Im Nationalsozialismus: Praktiken – Kommunikation – Diskurse. Teil 2 [1 ed.] 9783737014601, 9783847114604


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Im Nationalsozialismus: Praktiken – Kommunikation – Diskurse. Teil 2 [1 ed.]
 9783737014601, 9783847114604

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Arbeiten zu Sprachgebrauch und Kommunikation zur Zeit des Nationalsozialismus

Band 1.2

Herausgegeben von Heidrun Kämper und Britt-Marie Schuster

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Heidrun Kämper / Britt-Marie Schuster (Hg.)

Im Nationalsozialismus Praktiken – Kommunikation – Diskurse Teil 2

In Kooperation mit Mark Dang-Anh, Friedrich Markewitz, Stefan Scholl und Nicole M. Wilk Mit 2 Abbildungen

V&R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Wo nicht anders angegeben, ist diese Publikation unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitungen 4.0 lizenziert (siehe https://creative commons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/) und unter dem DOI 10.14220/9783737014601 abzurufen. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Simon Atzbach unter Verwendung eines Fotos von Adobe Stock / LiliGraphie. Textauszüge: Rede zum Jahreswechsel 1940/41 von Joseph Goebbels, Tagebucheintrag vom 16. 09. 1939 von Friedrich Kellner. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2751-4226 ISBN 978-3-7370-1460-1

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Inhalt

Vorwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Mark Dang-Anh / Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz / Stefan Scholl / Britt-Marie Schuster / Nicole M. Wilk Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1 Textmuster tradieren und modifizieren Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Mark Dang-Anh / Stefan Scholl / Britt-Marie Schuster Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Katrin Schubert Postkarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Britt-Marie Schuster Flugblatt – Flugschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Friedrich Markewitz / Britt-Marie Schuster Denkschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

2 Diskurse verdichten Stefan Scholl Führer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

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6

Inhalt

Britt-Marie Schuster / Nicole M. Wilk Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Nicole M. Wilk Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Mark Dang-Anh Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Friedrich Markewitz / Nicole M. Wilk Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

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Vorwort und Danksagung

Die vorliegenden Bände führen die Ergebnisse zweier Forschungsprojekte zusammen, die als Tandemprojekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und einerseits am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (»Sprachliche Sozialgeschichte 1933 bis 1945«), andererseits an der Universität Paderborn (»Heterogene Widerstandskulturen: Sprachliche Praktiken des Sich-Widersetzens von 1933 bis 1945«) realisiert wurden. Mit den Beiträgen möchten wir der sprachlichen Wirklichkeit zur Zeit des Nationalsozialismus näher kommen und sie der sozialen Wirklichkeit entsprechend differenziert darstellen. Diese Wirklichkeit ist ein komplexes Sprach- und Kommunikationsgefüge mit Beteiligten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen bzw. politischen Domänen. Insofern ist die Akteursdifferenzierung die grundlegende leitende Perspektive der Analysen. Die Beiträge stellen ausgewählte Gegenstände in mehr oder weniger umfangreichen Einzelanalysen dar. Diese Auswahl geschah nach Kriterien, die dem Vorhaben einer »sprachlichen Sozialgeschichte« entsprechen: Es wird beispielhaft beschrieben, wie Akteure des Regimes sprachlich agierten, insbes. aber, wie sich solche Beteiligten sprachlich mitgeteilt haben, die nicht zum Funktionsapparat des Nationalsozialismus zählten. Zudem werden die Perspektiven von Ausgeschlossenen und Widerständlern als die Sichtweise derjenigen Akteure einbezogen, die im Zeichen sprachgeschichtlicher Ansätze bisher noch wenig berücksichtigt wurden. Diese Unterscheidung ist in Bezug auf unterschiedliche Gegenstände der sozialen Realität elementar, die Position der Sprechenden und ihre Funktion im Diskurs ist dabei der entscheidende soziopragmatische Faktor ihres Sprachgebrauchs. Der Komplexität der sprachlichen Wirklichkeit 1933 bis 1945 entspricht die Vielfalt der ausgewählten analytischen Gegenstände und die Pluralität der angewendeten Methoden. Methodische, von den jeweiligen Gegenständen aufgegebene Triangulation kultur- und diskurslinguistischer Zugänge verstehen wir als ein Obligo hinsichtlich der Gegenstandsvielfalt. Diverse kultur- und diskurslinguistische Methoden anzuwenden, haben wir auch als Möglichkeit gese-

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8

Vorwort und Danksagung

hen, Methodenvielfalt zu demonstrieren. Die Beiträge erschließen insgesamt ein weites Spektrum an Zugängen, die aus der Anpassung an diese diversen Gegenstände resultieren. Der induktiv-hermeneutische indes bildet einen generellen Zugang zu den Beiträgen. Er stellt die Verstehensvoraussetzungen her, die die Basis für jegliche weitere analytische Perspektivierungen sind. Die Beiträge sind zu vier inhaltlich-methodischen Schwerpunkten geordnet, die erstens das nationalsozialistische Grundprinzip der Gemeinschaft hinsichtlich seiner sprachlichen Ausführungen in unterschiedlichen Dimensionen darstellen, zweitens sprachliches Handeln in typischen situativen Kontexten beschreiben, drittens textuelle Kommunikation hinsichtlich Musterhaftigkeit und Musteranpassung nachvollziehen, viertens schließlich lexikalisch-semantische konzeptuelle Verdichtungen rekonstruieren. Wir danken allen, die die Entstehung der Beiträge ermöglicht haben: unseren kooperativen Ansprechpartnern am IDS für IT-Fragen Harald Lüngen und Roman Schneider, unseren hilfsbereiten Kollegen an der Universitätsbibliothek Paderborn Dr. Dietmar Haubfleisch und Gerd Richter. Ebenso danken wir unseren aufmerksamen und professionell arbeitenden Korrektorinnen Melanie Kraus, Sandra Valeska Steinert-Ramirez und Melissa Manara (alle IDS) sowie Daniela Prutscher. Unsere Hilfskräfte am IDS waren Christin Bergmann, Jonas Bertgen, Anna Busygina, Paul Fuchs, Yuliya Haryst, Justus Mehl, Peter Schüller, Bea Sesterhenn, Arzu Simsek, Adelheid Wibel sowie an der Universität Paderborn Alina Bindrim, Lena Griffiths, Philipp Hüttenbrink, Sarah Schröder, Dennis Urmanski. Sie alle haben uns zuverlässig und ergebnisorientiert unterstützt. Ferner möchten wir Simon Atzbach danken, der das Cover der beiden Teilbände gestaltet hat. Großer Dank gebührt schließlich unserer Lektorin Julia Schwanke beim Verlag Vandenhoeck und Rupprecht, Göttingen, die stets bereit war, unsere Wünsche zu berücksichtigen und die mit großem Interesse und sehr professionell den Abschluss des Projekts und die Drucklegung begleitet hat.

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Mark Dang-Anh / Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz / Stefan Scholl / Britt-Marie Schuster / Nicole M. Wilk

Einleitung

1 Sprachliche Sozialgeschichte: Akteur*in – Diskurs – Position 1.1 Akteur*in im Diskurs 1.2 Akteur*in als Verstehensvoraussetzung 1.3 Akteur*in und Wissen 1.4 Akteur*in und Positionen 2 Perspektiven auf Sprachgebrauch 1933 bis 1945 2.1 Inklusion – Exklusion 2.2 Sprachliches Handeln 2.3 In Texten kommunizieren 2.4 Konzeptprägungen 3 Kulturlinguistik – das Selbstverständnis 4 Das Korpus 5 Fortschreibung

1

Sprachliche Sozialgeschichte: Akteur*in – Diskurs – Position

Dass die Diktatur des Nationalsozialismus zwar die alleinige Diskursbedingung, die ihm zugehörigen Sprecher*innen aber nicht die einzige Diskurs- und Sprachgemeinschaft bildeten, ist eine forschungsleitende Voraussetzung der Analysen. Wir begreifen den Nationalsozialismus dabei nicht als Gesellschaftsordnung, die allein von einer dichotomen und unidirektionalen Erzwingungsrelation von Herrschern zu Beherrschten aus zu ergründen ist, sondern als Ordnung, deren asymmetrische Machtverhältnisse sich durch die kommunikativen Praktiken der Beteiligten heterogener Akteursklassen konstituierten. Gleichwohl ist der Nationalsozialismus geprägt durch Praktiken des Ausschlusses und die kommunikative Hervorbringung von Feinden und Gegnern, was wiederum Ansatzpunkt zur Formierung von Gegnergemeinschaften sein kann. Im Sinne einer Akteursdifferenzierung unterscheiden wir zwischen NS-Apparat, integrierter Gesellschaft, Ausgeschlossenen und, quer dazu liegend, Widerstand. Zum ›NS-Apparat‹ zählen diejenigen Funktionsträger, die, wie etwa

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Dang-Anh / Kämper / Markewitz / Scholl / Schuster / Wilk

Hitler, Goebbels, Rosenberg u. a., die politischen Leitlinien gezogen und die Diskurse bestimmt haben. Die ›integrierte Gesellschaft‹ besteht aus jenen Akteuren, die der rassistisch-politischen Konzeption der sog. ›Volksgemeinschaft‹ entsprechen. Sie sind je nach Position zum NS weiter zu unterscheiden nach ›NSAffinen‹, etwa Parteimitglieder, subalterne Funktionäre, aber auch einfach Zustimmende, und Dissidenten, also solche Akteure, die zwar nicht zum Widerstand zu zählen sind, die aber in ihren Biogrammen, insbes. Tagebüchern, deutliche Kritik und prinzipielle Distanz zum NS artikulieren. Die dritte Akteursgruppe sind die Ausgeschlossenen, die ›Gemeinschaftsfremden‹, zu denen an erster Stelle Juden zählen, außerdem in sog. ›Mischehe‹ Lebende.1 Die vierte Akteursgruppe bildet der Widerstand, den wir in bürgerlich-konservativen, jugendlichen, kirchlich-religiösen, kommunistischen, militärischen, sozialistischen sowie exilierten und Widerstand der Verfolgten unterscheiden (zum Korpus s. u. Kap. 4).

1.1

Akteur*in im Diskurs

Die untersuchten sprachlichen Realisate sind Diskurselemente. Aus linguistischer Sicht werden Diskurse sprachlich markant von spezifischen Textträgern, kommunikativen Mustern und einem diskursentsprechenden Lexikon durch Diskursakteure realisiert bzw. repräsentiert. ›Diskurs‹ in einem sozio-pragmatischen und lexikalisch-semantischen Sinn verstehen wir als in Texten manifest werdende, in lexikalischen bzw. syntaktischen Einheiten ausgedrückte gesellschaftliche Kommunikation2 unter den Bedingungen der spezifischen Akteurskonstellation und der historischen gesellschaftlichen Kontexte, in denen die Diskursakteure agieren. Mit der Perspektive des Diskurses interpretieren wir insofern gesellschaftliche Daseins- und Ausdrucksformen im Rahmen einer sprachlichen Sozialgeschichte 1933 bis 1945 als in kommunikativen Praktiken, in Kommunikationssituationen, in spezifischen Texten sowie in diskursiven Verdichtungen seriell bzw. koexistent präsente gesellschaftliche Sinngebungsinstanzen. Blommaert (2009: 3) folgend ist mit einem solchen Programm ein Diskursverständnis vorausgesetzt, das Formen bedeutungsvollen semiotischen Handelns in Verbindung sieht mit sozialen, kulturellen und historischen Mustern und Entwicklungen des Gebrauchs. Mit diesem Ansatz einer im Diskurs mani1 Weitere Ausgeschlossenen-Gruppierungen, wie die sog. ›Zigeuner‹, die für ›erbkrank‹, ›asozial‹ oder ›kriminell‹ Erklärten u. a., haben wir aufgrund nicht zugänglicher sprachlicher Zeugnisse nicht berücksichtigen können. 2 Vgl. Wichters Kategorie »Gesellschaftsgespräch« (Wichter 1999: 274 u. ö.).

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11

Einleitung

festen sprachlichen Sozialgeschichte lässt sich die Verbindung von Diskurs und Sozialstruktur herstellen (Blommaert 2009: 39), die in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus von sprachgeschichtlich größter Bedeutung ist. Die nach sozialer Position, also nach Akteuren unterscheidende Analyse sprachlicher Koexistenz (oder Nicht-Koexistenz) gibt nicht zuletzt darüber Aufschluss, inwiefern sprachliche Anpassung an die oder Abgrenzung von der NS-Ideologie durch Mitglieder der integrierten Gesellschaft stattgefunden und damit die Sprachgeschichte 1933 bis 1945 in Bezug auf die Sprechenden eine weitere Prägung erhalten hat. Es ist das Kriterium der Koexistenz, das nicht nur in seiner thematisch-inhaltlichen, sondern auch in seiner textuellen, kommunikativ-situativen und lexikalisch-semantischen Dimension greift.3 Eine solche diskursanalytisch angelegte Sprachgeschichte ist Sprachgebrauchsgeschichte, die nach den historischen und gesellschaftlichen Bedingungen und Veränderungen von Sprachgebrauch fragt.4 Die Frage, wo der Diskurs, wo also wie immer beschaffene sprachliche Koexistenz, zu finden ist (vgl. Linke 2015), beantworten solche Zugänge, die Sprachgebrauch, Gebrauchssituationen und Kommunikationspraktiken zum Gegenstand haben, wie etwa die Beiträge ›Gefühle äußern‹, ›Verhör-, Geständnisund Verteidigungspraktiken‹ oder ›Sich beschweren‹ (alle in Teil 1), ebenso wie auf Textformate im Sinn von Kommunikationsmustern und ihre situativ-historische Anpassung gerichtete Analysen. Exemplarisch sind zu nennen ›Tagebuch‹, ›Brief‹, ›Postkarten‹, ›Flugblatt – Flugschrift‹, ›Denkschrift‹, ›Reden‹ (alle in Teil 2). Eine thematisch zentrierte, semantisch-konzeptuelle Diskurskonzeption liegt schließlich den Darstellungen zu Diskursverdichtungen, Führer, Blut, Arbeit, Kampf, Freiheit (alle in Teil 2) zugrunde. Insofern Diskurse soziale, kommunikative Praktiken sind, die im Vollzug sprachlichen Handelns realisiert werden (vgl. Spieß 2011: 125), sind also die Akteure zentrale Bezugsobjekte diskursanalytischer Ansätze. Sie sind als Handelnde kommunikativer Bezugsbereiche zu sehen, die ihr individuelles Handeln mittels Äußerungen in Texten, Gesprächen und multimedialen Einheiten im Rahmen kultureller Praxisroutinen realisieren (Felder 2015: 24).

3 Vgl. dazu Warnke, der mit Bezug auf Foucault ausführt: »Man wählt zum Gegenstand der Analyse nicht die begriffliche Architektur eines isolierten Textes, eines Einzelwerkes […], vielmehr betrachtet man die ›anonyme Verstreuung durch Texte, Bücher und Werke‹ (Foucault 1973: 89) und fokussiert damit das Feld der Koexistenzen« (Warnke 2007: 15f.). 4 An dieser Stelle ist auf das Plädoyer Jägers (1993) für eine »Rückgewinnung eines theoretischen Zentrums der Sprachwissenschaft« zu verweisen. Dieses Zentrum solle »die Einheit der philologischen Wissenschaften durch eine Theorie begründe[n], die die strukturalen und funktionalen, die systematischen und medialen Eigenschaften der Sprache in einer genuinen Sprachidee entfaltet« (98, Herv. im Orig.).

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12

Dang-Anh / Kämper / Markewitz / Scholl / Schuster / Wilk

Das sprachliche Handeln der Akteure ist zum einen »nicht nur diskursgeprägt […], sondern auch diskursprägend und diskurskonstituierend« (Spitzmüller 2013: 65), zum andern bildet es ein »Formationssystem von Aussagen, das auf kollektives, handlungsleitendes und sozial stratifizierendes Wissen verweist« (Spitzmüller/Warnke 2011: 9). Akteure und das sprachstrukturierende bzw. (Sozial-)Geschichte reflektierende Potenzial ihrer Aussagen in diesem Formationssystem sind daher diskurskonstitutiv. Damit stellt sich die Akteursdifferenzierung als die pragmatische Entsprechung des Verständnisses von Diskurs als ein sprachliches Phänomen der Koexistenz dar, welches eine multiple Beteiligtenstruktur voraussetzt. Zugleich ist sie der methodische Grundansatz, dem in den Forschungsperspektiven der einzelnen Beiträge auf je spezifische Weise gefolgt wird und der in jeden der vier sprachanalytischen Schwerpunkte der nachfolgenden Beiträge reicht: Unsere Forschungen folgen dem Prinzip, historisch für die Jahre 1933 bis 1945 relevante und an spezifische Akteure rückgebundene sprachliche Realisationsformen zu beschreiben. Die Akteursdifferenzierung folgt gleichermaßen der akteursabhängigen Referenz auf das nationalsozialistische Exklusionsprinzip (Kap. 1), auf situative Aspekte sprachlichen Handelns (Kap. 2), auf die Tradierung bzw. Modifizierung bestimmter Textmuster (Kap. 3), auf lexikalisch-semantische diskursiv-konzeptuelle Verdichtungen (Kap. 4).

1.2

Akteur*in als Verstehensvoraussetzung

Aktersunterscheidungen wie diese sind ein obligatorisches Verstehenselement. So stellen Busse/Teubert in ihrer diskurslinguistischen Programmschrift von 1994 den Akteursaspekt in den sprachgeschichtlichen Forschungskontext der Historischen Semantik. Die Fokussierung der Akteure mache die »Auseinandersetzung mit Texten möglich, die in ihrer Begrifflichkeit eine bestimmte (neue) Sichtweise von Gegebenheiten durchsetzen wollen«. Damit lassen sich »Rückschlüsse […] ziehen auf die zugrundeliegende Weltsicht und die Motivation des Sprechers, ebenso wie auf die epistemischen Voraussetzungen« von Aussagen (Busse/Teubert 1994: 22f.). Wengeler formuliert in diesem Sinn als Ziel diskursgeschichtlicher Analyse: »die Erforschung der Wirklichkeitssichten, der Denkweisen, des sozialen Wissens, der Mentalität von sozialen Gruppen bezüglich eines Themas« (Wengeler 2003: 54). Busse (2007) systematisiert in seinem Methodenmodell Kontextualisierungsphänomene, zu denen er u. a. zählt »Agenten und agententypische Aktivitäten« sowie »Aktivitätstypen und zu ihrer Ausführung geeignete […] Agenten« (ebd.: 99). Das Modell einer »Diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse« von Spitzmüller/Warnke (2011: 197–201) sieht die Akteurs- als eine der drei Makroebenen einer Diskursanalyse vor.

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13

Einleitung

Mit der auf die Akteure gerichteten Analyseperspektive ist der Gesellschaftlichkeit von Sprache entsprochen, die jeglichen Aspekt einer Sprachgebrauchsanalyse, und damit auch einer Diskursanalyse prägt (vgl. Linke 1998: 138). Die Kenntnis der Akteure mit ihren je spezifischen Denktraditionen bzw. Bezugnahmen auf diese zählen zu dem Wissensrahmen, innerhalb dessen Akteure kommunizieren und Diskurse prägen (vgl. Kämper 2017a; Busse 2007: 99). Die Kenntnis der Akteure ist insofern verstehensrelevant, sie konstituieren (produzierend, verstehend etc.) Sinn und stellen damit einen Zusammenhang her zwischen den Faktoren, die an einem diskursiven bzw. kommunikativen Szenario beteiligt sind. Gleichzeitig sind die Akteure selbst in kommunikativer bzw. diskursiver Hinsicht einer der sinntragenden Kontextfaktoren: Ihre Rolle, Position und Diskursabsicht gibt ebenso eine Verstehensanweisung wie z. B. die historisch-zeitlichen und praktischen Zusammenhänge, in denen eine sprachliche Äußerung steht.

1.3

Akteur*in und Wissen

Insofern Diskurs ein Wissen erzeugender und Wissen distribuierender Kommunikationskomplex ist,5 lässt sich aus den Diskursbeiträgen der NS-Affinen erkennen, welches Wissen relevant gesetzt wurde. Aus den Aussagen der Dissidenten, der Ausgeschlossenen und der Widerständler wiederum lässt sich ableiten, welches gesellschaftliche Wissen vorhanden war, das nicht in den allgemeinen, also in den von NS-Apparat und NS-Affinen bestimmten Diskurs gelangte. Wenn Wissen das ist, »wovon man in einer diskursiven Praxis sprechen kann« (Foucault 1990: 259), dann müssen wir allerdings von einem zeitlich zerdehnten Diskurs sprechen und damit von einem zeitgenössisch nicht verhandelten Wissen. Denn: Dissidenten, Ausgeschlossene, Widerständler nehmen zeitgenössisch nicht an dem allgemeinen Diskurs teil, erzeugen nicht zeitgenössisch approbiertes Wissen. Dieses ist in ihren Tagebüchern und Geheimschriften aufgehoben. Tagebücher und Geheimschriften wurden aber erst nach 1945 (also unter gänzlich anderen Bedingungen) diskurskonstituierend, das in ihnen verborgene Wissen erscheint erst nach 1945 als zeitgenössisches Wissen. Anders ausgedrückt: Diskursiv erzeugtes Wissen entsteht unter den Bedingungen der Sagbarkeit. In einer Diktatur sind die Sagbarkeitsgrenzen eng gezogen.

5 Im Vollzug des Diskurses erzeugen und distribuieren seine Akteure Wissen. Damit stellen Diskurse »Sprachhandlungsräume« dar (Spieß 2011: 144), »die die Konstitution von Bedeutungswissen ermöglichen« (ebd.).

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14 1.4

Dang-Anh / Kämper / Markewitz / Scholl / Schuster / Wilk

Akteur*in und Positionen

Der Kommunikationsraum im NS ist von akteursspezifischen Positionierungsakten bestimmt. Die von uns markierten Akteursgruppen stellen die Voraussetzung für die Existenz von Positionen zum Regime dar, die mehr oder weniger explizit geäußert werden. Aus der Akteursunterscheidung leitet sich grundlegend die Frage ab, mit welchen Positionierungsakten und -praktiken auf Aussagegegenstände Bezug genommen wird und entsprechend Sachverhalte konstituiert werden, m.a.W.: mit welcher Haltung wie kommuniziert wird. Dieser Aspekt wurde in der geschichtswissenschaftlichen Forschung als zentrales Kennzeichen des nationalsozialistischen Mobilisierungs- und Zustimmungsregimes (vgl. Bajohr 2005) herausgearbeitet und als Mischung aus Zwang, Druck und Drang sich zu positionieren beschrieben:6 »Jeder musste sich seiner Stellung im volksgemeinschaftlichen Gefüge diskursiv und durch symbolische Akte stets aufs Neue versichern« (Steber/Gotto 2014: 440). Allerdings waren die Zugehörigkeitskriterien »in vielerlei Hinsicht inkohärent und uneindeutig«, was zu »ständigen Aushandlungsprozessen« führte, aber auch »Handlungsspielräume eröffnete« (ebd.: 441). Ähnlich betont der US-amerikanische Historiker Peter Fritzsche, welch großen Druck das NS-Regime auf die Zeitgenoss*innen ausübte, sich zu bekennen, sich innerlich und äußerlich zuzuordnen (Fritzsche 2008: 7f.). In Anlehnung hieran hat Janosch Steuwer (2017: 70) hervorgehoben, »dass sich seit dem Frühjahr 1933 die Frage der eigenen Position nicht mehr allein als eine der politischen Bewertung, sondern als eine der persönlichen Zuordnung stellte.« Dieser Positionierungsdruck und -drang bestand, dies ist zu betonen, in unterschiedlichen Ausgangslagen für die nach den rassistisch-biologistischen Kriterien des Nationalsozialismus der ›Volksgemeinschaft‹ Zugehörigen ebenso wie für ›Gemeinschaftsfremde‹ oder dem NS-Regime kritisch gegenüberstehende Personen. Auf der sprachlich-kommunikativen Ebene brachte diese Konstellation auf der einen Seite Phänomene der Anpassung, Ritualisierung (vgl. Fix 2014: 55 u. 107), Aneignung und Kollusion (vgl. Sauer 2017: 978) hervor, beispielsweise, wenn Menschen in Eingaben oder privaten Briefen Propagandaphrasen benutzten (vgl. Dang-Anh/Scholl 2022b) oder in Biogrammen ihren ›Kampf‹ für die ›Bewegung‹ beschrieben (vgl. Giebel 2018). In solchen Fällen wird deutlich, dass die Erforschung des politischen Kommunikationsraums des Nationalsozialismus nicht beim Konstatieren einer vermeintlichen Sprachlenkung ›von oben‹ oder stilistischen Eigenheiten der nationalsozialistischen Propagandasprache Halt machen kann, sondern die textsorten-, akteurs- und situationsspezifische 6 Der NS-Historiker Armin Nolzen (2019) schreibt in einer Rezension zu Steuwer 2017 von einer Mischung aus »Bekenntniszwang und Bekenntnisdrang«.

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15

Einleitung

Ko-Konstitution nationalsozialistischer Diskurse in den Blick nehmen muss (vgl. programmatisch Horan 2007; Horan 2014; Sauer 2017). Auf der anderen Seite führten Druck und Drang, sich zum Nationalsozialismus zu positionieren, zu »unangepassten« (Fix 2014: 56) bzw. abweichenden (vgl. Fix 2014: 460–462) Texten (von Dissidenten, Widerständlern oder Ausgeschlossenen), die sich durch ihr Anders-Sein in Form und Inhalt auszeichnen (vgl. Fix 2014: 451).

2

Perspektiven auf Sprachgebrauch 1933 bis 1945

Die Beiträge sind zu vier Kapiteln geordnet, die jeweils die Perspektive des Sprachgebrauchs mit inhaltlichen Aspekten verbinden und dem Ordnungsprinzip des situativen Moments der Bedingungen von Sprachgebrauch und Kommunikation in den Jahren 1933 bis 1945 folgen.

2.1

Inklusion – Exklusion

Wir beginnen unsere sprachliche Sozialgeschichte mit der grundlegenden sozialen Leitidee des Nationalsozialismus: ›Gemeinschaft‹ bzw. ›Volksgemeinschaft‹ war der leitende Grundsatz der nationalsozialistischen Sozialstruktur. Diese ist Ergebnis sprachlicher Praktiken, die auf dem Prinzip der InklusionExklusion beruhen. Es hat als das gesellschaftlich-politische sowie sprachlichkommunikative Grundprinzip des rassistisch-antisemitischen Nationalismus in den Jahren 1933 bis 1945 zu gelten und sollte der Homogenisierung durch Einschluss des vermeintlich Homogenen7, durch Idealisierung nationalsozialsozialistischer Sozialtypen8, durch Ausschluss des erklärten Heterogenen9 dienen. Die, in der NS-Zeit indes niemals real gewordene, homogene ›Volksgemeinschaft‹10 ist vor allem ein Produkt der Exklusion, d. h. der »Ausgrenzung all derer, die nicht zu ihr gehören durften: Marxisten, ›Gemeinschaftsfremde‹, erbbiologisch ›Minderwertige‹, ›Fremdrassige‹, allen voran Juden« (Wildt 2019: 12, außerdem 23–46).11

7 8 9 10 11

s. den Beitrag ›Gemeinschaft‹ in Teil 1. s. den Beitrag ›Geschlechter und Generationen‹ in Teil 1. s. den Beitrag ›Exklusion und ihre Erfahrung‹ in Teil 1. s. den Beitrag ›An den Rändern der Zugehörigkeit‹ in Teil 1. Wildt (2019) stellt den Zusammenhang zwischen Inklusion/Exklusion und Volksgemeinschaft wie folgt her: »Wenn von Volksgemeinschaft die Rede ist, muss über Inklusion wie Exklusion gesprochen werden, über soziale Mobilisierung und Partizipation wie über Se-

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16

Dang-Anh / Kämper / Markewitz / Scholl / Schuster / Wilk

Linguistische Forschung zur Strategie von Inklusion/Exklusion, also von sprachlich repräsentierter Einbeziehung und Ausgrenzung, von Einschluss und Ausschluss, bezieht sich insbesondere auf Strategien der sozialen Typisierung, der Gruppenkonstituierung bzw. auf Identität schaffende sprachliche Selbstund Fremdkonstitutionen, die generell zur Voraussetzungsstruktur eines Diskurses zählen, die jedoch im Sinn der nationalsozialistischen Ideologie radikalisiert und als binäre Gesellschaft manifestiert wurde. Dissoziation ist ein als diskursive Strategie zu beschreibendes Phänomen, das Warnke/Spitzmüller in Anlehnung an Foucaults Kategorie der sociétés de discours als die entscheidende diskurskonstitutive Kraft der Diskursgemeinschaften und als »Resultate (gleichsam dynamischer) Identitätszuschreibungen« (Warnke/Spitzmüller 2008: 34) dargestellt haben. Gruppenkonstituierungen aus der Auto- und aus der Heteroperspektive realisieren Zuschreibungen, die, in der Funktion der Gruppenintegrierung, der Gruppenabgrenzung und der Identitätsbildung mit dem Gebrauch sprachlicher Muster korrespondieren, die z. B. im Sinn von Stereotypisierungen zu beschreiben sind. Die Konstitution des Selbst- und des Fremdbildes erscheint insofern als essentiell, als sie die diskursiven Bedingungen schafft, unter denen die Beteiligten den Diskurs führen und sprachlich realisieren, die Bedingungen also, unter denen sie seine Gegenstände konstruieren. Zwar erklären die Kategorien Inklusion/Exklusion, oder auch die der ›Volksgemeinschaft‹, nicht die gesamte Wirklichkeit des NS. Als Perspektive der Sprachgeschichte, im Sinn einer sprachlich manifesten sozialen Praktik und insbesondere mit dem Ziel einer Einbeziehung der integrierten Gesellschaft und ihrer sprachlichen Manifestationen, sind sie indes zentral. So ist in Bezug auf Sprachgebrauch unter den Bedingungen des Nationalsozialismus die Konzeption gesellschaftlicher Gruppierungen etwa im Zeichen von Rassismus und Nationalismus bzw. Antirassismus und Antinationalismus eine basale Konstituente der gesellschaftlichen Diskurse, die als Inklusions-/Exklusionsstrategie zu beschreiben ist.

2.2

Sprachliches Handeln

Mit dieser Perspektive nehmen wir eine Auswahl typischer im Nationalsozialismus als usuelle zu bezeichnenden Situationen und deren Prägungen sprachlichkommunikativer Praktiken in den Blick. Diese situativen Prägungen beziehen wir auf die in das Zeichen hoher Emotionalisierung zu stellenden Berichte früher

lektion, über Teilhabe und Selbstermächtigung wie über Gewalt, Vernichtung und Mord« (42f.).

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17

Einleitung

Nationalsozialist*innen12 ebenso wie auf das Formulieren von Beschwerden13 und das widerständische Aufrufen von Gegenentwürfen.14 Die situative Prägung der Widerstandsäußerungen wird besonders deutlich in den Schauprozessen vor dem Volksgerichtshof.15 Während die Korpora zu Nationalsozialismus und Widerstand ausschließlich aus schriftlichen Quellen bestehen, sind zu den Prozessen anlässlich des Attentats vom 20. Juli 1944 Filmaufnahmen erhalten, in denen sich die als »Verräter« Angeklagten sprachlich, mimisch und gestisch auf existenzielle Weise im Rahmen einer entwürdigenden NS-Regie verteidigten.16 Exemplarisch wird das Berichten als situatives Agieren beschrieben und in Bezug auf evidente Raumdeutungen (i. S.v. »Place-Making«, vgl. Warnke/Busse 2014; Döring/Thielemann 2009; Münk 1993) und Zeitinterpretationen (im Sinn der gesellschaftlichen Konstituierung von Zeit) nachvollzogen, die als für die NSZeit und die affinen Mitglieder der integrierten Gesellschaft als zentrale Ausdrucksformen zur Vermittlung des nationalsozialistischen Selbstverständnisses und nazistischer Machtpolitik rekonstruierbar ist.17 Die sprachliche Wirklichkeit verweist darauf, dass die jeweiligen akteursspezifischen Kommunikate funktional durchaus aufeinander bezogen sind. Sie bilden ein Kommunikationsgefüge, welches die Bedingtheit der Kommunikation in der Diktatur deutlich macht. So stellen etwa die Beiträge der NS-Affinen Bestätigungen und Umsetzungen der vom Apparat vorgegebenen Inhalte dar, während Aussagen Dissidenter und Ausgeschlossener in auf diese Inhalte bezogenen Entlarvungsakten bestehen. Die sprach- und kommunikationsgeschichtliche Perspektive dieser Akteursdifferenzierung im Sinn einer »Sprachgeschichte von unten« (vgl. Elspaß 2005) fragt zum einen danach, inwiefern der NS sprachlich-kommunikativ ein diffundierendes System war: Die Affinen der integrierten Gesellschaft haben ihn mit großer Bereitschaft reflektiert und in ihren Sprachgebrauch implementiert (durch Übernahme von Einzelwörtern, Wortgruppen, Phrasen, Denkmodellen etc.). Sie haben damit die nationalsozialistische Ideologie in ihren Erscheinungsformen sprachlich-kommunikativ reproduziert, nicht selten intensiviert, und damit den NS stabilisiert und konsolidiert. Zum andern zeigt der akteursdifferenzierende Zugang die Grenzen der Diffusion. Wo sich die Akteure als Gegner des NS und als von ihm Ausgeschlossene positionieren, wird ironisierend und entlarvend sprachlich gehandelt, wird das Gegenkonzept von ›Volksgemeinschaft‹ konstituiert, werden semantische Gegenlesarten formuliert (vgl. 12 13 14 15 16 17

s. den Beitrag ›Gefühle äußern‹ in Teil 1. s. den Beitrag ›Sich beschweren‹ in Teil 1. s. den Beitrag ›Wahr-Sagen im Widerstand‹ in Teil 1. s. den Beitrag ›Verhör-, Geständnis- und Verteidigungspraktiken‹ in Teil 1. Wie in Teil 2 gezeigt wird, prägen Situationen auch die Textproduktion (s. 2.3). s. den Beitrag ›Die Olympischen Sommerspiele 1936‹ in Teil 1.

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Dang-Anh / Kämper / Markewitz / Scholl / Schuster / Wilk

etwa den Gebrauch von anständig), werden Referenzbereiche umgekehrt (vgl. den Gebrauch von Untermensch). Der Fokussierung auf die sprachlichen und kommunikativen Praktiken liegt die Annahme zugrunde, dass das Kommunikationsgefüge ›Nationalsozialismus‹ durch jene als diskursive Praktiken durch die Akteur*innen in vielfältigen Kommunikationssituationen und -zusammenhängen unterschiedlicher Reichweite und Öffentlichkeit hervorgebracht, ausgehandelt und aufrechterhalten wird. Wir verstehen dabei diskursive Praktiken mit Keller als beobachtbare und beschreibbare typische Handlungsweisen der Kommunikation, deren Ausführung als konkrete Handlung – ähnlich wie im Verhältnis zwischen typisierbarer Aussage und konkret-singulärer Äußerung – der interpretativen Kompetenz sozialer Akteure bedarf und von letzteren aktiv gestaltet wird. (Keller 2011: 228, Herv. im Orig.).

Dabei folgen wir dem Verständnis von diskursiven Praktiken als »typische realisierte Kommunikationsmuster, sofern sie in einen Diskurszusammenhang eingebunden sind« (ebd.) und gehen davon aus, dass sich Diskurszusammenhänge gerade durch den Praktikenvollzug ergeben und somit auch in Alltagssituationen wirksam werden. Wir betrachten (diskursive) Praktiken entsprechend als Scharnierbegriff, der die Ebenen von Diskurs und Interaktion miteinander verknüpft. Im Nationalsozialismus kommunizieren heterogene Sprachgemeinschaften, innerhalb derer sich trotz starker Regulation fragmentierte Sprecher*innengemeinschaften herausbildeten, consisting of a variety of groups and niches, with loyal, compliant, semi-compliant/oppositional and oppositional discourses co-existing, even employed by the same individual or community of practice. (Horan 2007: 61).

Die daraus hervorgehende analytische Fokussierung diskurshervorbringender Akteure heterogener Praxisgemeinschaften erweitert in den vorliegenden Beiträgen die in der Sprachforschung zum Nationalsozialismus lange dominante TopDown-Perspektive auf denjenigen Sprachgebrauch im NS, der den Mitgliedern der Sprechergemeinschaft als dominantes Diskursparadigma oktroyiert wurde: Ein solches Konzept von diskursiven Praxisgemeinschaften impliziert gerade nicht ein relativ unabhängiges Nebeneinander von ›nationalsozialistischer Sprache‹ auf der einen Seite und einer spezifischen Diskursgemeinschaft auf der anderen. Vielmehr geht es um Prozesse der Ko-Konstitution, der Einschreibung und Aneignung, aber teilweise auch der Zurückweisung. Wie die jeweilige diskursive Praxisgemeinschaft beziehungsweise Sprechergruppe aufgefasst wird, wie nah oder weit vom NS-Regime entfernt, kann dabei variieren. (Scholl 2019: 423).

Sprachlich-kommunikative Praktiken werden somit in den Beiträgen in ihrer gattungs- und situationsspezifischen Ausprägung in den Mittelpunkt gestellt. Innerhalb der rassistisch-nationalistischen Diskurse der NS-Institutionen sind es

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Einleitung

diskursive Praktiken, die über Zugehörigkeit, Teilhabe und Ausschluss entscheiden. Sie entfalten in Texten des NS-Apparats unter der Wirkung von semantischer Euphemisierung und Camouflage ihre besondere Diskursmächtigkeit. Die Praktiken der propagandistischen Vereinnahmung werden nicht nur hinsichtlich der semantischen Umbesetzung traditioneller Schlüsselwörter (vgl. von Polenz 1999: 550) beschrieben, sondern in ihrer soziopragmatischen Funktion, d. h. mit ihren spezifisch nationalistischen und rassistischen Gebrauchsweisen, in denen sozialer Ein- und Ausschluss (mit weitreichenden Konsequenzen) begründet und gerechtfertigt wird.

2.3

In Texten kommunizieren

Dem Anspruch, Sprachgebrauchsgeschichte auch als Text(sorten)geschichte im Sinn von Kommunikationsgeschichte zu verstehen, sind diejenigen Beiträge verpflichtet, die Textmuster und ihren durch die spezifischen historischen Bedingungen im NS hervorgerufenen Wandel darstellen. Diese Textmuster sind durch unterschiedliche Grade von Öffentlichkeit – von nichtöffentlich (Tagebuch) über eingeschränkt öffentlich (Denkschrift, Postkarte) bis ganz öffentlich (Rede) – geprägt. Außerdem wurden mit den sechs Textkommunikaten solche ausgewählt, die als je auf spezifische Weise durch die historischen Umstände des Schreibens im NS gekennzeichnet gelten können. Texte entstehen in spezifischen Situationen und verfolgen unterschiedliche Zwecke. Dabei folgen die Textproduzent*innen i. d. R. Mustern im Sinne schon etablierter Lösungen, die ihrerseits gleichermaßen auf unterschiedliche Kommunikationsdomänen, Kulturen und Gesellschaften bezogen und mit einschlägigen Diskursen verbunden sind. Jedes Textsortenexemplar zeigt einerseits die Wechselwirkung zwischen Text und Situation, Kommunikationsbereich, kulturellem und gesellschaftlichem Kontext und Diskursen, andererseits bestätigt, modifiziert oder nivelliert es schon gefundene Lösungen. In einem solchen Zugriff wird die in der Textlinguistik eingezogene Differenzierung zwischen ›textintern‹ und ›textextern‹ aufgegeben und durch einen integrativen Ansatz ersetzt, in dem die situativen, kontextuellen und diskursiven Bedingungsfaktoren nicht außerhalb der Texte existieren, sondern sich in diesen niederschlagen (vgl. Hausendorf/Kesselheim/Kato/Breitholz 2017: 16), sowie durch diese hervorgebracht werden. Das bedeutet für unsere Untersuchungen zum Textsortenrepertoire, dass Bezüge zwischen Text, Situation und gesellschaftlichem Kontext aus den Texten heraus erschlossen werden und etwa Fragen nach Rolle, Selbstverständnis und Positionierungen von Textproduzent*innen beantwortet werden. Ferner verstehen wir Texte als »Konstitutionsformen von Wissen« (i. S.v. Antos 1997): Dies betrifft nicht nur ein Wissen darüber, wie ein Text zu gestalten und

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Dang-Anh / Kämper / Markewitz / Scholl / Schuster / Wilk

was gemäß einer Textsorte üblich und möglich ist, sondern Textsorten sind auch als spezifische Formatierung von Wissen zu lesen. Das konkret zu untersuchende Textkommunikat im Sprachraum zwischen 1933 und 1945 ist nun akteursgebunden bzw. -differenziert einerseits eingelassen in einen textsortengeschichtlichen (und damit tradierenden) Zusammenhang, der prototypische bzw. musterhafte Merkmale und Nutzungskontexte hervorgebracht hat, die wiederum andererseits, dem historischen Kontext unterworfen, je spezifische Wandelphänomene aufweist. Zugleich ist die Aufarbeitung von Textsorten zu reflektieren hinsichtlich des Beziehungsverhältnisses zwischen Textsortenverwendung und -tradition, aus der heraus sich das Textsortenwissen der Textproduzent*innen ableitet, die die Textsorten aufgrund dieser tradierten Kommunikationsmöglichkeiten verwenden. So sind Textsorten nicht nur »mehrfach spezifizierte […] Muster […] komplexer kommunikativer Interaktion« (Adamzik 2016: 62), sondern ebenso »Artefakte als auch Instrumente einer Kultur« (Fix 2011: 124). Insofern »spiegelt sich [in Texten] das kulturelle Wissen ganzer Gesellschaften wider, sie sind Teil des kollektiven Gedächtnisses und konservieren Kenntnisse unserer Vergangenheit« (Schwarz-Friesel/Consten 2014: 8). Im NS entstehen kaum neuartige Kommunikationsmedien/-formen, Textsorten o. Ä. Erkennbar jedoch sind Formen von Musteranpassungen. Etablierte Text- und damit häufig korrespondierende sprachliche Muster bieten einen Orientierungsrahmen, innerhalb dessen sich die Ausübung von Herrschaft ebenso entfaltet wie die Bekundung von Anhänger- oder Gegnerschaft – sie werden genutzt, um Diskurse zu verunmöglichen oder zu ermöglichen. Es wird kein Ansatz verfolgt, der Merkmale nationalsozialistischen Schreibens (oder gegnerischer Texte) aussondert, sondern Kommunikate werden vor dem Hintergrund ihrer Überlieferungstraditionen, in Wechselwirkung mit zeitgenössischen Kommunikationsbedingungen und in Hinblick auf ihre Situationsspezifik untersucht. Der Nationalsozialismus lässt sich einerseits als ein kommunikationsgeschichtlicher Bruch (bspw. in Hinsicht auf die Möglichkeiten öffentlicher Kommunikation), andererseits als ein Fortschreiben bzw. Anverwandeln von Texttraditionen deuten. Damit bestätigt sich im Zusammenhang mit einer textuell orientierten Kommunikationsgeschichte 1933 bis 1945, dass Textsorten »kulturell kurzfristig [zu] denken [sind], leicht veränderbar, sobald sich die soziokulturellen Umstände verändern. Sie sind offen, nicht elaboriert und neuen Bedürfnissen leicht anpaßbar« (Fix 2011: 144) – bei gleichzeitigem Bestand der tradierten textuellen Formelemente. Da die in Kapitel 3 betrachteten Kommunikationsformen und Textsorten in historisch weit zurückreichende Traditionszusammenhänge eingebunden sind, lässt die Beschreibung ihrer Nutzung – und insbesondere ihrer Modifikation – Schlüsse auf die zeitspezifische Funktionalisierung zu, die sich bis in Gestaltung einzelner Sprachhandlungen oder grammatischer Konstruktionen hinein nachvollziehen lässt. Den Blick auf die Bindekräfte von Texten und Textsorten zu

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21

Einleitung

richten, erlaubt es ebenso, dem oben skizzierten Bedingungsgefüge nachzugehen, wie dem Wandel einzelner Bestandteile. So zeigen sich an Texten etwa nicht nur die Auswirkungen, die staatliche Reglementierungen auf den privaten Briefverkehr haben,18 sondern ebenso Selbstpositionierungen zum System, die auch dort erscheinen, wo sie gemäß einer Texttradition nicht oder kaum erwartbar sind.19 Häufig wird der Nationalsozialismus mit den öffentlichen Reden des NS-Apparates identifiziert. Selbstverständlich bedienten sich Redner wie Adolf Hitler und Joseph Goebbels traditioneller rederhetorischer Elemente (Antithese, Parallelismus, Hyperbel, Metapher etc.; vgl. Takada 2018: 53). Gleichzeitig waren auch situative bzw. funktionale Varianzen zu beschreiben. Daneben zeigt sich jedoch auch, dass etwa mittels Tagebüchern oder Postkarten nicht mehr geduldete Diskurse fortgeschrieben und eine subversive Gegenöffentlichkeit geschaffen werden kann.20 Die Nutzung der Kommunikationsmedien ›Flugblatt‹ und ›Flugschrift‹ zur persuasiven Kommunikation im Widerstand fügt sich hingegen fast nahtlos in den entsprechenden Traditionszusammenhang ein und lässt sich auf allen textuellen Beschreibungsebenen nachweisen.21

2.4

Konzeptprägungen

Unter der Voraussetzung einer sprachbezogenen Geschichtsschreibung formulieren wir als ihr Erkenntnisziel: die diskurs-, kommunikations- und sprachgeschichtliche Sicherung von Daten historischer sprachlicher Sachverhalte. Im Zeichen dieses Ziels stellen wir schließlich ausgewählte sprachliche Ausdrücke dar, deren Repräsentationen korpusgestützt abgeleitet sind als komplexe lexikalisch-semantische Bedeutungseinheiten und als akteursgebundene, also soziopragmatische Aussagenelemente. Diese Einheiten nennen wir Verdichtungen von Diskursen.22 Sie repräsentieren den Analysegegenstand in der kompaktesten, aber konkreten, Form seines Gebrauchs.23 18 s. den Beitrag ›Brief‹ in Teil 2, etwa zu den Auswirkungen des Feldpostwesens oder von Haftbedingungen. 19 s. etwa die Beiträge ›Brief‹ und ›Denkschrift‹ in Teil 2. 20 s. den Beitrag ›Tagebuch‹ in Teil 2. 21 s. den Beitrag ›Flugblatt – Flugschrift‹ sowie den Beitrag ›Postkarte‹ in Teil 2. 22 In der Auseinandersetzung mit Foucaults Diskurskonzept reklamiert Warnke für die Linguistik: »Der sprachliche Ausdruck realisiert eine Verdichtung von Bedeutung im Diskurs und insofern nicht mehr und nicht weniger als die Existenz von Sprache. … Bedeutung ist also nicht eine vorgängige Eigenschaft sprachlicher Ausdrücke, sondern eine Folge ihrer Stellung im diskursiven Feld« (Warnke 2007: 12). 23 Es handelt sich bei Diskursverdichtungen mithin nicht um abstrakte übergeordnete Einheiten, sondern vielmehr um reale, lexikalisch-semantische Einheiten.

