei der Generalprobe eine Applausordnung festlegen möchte, werde ich darauf hingewiesen, dass bei Premieren immer der Intendant die Applausregie übernimmt. Er lässt auf der Bühne ein Podest aufstellen, das mit Teppichen dekoriert wird (er hatte wohl aus früherer Zeit eine Schwäche dafür), ordnet darauf dekorativ alle abgegebenen Blumen an (er hatte auch ein Buch geschrieben „Lasst Blumen sprechen“) und dahinter stellt er dann das Ensemble auf. Nun, bei meiner Premiere hat er es jedenfalls nicht gemacht, aber ich habe natürlich danach nie wieder etwas von ihm gehört. Wenn es auch Blumen waren und kein Müll, als Alptraum verfolgt es mich noch heute. Aber ich will nicht ungerecht sein, als wir uns

174 4. Wahlheimat Salzburg einige Jahre später in Wien wieder begegnen, führt er mir stolz sein neues Haus, das Theater an der Wien vor. Die von mir verhinderte Blumenorgie war längst vergessen.

…den hohen Saal, den keine Feste mehr durchklingen.27 Es gibt aber noch eine andere, sehr merkwürdige Erinnerung an dieses Salzburger Intermezzo aus dem Jahre 1960. Die Theaterwelt wird damals noch von der älteren Generation beherrscht, mit 26 Jahren zählt man zu den wirklich sehr Jungen. So haben wir beide, mein Bühnenbildner und ich, keinen leichten Stand, was aber für unsere gute Zusammenarbeit nur hilfreich ist. Meistens treffen wir uns nach der Abendprobe, tauschen die Erfahrungen des Tages aus und planen die strategischen Schritte für die nächsten Proben. Pfeifenraucher sind meist auch Rotweintrinker und so ist es wieder einmal sehr spät geworden in unserem Weinlokal gleich neben der Pferdeschwemme am Neutor. Wir gehen heimwärts durch die Hofstallgasse, das Große Festspielhaus war erst vor wenigen Monaten eröffnet worden. Das Vergnügen, die fünf großen Kupfertüren, die in die Eingangshalle führen, und die bronzenen Türgriffe von Schneider-Manzell zu berühren lassen wir uns nicht entgehen, aber der Schreck ist dann doch groß, als eines dieser Tore plötzlich nachgibt – es war wohl versehentlich nicht verschlossen worden. Wir gehen natürlich ohne zu zögern hinein, tasten uns durch die Halle, die Treppen hinauf und finden im Dunkel der Gänge schließlich eine Türe zum Zuschauerraum. Für den Weg haben wir noch ab und zu ein Streichholz benutzt, jetzt wagen wir das nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dort gesessen haben, stumm, ergriffen von der Größe eines Raumes, den man nicht sehen, nur ahnen konnte. Wo sich sonst 2.000 Zuschauer in festlicher Erwartung versammeln, war es jetzt stockdunkel und totenstill. Irgendwann haben wir uns dann wieder aufgerafft und den Heimweg fortgesetzt, auf Zehenspitzen und ziemlich kleinlaut, das Raumerlebnis – vielleicht vergleichbar mit den Installationen von James Turrell – hatte uns stumm gemacht. Auch wenn Verwaltungsdirektoren da ganz anderer Meinung sein werden: die Faszination eines leeren Zuschauerraumes ist ungeheuerlich. Ich könnte da stundenlang sitzen und träumen von vergangenen Vorstellungen, in denen die Geräuschkulisse des Publikums abgelöst wird von den Bühnenklängen, der aufgehende Vorhang mit einer eigenen Duftwolke die aufdringlichen Deodorants der Zuschauer unter sich begräbt, Maskenbildner über Coiffeure siegen und der Ärger bei der Parkplatzsuche schnell vergessen wird, denn hier geht es um das echte Leben, das Theaterleben. Orte zum Träumen eben, für Theaterträume. 27 Georg Trakl „Verfall“

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Meine späteren Verbindungen zum Landestheater Salzburg sind dann weniger traumhaft. Sie fallen in die Zeit der Intendanz von Karlheinz Haberland. Er hat das Theater von 1974 bis 1981 geleitet, außerordentlich erfolgreich, wie ich meine. Immerhin gab es in diesen Jahren ein richtiges Ensemble, man konnte auch größere Werke aus eigener Kraft besetzen und einen Spielplan gestalten, der dem Haus ein Profil gegeben hat. Ich erinnere mich an eine ganz andere Ausgangslage nach Haberland, viele Jahre später, da wurde eine „Tosca“ angekündigt, für die man nur noch eine Tosca, einen Cavaradossi und einen Scarpia gesucht hat! Aber zurück zum Intendanten, der mich an einem Freitag anruft mit der Frage, ob ich eventuell am kommenden Montag mit den Bühnenproben für Hindemiths „Mathis der Maler“ beginnen könnte, denn er hatte Probleme mit dem Gastregisseur bekommen. Da ich das Werk ganz gut kenne, sage ich zu, bekomme alle notwendigen Informationen und mache mich über das Wochenende sofort an die Arbeit. Am Sonntagabend hat sich dann alles erledigt, der Intendant bedankt sich für meine Zusage, er konnte sie erfolgreich als Druckmittel in seinen Verhandlungen einsetzen. Einige Jahre später, Haberland ist noch immer Intendant und plant eine Kooperation mit dem Intendanten des Grand Thèâtre de Genève: Dessen Inszenierung von Verdis „Ballo in maschera“ mit der kompletten Ausstattung und mit einem neuen Solistenensemble aus Buenos Aires sollte in das damals noch so genannte Kleine Festspielhaus in Salzburg übertragen werden. Als sich dann herausstellt, dass die Dekorationen für Salzburg viel zu groß sind, sagt Genf ab, allerdings gilt weiterhin der Vertrag mit dem Dirigenten und den Solisten. Ich bekomme also wieder einen Anruf des Intendanten zum Wochenende, ob ich vielleicht … und ein paar Tage später wandere ich mit dem Bühnenbildner Heinz Bruno Gallée durch den Fundus der Salzburger Festspiele und des Landestheaters und wir erfinden mal ganz schnell aus den Fundstücken ein Bühnenbild für den „Maskenball“. Die Sänger aus Südamerika sind ganz ausgezeichnet und so können wir in Rekordzeit den Genfer Rückzieher ausbügeln. Nun hat Haberland aber wirklich ein schlechtes Gewissen und er bietet mir freiwillig zu ganz normalen Arbeitsbedingungen die Inszenierung von Gounods „Margarethe“ an. Bühnenbildner wird Knut Hetzer sein, wir verstehen uns sehr gut und entwickeln ein wirklich spannendes Modell, angesiedelt im Paris der Mitte des 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit dieser Oper, mit viel Glas, Galerien, Treppen. Aber es kommt wie immer für mich in Salzburg: In der Woche vor Probenbeginn teilt uns die technische Direktion mit, dass diese Dekoration erstmals bei der Generalprobe original aufgebaut werden kann, für die Probenzeit wird man uns Treppen und Galerien mit Kreide am Boden markieren. Damit war unsere Konzeption natürlich gestorben. Also wieder ein Wochenende, an dem alles, aber auch wirklich

176 4. Wahlheimat Salzburg alles, neu gedacht und geplant werden musste. Wir haben dann eine ziemlich wilde Geschichte auf dem flachen Bühnenboden durchgezogen, nicht ohne Erfolg. Dies war nun aber wirklich mein letzter Auftritt im Salzburger Landestheater, seitdem gehe ich nur noch als Besucher hin, allerdings eher selten in Opernaufführungen. Warum? Vielleicht gab es schon zu viele Opern in meinem Leben, da wird man dann schnell etwas ungeduldig, besonders bei Mozart. Ich erinnere mich an einen „Figaro“, da hatte man den Regisseur aus Angst vor einer zu radikalen Interpretation kurz vor der Premiere nach Hause geschickt und dann entsetzlich dilettantisch in der Inszenierung herumgepfuscht. Einige wenige, durchaus interessante Details waren zwar erhalten geblieben, aber das Ganze wirkte nun eher peinlich. Unbelehrbar, wie ich eben bin, war ich später noch einmal in einer Mozartoper im Landestheater: „Don Giovanni“.

Im März 2011 Auf dem Titelblatt des Programmheftes für Mozarts „Don Giovanni“ sieht man einen Piloten, umringt von drei Stewardessen vor der geöffneten Türe eines Privatjets. Bezahlte Werbung für eine Flugreise? Nein, kein Firmentext zu entdecken. Aha, also ein Hinweis auf die zu erwartende Vorstellung? Es regt zum Nachdenken an: eine Reise – ein Mann und drei Frauen – die Türe ist offen … Lassen wir uns also überraschen. Die erste Überraschung ist an einem normalen Wochentag das offensichtlich ausverkaufte Theater mit auffällig viel Jugend. Die Premiere war vor einem Monat. Die zweite, unangenehme Überraschung ist das viel zu hoch gefahrene und daher penetrant laute Orchester, der Dirigent ist ab der Gürtellinie sichtbar und auch noch extra beleuchtet. Aber vielleicht ist das ja gar nicht so übel, denn was da auf der Bühne stattfindet entzieht sich einer objektiven Beurteilung. Ein hübsches Bühnenbild mit leicht verwandelbaren Puppenhäusern könnte für eine italienische Spieloper ganz ideal sein, eventuell auch noch für Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“, denn dort hat man wohl die Handlung angesiedelt. Im Programmheft steht übrigens die ganz normale Inhaltsangabe, man wollte wohl den Zuschauer nicht vorzeitig erschrecken. Aber von Schreck kann keine Rede sein, das Stück wird auf eine unsäglich primitive Weise so klar verständlich wie die „Lindenstraße“, was wohl auch dem Publikum gefällt. Gesungen wird italienisch, übrigens sehr ordentlich, wie überhaupt die Sängerinnen und Sänger auch darstellerisch überzeugen können. Sie sind nicht dafür verantwortlich, dass ihre Aktionen oft so un- und widersinnig sind. Zum besseren Verständnis gibt es deutsche Übertitel, die zum Teil den Text der In-

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szenierung anpassen, manchmal aber brav die alten Inhalte vermitteln, die man leider nicht zu sehen bekommt. Als dramma giocoso ist „Don Giovanni“ sicher kein Lustspiel, aber hat doch auch durchaus komische Elemente, vor allem im Zusammenhang mit Leporello. Einmal an diesem Abend wird gelacht, allerdings nicht, weil auf der Bühne etwas Komisches stattfindet, auch nicht, weil etwas Komisches gesungen wird, nein, sondern weil der Übertitel „Wer nur einer Frau treu ist, begeht ein Unrecht an allen anderen“ erscheint. Ich war immer der Meinung, man geht in eine Opernvorstellung, um eine musikalische und szenische Interpretation kennen zu lernen. Heute geht man also in die Oper um zu lesen? Wenn man die jugendlichen Besucher dieser Aufführung in ein paar Jahren fragen wird, ob sie den „Don Giovanni“ kennen, werden sie sich nur noch erinnern können an Halloween, den Hochzeitsmarsch aus „Lohengrin“ und eine Popcorn-Schlacht. Na Mahlzeit! Das Bilderrätsel vom Programmheft wird durch die Aufführung nicht gelöst. Vielleicht soll es einfach die Einladung sein, doch lieber ganz weit weg irgendwohin zu fliegen? Das Rätsel hat sich dann einige Zeit später von selbst gelöst – es sollte wohl die Vorankündigung für eine neue „Fledermaus“ sein. Dort spielte der zweite Akt nicht im Gartensalon des Prinzen Orlofsky, sondern an Bord der Maschine eines arabischen Scheichs! Übrigens hat man in der Zwischenzeit die zwanghafte Beglückung mit Übertiteln nun auch auf deutschsprachige Opern ausgeweitet, was aber durchaus kein nur auf Salzburg beschränkter Unsinn ist. Ich gehe also vorläufig nur noch ins Schauspiel, so lange man dort noch auf das gesprochene Wort vertraut oder in das Tanztheater des Peter Breuer. Denn das ist nun wirklich eine tolle Erfolgsgeschichte, der in jahrelanger Kleinarbeit erreichte Aufstieg eines Tanzensembles zu erstaunlicher Qualität und Präzision, begleitet vom ständig wachsenden Publikumsverständnis. Ist denn Salzburg eine Stadt für den Tanz? Tradition wird ja hier immer sehr groß geschrieben, gibt es auch eine Art Tanztradition? Bei der Beantwortung dieser Frage lässt uns zunächst einmal Trakl im Stich. Man muss schon lange suchen, um bei ihm einen Hinweis zu finden:

Sie schien Dinge zu sehen, die wir nicht sahen und spielte mit ihnen im Tanze28 28 Georg Trakl „Maria Magdalena“

178 4. Wahlheimat Salzburg Da wäre ein Zeitzeuge Mozart dankbarer, der ja bekanntlich selbst ein begeisterter Tänzer war. Zu seiner Zeit, Schwester Nannerl berichtet immer wieder begeistert darüber, wurden von den Theatertruppen des Johannes Böhm und des Emanuel Schikaneder in Salzburg zahlreiche Ballette auf durchaus beachtlichem Niveau geboten. Beinahe anderthalb Jahrhunderte verschwindet dann der Tanz aus der öffentlichen Wahrnehmung, auch die ersten Jahre der Salzburger Festspiele widmen sich eher der tänzerischen Pantomime, bis endlich 1940 unter der Leitung von Hanna Kammer am Stadttheater eine eigene Tanzgruppe entsteht. Ein Vierteljahrhundert wird die „Ära Kammer“ dauern, die Ballett-Compagnie am Landestheater hat sich dann unter verschiedenen Choreographen ständig weiter entwickelt und ist heute unter ihrem Leiter Peter Breuer fester und erfolgreicher Bestandteil der Salzburger Theaterszene. Auch die Festspiele haben auf das wachsende Interesse am Thema Tanz reagiert und, vor allem in den Sechziger Jahren, immer wieder große Compagnien eingeladen. Salzburg schien also durchaus bereit zu sein, dem Tanz einen gewissen Stellenwert einzuräumen. Mit dieser Hoffnung im Hinterkopf eröffnen wir, meine Frau und ich, im Herbst 1973 in einer ehemaligen Werkstatt für Lederwaren in der Auerspergstraße das „Ballett Studio Salzburg“. Unterstützt von weiteren Lehrkräften wird meine Frau hier in den nächsten Jahren mehrere Generationen von Salzburgerinnen und Salzburgern unterrichten, auf professioneller Basis, aber nicht als Berufsausbildung, sondern mit dem Ziel, die Freude am Tanz zu wecken und zu fördern. Am Beginn steht eine Ausstellung über John Cranko, den kurz vorher plötzlich verstorbenen großen Choreographen. Unser alter Intendant aus Stuttgart, Walter Erich Schäfer, eröffnet diese Ausstellung, der dann zahlreiche, weit über den Unterricht hinausgehende Aktivitäten folgen werden, denn die „Tanzstadt“ Salzburg hatte noch einige Geheimnisse zu bieten. Da ist zunächst Friderika Derra de Moroda, die ehemalige Tänzerin und Tanzpädagogin, die in ihrer Villa in Parsch eine außergewöhnliche Sammlung an Dokumenten aus der Geschichte des Tanzes aufgebaut hatte. Sie stellt ihre Schätze bei uns aus, hält Vorträge und vermittelt Kontakte zu bedeutenden Tanzpädagogen wie Lilian Harmel/London, Tamara Rauser/Wien und Karl Heinz Taubert/Berlin. Die „Derra de Moroda Dance Archives“ werden heute von der Universität Salzburg professionell betreut und sind jetzt öffentlich zugänglich. Ebenfalls dem Thema Tanz verschrieben hatte sich die Bildhauerin Meta Mettig. Wir stellen dreißig ihrer international geschätzten Bronze-Figuren erstmals in Salzburg aus, zusammen mit Werken von Gerda Düring, daneben aber auch Eva Mazzucco und Irma Rafaela Toledo. Die Ballettmeister des Landestheaters sind natürlich Stammgäste, an der Spitze Hanna Kammer und Leonard Salaz. Sommerkurse in

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Zusammenarbeit mit der „Szene der Jugend“, Einführungsvorträge, Ballettfahrten und eigene Tanzveranstaltungen bereichern das Programm und so entsteht auch sehr bald eine eigene kleine Compagnie, die gegen internationale Konkurrenz in Paris immerhin einen dritten Platz bei einem Choreographie-Wettbewerb erringen kann. Die Aufführungen im Kongresshaus bringen dann sehr bald eine Einladung an einen ganz besonderen Schauplatz, den Park von Hellbrunn. Damit nähern wir uns auch wieder dem Stimmenwald und natürlich Georg Trakl:

Im alten Park welch maskenhaft Gewimmel29 Wer es einmal erlebt hat, das „Fest in Hellbrunn“, der wird es nicht so leicht vergessen können. An einem strahlenden Nachmittag im August, festlich gekleidete Besucher und:

Freilichtoper, Komödie, Pantomime, Musik, Ballett, Reitkunst, Feuerwerk und Publikumstanz vereinigen fünf Stunden lang fröhliche Menschen auf den verschiedensten Schauplätzen des Schlosses und der Gärten von Hellbrunn30 Schon in seinem großen Salzburg-Buch widmet Bernhard Paumgartner dem Thema „Hellbrunn“ ganze zwanzig Seiten. Die Wiederbelebung dieser herrlichen Szenerie ist eine seiner Lieblingsideen, die er leider erst zwei Jahre vor seinem Tod realisieren kann. Er will aus der „gegenwärtigen banalen Fremdenabfütterungsstelle Hellbrunn wieder ein lebendig Gegenwärtiges“ machen und so gründet er 1969 die „Gesellschaft Hellbrunn“ mit dem Ziel der Wahrung der kulturellen Aufgaben Hellbrunns. Die künstlerische Leitung übernimmt für ein Jahr Herbert Graf und schließlich Oscar Fritz Schuh. Die Seele des Ganzen aber wird eine Politikerin, man sollte es nicht glauben, die Stadträtin Marta Weiser. Sie stellt die Weichen, organisiert die Finanzen und löst geduldig tausend kleine Alltagsprobleme, die „Marta Sittikus“, wie sie vom Künstlervolk in Hellbrunn liebevoll genannt wird. Für meine Frau und mich bedeutet die Mitwirkung beim Fest zunächst einmal die Freude, gemeinsam für eine Sache arbeiten zu können, ein Zusammenarbeiten, wie es sich am Theater kaum ergeben hat. Dann ist es vor allem die tägliche Sorge beim Anhören des Wetterberichts, denn im August sind Veranstaltungen im Freien in unserer Region immer ein Risiko. Der „Jedermann“ weiß ein Lied davon zu singen. Aber gemeinsames Zittern ist

29 Georg Trakl „Märchen“ 30 Karl Heinz Ritschel: Salzburg, S. 330

180 4. Wahlheimat Salzburg schließlich auch ganz schön. Abgesehen davon – ich finde unser Salzburg ja am schönsten, wenn es regnet: so ein verregneter Novembertag mit leichtem Nebel, gedämpfter Straßenlärm, keine Touristen – ein echter Traum! Der Rundgang mit Georg Trakl ist fast an seinem Ende angekommen und hat hoffentlich alle kulturellen Einrichtungen neben den Festspielen in der damaligen Zeit berührt, das Landestheater, die Kulturvereinigung, das Fest in Hellbrunn, die Szene der Jugend und nicht zuletzt unser Ballett-Studio. Jetzt fehlt mir nur noch ein Ort und das ist der Mirabellgarten. Dort an der großen Mauer, wo im Frühjahr die Salzburger die ersten Sonnenstrahlen genießen, dort findet man auch das Trakl-Gedicht „Musik im Mirabell“.Wenn nicht gerade ein amerikanischer Universitätschor auf der Durchreise ist oder eines der beliebten Leuchtbrunnen-Konzerte stattfindet, dann hört man Musik im Mirabellgarten ausschließlich aus dem Mozarteum, seit einigen Jahren sogar von beiden Seiten. Damit bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt und mitten im Stimmenwald gelandet, bei einem Mozarteum unter neuen Vorzeichen.