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Dang-Anh / Kämper / Markewitz / Scholl / Schuster / Wilk

Diskursverdichtungen sind diejenigen Diskurseinheiten, die einen Diskurs konzeptuell, soziopragmatisch und lexikalisch-semantisch bündeln.24 Es sind also solche sprachlichen Einheiten, die einen Diskurs in komprimierter Weise im Hinblick auf dessen wesentliche »Makro-Propositionen« (Konerding 2007: 124) repräsentieren. Im Fall der sprachlichen Sozialgeschichte 1933 bis 1945 handelt es sich um basale Aussagenelemente der NS-Ideologie in ihren Sinngebungen bzw. Ausdeutungen der Diskursbeteiligten. Die ausgewählten Diskursverdichtungen drücken also auch akteursabhängige Bewertungen und Einstellungen aus und sind insofern von je spezifischen Weltsichten geprägte Elemente des Diskurses. Sie sind lexikalisch-semantisch betrachtet als Konzepte beschreibbar, die zum einen netzartige Strukturen bilden. Zum andern werden sie als Einheiten verstanden, die das im Diskurs generierte und distribuierte Wissen komprimieren. Wir folgen Felder, der Konzept als »kognitive Einheit oder Inhaltskomponente […], an der Attribute oder (sich ausdrucksseitig manifestierende) Teilbedeutungen identifiziert werden können« (Felder 2013: 21) interpretiert. Lexikologisch ausgedrückt: Wir präsentieren lexikalisch-semantische Bedeutungskomplexe nach onomasiologischen Prinzipien und beschreiben mithin lexikalische Einheiten, die in semantischen Bedeutungsrelationen zueinander stehen und in spezifischer Weise diskursrepräsentativ sind. Insofern Versprachlichungen von Wissenselementen in der politischen Domäne im Kontext von Ideologie und Macht stehen, heißt das in unserem Fall eines akteursbezogenen Zugangs: Wir beziehen uns auf akteursspezifische diskursverdichtende Wissensrepräsentationen. Erkenntnisziel unserer lexikalisch-semantischen Analysen ist es damit, die Voraussetzung für die sprachgeschichtliche Bewertung ausgewählter Konzepte der Jahre 1933 bis 1945 zu schaffen und sie als Diskursverdichtungen zu beschreiben. Akteursspezifische Bedeutungskonstitution (meaning construction25) als kontextbestimmte diskursive Konzeptualisierung ist die Leitidee dieser Analyseperspektive.26 Kontextbestimmt heißt insbes.: im kommunikativen Kontext je spezifischer sprachlicher Praktiken.27 24 Konzept ist die Bezeichnung für eine einen bestimmten Wissensbestand repräsentierende Einheit, deren semantische Struktur von einer Vielzahl lexikalisch-semantischer Elemente/ Konzeptelemente konstituiert wird, die in einer Netzstruktur aufeinander bezogen sind. Leitbegriffe bzw. Schlüsselwörter sind isolierte semantische Diskurselemente. 25 »Meaning construction is an on-line mental activity whereby speech participants create meanings in every communicative act on the basis of underspecified linguistic units« (Radden u. a. 2007: 3). 26 Vgl. dazu u. a. Radden u. a. 2007, Hübler 2001, Nuyts/Pederson 1999. 27 Dietrich Busse setzt sich mit der Kategorie ›Kontext‹ auseinander, sein Verständnis – »Ich [verstehe] unter ›Kontext‹ den umfassenden epistemisch-kognitiven Hintergrund, der das Verstehen einzelner sprachlicher Zeichen(ketten) oder Kommunikationsakte überhaupt erst möglich macht« (Busse 2007: 82, Anm. 2) – von dem eines enger gefassten – »im Sinn von kopräsenter (lokaler, sozialer) ›Situation‹ während eines aktualen Kommunikationsereignisses« (Busse 2007, 81f.; Anm. 2) – deutlich abgrenzend.

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23

Einleitung

Wir setzen also voraus, dass diskursverdichtende Konzepte 1. lexikalisch-semantische Repräsentationen haben, also auf Wortkörper verweisen, 2. Bedeutungen bündeln, die komplex repräsentierte Bedeutungsaspekte integrieren, 3. Wissen organisieren und repräsentieren, 4. Ergebnisse von Kontextualisierungen sind,28 5. soziopragmatische Funktionseinheiten sind, die sozialen Praktiken entsprechen. Im Rahmen dieses Verständnisses von Diskursverdichtungen wird die Struktur der Diskurse insofern konzentriert dargestellt, als die ausgewählten lexikalischsemantischen Einheiten (Führer, Blut, Arbeit, Kampf, Freiheit) als Verdichtungen der nationalsozialistischen Ideologie gelten können.29 In diesem Sinn stellen sie Komplexe dar, die die Diskurse der Jahre 1933 bis 1945 semantisch und je akteursbezogen verdichten. Mit dem analytischen Blick auf Diskursverdichtungen im beschriebenen Sinn wird insofern das diskursiv repräsentierte ideologiehaltige Konzentrat der nationalsozialistischen Weltsicht in seinen akteursspezifischen Ausprägungen und Deutungsmustern sichtbar. Es handelt sich um Einheiten, die sowohl in höchster Frequenz, als auch in höchster konzeptioneller Konzentrierung NS-Ideologie repräsentieren. Es sind semantisch-soziopragmatische Konzentrate nationalsozialistischer Werthaltungen und ihre akteursunterschiedenen Ausdeutungen.

28 Wenn wir Kontext als Produktions- und Verstehensvoraussetzung von sprachlichen Äußerungen begreifen (vgl. Blommaert 2009: 39–67), dann sind Kontextualisierungen als semantische Sinngebungsakte der Produktion bzw. des Verstehens sprachlicher Einheiten vorzustellen und damit als Elemente gesellschaftlichen Wissens. Kontext ist diejenige Instanz, die die Grundlage für die linguistische Struktur bildet: »Whatever form its representation takes, the apprehended context is a crucial facet of the ongoing conceptualization that provides the basis for linguistic structure« (Langacker 1997: 234). Dietrich Busse definiert Diskurse als Markierungen von Kontextualisierungszusammenhängen (2007: 82) und stellt unter dieser Voraussetzung ein differenziertes Modell von Ebenen und Typen von Kontextualisierungen als diskurslinguistische Perspektive vor. Warnke/Spitzmüller verweisen auf Bedeutung als Resultat einer Kontextualisierung. Es gibt »kein kontinuierliches Bedeuten der Welt …, sondern eher Brüche in der Positivierung, die es aufzudecken gilt. Bedeutung ist damit immer spezifisch, nur im Diskurs gegeben und resultiert aus einer Kontextualisierung … im verstehensrelevanten Wissen« (Warnke/Spitzmüller 2008: 7). 29 Auf Einzelwörter bezogen analysiert Anja Lobenstein-Reichmann (2008) entsprechende Wortschätze im Sinn von Ideologemen bei Chamberlain.

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3

Dang-Anh / Kämper / Markewitz / Scholl / Schuster / Wilk

Kulturlinguistik – das Selbstverständnis

Die vorliegenden Arbeiten sind ein Beitrag zur soziopragmatischen Sprachgebrauchsgeschichte des 20. Jahrhunderts, indem sie aus kulturanalytischer Perspektive kommunikative Praktiken und ihre Veränderungen bzw. diskursdeterminierten Versionen, Texttraditionen und ihre Anpassungen sowie diskursverdichtende lexikalisch-semantische Konzepte darstellen. Gesellschaftlichkeit wird als Bedingung für diesen Sprachgebrauch verstanden und die soziopragmatisch informierte Vorstellung von sprachlicher Gesellschaftlichkeit stellt sozusagen das kulturlinguistische Paradigma dar.30 Die Konstituierung der analysierten Gegenstände und die beschriebenen Ansätze setzen voraus: Sprache ist kulturell und kulturgeschichtlich geprägt und gleichzeitig kulturprägend.31 Wie in Postkarten und Briefen, in Reden und Denkschriften kommuniziert wird, wie Gefühle geäußert und Menschengruppen sprachlich gebildet, wie Raum und Zeit geschaffen werden, wie sich Angeklagte in Schauprozessen verteidigen, wie Kriegsgefangene in unterschiedlichen Kommunikationssituationen Identität konstituieren, sind Fragen nach der kulturellen Prägung des Sprachgebrauchs, die unter den Bedingungen der Diktatur 1933 bis 1945 in besonderer Weise wirkt. Kulturlinguistik, also »eine […] Linguistik, die sich für die sozial- und kulturkonstitutive Wirkmächtigkeit von Sprache und Sprachgebrauch interessiert« (Linke 2015: 63), rekonstruiert, erklärt und stellt dar gesellschaftliche, in Texten als Sprachdaten manifeste und Wissen repräsentierende Sinngebungen. Es interessiert das sprachliche ›Wie‹.32 Sinngebungen sind sprachliche Ordnungen von Bedeutungsinstanzen unter den spezifischen Bedingungen des Nationalsozialismus. Insofern verstehen wir die nationalsozialistische Diktatur als den Kontext der Sprachgebrauchsweisen und damit, im Sinne Blommaerts, als »condition for discourse production« (Blommaert 2009: 66). Der historische Kontext stellt insofern die Rahmung der Fragestellung dar, als die Perspektive ›Sprachgebrauch unter den Bedingungen der Diktatur‹ die Grundvoraussetzung der jeweiligen Zugänge der 21 vorliegenden Beiträge ist.

30 Vgl. Jäger (1993), der strukturorientierte »Chomsky-Theorien« von funktionsorientierten »Mead-Theorien« unterscheidet, welch letztere »die gesellschaftliche … als Grundbedingung für Sprache erkennt« (Jäger 1993: 79). Zur Gesellschaftlichkeit von Sprache vgl. außerdem u. a. Hermanns 1995, Mattheier 1995, Linke 1998, Wichter 1999 und Spieß 2011, insbes. 125– 128. 31 Die kulturelle Prägung von Sprache fasst Putnam so: »Was vorliegt, sogar auf der Ebene der Beobachtungstatsachen, wird teilweise davon abhängen, welche Kulturen wir schaffen, und das heißt, welche Sprache wir ausbilden.« (Putnam 1995: 27). 32 Peter Auer hat kulturwissenschaftliche Linguistik als »Differenzwissenschaft« beschrieben und reklamiert das ›Wie‹ als einen ihrer zentralen Gegenstände (Auer 2000: 67f.).

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25

Einleitung

Unter der Voraussetzung, dass Kultur »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« (Weber 1904: 180) ist,33 lenken wir den Fokus auf Sprache in der Funktion von Wirklichkeitsdeutung und -konstituierung und nehmen damit das konstruktivistische Prinzip auf, das Reinhart Koselleck mit der bekannten Feststellung formulierte, Sprache sei nicht nur Indikator, sondern auch Faktor historisch-sozialer Prozesse (Koselleck 1979: 29). Die linguistische Perspektive auf Raum- und Zeitkonstruktionen,34 auf sprachgeprägte Menschenbilder35 sowie auf die Konzeptualisierung von eigen und fremd, die Adaption des Linguistic Landscape-Ansatzes auf einen historischen Gegenstand,36 auf Emotionen und emotionale Einstellungen37 repräsentieren in besonderer, die Notwendigkeit transdisziplinärer Öffnungen deutlich machender Weise kulturlinguistische Zugänge.38

4

Das Korpus

Die Studien sind korpusbasiert. Das zugrunde gelegte Korpus lässt sich hinsichtlich Umfang und Inhalt wie folgt beschreiben: Akteurskategorien NS-Apparat

Token

Textsorten/ Gattungen

Texte/Urheber*innen (Beispiele)39

Bericht

Meldungen aus dem Reich 1938– 1945 (1984) Proklamationen, Kommuniqués

ca. 18,1 Mio.

Pressemitteilung Normtext

Verordnungen, Gesetze, Anordnung, Verfügung

33 Clifford Geertz hat diesen Gedanken reformuliert, indem er Kultur als »selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe« definiert (Geertz 2003: 9). 34 s. den Beitrag ›Die Olympischen Sommerspiele 1936‹ in Teil 1. 35 s. den Beitrag ›Geschlechter- und Generationenbilder‹ in Teil 1. 36 s. den Beitrag ›Exklusion und ihre Erfahrung‹ in Teil 1. 37 s. den Beitrag ›Gefühle äußern‹ in Teil 1 sowie den Beitrag ›Brief‹ (insbes. Haftbriefe) in Teil 2. 38 Die transdisziplinäre Nähe kulturanalytischer Ansätze zeigt sich z. B. dann, wenn die Perspektive der historischen Anthropologie auf die der linguistischen Kulturgeschichte übertragen wird: »Ein solcher [die Anthropologie] integrierender Ansatz läßt sich konzeptionalisieren, indem man etwa nach der Erfahrung, Deutung und symbolischen Vergegenwärtigung von Raum, Zeit, Körper, Emotion, Wissen, Arbeit, Kommunikation und schließlich der politischen, sozialen, religiösen und intellektuellen Ordnungen im engeren Sinne fragt« (Hardtwig 2005: 11). 39 Die in der letzten Spalte aufgeführten Titel dienen der Veranschaulichung. Die bibliografisch korrekten Angaben finden sich in der Bibliographie.

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(Fortsetzung) Akteurskategorien

Token

Integrierte Gesellschaft (NS-affin, diverse, dissident)

Textsorten/ Gattungen Rede Tagebuch

Texte/Urheber*innen (Beispiele) Hitler, Himmler Goebbels

Abhandlung

Goebbels, Die Zeit ohne Beispiel (1941), SS-Leitheft

Gebrauchstext

Esser, Die jüdische Weltpest (1939), Hiemer, Der Giftpilz (1939), Bade, Die SA erobert Berlin (1937)

ca. 4,3 Mio.

Tagebuch Lore Walb, Friedrich Kellner Brief, Feldpost- Ehepaar Guicking, Ehepaar Neubrief haus, Eberle (Hg.), Briefe an Hitler (2007) Biogramm

Abel-Biogramme 1934 (Giebel 2018)

Tagebuch

Victor Klemperer, Hertha Nathorff

Sozialistischer Widerstand

Flug- und Programmschrift

Kommunistischer Widerstand

Flug- und Tarnschrift, Aufruf

Neu Beginnen, I.S.K., SAP, Hermann Brill, Lidice-Erklärung, Otto Wels, Julius Leber, Heinrich Mann Rote Kapelle, Harro Schulze-Boysen, KPD, Wilhelm Pieck, Wilhelm Knöchel, Jakob-Saefkow-Bästlein-Gruppe

Bürgerlichkonservativer Widerstand

Programmund Denkschrift

Ausgeschlossene

Widerstand

ca. 1,3 Mio.

ca. 1,2 Mio.

Kreisauer Kreis, Helmuth von Moltke, Otto von der Gablentz, Johann Popitz, Ulrich von Hassell, Robert Kempner

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Einleitung

(Fortsetzung) Akteurskategorien Militärischer Widerstand

Token

Textsorten/ Gattungen Tagebuch, Manifest, Erklärung

Jugendlicher Widerstand

Brief, Flugschrift

Kirchlichreligiöser Widerstand Widerstand der Verfolgten

Predigt

Exilwiderstand

Zeitungsartikel

Texte/Urheber*innen (Beispiele) Friedrich Goerdeler, Ludwig Beck, Nationalkomitee Freies Deutschland, Werner-Otto Müller-Hill, Erwin von Witzleben Die Weiße Rose, Alexander Schmorell, Hanno Günther, Herbert Baum, Helmuth Hübener, Die Edelweißpiraten Dietrich Bonhoeffer, August von Galen, Martin Niemöller, Theophil Wurm, Alfred Delp Central-Verein-Zeitung

Zeitungsartikel, Der Gegen-Angriff, Neuer VorRede wärts / Sozialistische Aktion Rote Fahne Exilschrift SOPADE – Deutschlandberichte

Die Texte der Akteurskategorien »NS-Apparat«, »Integrierte Gesellschaft« und »Ausgeschlossene« stammen überwiegend aus dem Korpus des Projekts »Sprachliche Sozialgeschichte 1933 bis 1945« (IDS Mannheim) mit insgesamt ca. 23,7 Mio. Token. Die Texte der Akteurskategorie »Widerstand« stammen überwiegend aus dem Projekt »Heterogene Widerstandskulturen« (Universität Paderborn) mit insgesamt ca. 1,2 Mio. Token. Die Korpora zur sprachlichen Sozialgeschichte des Nationalsozialismus (SNA) und zur Widerstandskommunikation (HetWik) waren intern über Cosmas II getrennt und als Gesamtkorpus abfragbar. Sie wurden darüber hinaus den Standardverfahren der digitalen Korpusauswertung unterzogen (Wortfrequenzen, Wortcluster, n-gramme, POS-Gramme; vgl. Dang-Anh/Scholl 2022a) und zur Ermittlung von signifikanten Schlüsselwörtern untereinander kontrastiert mit dem Ziel, soziokulturelle Muster hinsichtlich der Diskursparameter der Zustimmung, Abgrenzung, der Dissidenz oder Anpassung zu identifizieren. Die Vergabe einheitlicher Metadaten ermöglichte die Zusammenstellung von Teilkorpora nach Akteursgruppen, Textgattungen und Zeiträumen bzw. Erscheinungsjahren. Für die Beiträge zur Textkommunikation und zu Kommunikationspraktiken und -situationen wurden die Teilkorpora durch weitere im Rahmen der Projekte angefertigte Digitalisate ergänzt. Einige der Spezialkorpora sind z. T. erstmalig kompiliert, digitalisiert und über OCR bzw. im Double-Keying-Ver-

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Dang-Anh / Kämper / Markewitz / Scholl / Schuster / Wilk

fahren erfasst worden40. Annotiert wurde im Paderborner Projekt das Teilkorpus der Widerstandskommunikation anhand eines auf die Eigenschaften der Widerstandskommunikation abgestimmten Tagsets. Aus den annotierten Segmenten wurden Teilkorpora zu den Handlungsfeldern der Selbst- und Fremdkonstitution sowie zu sprachlichen Widerstandspraktiken erzeugt. Erkenntnisleitend für die Widerstandstexte war die diskursstilistische Einordnung der heterogenen Formen, mit denen Diskursakteure die historischen Ereignisse in ihrer Widersprüchlichkeit und vor dem Hintergrund des Bruchs mit den demokratischen Institutionen der Weimarer Zeit bewerten. Der Blick auf die historischen Akteursgruppen wird keineswegs neutral eingestellt, sondern im Sinne von Kämper/Warnke 2021 an einer postkolonialen rassismuskritischen Diskursethik ausgerichtet. Die Interpretationen perspektivieren die erinnerungskulturelle Anerkennung der oft wechselvollen Verarbeitung von »Gleichschaltungs«- und Unrechtserfahrungen unter den Bedingungen der NS-Diktatur.

5

Fortschreibung

Das Forschungsprojekt »Sprachliche Sozialgeschichte 1933 bis 1945« soll mit den vorgelegten Ergebnissen nicht abgeschlossen, sondern begonnen werden. Dieses Programm kann nur der Beginn einer Forschung sein, die eine umfassende Sichtung der sprachlichen Realität der menschenverachtendsten und gewalttätigsten Epoche überhaupt zum Gegenstand hat. Es soll mit diesem Aufschlag dazu beigetragen werden, die sprachliche Diversität dieser Epoche weiter zu erforschen und die methodische Vielfalt ihrer sprachwissenschaftlichen Aufbereitung zu erproben. Damit ist auch die Geschichtswissenschaft eingeladen damit fortzufahren, einen Blick auf die historische Realität, im Sinn einer sprachlichen Realität, zu lenken. Sprachgebrauch in der Zeit des Nationalsozialismus lässt nicht immer eindeutige Rückschlüsse darauf zu, aus welcher Feder ein Dokument stammt und mit welcher Gesinnung es verfasst wurde. In den korpuslinguistischen Abschnitten wurden mitunter in NS- und Widerstandskommunikation dieselben Sprachstile für Warnungen, für den Ausdruck von Sorge oder Oppositionshaltungen nachgewiesen. Auch wechseln Akteur*innen, die sich dem Widerstand anschließen, nicht einfach ihre Formulierungsroutinen, sobald sie sich in die Opposition begeben. Viele Formulierungsweisen sind zeittypisch. Ihr sozialer Sinn hängt von den Bedingungen ihres Auftretens ab. Die sprachbezogenen Untersuchungen zur NS-Zeit zeigen, dass Lesarten über das Sprachliche hinaus 40 s. die Beiträge ›Sich beschweren‹ und ›Die Gefangenenakten des US-Verhörlagers Fort Hunt‹ in Teil 1.

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Einleitung

an mediale Einbettungen gebunden sind. Daraus ergeben sich Forschungsdesiderate zur Materialität und Medialität, zu den Verwendungsformen von Medien, Typografie und Bildlichkeit, zu den Modalitäten des Verteilens und Verschickens, aber auch zur performativen Verwendung von Texten, die z. B. im KZ vorgetragen eine andere Wirkung haben als in der Veröffentlichung über die Auslandspresse. Auch frühere und spätere Verwendungsweisen könnten das akteursübergreifende Netz aus intertextuellen Verweisen noch deutlicher hervortreten lassen. Wünschenswert wäre somit für die verdichtete Zeit der 1930er und 1940er Jahre eine historische Netzwerkanalyse nicht nur für Personen, sondern auch für Texte, ihre Medien und Einsatzorte. Bisher eher randständig erforschte Materialien finden sich bei historischen Filmaufnahmen, in den inzwischen umfänglich digitalisierten Exilzeitschriften und weiteren digitalen Sammlungen verschiedener Opfergruppen. Die multimodalen interaktionsbezogenen Aspekte einer sprachlichen Gebrauchsgeschichte der NS-Zeit bedürfen ebenso weiterer Erforschung und könnte alle noch vorliegenden audiovisuellen Medien, etwa auch Kinofilme oder Wochenschauen, erfassen. Ein weiterer Forschungsstrang könnte die Gebrauchs- und Rezeptionsgeschichte viel zitierter und wiederaufgelegter Materialien sein. Eine multimodale Kommunikationsgeschichte ist zudem angehalten, mehr noch die holistische Qualität von Diskursen (wie exemplarisch anhand der olympischen Spiele gezeigt) sowie die mediale Einbettung von Texten als Bedingung für die (oft situativen) semantischen Transformationen ihrer Sprachgebrauchsmuster aufzuzeigen.

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1 Textmuster tradieren und modifizieren

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Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz

Tagebuch

1 Vorbemerkung 2 Einführung: Textsorte Tagebuch 3 Tagebuchstruktur 3.1 Positionierung 3.2 Vertextungsmuster 3.2.1 Narration und Deskription 3.2.2 Explikation 3.3 Schreibanlass – Diaristik als Authentifizierungspraxis 3.3.1 Ereignis- und erlebnisbetonter Schreibanlass 3.3.2 Überlieferungsbetonter Schreibanlass 3.3.3 Selbstdarstellungsbetonter Schreibanlass 4 Tagebuchstil 5 Tagebuch-Spezifika 1933 bis 1945 5.1 Ausgeschlossene: Leiden dokumentieren 5.2 Dissidenten: Werte perpetuieren 5.3 NS-Affine: Haltung anpassen 5.4 Widerstand: Handeln reflektieren 6 Fazit Quellen

1

Vorbemerkung

Tagebuch-Schreiben ist eine jahrhundertealte Kulturpraxis, deren Ergebnis, das Tagebuch als Ego-Dokument (siehe zum Konzept des Ego-Dokuments u. a. Schulze 1996 oder Schröder 2020: 29–37), einerseits musterhafte überzeitliche Textsortenmerkmale aufweist, andererseits aber auch ein erhebliches diskursbedingtes Variationsvermögen in sich birgt. Die situativen Bedingungen einer Diktatur prägen das Denken und Schreiben auf stets spezifische Weise – und damit auch das Tagebuch-Schreiben. Dessen Voraussetzung, das sprachliche ins Sein-Bringen eines Ich-Bewusstseins im Prozess des Tagebuch-Schreibens, wird in der NS-Zeit elementar dazu heraus-

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Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz

gefordert, versprachlichtes bzw. versprachlichendes Ich und Diktatur zueinander in ein Verhältnis zu setzen und sich damit akteursrollenabhängig zu positionieren (siehe auch Abschnitt 2.1). Die Subjektivität des Tagebuchs als eine Art Archiv historischer Daten ist insofern zum einen im Zeichen einer sprachlichen Sozialgeschichte zu analysieren und zum andern, aus der Retrospektive, von hohem sprach-, diskurssowie kommunikationsgeschichtlichem Wert. Die Spezifik und akteursbedingte Variantenvielfalt darzustellen, ist das Ziel dieses Beitrags. Er basiert auf der Auswertung von insgesamt elf Tagebüchern. Zwei sind von NS-Akteuren verfasst1, eines von einer NS-affinen Akteurin der Integrierten Gesellschaft2, eines von einem dissidenten Akteur der Integrierten Gesellschaft3, vier von Mitgliedern des Widerstands4 und drei Tagebücher von ausgeschlossenen Akteuren.5

2

Einführung: Textsorte Tagebuch

Der Textsorte Tagebuch und damit auch der kommunikativen Praktik des Tagebuch-Schreibens kommen während des ›Dritten Reiches‹ konstitutive Bedeutung zu (vgl. Kämper 2012b: 218 oder Bajohr 2015: 7). Dies ist einerseits durch den Tatbestand zu erklären, dass »die Jahre des Dritten Reiches für viele Zeitgenossen mit einschneidenden Veränderungen und Brüchen im Lebensalltag verbunden waren, die nach Vergegenwärtigung, Reflexion und Erklärung verlangten« (Bajohr 2015: 7) und nivelliert andererseits die (in der Forschung z. T. kanonisierte) Vorstellung, das Tagebuch sei eine »Widerstandsform« (Markewitz 2018: 436) sui generis. Dementsprechend hat Janosch Steuwer (2017: 31) darauf verwiesen, »dass kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Tagebuchschreiben und Nationalsozialismus bestand«. Dass das Führen eines Tagebuchs als akteursübergreifend usuell und traditionsgebunden verstanden werden kann, hängt auch mit der soziokulturell geprägten Geschichte der Textsorte im Laufe des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen: »Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Entwicklung 1 Verwendet wurden das Tagebuch Alfred Rosenbergs sowie – als intendiert-kommunikatives, also mit Veröffentlichungsabsichten formuliertes Tagebuch – das von Joseph Goebbels. 2 Beigezogen wurde das Tagebuch von Lore Walb. 3 Für diesen Beitrag ausgewertet wurde das Tagebuch von Friedrich Kellner. 4 Aus dem bürgerlich-konservativen Widerstand werden die Tagebücher Ulrich von Hassells (1938–1944) verwendet, aus dem militärischen Widerstand die Tagebuchfragmente Hermann Kaisers (1941/1943) und das Kriegstagebuch Werner Otto Müller-Hills (1944/1945) und aus dem kommunistischen Widerstand die Tagebuchblätter Fritz Selbmanns (1933–1935). 5 Stellvertretend für diese Akteursgruppe wurden die Tagebücher Oskar Rosenfelds (1942– 1944), Victor Klemperers (1933–1945) sowie Hertha Nathorffs (1933–1938) ausgewertet.

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Tagebuch

des Tagebuchs eng mit der Herausbildung des Bürgertums verknüpft« (Steuwer 2017: 28) und symbolisierte auf medialer Ebene die spezifische Lebensweise dieser Schicht. Damit einher gingen bestimmte Textsortencharakteristika und -funktionen. Diese Traditionsanbindung an das (sich festigende) Bürgertum, die aber nicht als Formalisierung der Textsorte missverstanden werden sollte, änderte sich ab der Jahrhundertwende. Die Textsorte wurde nach und nach von nahezu allen sozialen Schichten funktionalisiert und aufgrund der unterschiedlichen kommunikativen Bedürfnisse der Textsortenproduzenten kam es zu einer Ausdifferenzierung bzw. »Pluralisierung der Schreibpraxis« (Steuwer 2017: 29). Insbesondere die Reflexion des eigenen Ichs in seiner Einlassung in gesellschaftliche Zusammenhänge (vgl. Zapruder 2015: 33–38) bedingt vielgestaltige Zugänge und führt zur Heterogenität der Textsorte (vgl. Kämper 2012b: 219). So zeigt sich, dass »Tagebuchschreiben […] eine in hohem Maße performative Praktik [ist], die in ihrem Vollzug erst schafft, wovon sie spricht« (Steuwer 2017: 23). Als Form des inneren Monologs (vgl. Kämper 2012b: 217 oder Heim 2015: 85) erweisen sich Tagebücher zudem als »in hohem Maße andeutungs- und voraussetzungsvoll« (Steuwer 2017: 32). Trotz dieser Heterogenität, die auch die Ausgestaltung der Textsorte unter den nivellierenden bzw. entdifferenzierenden Bedingungen der faschistischen Diktatur im ›Dritten Reich‹ (vgl. dazu Fix 2014b: 55) kennzeichnet, lassen sich strukturelle Gemeinsamkeiten ebenso finden wie »similarities of function, subject matter and circumstance of writing« (Kämper 2012b: 219):

3

Tagebuchstruktur

Strukturell sind Tagebücher durch einen fortlaufend berichtenden sowie reflektierenden Habitus gekennzeichnet (vgl. Bewilogua 2016), der den zeitlichchronologischen Aufbau des Tagebuchs bewirkt (vgl. Markewitz 2018: 437). Die einzelnen (täglichen, aber auch tagesübergreifenden sowie wöchentlichen oder gar monatlichen) Eintragungen6 sind meist in irgendeiner Form voneinander 6 Zur Textsortenkompetenz der Diarist*innen gehört die Regelmäßigkeit der Einträge, deren zeitliche Abstände nicht allzu groß sein sollten. Ist dies dennoch der Fall, wird dieser Sachverhalt thematisiert und z. T. begründet. So notiert z. B. Lore Walb vier Wochen nach einem letzten Eintrag: Ein Monat – seitdem ich hier nichts mehr schrieb – ist in der augenblicklichen Zeit sehr lang und sehr ereignisreich. Was ist nun nicht alles geschehen! (Walb 21. 5. 1940). Auch der NS-Akteur Alfred Rosenberg kommentiert vielfach die z. T. größeren Lücken in seinem Tagebuch, entweder mit dem Hinweis auf den fehlenden Zugang zur Textsorte und dem damit verbundenen regelmäßigen Schreiben oder unter Bezugnahme auf charakterliche Eigenschaften, z. B. die alte Faulheit, [die] […] wieder zur Unterbrechung der Niederschriften geführt [hat]. Ich hole deshalb nur kurz einiges nach (TB AR 12. 2. 1937).

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Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz

abgegrenzt (z. B. durch die Angabe des Eintragedatums), so dass jeder Eintrag eine textuelle Einheit bildet. Jeder Eintrag muss – trotz der Möglichkeit innertextueller Vernetzungen – als neues Ansetzen verstanden werden (vgl. Bewilogua 2016); eine thematisch-inhaltliche Kontinuität ist in der Regel nicht der Fall, sie wird aber z. T. explizit hergestellt. Darüber hinaus ist »Unmittelbarkeit zwischen Erleben und Verschriftlichung« (Markewitz 2018: 437) ein wesentliches diaristisches Kennzeichen. Schließlich nennt Barbara Sandig, neben Schriftlichkeit und Monologizität, Spontaneität als drittes Merkmal (Sandig 1972: 115–116). Mit dem Schreiben eines Tagebuchs verschaffen sich Verfasser*innen kommunikative Möglichkeitsräume, um eigene »Eindrücke und Erlebnisse […] zeitnah fest[zuhalten]« (Meyer 2015: 61), aber auch – in einem bis zu einem gewissen Grad durchaus konstruktivistischen Sinne – performativ zu vollziehen; insbesondere auch Gefühle. In dieser Hinsicht haben sie in der Regel die Funktion einer Selbstverständigung. Sie sind Versuche der Schreibenden, ihre Gedanken zu ordnen, sich eine psychische Last »von der Seele zu schreiben«, mitunter auch ein Bekenntnis abzulegen (Heim 2015: 84).

Abseits der Reflexion des eigenen Erlebens und des Ichs vor dem Hintergrund des eigenen Sinnhorizonts können Tagebuchaufzeichnungen dazu dienen, diskursive (Selbst-)Positionierungen vorzunehmen (vgl. Meyer 2015: 76 oder Steuwer 2015: 52) und im Extrem- bzw. oppositionellen Fall eine Art Gegenwelt (be)schreibend zu konstituieren (vgl. Kämper 2012b: 216) (s. u.).

3.1

Positionierung

Mit der Kategorie der Positionierung nehmen wir eine, das Tagebuch Schreiben auf spezifische Weise kennzeichnende Praxis auf und adaptieren bzw. modifizieren einen Ansatz, der in der Interaktions- und Gesprächsforschung entwickelt wurde.7 Im Kontext der kommunikativen Praxis der Narration definieren Lucius-Hoene und Deppermann Positionierung als »eine Strategie zur Herausar7 In diesem Sinn definieren Bronwyn Davies und Rom Harré (1990: 48): »Positioning […] is the discursive process whereby selves are located in conversations as observably and subjectively coherent participants in jointly produced story lines. There can be interactive positioning in which what one person says positions another. And there can be reflexive positioning in which one positions oneself«. Auch Lucius-Hoene und Deppermann stellen den Aspekt der Interaktion heraus: »Positionierung bezeichnet zunächst ganz allgemein die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen auf einander bezogen als Personen her- und darstellen, welche Attribute, Rollen, Eigenschaften und Motive sie mit ihren Handlungen in Anspruch nehmen und zuschreiben« (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 167).

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Tagebuch

beitung einer narrativen Identität in autobiographischen Erzählungen« (LuciusHoene/Deppermann 2004: 168). Sie verstehen sie insofern als eine Meta-Perspektive auf erzählerische Darstellungen, die für die Analysearbeit Erkenntnis leitend und als heuristische Suchhaltung eingesetzt wird. Sie macht sich erzähl- wie konversationsanalytische Konzepte nutzbar, um zu einem empirisch fundierten Konzept der narrativen Identität zu gelangen (ebd.).

Wir setzen voraus, dass diese Praxis im Sinn der Selbstpositionierung nicht zwangsläufig des mündlichen interaktiven biografischen Erzählens bedarf, sondern auch im Modus der monologischen Schriftlichkeit, des schriftlichen autobiografischen Erzählens, etwa in Tagebüchern oder in Biogrammen, realisiert und beschrieben werden kann. Übertragen auf den nicht-interaktiven und schriftlichen Modus des Tagebuch-Schreibens ist Positionierung dann die aus einer Selbstreflexion hervorgehende Selbstbestimmung eines Individuums. Sie resultiert in diesem Fall also nicht aus einem interaktiven Aushandeln, und ist also nicht das Interaktionsergebnis zwischen Selbst- und Fremdpositionierung. Selbstreflexiv und nichtinteraktiv hervorgerufene Positionierung stellt also gleichsam monoperspektivisch die sprachliche Manifestation der Selbstsicht eines Individuums dar. Damit drückt sie den Anspruch bzw. die Behauptung einer Haltung aus, die, vor sich selbst vertreten, aber u. U. ebenso wie in der Interaktion gerechtfertigt, überdacht und angepasst werden muss. Insbesondere unter den Bedingungen der ›Hermetik‹ der nationalsozialistischen ›Volksgemeinschaft‹ sind Emittenten beständig damit konfrontiert und dazu aufgefordert, sich zu positionieren und – auch gegenüber sich selbst – Rechenschaft abzulegen. In Tagebüchern, die (zumeist) keine (künftigen) Leser antizipieren, dient die Positionierung im Sinn von Selbstpositionierung der Vergewisserung einer bzw. dieser (Wunsch-)Identität (vgl. zum Positionierungszwang im Nationalsozialismus Steuwer 2017).8 Im andern Fall der antizipierten Leser*innen sind Selbstpositionierungen kommunikative Akte mit dem Ziel, die Urheber*innen in der produzentenseitig gewünschten Weise zu sehen. Im Fall Goebbels ist diese Funktion überdeutlich. Insbesondere in seinem Tagebuch zeigt sich, dass das Erzählen von Selbsterlebtem […] sowohl Selbstdarstellung als auch interaktionell mitbestimmte und emergente Selbstherstellung [ist], mit dem das aktuell erzählende

8 Tagebuchschreiben ist aus Sicht Steuwers deshalb eine der NS-Zeit entsprechende Kommunikationsform, weil »Tagebücher […] nicht nur einen Ausweichort für möglicherweise gefährliche Überlegungen [bildeten]. Die eigene Positionsbestimmung war 1933 neben der Auseinandersetzung mit der Politik des neuen Regimes auch etwas Persönliches, erforderte ebenso Reflexionen über das eigene Leben, frühere politische Ansichten und weitere Entwicklungsaussichten und warf Fragen auf, deren Erörterung traditionell einen Gegenstand des Tagebuchschreibens gebildet hatte.« (Steuwer 2017, 88)

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Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz

Ich »Identitätsarbeit in Aktion« betreibt und für sich selbst einen bestimmten Geltungsrahmen und soziale Konsequenzen beansprucht (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 168).9

Eng verbunden sind Strategien der narrativ vertexteten Identitätskonstitution als Praktik der Selbstpositionierung mit Vertextungsstrategien, innerhalb derer das Tagebuch schreibende Ich sich selbst im Rahmen eines Textganzen einzubetten versucht. In dieser Hinsicht ist von einer Verschränkung komplexerer Handlungsmuster im Rahmen der regelmäßigen Konstituierung des Tagebuch schreibenden Ichs unmittelbar auszugehen.

3.2

Vertextungsmuster

Tagebücher kennzeichnende Vertextungsmuster sind die der deskriptiv-narrativen und der explikativen Themenentfaltung, die dazu dienen sollen, Welten und Gegenwelten zu beschreiben und zu erläutern, Handeln,10 Denken und Wollen (zu unterschiedlichen Zwecken) darzulegen oder (seitens des Widerstands, der Ausgeschlossenen und Dissidenten) die Gegen- bzw. Eigenlogik zu den Wirklichkeits- oder Sachverhaltsdarstellungen der Nationalsozialisten zu erklären. 3.2.1 Narration und Deskription Eine typische Tagebucherzählung ist etwa die Beschreibung eines Ausflugs, wie in Kellners Tagebuch-Eintrag vom 24. Juni 1940: Ich habe die Fahrt nach Ffm [Frankfurt] unternommen, um einmal Gewißheit zu erhalten über die Gerüchte »Bombenangriffe«. Nur im »Rebstock« [Straße] habe ich einige beschädigte Häuser gesehen. Eine Frau aus dieser Gegend erzählte mir, daß (es) bei einem Angriff 4 Tote in den Wohnhäusern u. 7 Tote auf dem nahegelegenen Bahnkörper beim Abräumen von Bomben durch die technische Nothilfe gegeben habe. Die Bevöl9 So argumentieren auch Michael Bamberg et al. (2011: 178), die Diskurs und Identität zusammenführen: »[W]e suggest to study identity as constructed in discourse, as negotiated among speaking subjects in social contexts, and as emerging in the form of subjectivity and a sense of self. Our suggestion implies a shift away from viewing the person as self-contained, having identity, and generating his/her individuality and character as a personal identity project toward focusing instead on the processes in which identity is done or made – as constructed in discursive activities. This process or active engagement in the construction of identity, as we will show, takes place and is continuously practiced in everyday, mundane situations, where it is open to be observed and studied.« 10 Ohne damit die Perspektive ausschließen zu wollen, Texte selbst als Formen sozialen Handelns (auch im Sinne von Textkommunikation – vgl. dazu Hausendorf et al. 2017) wahrzunehmen.

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Tagebuch

kerung ist fast jede Nacht in den Luftschutzkellern. Im Börsenkeller erhielten (wir) zum Mittagstisch Salat (80 Rpf). Es war gerade fleischfreier Tag. Die Wirtschaften haben an einem Tag der Woche ganz geschlossen. Das Leben in den Läden ist mit früher nicht zu vergleichen. In verschiedenen Geschäften frug ich vergeblich nach Sandalen. Bei der elektr. Straßenbahn sind viele Frauen als Schaffnerinnen zu sehen. In den SchumannGaststätten wurde uns auf Befragen gesagt, daß es erst ab 18 Uhr Essen gäbe. Wir nahmen mit einigen Brezeln vorlieb und fuhren gern wieder in den Vogelsberg. Das Stadtleben ist wenig reizend. Unsere »Stadtflucht« war doch eine kluge Angelegenheit (Kellner 24. 06. 1940).

Kellner nennt das Ziel des Ausflugs (Frankfurt), als Motiv sein Misstrauen (Gewißheit, Gerüchte) und die Bestätigung seines Misstrauens (Nur im »Rebstock«), berichtet von der Erzählung einer Gesprächspartnerin und weitere Eindrücke aus dem kriegsbedingt eingeschränkten Alltagsleben in der Großstadt, beendet schließlich mit einer Bewertung (wenig reizend, kluge Angelegenheit) den Eintrag. Ein anderes Beispiel stammt aus dem Tagebuch des Diaristen Fritz Selbmann. Er erzählt von einem Besuch, im Rahmen dessen er sich nach dem Stand eines ihn betreffenden Verfahrens erkundigt: Anläßlich eines Besuches habe ich den Landgerichtsrat Dr. L. zufällig zu Gesicht bekommen. Ich habe ihn gefragt, wie das nun eigentlich mit meinem Verfahren ist. Man hört und sieht nichts mehr davon. Ob vielleicht meine Akten verloren gegangen sind? Er sagt, meine Sache kommt jetzt dran. In etwa vierzehn Tagen soll meine Vernehmung zu Ende geführt werden. Ich glaube nicht mehr recht daran (TB S 4. 4. 1934).

Kennzeichnend ist die Wiedergabe von Dialogen in direkter oder indirekter Rede, ein Moment raumzeitlicher Situierung (vgl. Habscheid 2009: 52), eine prozessuale Repräsentation der Ereignisse (vgl. Brinker 2010: 62) und ein zusammenfassendes Resümee »vom Erzählzeitpunkt (Gegenwartszeitpunkt) aus« (ebd.). Die raumzeitliche Situierung ist z. T. indirekt durch den ersten Satz abgedeckt, der sowohl Zeitpunkt (Bombenangriff im Sinn einer Zeitangabe bzw. Anläßlich eines Besuches), Ort (Frankfurt bzw. das Gefängnis, in dem Selbmann zu diesem Zeitpunkt gefangen gehalten wird) als auch beteiligte Personen (ich/ eine Frau/wir/Landgerichtsrat Dr. L.) angibt. In den darauffolgenden Sätzen werden die für die Textproduzenten zentralen Ereignisse chronologisch und mit Formen der Redewiedergabe vertextet. Die Passagen enden mit einem resümierenden Fazit (Unsere Stadtflucht war doch eine kluge Angelegenheit bzw. Ich glaube nicht mehr recht daran), das zugleich das Ende der Narration markiert. 3.2.2 Explikation Ein Beispiel für einen explikativen Einschub stammt aus dem Tagebuch des jüdischen Akteurs Oskar Rosenfeld:

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Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz

Humor. »Man stiehlt nicht, man nimmt«. Das heißt, infolge Korruption bekommen einzelne von ihren Protektoren, müssen also nicht stehlen (TB R 12. 4. 1943).

Zu Beginn wird das zu erklärende Explanandum eingeführt: ein im Getto Litzmannstadt kursierender Spruch, der eine Form der »Gesetzmäßigkeit« (Habscheid 2009: 49) markiert. Dieser erscheint hinsichtlich der situativen Bedingungen, unter denen das ›Stehlen‹ von Gegenständen nicht als Diebstahl wahrzunehmen ist, erklärungsbedürftig. Die kausal-logische Verknüpfung Das heißt macht dies deutlich und stellt zugleich den Übergang vom Explanandum zum Explanans her, in dem deutlich wird, dass die Akteure, die über Protektion verfügen und vom korrupten Machtsystem innerhalb des Gettos profitieren, tatsächlich nicht heimlich stehlen müssen, sondern sich benötigte Dinge offen nehmen können, da sie durch das Protektionssystem der Getto-Funktionselite geschützt sind. Die spezifische Situation im Getto Litzmannstadt wird so in ihrer Eigenlogik dargestellt bzw. erfährt durch den Textproduzenten eine Explikation aufgrund der dem Welt- und Normverständnis widersprechenden Umstände, unter denen es erst zu dieser Form (der Auslegung) kommen kann. Das explikative Muster ist eine Vertextungsform nicht nur der Widerständler, der Dissidenten und der Ausgeschlossenen, die aufgrund ihrer diskursiven Akteursposition – dem Nationalsozialismus gegenüber oppositionell – die momentane Welt und ihre Position in dieser erklären (müssen oder wollen). Explikative Elemente finden sich auch bei NS-Akteuren, etwa in dem Eintrag Goebbels’ vom 1. Juli 1934, in dem er die Morde an Röhm und hoher SAFunktionäre darstellt: Freitag: Anruf von Essen, sofort nach Godesberg. Also geht es los. […] Es muß gehandelt werden. Führer kommt um 4 h. Er ist sehr ernst. Gibt mir gleich ausführlich Bericht: Samstag handelt er. Gegen Röhm und seine Rebellen. Mit Blut. Sollen wissen, daß Auflehnung Kopf kostet. Ich stimme zu. Wenn schon, dann rücksichtslos. Beweise, daß Röhm mit François Poncet, Schleicher und Straßer konspirierte. Also Aktion! […] Telephon von Berlin: die Rebellen rüsten. Also keine Zeit verlieren. Magda mit Kindern von Cladow nach Berlin dirigiert. Polizeischutz. […] Dann ab nach Wiessee. Chronologie: Wiessee Verhaftung. Führung sehr tapfer. Chef glänzend. Heines jämmerlich. Mit einem Lustknaben. Röhm behält Haltung. Alles reibungslos. Zurück nach München. […] Alarmnachrichten. Aber alles ruhig. […] Aus Berlin: Straßer tot, Schleicher tot, Bose tot, Clausener tot. München 7 S.A. Führer erschossen. Darunter Ernst, der in Berlin fällt. Strafgericht. Zurück nach Berlin. Führer ganz groß gewesen. Riesenempfang. Alles in Begeisterung. […] Sonntagmorgen: alles in Ordnung. Volk ruhig und viel Begeisterung. Hitler hat an Ansehen kolossal gewonnen. Wir haben der Pest den Kopf abgetreten. Alpdruck fällt von uns ab. Auslandspresse verhältnismäßig gut. Die Krise ist überstanden. Heute abend rede ich im Rundfunk (Goebbels, 1. 7. 1934).

Goebbels’ syntaktisch elliptisch fragmentierter Stakkato-Bericht besteht aus kurzen und kürzesten, zumeist unvollständigen Sätzen, die eine dichte Abfolge

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Tagebuch

aufeinander bezogener Ereignisse mitteilen, durchsetzt von legitimierenden, positionierend-werthaltigen Einschüben (Es muß gehandelt werden, fabelhafter Eindruck, Führer ganz groß gewesen, der Pest den Kopf abgetreten), die durch konsekutive Fragmente (Also geht es los, Also Aktion, Also keine Zeit verlieren) plausibilisiert werden. Mit Status- bzw. Positionierungsmarkierungen (Führer sehr ernst, gibt mir ausführlich Bericht, ich stimme zu, rücksichtslos, Magda nach Berlin dirigiert etc. vs. Röhm und seine Rebellen, Heines jämmerlich, Lustknabe etc.) werden Akteursrollen konstituiert, durch all-Aussagen (alles reibungslos, alles ruhig, alles in Begeisterung) und eine Behauptung (Beweise, daß …) wird das Geschehen legitimiert. Insofern Goebbels sein Tagebuch zur Veröffentlichung vorgesehen hat, kann vorausgesetzt werden, dass ein Eintrag wie dieser, der ein auch aus NS-Perspektive strafwürdiges Handeln schildert, per se explikative Funktion hat, realisiert durch diverse einzelne Funktionselemente.

3.3

Schreibanlass – Diaristik als Authentifizierungspraxis

Tagebuch-Schreiben geht zurück auf ein Motiv, das die Diarist*innen entweder explizit benennen oder das aus den Inhalten der Tagebucheinträge ableitbar ist. Die Thematisierung von Schreibanlässen ist zwar nicht obligatorisch, kann aber zu den evidenten Strukturelementen gezählt werden, die die Textsorte kennzeichnen. Auf den Schreibanlass wird zumeist zu Beginn, ja oft im ersten Satz, referiert, aber auch, ereignis- bzw. erlebnisbedingt, im weiteren Verlauf. Wir unterscheiden im Folgenden drei Referenzvarianten, in denen auf Schreibanlässe Bezug genommen wird: ereignis- und erlebnisbetont, überlieferungsbetont und selbstdarstellungsbetont, die wir alltagssemantisch definieren. Alle drei Anlasstypen bezeichnen Authentizitätsansprüche, die die Diarist*innen jeweils realisieren. Insofern wir sagen können, dass Diaristik ein komplexes Gefüge von Authentifizierungsakten darstellt, verstehen sich die Urheber*innen als authentische, also die Echtheit und Wahrheit des Behaupteten beanspruchende und herstellende Beglaubigungsinstanzen, deren Beglaubigungsstrategien aus den genannten drei Anlasstypen bestehen.11 Die in den Tagebüchern 11 Siehe diesbezüglich auch den Beitrag ›Wahr-Sagen im Widerstand‹ in Teil 1. Vgl. zu Authentizität als historiografischen Beschreibungsterminus Saupe (2015), als linguistisch adaptierbare Kategorie vgl. Kämper (2021c); außerdem Felder (2015: 233), der mit seinen Überlegungen an der Vorstellung von Authentizität ansetzt als »ein spezifisches und komplexes Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer hinsichtlich der Qualität von Zuschreibungen in Bezug auf Sprecher-Intentionen und Wort-Welt-Relationen (Referenzfixierungsakten zur Sachverhaltskonstitution.« Authentizität verortet Ekkehard Felder demnach in der interaktiven Kommunikationssituation. In dieser Situation werden einzelne Authentifizierungsakte bestätigt, ihnen wird widersprochen, es werden ihnen alternative Authentifizierungsakte

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1933 bis 1945 fixierten Einträge sind akteursbedingt je spezifische Subjektivierungen von Ereignissen, Erfahrungen etc. in der Zeit des NS-Regimes als Rahmung von Geschichte und Politik sowie (Schreib-)Bedingungen setzende Instanz. Unter der Voraussetzung, dass Authentizität ein Aushandlungsergebnis ist, also ein Einigungsprodukt, das im Zuge kommunikativer Akte (insbesondere von Behauptungsakten) erreicht wird, müssen wir auf der Ebene der sprachlichen Realisierung jeweils von Authentifizierungsversuchen sprechen, die die einzelnen Teilnehmer*innen unternehmen. Tagebucheinträge indessen sind diesem Aushandlungsprozess entzogen. In diesem Sinn sind sie diaristische Authentifizierungsakte. 3.3.1 Ereignis- und erlebnisbetonter Schreibanlass Als Ereignis verstehen wir ein besonderes Vorkommnis oder einen besonderen Sachverhalt, der sich von bekannten, geschehenen oder wiederholten Vorkommnissen oder Sachverhalten (auch im Sinn von Zuständen) unterscheidet.12 Ein Ereignis muss dabei nicht notwendigerweise i.S.v. Augenzeugenschaft (vgl. die Etymologie von Ereignis) erfahren werden, wohl aber als dem Wissensbestand der Diarist*innen als geschehenes Ereignis zugehörig beschrieben werden können. Eine emotionale Beziehung zum ereignisbetonten Anlass ist dabei nicht konstitutiv, im Gegensatz zum erlebnisbetonten Anlass. Dahingehend bezieht sich das Erlebnis unmittelbarer auf eine direkte persönliche Erfahrung.13 Emotionalität ist somit ein obligatorischer Faktor von Erlebnisberichten. Beide Anlässe lassen sich indes kaum voneinander trennen: Ein in einen Tagebucheintrag gefasstes Ereignis hat – mehr oder weniger – zumeist auch Erlebnischarakter. Die Explizitheit der ereignisbetonten Bezugnahmen allerdings variiert. Die Widerständler Hassell und Kaiser stellen keine expliziten Bezüge, etwa zu dem Motiv ihrer Diaristik her, sondern gehen direkt, referierend auf spezifische Ereignisse, in medias res: entgegengesetzt. Unter dieser Voraussetzung sind Tagebucheinträge, also Texte außerhalb interaktiver Prozesse, ein Komplex diverser Authentifizierungsakte. 12 Ein Ereignis ist nach der Bedeutungserklärung des Duden ein »besonderer, nicht alltäglicher Vorgang, Vorfall; Geschehnis« (https://www.duden.de/rechtschreibung/Ereignis; Zugriff: 2. 6. 2020). 13 Ein Erlebnis ist ein »von jemandem als in einer bestimmten Weise beeindruckend erlebtes Geschehen« (https://www.duden.de/rechtschreibung/Erlebnis; Zugriff: 2. 6. 2020). Erlebnis ist ein von den Nationalsozialisten beförderter Erfahrensmodus, der im Zusammenhang mit Tagebuchschreiben eine relevante Funktion hatte. So gehört es zu den »Grundannahmen des NS-Erziehungsprojektes […], nach denen Erziehung nicht durch bewusste Aneignung, sondern durch unbewusstes Erleben geschehe. Ausgehend von der Idee einer letztlich unbegrenzten Erziehbarkeit des Einzelnen mittels gezielt gestalteter Erlebnisse, bildeten Tagebücher eine gute literarische Form, um Lesern durch die subjektive und zeitlich unmittelbare Perspektive das Erleben konkreter Personen nahezubringen.« (Steuwer 2017, 239).

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Internationale Gewitterstimmung. Innen wachsende Depression unter dem Druck der Parteiherrschaft und der Kriegsfurcht. Heydrich in Nürnberg wieder in voller Pracht. Reden Hitlers alle demagogisch mit scharfen Angriffen gegen die gesamte Oberschicht gesalzen, so auch die Schlußrede beim Parteitag, die in wildem Polterton vorgetragen wurde (TB H 17. 9. 1938). Über Nacht »v Sumpf zur frostigen Festigkeit«. Draußen scharfer Frost. Überall glatt gefroren. Mit Alma, R v I. u Frau im Schwarzen Bock zu Mittag, Zur Gratulation bei Peters. Unerquicklich die Jüngste. Pessimismus (TB K 1. 1. 1941).

Ebenso setzt das Tagebuch Selbmanns, ohne expliziten Verweis, mit seiner Inhaftierung ein, die er im Stil einer Filmsequenz vergegenwärtigt. Ich werde in den Gefängniswagen verladen und ins Untersuchungsgefängnis eingeliefert. Es ist mir wieder alles abgenommen worden. Die Zelle ist etwas freundlicher als im Polizeigefängnis. Alles sauberer. Die Bettwäsche rein. Vom Zellenfenster ist die obere Hälfte durchsichtig, so daß man ein Stückchen vom Himmel sieht. Habe auch einen Löffel und tagsüber ein Messer in der Zelle. Wie lange ich nun wohl diese Zelle 99 bewohnen werde? (TB S 6. 6. 1933).

Solche auf irgendeine Form von selbstreflektierender Einleitung verzichtende Anfangs-Eintragungen lassen auf eine Kontinuität des Tagebuch-Führens schließen.14 Müller-Hill dagegen gibt explizit an, was ihn zum Schreiben eines Tagebuches veranlasst hat: Wenn ich am Tage nach meinem 59. Geburtstag […] mit Aufzeichnungen tagebuchartigen Charakters beginne, so hat diesen Entschluss ein Buch ausgelöst, das ich gestern geschenkt erhalten habe. Es ist der »Napoleon« von Bouhler, ein Buch, das bei der ungeheuren Ähnlichkeit – nicht was Format und menschliche Qualitäten anbelangt – eines von einem Dämon Besessenen mit einem großen Vorgänger der Machtpolitik dem Letzteren eine Gerechtigkeit angedeihen lässt, die sich schwer mit der engstirnigen mesquinen Unduldsamkeit des Nationalsozialismus verträgt (TB MH 28. 3. 1944).

Die Einstiegssequenz markiert deutlich, dass der Autor aus der Notwendigkeit der Reflexion handelte. Diese wird motiviert durch eine Napoleon-Biografie des Kanzleichefs Hitlers, Philipp Bouhler, die er geschenkt bekam. Es ist der Vergleich der beiden Personen, deren Differenz Müller-Hill mit der Entgegensetzung 14 Allerdings kann bei Hassell ein indirektes situatives Moment geltend gemacht werden, das ihn zum Schreiben veranlasst hat, starten seine Aufzeichnungen doch während einer entscheidenden Zeit der Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges, dessen Näherkommen für einen Diplomaten wie Hassell sicherlich ein entscheidendes Moment des Neupositionierens bedeuten musste. Diese Interpretation wird durch die nachträglichen Aufzeichnungen Fabian von Schlabrendorffs bestätigt, der darauf verweist, dass ihm Hassell erzählte, »wie er noch 1939 durch seine Freundschaft mit Sir Nevile Henderson versucht habe, den Kriegsausbruch zu verhindern« (Schlabrendorff 1994: 53). Von daher kann dem zeitlichen Beginn des Tagebuch-Führens durchaus Signifikanz zugesprochen werden.

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von einem Dämon Besessenen und großen Vorgänger der Machtpolitik markiert. Die aus Müller-Hills Sicht skandalöse Parallelisierung dieser beiden Personen durch Bouhler ist es, die als Schreibanlass im engeren Sinn gelten kann. Ein weiteres, auch den Autor selbst positionierendes Werturteil lautet engstirnige mesquine Unduldsamkeit des Nationalsozialismus. Die Ausgeschlossene Hertha Nathorff beginnt Tagebuch zu schreiben, weil der Nationalsozialismus am 30. Januar 1933 Realität geworden ist und weil sie weiß, dass diese Zäsur auch ihr Leben grundlegend verändern wird. Ihr erster Eintrag am Tag der ›Machtübergabe‹ teilt ihre Beobachtung der Reaktionen ihrer Umgebung mit und sie positioniert sich metaphorisch mit ihren eigenen Reflexionen: Hitler Reichskanzler. Alle Leute sind erfüllt davon, meine Patienten reden von nichts anderem. Viele sind erfüllt von Freude, viele machen besorgte Gesichter. Einig sind sich alle in den Worten: »Nun wird es anders«. Ich aber, feinhörig wie ich bin, ich höre, wie sie an ihn glauben, glauben wollen, bereit, ihm zu dienen und mir ist, als hörte ich ein Blatt der Weltgeschichte umwenden, ein Blatt in einem Buche, dessen folgende Seiten mit wüstem und wirrem, unheilvollem Gekritzel beschrieben sein werden (Nathorff 30. 1. 1933).

Sie thematisiert und motiviert ihr Tagebuch-Schreiben dann ereignisbetont explizit in der Reichspogromnacht. Nathorff ist angetrieben von ihrer Zeitzeugenschaft einer Gegebenheit, die sie als erstmalig und unerhört wahrnimmt, um das Unglaubliche und Unvorstellbare glaubhaft und vorstellbar zu machen und damit zu authentifizieren. Ich will versuchen, die Ereignisse des heutigen Tages niederzuschreiben mit zitternder Hand, Ereignisse, die sich mit Flammenschrift in mein Herz eingegraben haben. Ich will sie niederschreiben für mein Kind, damit es später einmal lesen soll, wie man uns zu Grunde gerichtet hat. Ich will alles so schreiben, wie ich es erlebt habe, in dieser Mitternachtsstunde, in der ich einsam und zitternd am Schreibtisch sitze, qualvoll stöhnend wie ein verwundetes Tier, ich will schreiben, um nicht laut hinauszuschreien in die Stille der Nacht (Nathorff 10. 11. 1938).

Die NS-affine Lore Walb, die bereits als junges Mädchen mit stilistischem Anspruch schreibt und der während ihres Germanistik-Studiums das gute und wohlformulierte Schreiben lesbar ein hoher Wert ist, notiert als Erstes am 23. Mai 1933, einen Tag nach ihrem 14. Geburtstag: Heute, am 23. Mai 1933, will ich nun dieses Tagebuch einweihen. Tagebuch kann man eigentlich nicht sagen, denn ich werde es nicht jeden Tag benutzen. Ich habe doch sicher nicht an jedem Tage etwas Wichtiges oder Interessantes zu verzeichnen. Ich will nur das, was nur besonders schön, wichtig oder auch seltsam erscheint, aufschreiben (Walb 23. 5. 1933).

Mit offensichtlicher Textsortenkompetenz entwirft sie ein individuelles, das Eintragenswerte restriktiv eingrenzendes Schreibprogramm. Sechs Jahre später

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justiert Lore Walb ihre so bestimmte diaristische Tätigkeit, indem sie politische Ereignisse und privates Leben einander gegenüberstellt, beide gleichermaßen als tagebuchwürdig qualifiziert. Neben den politischen Ereignissen gehen ja auch die Geschehnisse im privaten Leben weiter. Und mein Tagebuch soll ja alles enthalten, was mich bewegt. Ich muß also nun auch einmal von dem Vielen schreiben, was mich ganz persönlich angeht (Walb 16. 11. 1939).

Entsprechend erzählt sie textsortengemäß viel Privates: Schule, Freundinnen, Ausflüge, Familie, Ferien sind die zentralen und routiniert wiederkehrenden Themen. Daneben berichtet sie vom Zeitgeschehen: Hitler-Auftritte, Wahlen, etc. Ab dem 1. September 1939 nimmt dann der Krieg und sein Verlauf viel Raum ein – bis etwa Mitte 1943 mit der Position, die die NS-Propaganda vorgibt. Rosenfeld beginnt mit dem Schreiben seines Tagebuchs ab der Deportation aus Prag und der damit verbundenen Gettoisierung im Getto Litzmannstadt. Der Beginn ist nicht durch auf das Schreiben referierende Bezugnahmen gekennzeichnet, sondern stellt eine Selbstermahnung, eine tröstende und stärkende Vergegenwärtigung dar, indem Rosenfeld sich auf die Autorität eines Arztes stützt, um den Schrecken des Geschehens zu mildern: Was der Arzt sagt: Es hat keinen Sinn, sich Stimmungen hinzugeben, die das Gemüt bedrücken. Heiterkeit des Gemüts ist soviel wert wie Gesundheit und Gesundheit ist das wichtigste. Wir müssen die Nerven beisammen halten, alles vermeiden, was den Organismus schwächen könnte. Denn wir haben nur eine Aufgabe: die Krise zu überdauern und zu leben. Leben müssen wir und den Augenblick erleben, an dem wir sagen können: es hat sich gelohnt, die Mühen und Leiden zu ertragen … (TB R 17. 2. 1942).

Er argumentiert dabei auch religiös. Die Pflicht zu leben gehört zu den Grundüberzeugungen frommer Juden: Das Leben ist ein Geschenk Gottes und die Achtung und Verehrung Gottes gebietet es, sorgsam mit diesem Geschenk umzugehen. 3.3.2 Überlieferungsbetonter Schreibanlass Überlieferungsbetonte Anlässe drücken den Selbstanspruch der Diarist*innen als Authentifizierungsinstanzen aus. Sie schreiben mit der Absicht und dem Ziel, Geschichte zu überliefern. Friedrich Kellner, als Dissident, den der Nationalsozialismus zum Diarium gebracht hat, expliziert den Schreibanlass in großer Häufigkeit, nicht zuletzt mit der Absicht zu überliefern, um eine spätere Hagiographie zu verhindern. Gleich die ersten Sätze, geschrieben am 26. September 1938, sind ein entsprechender Sinngebungsakt in explizitester Form:

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Der Sinn meiner Niederschrift ist der, augenblickliche Stimmungsbilder aus meiner Umgebung festzuhalten, damit eine spätere Zeit nicht in die Versuchung kommt, ein »großes Geschehen« daraus zu konstruieren, ((eine »heroische Zeit« od. dergl.)) […] (Wer die zeitgenössische Gesellschaft, die Seelen der »guten Deutschen« kennenlernen möchte, der lese meine Aufzeichnungen) (Kellner, 26. 9. 1938).

Für den NS-Akteur Rosenberg erfüllte das Tagebuch-Schreiben vor allem die Funktion als »Erinnerungsposten für spätere Zeiten […] und häufig auch als Frustrationsventil« (Matthäus/Bajohr 2015: 19). Dies wird durch Rosenberg auch so angemerkt.15 Auch hier haben wir es also mit dem Motiv der ›Überlieferung‹ bzw. ›Authentifizierung‹ zu tun. Auch hier geht es um die Fixierung von Geschichte – stark betont sind die persönlichen Gründe der eigenen Erinnerung. Gleichzeitig aber verweist Rosenberg bereits zu Beginn seiner Aufzeichnungen sowohl auf sein fehlendes Verhältnis zur Textsorte als auch auf die Gründe, die ihn dennoch zum Verfassen veranlasst haben: Ich habe die 15 Jahre über kein Tagebuch geführt; dadurch ist vieles heute geschichtlich gewordene in Vergessenheit geraten. Jetzt stehen wir mitten drin in einer neuen Entwicklung, die für die Zukunft entscheidend sein wird, und an der ich mich namentlich in zwei Fragen mitbeteiligt fühle. Das ist: das Ringen um England und die Durchsetzung unserer Weltanschauung gegen alle Gegner. Dabei wird bei aktuellen Betrachtungen vieles aus dem Jahr 1933 nachzutragen sein (TB AR 14. 5. 1934).

Abgesehen davon, dass Tagebuch-Schreiben zu einer der, von dem 1881 Geborenen seit 1919 ausgeübten, Kulturpraktiken zählt, verweist der ausgeschlossene Victor Klemperer während der NS-Zeit in großer Explizitheit und mit hoher Frequenz auf seine Motive des Tagebuch-Schreibens und die daraus sich ergebenden Funktionen seines Tagebuchs. Dabei passt er diese Funktionalisierung den Stadien seines Status und damit der zunehmenden Radikalisierung der diktatorischen Exklusionsmaßnahmen an. Während er zunächst noch meint, sich der Zeitgeschichte entziehen zu können16, setzt sich bald die Selbstsicht des Chronisten durch, die Klemperer dann nach neun Jahren kategorisiert: Und ich möchte auch gar zu gern der Kulturgeschichtsschreiber der gegenwärtigen Katastrophe werden. Beobachten bis zum letzten, notieren, ohne zu fragen, ob die Ausnutzung der Notizen noch einmal glückt (Klemperer 17. 1. 1942).

15 So mag einiges hier vermerkt werden, damit ich es im Lichte späterer Zeiten mit Zustimmung oder mit Verwunderung als Niederschlag in entscheidenden Tagen deutscher Geschichte lesen kann (TB AR 24. 9. 1939); Aber zur Erinnerung für spätere Zeiten will ich einiges nachtragen (TB AR 12. 10. 1940). 16 Seit etwa drei Wochen die Depression des reaktionären Regimentes. Ich schreibe hier nicht Zeitgeschichte. Aber meine Erbitterung, stärker, als ich mir zugetraut hätte, sie noch empfinden zu können, will ich doch vermerken (Klemperer 21. 2. 1933).

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Als ihm das Regime die Ausübung seines Berufs als Romanistikprofessor versagt, wird das Tagebuch ab diesem Zeitpunkt nicht zuletzt zu einem Vorbereitungsbzw. Archivierungsmedium für die LTI: Auch die Studie über die Sprache des 3. Reiches bewegt mich immer mehr. Literarisch auszubauen, etwa »Mein Kampf« lesen, wo dann die (teilweise) Herkunft aus der Kriegssprache deutlich werden muß. Auf die Kriegssprache (»Arbeitsschlacht«) weist Eva hin (Klemperer 27. 7. 1934).

Klemperers Anspruch ist dabei das überlieferungsorientierte Fixieren seiner Erfahrungen und insbesondere die von ihm so genannte Vox populi zu erfassen. Er ist dahingehend (wie auch Kellner) als Chronist generell an »Volkes Stimme« als authentischer Instanz, die die tatsächliche Stimmung in der Bevölkerung widergibt, interessiert. Für ihn als Ausgeschlossenem hat sie indes einen zusätzlichen Wert, nämlich zu erfahren und zu fixieren, welche Haltung(en) zum NS-Regime bestand(en), um daraus für sich eine Zukunftsperspektive abzuleiten: Vox populi: Ich sage zum Händler Kuske, man müsse ihn ja wählen, und wenn auch nicht, wer zähle die Stimmen? Er: »Man kann weiß abgeben, und wenn sie es auch nicht an die Öffentlichkeit bringen, so sehen sie es doch.« – Jedenfalls: Das Atom einer Hoffnung taucht doch aus dem Zusammenbruch, es ist nicht mehr endgiltig [!] alles aus (Klemperer 4. 8. 1934).17

Hinzu kommt in diesem Zusammenhang schließlich ein zentrales zugleich ethisches wie epistemisches Moment, das als Kennzeichen der Tagebücher von Ausgeschlossenen zu gelten hat, nämlich das eigene Leiden und (Über- als Er-) Leben sprachlich-textuell erfassen und so als tatsächlich geschehen tradieren zu können – mit dem Authentizitätseffekt des Mitleidens: Viele Schrecknisse gerieten in Vergessenheit. Viele Schrecknisse (Schandtaten) hatten keine Zeugen. Viele Schrecken waren derart, daß ihre Darstellung keinen Glauben fand. Aber sie sollen in der Erinnerung leben bleiben (TB R 20. 5. 1942).

3.3.3 Selbstdarstellungsbetontes Schreiben Während die Praxis der Selbstpositionierung bei der überlieferungsbetonten Diaristik die geringste Rolle spielt, ist sie konstitutiv für die selbstdarstellende. Das selbstdarstellungsbetonte Tagebuch dient dem Schreiber dazu, sich sowie sein Handeln, Denken und Wollen herauszustellen, seine Person als bedeutenden Akteur sprachlich zu inszenieren und zur Wirkung zu bringen. Im Sinn einer

17 Zu den Tagebüchern von Victor Klemperer vgl. Kämper (1996) und Kämper (2000).

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authentizitätsorientierten Perspektive haben wir es ggf. mit Authentizitätsfiktionen zu tun.18 Wenn es sich um historische Personen handelt, sind ihre Tagebücher zugleich zeithistorische Archive, was nicht bedeutet, sie als ereignisgeschichtliche Zeugen, sondern im Sinn einer Wahrnehmungsgeschichte als Authentifizierungsakte der von ihren Urhebern geschaffenen Realität zu bewerten. Diese Sinngebung ist im Fall des Diaristen Goebbels, der seine Tagebücher zu veröffentlichen gedachte, zu spezifizieren.19 So ist der Eintrag Goebbels’ zur Machtübergabe am 30. Januar 1933 ein Dokument der Emotionalisierung (Wie ein Märchen, uns stehen Tränen in den Augen) und Herablassung (der Alte, ganz gerührt, so ists recht) eines von der Zeitgeschichte Überwältigten, der das Ereignis ›Machtübergabe‹ zudem als von hoher Zustimmung und emotional getragenem Ausdruck des Volkswillens (unten randaliert das Volk, sein Volk jubelt ihm zu) vermittelt, immer auf positive Selbstreferenz bedacht, etwa als Lenker (So wünsch ich ihn mir), als Günstling (Zu mir sehr gütig) etc.: 31. Januar 1933. (Di.) Es ist so weit […]. Hitler ist Reichskanzler. Wie ein Märchen! Gestern mittag Kaiserhof: wir warten alle. Endlich kommt er. Ergebnis: Er Reichskanzler, Frick Reichs-, Göring preuß. Innen. Der Alte hat nachgegeben. Er war zum Schluß ganz gerührt. So ist’s recht. Jetzt müssen wir ihn ganz gewinnen. Uns allen stehen die Tränen in den Augen. Wir drücken Hitler die Hand. Er hat’s verdient. Großer Jubel. Unten randaliert das Volk […]. Hitler phantastisch. Ganz groß. So wünsch ich ihn mir. Zu mir sehr gütig. Er geht zur ersten Kabinettssitzung. Mit Auwi und Hanfst. zu Magda. Sie platzt fast vor Jubel. […] Die Fackeln kommen. Um 7 h beginnt’s. Endlos. Bis 10 h am Kaiserhof. Dann Reichskanzlei. Bis nach 12 h. Unendlich. Eine Million Menschen unterwegs. Der Alte nimmt den Vorbeimarsch ab. Im Nebenhaus Hitler. Aufbruch! Spontane Explosion des Volkes. Unbeschreiblich. Immer neue Massen. Hitler ist weg. Sein Volk jubelt ihm zu. Ich spreche im Rundfunk über alle deutschen Sender. »Wir sind maßlos glücklich.« […]. Heil auf Hindenburg und Hitler. Sinnloser Taumel der Begeisterung. Mit Hitler überlegt. Heute soll Reichstag aufgelöst werden. Morgen Proklamation an das Volk. Da werden wir schon aufpolieren. Noch nach Potsdam zu Auwi. Alles im Rausch. Um 3 h nach Hause […]. Nun aber Schluß! […] Ins Bett. Tot hingefallen. Ich kann nicht mehr (Goebbels 31. 1. 1933).

18 Vgl. Pirker et al. (2010), Hattendorf (1999: 66). 19 »Goebbels’ Tagebuch stand nicht im Gegensatz zu seinen politischen Ansichten und Funktionen, vielmehr sprach der Reichspropagandaminister ihm – ähnlich wie Rosenberg in seinen Aufzeichnungen – eine explizit politische Bedeutung zu. Mit seinem politischen Erfolg betrachtete er es zunehmend als seine Aufgabe, im Tagebuch die Ereignisse des Aufstieges, der Durchsetzung und Herrschaft des Nationalsozialismus und seinen persönlichen Anteil daran zu dokumentieren und für die Nachwelt zu bewahren; ein Bestreben, das auch in seinen Anstrengungen Ausdruck fand, die Tagebücher im Weltkrieg vor der Zerstörung zu schützen.« (Steuwer 2017, 229f.).

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Die Diaristik Goebbels’ ist prototypisch für selbstdarstellendes TagebuchSchreiben. Seit 1923 schreibt er Tagebuch20, hat nahezu täglich produziert, stets eloquent und mehr oder weniger ausführlich. Nachgewiesenermaßen ist Tagebuch-Schreiben für ihn seit seinem Eintritt in die Politik keine intim-persönliche Praxis (mehr), sondern als Beitrag zur Geschichtsschreibung gedacht, mit dem Diaristen selbst als souverän agierende, Hitler bis zur Selbstaufgabe ergebene, von ihm hoch geschätzte und politisches Handeln entscheidend bestimmende Zentralfigur der NS-Herrschaft (vgl. dazu auch Longerich 2010: 697). Dies zeigt z. B. ein Eintrag, in dem Goebbels sich als Hitlers Ratgeber zeichnet: Führer möchte gerne in Spanien eingreifen. Aber Situation noch nicht reif. Vielleicht kommt das noch. Erst Olympiade glücklich zu Ende führen (Goebbels 12. 8. 1936).

Sein Tagebuch ist ein Ego-Dokument im doppelten Sinn des Wortes: Er schreibt es um seiner selbst und um der Überlieferung des Geschichtsbildes, das die Nachwelt von Joseph Goebbels haben sollte, willen. Als Beispiel für eine Autobiographisierung des NS-Regimes ist in diesem Fall der Diarist selbst, dessen Autorität Beweisfunktion haben sollte, im Zuge der Authentifizierungsakte das behauptete Objekt. Den NS-Akteuren geht es um die Herausstellung der Bedeutsamkeit des ›Dritten Reiches‹ und ihrer selbst im Gefüge dieses Machtapparats – dies wird auch an den Aufzeichnungen Rosenbergs unmittelbar deutlich: Der heutige Tag wird für immer in der d. Geschichte bedeutsam bleiben (TB AR 10. 5. 1940). Der 16. Juli 1941 wird wohl als entscheidender Tag in die Geschichte eingehen (TB AR 20. 7. 1941).

Er führte sein Tagebuch zumeist in Form rudimentärer Aufzeichnungen (vgl. Matthäus/Bajohr 2015: 19), vertextet diese konsequent in deskriptiver bzw. vor allem narrativer Form (vgl. die vielzählige Verwendung von Zeit-21 und Ortslexik22) und nutzt die Einträge insbesondere zur Herausstellung seiner Rollen, die er in20 Der erste Eintrag lautet: Gestern schenkte mir Else dieses Buch, und so will ich es gleich mit ihrem Namen anfangen. Was könnte ich auch heute beginnen ohne sie (TB AR 17. 10. 1923). 21 Gestern sprach ich vor 9400 S.A. Führern der Gruppe Südwest in Stuttgart (TB AR 27. 4. 1936); Gestern u. heute war ich beim Führer zu Mittag u. halte über diese Dinge Vortrag (TB AR 30. 10. 1936); Vor ein paar Tagen kam zu Mittag b. Führer die Rede auf die kirchenpolitische Lage (TB AR 19. 1. 1940); Vorgestern brachte d. Moskauer Sender (TB AR 20. 11. 1942). 22 Sprach in der verg. Woche in Ludwigshafen, Münster, Hannover. Besuchte Saarbrücken, die Spicherner Höhlen, die zerschossenen Dörfer im Niemandsland (TB AR 11. 4. 1940); Ich war also in Nürnberg (A. Hitler-Platz), München (Zirkus Krone), Augsburg (Rathaus-Platz), Dresden (Zwinger), Posen, Stuttgart, Düsseldorf, Münster, Köln […], Hagen/Dortmund, Luxemburg, Trier, Weimar, Frankfurt usw. (TB AR 27. 7. 1943).

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nehatte. Selbstdarstellende bis hin zu selbstverklärende Passagen nehmen einen großen Raum ein und zeigen die stilisierende Identitätsarbeit des Akteurs an: Immer wieder fasst mich die Wut, wenn ich mir überlege, was dieses jüdische Parasitenvolk Deutschland angetan hat. Hier ist Instinkt und Plan gemeinsam seit vielen Jahrzehnten am Werk gewesen. Jedenfalls habe ich aber eine Befriedigung: hier das meine zur Aufdeckung dieses Verrats beigetragen zu haben (TB AR 23. 8. 1936, Hervorhebung im Original).

Auf der Grundlage der Auswertung von elf Tagebüchern unterschiedlicher Akteursprovenienz lassen sich hinsichtlich der ereignis- und erlebnis-, der überlieferungs- und selbstdarstellungsbetonten Anlässe keine generalisierbaren Aussagen treffen. Zu gering ist ihre Anzahl, als dass sich mehr aus den Befunden ableiten ließe als eine plausibilisierte Tendenz. Hinzu kommt: Keiner der drei ist notwendig der alleinige Anlass, insbesondere Ereignis und Erlebnis sowie Überlieferung sind – als Anlässe – oft kaum voneinander zu trennen, wiewohl die sprachliche Ausführung jeweils eindeutig ist. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nur der letztgenannte der drei Schreibanlässe von der Akteursrolle der Diarist*innen geprägt zu sein scheint.

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Tagebuchstil

Die Textsorte Tagebuch als formal offenes Ego-Dokument zeichnet sich durch seine individualisierte, variantenreiche stilistische Ausgestaltung aus. Bisherige Schreibpraxen, -routinen und -erfahrungen determinieren dieses individuelle Schreiben ebenso wie die stilistischen Textgestaltungsmittel und produktionsbezogenen Aspekte. Zu diesen zählen: Zeit haben (für diese durchaus komplexe Praxis des regelmäßigen Tagebuch-Schreibens), Kraft haben (physisch wie psychisch) und Erfahrung haben (um Berichtenswertes mitteilen zu können). Dass Textsortenroutinen großen Einfluss auf den Stil des Tagebuch-Schreibens hatten, zeigt sich etwa bei den NS-Akteuren, wobei z. B. zwischen der hohen Produktivität Goebbels’ und der Schwerfälligkeit (vgl. Matthäus/Bajohr 2015: 19) Rosenbergs unterschieden werden kann, der »oft wochen- oder monatelang keine Tagebuchzeile zu Papier« (ebd.) brachte. Auf makrostilistischer (vgl. Sowinski 1999: 92) Ebene ist z. B. der Aspekt der Komplexität der Satzstruktur zu nennen, der zwischen den Polen des »StakkatoStil[s]« (Sandig 2006: 174) – der sich durch »aneinander gereihte kurze syntaktische Einheiten [auszeichnet], [die] teils durch Komma, teils durch Punkt abgetrennt [sind]« (ebd.) – und des elaborierten, syntaktisch komplex(er) ausgestalteten Stils schwankt. Gründe für die Wahl einer bestimmten Stilvariante

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werden z. T. in den Tagebüchern selbst gegeben, wenn z. B. der NS-Akteur Rosenberg darauf verweist, dass er zum Führen der Aufzeichnungen nur wenig Zeit findet.23 Sein fragmentarisierter, Abkürzungen in großem Maße inkorporierender Stil erklärt sich aus diesem Umstand.24 Am sich wandelnden und wechselnden diaristischen Stil Goebbels’ ist zudem zu einem gewissen Grad die Geschichte der NSDAP und des persönlichen Aufstiegs und Niedergangs Goebbels’ ablesbar. Der wechselnde Stil hat seine Ursache in dem Tradierungswert, den er den jeweiligen Ereignissen und Erlebnissen zuweist: Um sich als überlastete und fleißige Führungsperson des Nationalsozialismus zu positionieren, seinen von Arbeit überbürdeten Alltag sowie die Vielfalt und die Geschwindigkeit der zu bewältigenden Aufgaben zu dokumentieren, wählt er den Stakkato-Stil, der es ihm erlaubt, gleichsam Zeitidentität zwischen Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Erfassung herzustellen.25 Diese Wirklichkeit lässt die Darstellung in der Form einer ausgeführten, elaborierten Narration nicht zu, sondern verlangt Ellipse und Alltagsjargon. Stilistisch ganz anders werden Berichte zu von Goebbels als bedeutend qualifizierten Ereignissen ausgeführt: Stakkato-Stil wechselt hier mit narrativen ausführlichen und syntaktisch komplexen Passagen ab. Exemplarisch kann auf den Eintrag zum »Tag von Potsdam« am 22. März 1933 verwiesen werden.26 Auch bei den widerständischen Akteuren finden sich Beispiele für syntaktisch variierende Stile. Der Diplomat Hassell ebenso wie der Heeresrichter Müller-Hill und der kommunistische Parteifunktionär Selbmann vertexten ihre Einträge z. T. komplex hypotaktisch:

23 In diesen Monaten ist es mir nicht möglich gewesen, ein genaues Tagebuch zu führen, so notwendig dies für mich selbst u. für die Beurteilung der späteren Ost-Politik auch gewesen wäre (TB AR 28. 12. 1941). 24 Spohr: nochmals über Hochschulfragen i. Ostland. Draeger u. Klein: Späterer Einsatz i. Kaukasus (TB AR 28. 12. 1941). 25 Siehe zu diesem Aspekt auch den Beitrag ›Arbeit‹ in Teil 2. 26 Fahrt nach Potsdam. Durch jubelnde Menschenmassen. Potsdam ein einziger Trubel. Von der Nikolai- zur Garnisonkirche werden wir fast erdrückt. Hindenburg kommt mit Hitler. Der alte Herr fast wie ein steinernes Denkmal. Er verliest seine Botschaft. Knapp, herrisch. Dann redet Hitler. Seine beste Rede. Am Schluß ist alles erschüttert. Mir kommen die Tränen. So wird Geschichte gemacht. Als der alte Herr an den Sarg des großen Friedrich tritt, donnern die Kanonen. Draußen klingen die Trompeten. Reichswehr, S.A. und Stahlhelm marschiert. Der alte Herr steht und grüßt. Am Ende ein einziger Rausch. Ich grüße Mackensen. Die große, vergangene Zeit. Bei Auwi zu Mittag. Dann Berlin. Mit Hockdruck gearbeitet (Goebbels 23. 3. 1933). Nachdem Goebbels die Fahrt nach Potsdam und seine Wahrnehmungen in dem bekannten Stakkato-Stil erfasst, stellt er den eigentlichen Festakt (Hindenburg kommt bis Die große vergangene Zeit) in (nahezu) vollständigen und das beschriebene Szenario filmisch-dokumentierend und emotionalisiert narrativ dar. Ab Bei Auwi herrscht dann wieder Stakkato-Stil vor.

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Meine Arbeit vollzieht sich noch stark im Nebel, weil die Verhältnisse im Südosten gänzlich labil sind, vor allem wegen der Auseinandersetzung Rumänien-Ungarn, dann wegen des russischen Drucks, und endlich wegen der inneren Unsicherheit in Jugoslawien (besonders der Kroaten wegen) (TB H 10. 8. 1940). Ich war noch einmal in Freiburg, sicherlich zum letzten Male für lange Zeit, denn es können in allernächster Zeit Angriffe auf die Bahnhöfe Straßburg, Appenweier, Offenburg (wegen Einmündung der Schwarzwaldbahn) und Freiburg (zur Unterbrechung des Verkehrs von der Höllentalbahn), der Hauptstrecke nach Mülheim, Neuenburg oder Freiburg – Colmar erfolgen, die einem glatt die Rückfahrt nach Straßburg unmöglich machen (TB MH 3. 9. 1944). Und wenn dies nicht geschieht, müßte der »Übermensch« um seiner selbst und um seines Übermenschentums willen in die Wüste gehen und von Heuschrecken und wildem Honig leben, wenn er nicht sofort wieder zum Menschen degenerieren will (TB S 25. 3. 1943).

In den Tagebüchern des Hauptmanns Kaiser sowie des ausgeschlossenen jüdischen Journalisten und Novellisten Rosenfeld finden sich dagegen meist syntaktisch verknappte, abkürzende bis unvollständige Vertextungen: Sonne Frost. Sehr ernste Stimmung. 13:20 bei Schwimmer. Operation B. sehr schwierig, hat 2 ½ St gedauert. 1 große Darmgeschwulst entfernt. Das Befinden sehr ernst (TB K 8. 3. 1943). Stürme – Nordwest – nicht kalt. Fürchterliche Schmerzen in Rippenmuskel. Entweder Vitaminose oder Neuralgie. Vorläufig kein Mittel (TB R 2. 3. 1943).

Auch in diesen Fällen liegt die Erklärung in den Produktionsbedingungen begründet: Während Kaiser wahrscheinlich aus pragmatischen Gründen (z. B. der Zeitersparnis) diese verkürzenden Satzstrukturen favorisierte, indizieren die syntaktisch immer unvollständiger werdenden Aufzeichnungen Rosenfelds (vgl. Riecke 2010: 1031) den physischen wie psychischen Druck, unter dem er während der Jahre des Gettos stand und dessen menschenunwürdige Lebensbedingungen dazu führten, dass die wenige noch vorhandene Kraft nur noch unvollständig dazu aufgebracht werden konnte, komplexe Vertextungen zu realisieren. Stattdessen kommt es zu einer Form der »Sprachzertrümmerung« (vgl. Riecke 2006: 87) sowohl aufgrund des Zerbrechens moralischer Sinndimensionen unter den extremen Getto-Bedingungen als auch des eigenen physischen wie psychischen Zerbrechens. Die Unterschiede hinsichtlich des syntaktischen Stils schon bei einem Autor, erst recht bei dem Gesamt der hier untersuchten Autoren lässt vor allem Rückschlüsse zum einen auf die situativen Bedingungen zu, unter denen die Einträge formuliert wurden, zum andern auch auf die Bedeutung, die der mitgeteilte Sachverhalt für den Autor hat. So finden sich z. B. bei Kaiser auch komplexere Satzstrukturen, die darauf hinweisen können, dass der vertextete Sachverhalt von

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größerem Interesse für den Textproduzenten war oder einen besonderen Eindruck auf diesen gemacht hat: Ludwig erzählt v. unerquicklicher Arbeit im Amt u Zunahme der Sittlichkeits Verbrechen im Heer. Vergewaltigung v Frauen u Fälle § 175. Ein bes. schlimmer Fall in Pleskau, wo 1 Soldat 1 18j Mädchen verfolgte, die herbeieilende Mutter, die um Gnade flehend in die Knie gesunken war, niederschoß, und darauf das Mädchen durch 1 Schlag ins Auge niederschlug u dann vergewaltigte (TB K 26. 8. 1941).

Auch auf mikrostilistischer Ebene finden sich Charakteristika, die in Verbindung mit der individuellen Art der Vertextung stehen, die wiederum ihrerseits von den momentanen situativen Bedingungen abhängt. Wie eben gesehen, verwendet Kaiser z. B. Zahlen statt Wörter zur Angabe von Mengen. Der NS-Akteur Rosenberg gebraucht seinem fragmentarisierten Stil entsprechend eine Vielzahl von Abkürzungen.27 Ebenso lassen sich bei Rosenberg vorgenommene Korrekturen ausmachen und indizieren u. U. die wenig vorhandenen Routinen des TagebuchSchreibens, insbesondere im Vergleich mit den Tagebüchern der widerständischen Akteure, bei denen sich solche Korrekturbewegungen ungleich seltener finden: Es hatte sich seit war vor einiger Zeit erwiesen, worden, dass er jüdisches Blut hatte; er war deshalb wurde zurückgesetzt worden (TB AR 21. 8. 1936). Rudolf Hess ist ein alter treuer Kämpfer Mitarbeiter des Führers, sicher bereit, sich für diesen in jeder Hinsicht zu opfern (TB AR 22. 8. 1939).

Schließlich sind, auf typographisch-stilistischer Ebene, zahlreiche emphatische Unterstreichungen auffällig, die zu dem inszenierten Gestus Rosenbergs passen und die Funktionalität seiner Aufzeichnungen indizieren: Eine geradezu dumme Tat Churchills (TB AR 19. 2. 1940). Betonung der gesetzlichen Grundlage, die durch m. Verordnung vor einem Jahr bereits gegeben worden war (TB AR 12. 10. 1942).

Der produktions- wie rezeptionsbezogene Kontext des Tagebuch-Schreibens der Widerstandsakteure und der Ausgeschlossenen nimmt ebenfalls spezifischen Einfluss auf die stilistische Textgestaltung: Diaristen beider Akteursgruppen mussten um die Entdeckung ihrer Tagebücher fürchten, die gegen sie verwendet werden konnten. Dies war z. B. bei den Tagebuchaufzeichnungen Kaisers der Fall, die »nach dem 20. Juli den Ermittlungsbehörden in die Hände gefallen [sind] und […] als Beweisstücke in den Prozessen gegen die Angehörigen des Widerstandes vor dem Volksgerichtshof verwendet [wurden]« (Kroener 2010: 9–10). Victor

27 Grosser Erfolg der beiden ersten Empfangsabende des APA. für das Dipl. Korps: Ruhn u. Göring (TB AR 26. 12. 1934).

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Klemperer thematisiert von Beginn an kontinuierlich, zuerst am 17. März 1933 (Eigentlich ist es furchtbar leichtsinnig, dies alles in mein Tagebuch zu schreiben), seine Sorge vor Entdeckung. Um dieser Gefahr vorzubeugen, verwendeten Kaiser und Rosenfeld Decknamen oder auch Codewörter, um bestimmte Akteure zu schützen, aber auch spezifisch zu perspektivieren (vgl. auch Kämper 2012b: 231): M. lobte Fröhlich gegenüber Sch.. Er sei klug, aktiv, zuverlässig u treu. Er werde die Sache Ungar jetzt in Ordnung bringen. Sei bei S. gewesen. Schw. hatte auch mit S. gesprochen. Ich glaube M. […] macht einen Fehler. Er sieht alles viel zu leicht u. schätzt das D Volk zu hoch ein (TB K 14. 5. 1943).28 16/I. 41 Do. 1700 bei Hüth bis 2000. In allem einig. Über Pollux […] (TB K 16. 1. 1941).29

Rosenfeld (vgl. Radziszewska 2011: 205) nominiert die nationalsozialistischen Machthaber hingegen stets mit dem hebräischen Ausdruck Aschkenes und konzeptualisiert somit die entsprechenden Akteure aus seiner (spezifisch jüdischen) Perspektive. In Maryshin Kontrolle. Aschkenes angeblich durch Straßen gehend auf Menschengruppen schießend. Bei uns noch zweite Kontrolle erwartet. Fürchterlicher Schreck (TB R 11. 9. 1942). Aschkenes in Uniform mit Nilpferdpeitsche unterm Arm, Zigarette im Mund, neben dem Wagen (TB R 12. 3. 1944).

Aschkenes für Aschkenas ist seit dem Mittelalter der hebräische Name für Deutschland. Und auch die Tarnnamen im Tagebuch Kaisers sind natürlich mit hoher Bedeutung versehen. Pollux (als Tarnname für Hitler) ist der unsterbliche Halbgott, mit dem Rossebändiger Kastor (als Tarnname für Goebbels) bilden beide das unzertrennliche Zwillingspaar. Die Furcht vor Entdeckung der Tagebücher ist an den Tagebüchern von Kaiser und Rosenfeld weiter zu differenzieren: Denn während z. B. Kaiser Tarn- und Decknamen verwendete, um Personen vor der Enttarnung zu schützen und somit nur ›negative‹ Formen der gewaltsamen Rezeption antizipiert hat, finden sich Hinweise in den Aufzeichnungen Rosenfelds, anhand derer erkennbar wird, dass dieser auch mit nachträglicher Rezeption seiner Texte durch z. B. Historiker durchaus gerechnet hat: Darum verzeihe mir künftiger Leser, der Anspruch auf das Original hat, wenn er von mir nur den Abklang der Worte Ewigkeit erhält; wenn ich ihn mit einem Durcheinander von Tatsachen und Gedanken verwirre. Ich vermag mich nicht der Feinheiten seiner Führung zu erinnern. Denn mein Gedächtnis ist schwach geworden. Ich selbst bin von der verbreitetsten Gettokrankheit ergriffen worden: Verblassen des Gedächtnisses (TB R 1942).

28 M steht dabei für Goerdeler, Schw. für Olbricht und Ungar für Dohnanyi. 29 Mit dem Decknamen Pollux verwies Kaiser auf Hitler (und mit Kastor auf Goebbels).

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Diese Form der Verschleierung und Perspektivierung seitens des Widerstands und der Ausgeschlossenen lässt sich als absichtsvolles Moment diskursiver Verortung bzw. Markierung von Subjektpositionen interpretieren. »Wenn das Subjekt durch die Anrede ins Sein kommt« (Butler 2006: 54), kann eine dezidiert andersdiskursive Perspektivierung auch zu einer Form der (diskursiven) Entmachtung führen. Allerdings ist diese Strategie noch um ein machtbezogenes Element zu ergänzen, denn die Textproduzenten, die sich ihrer machtdiskursiven Position relativ sicher sind bzw. eine solche einnehmen, sind von dieser Strategie der Codierung eher auszuschließen.

5

Tagebuch-Spezifika 1933 bis 1945

Ergänzend zu den generalisierenden und tendenziell akteursrollenneutralen strukturellen und stilistischen Kennzeichen werden im Folgenden induktiv erschlossene, individuell-situative und damit zugleich akteursrollenabhängige Momente der Textproduktion als relevant bezüglich der Textgestalt beschrieben. Diese Spezifika sind weder exhaustiv noch kategorial abgegrenzt angelegt, sondern perspektivieren individuelle Zugänge auf die untersuchten Tagebücher. Dabei beziehen wir uns, im Sinn einer sprachlichen Sozialgeschichte, auf die Diaristik der Ausgeschlossenen, Affinen, Dissidenten und Widerständler. Insofern erhalten wir Aufschluss über die individuell-sprachliche Gestalt des Tagebuchs 1933 bis 1945 im Sinn der spezifischen Diaristiken dieser Zeit, die außerhalb des NS-Apparates standen.30 Die nachstehende Darstellung der Tagebuch-Spezifika der untersuchten Akteure setzt mithin voraus, dass die jeweiligen Akteursrollen relevant sind, wenn die Autor*innen ihre subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen in der NS-Zeit diaristisch reflektieren und sich selbst im Zuge dieser Reflexionen positionieren.

5.1

Ausgeschlossene: Leiden dokumentieren

Auf kaum einer anderen Textgrundlage lässt sich eine schriftlich überlieferte sprachliche Sozialgeschichte so nachdrücklich rekonstruieren und interpretieren wie auf der des Tagebuchs. Das Tagebuch insbesondere der Ausgeschlossenen ist insofern ein kommunikationsgeschichtliches Archiv, da die Angehörigen dieser Akteursgruppe, trotz Restriktionen, eine Art Alltag aufrecht zu erhalten bemüht 30 Dass wir jedoch mit diesen Befunden keine generalisierenden typologischen Aussagen machen können und wollen, versteht sich aufgrund der sehr exemplarisch und restriktiv ausgewählten Datenbasis von selbst.

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waren, insbesondere hinsichtlich Sozialkontakten, die bereits vor dem 30. Januar 1933 bestanden haben oder die nach dem 30. Januar 1933 aufgrund eines geteilten Schicksals neu entstanden sind.31 Kennzeichnend sind die Fixierungen bzw. Kodierungen von Verunsicherung: Niemand weiß genau, was erlaubt ist, überall fühlt man sich bedroht. Jedes Tier ist freier und rechtlich gesicherter (Klemperer 6. 7. 1940).