Das neue Mozarteum Im alten Gebäude in der Schwarzstraße hat die Opernklasse im zweiten Stock eine kleine Probebühne mit herrlichem Blick in den Mirabellgarten. Von dort sieht man nicht nur die große Mauer mit dem Trakl-Gedicht und die Bänke mit den sonnenhungrigen Menschen, man sieht auch viele Dinge, die da plötzlich hinter dieser Mauer stattfinden. Plötzlich ist vielleicht etwas übertrieben, denn hier ist die Rede von einer Jahrzehnte-Baustelle. Es war ja kein Geheimnis mehr, schon seit 1962 spricht man in der Öffentlichkeit von einem „Mozarteum in der Zwangsjacke“. Seit dieser Zeit gibt es auch schon Überlegungen und schließlich Pläne für eine Lösung der Raumprobleme und da spielt das Grundstück hinter der Mauer eine wichtige Rolle. Es ist ein geschichtsträchtiger Boden, der Paris-Lodron-Palast aus dem 17. Jahrhundert. Ursprünglich Wohnpalast für die Verwandtschaft des Erzbischofs, später Schule, Wohnhaus, Geschäftshaus, sogar Anton Aichers Marionettentheater war einige Zeit dort untergebracht, inzwischen ist es eine halbe Ruine. Hier soll also nun die Musikhochschule Mozarteum ihre neue Wirkungsstätte erhalten. So wird geplant, protestiert, verworfen, neu geplant, zehn Jahre lang, bis endlich im Oktober 1972 mit dem Bau begonnen werden kann. Es ist keine leichte Aufgabe für den Architekten Professor Eugen Wörle, denn zahllose Auflagen müssen befolgt werden. So ist an der Dreifaltigkeitsgasse die

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historische Fassade zu erhalten, einschließlich der Raumhöhen im Inneren, im Erdgeschoss soll eine Fußgängerpassage durch das Gebäude führen und ein öffentlicher Durchgang zum Mirabellgarten, ebenfalls im Erdgeschoss muss die Filiale einer Bank untergebracht werden und ein ganzer Gebäudekomplex ist für das Historische Institut der Universität vorgesehen. In den Neubau sollen dann alle Abteilungen der Musikhochschule einziehen, ausgenommen das Orff-Institut, das bereits über ein eigenes Haus verfügt, und ausgenommen die Gesangsklassen der damaligen Abteilung VII. Deren Gesangslehrer hatten gerüchteweise vernommen, im Neubau würde es eine Klimaanlage geben und man könnte die Fenster nicht mehr öffnen, was sofort zu dem Beschluss führte: Die Gesangsklassen bleiben im alten Mozarteum in der Schwarzstraße. Dort sind sie noch heute und von dort aus konnte man nun die schleppende Entwicklung des Neubaus sehr gut verfolgen. Zunächst waren das nur provisorische Markierungen für die geplanten Baumassen, aber wie immer, wenn etwas Neues entstehen soll in Salzburg, herrscht sofort große Aufregung. An die Spitze der Protestler setzt sich Galeriebesitzer Prof. Friedrich Welz. In einem offenen Brief an die Bundesregierung unter dem Motto „Stellt den Bau am Mirabellgarten ein!“ heißt es: „Unverantwortlich – kann unter keinen Umständen toleriert werden – Unfähigkeit der Altstadterhaltungskommission – nicht wieder gutzumachender Schaden!“ Wie immer kommt es dann zu endlosen Kompromissen, der Bau wird zwar nicht eingestellt, aber die Baumasse deutlich reduziert, zuletzt streicht man auch noch die Hälfte vom dritten Stock, die ursprünglich für die Opernklasse vorgesehen war. Was war wirklich geschehen? Professor Welz hatte von einer bestimmten Bank im Mirabellgarten nicht mehr den Kapuzinerberg sehen können. Diese und ähnliche Erkenntnisse verlängern die Baugeschichte zwar erheblich, aber dann kann 1978 das Gebäude am Mirabellplatz 1 endlich feierlich eröffnet werden. Für die Opernklasse ist dem Architekten da sogar noch eine besondere Überraschung gelungen, denn in einem vom Mirabellgarten aus nicht einsehbaren Winkel im dritten Stock hat er in Anlehnung an den gleichnamigen Raum im Schloss Hellbrunn ein „Oktogon“ geschaffen, verbunden mit einer Dachterrasse. Für zwanzig Jahre wird dies nun mein Arbeitsplatz, das „Opernstudio im Oktogon“, Unterrichtsraum wie Aufführungsort gleichermaßen. Hier haben viele später erfolgreiche Sängerinnen und Sänger wie Christiane Kohl, Camilla Nylund, Michaela Schuster, Nikolai Schukoff oder Lauri Vasar ihre ersten szenischen Schritte unternommen, hier waren prominente Künstlerinnen und Künstler wie Brigitte Fassbaender, Karl-Ernst und Ursel Herrmann, Joachim Herz oder Gerard Mortier unsere Gäste in spannenden Gesprächsrunden. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir dabei der geniale Provokateur Mortier, der noch vor Antritt seiner Tätigkeit

182 4. Wahlheimat Salzburg als Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele bei uns war. Mit seinen Aussagen „Puccini wird in meinem Spielplan sicher nicht vorkommen“ und „Ich habe nicht die Absicht, die Türen beim Bühneneingang zum Festspielhaus verbreitern zu lassen, nur damit Herr Pavarotti hier singen kann“ hat er meine braven Studenten zutiefst schockiert, sie haben ihm das nie verziehen. Aber es ist nicht nur das Oktogon, das uns der Neubau beschert. Tief unten im Keller gibt es einen riesengroßen Ballett- und Gymnastiksaal, professionell ausgestattet, daneben einen kleineren Fechtsaal, Garderoben und Sanitärräume – lange ersehnt und unentbehrlich für eine bewegungsorientierte Ausbildung der Studierenden. Und wir haben auch endlich eine richtige Bühne, das Große Studio, mit Orchestergraben und vierhundert Sitzplätzen im Zuschauerraum. Es war sicher nicht alles perfekt und ich muss mich da auch gleich korrigieren: der Zuschauerraum hat nur 399 Sitzplätze, denn ab 400 wäre ein Eiserner Vorhang vorgeschrieben. Den gab es natürlich nicht und auch der normale Hauptvorhang hat nie funktioniert, der Luftraum über der Bühne, der Schnürboden, wurde bei der Reduzierung der Baumasse gestrichen, ja, in den ersten Jahren gab es nicht einmal ein Stellwerk für die Beleuchtung, jeder Scheinwerfer musste von Hand ausgeschaltet werden. Dennoch – wenn unsere Studenten von einem Vorsingen an einem Opernhaus zurückkamen, hieß es meistens ganz locker: „Das war eigentlich genau wie im Großen Studio“. So waren wir ganz glücklich mit unserem „Palast für das Mozarteum“31, mit seinen Fassaden in weißem Untersberger Marmor, dem mediterran angehauchten Innenhof, seinen fünf Pyramiden-Eiben und den vielfältigen Wasserspielen. Aber nicht alle waren das und so gab es – wie ich meine: zu Unrecht – viel Kritik am Architekten. Er hat aus einer sehr komplizierten Ausgangssituation gemacht, was möglich war, und meinte noch bei der Eröffnung: „In ein bis zwei Generationen wird man dieses Gebäude allgemein mögen oder tolerieren.“32 Die Hoffnung wird sich leider nicht erfüllen, nach zwanzig Jahren droht schon das Ende. Aber zunächst geht es natürlich aufwärts. Da gibt es im sozusagen „historischen“ Teil des Gebäudes den Faistauersaal, ursprünglich vorgesehen für Kammermusik, bald aber nur noch Sitzungssaal des Gesamtkollegiums. Ich habe in diesem Raum Tage, ja Wochen und fast Monate meines Lebens verbracht: ein riesiger ovaler Tisch, ein Deckengemälde von Faistauer und ringsherum an den Wänden die Porträts sämtlicher Leiter, Direktoren und Rektoren des Mozarteums. Genau gegenüber meinem Stammplatz hängt das Bild von Paul von Schilhawsky, oft halte ich

31 Salzburger Landeszeitung vom 26. Juli 1978 32 Salzburger Volksblatt vom 29. März 1979

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stumme, verzweifelte Zwiesprache mit ihm. Ja, das Gesamtkollegium, so heißt es damals, was ist das, was hat es für eine Funktion? Unter dem Vorsitz des Rektors und unter der Aufsicht der Verwaltung versammeln sich hier einmal im Monat die gewählten Leiter der zwölf Abteilungen des Mozarteums, zu Professoren avancierte Künstler. Ich kann mir hier jede Genderisierung ersparen, denn es sind wirklich nur Männer. Als einmal, vertretungsweise, eine Dame an der Sitzung teilnimmt, vom Rektor ausdrücklich begrüßt und am Ende der Sitzung befragt, wie sie sich denn gefühlt habe, lautet die knappe Antwort aus weiblichem Mund: „Wie im Mittelalter!“. Das ist natürlich leicht übertrieben, denn wir sind selbstverständlich ein demokratisches Organ, daher dürfen an den Sitzungen auch zwei Vertreter der „übrigen Lehrkräfte“ teilnehmen und zwei Vertreter der Studierenden. Immerhin! Die endlosen Sitzungen sind ein getreues Abbild unserer „Will-haben“-Gesellschaft, wahrscheinlich auch nicht viel besser oder schlechter als vergleichbare Gremien in Wirtschaft oder Politik. Jeder der zwölf Abteilungsleiter ist von seinem Abteilungskollegium beauftragt worden, die Interessen der Abteilung energisch zu vertreten. Wer das nicht befolgt, der riskiert, beim nächsten Mal nicht mehr gewählt zu werden. Grundsätzlich benötigt jede Abteilung ständig neue Professuren, dafür werden also zunächst seitenlange Wartelisten erstellt. Wenn man die Professur endlich vom Ministerium bekommen hat, braucht man sofort einen Assistenten wegen der zu erwartenden Abwesenheiten der neuen Lehrkraft und möglichst noch neue Lehraufträge. Hat man das alles, dann gibt es logischerweise einen dringenden Bedarf an weiteren Unterrichtsräumen und so dreht es sich unendlich im Kreise, das Selbstbedienungskarussel. Es ist wie in der Wirtschaft der Glaube an das ewige Wachstum: es muss immer mehr werden, mehr Lehrer, mehr Studenten, mehr Unterrichtsräume. Das Ganze muss natürlich in Anträgen beschlossen werden, nach der Devise: „Unterstützt du meinen Antrag, dann stimme ich auch für deinen.“ Da einstimmig beschlossene Anträge an das Ministerium mehr Aussicht auf Erfolg haben, kann es dabei durchaus zu Szenen kommen, die in einem Dokumentarfilm über „Das Mozarteum damals“ etwa so verlaufen würden: TOTALE : Das Deckengemälde im Faistauersaal. Die Kamera schwenkt langsam auf eine erschöpfte Herrengruppe. Der Vorsitzende erhebt sich. SCHNITT GROSS: Der Vorsitzende: „Wir kommen nun zum Ende der Diskussion des Antrages. Für die Vorlage beim Ministerium ist es wichtig, einen einstimmigen Beschluss zu fassen. Ich schlage daher vor, dass die Herren, die meinen, nicht zustimmen zu können, jetzt eine kleine Pause machen, vielleicht ein Zigarette draußen im Gang?“ SCHNITT

184 4. Wahlheimat Salzburg HALBTOTALE: Einige Herren im Anschnitt, leicht verunsichert um sich blickend. SCHNITT TOTALE: Zögernd erheben sich mehrere Herren und verlassen langsam den Sitzungssaal. Die Türe wird geschlossen. SCHNITT GROSS: Der Vorsitzende: „Wir kommen nun zur Abstimmung.“ ABBLENDE Aber auch einstimmig beschlossene Anträge wurden in Wien nicht von heute auf morgen erledigt, das konnte schon Wochen oder auch Monate dauern. Als sich wieder einmal Einiges angestaut hat, erscheint der damals für die Kunsthochschulen zuständige Minister Dr. Heinz Fischer auf unserer Sitzung, begleitet von zwei Beamten. Er hört sich geduldig unsere Wünsche an und als ich kritisiere, dass wir seit acht Monaten auf die Genehmigung zur Nachbesetzung eines Lehrauftrages warten, meint er: „Ich bewundere Ihre Geduld“. Er wechselt ein paar Worte mit seinen Beamten und am nächsten Morgen, wirklich in aller Frühe, versichert mir der zuständige Sachbearbeiter des Ministeriums telefonisch, dass es sich um einen bedauerlichen Irrtum handelt und die Genehmigung bereits unterwegs ist. Ganz so schnell geht es nicht immer, nicht einmal bei den Rektoren, die sich um die Einrichtung eines eigenen Institutes bemühen, damit sie am Ende ihrer Amtsperiode nicht wieder in die eigene Abteilung zurückkehren müssen. So dreht sich also in unserem Palast der Eitelkeiten alles um das eigene Wohlergehen, Diskussionen über zukünftige Entwicklungen, über notwendige Reformen im Lehrbetrieb, über Antworten auf die gravierenden Veränderungen in der Kulturlandschaft hat es kaum gegeben. Und wenn, dann war es nur eine Stimme und dies soll der einzige Name bleiben, den ich in diesem Zusammenhang erwähne: Peter Lang, der Pianist und Leiter der Abteilung für Klavier, das „unbequeme Gewissen“ des Mozarteums. Er hat nicht nur als Leiter der Sommerakademie und als Gründer der „Musikalischen Akademien“ neue Akzente gesetzt, er konnte auch in improvisierten Reden stundenlang Visionen zur Zukunft unseres Mozarteums entwickeln, die von den Anwesenden zwar wohlwollend registriert werden, aber meist ohne Folgen bleiben. Ohne Folgen bleiben auch die Auseinandersetzungen über ein Lieblingsthema des Gesamtkollegiums: die Verwaltung. So soll eine Kommission eingesetzt werden, die sich mit „Verwaltungsfragen“ beschäftigt, ein „Verwaltungsführer“ wird geplant und im Mitteilungsblatt der Hochschule sollen „Verwaltungsvereinfachungen“ veröffentlicht werden. Da es leider zu keinen „Vereinfachungen“ kommt, finden auch keine Veröffentlichungen statt, es bleibt alles, wie es ist. Um den „Unmut über die Verwaltung“ zu reduzieren, ersucht das Rektorat um schriftliche Konkretisierung der Beschwerden. Entsprechend eingehende Schriftsätze werden dann in

Das neue Mozarteum

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der Posteingangsstelle fünffach kopiert und die Kopien an die verschiedenen Abteilungen der Verwaltung weitergeleitet, wo sie ordnungsgemäß, mit dem korrekten Eingangsstempel versehen, abgelegt werden. So wird zwar laufend der Aktenbestand vergrößert, man schubladisiert, aber das ist es dann auch schon. Die ständige Zunahme eines Verwaltungsapparates ist natürlich kein auf das Mozarteum beschränktes Phänomen. Aber ein paar Zahlen können vielleicht die Dimensionen aufzeigen, in denen sich der Personalstand am Mozarteum entwickelt hat – nicht ohne Folgen für den gesamten Lehrbetrieb und vor allem auch für den Raumbedarf. Es ist eine einfache Auflistung der Lehrenden, der Studierenden und der Verwaltenden über einen Zeitraum von vierzig Jahren, nachzulesen in den „Jahresberichten“:

LEHRE STUDIUM VERWALTUNG

Akademie Mozarteum 1958/59

85

714

20

Hochschule Mozarteum 1970/71

153

841

23

Hochschule Mozarteum 1978/79

177

1007

33

Universität Mozarteum 1998/99

465

713

103

Ich möchte diese Zahlen erst im nächsten Kapitel kommentieren, aber es ist wohl klar erkennbar: So schafft man sich Raumprobleme. Bei der Übergabe des Neubaus im Jahre 1979 wurde noch hoffnungsvoll formuliert: „Die rund 13.000 m² decken den Raumbedarf für 1600 Studenten. Derzeit sind an der Hochschule ca. 1000 Hörer inskribiert.“ Aber schon kurze Zeit später kann die Boulevardpresse Bilder von Studierenden veröffentlichen, die wegen des Raummangels in Sanitärräumen üben müssen. Dabei hatte sich eine positive Entwicklung angedeutet, denn die Fremdmieter verlassen schon bald das Gebäude am Mirabellplatz: die Länderbank zieht aus (Raumgewinn 280 m²), das Historische Institut der Universität (Raumgewinn 3200 m²), aber offensichtlich reicht das nicht. Die Verwaltung hat das Sagen, der Bedarf an Büroräumen wird immer größer. So wird im Gebäudeinneren permanent umgebaut: Foyers und Freiräume werden in Büros oder Unterrichtsräume verwandelt, es wird immer enger und dunkler. Aus dem Hörsaal der Historiker wird ein Malersaal für die Bühnenbildner – ohne Umbau der Klimaanlage. Nun kann das ganze Haus neben den Küchengerüchen aus der Wohnung des Hausmeisters auch an den Sprühaktionen der Bühnenmaler teilhaben – zumindest geruchsmäßig. Parallel zu den Umbauten wird von der Hausverwaltung eine zunehmende Abschottung von der Außenwelt betrieben: Man sperrt zunächst den Durchgang zum Mirabellgarten, dann folgen die Zugangstüren von der Aicherpassage und der Bühneneingang gegenüber dem Landestheater. Schließlich verlegt man den Haupteingang aus dem