Die Tagebücher lassen an den grotesken Alltagsabsurditäten durch diesen entsprechende semantisch inkompatible Kollokatoren (arisches Gemüse) teilhaben: Wir brachten Seliksohns […] Spargel mit, 175 Gramm. Eva trug sie, denn es ist rein arisches Gemüse und brächte einen jüdischen Träger auf die Gestapo und ins Gefängnis (Klemperer 18. 5. 1942).

Die Willkürhandlungen des »Maßnahmenstaats« (Ernst Fraenkel), die situative Volatilität und der ungewisse Kriegsverlauf sind Anlässe, Textelemente der Antizipation, Vermutung und Zukunftsreflexion zu verwenden. Sie haben den gesellschaftlichen Ausschluss zur Voraussetzung. Bereits im Oktober 1933 drückt Klemperer diese Unsicherheit aus: Ich arbeite, ich mache Geldausgaben, als ob ich meiner Zukunft sicher wäre. […] Ich will dies Als-ob-Handeln fortsetzen, alles andere wäre noch sinnloser (Klemperer 30. 10. 1933).

Ungewissheitsformulierungen setzen sich fort, Gefühls- und Verzweiflungsausdruck nehmen zu: Der Morgen ist so furchtbar. Alles stürmt auf einmal ein. Werde ich heute verprügelt und angespuckt werden? »Bestellt«?, verhaftet? Verhaftet bedeutet jetzt sicheren Tod. […] Zur unmittelbaren Wäschenot – nun ist es auch warm geworden – tritt die Angst vor der Haussuchung. Die Leute nehmen alles zum Anlaß ihrer Repressalien (Klemperer 25. 6. 1942).

Entgegensetzungen, die Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit ausdrücken, sind ebenso kennzeichnend: Ich bin nur noch anfallweise bedrückt, lasse die Dinge im übrigen laufen und habe stundenweise ein ganz vergnügtes Lebensgefühl. Also jetzt wird unser Garten üppig. Wer wird um das Angst haben, was in vier Jahren geschieht? (Klemperer 28. 6. 1937).

Typisch für diese Zukunftsreflexionen ist der Gebrauch der UngewissheitsPartikel vielleicht: 31 In Kämper (2000) ist skizziert, dass die situativ bestimmten sprachlichen Praktiken der kommunikativen Verunsicherung, antisemitischer Kommunikation und Emigrantenkommunikation kommunikationsgeschichtliche Spezifika sind, die sich aus den Tagebüchern Klemperers herausarbeiten lassen.

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Welchen Zweck hat es in dieser Zeit, an nächstes Jahr zu denken? Vielleicht bin ich dann ermordet, vielleicht wieder im Amt, vielleicht ist die Versicherung wieder durch Inflation zerstört wie schon einmal, vielleicht – ich will leichtsinnig sein, ich will es ganz bewußt sein (Klemperer 31. 12. 1935). Vielleicht verrecken wir beizeiten, vielleicht verrecken die andern, vielleicht findet sich irgendwo ein Ausweg, wie er sich schon ein paarmal gefunden hat (Klemperer 28. 6. 1937). Vielleicht will man nur die Möbel, vielleicht mein Leben. Ich habe mich bisher erfolgreich bemüht, die Haltung zu bewahren. Ich habe über die Angst der Kreatur hinweggearbeitet. […] Vielleicht ist dies meine letzte Eintragung, vielleicht ist alles verloren, was ich in diesen Jahren gearbeitet habe (Klemperer 1. 8. 1943).

Der Gebrauch von entweder-oder-Konstruktionen kodiert die Haltung zu einer Realität, die als binär wahrgenommen wird, die keine Differenzierung erlaubt, weil ein Drittes ausgeschlossen ist: Von zwei Dingen eines: entweder Hitler schließt in acht Tagen siegreich Frieden – dann gehen wir zugrunde. Oder der Krieg fängt jetzt erst an und dauert lange – dann gehen wir auch zugrunde (Klemperer 20. 9. 1939). Ich sage mir immer wieder: Entweder ich überlebe den Krieg, dann brauche ich nicht fort; oder ich überlebe ihn nicht, dann brauche ich auch nicht fort, und während des Krieges kann ich nicht heraus (Klemperer 14. 10. 1940). Eins muß im Laufe der nächsten Monate geschehen: Entweder Hitler geht zugrunde, oder wir gehen zugrunde. Jedenfalls ist das Ende nahe (Klemperer 24. 3. 1942).

Die Dialektik der Haltungen und Einstellungen von Ausgeschlossenen zum Kriegsverlauf wird sichtbar. Während des Krieges ist dessen Verlauf emotionsstimulierend – in dialektischer Weise: Regengüsse, Gewitter, Sturm, neuer Regen, Kühle – wir haben dickere Bettdecken eingezogen – alles, was jüdisch ist, sagt: »Wenn das Wetter nur noch ein paar Wochen so anhält…« (Klemperer 24. 7. 1942). Und Stalingrad fällt eben, und im Oktober gibt es mehr Brot: Also kann sich die Regierung über den Winter halten; also hat sie Zeit zur gänzlichen Vernichtung der Juden. Ich bin tief deprimiert (Klemperer 19. 9. 1942).

Der Konjunktiv ist der bevorzugte grammatische Modus: Sollte Eva die Möglichkeit haben, durch Scheidung Polen oder den Baracken zu entgehen, so müßte sie unbedingt Scheidung wählen, die als erpreßt nachher anzufechten wäre. Denn 1) könnte sie auf solche Weise wahrscheinlich einige Vermögenswerte erhalten, 2) mir sofort nach erlebter Wendung zu Hilfe kommen – während sie mitgefangen gar nicht helfen könnte, und 3) mag ich keine Witwenverbrennung. Wenn ich in Polen oder auf einem »Fluchtversuch« erschossen werde, soll sie sich meiner Manuskripte annehmen und zur Freude einiger Katzen weiterleben (Klemperer 21. 11. 1942).

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Dies sind einige wenige sprachliche Markierungen, die den Erlebens- und Reflexionshorizont von Ausgeschlossenen, am Beispiel von Tagebucheinträgen Victor Klemperers, in den Jahren 1933 bis 1945 dokumentieren. Einträge wie diese machen deutlich: Die Berichte, die die Ausgeschlossenen über ihren Status als Ausgeschlossene geben und die die sich stetig verschärfenden Exklusionsakte vergegenwärtigen, sind, indem sie Exklusion, Emotion und Leiden dokumentieren, ihre Gefühlsgeschichten.32 Es ist eine Schmach, die jeden Tag schlimmer wird. Und alles ist still und duckt sich, am tiefsten die Judenheit und ihre demokratische Presse (Klemperer 21. 2. 1933).

So lautet der erste Eintrag Klemperers, in dem er Ende Februar 1933 zum ersten Mal seit dem 30. Januar 1933 Bezug auf das NS-Regime nimmt. Die Wahrnehmung einer persönlichen Ausschließung wird hier noch nicht ausgedrückt, eher wohl (mit Schmach, die jeden Tag schlimmer wird) allgemeinere Beobachtungen von NS-Terror. Einträge wie diese sind kennzeichnend für die ersten Monate. Der in der Gesellschaft verbreitete und praktizierte Antisemitismus, die antisemitisch-diskriminierenden Exklusionsphasen manifestieren sich in den Einträgen synchron im Sinn von Emotionsphasen. Während anfänglich Bedrückung das emotionsbezeichnende Leitwort war33, sich das Gefühlspotenzial der Gefährdungslage in der Drastik des antizipierten Sachverhalts ausdrückt34 bzw. gleichsam mit der Darstellung einer situativ potenziell wirksam werdenden Restriktion ausbricht35, während Phasen der emotionalen Leere die sprachliche Emotionsgeschichte ebenfalls prägen (stumpf 36, fatalistisch37 sind die Namen

32 Siehe zur sprachlichen Gefühlsgeschichte NS-Affiner den Beitrag »Gefühle äußern« sowie zur Exklusion als Impuls zu Identitätsreflexionen den Beitrag »Exklusion und ihre Erfahrung« in Teil 1. 33 [Die Regierung] droht […] offen, gegen die deutschen Juden vorzugehen, wenn die Hetze der »Weltjuden« nicht aufhöre. Inzwischen im Innern kein Blutvergießen, aber Bedrückung, Bedrückung, Bedrückung. Niemand atmet mehr frei, kein freies Wort, weder gedruckt noch gesprochen (Klemperer 27. 3. 1933). 34 Die Judenhetze ist so maßlos geworden […] wir rechnen damit, hier nächstens totgeschlagen zu werden (Klemperer 11. 8. 1935). 35 Heute ist der »Tag der deutschen Solidarität«. Ausgehverbot für Juden von zwölf bis zwanzig. Wie ich eben um halb zwölf zum Briefkasten und zum Krämer ging, wo ich warten mußte, hatte ich richtige Herzbeklemmungen. Ich ertrage es nicht mehr (Klemperer 3. 12. 1938). 36 Eva ist mit ihren Nerven völlig zu Ende. Der politische Abscheu und die unheilvolle Wirkung auf unsern Kredit gehen bei ihr zusammen. Kein Morgen ohne heftigstes Weinen, kein Tag ohne Nervenzusammenbruch. Ich bin schon fast stumpf vor all diesem Unglück. Ich rechne nicht mehr über den Tag hinaus (Klemperer 25. 4. 1933). 37 [I]ch glaube nicht, daß ich das Ende des dritten Reiches erlebe, und ich lasse mich doch ohne sonderliche Verzweiflung fatalistisch treiben und kann die Hoffnung nicht aufgehen (Klemperer 16. 5. 1935).

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dieser Befindlichkeiten), bezeichnen Haß und Ekel38 hilflose Handlungsunfähigkeit der Ausgeschlossenen. Über Gefühle schreiben bedeutet im Tagebuch von Victor Klemperer wie in denen anderer Ausgeschlossener dann ausschließlich über Angst schreiben. Angst, eines der Basisgefühle (Paul Ekman), ist das wohl im AusgeschlossenenTagebuch 1933 bis 1945 am häufigsten vorkommende Gefühlswort, dessen Gebrauch kontinuierlich und korrespondierend mit der Anwendung von Gewalt zunimmt39: Ich habe Angst, so oft es klingelt. Ich habe Angst vor neuen Patienten, ich habe Angst vor jedem Wort, ob sie mir nicht eine Falle stellen, wie so manchem Kollegen schon. Ich habe Angst, wenn ich nachts zu fremden Patienten gerufen werde, und gar erst recht, wenn mein Mann weggeht (Nathorff 19. Mai 1934).40

Seit dem Wissen um die Existenz von Konzentrationslagern und mit der Zunahme der Repressalien durch die Gestapo bezeichnet Angst ab diesem Zeitpunkt die dominante Gefühlslage.41 Angst vor Hunger, vor der Gestapo42, der Hausdurchsuchung durch die Gestapo und der Entdeckung des Tagebuchs43, vor physischer Gewalt, vor der Deportation, vor dem KZ, vor dem Tod im KZ.44 Zu der in ihren Tagebüchern fixierten Gefühlsgeschichte der Ausgeschlossenen gehören komplementär zu Angst- und Verzweiflungserzählungen aber

38 An diesem Abend hielt ich Blumenfeld eine wilde Rede über die Pflicht der inneren Bereitschaft, über die Pflicht, den Haß nicht eine Stunde entschlafen zu lassen (Klemperer 22. 10. 1933); ich glaube auch nicht, daß eine Änderung mir Hilfe bringen würde. Weder in meinen Verhältnissen noch in meinen Gefühlen. – Verachtung und Ekel und tiefstes Mißtrauen können mich Deutschland gegenüber nie mehr verlassen (Klemperer 25. 10. 1937). 39 In welchem Maß der NS und die integrierte Gesellschaft auf Gewalt, als die wesentliche Machtkonstituente, setzten, ist dargelegt u. a. in Wildt 2007 und Wildt 2019, 12–13, 29f. 40 Der gettoisierte Textproduzent Rosenfeld rekurriert auf ein positives Pflichtverständnis, aus dem heraus er (schreibend) handelt, und versieht es mit den Gefühlsmomenten einer religiös motivierten Angst. Diese wiederum kontextualisiert Rosenfeld mit dem, spezifisch jüdischen, Pflichtgebot, denn deutsch Pflicht wird hier gleichbedeutend mit hebräisch Mitzwa verwendet: Noch etwas kommt hinzu: Die Begierde, das zu Überleben als moralische Pflicht, als etwas, das dem Volk Israel auferlegt ist wegen Amalek […] Daher Hast und Angst; Angst gegen dieses Gebot zu handeln. Zu Überleben wird religiöses Gebot (TB R 16. 4. 1944: 283, Hervorhebung im Original). 41 Diese märchenhafte Gräßlichkeit unserer Existenz: Angst vor jedem Klingeln, Mißhandlungen, Schmach, Lebensgefahr, Hunger (wirklicher Hunger), immer neue Verbote, immer grausigere Versklavung, tägliches Näherrücken der Todesgefahr, täglich neue Opfer rings um uns, absolute Hilflosigkeit (Klemperer 30. 5. 1942); Tagsüber raffe ich mich, verdränge, vergesse die Angst. Morgens schüttelt sie mich. Es ist jetzt buchstäbliche Todesangst (Klemperer 31. 5. 1942). 42 Es gibt nichts Grauenhafteres als die jüdische Angst vor der Gestapo (Klemperer 15. 9. 1944). 43 Die Angst um das Tagebuch. Es kann das Leben kosten (Klemperer 16. 6. 1942). 44 In der Emotionsforschung und -geschichte ist Angst, als ein »starkes und unmittelbares, sehr körperliches Gefühl« (Hitzer 2011: 16) ein Gegenstand von herausragender Bedeutung (vgl. die detaillierte Forschungsübersicht in Hitzer 2011).

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auch solche von Freude, Hoffnung, Glücksmomenten. Im Tagebuch wird auch von ihnen Zeugnis abgelegt.45 Wie die der Desperatheit durch die staatlichen Repressionen, aber vor allem auch durch Alltagserlebnisse ausgelöst46, ist die Geschichte der positiven Gefühle nicht zuletzt ebenfalls motiviert von alltäglichen Begebenheiten, von wohltuenden Begegnungen mit wohlgesonnenen Zeitgenossen.47 Sie zu erzählen, bringt den aus dem Lot geratenen Emotionshaushalt für einen Moment ins Gleichgewicht.48 Insbesondere in Bezug auf die im Tagebuch fixierten Emotionsgeschichten der Ausgeschlossenen wird deutlich: »Emotionen müssen mitgeteilt werden, sie sind als Erfahrung individuell, aber in der Kommunikation intersubjektiv« (von Klimó/Rolf 2006: 14). Was eine noch zu schreibende Emotionsgeschichte des Nationalsozialismus betrifft: Sie muss nach Akteuren differenzieren. Die emotionale Bindung an den Nationalsozialismus und die Kommunikation dieser emotionalen Bindung der NS-Affinen war ein wesentlicher Stabilitätsfaktor der Herrschaft. Das Komplement dazu bildet die durch NS-Terror und gewalttätig praktizierten institutionalisierten und gesellschaftlichen Antisemitismus determinierte Emotionsgeschichte der Ausgeschlossenen. Denn: Die »Relevanz emotionaler Haushalte in und für diktatorische Regime« (ebd.) besteht nicht nur in der Begeisterung und dem Hass der NS-Affinen49, sondern auch in der insbesondere vom Gestapo-Terror erzeugten Angst der Ausgeschlossenen.50 Inso45 Es gibt Augenblicke, besonders des Morgens, wo ich immerfort ans Fenster laufe, ob kein Auto da ist, wo ich vor Grauen und Furcht unfähig zu allem bin; und dann kommt die Karre doch wieder in Gang, Lesen und Vorlesen macht Freude, das Essen schmeckt, der Tag gleitet, nicht einmal genußlos, zuletzt wage ich sogar eine Tagebuchseite, die das Leben kosten kann (Klemperer 16. 6. 1942). 46 Zwei Jungen, wohl zwölf und sechs, nicht proletarisch, kommen mir auf engem Bürgersteig entgegen. Der ältere schleudert den kleinen Bruder beim Passieren rangelnd gegen mich und ruft: »Jude!« – Es wird immer schwerer, all diese Schmach zu ertragen (Klemperer 14. 5. 1942). 47 Charakteristisch und tröstlich, was Kätchen heute von einem Arbeitskollegen im Werk berichtet. Er saß drei Wochen im PPD, weil er einen Brief ohne »Israel« gezeichnet hatte. Er hatte es gut. Gemeinsame Arbeit mit Ariern, gute Wächter, erträgliche Kost. Der Wächter redete ihm Mut zu, es dauere nicht mehr lange. Beim Abschied: Wenn sie dich zu sehr quälen, oder wenn du zuwenig Essen hast, »dann unterschreibst du wieder mal ohne Israel«! Bei uns sollst du’s gut haben! (Klemperer 12. 4. 1942; Hervorhebung im Original; zu kommunikativen Praktiken wie diesen siehe Kämper 2021a zu »Alltagsdissidenz«). 48 Ein gleiches sprachliches Phänomen weisen die unmittelbar nach 1945 geschriebenen KZBerichte der Ausgeschlossenen auf. Auch hier korrigieren idyllisierende Erzählelemente die Geschichte des Grauens in emotionaler Hinsicht (vgl. Kämper 2005: 23f., 199 u. ö.). 49 Es wurde der »janusköpfige[…] Charakter« des NS-Regimes beschrieben, der »Begeisterung, Hingabe und Liebe« einerseits, Hass andererseits hervorrief (von Klimó/Rolf 2006: 19). 50 Insofern ist es natürlich defizitär, die Emotionsgeschichte des Nationalsozialismus auf die Gefühle und Gefühlsäußerungen derjenigen zu beschränken, die eine affine Haltung hatten. Es genügt nicht, diejenigen zu fokussieren, die sich »die performativen Standards eines neuen emotionalen Stils«, der die Emotionspolitik des Nationalsozialismus war, angeeignet haben (von Klimó/Rolf 2006: 20). Eine Emotionsgeschichte des Nationalsozialismus besteht darüber hinaus in dem Gefühlsausdruck der Ausgeschlossenen.

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fern entspricht die Intensität der Gefühle der NS-Affinen, die sich in den Gefühlsbezeichnungen Hass und Begeisterung ausdrückt und die die Voraussetzung darstellen für Verfolgung und äußerste Gewalt, der Intensität der Gefühle der Ausgeschlossenen: »der Intensität der Verzweiflung, in der die Ausgegrenzten, die Verfolgten und zum Tode Bestimmten das Versagen und das Auslöschen jedes Gefühls erfuhren oder erfahren mussten« (Lüdtke 2006: 55).

5.2

Dissidenten: Entlarven und Werte perpetuieren

Anders als die Ausgeschlossenen waren Mitglieder der Integrierten Gesellschaft keinen umfassenden exkludierenden Restriktionen ausgesetzt. Vielleicht erklärt sich daraus, dass eine zentrale kommunikative Strategie und damit funktionsindizierend für die Textsorte ›Tagebuch‹ die des Wahr-Sagens ist, das die Tagebücher widerständischer51 und ausgeschlossener Akteure kenn- und auch auf spezifische Weise das Tagebuch des Dissidenten Friedrich Kellner auszeichnet. Beim Wahr-Sagen werden u. a. Gegenwelten konstruiert bzw. werden Zusammenhänge und Abläufe vom nationalsozialistischen Diskurs abweichend dargestellt (vgl. Kämper 2012b: 216) und in dieser Hinsicht entlarvt. Entlarvung ist eine usuelle kommunikative Praktik bestimmter gesellschaftlicher Akteure in der Diktatur und die komplementäre Entsprechung einer Täuschung oder Geheimhaltung.52 Während diese in der Diktatur die Funktion haben, einen der Herrschaft abträglichen Sachverhalt kommunikativ so zu realisieren, dass die Getäuschten das Täuschungsobjekt für wahr halten bzw. gar nicht von dem Sachverhalt erfahren, hat Entlarvung die Funktion, diese Realisierung als Täuschung oder Geheimhaltung zu qualifizieren. Die Entlarvung wird motiviert durch die Behauptung eines einem behaupteten oder geheim gehaltenen Sachverhalt widersprechenden Sachverhalts. Diese Behauptung verstehen wir als den illokutionären, die Entlarvung als den perlokutionären Aspekt des Sprechakts, der den Zweck angibt. Insofern ist die Entlarvung ein Wahr-Sagen (vgl. Falkenberg 1982 und Wunderlich 1976). Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang des entlarvenden Wahr-Sagens das Tagebuch Friedrich Kellners. Es ist geprägt von zahlreichen Entlarvungshandlungen. Sie resultieren aus der vom Autor sich selbst, sich positionierend, zugeschriebenen Ich-Identität. Mit dieser Ich-Identität motiviert Kellner sein Tagebuch-Führen: 51 s. den Beitrag ›Wahr-Sagen‹ in Teil 1. Vgl. außerdem Kämper 2012b: 216 und Markewitz 2018: 444–448. 52 Zu der kommunikativen Handlungsfolge von Täuschung und Entlarvung s. den Beitrag ›Berichten: Olympische Spiele‹ in Teil 1.

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Als Prediger in der Wüste sah ich mich veranlaßt, die Gedanken niederzulegen, die mich in der nervenzerrüttenden Zeit beherrschten, um (dann) später – sofern das noch möglich ist – meinen Nachkommen ein Bild (der wahren Wirklichkeit) zu übermitteln (Kellner August 1939).53

Den Akt des Entlarvens erfasst Kellner lichtmetaphorisch-redensartlich als ans Tageslicht zerren, den er den Geheimhaltungen der mit ihrer eigenen Kategorie Untermensch nominierten NS-Akteure gegenüberstellt: Mit gewaltiger Ueberzeugungskraft kritisiere ich jede Handlung dieser Untermenschen. Jeden Fehler, den sie der Mitwelt mit krankhaftem Eifer verschweigen wollen, zerr ich ans Tageslicht (Kellner 13. 4. 1940).

Diese Kommunikationskonstellation ist die Bedingung für die Kennzeichnung der NS-Gesellschaft: Der Glaube an Wunderdinge ist äußerst stark. Die 6jähr. nat. soz. Propaganda hat in der Tat die Hirne des deutschen Volkes vollkommen vernebelt. Unglaublich – aber leider wahr (Kellner 13. 9. 1939).

Produkt einer Entlarvung ist eine Gegenwelt: Eine solche typische Gegenwelt erzeugt Kellner durch die wertende, demoralisierende Bezeichnung einer Folge eines nationalsozialistischen Handlungsmusters (Vernichtung …, Unterdrückung …), sowie in der Kontrastierung von ironisierenden NS-typischen Bezeichnungen und Kategorien (nationalsozialistische Edelmensch, Volk, Gemeinschaftszelle, Amtsträger der Partei, Deutschland, verschworene Gemeinschaft)54 mit abfällig bewertenden Bezeichnungen der von Kellner geschaffenen 53 Im Zuge einer anderen Selbstidentifikation versieht Kellner sich mit derjenigen Nomination, mit der Nationalsozialisten alltägliche Dissidenz versehen und (mit dem »Heimtückegesetz«) kriminalisieren: In meiner Eigenschaft als Meckerer ist mir aufgefallen, daß in den Reihen der Amtsleiter u. Bonzen kein sehr großes Verlangen nach der Front im Osten festzustellen ist (Kellner 8. 2. 1943). Siehe zu Meckerer den Beitrag ›An den Rändern der Zugehörigkeit‹ in Teil 1. Eine weitere Selbstzuschreibung Kellners lautet Gegner, mit der er sich sowohl gegen die nationalsozialistischen Inhalte als auch Personen positioniert, die Zeit nach dem Nationalsozialismus antizipierend und daraus eine Bewertung der dissidenten Position ableitend: Wir (meine Frau und ich) waren die hartnäckigsten Gegner der nationalsoz. Irrlehre und der Parteigenossen. Vielleicht werden wir dafür von der Vorsehung einmal belohnt (Kellner 25. 12. 1942). Nicht einverstanden sein ist ein referenzidentisches Synonym Kellners für Gegner, auch im nachfolgenden Beleg antizipiert er die positive Bewertung dieser Position: Meine Nachkommen […] werden sich bestimmt freuen (u. stolz sein), daß es Deutsche gegeben hat, die mit einer solchen Politik, wie sie in den Jahren 1933 bis 1939 getrieben worden ist, in keinem Augenblicke einverstanden waren. Leider muß allerdings gesagt werden, daß diejenigen, die nie schwankend waren, als kleines Häuflein in der Versenkung wie Einsiedler ihr Dasein fristeten (Kellner 6. 10. 1939). 54 Um diesen Ironie-Aspekt wäre die Konzeption von Geraldine Horan zu erweitern, die »communities of practice« (in unserer Terminologie: nach Nähe zum Nationalsozialismus zu unterscheidende Akteur*innen der Integrierten Gesellschaft) beschreibt, in denen der Nationalsozialismus sprachlich mehr oder weniger präsent ist. In Bezug auf die NS-Affinen stellt

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Gegen-Wirklichkeit in der Funktion der Entlarvung (Hammel, Hammelherde, Pferch, Schäfer, Stall, Bonzen): Die Erziehungsarbeit gipfelt in einer Vernichtung jeglichen selbständigen Denkens und einer durch Terror unterstützten Unterdrückung jeder Freiheitsregung. Der nationalsozialistische Edelmensch soll eine gelb angestrichene uniformierte Attrappe in Gestalt eines Hammels sein. Die Hammelherde wird Volk genannt. Der Pferch ist die Gemeinschaftszelle. Die Schäfer sind die Amtsträger der Partei. Der große Stall heißt: Deutschland; die verschworene Gemeinschaft: Bonzen (Kellner 24. 10. 1942).55

Wenn Kellner wahr-sagend agiert, indem er auf die Bequemlichkeit von solchen Zeitgenossen Bezug nimmt, deren Bildungsniveau eigentlich tiefer gehende Reflexion erwarten lässt, liefert er mit seinen ironisierenden Kommentaren (intertextuell anspielend an einen Vers der Tamino-Arie aus der ›Zauberflöte‹) auch sozialpsychologische Einsichten. In diese Bewertung lässt Kellner den Status des Wahrheitswerts seiner Entgegensetzung (Bluff, Schwindel, gemeiner Volksbetrug) ein (als das erkennen müssen, was sie war): Zuviel Mitmenschen ließen sich von der Nat. Soz. Propaganda blenden. Der »Sonnenpolitik« erlagen Menschen, die wirklich mit etwas kritischerem Blick die auf die Leinwand gezauberte Fata Morgana [hätten] (als das erkennen müssen, was sie war: Bluff u. Schwindel, gemeiner Volksbetrug). Schon auf Grund ihres Bildungsganges. Aber nur nicht denken. Es ist ja so bezaubernd [schön] wenn der »Führer« aber auch rein alles für die denkfaule Menschheit erledigt […] »Alte Kämpfer« sind Heilige. Vom Gauleiter aufwärts gibt es nur Götter! (Kellner 7. 10. 1939).

Entlarvungspraktiken, deren Status z. B. mit der Formel bei Licht betrachtet markiert ist, sind nicht zuletzt auch sprachkritische Analysen, etwa wenn Kellner sieben weit verbreitete NS-Ideologeme als irreführende und manipulierende faule Phrasen bewertet: Bei Licht betrachtet verzapfen die Nazis nur faule Phrasen. »Volksgemeinschaft«, »Plutokratie«, »Autarkie«, »Blut u. Boden«, »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«, »Betriebsgemeinschaft«, »Arbeitskamerad« und so fort. Der Einzelne wird betört und läßt sich in vernebeltem Zustand weiter am Narrenseil herumführen und als Herdenvieh behandeln (Kellner 2. 7. 1941).

Horan fest: »[T]he ›performance‹ of a National Socialist identity is an expression of membership of a National Socialist community of practice. Each spoken or written text […] also has what I have termed a Signalfunktion [Hervorhebung im Original], in communicating adherence to National Socialist ideology and loyalty to the party or regime. Factors determining levels of performance include the eagerness to be part of the in-group, through circumstances bringing the individual into a community of practice which is either central or peripheral to the National Socialist state« (Horan 2007: 66). 55 Zu verschworene Gemeinschaft s. den Beitrag ›Gemeinschaft‹ in Teil 1.

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Es ist kennzeichnend, dass Kellner auch den Prozess seiner Entlarvungsarbeit mitteilt – er besteht aus Qualifizieren (erstmals), Zitieren (von allen Seiten) und Interpretieren (eingeschlossen). Die Behauptung des Wahrheitswerts dieser Aussage repräsentiert hier die Formulierung wird immer noch nicht verraten: Hitler wagt es nicht, dem deutschen Volke auch nur annähernd die Wahrheit zu sagen. Vor einigen Tagen war erstmals aus dem Heeresbericht zu ersehen, daß die deutsche Armee (bei Stalingrad) »von allen Seiten« angegriffen wird. Daß die deutsche Armee eingeschlossen ist, wird immer noch nicht verraten. Das ist mehr als blöde. Einmal kommt die Wahrheit doch an den Tag. Wie diese Herren um eine Galgenfrist kämpfen! (Kellner 18. 1. 1943).

Angenommene Manipulation und Propaganda sind die beiden dem nationalsozialistischen Regime zugeschriebenen sprachlichen Praktiken, die naturgemäß Motiv der Entlarvungshandlungen sind. Insbesondere Aussagen in Goebbels’ Reden sind daher Gegenstand der Korrekturen und Zurechtrückungen, die Kellner vornimmt, so hinsichtlich der Beschaffenheit des aus Claqueuren bestehenden Publikums der Sportpalastrede vom 18. Februar 194356, so in Bezug auf die Dämonisierung des von den Nazis als Bolschewismus bezeichneten Kommunismus: Mit allen Mitteln der Rhetorik malte er für den einfältigen Bürger das Gespenst des Bolschewismus an die Wand. Er benutzte damit ein uraltes Kampfmittel der Nazis. Diese Angstmacherei ist vor 1933 gegen den Kommunismus mit ausgezeichnetem Erfolg angewendet worden. Jetzt glaubt Goebbels, nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt mit seinen Argumenten betören zu können (Kellner 19. 2. 1943).57

Die anschließend imaginierten Antworten auf Fragen bestätigen seine Darstellung, stützen den Wahrheitsanspruch seiner Behauptungen und offenbaren den abwesenden Adressaten dieser Fragen als den Autor dieses inneren Monologs selbst. Wenn der Bolschewismus wirklich so gefährlich ist, warum haben die heutigen Machthaber ausgerechnet mit diesem Gegner im August 1939 einen Bündnisvertrag geschlossen u. darüber triumphiert, daß sie den Engländern ein Schnippchen geschlagen haben? Warum sind alle Methoden des Bolschewismus in Deutschland zur Anwendung ge-

56 Um die totale Kriegsführung zu begründen, wurde Reichsminister Dr. Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast auf die Oeffentlichkeit losgelassen. Goebbels hatte dafür gesorgt, daß die Zusammensetzung der Zuhörermassen von vornherein die Gewähr für eine »begeisterte« Kundgebung gab (Kellner 19. 2. 1943). 57 Die Einträge Kellners, wie übrigens auch die Tagebuchnotizen Klemperers, bestätigen die Beobachtung, dass die massenmediale Rezeption (also die über Radio und Zeitung) ein zentraler Gegenstand des Tagebuchschreibens war. »Dienten Zeitungen und Rundfunk in den 1930er Jahren zweifellos auch der Unterhaltung der Deutschen, so schrieben Tagebuchautoren jedoch vor allem von der politischen Bedeutung der Medien.« (Steuwer 2017: 405; 412).

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kommen? Warum wird jetzt der von Stalin im Jahre 1941 ausgerufene totale Krieg auch von Hitler nachgeahmt? (Kellner 19. 2. 1943).

Ein diesen Entlarvungsakt abschließendes Fazit bewertet die propagandistische Strategie der Nationalsozialisten: Die Nazis schreien hysterisch um Hilfe und wollen die angebliche bolschewistische Gefahr mit »gleichwertigen« Methoden niederringen (Kellner 19. 2. 1943).

Im Zuge dieser Entlarvungshandlungen wird neues Wissen konstituiert. Diesem neuen Wissen fehlt zwar, weil im hermetischen, nicht-öffentlichen Medium des Tagebuchs erzeugt, die dynamisierende und distribuierende Kraft des Diskurses, um den Status gesellschaftlichen bzw. kollektiven Wissens zu erlangen und um Wirkmacht zu entfalten. Retrospektiv ermöglicht es der Geschichts-, Sprachgeschichts- und Sozialforschung allerdings zu erkennen, welches Wissen in der Gesellschaft der Jahre 1933 bis 1945 verfügbar war (vgl. Medenwald/Nusko 2007) und wie es z. B. im nichtöffentlichen Medium des Tagebuchs kodiert wurde. Zur dissidenten Konstruktion einer Gegenwelt gehört die Fortführung eines Diskurses, der als Werte-Diskurs die Normen und Prinzipien der Aufklärung und der rechtsstaatlichen Demokratie ausmachte. Dieser Diskurs, dessen Spuren z. B. im Tagebuch Friedrich Kellners gelegt sind, entspricht der dichotomischen Struktur von Gut und Böse, richtig und falsch, wahrhaftig und lügnerisch. So, wie die sprachliche Emotionsgeschichte der Ausgeschlossenen die zunehmende Gewalt des NS-Staats spiegelt, lässt sich diese Gewaltzunahme aus den ethikbetonten Einträgen Kellners im Sinn von Entlarvungsergebnissen ablesen. Die Sklave-Tyrann-Opposition ist kennzeichnende Denkfigur58, kurz nach Kriegsbeginn mit einem Rechtskonzept kombiniert, das der Justizangestellte Kellner ausführt: Warum wird von der Summe solcher Menschen, die sich dann als »Volk« bezeichnen, gegen die einfachsten Rechtsbegriffe verstoßen? Jedenfalls deshalb, weil [sie] sich als Masse stärker fühlen. Daraus entsteht dann [die These]: Gewalt geht vor Recht. Die Zivilisation u. der Fortschritt der Menschheit hängt aber von der Achtung des Rechtes ab. Das ist derart wichtig, daß es täglich als Gebet in die Köpfe eingehämmert werden müßte. Jede Volksgemeinschaft, der Staat, hat natürlich mit gutem Beispiel voranzugehen. Er muß die Grundrechte seiner Bürger unantastbar garantieren. Das müssen geheiligte Rechte sein und ewig bleiben!! Wie steht es in diesem Punkte heute (1939) (in Deutschland)? Erbärmlich! Ein Volk ohne Verfassung! Ein Sklavenvolk! Knechte ohne Rechte!! Wann wird Deutschland auferstehen?? Aus dem Dunkel in das Licht einer besseren Zukunft? (Kellner 13. 10. 1939). 58 Wie kann man mit einem Volk, das wie Sklaven behandelt wurde, einen Krieg führen u. ihn gewinnen wollen? Es ist heute so, daß das Leben überhaupt nicht mehr lebenswert ist. Ein drangsaliertes, gequältes, eingeschüchtertes, überaus unfreies Volk soll sich für einen Tyrannen totschießen lassen. Terror ohnegleichen! (Kellner Anfang September 1938).

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Kellner reflektiert Recht in Bezug auf seine Bedeutungslosigkeit in der Diktatur (Gewalt geht vor Recht) und reklamiert es als einzig handlungsrelevant für einen Staat und eine Gesellschaft, zu deren Bezeichnung Kellner nicht zufällig die NSKategorie Volksgemeinschaft wählt, die er mit Staat synonymisiert und damit in Bedeutungskonkurrenz zu der NS-Kategorie setzt. Mit den religiös inspirierten Kategorien Gebet, unantastbar und heilig setzt Kellner die Bedeutung von Recht nachdrücklich relevant. Weitere Ethizismen kommen im Kriegsverlauf hinzu, insbesondere mit Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Mensch bezieht Kellner sich auf ethische Universalien, die er auch mit seiner nationalen Identität in ein Bedingungsverhältnis setzt: Wo die Menschlichkeit und Gerechtigkeit mit derart grausamen Mitteln zertrampelt wird wie in Europa durch Hitler u. Genossen, da muß die ganze Welt sich dagegen stemmen u. derartige Gesellen entwaffnen (Kellner 16. 4. 1940). Ich verzichte darauf, Deutscher zu sein – wenn ich mich nicht mehr als Mensch benehmen darf! (Kellner 27. 1. 1940). Wenn das kommende Deutschland der Welt nicht den Beweis liefert, daß es mit der gegenwärtigen Geistesrichtung nichts gemein hat, wird Deutschland nie mehr auferstehen. […] Die Schuldigen müssen fallen. Die Gerechtigkeit muß einen überwältigenden Sieg davontragen. Die Gerechtigkeit verlangt, daß sämtliche Verbrecher, deren Schuld einwandfrei feststeht, für die begangenen Schandtaten büßen müssen (Kellner 29. 4. 1942).59

Kellners Dokumentation der an Juden begangenen exterminatorischen Exklusionshandlungen schließlich fokussiert die Täter (Mörder) und ihr Handeln (grausam, unerbittlich, menschenunwürdig, erbarmungslos): Die Behandlung der in Deutschland verbliebenen Juden ist grausam, unerbittlich u. menschenunwürdig. Ihr Schicksal ist erbarmungslos! (Kellner 7. 11. 1941). In den letzten Tagen sind die Juden unseres Bezirkes abtransportiert worden. Von hier waren es die Familien Strauß u. Heinemann. Von gut unterrichteter Seite hörte ich, daß sämtliche Juden nach Polen gebracht u. dort von SS-Formationen ermordet würden. Diese Grausamkeit ist furchtbar (Kellner 16. 9. 1942).

Wir sehen: Der von Kellner fortgesetzte Ethik- und Menschenrechtsdiskurs bezieht sich, lexikalisch vielfältig ausgedrückt, auf die Verstöße von Unterdrückung, Gewalt und Mord, denen er die Prinzipien einer allgemeinen Ethik und Moral von Freiheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Recht entgegensetzt. Insbesondere in das Kriegsende und das Ende des NS-Regimes antizipierenden 59 Mit dieser Schuldreflexion (Schuldige, Schuld, Verbrecher, büßen) und den lexikalisch repräsentierten Relevantsetzungen der in Rede stehenden Werte (hier Gerechtigkeit) weist Kellner voraus auf den nach 1945 nicht zuletzt von Dissidenten geführten Diskurs (vgl. Kämper 2005, insbesondere Kap. 6.3 und 7).

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bzw. den Holocaust dokumentierenden Einträgen verdichtet sich Kellners rechtsstaatliche und allgemeinmenschliche Ethik zu der Dichotomie von Recht und Menschlichkeit vs. Mord und Grausamkeit.

5.3

NS-Affine: Haltung anpassen

Geraldine Horan (2014) stellt Überlegungen an, die im Zusammenhang mit dem sprachlichen Einfluss des NS-Apparats auf die Integrierte Gesellschaft stehen: Zum einen plädiert Horan für eine diskursive Perspektive, um Sprachgebrauch nicht isoliert, sondern im gesellschaftlichen Kontext erkennbar zu machen. Zum andern betont sie die Notwendigkeit, den Fokus durch die Einbeziehung der lange ignorierten Alltagsebene zu erweitern, um zu erkennen, »how the ideological and administrative language of the National Socialist state became integrated into everyday idiolectical and group discourses« (Horan 2014: 49). Was diese von Horan formulierte Frage nach der Spur der »NS-Sprache« in Alltagstexten betrifft, so können wir auch in diesem Zusammenhang feststellen, dass es das Tagebuch ist, das darauf eine Antwort gibt. Erwartbar ist das Auffinden von NS-Spuren nicht in Texten von Dissidenten und Ausgeschlossenen, wohl aber in denjenigen von wie immer NS-Affinen, erst recht womöglich, wenn es sich um junge Menschen handelt. Doch nicht nur gibt das Tagebuch Hinweise auf sublime Übernahmen nationalsozialistischer Ideologiefragmente, es kann auch gleichzeitig die sprachlich vollzogenen Veränderungs- und Wandlungsprozesse der Diarist*innen während der zwölfjährigen NS-Herrschaft einsehbar machen. Ein solcher Wandel kann z. B. kriegsbedingte Gründe haben: Die sprachliche Nähe zum Nationalsozialismus (vor allem hinsichtlich typischer Argumentationsmuster, aber auch in Bezug auf Nationalismen, Rassismen etc.) und die damit einhergehende anfängliche Euphorie der ersten Kriegsjahre schlägt um mit Beginn des Einmarsches in die Sowjetunion und gerät dann mit dem Rückzug der deutschen Wehrmacht von Stalingrad oft zu einer endgültigen Ablehnung. Das Tagebuch von Lore Walb macht einen solchen Wandel unmittelbar nachvollziehbar.60 Als sie das Tagebuch Schreiben beginnt, ist sie überzeugtes 60 Tagebucheinträge »zeigen, wie sich die Einbindung der Einzelnen in das politische System und damit die Beziehung zwischen Regierung und Bevölkerung wandelte, was auch ihr privates Leben nicht unberührt ließ. Als Teil der Veränderungen politischen Handelns und Bewertens dokumentieren die Tagebucheintragungen damit die Entstehung einer neuen politischen Kultur, in der sich die gewandelten Bedingungen politischer Entscheidungsfindung und die veränderte öffentliche Darstellung von Politik mit neuen Formen individuellen Verhaltens verbanden. Diese Verflechtung stellte die Integration der Deutschen in das politische System des Nationalsozialismus sicher.« (Steuwer 2017: 395) Das Umgekehrte gilt

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»BDM-Mädel« und aus ihren Einträgen lassen sich sozial- und sprachgeschichtlich bedeutende Befunde ableiten: Der Nationalsozialismus war eine Einlassung in den Alltag, eine selbstverständliche Einfügung in Zeitabläufe und Handlungsgeschehen, die bereits vor dem 30. Januar 1933 existiert haben. Wenn Lore Walb ihre Geburtstagsgeschenke aufzählt, wird diese Veralltäglichung des Nationalsozialismus deutlich: Von Mutti und Papa bekam ich vieles geschenkt: Stoff für eine braune Hitlerjacke, ein Badehandtuch, einen Tennisring, den zweiten Band von den Werken Konrad Ferdinand Meyers, Schokolade und Pralinen. Papa schenkte mir eine Dose Nivea-Creme. Die habe ich mir nur von ihm gewünscht. Tante Else schenkte mir Schokolade. Großmama und Tante Gertrud schenkten mir eine gehämmerte Hakenkreuz-Brosche. Und Tante Gretel schickte, trotzdem Mutti es nicht mehr wollte, weil ich jetzt zu groß wäre, eine Torte (Walb 23. 5. 1933).

Stoff für eine braune Hitlerjacke in einer Reihe mit Badehandtuch und Tennisring, die gehämmerte Hakenkreuz-Brosche folgt unmittelbar auf Schokolade und Nivea-Creme – der Nationalsozialismus, seine Symbolik und die entsprechenden lexikalischen Repräsentationen waren in den Alltag eingelassen. Wir können solche Vergegenwärtigungen des Historischen und Öffentlichen im Privaten wohl als ein allgemeines diaristisches Kennzeichen werten. Im Tagebuch zeigt sich Walbs bis gegen das Kriegsende hin bestehende NSaffine Identität zudem durch hohe Zustimmung ausdrückende positiv emotionalisierte Kommentare, wenn sie auf den Nationalsozialismus und dessen Personage (insbesondere auf Hitler) referiert. Wie bei allen NS-Affinen ist die (erste) Begegnung mit dem ›Führer‹ einschneidendes biografisches Ereignis61 – das ›Erlebnis Hitler‹ ist auch bei ihr, wie bei allen Anhänger*innen, ein durch und durch positiv emotional besetztes, die NS-Superlative gewaltig und groß sind ihr die in diesem Kontext, wie in vielen anderen, geläufigen NS-konnotierten Beschreibungsvokabeln: Acht oder vierzehn Tage später war wieder ein wunderbarer Tag für mich. Wir waren bei der gewaltigen Saarkundgebung auf dem Niederwalddenkmal. Da habe ich etwas erlebt: Ich habe unseren großen Führer gesehen! Zweimal! Auf dem Wege hin zum Niederwalddenkmal und zurück. So ernst, doch so stark und so groß stand er mit der erhobenen Rechten in seinem Auto! Bei diesem Anblick sind mir die Tränen gekommen. Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube, ich ahnte doch, welch ein schönes Gefühl es ist, einem Führer unseres Volkes zu vertrauen. Ich glaube fast, das war der schönste, ergreifendste und gewaltigste Augenblick meines vierzehnjährigen Lebens (Walb 26. 10. 1933).62 ebenso: Insbesondere der Kriegsverlauf motiviert die Entfernung der Tagebuchschreiber*innen vom Regime. 61 Siehe dazu den Beitrag ›Gefühle ausdrücken‹ in Teil 1. 62 An dieser Stelle ist indes auch darauf zu verweisen, dass Tagebücher nicht unbedingt »als direkte Verschriftlichungen der Emotionen ihrer Verfasser, als ›Logbücher der Gefühle‹ ge-

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Ihre affine Position zum Nationalsozialismus drückt Walb in unterschiedlichen Hinsichten aus. Positionsmarker sind adjektivische Zuschreibungen, etwa des Versailler Vertrags mit gräßlich63, in Superlativen ausgedrückte Begeisterung64, emotionalisierte Sachverhaltsbeschreibungen und Wunschformulierungen.65 Die Diaristin realisiert ihre Affinität jedoch nicht nur durch lexikalische Übernahmen einzelner Lexeme oder NS-Formeln, wie der greise Feldmarschall, sondern auch durch Phrasenreproduktion (Kraft des deutschen Blutes; Österreich ist heimgekehrt; Lügenminister Churchill), die auf propagandistischen Einfluss und affirmierende Übernahme dieser Ideologeme schließen lässt.66 Ihr hoch emotionalisierter, religiös inspirierter Kommentar des Attentats auf Hitler am 9. November 1939 durch Georg Elser, sie ist zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre alt, ist exemplarisch:

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lesen werden sollten. Tagebuchautoren versuchen vielfach sich schreibend bestimmte Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen anzueignen, etwa um den Erwartungen des NS-Regimes an das eigene politische Verhalten zu entsprechen. Und dieses Bemühen umfasste bei Regierungsansprachen und Massenfesten nicht nur die Frage, ob man wie gefordert am Radio oder vor Ort selbst teilgenommen hatte, sondern auch, wie man diese Veranstaltungen wahrnahm.« (Steuwer 2017: 448) Dass die Rezeption des NS von einem System von Emotionsregeln bestimmt war zur Etablierung einer bestimmten Emotionskultur und »Gefühle äußern« eine entsprechend geprägte soziale Praktik war, wird in dem Beitrag ›Gefühle äußern‹ in Teil 1 dargelegt. Heute wurde vor Jahren der Vertrag von Versailles unterschrieben. – Die Fahnen sind auf Halbmast geflaggt; in der Schule wurde eine Ansprache über die Bedeutung dieses gräßlichen Schriftstückes gehalten, die mit dem Deutschlandlied eingeleitet und mit dem Horst-WesselLied beendet wurde (Walb 28. 6. 1933). Vor fünf Minuten wurde der größte Eid geleistet, der in der Weltgeschichte einzigartig dasteht und wie ihn die Welt noch nie erlebt hat. Rudolf Heß, der Stellvertreter des Führers, nahm in München und zur gleichen Zeit im ganzen deutschen Reich allen politischen Leitern, den Führern der S.A., der S.S., der H.J., des Arbeitsdiensts und des B.d.M. den Treueschwur zum Führer ab (Walb 25. 2. 1934). Vor wenigen Wochen war der erste Parteitag der nationalsozialistischen Regierung. Er tagte in Nürnberg. Das muß etwas ganz Großes gewesen sein. – In den Herbstferien war ein großes Treffen in Köln. 40000 B.d.M.-Mädels und 20000 Jungen von der H.J. kamen hin. In einheitlicher Kleidung marschierten Jungen und Mädel an Baldur von Schirach vorbei. Da wäre ich auch gern dabeigewesen. Vielleicht darf ich nächstes Jahr einmal zum B.d.M.-Treffen mit (Walb 26. 10. 1933). Wie stolz dürfen wir auf unseren Führer sein; und wie bewundern wir ihn. Wieder einmal hat sich, wie so oft schon, die Kraft des deutschen Blutes gezeigt. Wir leben in einer großen Zeit. Eine Tat folgt der anderen. Wie groß muß der Glaube und Wille unseres Führers sein! Wenn er der Welt den Frieden geben könnte. Sein größter Wunsch, sein Ziel (Walb 30. 3. 1936); In diesen Tagen, am 12. März 1938, ging ganz unerwartet und unvergleichlich schnell die Jahrtausende alte Sehnsucht von Millionen Deutschen in Erfüllung: Österreich ist deutsch, Österreich ist heimgekehrt, ist eingegliedert in das deutsche Reich!! (Walb 6. 4. 1938); Zuerst wurde natürlich von dem Lügenminister Churchill versucht, alles abzustreiten. Das ist überhaupt eine solche Lächerlichkeit, wie die Engländer »amtlich« lügen, daß man darüber kaum noch was zu sagen braucht (Walb 16. 10. 1939).

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Es ist etwas Ungeheures geschehen, das ganze deutsche Volk und alle anständigen Menschen anderer Völker sind empört […] Gottseidank, der Führer war schon abgefahren, und es hat ihn nicht mehr getroffen, nicht ihn und nicht die Führer der Partei. »Die Vorsehung hat den Führer geschützt« heißt es überall, und es ist wirklich so. Der Herrgott kann solches Unrecht nicht zulassen. Er hat den Führer bewahrt für neue Taten. Wir müssen alle Gott danken, und es gibt auch wohl nur wenige Deutsche (und sicher sind das nur schlechte Menschen), die nicht bei der Nachricht von dem Attentat einen furchtbaren Schreck bekamen und die dann ganz glück- und dankerfüllt waren, daß unser Führer noch lebt und gesund ist. Der liebe Gott meint es doch gut mit uns Deutschen, und mit uns ist ja auch die Gerechtigkeit und Wahrheit (Walb 9. 11. 1939).

Der Eintrag drückt Emotion im negativen Sinn hinsichtlich der Tat (Ungeheures, empört), im positiven Sinn hinsichtlich des Ausgangs der Tat (Gottseidank, nicht mehr getroffen) aus. Der gesamte Kommentar ist religiös bzw. religionssprachlich durchsetzt, das Überleben Hitlers wird als Ausdruck des Willens Gottes bewertet, womit die Autorin dem Denken Hitlers entspricht, der sein Sein und Handeln aus seiner Überzeugung bekanntlich dem Schutz der göttlichen Vorsehung verdankt.67 Walb schafft zudem die gegensätzlichen moralisierenden Sozialkategorien anständige Menschen – schlechte Menschen zur Klassifizierung derjenigen, die über das Scheitern des Attentats nicht ganz glück- und dankerfüllt waren. Mit einer religiösen Schlussformel und einer zusammenfassenden Bewertung des Ereignisses mit den Ethizismen Gerechtigkeit und Wahrheit kontextualisiert Walb nationalistisches Potenzial, indem sie die Deutschen gleichsam als Ziel göttlichen Handelns (der liebe Gott meint es doch gut mit uns Deutschen) konzipiert, dessen Berechtigung sie, appellierend an einen gemeinsamen Wissensbestand, abschließend behauptet: mit uns ist ja auch die Gerechtigkeit und Wahrheit. Typischerweise ändern sich der Gebrauch von NS-Vokabular und die Realisierung nationalsozialistischer Denkfiguren mit dem Verlauf des Krieges. Seit 1942 schmälert er erheblich nationalsozialistische Euphorie. In den ersten zwei Kriegsjahren ist die Haltung von Lore Walb noch geprägt von der nationalistischen Denkfigur ›wir sind besser als die anderen‹68, dann ist es zunehmend Siegestrotz, der sich in ihren Einträgen ausdrückt – motiviert von der Bedrohung der Flut aus dem Osten, die bis zum März 1945, jedoch zu diesem Zeitpunkt mit deutlich verzweifelter Diktion, anhält: Ich las gerade eben einen Artikel über Stalingrad und die Sowietunion. Immer klarer wird es mir nun, daß wir den Krieg wahrhaftig gewinnen müssen. Ganz Europa wäre verloren, wenn unsere Armee nicht durchhielte. Auch die Westmächte würden Augen 67 Vgl. auch seine Radioansprache nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 (siehe dazu den Beitrag ›Rede‹ in Teil 2). 68 Größere Leistungen hat noch kein Volk vollbracht, es kann doch nicht einfach ausgelöscht werden (Walb 29. 11. 1942).

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machen, wenn diese Flut aus dem Osten über Europas Menschen und Kulturen hereinbrechen würde (Walb 1. 2. 1943). Mein Gott, was soll noch werden! Aber wir dürfen doch den Krieg nicht verlieren, was droht uns danach erst! (Walb 4. 3. 1945).

Am 30. Juni 1941 ist zum letzten Mal ein Hitlerlob belegt, realisiert in propagandistisch vorgegebenen Zustimmungsformeln (z. B. die der Führer nicht dulden konnte).69 Eine ausdrückliche Selbstpositionierung als NS-affin dokumentiert dann zum letzten Mal der Eintrag vom 29. November 1942 – mit revanchistischer Formulierung (noch einmal niedergebeugt, wir vernichtet), nationalistischer Hybris (ein so treues und tapferes Volk darf nicht untergehen, größere Leistungen … kein Volk). Mit dem weiteren Kriegsverlauf wird dann das aufwertend-herausstellende nationalistische Argument ›wir sind besser als die anderen‹ umformuliert und die Deutschen werden abwertend gleichgestellt mit dem Topos ›wir sind nicht schlechter als die anderen‹. Aus beiden Komparationen werden Ansprüche abgeleitet, beide Positionen haben legitimierende Funktion: Gewiß, es ist viel gesündigt worden bei uns, doch bei den anderen nicht minder. Und schlechter als die anderen ist unser Volk gewiß nicht (Walb 17. 4. 1945).

Was die Haltung zum Krieg und eine nationalistische Positionierung betrifft, lässt sich am Beispiel von Einträgen in Lore Walbs Tagebuch ein sprachliches Phänomen feststellen, das als ein Kennzeichen von Ego-Dokumenten der Kriegszeit gelten kann und als Schizophrenisierung zu beschreiben ist. In Tagebüchern wie auch in Feldpostbriefen70 tritt es mit hoher Evidenz zu Tage. Bei den anfangs NS-Affinen ist oftmals der Kriegsverlauf Anlass für eine Neupositionierung zum NS. Dieser Schizophrenisierung liegt einerseits die Konfrontation zwischen persönlichem Betroffensein und allgemeinen Kriegserscheinungen zugrunde. Der Diaristin Walb gelingen in diesem Sinn Aufspaltungen, die sich in scheinbar widersprüchlichen Positionierungen ausdrücken, oftmals übergangslos im selben Kontext: Vor einigen Tagen erhielten wir durch Onkel Carl die erschütternde Nachricht, daß Rolf am 22. Juli im Osten gefallen ist! Das erste Opfer in unserer Familie. Für Tante Julie kaum tragbar. […] Es ist furchtbar. Im Osten sind die Erfolge ungeheuer, unvorstellbar. Vor einigen Tagen kamen wieder zusammenfassende Meldungen, 900000 Gefangene sind es 69 Rußland, das seinen Vertrag mit Deutschland wenig beachtete, hatte Expansionspläne, die sich gegen Deutschland letzten Endes richten, und die der Führer nicht dulden konnte (Finnland, Rumänien, Dardanellen). Starke Truppenmassierungen, schon lange – natürlich auch auf unserer Seite. Alle sind wir nun wie befreit von dem Druck der sowietischen »Freundschaft« (doch wie wunderbar ist es dem Führer damals gelungen, während dem Frankreich-Feldzug den Osten ruhig zu halten!) (Walb 30. 6. 1941). 70 s. dazu den Beitrag ›Brief‹ in Teil 2.

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fast jetzt, 9000 Flugzeuge vernichtet, 13000 Panzerwagen, Zahlen, die man sich nicht vergegenwärtigen kann (Walb 17. 8. 1941).

Andererseits besteht eine nationalistisch geprägte Differenz der Werthaltung in Bezug auf die Kriegshandlungen der Deutschen und der Kriegsgegner. Regelrechte Vernichtungsbegeisterung drückt die Autorin aus, wenn sie auf deutsche Kriegshandlungen Bezug nimmt: Phantastische Erfolge hatten unsere U-Boote: 950000 T im Monat März versenkt!!! […] In Essen zum ersten Mal Phosphor ausgegossen! Sind dies noch Menschen! (Walb 10. 4. 1943).

Dass Lore Walb kurz vor Kriegsende zu ihrer politischen Überzeugung auf Distanz geht, dokumentiert ihr Eintrag vom 31. März 1945. Sie nimmt die zwei zentralen, NS-Handeln legitimierenden Vokabeln, wehrkraftzersetzend und Volksschädling auf, und positioniert sich explizit, indem sie diese in Anführungszeichen setzt und mit der Bewertung ohne mich schuldig zu fühlen ihren dissidenten Akt kommentiert: Heidelberg, Schwetzingen gestern vom Feind genommen! Südlich Mannheim in der Rheinebene schwere Kämpfe. Abends: Faust I/Radio Beromünster. Zwei Wörter sprechen Bände. Ich hörte »wehrkraftzersetzende« Nachrichten von Radio Beromünster, ohne mich als »Volksschädling« schuldig zu fühlen! (Walb 31. 3. 1945).

Walb endet ihr Tagebuch schließlich mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht in der religiös inspirierten Haltung, mit der sie es insbesondere während des Krieges schrieb: Hitler ist nun tot. Wir aber und die Kommenden schleppen lebenslänglich an der Last, die er uns auflud. Dies ist also das Ergebnis seiner Herrschaft. Gott scheint uns nicht mehr zu lieben. Goebbels hat sich, wie die Russen melden, mit seiner ganzen Familie vergiftet und wurde so von den Russen aufgefunden. – Was aber haben wir davon? Mein Gott, willst Du Dein Angesicht uns nie mehr zukehren? Man sagte so oft, hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott. Wie sollten wir uns jetzt aber noch helfen? (Walb 8. 5. 1945).

Erkennbar wird an den Tagebüchern von NS-affinen Diarist*innen auf der einen Seite die von Klemperer als solche erkannte umfassende ideologische Durchdringung des alltäglichen Sprachgebrauchs: Spuren der NS-Ideologie, aber auch Wirklichkeits- und Symbolkonstruktion sind unmittelbar im Alltag der Bevölkerung präsent, werden entsprechend im Tagebuch festgehalten und so veralltäglicht. Damit einher gehen Übernahmen regimenaher Perspektiven z. B. im Rahmen der ideologischen Überhöhung Hitlers als der Führer oder der anfänglichen Kriegsbegeisterung. Ist dies auch für den Widerstand ein entscheidendes Moment der Solidarisierung (das sich z. B. im Zusammenschluss bürgerlich-konservativer, militärischer, kirchlicher und sozialistischer Kreise zeigt und in den Attentatsversuch vom 20. Juli mündet), so zeigt sich auch für die NS-

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Affinen eine z. T. irritierende Umwertung und Neuperspektivierung, die auch eine Phase der Schizophrenisierung mit sich bringen kann. Sobald sich der Zweite Weltkrieg in den Augen der NS-Affinen zu einem Verlustkrieg für die deutsche Seite und die Bevölkerung mit u. a. der Niederlage bei Stalingrad wandelt, festigt sich diese Neuperspektivierung und Umpositionierung und mündet in Reflexionen der (individuell empfundenen) Gefahr und schließlich Schuld, die die Kommenden […] lebenslänglich zu schleppen haben werden.

5.4

Widerstand: Handeln reflektieren

Bei den Tagebuch schreibenden Widerstands-Akteuren zeigen sich insbesondere milieubedingte Unterschiede: So ist auffällig, dass sich Tagebücher vor allem im bürgerlich-konservativen, (und damit verbunden) militärischen, tendenziell im exilierten und kirchlich-religiösen Widerstand frequent(er) finden lassen als im kommunistischen oder sozialistischen Widerstand. Zwei Gründe lassen sich für diese unterschiedlichen Textsortenroutinen bzw. -zugriffe ausmachen: Auf der einen Seite spielt die milieubedingte Anbindung (z. B. an das Bürgertum) noch während der 1930er und 40er Jahre eine Rolle. Als Teil der sozialen Identität ist das (generationsübergreifende) Tagebuch Schreiben eine Form der ritualisierten kommunikativen Praxis, auf die schon vor den Jahren der NS-Diktatur zurückgegriffen wurde und die auch nach ihrem Untergang ihre Fortsetzung fand. Dergestalt bietet das Führen des Tagebuchs eine Art routinierter und rückbezüglicher Versicherung eigener Identität und sozialgesellschaftlicher Gruppen- i.S.v. Schichtzugehörigkeit. Auf der anderen Seite kann diese Art der Selbstvergewisserung eigener Positionen gerade während der Terrorherrschaft des nationalsozialistischen Regimes herausgefordert sein, und die Textproduzenten wandten sich deshalb der Textsorte zu, um eigene Selbstpositionierungen bzw. -vergewisserungen vorzunehmen. Beim Widerstand ging es dabei sowohl um die Frage, in welcher Beziehung seine Mitglieder zum herrschenden System stehen, als auch, inwiefern, bis zu welchem Grad und unter welchen Bedingungen sie Teil einer Widerstandsgruppe waren. Dies ist gerade bei Widerstandsgruppen mit (anfänglicher oder systemischer) Nähe zum Regime durchaus relevant: Kommunistische und sozialistische Akteure standen von Anfang an in ideologischer Fundamentalopposition zum Regime (vgl. Benz 2018: 75). Prozesse des Umdenkens oder Neupositionierens betrafen vor allem strategische Mittel, nicht aber die grundlegende Gegnerschaft. Dies ist bei vielen Akteuren des (späteren) militärischen oder bürgerlich-konservativen Widerstands anders einzuschätzen, die oft der Machtübernahme Hitlers positiv oder zumindest neutral gegenüberstanden (vgl. z. B. Graml 2001: 85 oder Benz 2018: 355) und z. T. (hohe) Ämter innerhalb des nationalsozialis-

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tischen Systems bekleideten. Bei diesen Akteuren kam es erst im Laufe der 1930er Jahre zu einem umfassenderen Umdenken. Für eine (Er-)Klärung, Konkretisierung, Vergegenwärtigung kann auch hinsichtlich dieses Falls das Tagebuch geeignetes Medium sein. So reflektieren z. B. Ulrich von Hassell und Hermann Kaiser ihre (konspirativen) Treffen mit anderen (Widerstands-)Akteuren, bewerten die daran beteiligten Personen und nehmen so z. T. implizit Selbstpositionierungen vor, hinterfragen ihre Rolle im Widerstand sowie die Verortung als Teil einer Gruppe z. T. kritisch: Am 6. abends bei Stauß gegessen. Er hatte Geburtstag. Schacht war auch da und beherrschte nachher, im leider »großen Kreise«, eine oberflächliche und witzelnde Unterhaltung durch seine wahrhaft ätzenden Angriffe auf das System, dem er doch schließlich an verantwortlicher Stelle angehört. Politisch war er im Privatgespräch mit mir unklar und voller Widersprüche (TB H 10. 10. 1938). Meiner Grundauffassung stimmt er in jeder Hinsicht zu: auch nach seiner Ansicht ist die Kriegspolitik verbrecherischer Leichtsinn (TB H 11. 10. 1939). Ich richte meinen Auftrag M. […] aus. T. […] teilt ganze Auffassung von M. Kein Tag sei zu verlieren. Es sei so bald wie möglich zu handeln (TB K Februar 1943). J. sehr deprimiert. Spricht v. Ausgang: »Sie werden uns alle hängen«. Ich: »Das ist nicht das Schlimmste« (TB K Juli 1943).

Notwendig sind diese Positionierungs-Prozesse insbesondere für bürgerlichkonservative und militärische Akteure, die sich erst im Laufe der nationalsozialistischen Herrschaft gegen das Regime stellten und dabei auch die eigene (als schuldbeladen empfundene) Rolle reflektieren mussten: Nicht die finsteren Mächte haben uns zu Fall gebracht, sondern die eigene Verblendung. Wann werden wir daraus lernen? (TB K 17. 7. 1943).

Daher lassen sich auch insofern vermehrt Tagebücher dieser Akteursgruppen ausmachen als von z. B. kommunistischen oder sozialistischen, die ihre diskursive Verortung weitestgehend beibehalten konnten und vielmehr durch äußere Umstände (z. B. Inhaftierung) zum Tagebuch Schreiben kamen. Kennzeichen der Tagebücher von Widerständlern ist ein auffallend frequenter Gebrauch des semantischen Feldes, das sich aus den interdependent aufeinander bezogenen Lexemen (und entsprechenden Konzepten) Pflicht, Verantwortung, Ehre und Moral zusammensetzt. Sie lassen sich auch als Repräsentationen der widerständischen Deontik bezeichnen. Für die bürgerlich-konservativen (Hassell) sowie militärischen (Kaiser, Müller-Hill) Akteure erscheint dies naheliegend, zeichnete sich doch der militärische Widerstand durch einen kontrovers geführten Pflicht-Diskurs aus, der sich in den Tagebüchern niederschlägt.

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Krähenau war bei ihm. Schm. soll sogar Andeutungen über anderes Vorgehen gemacht haben. Fraustock hat rundweg abgelehnt. Er hält sich an s. Eid gebunden. Pollux sei immer noch der stärkste Mann. Jeder Krieg könne verloren gehen (TB K 8. 4. 1943). Knapp 100 km entfernt sitzen Daisy und der 11-jährige Benno, die mich so notwendig haben. Und ich kann ihnen nicht helfen, da mich meine Pflicht hier hält (TB MH 4. 9. 1944). Es ist ja auch richtig, daß der Durchschnittssoldat und -offizier einfach seine Pflicht tut. Aber die höchsten Befehlshaber haben […] eine höhere, politische Verantwortung (TB H 30.11. 1941). Nach d. Essen kommt Major Mentz zu mir u. macht mir Komplemente über m. Offz.Auffassung, die ich ablehne. Er bewundere usw. d. Bescheidenheit u die innere Auffassung v Ehre u Pflicht. Gefreut hat es mich doch, weil das auf 1 guten Kern schließen läßt (TB K 25.2. 1941). Haltung nenne ich aufrechten Hauptes so lange seine Pflicht zu tun, als dies möglich ist, da mehr zu tun – dieses Unglücksregime zu beseitigen – uns kleinen Soldaten leider nicht möglich ist (TB MH 21. 4. 1944). In der Sache waren wir ganz einig. Auch er hält es trotz der üblen Lage für unsere Pflicht, sowohl aus politischen wie aus moralischen Gründen, den Wagen nicht erst in den Abgrund rasen zu lassen, sondern sich noch vorher auf den Bock zu schwingen, obwohl keine Ehre dabei zu holen und nur noch wenig zu retten ist (TB H 5. 12. 1943).

Dabei wurden auch Möglichkeiten der Eidverpflichtung im Zusammenhang mit dem Sturz des Hitler-Regimes und der Notwendigkeit, den Diktator zu ermorden, diskutiert. Pflicht wird in den Tagebüchern zu einer entscheidenden Markierung der Differenzierung. Verantwortungs- und ehrvolle (soldatische) Akteure sind insbesondere Wehrmachtsangehörige, vor allem Offiziere: Die Sorge um das Vaterland drückt mich. Wie soll das weitergehen (TB K 19. 3. 1943). Denn ich habe es immer als meine Aufgabe gesehen, bei ordentlichen Soldaten, die gestrauchelt sind, mich schützend vor sie zu stellen und schlimme und entehrende Strafen zu verhindern (TB MH 28. 3. 1945, Hervorhebung im Original).

Ihnen stehen gegenüber als moralisch verwerflich, verantwortungs- sowie ehrlos disqualifizierte (soldatische) Akteure: Absinken der Güte des Offz. Nachwuchses, erfaßt aber nicht die wahren Ursachen. Die Bewerber melden sich vielfach nicht mehr aus ideellen Gründen (TB K 18. 3. 1941). Während Frank öffentlich erklärt, man wolle Polen ein menschenwürdiges freies Dasein geben und während man – vergeblich – die Welt durch die bolschewistischen Morde in Katyn abzulenken sucht, haust die SS in Polen weiter in unvorstellbarer beschämendster Weise. Unzählige Juden werden in besonders dazu gebauten Hallen vergast, jedenfalls Hunderttausende (TB H 15. 5. 1943).

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Dieser Staat entwickelt sich immer mehr zu einem unsittlichen und bankrotten Unternehmen, unter der Führung eines verantwortungslosen Spielers, der selbst kaum noch als geistig normal bezeichnet werden kann und von Gesindel umgeben ist (TB H 9. 6. 1943). Und die »Ehre« dabei? Wo war sie geblieben? (TB K 16. 5. 1943).

Wir haben oben bereits darauf hingewiesen, dass der 1933 abrupt aus der Öffentlichkeit verbannte Ethik- und Menschenrechtsdiskurs bei Dissidenten (gezeigt am Beispiel des Tagebuchs von Friedrich Kellner), Ausgeschlossenen und Widerständlern in ihren nichtöffentlichen Texten und Ego-Dokumenten fortgeführt wird. Das diaristisch repräsentierte Pflicht-Konzept des Widerstands ist dahingehend als akteursspezifisches Beispiel dieser Beteiligtengruppierung zu verstehen. Dabei wird so gut wie immer auf die Handlungen der SS Bezug genommen, einschließlich der (militärischen) Führung: Wird die Masse des Volkes oder wenigstens die gebildete Schicht kurz gesagt, einsehen, dass die Führung H.s eine nicht nur unmoralische, sondern auch miserable Politik trieb, die schließlich die ganze Welt gegen uns mobilmachte und uns in den Abgrund warf ? (TB MH 13. 4. 1944).

Das Pflicht-Konzept adressiert allerdings nicht nur die eigene Gruppe und das eigene Handeln. Es wird vielmehr ein Übernehmen bzw. Tragen der Verantwortung inklusive der damit zusammenhängenden Konsequenzen auch von der nationalsozialistischen Führung erwartet: Denn würde es ihn [= Hitler] berühren, hätte er die Verpflichtung, sich in den Kampf – wohin er gehört – oder ins Schwert zu stürzen, und nicht zu warten, bis ganz Deutschland unser Schicksal teilt (TB MH 12. 3. 1945).

Weitere, der eigenen Positionsbestimmung dienende ethisch markierte Eintragungen werden realisiert im Zuge einer Strategie der Bewertung von Zusammenhängen, Sachverhalten, Personen o. ä.; exemplarisch erkennbar in den Tagebüchern Hassells und Kaisers: Wenn aber Leute die in einer Synagoge zusammengetriebenen Juden mit Revolvern abknallen, dann kann man sich nur schämen (TB H 22. 10. 1939). Hptm Rüden wirft ein »gesoffen«. Auch als das Gespräch auf s. »Mamsell« kommt, wird ungehörige Bemerkung gemacht. – Wo ist das Ehrgefühl des pr. Offz? Die Atmosphäre unerquicklich. Hptm Bartholomäus kommt und sagt: Der Ausgang des Krieges entscheidet darüber, ob Politik richtig war. Wird er gewonnen, so alles richtig u. gerechtfertigt, … verloren, so alles falsch gewesen. – Das also die Maßstäbe (TB K Januar 1941). Ich fand sie [= eine Schrift über soldatische Ehrauffassung] zu abstrakt u begrifflich, ferner berührte sie das Kapitel Ritterlichkeit nicht. Schließlich vermißte man die Berufung aufs Gewissen aus d Tiefe d Religion […]. Die Hauptsache: Konflikt zw Gewissen u Gehorsam fehlt (TB K April 1943).

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Bemerkenswertes Detail: Auch im Akteurszusammenhang des Widerstands ist anständig ethisch-moralische Leitvokabel, auch Hassell entwirft – wie Kellner – ein Szenario, das die Empörung der so charakterisierten Menschen gleichsam einfordert: Jeden anständigen Menschen packt der physische Ekel […] wenn er Reden hört wie die letzte pöbelhafte von Hitler im Sportpalast (TB H 29. 9. 1938).

Es ist von hoher Evidenz, dass Widerständler mit dem Konzept der Pflicht Strategien der (moralisch-ethischen) Selbstpositionierung vornehmen. Dass sich dieses Konzept auch in den Tagebüchern nicht-bürgerlicher, also kommunistischer bzw. sozialistischer, Autoren findet, dokumentiert, vor dem fehlenden Hintergrund des soldatischen Pflicht-Ethos, das referenzabhängige Potenzial ethisch-moralischer Leitwörter. Es zeigt sich die spezifische Ausrichtung, die diese Ausdrücke aufgrund der anderen Lebensumstände sowie antizipierten Sinnwelten erfahren. Für Selbmann differenziert sich aufgrund der Verhöre Pflicht und Verantwortung aus. Auf der einen Seite adressiert er sein Pflicht- und Verantwortungskonzept an sich, nämlich mit Bezug auf seine Taten, die ihn ins Gefängnis gebracht haben, und die er bejaht: Dagegen zu kämpfen hielt ich für meine Pflicht als Staatsbürger, als Politiker und als Funktionär einer Arbeiterorganisation (TB S 20. 10. 1933).

Dem stehen die Taten gegenüber, die er nicht begangen hat und die er als Referenzbereich für persönliche Verantwortung ausschließt: Trotzdem möchte er, daß ich die Verantwortung für diese Aktion übernehmen soll und daß ich überhaupt zugeben soll, daß die Partei im Januar und Februar 1933 die allgemeine Bewaffnung angeordnet habe. Beides kann ich natürlich nicht (TB S 9. 10. 1933). Man will von mir eine Blankoerklärung, daß ich alles, was die B.L. herausgebracht hat und alles, was meinen Namen trägt, vorher gekannt haben, ja, daß ich sogar gewissermaßen für alle Reden, die andere gehalten haben, verantwortlich bin. Eine solche generelle Erklärung gebe ich natürlich nicht (TB S 27. 6. 1943).

Auch hier kann anhand der Lexeme ein Differenzierungsprozess sichtbar gemacht werden, der aus der handlungsbezogenen Selbstverortung einerseits und der Abgrenzung von (auch aus moralisch-ethischer Sicht) nicht zu dieser diskursiven Verortung passenden Positionierungen andererseits besteht. Ähnlich den Tagebüchern NS-affiner Diarist*innen ist auch für die Widerstandsakteure eine diskursive Positionierung sowohl zum herrschenden nationalsozialistischen Diskurs als auch innerhalb der jeweiligen Widerstandsgruppe ein zentrales Moment, das in den Tagebüchern reflektiert wird. Die erfolgte Abgrenzung vom NS-Diskurs wird dabei unterschiedlich schnell und konflikt-

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reich bzw. -arm vollzogen, ist aber insbesondere für den militärischen und bürgerlich-konservativen Widerstand eher als graduelle Entwicklung denn als sofortige Gegnerschaft (wie im sozialistischen und kommunistischen Widerstand) zu fassen. Vielfach werden dabei über das Aufrufen, aber auch Ausdifferenzieren eines deontisch markierten semantischen Feldes um die Ausdrücke Pflicht, Verantwortung, Ehre und Moral Gründe für das eigene Widerstehen thematisiert und reflektiert. In dieser Hinsicht geben Tagebücher unmittelbare Einblicke in den stets individuellen, oft schwierigen und z. T. als Entwicklungsprozess zu fassenden Weg in die Fundamentalopposition.

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Fazit

Tagebuch-Schreiben während der nationalsozialistischen Diktatur schließt zwar an bestehende kulturell und diskursiv geprägte Traditionslinien an, führt aber unter den Bedingungen der NS-Diktatur zu akteursspezifischen Ausdifferenzierungen und Neugestaltungen. Angenommen werden kann, dass vermutlich allen Akteuren das Führen eines Tagebuches zur Identitätskonstituierung diente – freilich in unterschiedlichen Graden der Explizierung und Bezugnahmen auf derartige Selbstverortungen. Aus diesem Grund haben wir die Tagebücher im Zeichen des Positionierungskonzeptes analysiert. Tagebuch Schreiben unter den Bedingungen des Nationalsozialismus erforderte für die verschiedenen Diarist*innen eine unmittelbare und zwangsläufige Form des Sich-Positionierens innerhalb oder aber außerhalb des herrschenden nationalsozialistischen Diskurses. Diese Positionierungen sind nicht als isolierte Sprachhandlungen wahrzunehmen bzw. anzutreffen, sondern können Teil komplexerer Vertextungsmuster sein, wobei narrative und explikative Themenentfaltungen bei den untersuchten Tagebüchern dominant waren. Hinsichtlich der Akteursspezifik ist darauf zu verweisen, dass Praktiken der Selbstverständigung und Positionierungen insbesondere von Ausgeschlossenen, Widerständlern und integrierten Dissidenten verwendet wurden und so zu alternativen Konzeptualisierungen situativer Zusammenhänge führen. Diese Positionierungsstrategien finden sich auch im Rahmen der Angabe von Schreibanlässen, wobei wir von drei verschiedenen Referenzvarianten, dem ereignis- und erlebnisbetonten, dem überlieferungsbetonten und dem selbstdarstellungsbetonten Schreibanlass ausgegangen sind, um diese Selbstexplikationen adäquat(er) zu erfassen. Insgesamt ist von der Individualität der Ausgestaltung der Kommunikationspraxis des Tagebuch Schreibens auszugehen, die durch die politisch-gesellschaftlichen Bedingungen eingeklammert wird. Dies wird u. a. am Tagebuchstil deutlich, der sich zwar akteursrollenunabhängig individualisiert zeigt und den-

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Tagebuch

noch durch die diskursiven Bedingungen geprägt ist, durch das Verwenden von Tarn- oder Codenamen durch widerständische Akteure bis hin zu syntaktischen Aspekten, z. B. der physischen und psychischen Überwältigung gettoisierter Diaristen, die unter den Extrembedingungen der Vernichtung eine Form der Sprachlosigkeit oder »Sprachzertrümmerung« erfahren, die sich in den Tagebüchern unmittelbar nachvollziehen lässt.71 Tagebücher im Nationalsozialismus sind auch Dokumente einer Einstellungsgeschichte. Veränderungen von Haltungen sind in keinem anderen Text so eindeutig und klar erkennbar wie in Ego-Dokumenten und insbesondere in Tagebüchern. Im Rahmen einer dezidiert akteursspezifischen Ausdifferenzierung der Textsorte und ihrer zugehörigen kommunikativen Praktiken kamen wir so zu einer vorsichtigen Inventarisierung für das Tagebuch(-Schreiben) zwischen 1933 bis 1945. Für die rassistisch Verfolgten kann als zentrale Praxis die Dokumentation – im Sinne eines religiös motivierten Zeugnis-Ablegens – ihrer zunehmenden Entrechtung, Ausgrenzung (beschrieben z. B. im Tagebuch Klemperers), Internierung bzw. Gettoisierung (so in den Aufzeichnungen Rosenfelds) sowie drohenden Vernichtung bestimmt werden. Auch das Äußern von Gefühlen zeigt sich anhand eines differenzierten und spezifischen Gefühlswortschatzes. Dissidente Diaristen zeichnen sich in ihrem Tagebuch Schreiben durch ein Entlarven von Ideologieelementen des NS, Sachverhaltsdarstellungen, Symbolzusammenhängen etc. aus. Dieses Widersprechen führt zu Konstruktionen von Gegenwelten, Anschlüssen an frühere Diskurse und damit verbundene ausdrucksseitige Gebrauchs- und Wertezusammenhänge. Während in den Tagebüchern dissidenter Akteure die omnipräsente nationalsozialistische Ideologie inklusive ihrer umgedeuteten Ausdrucks- und Wertereservoirs kritisch dekonstruiert wird, zeigen die Tagebücher NS-Affiner die Veralltäglichung des Nationalsozialismus. Für eine aus der Textsorte ableitbare Entwicklungsgeschichte des schreibenden Ichs sind die Texte NS-affiner Diaristen von hohem Erkenntniswert, können sie doch die Wandlungsprozesse und Neupositionierungen dieser Akteure nachvollziehbar machen. Dabei zeigt sich die entstehende Schizophrenisierung und Selbst-Viktimisierung der Textproduzenten, die nach nachlassender euphorisierter Kriegsbegeisterung einen Prozess 71 Mit dieser Beobachtung soll keinesfalls der Mythos der angeblichen Passivität jüdischer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung antizipiert oder gestützt werden. Stattdessen schließen wir uns Dominique Schröder (2020: 78–79) an: »Juden [waren] während der Shoah keineswegs nur […] passive Opfer und damit Objekte der Vernichtung […], sondern auch und gerade vor der Historiographie […] eigenständige Akteure.« Sprachlosigkeit und »Sprachzertrümmerung« werden so als Ergebnisse des enormen physischen wie psychischen Aufwandes interpretiert, schreibend gegen eine bzw. in einer Welt kommunikativ zu agieren, die den eigenen Tod forciert.

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Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz

der Abgrenzung vom herrschenden Diskurs durchmachen, der durch Bezüge auf eigene Gefährdungen und kollektive (deutsche) Schuld bzw. Verschuldung geprägt ist. Widerständische Tagebuchschreiber zeichnen sich schließlich insbesondere durch ein Reflektieren der eigenen Positionierung im Widerstand auf der einen Seite und eine zum Teil erst im Rahmen eines längeren Prozesses vollzogenen Abgrenzung gegenüber dem nationalsozialistischen Diskurs auf der anderen Seite aus, die oft mit Verweisen auf die moralische Pflicht oder Verantwortung zum Widerstehen konstituiert wird. Insgesamt sei als Fazit festgehalten, dass die veränderten Lebensbedingungen in der NS-Diktatur die zwangsläufige Neuausrichtung, eine Notwendigkeit der Selbstverortung und Reflexion hervorrief, die sich im Medium des Tagebuchs bzw. der kommunikativen Praxis des Tagebuch Schreibens unmittelbar kanalisierte und diese Textsorte zu einer der zentralen für die Beschreibung einer sprachlichen Sozialgeschichte 1933 bis 1945 werden lässt.

Quellen Goebbels, Josef (1993–2004) [1923–1945]: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hg. von Elke Fröhlich, München: Saur. Hassell, Ulrich von (1988) [1938–1944]: Die Hassell-Tagebücher 1938–1944. Ulrich von Hassell. Aufzeichnungen vom Anderen Deutschland, München: Siedler. [TB H] Kaiser, Hermann (2010) [1941–1943]: Mut zum Bekenntnis. Die geheimen Tagebücher des Hauptmanns Hermann Kaiser 1941/1943, Berlin: Lukas [TB K] Kellner, Friedrich (2011): Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne. Tagebücher 1939–1945, Göttingen: Wallstein. Klemperer, Victor (1995) [1933–1945]: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941. Tagebücher 1942–1945. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin: Aufbau. Müller-Hill, Werner Otto (2012) [1944–1945]: »Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert«. Das Kriegstagebuch eines deutschen Heeresrichters 1944/45, München: Siedler. [TB MH] Nathorff, Hertha (2010): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945, Frankfurt am Main: Fischer. Rosenberg, Alfred (2015) [1934–1944]: Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt am Main. [TB AR] Rosenfeld, Oskar (1994) [1942–1944]: Wozu noch Welt. Aufzeichnungen aus dem Getto Lodz, Frankfurt am Main: Neue Kritik [TB R] Selbmann, Fritz (1947) [1933–1935]: Reden und Tagebuchblätter 1933–1947, Berlin: Voco. [TB S] Walb, Lore (1997) [1933–1945]: Ich, die Alte – ich, die Junge. Konfrontation mit meinen Tagebüchern 1933–1945, Berlin: Aufbau.

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Mark Dang-Anh / Stefan Scholl / Britt-Marie Schuster

Brief

1 Einleitung 1.1 Kennzeichen der Kommunikationsform »Brief« und typische Ausformungen 1.2 Briefkommunikation im Nationalsozialismus: Analyseperspektiven 2 Eingaben an Parteiinstanzen und Behörden 2.1 Einleitung 2.2 Zur Geschichte der Textsorte 2.3 Akteure 2.4 Typische Sprachhandlungsmuster anhand ausgewählter Beispiele 2.4.1 Bittschreiben 2.4.1.1 Integrierte Gesellschaft 2.4.1.1.1 Identitäten und Beziehungen konstituieren 2.4.1.1.2 Argumentieren 2.4.1.1.3 Bitten 2.4.1.2 Ausgeschlossene 2.4.1.2.1 De-Identifizieren als Argumentieren 2.4.2 Huldigungsschreiben 2.4.2.1 Gefühle äußern 2.4.2.2 Aneignen 2.4.3 Denunziationsschreiben 2.4.3.1 Anzeigen 2.4.3.2 Sich selbst ausweisen und andere diskreditieren 2.5 Fazit 3 Feldpostbriefkommunikation im Zweiten Weltkrieg 3.1 Linguistische Forschung zu Feldpostbriefen 3.2 Feldpost: Akteure und Praktik 3.2.1 Akteure: Soldaten und ihre Angehörigen 3.2.2 Adressieren: Eine standardisierte Fundamentalpraktik der Briefkommunikation 3.3 Praktiken der Feldpostbriefkommunikation eines Ehepaares 3.3.1 Feldpostbriefkommunikation metapragmatisch organisieren 3.3.2 Kleine gemeinsame Geschichte(n): Die Praktik des Erzählens 3.3.3 Zur großen Erzählung: Positionieren 3.3.4 Briefe auf Adressat*innen zuschneiden 3.4 Fazit

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4 Haftbriefe aus dem Widerstand 4.1 Akteure 4.2 »Interimsbriefe« aus der Haft: Bedingungen und Voraussetzungen 4.3 Beziehungskommunikation in der Haft: Typische Sprachhandlungen 4.3.1 Anreden und Verabschieden 4.3.2 Sorgen artikulieren, Mut zusprechen und danken 4.3.3 Charakterisieren und Schildern 4.3.4 Zum sprachlichen Umgang mit Angst, Trauer und Reue 4.4 Sich selbst zum Nationalsozialismus positionieren (Helmuth James von Moltke) 4.5 Fazit 5 Briefkommunikation im Nationalsozialismus: Ein Gesamtfazit Quellen

1

Einleitung

Der folgende Beitrag untersucht Briefe aus der Zeitspanne des Nationalsozialismus, die von unterschiedlichen Akteur*innen in unterschiedlichen Beteiligungsrollen verfasst worden sind. Es handelt sich um von Soldaten und ihren Angehörigen verfasste Feldpost-, um von Gegner*innen des Nationalsozialismus geschriebene Haftbriefe sowie um Eingaben an Staats- und Parteiinstanzen, die Teil des institutionellen Briefverkehrs sind. Alle diese Formen des Briefschreibens besitzen eine längere Tradition. Ihre Nutzung während der NS-Zeit ist jedoch durch spezifische Ausprägungen gekennzeichnet, die in den jeweiligen Abschnitten beleuchtet werden. Zunächst wird die Kommunikationsform »Brief« skizziert und zwei prototypische Realisationsformen von Briefen hinsichtlich ihres funktionalen und sprachlichen Profils voneinander abgegrenzt (vgl. 1.1). Die in diesen Unterabschnitten geleistete Profilierung aus einer ebenso textlinguistischen wie soziopragmatischen Perspektive führt nachfolgend zu den Analysegesichtspunkten, unter denen wir Briefe aus dem Nationalsozialismus betrachten (vgl. 1.2).

1.1

Kennzeichen der Kommunikationsform »Brief« und typische Ausformungen

Für die Kommunikationsform »Brief« ist charakteristisch, dass mit ihr die unterschiedlichsten Zwecke verfolgt und erfüllt werden können. Sie ist medial schriftlich und teilt mit Formen der Textkommunikation (i. S. v. Hausendorf et al. 2017) die nicht-vorhandene Kopräsenz der Kommunizierenden, die Entkoppelung von einem gemeinsamen Wahrnehmungs- und Handlungsraum sowie die Unmöglichkeit, direkt auf Geäußertes zu reagieren. Allerdings lassen sich Briefe

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Brief

als bevorzugtes Mittel der interpersonellen Kommunikation deuten, denn für nahezu alle brieflichen Erzeugnisse sind Handlungen charakteristisch, die auf die sprachliche Sichtbarmachung und Konstitution des*der Verfasser*in sowie des*der Adressat*in zielen. Nach Ehlich (2014: 24) dient dies der Kompensation für den »Verlust der kommunikativen Vergewisserung«, die in der mündlichen Interaktion gegeben sei. Mit den zumeist notwendigen Handlungen des Identifizierens und Adressierens, für die sich jeweils musterhafte Realisierungen (etwa Grußformeln, Befindensformeln) herausgebildet haben, werden soziale Beziehungen gestaltet. Die sprachliche Gestaltung trägt dabei sowohl dem spezifischen situativen Kontext und der gemeinsamen Kommunikationsgeschichte als auch sozialen Konventionen Rechnung (bspw. in Hinsicht auf die Integration des neuartigen ›Deutschen Grußes‹, vgl. Ehlers 2012). Ebenso ist für den Brief charakteristisch, dass der*die Schreibende mittels Angaben zum Aufenthaltsort und mittels des Datierens seine*ihre Sprecher-Origo temporal und lokal bestimmt (vgl. Schuster 2020: 20–30). Briefe haben (zumeist) ein identifizierbares Anliegen (ein Wozu), besitzen eine »pragmatische Nützlichkeit« (Hausendorf et al. 2017: 229–271) und (zumeist) eines oder mehrere Themen (ein Was) – diese tragen zur Ausdifferenzierung von Briefsorten bei. Es lassen sich zwei prototypische Realisierungsformen von Briefen unterscheiden, die ihrerseits mit einer großen Bandbreite von Briefsorten verbunden sind und unterschiedliche Traditionslinien ausgebildet haben: Briefe dienen zum einen der Etablierung, Aufrechterhaltung und Weiterführung privater, etwa familiärer, freundschaftlicher oder Paarkommunikation, zum anderen gehören sie der institutionellen Kommunikation an. In der ersten Variante wird die Möglichkeit genutzt, insbesondere mittels Briefwechseln, einen Dialog zu initiieren und fortzusetzen. Diese Form der Briefkommunikation steht in der langen Tradition, Briefe als schriftliche Gespräche aufzufassen und entsprechend zu gebrauchen. Sie entfaltet sich entlang der die Kommunikationsform prägenden Handlungen, tendiert zu einer typischen Sequenzierung aufeinander bezogener Handlungen (etwa Frage nach dem Befinden und Beantwortung dieser Frage) und nutzt ebenso beziehungskonstituierende sprachliche Einheiten (etwa Kosenamen) wie Merkmale des Dialogischen, die vom Gebrauch von Responsivpartikeln wie ja bis hin zur elaborierteren Formen des Handlungsmusters »Dialogisieren« (Sandig 22006: 212–215) wie der erlebten Rede reichen. Das Dialogisieren, in allen seinen Facetten und Ausdrucksformen, ist auch ein Produkt einer Entwicklung, in der sich die Briefrhetorik (i. S. der Ars dictandi) hin zu einem auf möglichst große Authentizität zielenden »natürlichen Stil« entwickelt (vgl. zur Briefrhetorik: Till 2020), wie er etwa von Gellert (vgl. Gellert 1751) vertreten wird, der vom Brief eine »freye Nachahmung des guten Gesprächs« (ebd.: 3) fordert. Das gute Gespräch ist, wie Gellert (ebd.) betont, nicht das umgangssprachliche, alltägliche Gespräch. Dieser

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Briefstil ist als genuin schriftsprachliche Ausformung von Nähekommunikation zu verstehen. Da in der Privatsphäre zumeist bestimmte Beziehungen (bspw. Paarkommunikation) konstituiert werden, lassen sich darüber hinaus weitere Handlungen, die auf die spezifische Funktionalität des Briefes hinweisen, ermitteln, wie etwa das Bekunden von Liebe in einem Liebesbrief. Die briefübergreifende Beziehungskommunikation zeigt sich v. a. daran, dass eine reziproke Zuweisung von Kategorien erfolgt und Perspektiven einander angeglichen werden, was sich auch auf eine gemeinsame Weltdeutung erstrecken kann. Derartige Briefe sind zwar individuell verantwortet und werden als Beitrag zu einer spezifischen Beziehung verstanden, jedoch erweisen sich charakteristische Handlungen als musterhaft geprägt. Wenngleich diese Briefe Formen des Dialogischen aufweisen, so zeigen sich mit brieflichen ›Selbstäußerungen‹ Bezüge zur eigenen Vergangenheit und – seltener – Zukunft. Sie enthalten entsprechend Formen des Narrativen, die von kurzen episodischen Schilderungen bis zu Alltagserzählungen reichen (vgl. grundlegend zur Narratologie des Briefs: Strobel 2020). Grundsätzlich lassen sich Privatbriefe als ein über unterschiedliche Briefe erstreckendes, ›zerdehntes‹ Miteinander-Handeln vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Kommunikationsgeschichte, zeitgenössischen Briefkonventionen und einer soziokulturellen Bindung verstehen. Insbesondere in der historischen Kulturlinguistik (vgl. Linke 2018) und Kommunikationsgeschichte (vgl. Schröter/Linke 2019) wird der (Privat)Brief und seine einzelnen Bestandteile genutzt, um der historisch variablen Herstellung von Identität, Beziehung und Welt nachzugehen. Die typischen Briefhandlungen werden nicht vorrangig hinsichtlich ihres briefsortenkonstituierenden Anteils betrachtet, sondern hinsichtlich ihrer Signifikanz für soziale Formationen. Die Gestaltung zentraler Briefbestandteile, etwa Briefschlüsse, wird als Indikator für soziokulturellen Wandel, für ein anderes Verständnis von Zeit, Mobilität und von Beziehungskonzeptionen ausgewiesen (vgl. Schröter 2016). Anreden, Selbst- und Fremdkategorisierungen, die Positionierungen zueinander und die Zuschreibungen von Eigenschaften (vgl. Nevala 2011; Sobotta 2008) erschließen mithin eine (gender-/sozio-)kulturelle Praxis. Der institutionelle Briefverkehr, was sowohl die von einer gesellschaftlichen Institution oder Unternehmung ausgehende als auch an sie gerichtete Kommunikate meint, bestimmt sich wesentlich durch spezifische kommunikative Aufgaben, die eng an institutionelle, geschäftsmäßige Verfahrensläufe gebunden sind und für die zumeist Textmuster zur Verfügung stehen. Im Gegensatz zur eher privaten interpersonellen Kommunikation ist von an eine Institution Schreibenden zumeist gefordert, sich gemäß institutionell geforderter oder zumindest nahegelegter sozialer Rollen zu verhalten und sich, um erfolgversprechend kommunizieren zu können, an schon etablierten Textmustern zu orientieren. Die Wirkmächtigkeit von Textmustern der institutionellen Kommuni-

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Brief

kation konnte in der Sprachgeschichte, besonders in der historischen Soziolinguistik wiederholt nachgewiesen werden (vgl. Hünecke 2010; 2012). Sofern sich überhaupt ein briefübergreifender Dialog zwischen den Kommunikationspartner*innen ergibt, steht nicht das Aufrechterhalten einer spezifischen Beziehungsqualität, sondern eine auf das Anliegen bezogene Vertextung im Vordergrund. Institutionelle Kommunikation ist prototypisch mit Realisierungsformen von Distanzschriftlichkeit verbunden. Allerdings finden sich in der institutionellen Kommunikationspraxis vielfältige Übergänge zwischen Nähe- und Distanzkommunikation, die auch durch die Offenheit der charakteristischen Textmuster zu erklären sind: So ermöglicht etwa die für Bittbriefe charakteristische Narratio eine Vielzahl von auch expressiv zu verstehenden Selbstpositionierungen, wenngleich diese lange Zeit nicht als konventionell zu erachten sind und etwa Höflichkeitsidealen zuwiderlaufen. Sowohl bei privater als auch institutioneller Kommunikation zeigt sich, dass es unerlässlich ist, Briefe sowohl vor dem Horizont ihrer diversen Traditionsanschlüsse als auch vor dem Horizont eines spezifischen gesellschaftlichen Kontextes, der dem Brief nichts Äußeres ist, sondern sich in ihm zeigt, zu begreifen.