186 4. Wahlheimat Salzburg Innenhof in den ehemaligen Historiker-Trakt, der Innenhof wird komplett gesperrt mit der Begründung, auf diese Weise für Sicherheit und Sauberkeit zu sorgen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist erreicht mit dem Beschluss, wegen „Mangel an Übezimmern“ das Haus vierundzwanzig Stunden durchgehend offen zu halten. Die Mehrkosten für das Aufsichtspersonal deckt man ab durch eine Reduzierung der Gebäudereinigung nach der Devise: mehr benutzen, weniger putzen. Schließlich gibt es sogar Pläne, den Innenhof auch noch zu verbauen. So weit kommt es aber nicht mehr, denn eine echte Katastrophe bahnt sich nun an. Begonnen hatte das Ganze mit Gerüchten um eine beunruhigende Häufung von Leukämieerkrankungen bei Lehrkräften des Mozarteums. Eine übermotivierte Landessanitätsdirektion schlägt Alarm, die Boulevardpresse riecht den Braten und findet auch schnell den geeigneten Aufhänger: „Todesfalle Mozarteum“. Erste Untersuchungen erbringen keine Bestätigung einer gesundheitlichen Gefährdung und man glaubt, mit einer Sanierung die Probleme lösen zu können. Die war an sich schon seit einiger Zeit im Gange, mehrere Räume im ehemaligen Historiker-Trakt waren bereits erfolgreich renoviert worden – aber nun war es zu spät. Österreich hatte zum gleichen Zeitpunkt – im Juli 1998 – das Grubenunglück von Lassing mit dem Tod von zehn Bergleuten und der Zerstörung von mehreren Häusern erleben müssen, eine weitere Katastrophe musste auf jeden Fall verhindert werden. So wird am 15. Oktober 1998 auf Anordnung des Ministeriums der Neubau am Mirabellplatz für den gesamten Unterrichtsbetrieb gesperrt, zweitausend Personen müssen von heute auf morgen einen neuen Arbeitsplatz finden. Unterstützt von internationalen Experten beginnt nun eine Arbeitsgruppe der Landesregierung mit der Suche nach den krebserregenden Schadstoffen. Vom Deckenfilz über die Tapeten bis zum Teppichboden wird nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen alles untersucht und nach einem halben Jahr heißt es: „Das ist heute das bestuntersuchte Gebäude der Welt – wir wissen nicht mehr, was wir noch tun sollen“. Die Luft im Gebäudeinneren sei identisch mit der Luft im Mirabellgarten heißt es in einem der Berichte – damit wäre der Weg für eine Aufhebung der Sperre eigentlich offen gewesen. Aber – o du mein Österreich! – so einfach war das nun auch wieder nicht. Der Salzburger Immobilienmarkt hatte in der Zwischenzeit kräftig von der Raumnot des Mozarteums profitiert, Investitionen und mehrjährige Mietverträge mussten nun erst einmal abgewohnt werden. Auch hatten die vorher am Mirabellplatz lehrenden, studierenden und verwaltenden Menschen keine große Freude, wieder an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Da konnte aber die Arbeitsgruppe weiterhelfen, denn man hatte zwar nichts gefunden, doch bei der Suche ein „Sick-Building-Syndrom“ festgestellt: Das Haus machte krank! Das

Das neue Mozarteum

187

war sicher eine richtige Erkenntnis, denn bei der verordneten Schließung war das Gebäude verstaubt, verdreckt, verwinkelt und verbaut. Allerdings nicht durch die Schuld des Architekten, sondern allein durch seine Bewohner und Benutzer, durch die „Hochschule Mozarteum“ in ihren so vielfältigen Personifizierungen. Ich habe wirklich kein Verständnis dafür, wenn heute noch von mysteriösen Todesfällen die Rede ist und von Schießscharten, die Krankheiten ausgelöst haben sollen. Eine „Ausdünnung“, also ein Rückbau im Inneren auf die räumlichen Verhältnisse vor zwanzig Jahren sollte es zunächst werden, verbunden mit einer Generalsanierung. Auf jeden Fall musste das Gebäude gesperrt bleiben. Nur durch persönliche Intervention beim damaligen Wissenschaftsminister Caspar Einem kann ich für uns wenigstens das Große Studio retten, ab Mai 1999 dürfen wir wieder auf unserer Bühne probieren, umgeben von gespenstisch leeren Räumen. Es sind meine letzten Jahre am Mozarteum und so wird die Feier nach einer Aufführung der „Carmina Burana“ am 16. Mai 2002 im – ich wiederhole es gerne – „mediterran angehauchten Innenhof mit seinen Fassaden in weißem Untersberger Marmor, seinen fünf Pyramiden-Eiben und den vielfältigen Wasserspielen“ zum endgültigen Abschied vom Stimmenwald, der inzwischen zur Waldheimat geworden war. Die Ironie der Geschichte will es, dass wir diese Aufführung der „Carmina Burana“ einem ganz speziellen Sponsor zu verdanken hatten: dem Internationalen Kongress der Onkologen, die auf eigenen Wunsch im leukämieverdächtigen Hof im Anschluss an die Vorstellung eine stimmungsvolle Sommerparty feierten. Zwei Jahre später kommen dann die Bagger und beginnen mit dem Abriss. Vom Mirabellplatz aus beobachte ich als Emeritus, wie mein Oktogon im Schutt versinkt. Ein starker Trost allerdings bleibt, denn das Große Studio hat alle Katastrophen unbeschadet überlebt und ist bis heute lebendiger Mittelpunkt des Musiktheaters am Mozarteum geblieben. Den „Neubau“ kenne ich nur noch als Besucher, aber ich komme immer wieder gerne, denn es ist nun ein weltoffenes Haus geworden und mit dem „Solitär“ wurde Salzburg um einen attraktiven Konzertsaal bereichert. Allerdings um einen hohen Preis, denn die „Sanierung“ kostete nicht nur 35 Millionen Euro, dazu kommen die Mietkosten für die sechsjährige Verlagerung des Unterrichtsbetriebes und die endgültige Aussiedlung von Bühnenbild, Schauspiel und Verwaltung in eigene Gebäude in der Schrannengasse. Einem „an übergroßer Dichte erkrankten Haus“ wurde aber so mit Erfolg mehr Raum verschafft.

5. Leben und Überleben im Stimmenwald In der „Zeitung für die elegante Welt“ erschien im Jahre 1804 das Gedicht „Die Gesänge“ von Johann Gottfried Seume. Zwei Zeilen daraus sind zu einem populären Sprichwort geworden:

Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder. Das mag schon stimmen für den Liedgesang, aber wie ist das mit der Oper: haben böse Menschen auch keine Arien? Oder sind im Umkehrschluss Opernsänger grundsätzlich nur Gutmenschen? Wenn man ein ganzes Leben unter singenden Menschen verbringt ohne selbst zu singen, dann ergeben sich mit der Zeit schon gewisse Fragen: Was sind das eigentlich für Menschen, wo kommen sie her, wie werden sie zu Sängern, was machen sie, wenn sie nicht singen oder nicht mehr singen, wo gehen sie dann hin? Freiwillig singen Menschen nur, wenn sie fröhlich sind – oder traurig, einsam oder in Gesellschaft, beim Wandern: „Im Frühtau zu Berge“ oder so. Singen hilft ja auch bekanntlich gegen das Stottern, unzählige Stottererwitze leben davon. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der erwachsene Menschen singend Informationen austauschen, die kann einen unvorbereiteten Zuhörer schon verstören. Es braucht also zunächst Anleitung und Gewöhnung, um ein gewisses Verständnis zu entwickeln für diese einmalige Welt des Gesanges, die artistisches Können und Gefühlstiefe zu vereinen sucht. Sie ist eine luxuriöse Sonderform unserer Musikkultur und in dieser Wunderwelt leben sie nun, die Sängerinnen und Sänger. Aber sie leben gleichzeitig auch unter uns, in unserer nüchternen Arbeits- und Wirtschaftswelt. Das kann nicht immer reibungslos funktionieren, die Übergänge aus der einen in die andere Welt können zu gefährlichen Stolpersteinen werden. Hier also ein Versuch, diese Welt zu beschreiben, ohne Illusionen, aber mit viel Empathie.

190 5. Leben und Überleben im Stimmenwald

Die Singenden Was ist so Besonderes an diesen Opernsängern? Der eher etwas untersetzte Herr mit Glatze und dicker Brille, die zu stark geschminkte rundliche Blondine – sie haben so gar nichts Heldisches oder Verführerisches an sich, wenn sie nach der Vorstellung das Theater durch den Bühneneingang verlassen, begleitet von einem freundlichen „Gute Nacht, Herr Kammersänger! Gute Nacht, Frau Kammersängerin!“ Man sieht es ihnen nicht an, dass sie ihre Zuhörer in tobende Begeisterung versetzen können, denn das Geheimnis ihres Erfolges liegt nicht in der äußeren Erscheinung, es liegt in ihrer Stimme. Jeder Mensch kennt die Technik, beim Ausstoßen der verbrauchten Atemluft Geräusche zu erzeugen, Klänge, die im Idealfall als Gesang bezeichnet werden. Es war sicher eine große Leistung unserer Zivilisation, durch jahrelanges Training der Kehlfertigkeit zur Kunstfertigkeit zu kommen und daraus eine eigene Kunstform zu entwickeln. Hauptspielplatz dieser Kunst war und ist die Oper, eine Erfindung, die ursprünglich nur der Wiederbelebung des antiken Sprechtheaters dienen sollte. Aber die Dinosaurier der Gesangskunst erkannten ihre Chance, sie eroberten die Oper und beherrschen sie seit vierhundert Jahren, nur gelegentlich von Dirigenten, Regisseuren und Bühnenbildnern bei der Ausübung ihrer Kunst ein wenig behindert. So bewundern wir heute noch immer die Virtuosität, mit der das Instrument Stimme zum Klingen gebracht wird. Doch die menschliche Stimme ist kein Instrument, sie ist ein Organ. Man kann sie nicht in einen Koffer packen und wegstellen, sie ist untrennbar mit dem Menschen verbunden und damit auch mit seiner Befindlichkeit, sie ist ein Spiegel der Persönlichkeit. Nur so ist zu verstehen, dass eine Stimme beim Zuhörer Gefühlsbereiche ansprechen kann, die nicht mehr messbar und auch nicht erklärbar sind. Stimmen können süchtig machen. Nun geht es auf dieser Welt leider oft sehr ungerecht zu: Wenn von der Oper die Rede ist, dann meint man meistens nur das Werk, Komposition und Textbuch werden analysiert und als Zeitdokument eingeordnet. Aber die Oper lebt nur dann, wenn sie aufgeführt wird, sie ist noch mehr als das Drama auf die Vermittlung durch Interpreten angewiesen, auf singende Menschen. Im Sprechtheater werden die Schauspieler nach ihrer darstellerischen Qualifikation unterschieden und so hat man sie früher in rund zwei Dutzend Kategorien eingeteilt, von der „jugendlichen Salondame“ bis zum „Heldenvater“. In der Oper dominiert die Stimme, also kommt man von der Unterscheidung zwischen hoher und tiefer Stimmlage schließlich zu einer Einteilung nach Stimmfächern, bei den Frauenstimmen in Alt – Mezzosopran – Sopran, bei den Männerstimmen in Bass – Bariton – Tenor. Analog zu den Kategorien im Schauspiel übernimmt man in den einzelnen Stimmfächern später

Die Singenden

191

die Differenzierung in dramatisch, heldisch, lyrisch, seriös oder komisch. Über allem thront dann noch der Koloratursopran, der alle diese Klassifizierungen in sich vereinen kann. Dieses ganze System wurde dann in sogenannten Fachverträgen festgehalten, das heißt man hatte einen Anspruch auf die Partien des schriftlich fixierten Stimmfachs, fachfremde Partien konnte man ablehnen Diese Zeiten sind allerdings längst vorbei, heute wird nach individuellen Kriterien besetzt und Widerspruch hat da wenig Aussicht auf Erfolg. Dennoch sind die alten Muster noch deutlich erkennbar. Das hat einerseits mit den Opernkomponisten zu tun, die bei der Rollenverteilung noch immer dem traditionellen Schema folgen. Diese Tradition wiederum hat ihre Berechtigung, wenn man sich die Wechselbeziehungen zwischen Stimme, Körperlichkeit und Charakter bewusst macht. Im Laufe eines Theaterlebens ist mir nun aufgefallen, wie bestimmte Eigenschaften eines Rollenfachs abfärben können auf den Menschen und unbewusst auch in den Alltag mitgenommen werden. Hier eine kleine Auswahl aus dem Erfahrungsschatz eines Regisseurs. Soprane stehen fast immer im Mittelpunkt, spielen aber oft nur eine passive Rolle. Als Objekt der Begierde zwischen Tenor und Bariton lassen sie die Dinge gerne auf sich zukommen und entwickeln wenig Eigeninitiative. Entgegen der landläufigen Meinung sind sie unkompliziert und leicht zu führen. Auf eine sympathische Art schwierig sind in meinen Augen die Mezzosoprane. Sie pendeln zwischen den Welten, zwischen Hoch und Tief, stimmlich und seelisch, im Rollenfach zwischen Mann und Frau, das bewegte Innenleben liefert mehr Fragen als Antworten. Mit viel Geduld, Zuspruch und Händchenhalten geht es aber meistens sehr schnell steil aufwärts. Ruhender Pol bei den Frauenstimmen ist der Alt, der sich die Abgeklärtheit aus dem Rollenfach holt. Im Alter ist alles nur noch halb so schlimm. Das gilt auch für die komische Variante dieses Lebensabschnitts, für die Spielaltistin. Der Tenor ist in der Oper immer der Sieger. Er will etwas haben, das bekommt er dann auch, nur manchmal will er zu viel und das geht dann schief. Aber die Siegerpose ist ihm geläufig, alles ist selbstverständlich. Wenn man ihn so akzeptiert, dann ist der Umgang mit einem Tenor relativ einfach, denn oft versteckt er hinter dieser Fassade nur seine Probleme, seine Ängste: das Warten des Publikums auf die Spitzentöne. Problematisch kann es werden, wenn man Tenören widerspricht, gar Widerstand entgegensetzt. Das wird dann gerne als Angriff auf das eigene Rollenverständnis interpretiert, kränkt die persönliche Eitelkeit und kann fatale Reaktionen auslösen, auch stimmlicher Art. Der Bariton ist meistens der Spielmacher, er treibt die Handlung voran. Seine Wissbegierde ist grenzenlos, er will es immer ganz genau wissen. Diese Aktivität

192 5. Leben und Überleben im Stimmenwald kann durchaus verschiedene Färbungen annehmen, sie kann positiv-konstruktiv, kann aber auch negativ-intrigant ausgerichtet sein. Hohes Alter und hohe Stellung sind die prägenden Merkmale der seriösen Basspartien, oft verbunden mit Weltweisheit und Lebensklugheit. Ein gewisses Gefühl der Überlegenheit findet sich daher nicht selten bei dieser Personengruppe. Der Bass ist in der Oper aber oft auch der Dumme, der Verlierer, der am Ende sogar noch ausgelacht wird. Das bleibt nicht ohne Folgen für den Menschen. Wenn er sich schon in seinen Rollen nicht siegreich durchsetzen kann, dann versucht er es eben im Leben. Bässe sind im Umgang gerne renitent, sie kritisieren gerne und haben meistens eigene und immer ganz andere Vorstellungen von dem, was man von ihnen erwartet. Die Gutmütigkeit, die sie auf der Bühne manchmal überzeugend verbreiten können, lassen sie im Alltag gern vermissen. Diese Beispiele sollen genügen, denn die Methode ist natürlich nicht ernsthaft wissenschaftlich hinterfragt. Aber es ist ein reizvolles Spiel, das ich manchmal auch in der umgekehrten Richtung spiele: Bei Begegnungen mit Nichtsängern im täglichen Leben frage ich mich manchmal, in welches Stimmfach man wohl ihn oder sie einordnen könnte, die Dame von der Post als Soubrette, meinen Zahnarzt als Bariton? Waren alle meine Rektoren Bassisten oder doch eher Heldentenöre? Beunruhigende Gedankengänge, die zu durchaus verblüffenden Erkenntnissen führen können. Aber ernsthaft, das Sängerleben ist sicher kein reines Vergnügen. Hat man eine Vorstellung gut gesungen, dann reicht das für den einen Abend, vielleicht auch noch für eine Kritik in der Zeitung am nächsten Tag. Aber schon in der nächsten Vorstellung beginnt es wieder bei Null, Guthaben gibt es keines. Und überall lauert die Konkurrenz, wenn die Zweitbesetzung nicht im Zuschauerraum sitzt, dann steht sie wahrscheinlich schon auf der Seitenbühne zum Einspringen bereit. So ist es nicht verwunderlich, wenn Sänger zu Einzelkämpfern werden, man befindet sich ja im ständigen Wettbewerb. Mit dem Erfolg wachsen die Ansprüche des Publikums, aber auch die Sorge um die eigene Stimme und dies alles vor dem Hintergrund von dramatischen Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen an den Theatern. Dem Überangebot beim künstlerischen Personal stehen Sparmaßnahmen der Theater und eine deutlich spürbare Reduzierung der Arbeitsplätze gegenüber, die Folge sind Gagendumping, Ausbeutung, Kündigung, also Einschränkungen im Bereich der sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Stellung und in letzter Konsequenz dann steigende Arbeitslosigkeit. Dieser ständig wachsende Druck auf das künstlerische Personal hat schließlich im Jahr 2013 mit der Facebook-Seite „Die traurigsten & unverschämtesten Künstler-Gagen & Auditionserlebnisse“ ein Ventil

193

Die Singenden

gefunden. Unterstützt von prominenten Künstlerinnen und Künstlern ist inzwischen daraus der gemeinnützige Verein „art but fair“ entstanden, der die Sorgen und die Klagen der Theaterwelt vertritt und auch schon „Goldene Regeln künstlerischen Schaffens“ beschlossen hat. Es ist sicher gut, wenn sich nun die Einzelkämpfer zusammenschließen, eine Verbesserung der Theatersituation hat es bisher leider nicht gebracht, wie die folgenden Zahlen zeigen werden. Die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) veröffentlicht in ihrem Bühnenjahrbuch regelmäßig eine Statistik zur Situation der Bühnenkünstler im gesamten deutschsprachigen Raum. Die folgende Auswahl, auf drei Kategorien: A

Anzahl der Theater

B

Anzahl der Sängerinnen und Sänger (Solisten und Chor)

C

Anzahl des gesamten künstlerischen Personals (+ Orchester, Ballett, Schauspiel, Regie, Bühnenbild)

beschränkt, bestätigt sehr deutlich den bereits angesprochenen Trend. Den höchsten Beschäftigungsstand im deutschsprachigen Raum gab es im Jahre 1943, ein Jahr vor der kriegsbedingten Schließung aller Theater, den absoluten Tiefststand dann in der ersten Statistik nach Kriegsende 1947:



A

B

C

1943/44 293 8.141 27.543 1947/48 217 6.419 23.523 In den folgenden Jahren verhindert die Teilung Deutschlands eine vergleichbare Zählung, da von den Theatern der DDR keine statistischen Zahlen zur Verfügung stehen. Nach der Wiedervereinigung ergibt sich aber dann folgendes Bild: 1991/92

250



6.132

26.697

Von diesem Zeitpunkt an nimmt einerseits die Zahl der Theater ständig zu, die Zahl der an diesen Theatern Beschäftigten ist dagegen leicht rückläufig: 1998/99 268 5.868 26.498 2009/10 397 5.828 24.768 In den letzten Jahren stagnieren dann die Zahlen, sie sind teilweise von Jahr zu Jahr identisch, im Bühnenjahrbuch 2016 schließlich gibt es keine Personalstatistik mehr, was mit technischen Problemen begründet wird. Wie auch immer, was diese Statistik nicht erfasst und vielleicht auch gar nicht zeigen soll, ist der permanente Abbau von festen Arbeitsplätzen, also von Jahresverträgen, und gleichzeitig die Zunahme von Gastverträgen, deren Zahl etwa im Zeitraum 1997–2012, also in rund fünfzehn Jahren von 8.000 auf 14.000 angewachsen ist. So hat ein Haus wie das Landestheater Salzburg in der Spielzeit 2015/16 gerade noch fünf feste Ensemblemitglieder im Bereich des Musiktheaters – vor dreißig Jahren waren es noch zehn – der Rest

194 5. Leben und Überleben im Stimmenwald wird mit Gastverträgen abgedeckt. Das ist nur ein Beispiel, beliebig übertragbar auch auf andere Häuser der gleichen Größenordnung und es bedeutet, dass etwa 18% der an Theatern im deutschsprachigen Raum tätigen Sängerinnen und Sänger nur noch teilzeitbeschäftigt sind. Kombiniert man diese Zahlen mit der Tatsache, dass die Zahl der Absolventen im Studienfach „Gesang“ in den Jahren von 2000 bis 2014 im gesamten deutschsprachigen Raum um 150% zugenommen hat, dann kann es nicht überraschen, dass Sänger heute zur „Wegwerfware“33 geworden sind und die Arbeitslosenquote bei 10% liegt. Wenn gespart werden muss, dann spart man immer zuerst beim Personal, das ist in der Kunst wie in der Wirtschaft. So wird ein zweijähriger Anfänger-Vertrag auch bei gutem Erfolg eben nicht als Normal-Vertrag verlängert – man holt sich lieber einen neuen Anfänger, das ist billiger. Natürlich funktioniert die Opernwelt in der Spitzenklasse nach wie vor ausgezeichnet, aber im mittleren und unteren Bereich hat sich die Lage deutlich verschlechtert. Man sollte nicht gleich von einem Waldsterben reden, aber ohne Zweifel ist die Luft etwas dünner geworden.