1.2

Briefkommunikation im Nationalsozialismus: Analyseperspektiven

Briefe wurden auch im Nationalsozialismus in unterschiedlichen Kommunikationsdomänen millionenfach geschrieben und liegen teilweise in einschlägigen Sammlungen vor (vgl. etwa Eberle 2007; Buchbender/Sterz 1982). Es stehen im Folgenden Briefsorten im Vordergrund, die in unterschiedlichen Hinsichten auf eine spezifische, nicht auf den Nationalsozialismus beschränkte, jedoch für die Zeitspanne charakteristische Nutzung von Briefen zielen; die ausgewählten Briefsorten begreifen wir also als charakteristisch für den ›kommunikativen Haushalt‹ im Nationalsozialismus. Bei ihrer Auswahl wurden unterschiedliche Beteiligungsrollen in der nationalsozialistischen Kommunikationsgemeinschaft berücksichtigt. Nicht in der Auswahl berücksichtigt wurde private, d. h. nicht-institutionelle, Briefkommunikation zwischen Familienangehörigen, Freund*innen und Bekannten außerhalb des Kriegs- oder Gefängniskontextes. Es werden Briefe thematisiert, die an unterschiedliche Instanzen des NSStaates gerichtet worden sind und damit der institutionellen Kommunikation zugehörig sind und an denen sich nachvollziehen lässt, inwieweit sich die schriftsprachliche Praktik des Bittens im NS-Staat verändert bzw. das Textmuster »Bittbrief« anverwandelt wird (vgl. 2.4.1). Ferner werden Huldigungsschreiben an Hitler thematisiert, die sowohl als eine besondere Form der interpersonellen Beziehungskommunikation gelten können, als auch das schriftsprachliche Pendant des öffentlich inszenierten Führerkultes sind (vgl. 2.4.2). Ideologische

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Positionierungen werden darüber hinaus besonders an Denunziationsschreiben deutlich (vgl. 2.4.3). Ein weiterer Abschnitt (vgl. 3) widmet sich der Feldpostbriefkommunikation aus dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel des Briefwechsels eines Ehepaars, Agnes und Albert Neuhaus, und hebt die Bedeutung einer staatlich regulierten Briefpraxis für die Privatbriefkommunikation heraus. Auf den Feldpostbriefen liegt zudem die Last, Beziehungen aufrechterhalten und Anschluss an die jeweilige Lebenswirklichkeit finden zu müssen, wobei v. a. small stories eine tragende Rolle spielen. Ein weiterer Abschnitt (vgl. 4) widmet sich offiziellen Gefängnisbriefen und Kassibern von Personen, die dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zugerechnet werden. Es handelt sich um z. T. sehr umfangreiche Briefwechsel, die angesichts des nahenden eigenen Todes oder zumindest angesichts einer längeren Inhaftierung geschrieben worden sind (zu Abschiedsbriefen vgl. Schuster 2014). Die Briefkommunikation ist, sofern sie nicht mittels Kassibern erfolgt, stark reglementiert. Dennoch bietet die Briefkommunikation mit einem vertrauten Menschen einen wesentlichen Anker, um die Haftbedingungen zu ertragen und sich auf anstehende Prozesse vorzubereiten. Ferner zeigen inoffizielle Briefe nicht nur die tatsächlichen Haftbedingungen, sondern auch das widerständige Selbst-, Fremd- und Weltverständnis. In allen drei Abschnitten wird analysiert, wie die Verfasser*innen in der einen oder anderen Form den jeweiligen Rahmenbedingungen Rechnung tragen und sie in Briefen kontextualisieren. Je nachdem, wozu ein Brief geschrieben wird und welchen Entstehenskontext dieser aufscheinen lässt, werden alle Ebenen berücksichtigt, auf denen die textliche Briefkommunikation im Wesentlichen beruht: (a) die den Brief (als Kommunikationsform) prägenden Handlungen (Anreden, sich selbst identifizieren, begrüßen, enden etc.); (b) die Handlungen, die (potentiell) erkennen lassen, wozu der Brief geschrieben worden ist; (c) die Handlungsmuster, die dieses Wozu legitimieren und diesem einen sozialen Sinn verleihen und (d) die relevanten Themen der Briefe. Zentral ist, welches Selbstverständnis ein*e Verfasser*in entwirft und wie sich Verfasser*innen gegenüber anderen positionieren und diese darstellen. Die Untersuchung der sprachlichen Gestaltung erlaubt ferner die Sichtbarmachung von Perspektiven auf Welt, den der*die Handelnde besitzt. Gerade für die ›private‹ Briefkommunikation (Feldpost, Haft) ist das Verhältnis zwischen Akkomodation (an die jeweilige Situation) und das Fortschreiben einer gemeinsamen Kommunikations- und Beziehungsgeschichte wichtig. Die Bindung an Textmuster zeigt sich v. a. in der institutionellen Briefkommunikation und führt zu einer erwartbaren Handlungsabfolge (bzw. zu kommunikativen Aufgaben, die in einer bestimmten Form zu erledigen sind), die ihrerseits Garant dafür ist, dass etwas verstanden und vor allem akzeptiert wird. Das Motivieren/Begründen einer Bitte etwa gibt Einblick in die von einem*einer Schreibenden als funktional erachteten Argumentationstopoi,

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Brief

einschließlich der in irgendeiner Form ›einklagbaren‹ sozialen Standards und Normalitätserwartungen. Der im Folgenden vorgestellte Zugriff auf die Briefkommunikation im Nationalsozialismus berücksichtigt also das Verhältnis zwischen Briefverfasser*in und Adressat*in und ihre, zumeist aus dem Kommunikat selbst ersichtliche, private oder institutionelle Beziehung, die sich entlang von Handlungen, Handlungsmustern und stilistischen Verfahren entfaltet, die für die Kommunikationsform »Brief« als typisch erachtet werden können. Die sprachliche Gestaltung wird also in Hinsicht auf unterschiedliche Kontextualisierungspotentiale – Briefsorte, Selbst-/Rollenverständnis, Situationstypik sowie Diskursgebundenheit – gelesen.

2

Eingaben an Parteiinstanzen und Behörden

2.1

Einleitung

Eine zentrale Textsorte, die Informationen über individuelle Aufnahmen, Aneignungen und Ausprägungen nationalsozialistischer Diskurse und Sprachelemente liefert, ist die jener Briefe, die von einzelnen Personen aus der Bevölkerung an offizielle Instanzen des Partei- und Staatsapparates geschickt wurden.1 Dies geschah massenhaft: Der Historiker Stephan Merl geht davon aus, »dass jährlich über eine Million Briefe an Hitler selbst, die Reichskanzlei, zentrale Zeitungen wie den ›Völkischen Beobachter‹ oder an Gau- und Kreisleiter gerichtet wurden« (Merl 2012: 86). Auch der NS-Forscher Robert Gellately hat wiederholt darauf hingewiesen, dass »das Briefschreiben an ›die Behörden‹« im nationalsozialistischen Deutschland »zu einer beliebten Form staatsbürgerlicher Betätigung« wurde (Gellately 2002: 278). Dass die Mehrheit der Bevölkerung dem NS-Regime sprachlos gegenüberstand oder sich nicht traute, kommunikativ mit diesem zu interagieren, lässt sich also keineswegs behaupten. Ähnlich wie in vorausgehenden und nachfolgenden Zeiten nutzten die Bürgerinnen und Bürger den brieflichen Kommunikationsweg, um Wünsche oder Beschwerden zu äußern, um Gefallen zu bitten, auf Missstände hinzuweisen oder ihre Loyalität kundzutun. Die Sprachwissenschaftlerin Geraldine Horan (2014: 55) hebt den partizipatorischen und performativen Charakter hervor, der sich sprachlich in den an offizielle Stellen gerichteten Briefen während des Nationalsozialismus manifestierte: 1 In der deutschsprachigen Forschung hat sich hierfür die übergreifende Bezeichnung »Eingaben« etabliert, im Englischen wird eher von »petitions« gesprochen.

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The number of letters written by the population and the instrumentalization of National Socialist language to express loyalty and/or to ask for help, or even complain, would seem to suggest that many individuals felt that they were entitled to participate, imitate, or be innovative within the discursive context. What the letters demonstrate is a shift in the role and function of National Socialist language from a group discourse, in competition with other interlinking and opposing discourses, to one that had general, prescriptive currency.

Ein zentraler Aspekt des in Briefen an offizielle Stellen aufzufindenden Sprachgebrauchs wird damit bereits angedeutet, nämlich die Verwendung ideologisch konnotierter Ausdrücke und Argumentationsweisen sowie die Übernahme nationalsozialistischer Positionierungsangebote. Zu ergänzen ist an dieser Stelle allerdings, dass oppositionelle oder Gegendiskurse in der brieflichen Kommunikation der Bevölkerung mit Instanzen des NS-Regimes nicht gänzlich verschwanden, sondern in manchen Fällen durchaus zur alternativen Kennzeichnung der eigenen Position verwendet wurden. Von den Anliegen der Schreibenden aus betrachtet, fallen in die Kategorie der Eingaben an Behörden oder Parteiinstanzen recht heterogene Untersorten wie Bittgesuche, Beschwerdeschreiben, Huldigungsbriefe oder Denunziationsschreiben.2 Ihr gemeinsames Kennzeichen ist eine Kommunikationssituation, in der einzelne Menschen mit einem Anliegen an eine offizielle Stelle herantraten – sei es ein Kreisleiter der Partei, eine städtische Behörde, ein Ministerium oder eine Parteizeitung – und dabei versuchen mussten, sich selbst zu legitimieren und ihr Anliegen zu plausibilisieren. In dieser gemeinsamen Ausrichtung unterscheiden sie sich von anderen Briefsorten, speziell dem brieflichen Austausch zwischen Privatpersonen, Freunden und Familienangehörigen. Während jedes einzelne Schreiben als individuelles Dokument betrachtet werden kann, liegt der Erkenntniswert dieser Textsorte sprachgeschichtlich darin, dass die Schreiben archivalisch in hoher Quantität vorliegen und damit Aussagen über bestimmte überindividuelle Sprachgebrauchsmuster zulassen. Für die zentrale Fragestellung einer Sprachgeschichte des Nationalsozialismus nach Übernahmen, Aneignungen und Modifizierungen eines (vermeintlichen) NS-Sprachgebrauchs ist diese Textsorte gerade deswegen zentral, weil angenommen werden kann, dass diejenigen Menschen, die offizielle Instanzen mit ihren Anliegen adressierten, besondere Sorgfalt auf ihre sprachlichen Erzeugnisse legten. Ihre Schreiben zeigen mithin, wie sie versuchten, ›im Diskurs‹ zu sein und wie sie in diesem Zuge den politischen Kommunikations- und Diskursraum während des Nationalsozialismus sprachlich mitkonstituierten. 2 Lediglich für die Gruppe der Denunziationsschreiben existieren bisher ausführlichere Studien, vgl. Diewald-Kerkmann 1994; Thonfeld 2003; Dördelmann 1997; Gellately 2001. Die sprachliche Ebene findet allerdings bisher noch keine ausreichende Beachtung. Vgl. als Überlegung hierzu Wells 1999.

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Brief

2.2

Zur Geschichte der Textsorte

Als teils verrechtlichte soziale Praxis lässt sich das Verfassen von Eingaben als Textsorte der Kommunikation zwischen Bevölkerung und Herrschenden bis in Antike und Mittelalter zurückverfolgen: »›Protestatio‹, ›petitio‹ oder ›supplicatio‹ waren in deutschen Landen seit Jahrhunderten geläufige Untertanenrechte« (Tenfelde/Trischler 1986: 11).3 Während der Epoche der Konstitutionalisierung im 19. Jahrhundert traten die parlamentarischen Volksvertretungen als wichtiger Adressat von Eingaben neben fürstliche und kirchliche Obrigkeiten. Nachdem das Petitionsrecht bereits während des 19. Jahrhunderts in die Verfassungen mehrerer deutscher Länder Eingang gefunden hatte, gestattete schließlich die Weimarer Reichsverfassung von 1919, die formal auch während des nationalsozialistischen Regimes fortexistierte, jedem Deutschen, »sich schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständige Behörde oder an die Volksvertretung zu wenden. Dieses Recht kann sowohl von einzelnen als auch von mehreren gemeinsam ausgeübt werden.« Bereits im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts nutzten viele Personen, darunter auch Angehörige ärmerer Schichten, die Gelegenheit, sowohl lokale Behörden als auch Obrigkeiten und Volksvertretungen mit ihren Sorgen und Nöten, Wünschen, Bitten und Beschwerden zu adressieren (vgl. Gestrich 2017; Hämmerle 2003; Voss 2001; Karweick 1989). So wird beispielsweise für Preußen konstatiert, dass schon zur Zeit des aufgeklärten Absolutismus »die Untertanen […] oftmals ein sehr klares Bewusstsein über ihr Beschwerderecht [hatten], von dem allen Anschein nach nicht selten Gebrauch gemacht wurde« (Karweick 1989: 77). Für die Weimarer Republik als Phase politisch-kultureller Sozialisation, die der hier interessierenden unmittelbar vorausging, ist anzunehmen, dass die etablierten Eingabewege sich mit der Auffächerung des Parteien- und Behördensystems noch multiplizierten. Zumindest für das Wohlfahrtswesen der 1920er Jahre hat der Historiker David Crew gezeigt, wie selbstbewusst Empfänger*innen von Unterstützung ihre teils neu erworbenen Rechte gegenüber den Ämtern in Eingaben geltend machten (Crew 1998). Textsortenspezifisch ist vor allem für die Phase vor der durchgreifenden Alphabetisierung der Bevölkerung darauf hinzuweisen, dass oftmals ›professionelle‹ Schreiber engagiert wurden, um Briefe aufzusetzen. Im hier interessierenden Zeitraum des NS-Regimes spielte dies jedoch fast keine Rolle mehr. Allerdings waren im Zuge der Popularisierung der Textsorte Brief seit dem 17. Jahrhundert zahlreiche »Briefsteller« erschienen, in die nach und nach auch Musterbriefe an Behörden und staatliche Instanzen aufgenommen wurden, so3 Vgl. allgemein zur Geschichte des Eingabewesens Hoffmann 1959; Kumpf 1983; Nubola/ Würgler 2005; Mühlberg 2004: 30–42.

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dass von einer formalen und stilistischen Typisierung dieser Textsorte gesprochen werden kann (vgl. Ettl 1984; Antes 2016; Furger 2010). Orientiert an antiken Vorbildern sahen die Musterentwürfe in der Regel eine salutatio (Begrüßung) vor, gefolgt von einer captatio benevolentiae (Wegbereitung des Anliegens), narratio (Anliegen, Bericht) und petitio (Bitte, ggf. mit Zusage des Dankes) sowie einer abschließenden conclusio (Schlussformeln) (vgl. Fenske 2013: 78f.; Brüggemann 1968). Zum typischen Inventar von Eingaben gehörten ferner sprachliche Gesten der Adressatenüberhöhung und Ehrerbietung sowie ausführliche Passagen der Selbstdarstellung sowie die Verwendung herrschaftssprachlichen Vokabulars (vgl. Gestrich 2017). Ebenso ließen die schriftlichen Eingaben aber auch stets Raum für individuelle Ausformungen, Missstände anzusprechen oder Beschwerden vorzubringen. Empirisch haben wir es mithin stets mit einer Mischung aus formalen Schreibkonventionen und individuell-kreativen sprachlichen Ausprägungen zu tun, die wiederum im Zusammenhang mit zeitgenössischen Diskursen stehen, das heißt diese adaptieren, sich in sie einschreiben, sie modifizieren oder negieren. Angesichts der hier skizzierten gesellschaftlichen Etabliertheit der Textsorte ist zusammenfassend davon auszugehen, dass weite Teile der Bevölkerung während des Nationalsozialismus ein politisch-kulturelles Bewusstsein davon besaßen, dass sie die Möglichkeit und das Recht hatten, Eingaben an staatliche Instanzen zu richten, und dass sie zudem über bestimmte Vorstellungen darüber verfügten, wie dies sprachlich zu bewerkstelligen war.

2.3

Akteure

Im Allgemeinen handelte es sich bei den Eingaben, die an Behörden, Staats- und Parteistellen gerichtet wurden, um schriftliche Kommunikate, die postalisch von einem Verfasser oder einer Verfasserin an einen oder mehrere Adressaten gerichtet wurden. In manchen Fällen konnte sich daraus eine (zeitverzögerte) dialogische Situation entspannen, wenn die adressierten Stellen antworteten und Schreiben hin- und hergingen. Meistens bestand die Reaktion – sofern überhaupt eine solche erfolgte – jedoch aus standardisierten Antwortschreiben. Grundsätzlich zu beachten ist außerdem, dass wir es mit kommunikativen Konstellationen zu tun haben, die von erheblichen Machtasymmetrien geprägt waren. Dies betrifft speziell solche Schreiben, in denen Bitten oder Beschwerden vorgebracht wurden, die Verfasser*innen also auf Hilfe oder Gehör angewiesen waren. Dass Ego-Erniedrigung und Alter-Erhöhung allgemein ein konstitutives Merkmal von Eingaben in ganz unterschiedlichen Zeiträumen waren, haben mehrere Forschungsbeiträge unterstrichen (Brakensiek 2015: 311; Fenske 2013: 347f.; Grosse 1989: 13). Dabei besitzt die ungleiche Machtverteilung, die zwischen

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Brief

Verfasser*in und Adressat*in funktionell und strukturell gegeben ist, auch eine performative Dimension: Wie die historische Ethnologin Michaela Fenske anhand von Eingaben in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt hat, spielten die medial erzeugten Inszenierungen und Bilder von Herrschaft in den Briefen eine große Rolle, weil sie dort in sprachlich konstituierte Fremd- und Selbstentwürfe übersetzt wurden (Fenske 2013: 342). Dies lässt sich mit Blick auf Eingaben während des Nationalsozialismus bestätigen. Henrik Eberle, Herausgeber einer Edition von Briefen aus der Bevölkerung an Adolf Hitler, hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass sich der propagandistisch kreierte Führerkult in den Zuschriften niederschlug (Eberle 2007: 15). Aber auch in Schreiben an untergeordnete Instanzen finden sich regelmäßig Ehrerbietungsfloskeln, Loyalitätsversicherungen, Mächtigkeitszuschreibungen an die Adressierten sowie vorausgreifende Danksagungen. Die kommunikative Machtasymmetrie kann daher sowohl als Bedingung wie auch als inhaltliches Thema der Schreiben betrachtet werden. Richten wir den Blick auf die Verfasser*innen von Eingaben während des Nationalsozialismus, so ist zu konstatieren, dass diese aus vielen verschiedenen Bevölkerungsschichten und -gruppen stammten. Dies gilt auch angesichts der zentralen rassistisch-biologistischen Unterteilung der nationalsozialistischen Gesellschaft in einen zugehörigen und einen ausgeschlossenen Teil, obgleich hier wichtige Differenzierungen vorzunehmen sind: A) Innerhalb der großen, aber gleichsam heterogenen Gruppe der Integrierten sticht vor allem der Personenkreis der Parteimitglieder der NSDAP und noch spezieller derjenige der ›alten Kämpfer‹ heraus. Aus ihrer langen Anhängerschaft und Unterstützung der nationalsozialistischen ›Bewegung‹ leiteten Angehörige dieser Gruppe besonders hohe Ansprüche und Erwartungen ab, die sie teils recht offensiv und selbstbewusst kommunizierten. Doch auch Nicht-Parteimitglieder, die gleichwohl der rassistisch definierten ›Volksgemeinschaft‹ zugehörten, wandten sich in großer Zahl und mit den verschiedensten Anliegen an Behörden, staatliche Stellen und Parteiinstanzen. Wie der Historiker Moritz Föllmer festgestellt hat, unterstreichen die zahlreichen Schreiben an das Regime das »Streben nach individueller Anerkennung und Unterstützung, auf die man im ›wohlgeordneten Hitlerstaat‹ ein Recht zu haben glaubte« (Föllmer 2013: 40). In diesem Kontext sollte nicht vergessen werden, dass ein erheblicher Teil der Deutschen die nationalsozialistische Partei entweder gewählt hatte oder das Regime zumindest als rechtmäßig anerkannte. Der große Personenkreis, der nicht unmittelbar vom nationalsozialistischen Terror betroffen war und die propagierten Ziele des Regimes zumindest in Teilen begrüßte, brauchte keine Scheu zu haben, sich mit Anliegen, Wünschen und Beschwerden an staatliche und Parteistellen zu wenden. Die geschichtswissenschaftlichen Studien, die hierzu existieren, führen dies an Wohlfahrtsempfänger*innen, weiblichen Kriegshinterbliebenen und

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bäuerlicher Landbevölkerung plastisch vor Augen (Wimmer 2014; Kramer 2011; Kundrus 1997; Blaschke 2018). Wie oben bereits angedeutet, besteht ein zentrales Kennzeichen der Eingaben dieser Akteursgruppe darin, dass sie sich in und durch ihre Schreiben als Zugehörige positionierten, aus dieser Position heraus aber stellenweise auch Dissens markierten.4 B) Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass auch Personen, die aus rassistisch-biologistischen Gründen aus der nationalsozialistischen ›Volksgemeinschaft‹ ausgeschlossen waren oder durch bestimmte Maßnahmen des NSRegimes diskriminiert wurden, Eingaben an Behörden und staatliche Stellen richteten. Dass sie es taten, erklärt sich sowohl aus der oben beschriebenen Etabliertheit dieses Kommunikationswegs als auch aus der Tatsache, dass dieser Schritt für viele Menschen die letzte Möglichkeit darstellte, ihnen widerfahrendes Unrecht abzuwenden oder dagegen zu protestieren. Beschwerde- und Bittgesuchspraktiken jüdischer Deutscher waren in den Vorkriegsjahren ebenso weit verbreitet wie beispielsweise schriftliche Einspruchsversuche von Personen, die von einer Zwangssterilisation bedroht waren (vgl. Pegelow Kaplan 2009; Bock 1986; Braß 2004). In ihren Schreiben entwarfen die aus der ›Volksgemeinschaft‹ Ausgeschlossenen teilweise Alternativdiskurse zu nationalsozialistischen Zuschreibungen – etwa wenn als ›Juden‹ oder ›Mischlinge‹ kategorisierte Personen argumentativ auf ihrem ›Deutsch-Sein‹ beharrten –, zum Teil eigneten sie sich aber auch nationalsozialistische Leitkonzepte an – etwa wenn sie ihren ›Wert‹ für die ›Volksgemeinschaft‹, ihre nationalistische Gesinnung oder ihren ›Willen‹ beteuerten, zum ›Aufbau‹ des ›Dritten Reichs‹ beizutragen. Letztlich gilt für die Akteursgruppe der Ausgeschlossenen aber noch sehr viel stärker als für jene der Integrierten, dass ihre Bitt- und Beschwerdeversuche in den allermeisten Fällen ohne Erfolg blieben. Außerdem ist zu betonen, dass Denunziations- und Huldigungsschreiben in dieser Akteursgruppe selbstverständlich so gut wie nicht vorkamen. Adressiert wurden je nach Schreibanlass verschiedene Ebenen der Partei- und Staatsorganisation, von NSDAP-Kreisleitern und lokalen Behörden über Schriftleitungen von Zeitungen bis hin zu den obersten Ministerien und Hitler selbst. In manchen Fällen lässt sich nachweisen, dass zuerst an untere Instanzen geschrieben wurde, und erst danach, bei Misserfolg oder ausbleibender Antwort, an höhere Stellen. In anderen Fällen wandten sich Schreibende aber auch direkt an ein Ministerium oder an eine der Kanzleien Adolf Hitlers. Oft wurden solche Fälle dann zurück an die lokalen Behörden verwiesen. Ein Unterschied im Sprachgebrauch – etwa: je höher die adressierte Stelle desto ideologiegetränkter die Sprache – lässt sich indes nicht pauschal beobachten.

4 s. den Beitrag ›Sich beschweren‹ in Teil 1.

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Brief

2.4

Typische Sprachhandlungsmuster anhand ausgewählter Beispiele

Den besten Einblick in typische Strukturierungen und Sprachhandlungsmuster der Textsorte »Eingabe« gewähren exemplarisch ausgewählte Beispiele. Im Folgenden werden daher zwei Bittgesuche, ein Huldigungsschreiben und ein Denunziationsschreiben nacheinander vorgestellt.5 Der Fokus liegt dabei auf Sprachhandlungsmustern, die insgesamt für die jeweiligen Typen von Eingaben während des Nationalsozialismus charakteristisch waren. 2.4.1 Bittschreiben 2.4.1.1 Integrierte Gesellschaft Am 1. August 1936 richtete Hans Wagner, Inhaber der Brauerei und Malzfabrik »Zum Wagnerbräu« in München ein Schreiben an einen Pg. L. Mühlberger, in dem er diesen auf die bevorstehende Zwangsversteigerung seines Unternehmens durch die Stadt München hinwies. Wie aus dem Brief hervorgeht, hielt Wagner Mühlberger für eine einflussreiche Person und bat ihn bezüglich der Versteigerung um Fürsprache beim Führer und seinen Getreuesten über den Eingabeweg (HW 1936). Tatsächlich kam Mühlberger diesem Wunsch rasch nach. Am 6. August 1936 sendete er Bittgesuche an den Obersturmführer Adolf Dirr in der Reichskanzlei, an Adolf Hitler (nicht erhalten) sowie an Rudolf Heß, den »Stellvertreter des Führers«.6 Im Folgenden konzentrieren wir uns auf letzteres Schreiben (LM 1936): Pg. L. Mühlberger Blutenburgstr. 12/o An den Stellvertreter des Führers, Pg. Rudolf Heß Reichsminister München – Harlaching

München den 6. August 1936

Stellvertreter des Führers! Der Wunsch der Wagner’schen Geschwister, es möge doch Alles getan werden, ein Unglück und zugleich eine Ungerechtigkeit von fast grenzenlosem Ausmass zu verhüten, berechtigt, an Sie, Stellvertreter des Führers, zu schreiben, wie dies zur gleichen Stunde auch an den Führer selbst geschah. Ich bitte Sie, Stellvertreter des Führers, die Angelegenheit so zu behandeln, wie ein grenzenloses Vertrauen zum Führer und seinen Getreuesten es erwarten lässt. Nichts könnte der Bewegung mehr schaden, als wenn der Eine

5 Zu Beschwerdeschreiben, die hier ausgeklammert bleiben, vgl. ausführlich den Beitrag ›Sich beschweren‹ in Teil 1. 6 Es war durchaus üblich, dass gleich mehrere Instanzen zugleich adressiert wurden.

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oder Andere an führender Stelle seine Macht zu Ungerechtigkeiten gebraucht. Mühen und Sorgen des Führers, seines Stellvertreters und der Getreuesten wären vergeblich, wenn z. B. die Hauptstadt der Bewegung durch eine Massnahme der Stadt München dadurch Schaden leidet, dass der beabsichtigte Schritt gegen den Wagner’schen Besitz von einer gewissen Persönlichkeit inszeniert wurde. Wieso es möglich war, dass der zwar namentlich an dieser Stelle nicht Genannte einen solchen Einfluss ausüben und damit, allerdings durch seine Beeinflussung eine Übereinstimmung seitens anderer Führender erzielen konnte, ist nicht verständlich. Stellvertreter des Führers! Ich weiß, dass, wenn schwerste Momente im Kleinen oder im Großen für die Bewegung herantreten oder im Spiele stehen, Ihnen gegenüber ein durchaus offenes Wort gesprochen werden darf, und dass Sie und Ihr Stab eine vorgetragene Bitte keinesfalls oberflächlich oder gar zurückweisend behandeln. Aus diesem Grunde erklären sich auch meine freimüten [sic] Zeilen und zwar eilbedürftig an Sie gerichtet. Stellvertreter des Führers! Wenn Sie all die Äusserungen wüssten, die mir im Zusammenhang mit der Wagner’schen Angelegenheit Tag für Tag bei den Ortsgruppen des Kreises unterkommen, dann ist gewiß, dass mein Schritt, den ich mit gegenwärtigem Briefe unternehme, nicht verübelt werden kann. Ich tue es aus reinem Pflichtgefühl, denn anders wäre es die Verleugnung des Sozialismus bzw. des Verständnisses hierfür. Viele Tausende von Menschen werden danken, wenn der unglückliche Schritt, der am 4. September begangen werden soll, unterbunden wird. Noch nie haben die Wagner’schen Familienangehörigen jüdische Kapitalien in den Betrieb aufgenommen, jetzt allerdings wären sie gezwungen, diesen widerlichsten Schritt zu tun, was aber eine grenzenlose Schande weniger für die deutsche Familie Wagner wäre als für die Bewegung, weil Letztere mindestens in letzter Stunde daran interessiert sein muss, dies zu verhindern. Ebenso, wie ich draußen allüberall so manchmal eine häßliche Sache höre, höre ich auch Gottlob solche, die von höchstem Lob und Vertrauen für unseren Führer, seinen Stellvertreter und eine gewisse Anzahl Getreuer beglückendes Zeugnis sind. Freilich kann nicht Alles zu unserem Führer und zu Ihnen kommen, wichtige Dinge aber dürfen und müssen an Sie herangetragen werden. In dem heutigen Falle gilt es, dass das Interesse sovieler Tausender, die gleich meiner Meinung sind, beachtet wird und nicht das eines Einzelnen, dessen Machtanwendung einfach unmöglich sein muss. Stellvertreter des Führers! Ich bitte gänzlich unbeteiligt um Ihr beschleunigtes Eingreifen, wofür inniger Dank gesagt sei. Heil unserem Führer und seinem Stellvertreter! gez. Mühlberger

Zu allererst ist zu konstatieren, dass wir es hier mit einem Spezialfall zu tun haben: Der Verfasser (Mühlberger) tritt als Fürsprecher einer anderen Person (Wagner) auf, die ihn zudem vorher dazu aufgefordert hatte, sich per Eingaben an offizielle Stellen zu wenden. Wagners Anliegen, die Abwendung der Zwangsversteigerung seines Unternehmens, macht Mühlberger nun zu seinem eigenen. Trotz den spezifischen Umständen des Zustandekommens lassen sich anhand dieses Beispiels

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zentrale Sprachhandlungsmuster von Bittschreiben während des Nationalsozialismus identifizieren. 2.4.1.1.1 Identitäten und Beziehungen konstituieren Charakteristisch für Bittschreiben war, dass die Schreibenden versuchten, eine Beziehung zwischen sich, ihrem Anliegen und den Adressaten herzustellen und sich und ihr Anliegen darüber zu legitimieren. Sprachlich realisiert wurde dies vor allem in Passagen der Selbst- und Fremdkonstitution. Im vorliegenden Fall fällt auf, dass der Verfasser sich nicht nur als Fürsprecher der Wagner’schen Geschwister darstellt, sondern als ›verantwortungsvoller‹ Nationalsozialist, der um das Ansehen und das Wohl der ›Bewegung‹ besorgt ist. Das unmittelbare Anliegen wird damit in einen größeren Zusammenhang gestellt, er selbst erscheint als engagierter und ergebener Nationalsozialist. Nicht nur weist er sich selbst direkt im Briefkopf als ›Parteigenosse‹ (Pg.) aus, sondern er inszeniert sich zudem als jemand, der aus reinem Pflichtgefühl handelt, und der die Stimmung der Bevölkerung, zumal der nationalsozialistisch gesinnten (bei den Ortsgruppen des Kreises) kennt. Speziell letzterer Aspekt findet sich in vielen Eingaben.7 Im vorliegenden Schreiben kombiniert der Verfasser warnende Andeutungen einer negativen Stimmungslage (Wenn Sie all die Äusserungen wüssten; wie ich draußen allüberall so manchmal eine häßliche Sache höre) mit der Aussicht auf Sympathiebekundungen, sollte seiner Bitte nachgekommen werden (Viele Tausende von Menschen werden danken). Außerdem evoziert er auf diese Weise ein Beziehungsdreieck zwischen der Bevölkerung (als deren Sprachrohr er auftritt), einer dritten, negativ dargestellten Person, die ihren eigenen Machtinteressen folgt, und den verantwortlichen NS-Politikern. Weitere Elemente, mit denen der Verfasser sprachlich seine Affinität zum Nationalsozialismus belegt, umfassen: – die wiederkehrende Wendung (grenzenloses) Vertrauen zum Führer; – die antisemitisch grundierte Passage, die nicht nur Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Judenfeindschaft signalisiert, sondern diesbezüglich einen speziellen moralisch aufgeladenen Wortschatz des Abscheus und Ekels übernimmt (diesen widerlichsten Schritt; grenzenlose Schande), der beispielsweise im »Stürmer« oder dem »Schwarzen Korps« weit verbreitet war; – die Aussage: Ich tue es aus reinem Pflichtgefühl, denn anders wäre es die Verleugnung des Sozialismus bzw. des Verständnisses hierfür. Im Rekurs auf Sozialismus – und nicht etwa Nationalsozialismus – ist eine etwas eigenwillige Aneignung zu erkennen, was aber durchaus charakteristisch für die Textsorte Eingaben ist. Im Bestreben, sich selbst als ›wahre‹ Nationalsozialisten darzustellen, die gemäß nationalsozialistischer ›Prinzipien‹ handelten, griffen viele 7 s. den Beitrag ›Sich beschweren‹ in Teil 1.

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Verfasser*innen auf Leitkonzepte und Schlagwörter nationalsozialistischer Diskurse zurück. Da diese aber selbst polyvalent waren und ausgedeutet werden mussten, führten diese Versuche mitunter zu – aus heutiger Sicht – merkwürdigen Formulierungen; – den Abschiedsgruß, für den nicht lediglich das gängige ›Heil Hitler‹ verwendetet wird, sondern mit Heil unserem Führer und seinem Stellvertreter sowohl eine Loyalitätsausweitung vorgenommen als auch eine Gemeinschaftlichkeit (unserem) hergestellt wird.

2.4.1.1.2 Argumentieren Um die in Eingaben geäußerten Bitten zu plausibilisieren, mussten die Verfasser*innen (mehr oder weniger komplexe) Argumentationsgänge entfalten. Im vorliegenden Schreiben wird mehrfach behauptet – ohne dies konkret zu belegen –, dass der beabsichtigte Schritt gegen den Wagner’schen Besitz von einer gewissen Persönlichkeit inszeniert wurde. Daraus abgeleitet wird die Deutung des Geschehens als Ungerechtigkeit, deren negative Wahrnehmung durch die Bevölkerung der nationalsozialistischen Bewegung insgesamt sowie München, der Hauptstadt der Bewegung, im Speziellen schaden würde. Besondere Brisanz wird dieser Argumentation unter anderem mit dem Indefinitpronomen ›nichts‹ verliehen (Nichts könnte der Bewegung mehr schaden). Daraus leitet sich – erneut unter Verwendung eines Indefinitpronomens sowie einer superlativischen Formulierung – die Forderung ab, es müsse alles getan werden, diese Ungerechtigkeit von fast grenzenlosem Ausmass zu verhüten. Argumentativ wird dieser Appell noch dadurch untermauert, dass Mühlberger im Konjunktiv insinuiert, die Versteigerung des Unternehmens würde die Mühen und Sorgen des Führers, seines Stellvertreters und seiner Getreuesten vergeblich machen. Als weiteres Argument, ebenfalls konjunktivisch vorgetragen, wird angeführt, dass das Unternehmen gezwungen wäre, [ j]üdische Kapitalien aufzunehmen, was wiederum laut Mühlberger dem Ansehen der Bewegung abträglich sein würde. 2.4.1.1.3 Bitten Elementares Sprachhandlungsmuster von Bittschreiben ist das Bitten. Im vorliegenden Fall ist diesbezüglich zum einen die sich wiederholende, exklamative Anrede (Stellvertreter des Führers!) hervorzuheben, die sowohl Dringlichkeit markiert als auch direkte Betroffenheit des Adressaten suggeriert. Zum anderen enthält das Schreiben zwei direkte Satzkonstruktionen mit dem Verb »bitten«. In beiden Fällen wird ein enges Verhältnis zwischen dem Schreibenden (Ich), dem Anliegen sowie dem Adressaten (Sie; Stellvertreter des Führers; Ihr) konstituiert. Auffällig ist zudem, dass in beiden Fällen die Erwartung impliziert ist, dass der

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Bitte nachgekommen wird (wie ein grenzenloses Vertrauen zum Führer und seinen Getreuesten es erwarten lässt; wofür inniger Dank gesagt sei). Dies ist auch für zwei weitere Passagen zu konstatieren, in denen – sozusagen vorgreifend – eine wohlwollende Aufnahme der Bitte präjudiziert wird: In der einen Passage unterstreicht Mühlberger die Wichtigkeit seines Anliegens (wenn schwerste Momente im Kleinen oder im Großen für die Bewegung herantreten oder im Spiele stehen), die allein es erlaube, ein durchaus offenes Wort zu sprechen. Daraus leitet er die Gewissheit bzw. Erwartung ab, dass die vorgetragene Bitte keinesfalls oberflächlich oder gar zurückweisend behandelt werden würde. In der zweiten Passage schließt Mühlberger an den zeitgenössisch weit verbreiteten Topos an, dass der Führer ja nicht alles wissen könne, was im ›Reich‹ vor sich ginge (Freilich kann nicht Alles zu unserem Führer und zu Ihnen kommen), um hiervon ausgehend unter Verwendung einer modalverbialen Dopplung auf die Bedeutung seines Anliegens hinzuweisen (wichtige Dinge aber dürfen und müssen an Sie herangetragen werden). 2.4.1.2 Ausgeschlossene Dass auch viele Menschen, die durch die nationalsozialistische Politik von der ›Volksgemeinschaft‹ ausgeschlossen, stigmatisiert und verfolgt wurden, versuchten, durch Eingaben an offizielle Instanzen etwas an ihrem Schicksal zu ändern, ist vielfach belegt (Pegelow Kaplan 2009; Meyer 1999). Speziell jüdische Deutsche oder als ›Mischlinge‹ kategorisierte Personen versuchten in eigener Sache bei verschiedenen behördlichen Stellen und NS-Politikern zu intervenieren. Das folgende Schreiben dokumentiert einen solchen Fall, wobei es sich hier um einen Spezialfall handelt, da der Verfasser selbst nach eigener Angabe ›arischer‹ Abstammung ist und für seinen ›halbjüdischen‹ Sohn bittet. Insofern zeigt das gewählte Beispiel im Speziellen die Handlungsspielräume ›jüdisch versippter‹ Familien auf (vgl. hierzu Strnad 2021). Im Versuch, nationalsozialistische Kategorisierungen und Stereotype zu unterlaufen und trotz allem Zugehörigkeit zu beanspruchen, ist das Schreiben aber durchaus charakteristisch für viele Eingaben aus der breiteren Akteursgruppe der Ausgeschlossenen: Franz Henk Wuppertal-Elberfeld

Wuppertal-Elberfeld, den 27.5.41 An die Partei-Kanzlei der NSDAP, Berlin

Im Oktober vergangenen Jahres richtete mein Sohn, Hans Joachim Henk, der durch die jüdische Abstammung meiner Ehefrau Halbjude ist, durch die TH in Aachen an den Herrn Reichsminister für Unterricht und Volksbildung ein Gesuch um Zulassung zur Hochschule und Vollendung seines Studiums (Chemie). Er erhielt den Bescheid, daß das Gesuch dem Stellvertreter des Führers zur Entscheidung zugeleitet worden sei. Da eine Entscheidung bisher noch nicht getroffen worden ist, bitte ich, doch bald eine

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Entscheidung herbeiführen zu wollen. Bei der Erwägung bitte ich folgenden Tatbestand nicht unberücksichtigt zu lassen. Die Ehe ist im Jahre 1914, also noch vor dem Ausbruch des Weltkrieges, geschlossen worden. Zu dieser Zeit konnte von einer Aufklärung in der Judenfrage noch nicht gesprochen werden, sodass die Mischehen aus dieser Zeit wohl eine mildere Beurteilung verdienen. Wie aus dem erwähnten Gesuch hervorgeht und durch den beigelegten Militärpass belegt ist, habe ich im Weltkrieg von Dezember 1915 bis Dezember 1918 ununterbrochen als Frontkämpfer an der Westfront gestanden und wurde mit dem EK 2. Klasse und dem Großherzoglichen Hessischen Verdienstkreuz für Tapferkeit ausgezeichnet. Mein Sohn ist durchaus im vaterländischen Sinne erzogen worden, er meldete sich deshalb freiwillig zum Heeresdienst und zum Arbeitsdienst ehe noch eine Dienstpflicht für Mischlinge bestand. Mein Sohn hat dann den Feldzug gegen Polen und gegen Frankreich mitgemacht und wurde nach dem Feldzug gegen Polen zum Obergefreiten ernannt. Mein Sohn hat beim RAD und beim Heer den Eid auf den Führer abgelegt und sich stets so geführt, dass an seiner Treue zum heutigen Staat kein Zweifel möglich ist. Erwähnen möchte ich noch, dass meine Ehefrau, obwohl selbst Jüdin im Sinne der Nürnberger Gesetze, nie marxistischen Gedankengängen folgte, sondern während der ganzen Zeit der Weimarer Republik den Rechtsparteien ihre Stimme gab und bei den Wahlen seit 1932 sogar die NSDAP unterstützte. Hiermit will ich nur sagen, in welchem Sinne mein Sohn erzogen worden ist. Erwähnt sei noch, dass in meinem Hause aus unserer ganzen Einstellung heraus und ganz besonders nachdem durch die NSDAP die Aufklärung über die Judenfrage in breite Kreise des Volkes getragen wurde, keinerlei freundschaftlicher Verkehr mit Juden gepflegt worden ist. Diese Umstände bitte ich bei der Erwägung über die Entscheidung berücksichtigen zu wollen und würde mich über eine baldige Entscheidung freuen. Gleichzeitig bitte ich um Rückgabe der dem Gesuch meines Sohnes beigelegten Unterlagen: Familienstammbuch meiner Eltern mit Nachweisen meiner arischen Abstammung und Militärpaß. Heil Hitler Unterschrift (FH 1941).

2.4.1.2.1 De-Identifizieren als Argumentieren Ähnlich wie im zuvor analysierten Bittgesuch steht auch hier die Konstitution von Identitäten im Mittelpunkt, da sie zugleich die legitime Grundlage des Argumentationsgangs sowie der formulierten Bitte (die Zulassung zur Hochschule) darstellen. Allerdings handelt es sich in diesem Fall um, unter den antisemitischrassistischen Bedingungen des Nationalsozialismus, prekäre Identitäten. Der Verfasser nimmt die sozialen Kategorisierungen, die durch den nationalsozialistischen Diskurs vorgegeben waren, in einem ersten Schritt zur Erörterung der Umstände seines Gesuchs an: Sein Sohn sei durch die jüdische Abstammung [s]einer Ehefrau Halbjude (also Mischling, wie es weiter unten heißt). Diese stigmatisierte Identität macht es seinem Sohn aus ›rassischen‹ Gründen unmöglich, eine vollumfängliche Zugehörigkeit zur ›deutschen Volksgemeinschaft‹ zu behaupten und stellt mithin die gesamte Familie unter Exklusions-

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vorbehalt. Dennoch versucht der Verfasser Loyalität und Affinität der einzelnen Familienmitglieder unter Beweis zu stellen. Dazu nimmt er gängige nationalsozialistische bzw. nationalistische Loyalitäts- und Konformitätskategorien auf und bezieht sie auf seine Familie. Für sich selbst kann er ohnehin eine arische[…] Abstammung vorweisen, was durch die Erwähnung des Familienstammbuchs am Ende des Briefes noch einmal betont wird. Vielleicht noch wichtiger ist allerdings der Hinweis auf seinen Einsatz als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg. Dies war ein immer wieder anzutreffendes Element von Selbstbeschreibungen in Eingaben während des Nationalsozialismus insgesamt, speziell aber in solchen, die von jüdischen Deutschen verfasst wurden. Auch wenn der Verfasser in diesem Fall kein Jude ist, verortet er im Folgenden seinen ›halbjüdischen‹ Sohn in einer männlichen Linie von Kämpfern für das ›Vaterland‹. Durch die dreimalige Wiederholung des Satzanfangs Mein Sohn eingängig markiert, steht danach die Identitätskonstitution des Sohnes im Mittelpunkt. Dieser sei im vaterländischen Sinne erzogen worden, habe freiwillig (und mit militärischer Auszeichnung) Heeres- und Arbeitsdienst absolviert und habe den Eid auf den Führer abgelegt. An seiner Treue zum heutigen Staat sei daher kein Zweifel möglich. Mit diesen Zuschreibungen waren tatsächlich wesentliche Inklusionsanforderungen benannt: gesinnungsmäßige ›Treue‹ zu ›Führer‹ und nationalsozialistischem Staat sowie Bereitschaft zu freiwilligem Einsatz und militärischem Kampf. Da der Verfasser anscheinend die jüdische Abstammung seiner Ehefrau nicht abstreiten kann oder will, versucht er, die gemäß nationalsozialistischen Diskursen und Stereotypen aus dieser Identität entstehenden Zuschreibungen zu entkräften. Durch die Einleitung Erwähnen möchte ich noch als ergänzendes Argument eingeführt, wird konzediert, dass seine Frau selbst Jüdin sei, wobei die Hinzufügung im Sinne der Nürnberger Gesetze bereits eine Differenzierung andeutet. Diese wird im Folgenden unter Zurückweisung antijüdischer Stereotype ausgebreitet: Sie sei nie marxistischen Gedankengängen gefolgt, habe stattdessen stets Rechtsparteien, und einmal sogar die NSDAP gewählt, was sie politisch als Angehörige eines breiter verstandenen deutsch-nationalen Lagers kennzeichnet. Als weiteres Argument dafür (erneut: Erwähnt sei noch), die jüdische Abstammung seiner Frau (und seines Sohnes) nicht zu hoch zu gewichten, macht er geltend, dass die ganze Familie aus eigener Einstellung heraus, aber speziell durch die Aufklärung der NSDAP über die Judenfrage, keinerlei freundschaftliche[n] Verkehr mit Juden gepflegt habe. Der in der antisemitischen Propaganda äußerst präsente Vorwurf der ›Judenfreundschaft‹, der jeden treffen konnte, der persönlichen oder geschäftlichen Kontakt zu jüdischen Deutschen unterhielt, wird ostentativ ausgeräumt, jegliche Verbindung seines Hauses zu Juden abgestritten. In diesen Kontext passt auch sein Hinweis darauf, dass die Ehe schon

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1914 geschlossen worden sei, als ihm zufolge »von einer Aufklärung in der Judenfrage noch nicht gesprochen werden« konnte. Deutlich zeigt sich also in diesem Schreiben, dass der gesamte Argumentationsgang, auf dem die Bitte um Aufnahme zum Studium gründet, aus De-Identifikationshandlungen besteht. Innerhalb dieser Handlungen werden soziale Kategorisierungen bzw. Fremdpositionierungen des herrschenden antisemitischen NS-Diskurses aufgenommen. Allerdings wird zugleich versucht, sie bezogen auf den eigenen Fall zu entkräften. Selbstverständlich soll und darf mit dieser Analyse kein Urteil über Verfasser*innen von Eingaben gefällt werden, die von Exklusions-, Diskriminierungsund Gewaltmaßmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes betroffen waren und versuchten, über den Weg von Eingaben an offizielle Instanzen Milderungen ihres Schicksals zu erwirken. Auch lässt sich nur schwer bestimmen, ob die Schreibenden das, was sie schrieben, auch wirklich so meinten, oder ob sie bestimmte Diskurselemente lediglich aus strategischen Erwägungen benutzten. Die Eingaben aus der Gruppe der Ausgeschlossenen belegen vielmehr, dass diese ihr Schicksal keineswegs ausschließlich passiv hinnahmen und dass Personen aus dieser Akteursgruppe vielfältige Alternativ- und Gegendiskurse entwarfen (vgl. Pegelow Kaplan 2009). Hierbei mussten sie sich zwangsläufig mit den sie stigmatisierenden und exkludierenden offiziellen – jedoch durchaus widersprüchlichen – Positionierungsangeboten auseinandersetzen. Dies lässt sich mithin als Charakteristikum des politischen Kommunikationsraums im Nationalsozialismus bezeichnen. In vielen Fällen wurden diese Fremdpositionierungen verworfen und zurückgewiesen, in anderen umgedeutet oder angeeignet. 2.4.2 Huldigungsschreiben Während Bittschreiben, aber auch Beschwerde- oder Denunziationsschreiben durch ein außerhalb der Schreiben selbst stehendes Anliegen motiviert sind, handelt es sich bei Huldigungsschreiben um eine Sorte von Eingaben, in der es »ausschließlich um die unmittelbare Achtungsbezeugung gegenüber dem Politiker« geht (Fenske 2013: 88). Diese Briefe stehen in einer Tradition der untertänigen Ehrerbietung gegenüber den Herrschenden, die sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt. Speziell in den diktatorischen Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts mit ihrem Führerkult (vgl. für den NS Kershaw 1980) erlangten Huldigungsschreiben eine besondere Bedeutung. Wie der Historiker Henrik Eberle (2007: 15f.) feststellt, belegen die tausendfach verschickten Huldigungsschreiben an Hitler dessen Popularität und Zuspruch in der Bevölkerung: »Die Deutschen sahen in Hitler den neuen ›Messias‹, den ›Erlöser‹, den ›Erretter‹ aus Scham und Schande. Sie begriffen ihn als den Führer, der sie vom tief empfundenen Elend des Versailler Vertrags, dem ›Schandfrieden von 1919‹, zu neuen,

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unerreichten Höhen bringen würde.« Mag diese Interpretation auch zutreffen, erfasst sie mit der Konzentration auf den Führerkult8 nur einen Teil der Bedeutung der Huldigungsschreiben. Denn zugleich, so ist zu ergänzen, konstituierten sich die Schreibenden in ihren Huldigungsbezeugungen auch selbst in ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus bzw. ›ihrem Führer‹. Sie sind also nicht nur Dokumente der Verbreitung des Führerkults, sondern zugleich der individuellen Herstellung von nationalsozialistischer Zugehörigkeit. Das folgende Schreiben macht dies deutlich: An den Führer des deutschen Volkes Adolf Hitler! Diese Zeilen sollen dazu dienen, Ihnen mein Führer, meinen ehrlichsten Dank für das auszudrücken, was Ihr Werk aus mir gemacht hat. Ich war auch einer von denen, die ihr Heil und ihre Rettung vom Kommunismus erwarteten. Von einer Idee, die Menschen schufen, welche zur Geisel [!] der übrigen Menschen geworden sind. Die den Bruderhaß unter die Völker getragen haben um darauf ihre üblen Profite zu schlagen, von denen sie ein Leben führen, welches ihre Fratzen und Gebärden gezeichnet hat, bei derem Anschauen man den aufsteigenden Ekel bekämpfen muß. Brennende Scham erfüllt mich, wenn ich daran denke, daß auch ich einmal zu ihren Vasallen gehört habe, zu Leuten, die bereit waren, für solche Menschen ein Werk zu bekämpfen, welches mir und Millionen meiner Volksgenossen das Leben wiedergegeben hat, das mich herausgehoben hat aus Not und Elend der vergangenen Jahre zu einem würdigen Dasein, dessen größte Pflicht die Arbeit ist. Ich stehe heute mitten drin in dem grossen Schaffen einer neuen Welt, die sich Volksgemeinschaft nennt. Ich darf mithelfen an der Wehrhaftmachung Deutschlands und weiß jetzt, daß nur ein innerlich starkes und wehrhaftes Volk der beste Garant seines eigenen Friedens ist. Durch das Hasten und Wirken des Alltags spüre ich staunend und voll herrlicher Verwunderung das Werden einer neuen Zeit, die nur von erdgebundenen, rassereinen Menschen vertrauend auf ihre starke Führung gelebt werden kann und die durch die Existenz aller lichtscheuen Elemente ausschließen wird [sic]. Ich bin stolz darauf, daß ich mit zu unserer Volksgemeinschaft gehören darf die mich durch die Tat beweisend von dem Wahn geheilt hat, im Kommunismus, der – die Gegenwart beweist es deutlich genug – nur Blut und Chaos kennt, die Rettung und Zukunft des Menschen zu suchen. Das Begreifen Ihrer Idee, Herr Hitler, zeigt mir deutlich genug, daß ich noch viel zu lernen habe um das zu werden, was Sie von jedem Deutschen verlangen können. Ich weiß zwar daß nur wenige Menschen vom Schicksal berufen sind, Leistungen zu vollbringen, die ihren Namen unsterblich in die Geschichte des Volkes einbringen. Aber nichtsdestoweniger will ich mich bemühen, es meinem grossen Vorbild nachzumachen, allen Hindernissen zum Trotz und auch allen denen zum Trotz, die auch heute noch nicht meine politische Vergangenheit vergessen wollen oder können. Ich glaube bestimmt, daß ich noch einmal Gelegenheit haben werde, den Ernst meiner Worte beweisen zu können und in dieser Hoffnung zeichne ich in Ehrfurcht und Dankbarkeit

8 s. den Beitrag ›Führer‹ in Teil 2.

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Heil Hitler gez. Ewald S. Kindelbrink, den 17.I.1937 (ES 1937).

Die Konstitution des nationalsozialistischen, zur ›Volksgemeinschaft‹ zugehörigen und an Hitler glaubenden Selbst erfolgt mittels verschiedener Sprachhandlungsmuster, die es im Folgenden zu identifizieren gilt. Sie sind als typisch für Huldigungsschreiben im Nationalsozialismus anzusehen, wenn sie auch nicht immer in dieser Pointiertheit und Kombination auftreten. 2.4.2.1 Gefühle äußern Kennzeichnend für viele Eingaben, besonders aber für Huldigungsschreiben, war es, dass die Verfasser*innen emotives Vokabular benutzten, um ihre Positionierung mit Gefühlen zu unterlegen und damit zu authentifizieren.9 Im vorliegenden Beispiel werden sowohl positiv besetzte Gefühle (Dank/Dankbarkeit; Ehrfurcht; Ich bin stolz darauf; spüre ich staunend und voll herrlicher Verwunderung) als auch negativ besetzte (Ekel, Scham) benannt. Die Zuteilung dieser Gefühle ist in diesem Fall wiederum eng verbunden mit der Wandlungsgeschichte des Verfassers: Während die negativen Gefühlsäußerungen sich auf seine kommunistische Vergangenheit beziehen, knüpfen sich die positiven Gefühlsbeschreibungen an seine Hinwendung zum Nationalsozialismus. 2.4.2.2 Erzählen Im Kern handelt es sich beim vorliegenden Schreiben um eine Wandlungs- oder Läuterungsgeschichte, die erzählerisch realisiert wird. Folgende Merkmale stechen hierbei hervor: – eine manichäische Aufteilung der (politischen) Welt in einen schlechten Pol des Kommunismus und einen guten Pol des Nationalsozialismus. Damit verbunden sind jeweils hochgradig deontische Zuschreibungen (Bruderhaß; üble Profite; Blut und Chaos vs. würdige[s] Dasein, grosse[s] Schaffen einer neuen Welt; Frieden); – die (durchaus religiös konnotierte) Figur eines Erlösers bzw. Erweckers in Gestalt Adolf Hitlers. Sein Werk bewirkte die Abkehr des Verfassers von den lichtscheuen Elemente[n] und verhalf ihm wieder zu einem würdigen Dasein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang aber auch die Unterwerfungsgeste: Das Begreifen Ihrer Idee, Herr Hitler, zeigt mir deutlich genug, daß ich noch viel zu lernen habe um das zu werden, was Sie von jedem Deutschen verlangen können;

9 s. den Beitrag ›Gefühle äußern‹ in Teil 1.

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– der Schwur des Verfassers in der Abschlusspassage, allen Hindernissen zum Trotz weiter an seiner ›Werdung‹ zu arbeiten und sich für das große Werk einzusetzen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang insgesamt die auffällige Häufung von Ich+Verb-Konstruktionen an Satzanfängen, die signalisieren, dass der Verfasser sich selbstreflexiv mit seiner Rolle beschäftigt hat.

2.4.2.2 Aneignen Mit dieser Erzählung seines persönlichen politischen Wandlungsprozesses adaptierte der Verfasser weit verbreitete nationalsozialistische Narrative, wie jenes der Verführung der Arbeiter durch den Kommunismus, des nationalsozialistischen Kampfes gegen den Bruderhaß oder des Werdens einer neuen Zeit. Darüber hinaus lassen sich im Schreiben weitere typische Konstruktionen und Redewendungen der nationalsozialistischen Propaganda identifizieren, die hier geradezu formelhaft übernommen werden. Neben der Bezeichnung der politischen Maßnahmen Adolf Hitlers als Werk sowie bereits seine Adressierung als Führer des deutschen Volkes sind hier u. a. folgende Stellen aufzuführen: – Die geäußerte Freude über ein Dasein, dessen größte Pflicht die Arbeit ist, verknüpft mit Pflicht und Arbeit gleich zwei nationalsozialistische deontisch markierte Leitkonzepte und wendet sie affirmativ auf das eigene Leben. – Der darauffolgende Satz konkretisiert diese Wendung mit einer Phrase, die erneut mehrere Elemente enthält, die durch den Nationalsozialismus spezifisch aufgeladen wurden (grosse[s] Schaffen einer neuen Welt, Volksgemeinschaft). – Die Wehrhaftmachung Deutschlands, an der der Verfasser mithelfen möchte, war ein zentrales und wiederholt bekundetes Ziel nationalsozialistischer Politik. – Mit der Bekundung, er wisse jetzt, daß nur ein innerlich starkes und wehrhaftes Volk der beste Garant seines eigenen Friedens ist, eignet sich der Verfasser die nationalsozialistische ›Logik‹ an, der zufolge die Wehrhaftmachung des deutschen ›Volkes‹ lediglich dem Erhalt des Friedens diene. – Schließlich enthält auch der Satz Durch das Hasten und Wirken des Alltags spüre ich staunend und voll herrlicher Verwunderung das Werden einer neuen Zeit, die nur von erdgebundenen, rassereinen Menschen vertrauend auf ihre starke Führung gelebt werden kann und die durch die Existenz aller lichtscheuen Elemente ausschließen wird [sic], zentrale Elemente nationalsozialistischer Diskurse: das in Reden und Proklamationen so oft beschworene Werden einer neuen Zeit, den völkisch-rassistischen Rekurs auf erdgebundene [… ], rassereine[…] Menschen, das Vertrauen auf eine starke Führung sowie

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den Wunsch, alle lichtscheuen Elemente – auch das eine gängige nationalsozialistische Bezeichnung für die ausgemachten Feinde – auszuschließen. Durch alle drei, hier lediglich skizzierten, Sprachhandlungen (Gefühle äußern, Erzählen, Aneignen) konstituierte sich der Verfasser des Schreibens als geläuterter, nunmehr voll überzeugter und treuer Anhänger des ›Führers‹ und Nationalsozialist. Der Dank an Adolf Hitler, ihm diesen Weg gewiesen zu haben, geriet also zur affirmativen Selbstpositionierung – ein Aspekt, der für Huldigungsschreiben während des Nationalsozialismus, so unterschiedlich sie auch im Einzelnen sind, übergreifend von zentraler Bedeutung ist. 2.4.3 Denunziationsschreiben Im Vergleich zu Huldigungsschreiben, Bittgesuchen und Beschwerdebriefen wurde Schreiben mit denunziatorischem Charakter bisher die größte Aufmerksamkeit innerhalb der NS-Forschung zuteil. Dabei sind die verschiedenen Typen von Eingaben nicht immer klar voneinander abzugrenzen, denn auch Bittgesuche oder Beschwerdeschreiben konnten denunziatorische Passagen enthalten. Am ehesten lassen sich ›reine‹ Denunziationsschreiben von ihrer elementaren kommunikativen Funktion aus betrachten: Sie wurden freiwillig an Instanzen des Staats-, Partei- oder Polizeiapparats gerichtet, um abweichendes und/oder illegales Verhalten Dritter anzuzeigen (vgl. Fitzpatrick 1997: 85). Kennzeichnend für Schreiben dieser Art war zudem eine »Mischung aus persönlichem Anlass und Verantwortlichkeitsgefühl und überindividuellem, kollektiven Bewusstsein« (Wells 1999: 220), die sich auch auf der sprachlichen Ebene auswirkte. Ohne die in der historischen Forschung vieldiskutierte Frage beantworten zu können und zu wollen, ob Denunziationen primär aus persönlichegoistischen Motiven oder aus ideologischer Überzeugung heraus angefertigt wurden, ist aus sprachanalytischer Sicht zu konstatieren, dass gerade die Notwendigkeit, möglicherweise rein private Motive mit ideologischem Vokabular und NS-konformen Sinngebungen aufzuladen, eine nähere Betrachtung interessant erscheinen lässt. Anhand des folgenden Denunziationsschreibens soll dies veranschaulicht werden: Erlaube mir, auf die angebliche nationale Gesinnung der Frl. Emilie Graf, die Zellenleiterin in der NS-Frauenschaft ist, aufmerksam zu machen. Dieselbe gibt sich als Leiterin des Clubheims in D 3, 2 aus. Daselbst hat sie noch kurz vor der Machtübernahme unseres Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler meiner Braut, die Mitglied der NS-Frauenschaft ist, verboten, das Hakenkreuz zu tragen, ferner hat sie im Februar ds. J. die Jüdinnen Geschw. Baum, Maskenverleih, dahingehend unterstützt, indem sie geraume Zeit bei ihnen in Untermiete wohnte, außerdem hat sich ein SA-Mann

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vom Sturm 13 namens W. G. geweigert, an einem gemeinsamen Tisch mit polnischen Juden nicht teilzunehmen, daraufhin hat genanntes Frl. veranlaßt, daß sich die Geschw. Baum bei Frau Dr. Ströble beschweren, was sie auch taten. Frau Dr. Ströble hat dann dem SA-Mann verboten, am Mittagstisch teilzunehmen. Ich habe mich als alter Nationalsozialist dieses Mannes angenommen, worauf auch ich von Frau Dr. Ströble ermahnt wurde, daß dieser Tisch auch für Juden zugänglich sei, da diese auch Menschen wären, ich würde bei Wiederholung eines solchen Vorfalles an obigem Tische ausgeschlossen. Auch ein Herr Seeliger hat bei Frau Dr. Ströble Gehör gefunden mit seiner Beschwerde, weil ein Amtswalter namens P. in Uniform zum Essen erschien, es wurde ihm hierauf untersagt, in Uniform zu erscheinen. Dieser Herr Seeliger (Jude) ist heute noch ein Teilnehmer an diesem Tische. Ich bin der Überzeugung, daß Frl. Graf die Triebfeder zu allen diesen Vorfällen ist, da sie durch ihr schmeichelhaftes Wesen bei allen sehr gut zu schmarotzen versteht, und daß dies meiner Ansicht nach mit ihrer nationalen Gesinnung nicht zu vereinbaren ist, vielmehr betrachte ich sie, wie man sie in unseren Reihen nennt, als KonjunkturKämpferin. Bin jederzeit gerne bereit, mit Beweisen anzutreten und bitte Sie, die Angelegenheit nachprüfen zu wollen und gegebenenfalls mit mir eine persönliche Unterredung in die Wege zu leiten (GL 1933).

2.4.3.1 Anzeigen Wie oben dargelegt, war es Zweck von Denunziationsschreiben, abweichendes Verhalten anderer anzuzeigen, verbunden mit dem Ziel, eine zuständige Instanz zur Ahndung dieses Verhaltens zu veranlassen. Anzeigen ist dabei nicht notwendigerweise im juristischen Sinn zu verstehen, sondern umfasst ein breiteres Bedeutungsspektrum, etwa ›auf etwas hinweisen, aufmerksam machen‹ etc. Im vorliegenden Schreiben bildet diese Sprachhandlung die Klammer des Schreibens: Während der Verfasser im ersten Satz ankündigt, sich mit diesem Schreiben zu erlauben, auf ein inkriminiertes Verhalten aufmerksam zu machen, endet der Brief mit der Bitte, die Angelegenheit zu prüfen sowie einem Angebot zur weiteren Mitarbeit. Neben diesen expliziten Passagen des Anzeigens lässt sich aber auch der (vorgeblich) nüchterne Stil, der scheinbare Tatsachen auflistet, als Bestandteil der Anzeige-Handlung auffassen. Umständlich und kleinlich werden die Vergehen genannt, derer sich die denunzierte Person schuldig gemacht haben soll. Gebrochen wird dieser Stil allerdings im Moment des Übergangs zur Mutmaßung (Ich bin der Überzeugung, daß). 2.4.3.2 Sich selbst ausweisen und andere diskreditieren Das ganze Schreiben ist getragen von einer dichotomen Positionierung und (De-) Legitimierung, die sprachlich über verschiedene Zuschreibungen und Benennungen realisiert wird. Der Verfasser selbst konstituiert sich als überzeugter und wahrhaftiger Nationalsozialist. Teils geschieht dies explizit (als alter Nationalsozialist), teils durch Verweise auf seine Braut, die Mitglied der NS-Frauenschaft

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ist, teils durch pronominale Formulierungen, die ihn als Teil der nationalsozialistischen Gemeinschaft ausweisen (unseres Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler; in unseren Reihen). Durch diese Markierungen als überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus ausgewiesen, erscheint die Darstellung der denunzierten Person umso markanter: Ihr wird vorgeworfen, nur scheinbar Nationalsozialistin zu sein. Sie habe lediglich eine angebliche nationale Gesinnung, gibt sich als Leiterin des Clubheims [der NS-Frauenschaft] aus, sei aber letztlich eine Konjunktur-Kämpferin.10 Als ›Beweis‹ für diese Behauptungen wird einerseits eine Episode aus der Vergangenheit angeführt: Sie habe noch kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten der Frau des Verfassers verboten, das Hakenkreuz zu tragen. Diese zugeschriebene Handlung kennzeichnet sie als Gegnerin des Nationalsozialismus. Andererseits, und dies stellt den Kern des Vorwurfs dar, handele sie entgegen den judenfeindlichen ›Prinzipien‹ des Nationalsozialismus. Episodenhaft wird geschildert, wie sie sich dafür eingesetzt und Dritte dazu ermuntert habe, Jüdinnen und Juden nicht zu diskriminieren. Das vorliegende Denunziationsschreiben steht damit exemplarisch für eine große Zahl ähnlicher Fälle, in denen Personen ›judenfreundliches‹ Verhalten vorgeworfen wurde. Unabhängig davon, ob die Verfasser*innen selbst überzeugte Antisemit*innen waren oder diesen Vorwurf lediglich nutzten, um ihnen unliebsame Personen zu diskreditieren, wird anhand dieses Beispiels deutlich, auf welche Weise offiziell propagierte bzw. stigmatisierte Verhaltensweisen als Zuschreibungen und soziale Kategorisierungen in Eingaben verwendet wurden.

2.5

Fazit

Eingaben stellten während des Nationalsozialismus eine weit verbreitete Textsorte der Kommunikation zwischen Bevölkerung und Staats- und Parteiinstanzen dar. Ihre genaue Betrachtung erlaubt Rückschlüsse darüber, auf welche Art und Weise und unter Verwendung welcher sprachlicher Mittel einzelne Menschen ihre Anliegen, d. h. Bitten, Beschwerden oder einfache Loyalitätsbekundungen, gegenüber Vertretern des NS-Regimes kommunizierten. Die Spezifik der Kommunikationssituation, die geprägt war von Machtasymmetrien und, auf der Seite der Schreibenden, dem Bedürfnis, die eigene Person und das Anliegen zu legitimieren, muss dabei stets beachtet werden. Sie legte bestimmte kommunikative Praktiken nahe, wie beispielsweise die Nutzung zentraler Leitkonzepte nationalsozialistischer Diskurse, und präjudizierte spezifische Sprachhandlungen. So wurden hier exemplarisch anhand zweier Bittgesuche, eines Huldigungsschreibens sowie eines Denunziationsschreibens die Sprachhand10 Vgl. zu dieser Bezeichnung den Beitrag ›An den Rändern der Zugehörigkeit‹ in Teil 1.

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lungen Identitäten und Beziehungen konstituieren, Argumentieren und Bitten, Gefühle äußern, Erzählen und Aneignen sowie Anzeigen und Sich selbst ausweisen und andere diskreditieren herausgearbeitet. Diese Sprachhandlungen lassen sich – neben etlichen weiteren – in zahlreichen Eingaben aufweisen, die während des Nationalsozialismus geschrieben worden sind. Eine weiterführende Analyse müsste ein größeres Korpus von Eingaben untersuchen, um musterhaft vorkommende Sprachhandlungen sowie lexikalische Charakteristika herauszuarbeiten. Auf diese Weise ließen sich wichtige Erkenntnisse darüber gewinnen, mit welchen sprachlichen Positionierungspraktiken Menschen während des Nationalsozialismus versuchten, ihre Anliegen gegenüber Instanzen des Regimes zu kommunizieren.

3

Feldpostbriefkommunikation im Zweiten Weltkrieg

3.1

Linguistische Forschung zu Feldpostbriefen

Seit den 1980er Jahren ist die Feldpost zu einer relevanten Quelle für die geschichtswissenschaftliche Forschung geworden (vgl. Scholl 2019: 428; Ebert 2020). Neben zahlreichen Arbeiten aus der Geschichtswissenschaft11 gibt es noch vergleichsweise wenige linguistische Arbeiten zu Feldpostbriefen. Schikorsky fokussiert in ihrer Analyse ein heterogenes Korpus mit Kriegsbriefen aus dem Befreiungskrieg 1814/15, dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und den beiden Weltkriegen (vgl. Schikorsky 1992: 295f.). Sie erfasst fünf besonders typische »Sprachhandlungsstrategien«, die sie als »emotiv[]« beschreibt: »Verschweigen, Verharmlosung, Poetisierung, Phraseologisierung und Imagepflege« (ebd.: 301). Ott (1999) stellt in seiner Untersuchung Feldpostbriefe der Textsorte »Wehrmachtsbericht« gegenüber, um an ihnen jeweils Vertextungsmuster zu beschreiben. Jones unterzieht Feldpostbriefe aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg einem Vergleich (2002), beschreibt vor allem die jeweiligen Schreibbedingungen und gibt in ihrem Aufsatz relativ breit beschriebene, heterogene Lektüreeindrücke wieder. Diekmannshenke skizziert den Wert der Textsorte Feldpostbrief für die linguistische Forschung zur politischen Alltagskommunikation (2011a) und betont den Aspekt der »Inszenierung von ›Normalität‹« (2011a: 54; 2018: 175) für die Schreibenden. Er weist darauf hin, dass der in Kriegszeiten veränderte Alltag durch die Schreibenden in unspektakulären 11 Vgl. hierzu vor allem die Einleitung der Edition von Buchbender/Sterz (1982), die Monografien von Humburg (1998) und Latzel (1998) sowie von Kilian (2001) und Kipp (2014). Vgl. für eine umfangreichen Überblick Didczuneit et al. (2011), auch Ebert (2020), sowie für einen Forschungsüberblick über die geschichtswissenschaftliche Literatur zu Feldpostbriefen, die vor allem sprachliche Aspekte in den Blick nimmt, Scholl (2019).

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»›Alltagserzählunge[en]‹« (ebd.: 176) normalisiert wird. Ähnlich wie Schikorsky sieht er in dem Verschweigen bzw. der Tabuisierung von Konflikten ein Muster in den Briefen und konstatiert andererseits die Reproduktion nationalsozialistischer Stereotype, die den propagandistischen Wert der Feldpostbriefe für die Machthabenden zu belegen scheinen (vgl. ebd.: 172ff.). Bei dem Untersuchungsgegenstand Feldpost handelt es sich um Kommunikate, mittels derer mindestens zwei Schreibende über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg interagiert haben. Hierbei offenbart sich eine Problemlage bezüglich der Verfügbarkeit von Quellenmaterial: Von den Feldpostbriefen des Zweiten Weltkriegs sind überwiegend die Briefe der Soldaten erhalten, die zu Hause von den Empfänger*innen gesammelt und aufgehoben wurden. Nur in wenigen Fällen sind Briefe von beiden bzw. allen Schreibenden vorhanden (vgl. Diekmannshenke 2018). Einige Soldaten jedoch schickten auch die erhaltenen Briefe per Feldpost zurück an den Heimatort, um sie als Dokumente zu bewahren. Auf den seltenen Konvoluten, in denen Briefwechsel dokumentiert sind, liegt das Hauptaugenmerk einer linguistischen Kommunikationsforschung, die insbesondere an den wechselseitigen Hervorbringungen des Sozialen unter den Bedingungen des Nationalsozialismus in den Briefen interessiert ist. Der Frage, wie soziale Beziehungen, Selbst- und Fremdidentitäten oder politische Positionierungen durch die Schreibenden konstituiert, gestaltet und auf Dauer gestellt wurden, nähert sich die Linguistik über die Analyse der sprachlichen Praktiken, durch die jene Sozialität vielschichtig hervorgebracht wird. Entsprechend sollen in diesem Teilkapitel anhand der Feldpostbriefkommunikation eines Ehepaares Daten behandelt werden, in denen sich solche gemeinsamen bzw. in wechselseitigem Bezug aufeinander vollzogenen sprachlichen Praktiken der Feldpostbriefkommunikation manifestierten.

3.2

Feldpost: Akteure und Praktik

Zunächst wird aber in diesem Abschnitt die Feldpost als dispositives Arrangement beschrieben, das das Feldpostbriefeschreiben für Soldaten und deren Angehörige sowohl ermöglicht als auch beschränkt (Kap. 3.2.1).12 Anschließend wird gezeigt, wie sich die diskursiven Zurichtungen des Feldpostwesens in der Praktik des Adressierens stabilisieren (Kap. 3.2.2). Das Schreiben von Feldpostbriefen im Zweiten Weltkrieg war, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg (vgl. Ulrich 1994), eine massenhaft vollzogene kommunikative Praktik. Nach Schät12 Unter Dispositiv verstehen wir mit Bezug auf Foucault (1978) ein arrangiertes Gefüge, das die sozialen, medialen und semiotischen Bedingungen für Interaktion und Diskurs gleichsam stellt und seinerseits durch diskursive wie nicht-diskursive Praktiken formiert ist.

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zungen wurden zwischen 30 und 40 Milliarden Sendungen zwischen 1939 und 1945 zugestellt, wovon Feldpostbriefe, neben Päckchen und Postkarten, den Großteil ausmachten (vgl. Kilian 2001). Organisiert wurde die Zustellung der Kriegsbriefe durch das Feldpostwesen. Mit Kriegsbeginn startete am 2. September 1939 die Beförderung der Feldpost. Im Gegensatz zur herkömmlichen Postbeförderung unterlag die Feldpost spezifischen Bedingungen hinsichtlich der Gebühren, dem Transport und der Zensur. So fielen für Feldpostbriefe bis zu einem Gewicht von 250 Gramm keine Transportkosten an. Um Briefe vom Wohnort der Angehörigen und Bekannten aus an die in Kriegseinsätzen befindlichen Soldaten zu schicken, war eine Feldpostnummer notwendig, die den Feldpoststellen als Schlüssel zur zielgerechten Zustellung diente. Nur Soldaten, die außerhalb der Reichsgrenzen eingesetzt wurden, erhielten eine Feldpostnummer (vgl. Kilian 2001: 114). Mitunter hatten Feldpostbriefe sehr lange Laufzeiten von geschätzt durchschnittlich 12 bis 30 Tagen (vgl. Buchbender und Sterz 1982: 14) oder wurden gebündelt verschickt, sodass es, wie in den Briefen durch die Schreibenden regelmäßig dokumentiert wurde, dazu kam, dass mehrere Briefe auf einmal an die Adressat*innen zugingen. 3.2.1 Akteure: Soldaten und ihre Angehörigen Feldpostbriefe zu schreiben war geprägt durch ein institutionell arrangiertes Dispositiv, das interpersonale Kommunikation in Kriegszeiten unter einem enormen logistischen Aufwand überhaupt ermöglichte und zugleich stark regulierte (vgl. Dang-Anh 2020). Ermöglichend war das Feldpostwesen insofern, als es die Briefkommunikation zwischen Soldaten – auch die Briefzustellung von Front zu Front wurde durch die Feldpost durchgeführt – und ihren Angehörigen und Bekannten organisierte. Der Zugang war beschränkt, denn nur Soldaten wurden mit einer Feldpostnummer ausgestattet – ihre Familien erhielten hierüber Benachrichtigungskarten – und konnten somit am Kriegsbriefeschreiben teilhaben. Somit war Feldpostkommunikation denjenigen vorbehalten, die nach Maßgabe des NS-Apparats als Soldaten zur ›Volksgemeinschaft‹ zählten. Die Zugehörigkeit zur ›Volksgemeinschaft‹ wiederum war nicht alleine durch biologisch-rassische Merkmale determiniert, obgleich sie als Konzept auf antisemitischen und rassistischen Grenzziehungen fußte (vgl. Wildt 2014: 48).13 Darüber hinaus jedoch, so zeigen u. a. die Analysen der Eingaben der Bevölkerung an staatliche und parteiliche Instanzen (vgl. Kap. 2), wurde Zugehörigkeit zur ›Volksgemeinschaft‹ mitunter durch Selbst- und durch Fremdzuschreibungen hergestellt (vgl. Bergerson 2018). Die Zuordnung zur ›Volksgemeinschaft‹ war demnach eine »soziale Praxis« (vgl. Reeken und Thießen 2013), die, als zuvor13 s. auch den Beitrag ›Gemeinschaft‹ in Teil 1.

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derst kommunikative Praxis14, auf die sprachliche Verfertigung, u. a. in Feldpostbriefen, angewiesen war. Die staatliche Regulation des Feldpostbriefeschreibens im Krieg hatte grundsätzliche Auswirkungen auf die Frage, wem durch den Zugang zum Dispositiv ›Feldpost‹ sprachlich-kommunikative Handlungsträgerschaft (agency) verliehen wurde. Agency, so Ahearn, »refers to the socioculturally mediated capacity to act« (Ahearn 2010: 28) und bezeichnet demnach die schiere Möglichkeit, als Handlungsträger in Erscheinung zu treten. Diese Möglichkeit wurde den Schreibenden durch das Regime u. a. durch die Vergabe einer Feldpostnummer und die damit verbundene Teilnahme am Feldpostwesen eingeräumt. Soldat zu sein war somit grundlegende Voraussetzung dafür, überhaupt an der Feldpostkommunikation teilnehmen zu können. Die dadurch verliehene Handlungsträgerschaft ist in ihren Grundzügen eine sprachliche und somit fundamental für die soziale und gesellschaftliche Teilhabe: Die im Feldpostwesen institutionell zugewiesene »agency-through-language« (Duranti 2004: 455) bedeutete für die Schreibenden die Möglichkeit, ihre persönlichen und privaten Beziehungen unter den Bedingungen der räumlichen Distanz, zeitlichen Verzögerung und der Ungewissheit über gemeinsame Zukünfte, ob des unvorhersehbaren Kriegsgeschehens, zu pflegen und aufrechtzuerhalten sowie – die basalste soziale Funktion – einander Lebenszeichen zu geben, wenngleich dies im Vergleich nicht omnipräsent ist (vgl. Kap. 4; Wyss 2005; Diekmannshenke 2018). Die sprachlichmediale Handlungsfähigkeit zum Briefeschreiben im Krieg ist somit eine »agency of an existential sort« (Duranti 2004: 455; vgl. auch Dang-Anh 2020). Für die ›Volksgemeinschaft‹ hatte das Feldpostbriefeschreiben im Nationalsozialismus zudem eine stabilisierende Funktion, wenn man sie als exklusive Praktik der reflexiven Ein-Ordnung versteht, zu der eben nur die Soldaten, als Mitglieder der ›Volksgemeinschaft‹, und ihre Angehörigen Zugang hatten. Die beschriebenen Bedingungen der Feldpost reichten also bis in den intimsten Bereich der privaten Briefkommunikation hinein.15 Inwiefern sich dadurch auch das Konzept des Privaten im Nationalsozialismus ändert, lässt sich anhand »einige[r] spezifisch im Kontext des Krieges sich etablierende[r] Funktionen bzw. Funktionsveränderungen« (Wyss 2005: 206f.) erahnen, die Wyss vor allem für Feldpost des Zweiten Weltkriegs skizziert: Der private Brief ist im Krieg nicht mehr länger eine geheime und diskrete Kommunikation, da durch die Zensur das Postgeheimnis aufgehoben wird, […] der private Brief ist nicht länger ein sicheres und zuverlässiges Kommunikationsmedium, da Zensur und Kriegsereignisse den Transport teilweise oder ganz verhindern, […] der 14 Wir beziehen uns hier auf den Praxisbegriff von Habscheid (2016), der Handlungen im Rahmen kommunikativer Praktiken als konstitutiv für soziale Praktiken versteht. 15 Vgl. hierzu vertiefend die Beiträge in Harvey et al. 2019.

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private Brief wird im Krieg zu einem Lebenszeichen und damit auch zu einem Memento mori (Wyss 2005: 207).16

Auch wenn die meisten Briefe tatsächlich nicht (selbst-)zensiert wurden, so war Zensur als die permanente Aufrechterhaltung der schieren Möglichkeit kontrollierter und sanktionierter Kommunikation durch die Feldpostprüfstellen in der Zeit des Nationalsozialismus eine Diskursbedingung, die den Übergriff des Staates in die Sphäre des Privaten begünstigte. Folgt man Wyss, so ist private Briefkommunikation in Kriegszeiten nicht länger intime, nicht-öffentliche Kommunikation. In den Analysen der privaten Briefkommunikation eines Ehepaares (s. u.) zeigt sich, wie affirmative Positionierungen zum Krieg und zum Nationalsozialismus oder die Reproduktion nationalsozialistischer Feindbilder und Rassismen Bestandteile einer interpersonalen Identitätsarbeit waren, in der sich das Private mit dem Politischen vermengte. Dabei sind, darauf muss differenzierend hingewiesen werden, auch explizite Bekenntnisse zum Nationalsozialismus nicht zwingend als Zugeständnisse an zensurbedingt potentiell mitlesende Dritte aufzufassen, sondern können ebenso als Einschreibungen in den NS vor dem Hintergrund einer »Dynamik zwischen öffentlichen und privaten Inszenierungen der ›Volksgemeinschaft‹« (Bergerson 2018: 241) gedeutet werden. Jegliche Analysen von Feldpostbriefen im Nationalsozialismus müssen vor der Folie des spezifischen dispositiven Arrangements, das die Diskursbedingungen prägte, unter denen Schreibende interagierten, eingeordnet werden. Dennoch, so zeigen die punktuell durchaus deutlichen militärischen oder politischen Bezugnahmen in den Briefen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Briefe durchweg unter dem Eindruck eines sanktionsfähigen Apparats entstanden. Auch wurden ideologische Positionierungen selten sehr detailliert ausbuchstabiert und es kam vielfach zu offenen Formulierungen, die unter der Maßgabe der Zensur durchaus als Regelbrüche lesbar waren (vgl. Buchbender/ Sterz 1982). Die analytische Schwierigkeit besteht darin, dass sich die spezifischen Diskursbedingungen einer potentiell sanktionierenden Zensur zwar vereinzelt, aber nicht durchweg anhand der sprachlichen Daten ausweisen lassen. Text- wie interaktionsanalytisch stellt sich die interpretatorische Herausforderung, sprachliche Phänomene auf Bedingungen zurückzuführen, die sich die Schreibenden nicht gegenseitig anzeigten und die sich folglich nicht an der sprachlichen Oberfläche zeigen. Inwieweit die Regulationen des Regimes in die Briefe hineinwirkten, ist also schwierig bis teilweise unmöglich zu bestimmen. Gleichwohl, so Humburg, »finden sich in den Briefen [zahlreiche Hinweise], dass den Soldaten diese Bestimmungen bewusst waren« (Humburg 2011: 80). So muss 16 Wyss führt noch zwei weitere Aspekte von privaten Briefen im Krieg auf, die hier nicht aufgegriffen werden sollen: Erstens denjenigen einer durch die Zensur eingeschränkten Expressivität und zweitens denjenigen juristischer Verwertbarkeit (vgl. Wyss 2005: 207).

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auf die Schreib- und Lektüreumstände der an Feldpostbriefkommunikation Beteiligten hingewiesen werden, um im Sinne einer historischen Sprachanalyse durch Hintergrundwissen fundierte Lesarten anzubieten bzw. diese nicht auszuschließen. 3.2.2 Adressieren: Eine standardisierte Fundamentalpraktik der Briefkommunikation Inwieweit sich derartige diskursive Bedingungen, unter denen sich das sprachliche Handeln im Nationalsozialismus vollzog, im Alltagsleben der integrierten Gesellschaftsmitglieder niederschlugen, lässt sich an der sprachlichen Praktik des Adressierens darlegen. Als standardisiertes Verfahren dokumentiert sich das Adressieren als historische Praktik, d. h., als »ein allgemeingültiges, Zeiten und Räume übergreifendes Handlungsmuster der Epoche« (Haasis und Rieske 2015: 10), wenngleich auf den engen und spezifischen Praxiszusammenhang des Feldpostbriefeschreibens bezogen. Im Adressieren offenbart sich die Verbindung behördlicher Vorgaben mit standardisierter Praxis, die, wie im Weiteren gezeigt wird, vielfach metapragmatisch verarbeitet und kommentiert wurde. Das Adressieren von Briefen ist schließlich die initiale Praktik, durch die Distribution seitens der Verfasser*innen organisiert und somit die Verbindung von Schreiben und Lesen als Kommunikation in Gang gesetzt wird. Im Krieg waren Briefe somit ein Medium sozialer Beziehungen (vgl. Schwendner 2011) und das Adressieren war eine Fundamentalpraktik, um in den brüchigen wie dynamischen Situationen der soldatischen und ›heimatlichen‹ Lebenswelten kommunikative Sozialitätskonstitutionen auf Dauer zu stellen. Im Folgenden soll daher die Praktik des Adressierens als Einstieg in die Praktikenanalyse dieses Kapitels beschrieben werden, bevor daraufhin weitere, für das Feldpostbriefeschreiben elementare, kommunikative Praktiken anhand des Beispiels eines briefeschreibenden Ehepaares betrachtet werden. Wie einleitend beschrieben, ist das Adressieren eine grundlegende Praktik des Briefeschreibens, durch das Schreibende sich authentifizieren und identifizieren. In der Feldpostbriefkommunikation kommen dem Adressieren aufgrund der spezifischen Distributionspraktiken und -erfordernisse distinkte Funktionen zu. Die von den Soldaten an Familien und Angehörige verschickten Feldpostsendungen waren etwa oftmals gebündelt.17 Adressierungen hatten hier die herkömmliche Funktion, die Empfänger zu identifizieren. Oftmals richteten sich Briefe von der Front an unterschiedliche Personen, also neben Ehepartnerinnen auch an weitere Angehörige, Freunde und Bekannte. 17 So schreibt Albert an Agnes am 6. 2. 1942: Nachdem ich wochenlang ohne Post von Dir geblieben war, habe ich nun wieder etliche Briefe von Dir bekommen (Reddemann 1996: 404).

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Brief

Für Feldpostbriefe, die an die Soldaten gingen, gab es ein standardisiertes Verfahren der Adressierung. Die Angabe des Namens der Adressat*innen, der fünfstelligen Feldpostnummer und des Dienstgrades war für den Versand der Feldpost ausreichend. Dies hatte eine camouflierende Funktion, da derartige Adressierungen keinen Aufschluss über Standorte oder Zuordnungen zu Waffengattungen erlaubten. In einem wörtlichen Sinn waren bereits die Zustellangaben auf den Briefen mehrfach adressiert: Sie bestimmten die Adressaten des Briefs, sie erfolgten im Rahmen der feldpostspezifischen Adressierungsregulationen und wiesen sich somit, vor allem gegenüber den zustellenden sowie kontrollierenden Instanzen, als regelkonform aus und sie offenbarten Uneingeweihten, etwa militärischen Feindparteien, keine Informationen über die nötigen Angaben hinaus. Feldpostbriefe unterlagen also einer spezifischen Adressierungsregulation und die damit verbundene Adressierungspraktik manifestierte sich im Adressfeld der Briefumschläge. Der blanke Briefumschlag erforderte demgemäß die Ausführung eines Handlungsskripts, mit dem die Schreibenden vertraut sein mussten und auf das in unterschiedlichen Medien, zum Beispiel in Zeitungen, hingewiesen wurde (vgl. Kilian 2001: 113).18 Gleichförmige Adressierungen repräsentierten also die disziplinarische Relation, die das Feldpostwesen zwischen den Schreibenden und den Beförderern etablierte. Bereits von außen, ungeöffnet, waren Feldpostbriefe somit Zeugnisse einer reflexiven, semiprivaten Medienpraktik, die eine komplexe Teilnahmestruktur von Soldaten und Familien, potentiellen Zensoren und weiteren Mitlesenden oder Briefabfangenden offenbarte. Wie eingangs beschrieben, hat die Zensur eine wichtige Bedeutung für die Einordnung und Interpretation der Feldpostbriefe. Ab dem 12. März 1940, also ein gutes halbes Jahr nach Kriegsbeginn und dem Start des Feldpostwesens im Zweiten Weltkrieg, kontrollierten die Zensurbehörden Feldpostsendungen (vgl. Kilian 2001: 99). Die gesetzliche Grundlage wurde durch die »Verordnung über den Nachrichtenverkehr« vom 2. April 1940 geschaffen, in der bezüglich des Nachrichtenverkehrs in das »nichtfeindliche[] Ausland« sehr allgemein formuliert ist: »Es dürfen […] keine Nachrichten über die militärische, wirtschaftliche oder politische Lage übermittelt werden, die geeignet sind, das Wohl des Reiches oder der mit ihm verbündeten oder befreundeten Staaten zu gefährden«.19 Die oben skizzierte Adressierungspraxis reiht sich also in diese Vorgabe ein, insbe18 Auch den Inhalt betreffende Handlungsanleitungen zum Feldpostbriefschreiben wurden sowohl an der Front als auch in Deutschland, etwa in Zeitungen oder in den ›Mitteilungen an Truppen und Offizierskorps‹, massenhaft verbreitet: »So sollen zum Beispiel aus der Heimat keine Probleme, Klatsch und Tratsch mitgeteilt werden. Von der Front hingegen soll stets ein positives Bild skizziert und mit Durchhalteparolen versehen werden« (Kilian 2001: 101). 19 Vgl. »Verordnung über den Nachrichtenverkehr. Vom 2. April 1940.« In: Reichsgesetzblatt, Teil 1, Nr. 95, 1940.

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sondere keine militärisch relevanten Informationen preiszugeben. Die Kontrolle der Briefe erfolgte in Feldpostprüfstellen. Es handelte sich um eine offene Zensur: Geöffnete Briefe wurden durch eine Banderole mit der Aufschrift »Geöffnet« gekennzeichnet, Postkarten mit einem Stempel »Geprüft« versehen (vgl. Kilian 2001: 100). Tatsächlich zensiert wurden nur relativ wenige der versendeten Feldpostbriefe. Gleichwohl verdeutlichte die Kennzeichnung der geprüften Sendungen die Allgegenwärtigkeit einer sprachkontrollierenden und womöglich -sanktionierenden Instanz.

3.3

Praktiken der Feldpostbriefkommunikation eines Ehepaares

Im Folgenden wird die Feldpostkorrespondenz eines Ehepaares betrachtet, durch die sich das metapragmatisch organisierte Schreiben (Kap. 3.3.1) als durch Erzählungen (Kap. 3.3.2) und Positionierungen (Kap. 3.3.3) gemeinsam hervorgebrachte Identitätskonstitution erschließt. Eine Besonderheit der Quellengattung Feldpost ist die Unausgewogenheit der bewahrten Korrespondenzen. Zum allergrößten Teil sind nur die Briefe erhalten, die die Soldaten an Freunde und Familie sendeten, während die Briefe, die in die Einsatzgebiete versendet wurden, oftmals verschollen sind. Insofern stehen in aller Regel in der Forschung die Briefe als Texte im Vordergrund und seltener, auch wenn die sozialitätskonstitutive Funktion von der Feldpostforschung durchaus konsequent betont wird, als Manifeste textueller Kommunikation (vgl. Hausendorf et al. 2017). Von größtem Wert sind daher diejenigen Materialien, die Feldpost als Briefkommunikation belegen, indem sie die Briefe beider (oder mehrerer) Schreibenden enthalten. Ein Konvolut, in dem Briefe von zwei Ehepartnern erhalten sind, stellt der Briefwechsel der Eheleute Agnes und Albert Neuhaus dar (Reddemann 1996). Es besteht aus ca. 650 Briefen, wovon gut 500 Briefe, die von Albert und 109 Briefe, die von Agnes geschrieben wurden, erhalten sind (vgl. Reddemann 1996: IX). Die Korrespondenz umfasst die Zeit von Alberts Einberufung zum Wehrdienst im Mai 1940 bis zu seinem Tod im März 1944. Das Ehepaar führte gemeinsam einen Lebensmittelladen in Münster (vgl. Reddemann 1996: IXff.). Die jeweiligen lokalen Lebenswelten der Schreibenden sind die bestimmenden Themen der beiden Eheleute: einerseits das Leben im heimischen Münster mit dem Führen des Lebensmittelladens im Alltagsmittelpunkt und den Kriegserlebnissen der Bombardierungen, und andererseits das Leben im Militär von der als Drill beschriebenen Ausbildung direkt nach der Einberufung Alberts in die Wehrmacht, dem Vorrücken zu Beginn des Deutsch-Sowjetischen Kriegs, den Stellungskrieg in Russland und den Rückzug Richtung Westen.

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Brief

Diese beiden lokalen Lebenswelten halten Agnes und Albert Neuhaus durch beständige Erzählungen aufrecht. Eine zentrale Funktion derartiger Erzählungen sind die identitätskonstitutiven Positionierungen zueinander im Rahmen der Feldpostkommunikation als Be- und Verarbeitung der persönlichen Beziehung zwischen den Schreibenden. In ihrer Arbeit zu small stories, als wichtige Bausteine persönlicher Identitäten, beschreiben Bamberg und Georgakopoulou das Interesse an Erzählungen wie folgt: »we are interested in the social actions/ functions that narratives perform in the lives of people: how people actually use stories in everyday, mundane situations in order to create (and perpetuate) a sense of who they are« (Bamberg und Georgakopoulou 2008: 378f.). Gerade für oftmals jahrelang getrennt voneinander lebende Ehepartner dient das Briefeschreiben, wie eingangs erwähnt, neben dem Senden von Lebenszeichen, der Aufrechterhaltung und Pflege der persönlichen Beziehungen. Die Schreibenden sehen sich dabei der Herausforderung gegenüber, ihr Selbst als jeweils wiedererkennbar, identifizierbar zu konstituieren, aber auch die Veränderungen und die besonderen Anforderungen des Kriegs an das alltägliche Leben – in beiden Lebenswelten – einander mitzuteilen, um diese über Distanz miteinander zu teilen. Kleine Geschichten – small stories – und die Erzählung eines master narratives, so Bamberg und Georgakopoulou, helfen dabei, diese Identitätsarbeit (vgl. ebd.: 379; vgl. auch Bamberg 1997) zu bewerkstelligen und die persönlichen Identitäten somit zu stabilisieren. Im Folgenden sollen daher typische Praktiken der beiden Schreibenden aus ihren jeweiligen Lebenswelten analysiert werden, die als Konstanten in nahezu der gesamten Korrespondenz aufrechterhalten werden: Die ›Arbeit‹ im gemeinsamen Laden und die ›Arbeit‹ im Krieg. 3.3.1 Feldpostbriefkommunikation metapragmatisch organisieren Zunächst sei hier jedoch auf ein Phänomen eingegangen, das durch die Störungen der Feldpostzustellung hervortritt, die metakommunikative Organisation der brieflichen Korrespondenz. Diese zeigt sich an folgendem Beleg: Russland, 22. Juli 1941. Meine liebe Agnes! Ich will die Pause dazu benutzen, um Dir wieder einige Zeilen zu schreiben. Heute morgen erhielt ich Deine Briefe vom 7/7. 7/7. 11/7. Auf diese Briefe war ich ja so gespannt gewesen. Ich freue mich aus ganzem Herzen, daß es Dir und Euch gut geht. Wie Du schreibst, muß es toll gewesen sein. Ja, das ist der Krieg. Und nun seid Ihr ausgerückt ins Sauerland? Von dort erhielt ich Deine Karte und erwarte nunmehr noch nähere Einzelheiten von dort. Der Brief wird dann wohl morgen oder in den nächsten Tagen auch hier eintrudeln. […] Nun weiß ich ja gar nicht, wo ich diesen Brief hindirigieren soll, ob zur Weserstraße, ob zum Hansaplatz, in die Wirme oder nach Varste. Aber ich werde weiterhin zum Han-

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saplatz schreiben und von da wirst Du ihn ja wohl bekommen. Ich weiß ja nicht, ob Du länger im Sauerland bleiben willst oder ob es nur ein Sprung für ein paar Tage war. […] Agnes, ich muß jetzt wieder am Plan arbeiten. Dir und Euch allen ein herzliches Lebt wohl! Viele liebe Grüße und einen frohen Kuß Dein Albert (AN/AN in Reddemann 1996: 257f.).