Die Lehrenden Man kann ein ganzes Buch nur über Sänger schreiben, man kann auch stundenlang nur über Sänger reden oder lesen. Aber sie sind nicht allein im Stimmenwald, da gibt es auch Intendanten, Verwaltungsdirektoren, Agenten und nicht zuletzt Dirigenten, Bühnenbildner und Regisseure. Erst im Zusammentreffen mit diesen entstehen doch die herrlichen Konflikte, Machtdemonstrationen, Intrigen, die unser Leben in den Theatern so dauerhaft beschäftigt haben. Dies alles lässt sich nun spielend leicht auch auf die Situation in einer Musikhochschule übertragen. Nehmen wir nur als Beispiel das Verhältnis Dirigent – Regisseur. Es ist ein hochsensibles Spannungsfeld, in dem Dirigenten und Regisseure zusammenarbeiten sollten. Die Aufgabenstellung ist identisch, denn es geht um die bestmögliche Interpretation eines musikdramatischen Werkes für die Bühne. Die Vorstellungen über den zu beschreitenden Weg können allerdings unterschiedlich sein, entsprechend kann dann die Zusammenarbeit sehr schnell vom Traum zum Trauma werden. Die ideale Aufführungsform von Opern für manche Dirigenten ist wohl die konzertante, denn das Orchester ist dabei akustisch bestens positioniert,

33 Brigitte Fassbaender, zitiert bei Bernhard Richter „Die Stimme. Grundlagen, Künstlerische Praxis, Gesunderhaltung“ Henschelverlag 2013

Die Lehrenden

195

der Dirigent kann ungestört arbeiten und er steht im Mittelpunkt. Das entsprechende Ideal mancher Regisseure wäre dann eine Opernaufführung mit Playback, bei der kein Dirigent das Bild stört, keine Diskussionen zwischen oben und unten die Proben unterbrechen und die Blicke der Sänger statt beim Dirigentenpult bei den Partnern bleiben. Herbert von Karajan in Personalunion als Dirigent und Regisseur hat es verstanden, beide Versionen zu kombinieren. Bevor er eine Oper inszenierte, ließ er bei seiner Schallplattenfirma eine Aufnahme machen, die dann als Playback bei der Probenarbeit diente. Bei der Aufführung war er aber als Dirigent wieder die dominierende Persönlichkeit – eine geniale Konstellation in der Verbindung von Produktion, Marketing und Verkauf. Allerdings hat Karajan auch nie eine Professur an einer Musikhochschule angestrebt. Doch trotz aller Unterschiede: Dirigenten und Regisseure sind es gewohnt, andere Menschen von ihren Vorstellungen überzeugen zu müssen, ob das nun die Musiker im Orchestergraben oder die Sänger auf der Bühne sind. Sie bringen also für die Arbeit mit Studierenden Erfahrungen mit aus ihrer Berufspraxis, die durchaus hilfreich sein können. Den wesentlichen Unterschied zur Arbeit am Theater muss man dann mit sich selber ausmachen, denn nun geht es nicht mehr darum, zu dirigieren oder zu inszenieren, sondern zu lehren. Das ist immer noch kompliziert genug. Nun wird in einer Musikhochschule nicht nur gesungen, da wird gestrichen, gesägt, gehämmert, gezupft und geblasen und was es sonst noch an künstlerischen Geräuscherzeugungen gibt. Das Vokabular mag mehr nach Baumarkt klingen als nach Kunst und es gibt auch eine durchaus verwandte handwerkliche Gemeinsamkeit, der zu lernende Umgang mit einem Werkzeug, einem Instrument. Das wiederum erleichtert es Instrumentalisten, die den Weg in eine Professur anstreben, zu objektivieren, während es die Sänger und Sängerinnen da viel schwerer haben, denn die Stimme – ich wiederhole es – ist kein Instrument, sie ist ein Organ. Wer noch singt und gleichzeitig schon unterrichtet hat es da etwas leichter, denn der Unterricht ist kein „Ersatz“, man steht ja noch auf der Bühne, man ist noch im Geschäft, was durchaus auch einen gewissen Kompetenzvorteil verschafft. Ich finde es jedenfalls gut, wenn Künstler, die unterrichten, immer noch als Interpreten in der Öffentlichkeit tätig sind, auch im Gesang. Organisatorisch kann man das alles lösen, es darf nur kein Nachteil für die Studierenden sein. Der Gesetzgeber sieht das etwas anders: Er hat zwar den Begriff der „Entwicklung und Erschließung der Künste“ selbst geprägt, dann aber vehement dagegen Stellung bezogen, dies als Rechtfertigung der Lehrenden für eine Dienstfreistellung heranzuziehen. Der umfangreiche Briefwechsel, der aus dieser Diskussion entstand, ist heute noch eine amüsante Lektüre.

196 5. Leben und Überleben im Stimmenwald Mit dem endgültigen Schritt vom Theater zur Hochschule kommt nun der Verzicht auf die schönen Eitelkeiten, auf den Applaus, das Zurücktreten von der Rampe in den Schatten. Wer selber nicht mehr singt und nur noch unterrichtet, kommt daher leicht in die Versuchung, die eigenen Erwartungen auf die „Kinder“34 zu übertragen, die nun sozusagen stellvertretend singen müssen. Aber wehe, wenn sie das nicht erfolgreich bewältigen, das kann dann das Ende aller pädagogischen Ansätze bedeuten. Ein Beispiel aus meinem Alltag als Abteilungsleiter möge das illustrieren.

Montag, 28. November 1988 Am vergangenen Freitag kommt eine Abordnung von drei Studentinnen zu mir ins Oktogon. Ich arbeite gerade mit einer Gruppe an Improvisationen, der Unterricht wird unterbrochen, schließlich ganz abgebrochen, denn es gibt da offensichtlich ein großes Problem: Studentin R., zweiter Jahrgang aus der Gesangsklasse von Frau Professor I. kam von einer ärztlichen Untersuchung in München mit dem Befund „stark geschwollene Stimmbänder durch Überanstrengung“ zurück. Die Lehrerin, mit der bis dahin guter Kontakt bestand, erklärte: „Wer krank ist, bestimme ich, außerdem bist du schon mit einem Stimmfehler gekommen“. Bei der Studentin also: Verzweiflung, Zusammenbruch, Wunsch nach Lehrerwechsel in die Gesangsklasse von Herrn Professor K. Das sind die Informationen, die mir nach einem mehrstündigen Gespräch bleiben, das ist der Stand zum Wochenende. Als ich Montag zu meiner Sprechstunde ins Gebäude Schwarzstraße komme, sitzt Studentin R. schon wartend vor der Türe, ist aber dann plötzlich verschwunden – ich sehe ihre Lehrerin kommen. Frau Professor I. informiert mich nun über die mir bereits bekannten Ereignisse der vergangenen Woche – aus ihrer Sicht, ich nehme es kommentarlos zur Kenntnis. Wenige Minuten später erscheint der Herr Professor K., will, dass die Studentin, die er sich am Wochenende bereits angehört hat, von Dr. O. untersucht wird. Kaum ist Professor K. weg, erscheint Professorin I., ziemlich verzweifelt, denn ihre Studentin hat sich nun krank gemeldet. Die Frau Professor weiß noch nichts von einem Wunsch nach Lehrerwechsel. Ich schlage ihr also eine Untersuchung der Studentin durch Dr. O. vor. Daraufhin holt die Frau Professor ganz begeistert von dem Vorschlag ihre Studentin ins Zimmer. Die Studentin ist sehr blass und zittert, denn sie weiß ja nicht, was wir besprochen haben. Ich informiere sie über den Vorschlag eines Arztbesuches bei Dr. O., beide verlassen mein Zimmer. Sekunden später erscheint Herr Profes34 Kammersängerin Wilma Lipp im „Kurier“ vom 24.März 1981

Die Lehrenden

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sor K., will wissen was los war, findet die Lösung aus seiner Sicht sehr elegant. Schließlich erscheint noch einmal die Studentin, bedankt sich glücklich und erleichtert, will gar nicht mehr gehen. Nach dem Arztbesuch und einer längeren Diskussion mit allen Beteiligten kommt es schließlich zum erwünschten Lehrerwechsel. Jeweils unter vier Augen vertraut mir dann Frau Professor I. an: „Gott sei Dank, diese Stimme war ja schon von Anfang an kaputt, da ist nichts mehr zu retten“, Herr Professor K. meint: „Gott sei Dank, das Mädchen hat ein herrliches Material, sie ist nur ganz falsch unterrichtet worden.“ Für einen Abteilungsleiter in der Gesangsabteilung gehören die Lehrerwechsel zum Tagesgeschäft und irgendwie finde ich das auch ganz vernünftig. Es gibt im Gesang keine allein selig machende Methode, kein Geheimrezept mit Erfolgsgarantie. Ein Gesangsunterricht wird daher so gestaltet sein, wie man es selber einmal gelernt hat, möglicherweise erweitert durch die eigenen Berufserfahrungen. Das kann sehr gut funktionieren, kann aber auch im Einzelfall einmal völlig danebenliegen. Dann halte ich einen Lehrerwechsel für richtig, ohne Schuldzuweisung in der einen oder anderen Richtung. Gefährlich scheint mir dagegen die leider oft zu beobachtende „Lösung“, dass Studierende statt eines Wechsel heimlich noch von anderer Seite Unterricht erhalten. Gesangsunterricht ist Vertrauenssache, man muss seinem Lehrer oder seiner Lehrerin blind vertrauen können – aber zwei Wahrheiten zur gleichen Zeit, das kann nicht funktionieren. Vielleicht täusche ich mich mit dieser Einstellung, denn eine hochbegabte Studentin, die aus Amerika zu uns kam, hat das Gegenteil bewiesen:

Ich wechselte die Lehrer oft. Ich habe viele Anregungen von verschiedenen Lehrern aufgenommen. Ich war nicht auf eine Richtung oder Methode fixiert. Die Kombination der Einflüsse ist dann meine Arbeit gewesen. Ich finde es falsch, nur auf eine Methode einer Lehrkraft festgelegt zu sein … In Amerika sind die besseren Lehrer, die nicht wie hier den Überblick verloren haben, die auch die verschiedenen Techniken besser verbinden können. Kommilitonen, die nicht aus Amerika kamen, lernten einfach falsch.35 Sie hat nach nur zwei Jahren Gesangsstudium das Mozarteum verlassen, sofort eine sehr erfolgreiche Karriere am Theater begonnen und unterrichtet heute selbst hier als Gesangsprofessorin. Das ist durchaus kein Einzelfall, immer wieder kommt es 35 Barbara Bonney in „Opernwelt“, November 1983

198 5. Leben und Überleben im Stimmenwald vor, dass außergewöhnliche Begabungen auf einen Studienabschluss verzichten um sofort in die Theaterpraxis einzusteigen, wo bekanntlich auf akademische Qualifikationen kein besonderer Wert gelegt wird. Der Grundsatz: Je höher der Bildungsabschluss, desto besser die Jobchancen und das Einkommen, der gilt leider nicht im Stimmenwald. Natürlich wird sich jeder Theaterleiter glücklich schätzen, einen Bachelor oder Magister in seinem Ensemble zu haben, als Höhepunkt vielleicht sogar einen echten Dr. phil. im Chor? Aber dieser Glücksfall wird eher selten eintreten, die meisten Theaterdoktoren sind Juristen, da ist das Studium nicht so aufwendig. Doch sind die Theaterdoktoren bitte nicht zu verwechseln mit den Theaterärzten, das ist ein ganz anderer Beruf. Einmal bin ich einem Sänger mit abgeschlossenem Medizinstudium begegnet, das war 1954 an der Komischen Oper Berlin. Die Mittagsgespräche in der Theaterkantine mit Manfred Jungwirt, er sang den Baculus im „Wildschütz“, waren für mich eine echte Diätkur – mir ist in den ersten Tagen total der Appetit vergangen, wenn mein Gegenüber am Menü diagnostizierte, aus welcher Abteilung der Charité, dem großen Berliner Krankenhaus, wohl diesmal das Essen geliefert wurde. Normalerweise aber benötigen Sänger diese wissenschaftlichen Kenntnisse nur sehr selten für ihren Beruf. Dabei ist die Verbindung von Wissenschaft und Kunst eine bewährte Einrichtung der Universitäten, seit dem 18. Jahrhundert gibt es dort eine Musikwissenschaft, seit etwa 100 Jahren auch eine Theaterwissenschaft. Es musste also nichts neu erfunden werden. Allerdings:

Im Ganzen kann man wohl behaupten, dass das Theater den Wissenschaften instinktiv ablehnend gegenübersteht … Alle am Theater Beschäftigten fühlen sich als die „vom Bau“. Sie spotten über den „ lateinischen Regisseur“, der von der Universität her kommt, den Seminarmann mit der Brille.36 Den an Kunsthochschulen unterrichtenden Theaterleuten war es schon lange aufgefallen: Durch die ständige Angleichung an die Universitäten wurde die Ausbildung zukünftiger Sänger wesentlich schwieriger und praxisfremder, die Zunahme wissenschaftlicher Fächer erhöhte die Belastung der Studierenden, die steigende Belastung ging auf Kosten der künstlerischen Schwerpunkte. So sollten zum Beispiel ergänzende Lehrveranstaltungen dem Rhythmuswechsel im Vorlesungsangebot der Universitäten angepasst werden. Dort wechseln zwar die Themen durch einen Austausch der Lehrenden beziehungsweise der Lehrinhalte, aber ohne Änderung der Quantität, den Studierenden bleibt die Wahlmöglichkeit erhalten, das Studienan36 Artur Kutscher in „Grundriss der Theaterwissenschaft“, Verlag Kurt Desch, München 1949

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gebot und damit auch die zeitliche Belastung in den einzelnen Semestern bleibt unverändert. Als man versuchte, diese gute und begründete Tradition der Universitäten auf Kunsthochschulen zu übertragen, ergab das eine für Gesangsabteilungen absurde Situation: Wissenschaftliches Arbeiten war nur in jedem zweiten Jahr möglich, verbunden mit einem beachtlichen Zeitschub, der von Jahr zu Jahr immer wieder neu in den Stunden- und Raumplänen der verschiedenen Studienrichtungen aufgefangen werden musste. Dies führte zur steigenden Belastung der Diplomanden gerade in der Endphase ihres Studiums – also zum genauen Gegenteil der Bestrebungen, wissenschaftliche Grundlagen am Beginn des Studiums zu schaffen und im weiteren Verlauf dann stärker auf die künstlerisch-praktischen Lehrinhalte einzugehen. Aber alle Argumente waren vergebens, es kam, wie es kommen sollte. Von der Katastrophe, die das Mozarteum erschütterte, als am 15. Oktober 1998 das Gebäude am Mirabellplatz wegen des Verdachts der Gesundheitsgefährdung geräumt werden musste, war schon die Rede. Das war aber noch nicht alles, denn ein Unglück kommt selten allein: genau zwei Wochen vorher, am 1. Oktober hatte man die Kunsthochschule zur Kunstuniversität befördert. Ich werde mir mit dieser Aussage keine Freunde machen, aber ich halte die Umwandlung der Kunsthochschulen in Universitäten wirklich für eine Katastrophe! Ich würde sogar noch weiter gehen, denn in meiner Vorstellung war die beste Form unserer Ausbildungsstätten noch vor der Kunsthochschule die Akademie. Es ist ein Begriff, der leider nur noch in der Sommerakademie des Mozarteums existiert, und als Erinnerung an vergangene Zeiten trägt ein Theater in Wien noch diesen Namen. Während die Aufgabe der echten Universitäten in der Vermittlung und Entwicklung von Wissenschaft und Forschung besteht, werden unsere Studierenden nicht in Hörsälen von einem Rednerpult aus in neue Berufswelten geführt, sondern im direkten Kontakt mit ihren Lehrern, im Einzelunterricht mit erfahrenen Künstlern, im sogenannten „Zentralen künstlerischen Fach“ unterrichtet. Hier liegt auch schon der entscheidende Unterschied, denn ein neu ernannter Universitätsprofessor kann auch ohne pädagogische Erfahrungen in einer Antrittsvorlesung sein Fachwissen eindrucksvoll präsentieren, der Musiker oder Sänger muss in der gleichen Situation vom ersten Tag an im direkten Kontakt mit jungen Menschen sein Berufswissen zurückstellen und auf ganz neue Herausforderungen gefasst sein: Wie fördere ich Begabung, ohne einzuschüchtern? Wie löse ich Probleme, die ich selbst nie hatte? Wie ehrlich gehe ich mit dem Nachwuchs in meinem Beruf um? An der Situation hat sich bis heute wenig geändert, es fehlt im Grunde immer noch an der „Lehre, wie man etwas lehrt“. Nun gibt es zwar die Möglichkeit „Gesangspädagogik“ zu studieren, allerdings werden Studierende, die sich für diese Studienrichtung entscheiden, nur im Ausnahmefall

200 5. Leben und Überleben im Stimmenwald eine Bühnenlaufbahn anstreben, bei der Nachbesetzung von Gesangsprofessuren aber wird vor allem nach der künstlerischen Qualifikation entschieden: eine erfolgreiche Karriere gilt als stärkstes Argument. So werden also aus Kammersängern im Handumdrehen Universitätsprofessoren. Mit ihren pädagogischen Problemen lässt man sie im Regen stehen und konfrontiert sie zusätzlich mit praxisfernen Vorschriften und einem nur schwer verständlichen Wortschatz. Denn Hand in Hand mit der neuen Verpackung als Universität kam wie erwartet eine Fülle an neuen Gesetzestexten, an der Spitze das – in einem Wort! – Kunstuniversitätsorganisationsgesetz. Neben dem Organisationsrecht dann natürlich das Studienrecht, nicht zu vergessen schließlich noch das Dienstrecht – alles in allem für den juridisch nicht vorbelasteten Professor eine mühsame Lektüre von fast tausend Seiten (in der Ausgabe Hauser/Kostal/Novak). Und es kam eine Fülle an neuen Vokabeln, die Imponiersprache von Bologna: Creditpoints, Assessment, Rankings, Modularisierung, Peer-Review, aus den Abteilungen werden Departments und es wird pausenlos evaluiert statt bewertet, zertifiziert statt bestätigt, akkreditiert statt beglaubigt. Der Verwaltungsaufwand ist beträchtlich gewachsen, aber hat es auch den zukünftigen Bühnenkünstlern etwas gebracht? Da hatte doch schon vor 35 Jahren ein Rektor der Kunsthochschule Mozarteum vor allzu großer Wissenschafts-Euphorie gewarnt:

In den künstlerischen Hauptfächern müssen wir stets auch die Berufschancen unserer Studierenden im Auge haben.37

Die Studierenden In den engen Gassen der Stadt Salzburg wurde 1756 ein Genie geboren. Niemand konnte das damals wissen, aber frühzeitig hat man sehr wohl die Begabung erkannt und gefördert: vor allem der als hervorragender Musiker und Pädagoge prädestinierte Vater Leopold Mozart, aber auch Freunde, Geschäftsleute und Beamte in der Stadt. Als dann eines Tages die Mauern zu eng wurden, zog das Genie hinaus in die weite Welt – doch Salzburg lebt noch heute davon. Wir sollten uns einmal fragen, ob denn heute jedes künstlerisch veranlagte Kind in unserem Land die Chance bekommt, seine Begabung zu erkennen und zu entwickeln, sich selbst zu verwirkli37 Rektor Franz Richter-Herf im Jahresbericht der Kunsthochschule Mozarteum 1979/80, S. 24

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chen unabhängig von der finanziellen Situation der Eltern. Nicht jeder Vater ist ein Leopold Mozart und Privat-Unterricht ist teuer. Wir sollten uns fragen, wie man das Stadt-Land-Gefälle und seine Ungerechtigkeiten ausgleichen kann und wir sollten uns – im Namen Mozarts! – sofort auf den Weg machen, um Talente zu entdecken und zu fördern. Es gibt heute in der Stadt Salzburg ein Überangebot an Veranstaltungen (auch an der Universität Mozarteum) und ein Überangebot an Lehre (auch an der Universität Mozarteum) – schicken wir doch die hochqualifizierten Spezialisten in die Landgemeinden! Vielleicht werden sie keine Genies entdecken, aber es ist auf jeden Fall sinnvoll, Begabungen zu fördern, selbst wenn es „nur“ zu einer kreativ erfüllten Freizeitgestaltung führt. Schließlich brauchen wir einen qualifizierten Nachwuchs nicht nur bei den Künstlern, sondern auch beim Publikum. „Ja … hätt ich’s nur selbst schon zum ‚Singer‘ gebracht! Wer glaubt wohl, was das für Mühe macht!“ – so klagt der Lehrbube David in den „Meistersingern“ über die Schwierigkeiten beim Erlernen der Singkunst. Es war sicher nicht einfach, das komplizierte Regelwerk der „Meistersinger“ zu erlernen, aber wer heute ein Meistersänger werden möchte, der hat es auch nicht leichter. Das von den Medien so gerne verbreitete Traumbild einer schnellen Karriere entspricht nicht der Realität, die Wirklichkeit ist viel brutaler – es ist einfach harte Arbeit. Dass dieser Einsatz sich auch lohnt, dazu bedarf es aber einer zusätzlichen Qualifikation: man kann es Talent nennen oder Begabung. Das gilt für alle künstlerischen Studienrichtungen, vor allem aber für den Gesang, denn ohne geeignetes Stimm-Material ist alle Mühe umsonst. Aus gutem Grund steht daher am Beginn eines Gesangsstudiums immer noch die Aufnahmeprüfung. Hier sei mir eine kleine Exkursion gestattet. Man wird das Wort „Aufnahmeprüfung“ in keinem österreichischen Gesetzestext finden, dort heißt es immer „Aufnahmsprüfung“. Da mich das Verbindungs-s nach einem weiblichen Substantiv auf -e (die Aufnahme) in meinem Sprachgefühl empfindlich gestört hat, ersuchte ich in mehreren gut begründeten Eingaben an das Ministerium um eine Korrektur. Dort berief man sich stets darauf, dass ein Gesetzestext nicht so einfach zu ändern sei. Als nun aus dem KHStG das UniStG werden sollte, also die Umwandlung der Hochschulen für Musik in Universitäten beschlossene Sache war, fasste ich neuen Mut, zumindest in dieser Frage. Ich hatte allerdings nicht mit dem Witz der Ministerialbeamten gerechnet: das „-s“ blieb auch im neuen Gesetzestext, nur heißt es jetzt seit 1999 „Zulassungsprüfung“. Dagegen kann man nun nichts mehr sagen. Aber ob es jetzt um die Zulassung oder um die Aufnahme geht, zu einer sorgfältig geplanten Studien- und Berufsentscheidung gehören die rechtzeitige Information über Anforderungen und Berufsaussichten sowie eine Vorbereitung auf Prüfungen

202 5. Leben und Überleben im Stimmenwald beim Studienbeginn. Das erscheint logisch, ist aber bei uns hier in einem Land der Hochkultur dennoch nicht so einfach:

Bei Aufnahmeprüfungen an österreichischen Musikhochschulen im Fach „Gesang“ haben Österreicher meist geringere Chancen als die besser vorbereiteten Bewerber aus anderen Ländern, unter den Österreichern ist dann die Landbevölkerung gegenüber der Stadt noch einmal besonders benachteiligt. Wenn man hier etwas verbessern will, muss man den einheimischen Nachwuchs früher erreichen und sorgfältiger informieren. Denn wenn jemand in unserem Land eine hübsche Stimme hat, gerne singt und vielleicht auch das Singen zu seinem Beruf machen möchte, dann scheitert es meistens an der fehlenden Beratung. Um jungen Menschen in dieser Situation zu helfen, hat unsere Abteilung im Frühjahr 1990 die Aktion „Freude am Singen“ gegründet, eine Ausbildungsund Berufsberatung für zukünftige Sängerinnen und Sänger der Altersgruppen von vierzehn bis etwa zweiundzwanzig Jahren. Bei einem ersten Vorsingen im Juni 1990 hat eine Kommission aus Lehrern unserer Abteilung vierzig junge Menschen über deren stimmliche Qualifikation, über eventuelle Schwächen und Fehler, über Ausbildungsmöglichkeiten an ihrem Heimatort und über Ausbildungs- und Berufsaussichten informiert. Diese Aktion, die zweimal im Jahr durchgeführt werden soll, scheint mir über alle sonstigen Produktionen und Aktivitäten unserer Abteilung hinaus der wichtigste Schritt in die Zukunft zu sein, den wir in diesem Jahr getan haben.38 Zum Start dieser Initiative war viel Überzeugungsarbeit notwendig, aber schließlich haben auch unsere Gesangsprofessoren Spaß daran gefunden und das Ministerium hat uns sogar einen zusätzlichen Lehrauftrag mit zehn Wochenstunden genehmigt, wir konnten einen „Vorbereitungslehrgang Gesang“ einrichten. Bis zu meiner Emeritierung im Jahr 2002 hatten wir rund 20 Beratungstermine mit etwa 250 Teilnehmern, inzwischen gibt es die „Freude am Singen“ leider nicht mehr – was jetzt aber nicht symbolisch gemeint ist. Denn der Vorbereitungslehrgang hat sich in vielen Jahren bewährt und ich stelle mit Freude fest, dass jetzt für diese Aufgabe ein gemeinsamer Lehrgang aller künstlerischen Studienrichtungen geschaffen wurde. Auch wenn aus der „Vorbereitung“ nun ein neudeutsches „Pre.College“ geworden ist, ein Fortschritt ist es auf jeden Fall. 38 Jahresbericht Hochschule Mozarteum für das Studienjahr 1989/90

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Die Beratungstätigkeit durch erfahrene Fachkräfte ist ein ganz wichtiger Aspekt vor Beginn eines Studiums, sollte damit aber nicht abgeschlossen sein. Die persönliche Qualifikation und Entwicklung der Studierenden gehört laufend kontrolliert, nicht nur in der eigenen Klasse vom eigenen Lehrer, sondern möglichst gemeinsam und klassenübergreifend. Zu meiner Zeit am Mozarteum war das schwierig, denn die eigenen Studenten waren natürlich immer die besten, sie durften nicht kritisiert werden. Aber hinterrücks, in der Gerüchteküche, da wurde eifrig getratscht, gelästert, intrigiert. Mobbing war schon in Mode, bevor das Wort Eingang in unsere Umgangssprache gefunden hat – kurz, es war wie in seligen Theaterzeiten. Das ist wohl heute vorbei, denn im Entwurf zu den Leitlinien der Universität Mozarteum heißt es über die interne Kommunikation: „Der Umgang der Universitätsangehörigen ist von den Maximen der Offenheit, der Toleranz und des Respekts vor der Unterschiedlichkeit von Personen, inhaltlichen Positionen und institutionellen Zugehörigkeiten geprägt.“ Schade, dass ich das nicht mehr erleben durfte. Das positivste Ereignis in diesen Jahren kam dann auch von außen, sozusagen mit der Post: Frau Auguste Szel-Bernhard aus Zürich hatte dem Mozarteum 15% ihres Nachlasses vermacht, damals etwa 2,8 Millionen Schilling, mit der Auflage, für die Ausbildung von Sängerinnen und Sängern eine „Gianna-Szel-StipendienStiftung“ zu errichten. So können seit 1986 bis heute jährlich aus den Zinserträgen des Stammvermögens jeweils für neun Monate zwei bis drei Stipendien in der Höhe von etwa € 400 monatlich vergeben werden. Die erfolgreichste Empfängerin dieses Stipendiums war wohl Camilla Nylund, aber auch sie musste jedes Jahr wieder einen sehr guten Studienerfolg nachweisen und in einem Vorsingen die positive Entwicklung ihrer Ausbildung bestätigen. Es ist hier sicher eine gute Gelegenheit, um endlich einmal dieses großzügige Geschenk entsprechend zu würdigen. Die wichtigste Entscheidung im Laufe eines Gesangsstudiums: Reicht es für eine erfolgversprechende Solo-Karriere? Es muss nicht immer an der stimmlichen Qualität liegen, Auftreten, Persönlichkeit, physische und psychische Barrieren können den Weg zum „Einzelkämpfer“ behindern. Die Alternative „Chor“ ist dann meistens mit einem negativen Aspekt verbunden, zu Unrecht, wie ich meine. Aber man muss diese Entscheidung früh genug treffen, denn ein gescheiterter Gesangssolist hat nur geringe Chancen, in einen Chor aufgenommen zu werden. Chorsänger ist ein anspruchsvoller Beruf, der eine qualifizierte Spezialausbildung voraussetzt. Die gab es bisher leider nicht am Mozarteum, trotz jahrelanger Bemühungen. Als wir dann mit Walther Hagen-Groll einen prominenten Spezialisten am Haus hatten – allerdings nur für die Ausbildung von Chordirigenten – da wurde das Problem erstmals offen angesprochen:

204 5. Leben und Überleben im Stimmenwald Die Studierenden der Abteilung 7, die allein das Fundament eines arbeitsfähigen Hochschulchores bilden müssten, glänzen durch Abwesenheit. Diese Tatsache entspricht genau dem Eindruck, welchen ich in jahrzehntelanger Tätigkeit an den Opernhäusern gewinnen musste, dass jedenfalls aus den deutschen und österreichischen Hochschulen kaum ein annehmbarer Nachwuchs für die Opernchöre und Berufskonzertchöre (Rundfunk) sich anbot, der für seine künftige Tätigkeit eine alles umfassende Kenntnis – und dazu gehört für die allermeisten die Chorarbeit – mitgebracht hätte. Die englischen und amerikanischen Colleges sind uns da weit voraus.39 „Am Anfang war der Chor“ – unter diesem Motto haben wir Vorträge und Informationstage organisiert, zum Alltag des Chorsängers, zur Chorausbildung, zu den Nachwuchsproblemen, mit dem Leiter der Chorausbildung an der Musikhochschule München, mit einem Vorstandsmitglied der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor – alles vergeblich. In den Köpfen der Sänger und der Gesangslehrer spukte immer noch eine Vorstellung von den Gefahren des Chorgesanges etwa in der Art:

Das Ansinnen, dass die Gesangstudierenden ihre Stimmen dem Chor zur Verfügung stellen müssen, ist nur geeignet, die Soloresultate des Instituts schwer zu gefährden, mindestens die Ausbildungszeit zu verlängern.40 Dabei gibt es im Gesangsunterricht sicher keine Unterschiede zwischen Solisten und Chorsängern, sehr wohl aber in den begleitenden Fächern. Bei Vorsingen für die großen Chöre werden neben einer abgeschlossenen Gesangsausbildung und Blattsingen Pflicht-Arien, Pflicht-Chorpartien und Kenntnisse im fremdsprachigen Repertoire verlangt. Vor allem das doch sehr umfangreiche Chor-Repertoire lernt man nicht so nebenbei; es muss ja nicht ein eigenes Studium sein, eine ergänzende Lehrveranstaltung könnte da schon viel helfen. Immerhin ist weit mehr als die Hälfte der an Theatern engagierten Sängerinnen und Sänger im Chor beschäftigt! Und immerhin kostet die Ausbildung eines Sängers den Staat über 70.000 Euro. Die kritische Aussage eines prominenten Sängers

Es wird viel Geld verheizt für verdammt wenig Zukunft41 39 Walter Hagen-Groll „Memorandum über den Hochschulchor“ vom 16.11.1986 40 Franziska Martienssen-Lohmann: „Der wissende Sänger“, Atlantis Verlag Zürich 1956 41 Der Bariton Matthias Goerne in der ZEIT vom 17.2.2011

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sollte Anlass genug sein, über eine auch marktgerechte Ausbildung nachzudenken. Dafür sollte man sofort den unsinnigen Wachstums-Optimismus aufgeben, strenger auswählen, Studentenzahlen reduzieren und die so eingesparten Kräfte für eine Intensivierung der Unterrichtsangebote nutzen. Wie soll es den weitergehen mit der Opern-Ausbildung in Zukunft? Wer sollte wie was lernen? Ich wünschte mir da in aller Naivität so eine Art „Xangschul“. So nannten wir einmal ein Programm, in dem sich die Komponisten Benedikt Hacker (geb. 1769), Jacques Offenbach (geb. 1819), Jiri Paur (geb. 1919) und Mauricio Kagel (geb. 1931) mit Stationen in der Entwicklung des Gesangsunterrichts befassen. Wie man bei der Volxmusik an eine Verbindung von Tradition und zeitgemäßer Anpassung denkt, mit der Volxbibel vor allem die Jugend ansprechen will und xunde Rezepte dem neuesten Stand der medizinischen Forschung entsprechen, so könnte dann auch die Xangschul eine Ausbildungsstätte sein, die sich den dramatisch veränderten Anforderungen unserer Zeit angepasst hat. Denn auch wenn Gesangsunterricht heute nicht mehr ganz so stattfindet, wie es noch Helmuth Lohner und Otto Schenk in ihrem berühmten Sketch parodiert haben, es gibt daneben genug zu tun. Die gesangstechnische Ausbildung war sicher nie so gut wie heute, allen daran Interessierten stehen historische Quellen, erprobte Lehrmethoden, Erfahrungen, Informationen und vor allem die besten Stimmen und die besten Interpreten des vorigen Jahrhunderts in Tondokumenten jederzeit zur Verfügung. Dieser Gesangsunterricht wird aber immer noch erteilt in der klassischen Zielrichtung Lied – Oratorium – Oper, also fast ausschließlich im Traditionsbereich der sogenannten E-Musik. Ich wünschte mir da etwas mehr Neugier, den Mut, im vorklassischen Bereich oder in heutigen Modeströmungen ein wenig gesangstechnisch zu experimentieren. Musiker machen das gerne auf alten Instrumenten – so alte Stimmen gibt es nicht mehr und wir hätten wohl auch wenig Freude daran – aber junge Stimmen könnten das sicher auch. Gleiches gilt natürlich für aktuelle Vokalformen in unserer globalisierten Welt. Ich meine jetzt nicht eine Lehrveranstaltung „Vom Countertenor bis Helene Fischer“, aber ich könnte mir vorstellen, dass bei gelegentlichen Ausflügen in andere, im Hochschulalltag eher selten behandelte Bereiche der Nutzen für die Sänger am Ende größer wäre, als bei dem Wissen über die wichtigsten Grundzüge der Musikkulturen im antiken Mesopotamien und Ägypten oder über das Systema teleion. Die Bühnenreifeprüfung vor der Paritätischen Kommission der GDBA wurde leider im Jahre 1991 abgeschafft, damit ist die Berufsbezeichnung „Opernsänger“ nicht mehr geschützt, jeder kann sich heute so nennen. So werden also jedes Jahr junge Menschen in eine Opernwelt entlassen, von der sie nur wenig Ahnung haben: in ihrer äußeren Form gekennzeichnet durch autoritäre Führungsprinzipien und eine

206 5. Leben und Überleben im Stimmenwald komplizierte Organisation, ausgestattet mit den modernsten technischen Errungenschaften, in ihren Inhalten um eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit tradierten Kunstwerken aus über vier Jahrhunderten bemüht. Der Anfänger sieht sich also einer sehr komplexen Theaterwelt gegenüber mit sehr unterschiedlichen Problembereichen – den Theatermenschen und den Theaterdingen. Darauf vorbereitet zu werden ist ein mindestens so wichtiger Aspekt des Studiums wie die künstlerische Ausbildung. Zwischen den Lehrern und den Theaterleuten begegnen wir einem, den wir gerne Vermittler nennen würden, auch wenn er manchmal nur Agent ist. Wir wünschen ihn uns als einen kompetenten Fachmann, der den Markt kennt und nun stellvertretend für den Gesangspädagogen die Führung einer jungen Sängerpersönlichkeit in die Hand nimmt. Leider steht diesem Wunschbild ein hoffnungslos überlaufener Markt gegenüber, der zu Gleichgültigkeit und Geschäftemacherei verleitet. Das Prinzip heißt dann „Möglichst schnell verkaufen“ – wer fragt schon nach zehn Jahren, was aus einer Stimme geworden ist. So kommt der Nachwuchs, wenn er nicht überhaupt chancenlos an verschiedenen Theatern herumgeschickt wird, die gar keine entsprechende Vakanz haben, oft viel zu früh an große Häuser, wo es dann nicht weitergeht – oder an kleine, wo es viel zu schnell geht. Hier folgt der Intendant den gleichen Intentionen, er will ja ein entdecktes Talent schließlich auch auswerten. Manche Sänger vertragen das, viele bleiben auf der Strecke, aber allen fehlt einfach die Zeit, die auch eine fertig ausgebildete Stimme zu ihrer vollen Entwicklung braucht. Das wichtigste Ding für einen Start am Theater ist dann der Vertrag. Er fasst ein ganzes Problempaket zusammen: Rechte und Pflichten, Hausordnung, Spielverpflichtung, Anwesenheitspflicht, Urlaubsschein, Krankmeldung, Kündigungsfrist – eine eigene Welt voller Fallstricke. Wer hier schon nicht ins Stolpern kommt, den erwischt es dann spätestens auf der Bühne. Zwischen hydraulisch, elektronisch und von Computern gesteuerten, gelenkten und bewegten Konstruktionselementen, im Schein von Metalldampf-Halogen-Entladungslampen mit einer 12.000 WattLeistung wird ihm nicht nur Hören und Sehen, sondern vor allem auch das Singen vergehen. Wir brauchen also neben der gesangstechnischen und musikalischen Ausbildung und Bildung und parallel zu einem intensiven Körpertraining eine kompetente Vorbereitung auf die Theaterwelt. Bühnenrecht und alles, was damit zusammenhängt, sollte nun aber nicht von theaterfremden Juristen oder ehemaligen Intendanten vermittelt werden, sondern von erfahrenen Theaterpraktikern aus den Reihen der Obmänner, der Bühnengenossenschaft oder der Gewerkschaft. Grundkenntnisse

Die Studierenden 207 im Bereich der Theatertechnik sind mindestens genauso wichtig. Da gibt es immer noch den unausrottbaren Aberglauben, der Platz ganz vorne an der Rampe wäre der beste: ein paar Meter weiter hinten klingt es garantiert viel besser, denn die Stimme braucht Reflektoren, um sich im Raum auszubreiten und der beste Reflektor sind immer noch die Bretter, die die Welt bedeuten – vorausgesetzt, sie sind immer noch aus Holz. Dieser Holzboden, dazu ein fester Rundhorizont und ein schräger Plafond, das wären die idealen Sängerräume. Aber heute werden Bühnen anders gestaltet und da kann es nur von Vorteil sein, wenn auch Sänger etwas über die Gefahren schalltoter Räume wissen, sich im Interesse ihrer Stimme gegen ungeeignete Teppichböden, Vorhangstoffe und Schaumpolsterungen zur Wehr setzen können. Aber Theaterbesucher wollen nicht nur hören, sie wollen auch etwas sehen. Es nützt unseren Sängern nichts, wenn sie sich auf der Bühne in einen hellen Lichtfleck stellen – dann sind nämlich nur die Füße beleuchtet. Man muss lernen, das Licht zu suchen und zu spüren, denn erst wenn es blendet, steht man gut. Dann auch noch die Zeichengebung des Dirigenten zu erkennen, das erfordert intensives Training. Bühnentechniker, aber auch Bühnenbildner könnten hier die geeigneten Ratgeber sein. Der Umgang mit den technischen Medien Ton und Bild dagegen wird offensichtlich bereits intensiv betrieben – es ist schließlich auch ein wichtiger Faktor bei der eigenen Vermarktung. Ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt, habe ich für den Schluss aufgehoben – ich möchte es das Kopf- und Körpertraining nennen. Da gibt es in Österreich den sehr erfolgreichen Skispringer Anton Innauer, der nach seiner Karriere intensiv im Trainerbereich gearbeitet hat. Wir hatten einmal ein längeres Gespräch über die Gemeinsamkeiten von Skispringen und Operngesang, daraufhin habe ich ihn eingeladen ins Mozarteum und er hat uns im vollbesetzten Großen Studio mit einem Vortrag „Bewältigen von psychischen Belastungssituationen in Sport und Musik“ verblüffende Erkenntnisse aus dem Hochleistungssport vermittelt, etwa in Vergleichen des Sportlers vor dem Start mit dem Musiker vor dem Auftritt. Da hat unsere Ausbildung sicher großen Nachholbedarf. Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Konzentration, Emotionales Gedächtnis, Ausdrucksschulung, Körpersprache, die Grunderkenntnisse Stanislawskijs – im Ausbildungsprogramm für das Schauspiel finden sich noch viele Anregungen für die Sängerschulung. Wir sollten uns aber keine Illusionen machen, Sänger werden nur in Ausnahmefällen die körperliche und emotionale Beweglichkeit von Schauspielern erreichen können, einfach weil sie singen, weil sie sich im Rahmen von vorgegebenen musikalischen Strukturen ausdrücken und bewegen müssen, verbunden mit einer sehr komplizierten Atem- und Gesangstechnik. Aber dennoch: Sänger müssen sich bewegen lernen, für ihre Kondition und

208 5. Leben und Überleben im Stimmenwald für die Bühne. Als Kommentar zum Körpertraining gab es früher einen dummen alten Spruch, der auch nicht umzubringen war: „Die Mädels sollen tanzen und die Buben sollen fechten“. Was für ein Unsinn! Tanzunterricht dient der Stärkung des Körperbewusstseins in Verbindung mit Musik, Fechtunterricht ist keine Wettkampfvorbereitung – „Hamlet“-Opern mit Fechtszenen sind relativ selten! – sondern ein Reaktionstraining mit Partner. Da müssen wirklich alle ran. Wenn man nun so wie ich von der Wichtigkeit eines Körpertrainings überzeugt ist, dann tut es besonders weh zu erfahren, dass die einmal mit Mühen errungenen professionellen Säle für Gymnastik, Tanz und Fechten im Haus am Mirabellplatz beim Umbau ersatzlos gestrichen wurden, das gesamte Bewegungs- und Trainingsprogramm der Gesangsklassen nun wieder in der Schwarzstraße in einem Raum ohne Klimaanlage, ohne Garderobenund Sanitärräume stattfindet: ein Rückschritt ins vorige Jahrhundert! Man sollte den Menschen, die in eine komplizierte Berufswelt entlassen werden, Kenntnisse vermitteln, die ihnen helfen können, um da draußen zu bestehen. Die Verbindung von „Kunst und Wissenschaft“ nur als Beschäftigungstheorie scheint mir eine frivole Alternative zu sein. Denn wenn Absolventen draußen scheitern und zurückkommen, um weiter zu studieren, dann ist das zwar positiv für die Aufführungen der Opernklassen, die nun mit fertig ausgebildeten Stimmen arbeiten können statt mit Anfängern – eine echte Zukunftsperspektive für die jungen Menschen ist es aber nicht. Ich möchte nicht in den Verdacht kommen, von einer „guten alten Zeit“ zu träumen, ganz im Gegenteil, aber ich möchte nun zum Schluss noch einmal einen Vergleich anstellen. Im Studienjahr 1958/59 gab es an der Akademie Mozarteum 85 Lehrer, 714 Studenten und 20 Personen in der Verwaltung. Im ganzen Studienjahr wurden 80 Veranstaltungen durchgeführt, so führte im Rahmen der Mozartwoche 1959 das Opernstudio zwei Opern von Händel und Haydn im Landestheater auf, zum „Musikalischen Frühling in Salzburg“ spielte man im Gartentheater der Frohnburg Mozarts „Finta semplice“. Ein halbes Jahrhundert später sind es immer noch 80 Veranstaltungen, jetzt aber in jedem Monat, die Zahl der Studierenden hat sich verdoppelt, die der Lehrenden versechsfacht und in der Verwaltung sind achtmal so viele Mitarbeiter beschäftigt, wobei die personalintensive Gebäudereinigung längst an Fremdfirmen vergeben wurde. Dies alles bei stagnierenden beziehungsweise deutlich rückläufigen Beschäftigungszahlen im deutschsprachigen Theaterraum. Es scheint daher dringend geboten, bei der Ausbildung von jungen Musikern die Wachstums-Euphorie endlich aufzugeben, deutlich zu reduzieren, zu reformieren im Sinne von mehr Praxisnähe und nicht noch mehr Wissenschaftlichkeit zu Lasten der künstlerischen Qualität. Dort, wo Salzburg Entwicklungsland ist, im Bereich der

Die Studierenden 209 Versorgung mit Musiklehrern auf dem Land, im Bereich der musikalischen Erziehung, der Betreuung von Kindern und vielleicht auch von Laien, da gibt es genug zu tun. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal Barbara Bonney zitieren, die sogar eine Meisterklasse für Amateure andenkt:

Ich möchte diesen Leuten Lust machen, selbst Musik zu machen, Hausmusik, wie in alten Zeiten. Diese Menschen lernen nicht zuletzt, Musik bewusster zu empfangen, zu genießen. Auch für die musikalische Erziehung der Kinder ist es wichtig, dass Eltern ein bewussteres Verhältnis zur Musik haben.42 Pflege und Entwicklung der Künste – das war das Stichwort, das sind die Aufgaben und daran sollten wir uns halten, damit nicht eines Tages eine düstere Prophezeiung Wirklichkeit wird:

Nirgendwo herrscht eine solche Verantwortungslosigkeit wie an unseren Musikakademien, die sich neuerdings Musikuniversitäten nennen.43 In mein Mozarteum, in das alte und in das neue, gehe ich immer noch gerne. Beide Gebäude sind für mich verbunden mit einer Fülle von Erinnerungen: an Begegnungen, an Konflikte, an Misserfolge und Erfolge. Vor allem aber ist es der Neubau am Mirabellplatz, der sich dem Besucher jetzt schon von weitem öffnet, Einblicke in den Unterricht gewährt, zur Teilnahme einlädt am Geschehen – das macht Hoffnung auf eine positive Entwicklung, auf eine Lösung der in diesem – schwierigen – Kapitel angesprochenen Probleme. Meine Prognose für den Fortbestand des Stimmenwaldes lautet daher: Die Aussichten sind nicht schlecht, es wird immer wieder erfolgversprechenden Nachwuchs geben, wenn man sich auch im Vorfeld darum bemüht. Der allgemeine Klimawandel im Stimmenwald und die daraus entstandenen und noch entstehenden Probleme verlangen nach entschiedenen Anpassungsmaßnahmen für den vorhandenen Baumbestand, für zukünftige Entwicklungen kommt also auf die Baumschulen eine große Verantwortung zu. Das Gedicht „Die Gesänge“ von Johann Gottfried Seume, mit dem dieses Kapitel eröffnet wurde, hat neun Strophen und die letzte Zeile der letzten Strophe lautet:

„Weh’ dem Lande, wo man nicht mehr singet!“ 42 Barbara Bonney in Salzburger Nachrichten vom 20.5.1999 43 Thomas Bernhard „Der Untergeher“ Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983

6. Zeitsprünge „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“, so lässt schon Hofmannsthal seine Marschallin im „Rosenkavalier“ räsonieren. Das ist sie sicher und mit dem Älterwerden wird man sich dessen immer deutlicher bewusst. Wie oft reden wir im Alltag davon, Zeit gewonnen oder auch verloren zu haben – es ist müßig, sich darüber zu freuen oder zu ärgern. Die Zeit, unsere ganz persönliche Zeit, wie sie jedem Lebewesen in unterschiedlichem Umfang zur Verfügung gestellt wird, diese Zeit bleibt unverändert und sie vergeht ständig, sie verrinnt. Damit ist sie durchaus dem Wasser nicht unähnlich, das unmerklich immer weiter fließt. Wie das Wasser unter bestimmten Bedingungen zum Stillstand kommen kann, gefriert, so kann auch die Zeit in unserer Einbildung einfrieren, stehen bleiben. In Wirklichkeit vergeht sie natürlich weiter, so wie das Wasser unter dem Eis weiter fließt. Aber an der Oberfläche sehen wir ein Bild wie im Spiegel, die vergangene Zeit spiegelt sich. Und so wie das Eis zerspringen kann, so kann auch die gespiegelte Zeit einen Sprung bekommen, dahinter werden andere Bilder sichtbar, Bilder vergangener und stehen gebliebener Zeit. Im Jahr 2014, meinem achtzigsten Lebensjahr, sind diese Zeitsprünge plötzlich sehr zahlreich geworden. Ich habe also begonnen, Anlass und ausgelöste Erinnerungen zu notieren, nicht als Tagebuch in geregelter Folge, sondern eben sprunghaft.

2. Februar 2014 Aus der Zeitung erfahre ich es erst einen Tag später: Der Dirigent Gerd Albrecht ist gestorben. Nun gehen die Gedanken weit zurück, man beginnt zu rechnen. Es ist das Jahr 1958, da werden zwei junge Korrepetitoren an die Staatsoper Stuttgart engagiert, Kurt-Heinz Stolze und Gerd Albrecht. Wie am Theater durchaus üblich, werden neue Mitglieder vom Ensemble kritisch begutachtet und dann entsprechend eingeordnet. Wir sind uns schnell einig, denn der Stolze scheint ein Mädchenkiller zu sein und der Albrecht ist sicher schwul. Wie wir uns doch getäuscht hatten: es war genau umgekehrt. Aber an der beruflichen Qualifikation der Beiden gibt es keine Zweifel und so finden sie sehr schnell den Weg an das Dirigentenpult. Kurt-Heinz Stolze, als ausgezeichneter Pianist

212 6. Zeitsprünge auch Liedbegleiter von Fritz Wunderlich, wird bald wichtiger Partner für das Stuttgarter Ballettwunder unter John Cranko. Er dirigiert zunächst die Ballettabende, schreibt aber dann auch Orchester-Bearbeitungen für Crankos große Ballette wie „Onegin“ (1965) oder „Der Widerspenstigen Zähmung“ (1969), die noch heute an großen Theatern gespielt werden. 1970 scheidet Kurt-Heinz Stolze im Alter von 44 Jahren freiwillig aus dem Leben. Gerd Albrecht verlässt Stuttgart nach drei Jahren und wird dann bald Deutschlands jüngster Generalmusikdirektor, zunächst in Lübeck, dann in Kassel und schließlich in Hamburg. Dort haben sich unsere Wege auch immer wieder gekreuzt, vor allem im Einsatz für zeitgenössische Komponisten. Es war eine große Freude, ihn vor zwei Jahren noch einmal bei einem Gastkurs am Mozarteum begrüßen zu dürfen. Es war unsere letzte Begegnung – und aus dem bewegten Film mit den beiden jungen Korrepetitoren ist nun ein Standfoto geworden. 15. Februar 2014 Er hat mir noch ein Foto geschickt, zusammen mit seiner Frau vor dem Festspielhaus, und auf die Rückseite hat er mir geschrieben: Dem alten Schlachtgenossen! Das war am 16. Januar. Heute ist Hans Schlote gestorben. Im Januar haben wir noch seinen 92. Geburtstag beim Doktorwirt gefeiert, mit großer Rede und am Ende stolzer Abfahrt am Steuer seines Mercedes, neben sich seine Frau, Kampfgefährtin in vielen Jahren gemeinsamer Unternehmungen. Denn er war ein richtiger Unternehmer, ständig den Kopf voller neuer Ideen und Pläne. Ein Prinzipal eben, so wie man sich einen Theaterdirektor vorstellt, hart im Verhandeln, aber zuverlässig bei der Erfüllung der eingegangenen Verpflichtungen. Ich habe für ihn und seine „Deutsche Gastspieloper Berlin“ zwei Tourneen inszeniert, einmal mit Werner Egk „Revisor“, dann mit Schönberg „Pierrot Lunaire“ und Strawinsky „Geschichte vom Soldaten“, einem anspruchsvollen Programm, das viel Mut vom Veranstalter erfordert. Aus der beruflichen Zusammenarbeit ist schließlich eine richtige Freundschaft geworden, hier in Salzburg, sozusagen an der gemeinsamen Endstation. Wir haben das aber beide ohne Sentimentalität gesehen und das Altern eher als Grund zum Feiern betrachtet. Da war er ein großer Meister, im Feiern, je barocker die Dimensionen, desto lieber war es ihm, der eigentlich selbst ein echter Barockmensch war. 12. März 2014 Mit zunehmendem Alter erhöht sich wohl automatisch auch die Zahl der Arztbesuche. Ich gehe also zu dem Mann, der mir vor einem Jahr ein neues

6. Zeitsprünge

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Hüftgelenk eingesetzt hat. Das war damals wie ein Wunder, Spaziergänge am Tag nach der Operation und mühelose fünfhundert Kilometer zu Fuß in einer Golfsaison. Die ärztliche Kontrolle ist gründlich, das Ergebnis: „Tadellos. In vier Jahren kommen Sie mal wieder vorbei.“ Wie unterschiedlich doch so ein Arztbesuch sein kann, denn da gab es doch etwas vor kurzer Zeit? Ja, richtig, eine Vorsorgeuntersuchung beim Internisten. Auch hier alles in Ordnung, nur auf meine Frage, ob man das alle vier Jahre machen sollte, kam die Antwort: „Alle sieben Jahre reicht. Jetzt können Sie sich selbst ausrechnen, wie oft wir uns noch sehen werden!“ Na ja, ich habe nicht gerechnet, ich überlasse es lieber dem Zufall. 6. April 2014 Es ist ein früher Frühling in diesem Jahr und schon im März blüht es in allen Winkeln des Gartens. Mein Vater hätte seine Freude daran, die ersten Blumen im Jahr konnte er kaum erwarten. Und da steht er plötzlich vor dem Gartentor, ja, es ist mein Vater, ich entdecke ihn vom Küchenfenster aus. Er scheint ein wenig verwirrt zu sein, irgendetwas irritiert ihn. Jetzt geht er wieder einige Schritte zurück, schaut das Haus an und immer wieder das Gartentor. Ich laufe hinaus, herzliche Umarmung, alles wie immer, aber dann kommt schon seine erste Frage: „Da war doch immer eine Laterne, schwarz, Metall, auf dem Sockel neben dem Gartentor. Wo ist denn die hin? Und die Sockel?“ Statt einer Antwort führe ich ihn außen herum um das Haus und da steht sie, die Laterne, schwarz, Metall, fest verschraubt mit einer Steinplatte, mitten im Hang. Mein Vater ist beruhigt, aber nun vermisst er seinen Wald. Es stimmt schon, hier standen einmal sechsundzwanzig Bäume, überwiegend Tannen, vierzig Jahre alt und inzwischen sehr hoch gewachsen. Die ersten hat ein Spezialist scheibchenweise abgeschnitten, einige haben wir mit der Feuerwehr entsorgt und den Rest hat der Sturm gefällt. So ist der Wald allmählich verschwunden, die Sonne findet wieder in den Garten. Was jetzt noch steht, ist meist wild gewachsen, Eiben, Buchen, eine Wildkirsche, ein Holunderstrauch. Aber da steht er noch, der Lieblingsbaum meines Vaters, die Felsenbirne. Wie zur Begrüßung sind die zarten Blüten gerade erst aufgegangen. Mein Vater lächelt zufrieden und wendet sich dem Haus zu. Nun wird es spannend für mich, denn da ist nichts geblieben, wie es einmal war. Fast nichts! Was nicht mehr ist, das hat die Zeit wohl gnädig aus dem Gedächtnis des Vaters gelöscht, er erkennt nur vertraute Dinge wieder. Die Veränderungen am Gesamtkonzept des Hauses nimmt er nicht zur Kenntnis, freut sich

214 6. Zeitsprünge aber über ein paar Quadratmeter des Palladiana-Fußbodens, den wir erhalten haben. Die offene Poggenpohl-Küche, unser ganzer Stolz, interessiert ihn kaum. Doch dann sieht er die Treppe und will sofort hinauf, denn einen ersten Stock, den gab es früher nicht, da war nur eine Schubleiter zum Dachboden. Die Räume oben, er sieht sie nicht, sieht nur seinen alten Blüthner-Flügel aus dem Jahre 1910. Es werden nur ein paar Akkorde angeschlagen, dann heißt es: „Der gehört aber wieder einmal gründlich nachgestimmt. Und zwei Tasten klemmen!!“ Wir gehen wieder hinunter, nun ganz hinunter in den Keller, denn hier wartet meine Überraschung. Es war immer ein Traum meines Vaters gewesen, ein „Kellerstüberl“, wie er es nennen wollte. Das gibt es inzwischen, eingerichtet mit den alten Möbeln und der Zirbenholz-Sitzecke aus der Wohnküche seiner Eltern. Wir hatten uns sehr bemüht, alles wieder so aufzubauen, wie es mein Vater noch aus seiner Jugendzeit gekannt hat. Nun steht er da, minutenlang, ohne ein Wort zu sagen. Ich glaube, er ist sehr gerührt, will es nur nicht zeigen. Sehr schnell drängt er jetzt zum Aufbruch. Ich hätte ihm gern noch erzählt von meinem Buch über den Herrn Kammersänger, von den wiederentdeckten Rundfunkaufnahmen in Berlin, von der Matinee zu seinen Ehren in der Dresdner Staatsoper, von seinen ehemaligen Schülern. Doch plötzlich ist er wieder verschwunden. Sein Besuch hat mich froh gemacht, denn ich habe den Eindruck, er war sehr zufrieden, mit uns, mit sich, mit den Erinnerungen. Draußen am Gartentor, beim Weggehen, war dann noch eine letzte Frage: „Habt ihr denn gar keine Tulpen mehr im Garten?“. Ja, ich weiß, die haben gerade geblüht, damals, als er starb, an einem 21. März vor über dreißig Jahren. 6. Juni 2014 In Frankreich begeht man heute den siebzigsten Jahrestag der Invasion in der Normandie. Das Fernsehprogramm ist ganztägig auf dieses Thema zugeschnitten, Live-Übertragungen von den verschiedenen Schauplätzen, Dokumentationen, Diskussionen, Spielfilme – eine ganze Nation erinnert sich an den D-Day. Minutiös werden die Ereignisse rekonstruiert, französische Widerstandskämpfer hören die Nachrichten der BBC ab und warten auf das verabredete Zeichen für den Invasionsbeginn. Da ist es endlich – am 1. Juni 1944: „Les sanglots longs de violons de l’autotomne“. Ich höre den Text und weiß sofort die nächste Zeile: „Blessent mon coeur d’une langueur monotone“, ja, ich kenne das ganze Gedicht auswendig: das „Chanson d’automne“ von Verlaine. Diese zweite Zeile, gesendet am 5. Juni um 21.15 Uhr, signalisiert dann den Beginn der Invasion. Aber woher kenne ich das Gedicht? Es ist Ende der Fünfzigerjahre, in Stuttgart,

6. Zeitsprünge

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wo mir mein Intendant Walter Erich Schäfer empfiehlt, Französisch zu lernen. Durch Freunde finde ich eine Lehrerin, die mir in unserer ersten Stunde genau dieses Gedicht vorlegt, die sich weigert, auch nur ein einziges Wort Deutsch mit mir zu reden und die dann den Grundstein legt für meine Liebe zur französischen Sprache, zu Frankreich, zu seiner Kultur, zu seinen Menschen. Aber die beunruhigende Frage bleibt für mich: Hat meine Lehrerin damals dieses Gedicht, mit dem das Ende des Krieges, das Ende der nationalsozialistischen Barbarei angekündigt wurde, bewusst ausgewählt? Ich habe lange darüber nachgedacht und ich bin mir sicher, das war kein Zufall. 23. Juni 2014 Heute wäre der hundertste Geburtstag meiner Mutter. Ich schreibe an meinem dritten Buch und bisher ist sie immer nur in einem Nebensatz vorgekommen. Warum eigentlich? Nun, sie war mit einem prominenten Bühnenkünstler verheiratet, hat sich nie in den Vordergrund gedrängt und was zu erzählen war, das spielte im öffentlichen Raum, das Private im Leben meiner Eltern habe ich meistens ausgeklammert. Es war wohl auch keine glückliche Ehe, konnte es nicht sein, wenn ein Partner im Bühnenlicht steht, bewundert und verehrt wird, während der andere Partner daheim wartet. Aber trotz aller Krisen, meine Eltern sind zusammengeblieben, mir zuliebe, auch wenn es manchmal kritisch war. Denn meine Mutter hatte sich immer weiter zurückgezogen aus der Theaterwelt, obwohl sie in ganz jungen Jahren als Elevin am Opernhaus in Breslau durchaus Bühnenambitionen hatte. Nach den wenigen Fotos, die sich aus dieser Zeit erhalten haben, war sie wirklich eine Schönheit, eine attraktive Blondine mit Temperament. Es ist seltsam, das zu schreiben, denn ich habe sie so natürlich nicht mehr gekannt. Da gab es den Krieg und dann die Nachkriegszeit, die Saison der Kriegerwitwen und Trümmerfrauen, da war alles anders, auch wenn sie noch jung war, bei Kriegsende 1945 gerade einmal 31 Jahre alt. Als dann wieder bessere Zeiten kamen, da waren wohl die Illusionen der Jugend verblasst. Ihr Zuhause wurde zum Mittelpunkt des Lebens, sie zur perfekten Hausfrau, alles war geregelt und feste Zeiten bestimmten die Nahrungsaufnahme am Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend – bis zum Beginn der Fernseh-Nachrichten war alles erledigt. Vielleicht war es ja diese strenge Hausordnung, die es mich heute genießen lässt, dass wir unseren Tagesablauf nicht mehr nach der Uhrzeit, sondern nach unseren durchaus wechselnden Bedürfnissen gestalten. Aber meine Gedanken sind heute bei ihr, an diesem hundertsten Geburtstag, in großer Dankbarkeit.

216 6. Zeitsprünge 4. Oktober 2014 Ich sehe das Plakat und kann es nicht fassen – die Dresdner Staatsoper spielt die „Nachtausgabe“ von Peter Ronnefeld und heute ist Premiere. Ein vergessener Komponist und eine vergessene Oper, aber ein Name, der wie ein Komet durch mein Leben gezogen ist. Peter, vier Monate jünger als ich, geht in die Parallelklasse in der Rudolf-Steiner-Schule in Dresden. Er ist ein Wilder – und er ist hochbegabt. Ich habe schon erzählt von ihm, wie er als Mozart verkleidet in einer Schulaufführung „Bastien und Bastienne“ dirigiert. Wir gehen gleichzeitig nach Berlin, er studiert bei Boris Blacher, ich gehe noch in die Schule. Dann trennen sich unsere Wege für kurze Zeit, er bekommt einen Lehrauftrag am Mozarteum in Salzburg, wird Assistent von Karajan und Cembalist im Concentus Musicus bei Harnoncourt, er dirigiert und komponiert. Hier in Salzburg schreibt er 1956 für die Studenten des Mozarteums die „Nachtausgabe“, es gibt nur eine Vorstellung im Landestheater. Die einzige Sprechrolle im Stück spielt Thomas Bernhard, der sich später noch daran erinnert: „Peter Ronnefeld war ein genialer Hund“. Dann hat Norddeutschland 1963 plötzlich zwei „jüngste Generalmusikdirektoren“: Peter Ronnefeld in Kiel, Gerd Albrecht in Lübeck, beide 28 Jahre alt. Beide setzen sich intensiv für zeitgenössische Musik ein, in Kiel ist es vor allem die Sängerin Carla Henius, die Frau des Intendanten Joachim Klaiber, und ihr „Kieler Stil“. So mache ich mich zwei Jahre später, im Juni 1965 im Auftrag des NDR Hamburg auf den Weg nach Kiel: Peter Ronnefeld wird die Uraufführung der Oper „Ein Traumspiel“ von Aribert Reimann leiten und wir wollen eine Kurzfassung für das Fernsehen drehen. Bei meiner Ankunft liegt Peter bereits im Krankenhaus, mein Besuch bei ihm wird unser letztes Treffen sein, er stirbt im August im Alter von dreißig Jahren. Michael Gielen leitet dann die Uraufführung der Reimann-Oper und Gerd Albrecht dirigiert im Herbst in Kiel eine Neufassung der Oper „Die Ameise“ von Peter Ronnefeld, dem die Stadt Kiel posthum 1966 den Kultur- und Wissenschaftspreis verleiht. Für mich aber lebt Peter weiter, denn wann immer ich den Film „Amadeus“ von Miloš Forman sehe mit Tom Hulce als Mozart, dann weiß ich: das war er, unser Wunderkind an der Rudolf-Steiner-Schule in Dresden. 24. Dezember 2014 Um 14.30 Uhr klingelt es, ein grauhaariger Herr sucht an unserem Gartentor nach einem Namensschild. Es sieht so aus, als wollte er ein Geschenk abgeben, aber an den Weihnachtsmann glauben wir schon lange nicht mehr, das wäre auch viel zu früh. Erst als ich die Türe öffne, erkenne ich ihn, den vermeint-

6. Zeitsprünge

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lichen Weihnachtsmann: Es ist der Pianist Rudolf Fleischmann, mein Rudi, langjähriger Begleiter am Mozarteum. Bei der Sommerakademie 1969 sind wir uns erstmals begegnet und daraus ist eine enge Zusammenarbeit entstanden, Hunderte von Studentinnen und Studenten haben wir gemeinsam unterrichtet, betreut und beraten in den folgenden Jahrzehnten, wir haben nie nachgezählt, wie viele Stunden wir gemeinsam versucht haben, norwegischen, koreanischen, japanischen, mexikanischen und schließlich auch deutschsprachigen Sopranen das Rezitativ vor der „Rosenarie“ aus „Figaros Hochzeit“ nahe zu bringen Es ist ein herzliches Wiedersehen nach all den Jahren, aber auch ein schmerzliches: Dieses Jahr ist seine Frau verstorben und er komponiert nun an einer Messe, die zu ihrem Todestag aufgeführt werden soll. Natürlich werden wir dabei sein. So schließt sich der Kreis dieses Jahres 2014. Wir sind am Ende meiner „Heldenreise“ angelangt. Von den ersten Erfahrungen zum Ruf des Abenteuers, vom Überschreiten der Schwelle zum Kampf mit den Widersachern, zum Höhepunkt, der zugleich Tiefpunkt war mit seinen Ängsten und Blockaden, von den Helfern, die zum neuen Lebenssinn geführt haben, zur Verwandlung, zur Rückkehr. Ich fühle mich heute gut angekommen, der Blick zurück ist ohne Wehmut und ich kehre gerne an die alten Schauplätze meines Lebens zurück, in Breslau, in Dresden, in Stuttgart, in Wien – ein paar Orte fehlen, aber das kann ja noch kommen. Doch der Kreis der Menschen, die meine Wege gekreuzt haben, ist deutlich kleiner geworden. Sie alle haben mit mir zusammen an unserem gemeinsamen Ziel gearbeitet, der Pflege und dem Fortbestand unseres Stimmenwaldes im Glauben an die Zukunft der Oper, diesem eigenartigen und einzigartigen Produkt unserer Kultur. Für die Erklärung und die Bewältigung der komplizierten Gegenwart und aller zukünftigen Entwicklungen wird sie uns nicht helfen können, sie wird sich den Veränderungen der Lebensbedingungen anpassen müssen, aber, davon bin ich überzeugt, sie wird immer Menschen finden, die sich von ihr verzaubern lassen. Ich habe keine Angst um den Fortbestand des Stimmenwaldes.

Anhang

Ein Lebenslauf 1934 1936 1939 1942 1949 1950 1950 1954

Am 14. September geboren in Breslau Umzug der Familie nach Nürnberg Umzug der Familie nach Kassel, Einschulung Umzug der Familie nach Dresden Umzug der Familie nach Ostberlin Abendgymnasium und Studium am Mozarteum in Salzburg Umzug der Familie nach Westberlin Abitur (Matura) in Westberlin, dann Regie-Assistent an der Komischen Oper in Ostberlin 1955 Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität (Theaterwissenschaft, Archäologie, Kunstgeschichte) und an der Musikhochschule (Dramaturgie, Regiepraktikum) in München 1956 – 1961 Regie-Assistent von Günther Rennert für Oper und Schauspiel an den Württembergischen Staatstheatern in Stuttgart 1958 Erste eigene Inszenierung „Dantons Tod“ im Kammertheater der Württembergischen Staatstheater 1959 Regie-Assistent bei den Salzburger Festspielen 1960 Erste eigene Operninszenierung „Figaros Hochzeit“ am Landestheater Salzburg 1961 Redakteur und Regisseur beim Fernsehen des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart 1962 Heirat mit Micheline Faure. Umzug nach Wien, Spielleiter an der Staatsoper 1963 Umzug nach Stuttgart, Spielleiter an der Staatsoper

220 Anhang 1964–1969

Umzug nach Hamburg, Spielleiter an der Staatsoper, Regisseur beim Fernsehen des NDR 1969–1971 Umzug nach Bremerhaven, Oberspielleiter der Oper am Stadttheater 1969–1982 Szenischer Leiter der Opernklasse bei der Internationalen Sommerakademie des Mozarteums 1971 Umzug nach Würzburg, Gastregisseur in Karlsruhe, Mannheim, Stuttgart und Wien 1973 Umzug nach Salzburg, Lehrer am Mozarteum für Bewegungserziehung, musikdramatische Grundausbildung, Opernrepertoirekunde, Operngeschichte, szenischer Leiter einer Opernklasse, Leiter der Abteilung für Gesang und musikdramatische Darstellung, Studiendekan für Darstellende Kunst (Schauspiel, Regie), Bühnengestaltung und Gesang (Musikdramatische Darstellung, Lied und Oratorium) 2002 Emeritierung

Zwölf Publikationen

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Zwölf Publikationen Möchten Sie Verdis „Nabucco“ inszenieren? (Programmheft des Badischen Staatstheaters Karlsruhe) Blick auf die Ballettszene (Festschrift „200 Jahre Landestheater Salzburg“)

1972

1975

Oper und Geschichte (Programmheft des Landestheaters Salzburg)

1977

Bewegungserziehung für Sänger (Bericht über ein Symposion der Musikhochschule Wien)

1979

Margarethe (Programmheft des Landestheaters Salzburg)

1980

Probleme und Aufgaben der Opernausbildung am Beispiel Salzburg (Bericht über ein Symposion der Musikhochschule Wien)

1981

Szenisches Oratorium (Vortrag beim Festival Wratislavia Cantans Wroclaw) 1991 Sänger und die Technik (Vortrag beim Festival Wratislavia Cantans Wroclaw)

1993

Sänger – Idole (Programmheft der Elisabethbühne Salzburg)

1995

Paul von Schilhawsky – Wege zur Liedinterpretation Musikverlag Doblinger, Wien 2004 Berta Pflanzl – Vom Dienstmädchen zur gnädigen Frau Böhlau Verlag Wien Köln Weimar 2009 Grüß Gott, Herr Kammersänger Böhlau Verlag Wien Köln Weimar 2012

222 Anhang

Dreißig Buchhinweise

Hermann Barkhoff: „Ernst Legal“, Henschelverlag Berlin 1965 Thomas Bernhard: „Der Untergeher“, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1983 Walter Felsenstein: „Schriften – Zum Musiktheater“,Henschelverlag Berlin 1976 Wolfgang Hildesheimer: „Mozart“, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1979 Ernst Krause: „Staatskapelle Dresden“, Henschelverlag Berlin 1973 Artur Kutscher: „Grundriss der Theaterwissenschaft“, Verlag Kurt Desch, München 1949 Karl Laux: „Nachklang“, Verlag der Nation, Berlin 1977 Rolf Liebermann: „Opernjahre“, Scherz Verlag Bern 1977 Siegfried Melchinger: „Caspar Neher“, Friedrich Verlag Velber 1966 Bernhard Paumgartner: „Salzburg“, Residenz Verlag Salzburg 1966 Robert Rechenauer: „Das Mozarteum Salzburg“, Müry Salzmann Verlag 2015 Günther Rennert: „Opernarbeit“, Bärenreiter-Verlag Kassel 1974 Bernhard Richter: „Die Stimme“, Henschelverlag Berlin 2013 Karl Heinz Ritschel: „Salzburg – Anmut und Macht“, Paul Zsolnay Verlag Wien 1970 Walter Erich Schäfer: „Bühne eines Lebens“, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1975 Irmgard Scharberth: „Rolf Liebermann zum 60. Geburtstag“, Hans Christians Verlag Hamburg 1970 Oscar Fritz Schuh: „So war es – war es so?“, Ullstein Verlag Frankfurt 1980 „Salzburger Dramaturgie“, Universal-Edition Wien 1951 „Salzburger Dramaturgie“, SN Verlag Salzburg 1969 Georg Trakl: „Gesamtausgabe“, Otto Müller Verlag Salzburg 1949 Dramaturgische Blätter, „Gestaltung und Gestalten“, Bühnen der Landeshauptstadt Dresden (1945–1950) Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger: „Deutsches Bühnen-Jahrbuch“, Verlag der Bühnenschriften-Vertriebs-Genossenschaft mbH (Jahrgänge 1945–2015) Akademie (Kunsthochschule/Universität) Mozarteum, „Jahresberichte“ (Jahrgänge 1958–2002)

Hundertzwanzig Personen

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Hundertzwanzig Personen

Albrecht, Gerd (1935–2014) Aldenhoff, Bernd (1908–1959) Appen, Karl von (1900–1981) Arnold, Heinz (1906–1994) Balanchine, George (1904–1983) Bauer-Ecsy, Leni (1905–1995) Bernhard, Thomas (1931–1989) Bittner, Albert (1900–1980) Blacher, Boris (1903–1975) Böhme, Kurt(1908–1989) Bonney, Barbara (1956) Breuer, Peter (1946) Bruzek, Ernst (1940) Busch, Ernst (1900–1980) Buschor, Ernst (1886–1961) Cassily, Richard (1927–1998) Craft, Robert (1923–2015) Cranko, John (1927–1973) Czerwenka, Oskar (1924–2000) Domingo, Placido (1941) Egk, Werner (1901–1983) Fassbaender, Brigitte (1939) Faure, Micheline

Dirigent 124/125, 211/212 Sänger (Tenor) 37 Bühnenbildner 35/36 Regisseur 28, 34–36, 51 Choreograph 120/121 Bühnenbildnerin 112 Schriftsteller 170, 209, 216 Dirigent 114 Komponist 123 Sänger (Bass) 38 Sängerin (Sopran) 197, 209 Tänzer, Choreograph 177 Bühnenbildner, Maler 172–174 Schauspieler, Sänger 61 Archäologe 49 Sänger (Tenor) 112 Dirigent 122 Choreograph 75, 97, 101 Sänger (Bass) 100, 110 Sänger (Tenor) 112 Komponist 66, 102 Sängerin (Mezzo) 181, 194 Tänzerin, Choreographin 75, 97–99, 104, 134, 178 Felsenstein, Walter (1901–1975) Regisseur, Intendant 23, 42, 46–48 Fichtmüller, Hedwig (1894–1975) Sängerin (Alt) 50, 52 Fischer, Heinz (1938) Bundesminister 184 Fleischmann, Rudolf Pianist 216, 217 Flimm, Jürgen (1941) Regisseur, Intendant 9 Furtwängler, Wilhelm (1886–1954) Dirigent, Komponist 45 Gallée, Heinz Bruno (1920–1996) Bühnenbildner 175 Gielen, Michael (1927) Dirigent, Komponist 133, 170, 216 Gobbi, Tito (1913–1984) Sänger (Bariton) 111

224 Anhang Goltz Christel (1912–2008) Gradenwitz, Robert (1875–1938) Haberland, Karlheinz (1924–2013) Hagen-Groll, Walther (1927) Hartmann, Rudolf (1900–1988) Hauptmann, Elisabeth (1897–1973) Herrmann, Joseph (1903–1955) Herrmann, Karl-Ernst (1936) Hetzer, Knut Hopf, Hans (1916–1993) Hotter, Hans (1909–2003) Hübner, Kurt (1916–2007) Kammer, Hanna Kapama, Anna (1904–1985) Karajan, Herbert von (1908–1989) Keilberth, Joseph (1908–1968) Kirchhoff, Herbert (1911–1988) Klebe, Giselher (1925–2009) Kleiber, Carlos (1930–2004) Kleiber, Erich (1890–1956) Klingenbeck, Fritz (1904–1990) Knappertsbusch, Hans (1888–1965) Koblitz, Franz Kozub, Ernst (1924–1971) Kunz, Erich (1909–1995) Kutscher, Artur (1878–1960) Lang, Peter (1946) Leacock, Richard (1921– 2011) Legal, Ernst (1881–1955) Leitner, Ferdinand (1912–1996) Lemnitz, Tiana (1897–1994) Liebermann, Rolf (1910–1999) Lipp, Wilma (1925) Luipart, Marcel (1912–1989) Mahnke, Hans (1905–1978) Mettig, Meta (1914–2008) Milloss, Aurel von (1906–1988)

Sängerin (Sopran) 37 Gynäkologe 7, 11/12, 23 Regisseur, Intendant 175 Chordirektor 203/204 Regisseur, Intendant 44, 51 Schriftstellerin, Dramaturgin 61 Sänger (Bariton) 39 Bühnenbildner 126, 181 Bühnenbildner 175 Sänger (Heldentenor) 51 Sänger (Bariton) 58 Regisseur, Intendant 125 Choreographin 178 Tänzerin, Choreographin 46 Dirigent 43/44, 99, 195 Dirigent 28, 36 Bühnenbildner 129 Komponist 109/110 Dirigent 65/66 Dirigent 41 Intendant 97, 172–174 Dirigent 44 Sänger (Tenor) 160–162 Sänger (Tenor) 114 Sänger (Bass) 99/100 Theaterwissenschaftler 49/50, 198 Pianist 184 Kameramann 122 Intendant, Regisseur 40/41 Dirigent 64–67, 125 Sängerin (Sopran) 43 Intendant, Komponist 105–123 Sängerin (Sopran) 44, 196 Choreograph 99 Schauspieler 61 Bildhauerin 178 Choreograph 98/99

Hundertzwanzig Personen

225

Moroda, Friderika derra de (1897–1978) Choreographin, Tänzerin 178 Mortier, Gerard (1943–2014) Intendant 181/182 Neher, Caspar (1897–1962) Bühnenbildner 52, 61/62, 69/70 Paris, Herbert Operndirektor 117/118 Pauli, Hansjörg (1931–2007) Musikschriftsteller 122/123 Paulmüller, Alexander (1912– 1984) Dirigent 163 Paumgartner, Bernhard (1887–1971) Komponist, Dirigent 158/159 Pfeiffenberger, Heinz (1911–1968) Bühnenbildner 53/54 Pflanzl, Heinrich (1903–1978) Sänger (Bass) 7, 23, 28, 37, 56, 159, 213 Pflanzl, Otto (1865–1943) Mundartdichter 7, 23 Prager, Gerhard (1920–1975) Fernsehproduzent 97, 101 Prohaska, Jaro (1891–1965) Sänger (Bariton) 42 Rech, Geza (1910–1992) Regisseur, Musikschriftsteller 162 Reinking, Wilhelm (1896–1985) Bühnenbildner 108/109 Rennert, Günther (1911–1981) Regisseur, Intendant 52, 55–65, 69, 106, 108 Rinkevicius, Gintaras (1960) Dirigent 145 Ronnefeld, Peter (1935–1965) Komponist, Dirigent 21, 216 Rose, Jürgen (1937) Bühnenbildner 126/127 Salaz, Leo (1938) Tänzer, Choreograph 178 Santi, Nello (1931) Dirigent 113, 114 Sauer, Franz (1894–1962) Organist 161/162 Schäfer, Walter Erich (1901–1981) Schriftsteller, Intendant 65/66, 74, 97– 101, 106 Schellenberg, Arno (1903–1983) Sänger (Bariton) 37 Schilhawsky, Paul von (1918–1995) Pianist, Dirigent 164/165, 167, 182 Schlote, Hans (1922–2014) Kunstmanager 102/102, 140, 212 Schmidtmann, Paul (1904–1967) Sänger (Tenor) 46 Schock, Rudolf (1915–1986) Sänger (Tenor) 42 Schuh, Oscar Fritz (1904–1984) Regisseur, Intendant 114/115, 179 Sedlmayr, Hans (1896–1984) Kunsthistoriker 49 Silja, Anja (1940) Sängerin (Sopran) 45 Stahn, Hans Technischer Direktor 138 Steingräber, Erich (1922–2013) Kunsthistoriker 52 Stolze, Gerhard (1926–1979) Sänger (Tenor) 110 Stolze, Kurt-Heinz (1926–1970) Dirigent 211/212 Strawinsky, Igor (1882–1971) Komponist 120-122 Szell, George (1897–1970) Dirigent 119/120

226 Anhang Taubmann, Horst (1912–1991) Tietjen, Heinz (1881–1967) Trakl, Georg (1887–1914) Trötschel, Elfride (1913–1958) Troyanos, Tatiana (1938–1993) Ustinov, Peter (1921–2004) Varnay, Astrid (1918–2006) Verhoeven, Paul (1901–1975) Verlaine, Paul (1844–1896) Wagner, Wieland (1917–1966) Wallat, Hans(1929–2014) Weiser, Martha (1913–2008) Windgassen, Wolfgang Wörle, Eugen (1909–1996) Wolansky, Raimund (1926–1998) Wunderlich, Fritz (1930–1966) Zentner, Wilhelm (1893–1982)

Sänger (Tenor) 43/44 Regisseur, Intendant 108 Schriftsteller 168–180 Sängerin (Sopran) 37 Sängerin (Mezzo) 112 Schauspieler, Regisseur 115/116 Sängerin (Sopran) 43, 45, 55 Schauspieler, Regisseur 79 Schriftsteller 214/215 Regisseur, Bühnenbildner 44/45, 53/54, 63/64, 108 Dirigent 127 Stadträtin 179 Sänger (Tenor) 55, 64 Architekt 180 Sänger (Bariton) 60, 113 Sänger (Tenor) 58–60 Schriftsteller, Theaterkritiker 50

Zweihundert Inszenierungen

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Zweihundert Inszenierungen Für das Musiktheater BERLIN (Deutsche Gastspieloper), BREMEN (Theater am Goetheplatz), BREMERHAVEN (Stadttheater), HAMBURG (Staatsoper), IASI (Staatsoper), KARLSRUHE (Badisches Staatstheater), MANNHEIM (Nationaltheater), SALZBURG (Aspekte, Fest in Hellbrunn, Landestheater), STRASBOURG (Théâtre National), STUTTGART (Staatsoper), TAEGU (Stadttheater), VILNIUS (Staatsoper), WIEN (Staatsoper, Kammeroper), WROCLAW (Aula Leopoldina).

BLACHER, Boris BONONCINI, Giovanni Battista CALDARA, Antonio CHAILLY, Luciano DONIZETTI, Gaetano EGK, Werner GOUNOD, Charles HAYDN, Joseph HAYDN, Michael HENZE, Hans Werner JANACEK, Leos JIRASEK, Ivo KRENEK, Ernst LIEBERMANN, Rolf MOZART, Wolfgang A. NICOLAI, Otto OFFENBACH, Jacques PAUER, Jiři

Die Flut Wie du mir, so ich dir Dafne Ein Heiratsantrag Don Pasquale Der Revisor Margarethe I Pescatrici Der Bassgeiger Ein Landarzt Jenufa Der Bär (DE) Vertrauenssache Die Schule der Frauen Die Schuldigkeit des ersten Gebotes Apollo und Hyacinthus Die Entführung aus dem Serail Figaros Hochzeit Cosi fan tutte Die lustigen Weiber von Windsor Hoffmanns Erzählungen Rotkäppchen (DE)

228 Anhang PUCCINI, Giacomo ROSSINI, Gioacchino

Der Mantel Gianni Schicchi Barbier von Sevilla Die Liebesprobe SAINT-SAËNS, Charles-Camille Samson und Dalila SCHÖNBERG, Arnold Pierrot Lunaire STRAUSS, Richard Der Rosenkavalier STRAWINSKY, Igor Die Geschichte vom Soldaten TELEMANN, Georg Philipp Der geduldige Sokrates VERDI, Giuseppe Aida Nabucco Un ballo in maschera WEILL, Kurt Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Für das Sprechtheater SALZBURG (e-Bühne), STUTTGART (Kammertheater, Theater der Altstadt) BÜCHNER HACHFELD HILDESHEIMER TUCHOLSKY

Dantons Tod Mugnog-Kinder! Die Verspätung Schloss Gripsholm

Für Film und Fernsehen MANNHEIM 11.11.11.11 SDR Stuttgart 1961 Große Karnevalsitzung in Mannheim 45‘ DIE SCHÖNE STIMME SDR Stuttgart 1961 Sendereihe mit Opernszenen, neun Folgen á 30‘ DIE GROSSE ARIE SDR Stuttgart 1962 Sendereihe mit Opernstars, drei Folgen á 30‘

Zweihundert Inszenierungen

229

GEORGE SZELL UND DAS CLEVELAND ORCHESTRA NDR Hamburg 1965 Konzert in der Hamburger Musikhalle mit Mozart und Prokofjew 90‘ ARIBERT REIMANN „EIN TRAUMSPIEL“ NDR Hamburg 1965 Bericht von der Uraufführung in Kiel 45‘ BALLETT MIT BALANCHINE NDR Hamburg 1965 Das New York City Ballet im Training und „Apollon Musagète“ 45‘ STRAWINSKY MIT „INTROITUS“ UND NDR Hamburg 1965 „VARIATIONS“ Ein Porträt 45‘ KLEBE „JACOBOWSKY UND DER OBERST“ Staatsoper HH 1965 Dokumentarfilm für Bühnenprojektion 12‘ BHARATA NATYAM NDR Hamburg 1966 Interpretation indischer Tanzformen 45‘ BLACHER „ZWISCHENFÄLLE BEI EINER NOTLANDUNG“ NDR Hamburg 1966 Bericht von der Uraufführung in Hamburg 45‘ GESPRÄCHSKONZERT IN LÜBECK Gerd Albrecht analysiert und dirigiert Werke von Webern und Kelemen

NDR Hamburg 1966 75‘

SÄNGER – DURCHLEUCHTET NDR Hamburg 1966 Opernsänger vor der Röntgenkamera 45‘ BORIS BLACHER NDR Hamburg 1966 Der Komponist analysiert und dirigiert seine „Paganini-Variationen“ 45‘

230 Anhang SCHULLER „THE VISITATION“ Staatsoper HH 1966 Trickfilm für Bühnenprojektion 10‘ GESPRÄCHSKONZERT IN KASSEL Gerd Albrecht analysiert und dirigiert neue Musik aus der ČSSR

NDR Hamburg 1967 75‘

WERLE „DIE REISE“ Staatsoper HH 1969 Spielfilm für Bühnenprojektion 35‘

FERDINAND LEITNER Der Dirigent analysiert und dirigiert Strawinskys „Agon“

NDR Hamburg 1970 45‘

KENNEN SIE SALZBURG? Stadtverkehrsbüro Salzburg 1975 Werbefilm mit Max Puschej 30‘ SALZBURG ANNO 1777 ORF Wien 1977 Bericht über das Fest in Hellbrunn 45`

Für die Hochschule/Universität Mozarteum

SALZBURG (Wiener Saal und Großer Saal der Stiftung Mozarteum, Großes Studio, Oktogon, Große Aula der Universität, Kammerspiele, Kongresshaus, Spielcasino am Mönchsberg), BAD GASTEIN (Festsaal Hotel Straubinger), HALLEIN (Stadttheater), WIEN (Palais Liechtenstein, Deutsche Botschaft), MERAN (Stadttheater), ZELL AN DER PRAM (Schlosstheater). ARGENTO BARAB BENATZKY BIZET BLACHER

Miss Havisham`s Wedding Night A Game of Chance Meine Schwester und ich Doktor Mirakel Die Flut

Zweihundert Inszenierungen

CIMAROSA COPLAND

Matrimonio segreto Tender Land

EISLER Palmström, op.5 Zeitungsausschnitte, op.11 FALL Brüderlein fein FLOYD Susannah GLUCK Der betrogene Kadi Die Chinesinnen Il Parnaso confuso GRASSL Grodek (U) HAYDN, Michael Der Bassgeiger HINDEMITH Hin und zurück IBERT Angelique JANACEK Tagebuch eines Verschollenen JOPLIN Treemonisha LORTZING Die Opernprobe MASCAGNI Zanetto MAUTNER Körners Vormittag (U) MENOTTI Amelia al ballo The Telephone MILHAUD Les Malheurs d’Orphee MOZART Bastien und Bastienne La Finta semplice Die Entführung aus dem Serail Der Schauspieldirektor Le Nozze di Figaro Don Giovanni Cosi fan tutte Die Zauberflöte NICOLAI Die lustigen Weiber von Windsor OFFENBACH Daphnis et Chloe Die Hochzeit bei Laternenschein Hoffmanns Erzählungen ORFF Carmina Burana PAER Der Capellmeister PAUMGARTNER Die Höhle von Salamanca

231

232 Anhang PERI Euridice POULENC Dialogues des Carmelites La Dame de Monte-Carlo La Voix Humaine PUCCINI Gianni Schicchi Il Tabarro REZNICEK Der Gondoliere des Dogen RICHTER-HERF Und der Papagei lacht Odysseus (U) SCHÖNBERG Pierrot Lunaire STOLZ Prinz Kuno und die Postmeisterstochter SUPPE Zehn Mädchen und kein Mann TOCH Egon und Emilie WOLF-FERRARI Susannens Geheimnis

OPERN-COLLAGEN: „5 x Figaro“ (Paisiello, Rossini, Mozart, Milhaud, Klebe) „Lieben Sie Don Juan?“ (Ein Mythos, vier Komponisten, zehn Dichter) „Aus vergessenen Opern“: Caldara und Co. Metastasio Mozarts „Demofoonte“

… und etwa 50 Programme mit Fragmenten aus Oper, Operette und Musical.

Bildnachweise

Oskar Anrather (57–60), baer-donati, Bohnert und Neusch (50), Mara Eggert (49), Johannes Fleck (47, 48), Herbert Huber (56),Hannes Kilian (26), Jens P. Kühl (Coverbild), Artur Laskus (42–44), Anny Madner (53), Johannes-F. Muth (45, 46), Robert Ratzer (81), © Salzburger Nachrichten vom 30. 10. 1999 (73), Foto Schachner, Schaffler, Christian Schneider (73, 74), Seelig. Leistungsschutzberechtigte, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

ROBERT H. PFLANZL

GRÜSS GOTT, HERR KAMMERSÄNGER! DER SALZBURGER HEINRICH PFLANZL IN DER WELT DER OPER

Kammersänger Heinrich Pflanzl wurde 1903 in Salzburg geboren und war in fünfunddreißig Bühnenjahren ein unermüdlicher Botschafter seiner Heimatstadt. Sein Beruf führte ihn über Wien, Bern, Breslau, Nürnberg und Kassel schließlich an die Staatsopern von Dresden und Berlin. Er war begehrter Gast bei den Festspielen von Bayreuth und München. Seine eindrucksvolle Karriere verlief im Schatten der dramatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts: zwei Weltkriege, Inflation, Nationalsozialismus, Zerstörung und Wiederauf bau, die Teilung Deutschlands bis zum Bau der Mauer in Berlin. Später leitete Heinrich Pflanzl noch zehn Jahre lang eine Gesangsklasse an der Hochschule Mozarteum in Salzburg. Robert H. Pflanzl hat die Tagebuchblätter, Briefe und Manuskripte seines Vaters zu einem lebendigen Abbild seines Werdegangs zusammengefügt - mit oft berührenden, manchmal auch heiteren Momenten im Spiegel der großen Weltereignisse. 2012. 308 S. 66 S/W-ABB. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-78839-3

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

BERTA PFLANZL

VOM DIENSTMÄDCHEN ZUR GNÄDIGEN FRAU SALZBURGER TAGEBÜCHER 1898–1953

Berta Pflanzl, geboren 1882 in Pocking (Niederbayern), wird mit acht Jahren Vollwaise und muss ab ihrem dreizehnten Jahre arbeiten, als Dienst-, Kinderund Zimmermädchen. Mit achtzehn Jahren heiratet sie einen Witwer mit vier Kindern, den doppelt so alten Mundartdichter Otto Pflanzl, von ihren eigenen sechs Kindern überleben nur drei den Lebensabend der Mutter. Berta Pflanzl sucht und findet ihren eigenen Weg. Das Küchenfenster an der Festungsgasse in Salzburg wird zum Salon für die auf der Festung Hohensalzburg stationierten kaiserlichen Offi ziere. Die attraktive Frau ist eine gesuchte Gesprächspartnerin, sie führt eine umfangreiche Korrespondenz und hält in ihren Tagebüchern schonungslos fest, was der Tag an Freud und Leid brachte: Hunger und Elend der Kriege und Nachkriegsjahre, Inflation und politische Unruhen, aber auch das gesellschaftliche Leben in Salzburg, Theater und Literatur, Freundschaften wie Feindschaften. Fünfzig Jahre ihres Lebens hat Berta Pflanzl in ihren Tagebüchern festgehalten, die nur durch einen Zufall erhalten blieben und nun von ihrem Enkel, Robert H. Pflanzl, herausgegeben werden. 2009. 472 S. 48 S/W-ABB. BR. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-78287-2

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