Zu Beginn eines Briefes wird neben der Begrüßung und einer Orts- und Zeitangabe vor allem auf die bisherige Korrespondenz Bezug genommen. Zunächst sind in der ersten Zeile der Ort und das Datum angegeben. Dadurch ermöglicht der Schreibende eine sequentielle Einordnung des Kommunikats. Wenngleich die Orts- und Datumsauszeichnung eine tradierte Praktik des Briefeschreibens ist, so kommt ihr in der Feldpost eine besondere Bedeutung zu. Die Datumsangaben vorheriger Briefe an ihn werden nämlich hier von Albert Neuhaus aufgegriffen mitsamt der Angabe, wann diese Briefe ihn erreicht haben. Somit ermöglicht er seiner Briefpartnerin eine gleichsame sequentielle Einordnung des Einzelbriefs in die gesamte Korrespondenz. Ersichtlich wird hieraus ebenfalls, dass mehrere Briefe mitunter gesammelt zugestellt wurden und sich somit einzelne Schreibzüge20 auf mehrere Briefe beziehen. Die Teilnehmenden an der Briefinteraktion waren also darauf angewiesen, ihre sequentielle Beitragsstruktur zu ordnen und sich gegenseitig anzuzeigen, worauf sie sich jeweils beziehen. Makrostrukturell stehen diese Passagen typischerweise am Beginn eines Briefes. Eine weitere Beobachtung bezieht sich auf die Nennung des Ortes in der ersten Zeile. Albert hatte zu Beginn der Korrespondenz den Schreibort immer ortsgenau angegeben (zumeist: ›Belgard‹, die deutsche Ortsbezeichnung für Białogard, Polen). Seit er ab Mitte 1941 allerdings aus Russland schreibt, verzichtet er entweder gänzlich auf die Ortsnennung oder verwendet zumeist Russland als gröbere geografische Einordnung.21 Dies entspricht der oben dargelegten regulativen Erwartung, keine Ortsnamen zu nennen (vgl. auch Humburg 2011) – nicht nur im Adressfeld des Briefumschlags, sondern auch in den Briefen. Äußerst selten verwendet Albert in der Korrespondenz Ortsbezeichnungen, wenn er über seinen Aufenthaltsort bzw. seinen Performanzort schreibt. Agnes hingegen verwendet in der Orts- und Datumszeile und in den Briefteilen stets genaue Ortsbezeichnungen. Feldpostbriefe zu schreiben erforderte dem20 Diesen Ausdruck benutze ich in Anlehnung an den Gesprächsbeitrag / Redezug (turn) aus der Interaktionsforschung (vgl. Selting und Couper-Kuhlen 2000). 21 In einigen Briefen verwendet Albert als Ortsangabe Im Osten (z. B. AN/AN, Brief vom 23. 6. 1941, vgl. Reddemann 1996: 219) oder Arbeiterparadies (z. B. AN/AN, Brief vom 9. 7. 1941, vgl. Reddemann 1996: 232), wobei er Letzteres wohl ironisch verwendet. Seine abwertende Haltung zu Russland bringt er in einem Brief vom 17. 7. 1941 zum Ausdruck: Russland ist, glaube ich, wohl das dreckigste und unkultivierteste Land, was es noch auf Gottes Erdboden gibt. Und so was nennt sich ›Arbeiterparadies‹ (AN/AN, Reddemann 1996: 250). Damit reproduziert er das in Feldpostbriefen deutscher Soldaten verbreitete Konzept des ›dreckigen Ostens‹ (vgl. Kipp 2014).

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nach ein hohes Maß an metakommunikativer Organisation von Bezugnahmen und Rekonstruktion ihrer Sequentialität. Bezüge werden in diesem Kurzbeleg auch auf andere Aspekte des Briefeschreibens genommen: Deine Briefe, Auf diese Briefe, Wie Du schreibst, Deine Karte, Der Brief. Oftmals stehen diese metakommunikativen Referenzen am Satzbeginn und markieren somit topikalisierend die Bedeutung metakommunikativer Bezugnahme. Neben der Sequenzorganisation spielt hierbei auch der Ausdruck von Erwartungen eine Rolle. Folgend auf die Erwähnung des Briefempfangs drückt Auf diese Briefe war ich ja so gespannt gewesen implizit die Freude aus, dass die formulierte Erwartung erfüllt wurde. Weiter unten wird eine antizipierende Erwartung expliziert: erwarte nunmehr noch nähere Einzelheiten von dort. Beide Äußerungen beziehen sich auf die briefliche Korrespondenz und zeigen deren Serialität an: Wird einerseits erfüllte Erwartung retrospektive durch den Ausdruck von Freude (auch Ich freue mich aus ganzem Herzen, daß es Dir und Euch gut geht.) angezeigt, so wird andererseits durch einen prospektiven Erwartungsausdruck die Fortführung der Briefkommunikation indiziert. Briefe zu schreiben ist hier also als serielle und also dauerhafte Praktik ausgewiesen, die mit bestimmten Erwartungshaltungen und -erfüllungen einhergeht. Feldpostbriefe zu schreiben und zu erhalten, durch Briefe etwas zu erfahren und mitzuteilen ist für die Aufrechterhaltung der sozialen Beziehung zwischen den Schreibenden essentiell (vgl. Kilian 2001; Schwendner 2011). Zum Abschluss des Briefes thematisiert Albert erneut metakommunikativ die Adressierung. Angesichts der von Agnes geschilderten vorübergehenden Zuflucht an einen anderen Ort, ist sich Albert unsicher über den zu adressierenden Zustellort. Die oben beschriebene Adressierungspraktik ist nämlich nur in eine Richtung, von den Angehörigen und Freunden zu den Soldaten, per Feldpostnummer standardisiert. Da das Kriegsgeschehen auch den Wohnort von Agnes erfasst hat, ist die Explikation Alberts seiner zukünftigen Adressierungspraktik erforderlich. Metakommunikation wird vor allem dann praktiziert, wenn die medialen Bedingungen einer Kommunikation sich ändern oder wenn diese gestört sind. Das Schreiben im Krieg unterliegt permanent unterschiedlichsten Störungen, die Metakommunikation erfordern, sei es über korrekte Adressierungen (s. o.), die Materialität des Schreibens22 oder die temporalen Umstände23.

22 Ich will mit Bleistift weiter schreiben, denn das Papier ist zu schlecht für Tinte (Albert an Agnes, AN/AN, 9. 6. 1940, Reddemann 1996: 4). 23 Durch die Verlegung des Feldpostamtes bekommen wir erst am Karsamstag unsere nächste Post zugestellt und wir müssen uns wohl oder übel bis dahin gedulden (Albert an Agnes, AN/ AN, 2. 4. 1942, Reddemann 1996: 480).

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Die hier vorgenommenen Bezugnahmen auf einzelne Briefe und Passagen lassen sich nicht vollständig rekonstruieren, da Briefe von Agnes vom 7. Juli24 bzw. vom 11. Juli 1941 nicht erhalten sind. Allerdings gibt es einen Brief vom 6. Juli 1941 von Agnes, in dem sie sehr ausführlich einen Bombenangriff auf Münster darstellt, der weiter unten behandelt wird. Möglicherweise bezieht sich Albert mit Ja, das ist der Krieg auf diese oder eine andere Schilderung des Bombenangriffs. Selbst aus dieser knappen etwaigen Bezugnahme lässt sich ableiten, dass Kriegshandlungen und -ereignisse nicht weiter thematisiert werden (vgl. Humburg 2011; Dang-Anh und Scholl 2020). Dass es der Krieg sei, scheint hier als formelhafter Hinweis darauf zu fungieren, dass über das Referierte nichts weiter zu sagen sei. Bezugnahmen erfolgen also mitunter als äußerst knappe Kommentierungen, die potentiell den Abschluss eines Gesprächsthemas signalisieren. Die zeitliche Markierung durch nun im Folgesatz verstärkt diesen Eindruck und kann ebenso als ein Vorausschauen auf künftige bzw. dem erzählten Ereignis folgende Ereignisse betrachtet werden. 3.3.2 Kleine gemeinsame Geschichte(n): Die Praktik des Erzählens Erzählungen spielen eine wichtige Rolle in den Feldpostbriefen. Durch sie geben die Schreibenden Sachverhalte und Geschichten aus ihrem jeweiligen Lebensalltag wieder. Erlebtes wird derart dargestellt, dass es an gemeinsame Biografien und damit verknüpftes Hintergrundwissen anschließt. Diese Anschlüsse sind durch kleinste sprachliche Hinweise markiert, wie an folgendem Brief von Agnes gezeigt wird. Mein lieber, lieber Albert! Heute am Sonntag will ich Dir auch Deinen Brief vom 23 Juni beantworten, ich war in den letzten Tagen nicht dazu fähig, denn es gab wieder Arbeit in Hülle und Fülle. Wir hatten so allerhand vorzuarbeiten, denn unsere Lena ist jetzt in Ferien gefahren für 8 Tage, da mußte ich erst mit dem Marken kram reine Bahn haben. Hilde muß jetzt jeden Montag und Mittwochmorgen zur Schule, denn ein Freikommen auch nur für einen Tag giebt es nicht. Ich hatte sie ja einfach heraus gehalten wie ich nach Breslau war, aber da ließ mir Dir. Flörke sagen, er wollte mir keine Schwierigkeiten machen, aber für ein nächstes Mal dürfte er das nicht mehr machen. Nun, da machen wir es für die beiden Morgende eben alleine, es geht ja auch. Und Mittwochnachmittag mache ich ja weiterhin zu, sogar mit mündlicher Erlaubnis der Polizei. Man hatte mich doch angezeigt, weil ich den Laden Mittwochnachmittags zumachte. Ärgern darüber tue ich mich nicht, aber man sieht mal was man für liebe Freunde man hat (Agnes an Albert, AN/AN, 6. 7. 1941, aus: Reddemann 1996: 252ff.).

24 Vorstellbar ist hier auch ein Übertragungsfehler, denn in oben zitiertem Brief kommt der 7/7. zweimal hintereinander vor.

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Brief

Agnes greift hier zunächst ein Thema aus dem noch zusammen erlebten Alltag auf: die tägliche Arbeit im gemeinsamen Lebensmittelladen. ›Arbeit‹ stellt somit ein zentrales Konzept dar, dass in den Briefen immer wieder aufgenommen wird. Den gemeinsamen Lebensmittelladen, um den sie sich nun in Alberts Abwesenheit kümmert, stellt Agnes beständig als Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten dar. So führt sie diesen auch als Grund an, warum sie nicht zum Schreiben gekommen sei (es gab wieder Arbeit in Hülle und Fülle, Z. 4). Es folgt als Einstieg in den Brief eine Darstellung aus dem Arbeitsalltag im Laden und die Schilderung der erschwerten Umstände, die durch personale Engpässe entstanden. Offenbar bezieht sich Agnes auf bereits zuvor Erzähltes: So wird etwa die Extension von Marken kram nicht weiter expliziert und die Partikel ja in Ich hatte sie ja einfach rausgehalten wie ich nach Breslau war ist in eine temporal markierte kleine Erzählung eingewoben, die nur angedeutet wird. Beide sprachlichen Indizes verweisen auf ein gemeinsames Hintergrundwissen des Paares, das sich vor allem im Handlungsfeld ›Arbeit‹ aufspannt. Damit kann es sich entweder um zuvor Erzähltes oder zuvor gemeinsam Erlebtes handeln. Erzählungen fungieren hierbei also mitunter als Teilerzählungen in einem größeren Narrativ, das sich über mehrere Kommunikate erstreckt bzw. einen über die gesamte Korrespondenz stabilen Erzählstrang darstellt. Im weiteren Verlauf folgt ein längeres Narrativ über ein nicht-alltägliches Ereignis, einen Bombenangriff: Heute morgen wollte ich eigentlich nach Telgte fahren, um mit Mutter dort einem Hochamt, was unser Bischof hielt, bei zu wohnen. Aber erstens kommt es anders wie man möchte. Also, so ein kleiner Bericht von unserer Erleben in der letzten Nacht bei Fliegeralarm. Alarm um 1 Uhr, fünf Minuten nach 1 Uhr fallen schon die ersten Bomben, wir sind alle noch nicht im Keller. Ich wurde wach, sah am Himmel alles voll Leuchtschirmchen stehen, meine Sache nehmen und die Treppe herunter war eins. Ich ziehe mich an Johannas Bett notdürftig an und treibe zum aufstehen, alles will noch nicht so richtig, Karl zwar liegt schon im Fenster und meinte in seiner immer gleichbleibenden Ruhe, na, steht man auf, es sieht nicht gerade rosig aus. Die Kinder laufen alle zum Fenster, da ruft plötzlich Karl sehr eindringlich: ›hinlegen, Bonben‹, auf den Boden alle und fix in den Keller. Das ist ein Wort und ein Gedanke und schon heulen die Bonben, auch 1, 2, 3, Stück ganz in nächster Nähe. Wie wir alle in den Keller gekommen sind, weiß bald keiner mehr so recht zu sagen. Aber wir waren alle unten, wie einige Minuten später schon die nächsten fielen. Aber wie wir alle unten waren und uns ansahen, stand Johanna da im Nachthemd und 1 Strumpf an, Friedhelm in einem Arm, in der anderen das Oberbett. Karl und Herr Röhrig standen im Kellerflur und sahen sich durch das Fenster alles an, auf einmal kam Karl herein, rief Erwin und Helmut, nahm die Brandspritze und rief uns zu: Brandbomben, Ruhe bewahren, er lief in den Hof und kam nach einigen Minuten wieder: bei Gerke brennt es schon. Alle sind nach Gerke zum löschen gelaufen, Karl, H. Röhig, Erwin und Helmut, die Kinder schrieen, Ruht wurde uns bald ohnmächtig, es war eine entsetzliche Nacht. Über meine Ruhe habe ich selbst gestaunt, wie es

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kam, weiß ich heute selbst nicht. Aber nachher, nach der Entwarnung, sind wir mal nach draußen gegangen, es sah böse aus. Von Gerke bis Hartung, jedes Haus hatte Brandbonben mitgekriegt, aber alles ist durch Selbstschutz gelöscht worden. Aber an der Ems und Lahnstr. war alles in hellen Flammen, Du weißt doch auch, lieber Albert, das alte Bauerhaus, was so vorsprang in die Emsstr., das ist ganz abgebrandt bis unten. Dann weiter auf der selben Seite noch ein schönes neues Haus bis herunter zum 2 Stock. In der Lahnstr. sind Sprengbomben gefallen, 2 Häuser weiter wie Renger ihr Geschäft, 1 Haus ist ganz schwer beschädigt, da sind auch 6 Tote, 1 ganze Familie und 1 Kind von 14 Jahren von Stud. Schmitz. Du kannst Dir ja unsere Stimmung vorstellen, es ist doch eine schwere Zeit. Nun, so sieht es in Blitzdorf aus, das geht alles noch, aber am Hansapl. und Hohenzollering, Wolbeckerstr., ganz in nächster Nähe unseres Geschäfts, ganz toll. Ich wurde heute morgen von Karl Mechelhof angehalten, ich sollte mir mal meinen Laden ansehen, ob da wohl alles noch ganz sei. Ich bin sehr aufgeregt hin gegangen, aber unser Laden hat nur kein Schaufenster mehr, alles lag in Scherben im Schaukasten. Wir dürfen garnichts sagen, Terstegges Haus, uns gegenüber, ein trostloses Bild, dann weiter der Hohenzollering bei Nr. 8 u. 6, wo Grote wohnen, auch gegenüber Nr. 5, Amtsg. Bisping, auch ganz toll. Von Menke, Wolbeckerstr., bis zum Hohenzollering ist alles gesperrt, da liegen in Gosingshof noch Blindgänger. Die ganzen Familie mußten dort räumen. Auch neben Richter, Röpplershaus, hat einen Volltreffer bekommen, Frau Ladner soll im Krankenhaus sein. Die Wolbeckerstr. oben am Hansapl. bietet ein trostloses Bild, ich glaube kaum, das ich morgen auf machen darf, aber das ist auch nicht so schlimm. Hoffentlich haben wir diese Nacht Ruhe, man ist doch sehr nervös (Agnes an Albert, AN/ AN, 6. 7. 1941, aus: Reddemann 1996: 252ff.).

Die small story beginnt mit der Abgrenzung des im Folgenden Erzählten von dem eigentlichen Alltagsablauf. Markiert ist damit die Besonderheit des Erlebten, das sich somit von regulären Alltagsereignissen unterscheidet. Ausführlich schildert Agnes ihre Perspektive auf das Erlebte in der Nacht des Bombenangriffs und ihre Eindrücke von dem Morgen danach. Mit Felder/Gardt (2015) lassen sich diese Erzählungen als Sachverhaltskonstitutionen verstehen, durch die die Beteiligten Wirklichkeit konstituieren. Neben dem Sprachhandlungstyp der Sachverhaltskonstitution, haben Sachverhaltsverknüpfungen die Funktion dargestellte Sachverhalte zu kontextualisieren und Sachverhaltsbewertungen diejenige, darstellte Sachverhalte mit Sprecherurteilen zu versehen (vgl. Felder/Gardt 2015: 26f.). Agnes Neuhaus’ Sachverhaltsdarstellung ist punktuell durch Sachverhaltsbewertungen komplementiert. So drückt sie durch Bewertungsattributionen wie entsetzliche Nacht, es sah böse aus oder trostloses Bild ihre Sachverhaltsbeurteilung aus. Der vergewissernde Einschub Du weißt doch auch, lieber Albert markiert abermals einen geteilten Wissenshintergrund der gemeinsamen Lebenswelt der Vergangenheit. Als sie von Todesopfern berichtet, kommt es zum Emotionsausdruck: Du kannst Dir ja unsere Stimmung vorstellen, es ist doch eine schwere Zeit. Hierbei verknüpft sie den situativen Sachverhalt Bombenangriff mit Todesopfern mit dem transsituativen Zeitgeschehen, das jedoch unbestimmt

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Brief

bleibt. Das Syntagma es ist doch kommt in Feldpostbriefen musterhaft vor.25 Es dient oftmals dazu, einen Sachverhalt »evaluativ, epistemisch oder evidenziell« (Günthner 2008: 106) zu rahmen. In diesem Fall dient es ist doch dazu, die im Weiteren unbestimmt bleibende schwere Zeit als weithin akzeptierten und bekannten Begründungszusammenhang zu etablieren. Die gesamte Erzählung spannt sich um diese nunmehr verfestigte evaluative Äußerung und setzt sich im Weiteren in einem deskriptiven und sachverhaltsdarstellenden Stil fort. Im Anschluss an die Erzählung wird die Ausführlichkeit der Darstellung begründet: Ich habe dies geschrieben, weil der Wehrmachtsbericht sagte, Münster wäre stark mitgenommen. Nicht nur das Wissen um alternative Darstellungen, die Albert potentiell über das Geschehen in Münster erreichen, sondern das Wissen, dass überhaupt darüber auch für Albert rezipierbar berichtet wird, zieht Agnes zur Legitimation ihrer präzisierenden Sachverhaltsdarstellung heran. Ihre Erzählung ist somit ein persönlich perspektiviertes Addendum zur propagandistischen Berichterstattung durch die Wehrmachtsberichte. Das Kriegsgeschehen ist auch in Alberts Sachverhaltsdarstellungen zentral: Meine liebe Agnes! Nach einigen Tagen Dir wieder einen herzlichen und frohen Gruß. Wir haben arbeitsreiche Tage und Nächte hinter uns, der Erfolg aber hat uns unsere Arbeit gekrönt und uns die Tage mit frohem Mut ertragen lassen. Bis auf eine gewisse Müdigkeit geht es uns allen sehr gut. Die Russen bekommen jetzt ganz furchtbar Zunder von uns, sie wehren sich aber verdammt tapfer (Albert an Agnes, AN/AN, 21. 7. 1941, Reddemann 1996: 251).

Ähnlich wie bei Agnes erfolgt auf einen kurzen Gruß, der durch den Verweis auf die zeitlichen Umstände gerahmt ist (Nach einigen Tagen), eine rückblickende Einordnung arbeitsreiche[r] Tage und Nächte. Dabei ist die ›Arbeit‹ durch die Ausdrücke Erfolg und mit frohem Mut positiv eingefasst. Erst zum Ende der Passage wird deutlich, dass ›arbeiten‹ sich auf Kriegshandlungen beziehen muss. Die Darstellung Die Russen bekommen jetzt ganz furchtbar Zunder von uns, sie wehren sich aber verdammt tapfer drückt einerseits, gemeinsam mit der Einschätzung der Arbeit als ›erfolgreich‹, eine militärische Überlegenheit aus. Andererseits erfolgt mit der Attributszuschreibung sie wehren sich aber tapfer eine Respektsbekundung. Tapfer indiziert hierbei das Konzept der Tapferkeit als Hochwertkonzept des Nationalsozialismus, aber vor allem auch des militärischen Bereichs. Die Darstellung von militärischen Handlungen als ›Arbeit‹ erfolgt in Alberts Briefen sehr kontinuierlich. Er war an einer Schallmessbatterie eingesetzt, die die Aufgabe hatte, anhand von Schalldruckmessungen »den Standort feuernder 25 Eine Auswertung der häufigsten Trigramme von sechs Feldpost-Konvoluten mit insgesamt ca. 2,1 Mio. Tokens ergab, dass es ist doch mit 317 Vorkommen die neunthäufigste Dreiworteinheit des Korpus ist.

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Geschütze des Gegners auszumachen und dann eigene Einschießen einzuleiten« (Reddemann 1996: XXVI). Sofern es also seine Tätigkeit an der Batterie betrifft, handelt es sich um Einsätze in Kampfhandlungen, wie sich auch in folgendem Beleg zeigt: Heute nachmittag haben wir wieder ohne Pause bis vorhin arbeiten müssen, weil der Russe sich wieder unangenehm bemerkbar macht. (Albert an Agnes, 15. 3. 1942, Reddemann 1996: 464). Allerdings expliziert Albert hier nicht, welcher Art seine ›Arbeit‹ ist, die als reaktiv dargestellt wird. Die Kampfhandlungen des durch das Kollektivsingular der Russe bezeichneten militärischen Gegners werden mit unangenehm bemerkbar eher nüchtern dargestellt. 3.3.3 Zur großen Erzählung: Positionieren In Verbindung mit der Darstellung von Kriegshandlungen kommt es im folgenden Beleg zu deutlichen, rassistisch begründeten politischen Positionierungen durch Albert: Ich sehe die Notwendigkeit dieser Zeit auch ein, die Auseinandersetzung mit Russland mußte ja kommen. Die Heimat wird es nie ganz begreifen können. Ich mag mir das gar nicht ausmalen, was geworden wäre, wenn diese Bestien über Deutschland gefallen wären. Die deutschen Soldaten benehmen sich ja gegenüber der russ. Bevölkerung noch viel zu nobel, sie hat diese galante Art bestimmt nicht verdient. Aber der Deutsche ist im Grunde seines Wesens zu anständig (Albert an Agnes, AN/AN, 6. 2. 1942, Reddemann 1996: 404).

Hier rechtfertigt Albert den Krieg gegen die Sowjetunion als unausweichlich (Notwendigkeit, musste). Zweifel aus der Heimat begründet er mit einem Mangel an Fähigkeit, die Gründe für den Krieg zu begreifen. Hier deutet er einen Perspektivenvorteil an, den er als Soldat an der russischen Front hat und im Weiteren, abermals implikatierend, zu begründen versucht: Ich mag mir das gar nicht ausmalen, was geworden wäre, wenn diese Bestien über Deutschland gefallen wären. In der als aversiv gekennzeichneten Drohvorstellung werden die russischen Soldaten (bzw. die Bevölkerung) durch den Ausdruck Bestien dehumanisiert. Albert reproduziert hier rassistische Stereotype ebenso wie den nationalsozialistischen Legitimationsdiskurs für den Überfall auf die Sowjetunion, die jenen als notwendige Prävention darstellte (vgl. Schikorsky 1992; Diekmannshenke 2018). Den Umgang mit der sowjetischen Bevölkerung stellt Albert als galant dar und leitet damit in die Eigenzuschreibung anständig ein, die ihrerseits an nationalsozialistische Moraldiskurse anschließt (vgl. Gross 2012). Positionierungen erfolgen hier also dadurch, dass der Krieg affirmativ legitimiert wird (sehe…ein), der militärische Gegner entmenschlicht dargestellt wird (Bestien, weiter unten: Menschenmaterial, vgl. folgendes Zitat), eine fiktive Bedrohung durch den militärischen Gegner entworfen wird und dem Selbst moralische

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Brief

Hochwertattribute zugesprochen werden (nobel, galant, anständig). Die sprachliche Herstellung der eigenen Position erfolgt durch Selbst- und Fremdpositionierungen ebenso wie in der evaluativen Ausrichtung gegenüber einem Objekt, dem Krieg (vgl. Du Bois 2007; Spitzmüller 2013). Dabei werden durchweg nationalsozialistische Legitimationsdiskurse reproduziert. Im Gegensatz zur weiter oben zitierten, eher nüchtern vorgetragenen Darstellung von Kriegshandlungen, ist die nun anschließende Darstellung relativ explizit: Gestern abend hat es ganz furchtbar geknallt, die Russen versuchen in den letzten Tagen immer wieder, anzugreifen. Gestern abend auch wieder, da kamen aber die Russen in ein derartig konzentriertes Artilleriefeuer von uns, daß der Angriff immer wieder mit den höchsten Verlusten für die Russen abgeschlagen wird. Aber immer wieder werden die Russen ins Feuer getrieben. Menschenmaterial haben sie ja satt. Gestern abend feuerten auf einen Schlag über 30 Batterien von uns, da kannst Du Dir das Aufblitzen und das Donnern etwas vorstellen. Und diese ganzen Batterien stehen hier auf ziemlich engem Raum. Das ist ja das Schöne, daß wir doch mehr zu sehen und zu hören kriegen, wie mancher andere Soldat. Leider hat es vorgestern wieder einen Kameraden von unserer Batterie gepackt. Er war in das Feuer der sogen. Stalinorgeln gekommen, hatte einen Splitter in den Leib bekommen, an den Folgen der Verwundung ist er dann ein paar Stunden später gestorben. Ja, Opfer kostet es auf beiden Seiten (Albert an Agnes, AN/ AN, 6. 2. 1942, Reddemann 1996: 404).

Auf die legitimierende politische Positionierung folgt nun eine narrative Darstellung von Kriegshandlungen, die intensivierend beschrieben sind (ganz furchtbar geknallt, derartig konzentrierte[s] Artilleriefeuer, höchste[] Verluste[]). Erneut erfolgt eine dehumanisierende Zuschreibung, die die dargestellten Verluste[] des militärischen Gegners verharmlost: Menschenmaterial haben sie ja satt. Demgegenüber wird das perzeptorische Erlebnis mit Begeisterung vermittelt: da kannst Du Dir das Aufblitzen und das Donnern etwas vorstellen. Die Klimax findet die Erzählung in Alberts Darstellung seines Vorteils, relativ nahe am Kampfgeschehen teilzunehmen: Das ist ja das Schöne, daß wir doch mehr zu sehen und zu hören kriegen, wie mancher andere Soldat. Das Personalpronomen wir bezieht sich dabei auf seine Einheit, die offenbar in den Kämpfen im Vergleich mit anderen Einheiten eine andere Position einnimmt. Es folgt die Beschreibung des Tods eines deutschen Soldaten. Die Erzählung schließt mit einem konstatierenden Ja, Opfer kostet es auf beiden Seiten. Auffällig an diesem Abschnitt ist die ambivalente Darstellung von eigenen und fremden Kriegsopfern auf der einen Seite und die nahezu euphorisierte Bewertung des Kriegsgeschehens, das ästhetisiert als bild- und tonreiches Spektakel ausgekleidet wird. Die entmenschlichende Herabsetzung des militärischen Gegners, die sich nach der einleitenden Legitimations- und Positionierungspassage in dieser Kriegsbeschreibung fortsetzt, scheint hierbei die Grundlage zur

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Möglichkeit dieser ambivalenten, menschenverachtenden und nahezu absurd anmutenden Darstellung zu sein. Hier zeigt sich, welche Funktion Positionierungen haben: Sie sind hier sprachliche explizierte Anschlüsse an nationalsozialistische, rassistische Moralprinzipien, reproduzieren und festigen diese und rechtfertigen somit das eigene Handeln im Krieg. In der interpersonalen Briefkommunikation dienen sie sowohl der moralischen Selbstvergewisserung als auch der Vereinbarkeit von soldatischen Kriegshandlungen an der Front mit einer mit Angehörigen geteilten Langzeitidentität. Das Konzept ›Arbeit‹ dient Albert und Agnes hierbei als gemeinsame Identifikationsschnittstelle. ›Arbeit‹ ist in dem Sinne ein Hochwertwort, unter das sich auch moralisch Verwerfliches packen lässt. 3.3.4 Briefe auf Adressat*innen zuschneiden Briefe haben je nach kommunikativem Zweck einen spezifischen Adressatenzuschnitt (vgl. Schindler 2003). In der hier abgebildeten familiären Briefkommunikation sind sich die Schreibenden untereinander zwar jeweils vertraut, stehen aber dennoch in unterschiedlichen sozialen Beziehungen zueinander. Entsprechend unterschiedlich gestaltete sich auch das Briefeschreiben an verschiedene Adressat*innen. Im Folgenden werden zwei Briefe von Albert verglichen, die dieser am gleichen Tag an Agnes und seine Schwester Johanna schrieb. Die Briefe datieren vom 25. Juni 1941, also drei Tage nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion und dem Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges. Während der Brief an Agnes sich in die Kommunikationshistorie des Ehepaars Neuhaus einreiht, stellt der Brief an Alberts ältere Schwester Johanna eine Ausnahme dar. Im gesamten Konvolut ist dies der einzige Brief von Albert an Johanna. Wie dessen Einstiegssequenz Für Deine lieben Zeilen vielen Dank indiziert, handelt es sich offenbar um eine Antwort auf einen Brief von Johanna.

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Brief

Meine liebe Agnes! Dir einen frohen Morgengruß! Wir sind gestern auf den Straßen des deutschen Vormarsches gefahren und haben schaurige Bilder gesehen. Tauroggen eine Stadt von etwa 15000 Einwohnern, vollkommen eingeäschert. Links und rechts von der Straße frische Gräber von Gefallenen. Aufgedunsene Pferdekadaver. Flüchtlinge, mit noch nicht einmal dem Allernotwendigsten, irren umher. Die Russen sind bereits weit zurückgeworfen. Zerschossene russ. Tanks liegen an der Straße, der ungestüme deutsche Vormarsch ist nicht aufzuhalten. Das ist ein Aufmarsch, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat. Mit dem eigentlichen Kampf haben wir nichts zu tun. Man kann nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und die deutsche Organisation, die hinter allem steckt, bewundern. Diese Nacht hat es wieder ganz anständig gebumbst. Auch jetzt hört man immer noch den Geschützdonner. Vor den russ. Gefangenen bekommt man das Grauen, sämtliche Typen sind da vertreten. Du darfst nun nicht unruhig werden, wenn mal länger keine Post kommt man kann es nicht immer so machen. Sobald ich aber Zeit habe, schreibe ich Dir. Für heute Dir und Euch allen herzl. Grüße und Dir noch einen frohen Kuß Dein Albert (Albert an Agnes, AN/AN, 25. 06. 1941, Reddemann 1996: 221).

Liebe Johanna! Für Deine lieben Zeilen meinen Dank. Ebenso habe ich mich über den Brief vom kleinen Fritz gefreut. Über mich wirst Du durch Agnes ja wohl laufend unterrichtet sein. Es geht mir ausgezeichnet und hoffe dies auch von Euch allen. Was sind das Zeiten jetzt. Gestern sind wir durch brennende Dörfer und Städte gefahren, ein grauenvolles Bild. Ich glaube, das was die Heimat augenblicklich zu ertragen hat, ist doch ein Kleines gegenüber dem Leid, wo der Krieg drüber weggerast ist. Vor den russ. Gefangenen bekommt man einen Ekel, d. h. viele Gefangene werden nicht gemacht. Hier oben im früheren Litauen ist ziemlich viel verjudet und da gibt es ja kein Pardon. In der Ferne hört man immer den Geschützdonner und das Explodieren der Fliegerbomben. Der Vormarsch geht weiter, nur vor den unendlichen russ. Weiten kann man etwas Unruhe haben. Aber es ist alles derart organisiert, daß man nur staunen kann. Es gibt kein Halt vor der deutschen Feuerwalze. Wenn dieser Feldzug beendet ist, dürfte auch wohl dem Engländer sein Schicksal besiegelt sein. Es soll mich mal wundern, wie weit wir wohl vorstossen. So etwas an Aufmarsch hat die Welt noch nie gesehen, die Wagenkolonnen zu zweien und dreien, neben einander reißen gar nicht ab. Damit haben wir gestern auch reichlich Staub geschluckt. Für heute Dir und Euch allen alles Gute. Recht frohe Grüße Dein Albert (Albert an seine Schwester Johanna, AN/AN, 25. 6. 1941, Reddemann 1996: 222f.).

Beide Briefe thematisieren im ersten Teil Alberts Eindrücke von der Front in den ersten Kriegstagen. Im jeweils zweiten Teil der Briefe liefert Albert eine begeistere Darstellung. Die Briefe unterscheiden sich darin, dass Albert seiner Schwester Johanna gegenüber Erschießungen von Russen und Juden andeutet und diese rassistisch bzw. antisemitisch rahmt: Vor den russ. Gefangenen bekommt man einen Ekel, d. h. viele Gefangene werden nicht gemacht. Hier oben im früheren Litauen ist ziemlich viel verjudet und da gibt es ja kein Pardon (vgl. Dang-Anh und Scholl 2020). Auch hier hat die Herabsetzung legitimierende Funktion. Interessant ist aber vor allem in unserem Zusammenhang, dass Albert die Briefe an seine Schwester, Johanna, und an seine Frau, Agnes, in diesem Punkt unterschiedlich gestaltet. Das erhaltene und editierte Konvolut gibt, mit diesem Brief als einzigem an Johanna gerichteten Exemplar einen Hinweis darauf, dass Albert

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ihr gegenüber keine Notwendigkeit sieht, seine Erzählung in eine Gesamterzählung einzureihen, da es keine gemeinsame Briefkommunikationsgeschichte zu geben scheint. Seiner Frau gegenüber vermittelt er hingegen durch die Auslassung eine dauerhaft stabile Identität. Auch seine antisemitische Äußerung ist in der Korrespondenz in dieser Explizitheit nicht weiter vorzufinden. Der Adressatenzuschnitt passt sich hier also, so ist zumindest auf Grundlage der erhaltenen Daten zu vermuten, der konstanten Identitätsherstellung an.

3.5

Fazit

Feldpostbriefkommunikation diente vor allem der Aufrechterhaltung und Pflege sozialer Beziehung zwischen den Schreibenden. Unser Blick richtet sich daher auf die wechselseitigen kommunikativen Praktiken, durch die Schreibende ihre Beziehung sprachlich bearbeiten. Dabei sind vor allem jene relativ selten erhaltenen Konvolute von Interesse, in denen sich die Wechselseitigkeit der Feldpostkorrespondenzen zeigt. Der linguistischen Feldpostforschung obliegt es hierbei vor allem, die sprachlichen Praktiken der Beteiligten im Rahmen von gemeinsamen Interaktions- bzw. Kommunikationsgeschichten (vgl. Schröter/ Linke 2019) offenzulegen. Anhand der Praktik des Adressierens wurde die Verbindung zwischen dem dispositiven Arrangement ›Feldpost‹, das die Diskursbedingung der Feldpostbriefkommunikation zurichtete und den sprachlich-kommunikativen Praktiken des Adressierens selbst, aber auch dessen metapragmatische Thematisierungen, aufgezeigt. In der Korrespondenz wiederum ist die sprachliche Bearbeitung von Identität vor dem Hintergrund gemeinsamer Erfahrungen und Wissensbestände vordergründig. Dabei nutzt das Ehepaar Neuhaus beständig Erzählungen, um sowohl Neues aus dem jeweiligen Alltag zu vermitteln, als auch Selbst- und Fremdidentitäten in eine zeitüberdauernde Kohärenz zu bringen. Die übergreifenden Diskursangebote des Nationalsozialismus werden hierbei dafür herangezogen, das eigene Handeln in ein übersituatives master narrative einzuebnen, das die jeweiligen Identitäten, auch vor dem Hintergrund einer Paarbeziehung, legitimierend stabilisiert. Als gemeinsamer Bezugspunkt dient dem Ehepaar Neuhaus hierzu das Konzept ›Arbeit‹, in das die jeweiligen Alltagswelten in immer neuen small stories eingefasst und in die gemeinsame Erzählung eingewebt werden.

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Brief

4

Haftbriefe aus dem Widerstand Es ist Krieg, die einen fallen in Stalingrad, die anderen in Plötzensee (Günther Weisenborn, 5. 2. 1943)

4.1

Akteure

Briefe aus der Haft sind vor dem Hintergrund der Repressionsmaßnahmen gegen Andersdenkende zu interpretieren. Dazu gehören die Reglementierungen der offiziellen Briefkommunikation durch ebenso willkürlich gewährte wie entzogene Schreiberlaubnisse sowie die Zensur, die sowohl die Inhaftierten selbst wie auch deren Briefpartner/innen26 betreffen. Die Zensur führt dazu, dass Themen wie Haftbedingungen oder bevorstehende Vernehmungen und Prozesse ebenso wenig behandelt werden können wie die Haltung gegen den Nationalsozialismus. Allerdings war es vielen Inhaftierten durch die Hilfe anderer Personen möglich, inoffizielle Briefe, Kassiber (›Kassiber‹, geheimer Informationsaustausch im Beisein Dritter, vgl. Willand 2020: 602), an ihre Angehörigen zu richten. Gemeinsam ist allen, offiziellen wie inoffiziellen, Haftbriefen, wie es Eugen Gerstenmaier am 16. 11. 1944 bezeichnet, dass sie Interimsbriefe sind: Ob, wann und wie das eigene Leben und das gemeinsame Leben enden und wie lange eine Inhaftierung dauern wird, ist häufig ungewiss. So schwanken Verfasser/innen, wie insbesondere die inoffiziellen Briefe deutlich werden lassen, zwischen der Hoffnung, überleben zu können, und der sicheren Gewissheit, getötet zu werden. Dietrich Bonhoeffer bezeichnet den Zustand der über längere Zeit Inhaftierten auch als status intermedius oder auch als Fegefeuerzustand (9. 3. 1944). Offizielle wie inoffizielle Gefängnisbriefe liegen insbesondere in jüngeren, umfangreichen Editionen vor (s. u.), die noch nicht linguistisch oder geschichtswissenschaftlich analysiert worden sind. Unter 4.1–4.4 werden Briefe und Briefwechsel aus der Haft analysiert, die den Widerstandsnetzwerken des Kreisauer Kreises, des Schulze-Boysen-Harnack-Kreises (besser bekannt unter der irreführenden Bezeichnung ›Rote Kapelle‹) und des Canaris-Kreises, dem Hans von Dohnanyi und sein Schwager Dietrich Bonhoeffer nach seinem Berufsverbot angehörten, zuzurechnen sind. Im Zentrum stehen die Haftbriefe bzw. Briefwechsel zwischen den folgenden Personen: – zwischen dem Ehepaar von Moltke im Zeitraum von September 1944 bis zur Hinrichtung Helmuth J. von Moltkes am 23. 1. 1945 in Plötzensee. Es handelt 26 Meines Wissens handelt es sich tatsächlich bei den Briefverantwortlichen nur um Männer und Frauen, die sich auch als solche verstehen.

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sich dabei um den umfangreichsten und lückenlos dokumentierten inoffiziellen Briefwechsel aus der Haft. Seine Existenz verdankt sich Harald Poelchau, dem Gefängnispfarrer in Tegel, und seiner Frau Dorothee Poelchau. In der Wohnung der Poelchaus in Berlin schrieb Freya von Moltke, zwischen dem Gut Kreisau (Schlesien) und dieser Wohnung pendelnd, ihre Briefe (im Folgenden: HM und FM). zwischen dem Ehepaar Gerstenmaier vom 16. 11. 1944 bis zum 31. 1. 1945. Eugen Gerstenmaier war ebenfalls im Gefängnis Tegel, wurde im 11. 1. 1945 zu sieben Jahren Haft verurteilt und entging wie wenige aus dem sog. Kreisauer Kreis27 der Hinrichtung (im Folgenden: EG und BG). zwischen Hans von Dohnanyi und seiner Frau Christine, wobei die Briefe von Christine von Dohnanyi nicht veröffentlicht worden sind, vom 5. 4. 1943 bis zum 15. 3. 1945 aus dem Wehrmachtsgefängnis Berlin und aus unterschiedlichen Krankenanstalten wegen des sich kontinuierlich verschlechternden Gesundheitszustandes von Hans von Dohnanyi (Charité, Krankenanstalt Berlin-Buch, Reservelazarett Potsdam, Krankenrevier des KZ Sachsenhausen, Staatskrankenhaus der Polizei in Berlin). Es handelt sich sowohl um offizielle Briefe als auch um Kassiber, die aus dem Gestapo-Hausgefängnis Prinz-Albrecht-Straße versendet worden sind. Hans von Dohnanyi wurde am 9. 4. 1945 im KZ Sachsenhausen ohne Gerichtsverhandlung erhängt (vgl. Meyer 2015: 301) (im Folgenden: HD). zwischen dem Ehepaar Günther und Joy Weisenborn, die der sog. Roten Kapelle (Schulze-Boysen-Harnack-Kreis) zugerechnet wurden. Die Besonderheit dieses Briefwechsels ist es, dass Joy Weisenborn vom 26. 9. 1942 bis zum April 1943 selbst im Polizeipräsidium am Alexanderplatz in Haft saß. Günther Weisenborn war zunächst im Gefängnis der Gestapozentrale Prinz-AlbrechtStraße und wurde dann am 21. 10. 1942 in das Strafgefängnis Spandau verlegt. In dieser Zeit tauschten sie offizielle Gefängnisbriefe aus, späterhin auch Kassiber. Weisenborn wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Bis zum April 1945 ist er im Zuchthaus Luckau in Brandenburg inhaftiert (im Folgenden: JW und GW). zwischen der neunzehnjährigen Liane Berkowitz und ihrer Mutter Katharina Wassiljewa Berkowitz aus dem Zeitraum vom 10. 10. 1942 bis zu ihrem Abschiedsbrief am 5. 8. 1943, den sie vor ihrer Hinrichtung schrieb. Liane Berkowitz gebar in ihrer Haftzeit ein Kind, dessen Vater Friedrich Rehmer war, der am 13. 5. 1943 hingerichtet worden war. Beide gehörten zu den Jüngeren im Schulze-Boysen-Harnack-Kreis. Liane Berkowitz war an der Klebezettelaktion

27 Die Bezeichnung »Kreisauer Kreis« ist keine selbst gewählte Gruppenbezeichnung, sondern wurde von der Gestapo vergeben und im Rahmen der Volksgerichtshofprozesse prolongiert.

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Brief

gegen die Propagandaausstellung »Das Sowjetparadies« beteiligt, Friedrich Rehmer wird wegen ›Wehrkraftzersetzung‹ hingerichtet (im Folgenden: LB). – zwischen Dietrich Bonhoeffer und unterschiedlichen Freunden (u. a. an Eberhard Bethge, Karl Barth) zwischen dem 5. 4. 1943 und dem 8. 10. 1944 aus dem Gefängnis Berlin-Tegel; auch Bonhoeffer kam dann in das Gefängnis der Gestapozentrale und wurde ebenfalls am 9. 4. 1945 ohne Gerichtsverhandlung im KZ Sachsenhausen hingerichtet (im Folgenden: DB). Die Haftbriefe wurden unter den folgenden Gesichtspunkten ausgewählt: Es handelt sich um Briefe von Protagonist/innen des aktiven Widerstands (i. S. v. Benz 2018: 17f.), die aus dem Zeitraum von 1942–1945 stammen und so etwa den Vergleich mit der Feldpostbriefkommunikation ermöglichen. Da es sich gleichermaßen um offizielle wie inoffizielle Briefe handelt, ist es ferner möglich, Ähnlichkeiten und Unterschiede des Sprachgebrauchs zwischen beiden Brieftypen zu bestimmen. Eine wichtige Funktion aller hier untersuchten Haftbriefe ist, sich der Beziehung zum/zur jeweiligen Briefpartner/in bzw. sich eines damit verbundenen Beziehungsnetzwerkes zu vergewissern und die jeweilige Beziehung/das Beziehungsnetzwerk zu fortzusetzen. Briefe zu schreiben und erhalten zu können, war für das physische und psychische Überleben für jeden Einzelnen und jede Einzelne in der Haft wichtig. Als Dokumente der Beziehungskommunikation weisen offizielle und inoffizielle Briefe große Ähnlichkeiten im Sprachgebrauch auf, die, wie gezeigt wird, auf die Haftbedingungen selbst und die Hauptfunktion der Briefe zurückzuführen sind. Ähnlichkeit lässt sich auch im Kontrast erfassen: Die Briefe der jungen Liane Berkowitz an ihre Mutter unterscheiden sich z. T. deutlich von den Briefwechseln aus den unterschiedlichen Widerstandskreisen, weshalb ein offizieller Brief von ihr, derjenige vom 28. 2. 1943, detailliert analysiert wird. Für die inoffiziellen Briefe, die aus und in das Gefängnis durch die Vermittlung anderer Personen geschmuggelt werden, ist charakteristisch, dass sie, wie es von dem Ehepaar Moltke bezeichnet wird, neben breiten Reflexionen über die Rolle des eigenen Schicksals einen sachlichen bzw. prosaischen Teil enthalten. Mithilfe der Briefe wurde von Gesprächen mit noch nicht inhaftierten Freund*innen, Anwälten und Vertretern28 des NS-Apparates berichtet, sie enthalten Gedanken zur eigenen Verteidigung vor dem anstehenden Volksgerichtshofprozess und Entwürfe zu Gnadengesuchen. Der/die Inhaftierte positioniert sich i. d. R. zur Verhaftung, zum Verfahren und auch zur eigenen Widerstandstätigkeit, wobei, wie zu sehen ist, insbesondere die religiöse Weltdeutung und entsprechende Diskurse größeres Gewicht haben. Gerade die in28 Es handelt sich tatsächlich ausnahmslos um Männer.

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offiziellen Briefe dokumentieren eine Ausnahmesituation und die kulturellen, sprachlich vermittelten Traditionen, um mit dieser umzugehen: Sie sind doch aus einer Situation geboren, die schriftlich wohl selten niedergelegt wird, weil eben normalerweise dann der Kontakt zerrissen oder kontrolliert ist (HM, 2. 1. 1945).

4.2

»Interimsbriefe« aus der Haft: Bedingungen und Voraussetzungen

Schreiben unter Haftbedingungen bedeutet in vielfacher Hinsicht das Schreiben unter Unsicherheit. Offizielle Haftbriefe konnten je nach Inhaftiertem nur einmal monatlich oder wöchentlich verschickt werden. Ebenso wie die ohnehin seltene Sprecherlaubnis konnte auch die Schreiberlaubnis z. T. grundlos entzogen werden, es konnte jedoch auf inständiges Bitten des Inhaftierten die Schreiberlaubnis ausgeweitet werden. Offizielle Briefe aus der Haft haben mindestens zwei Adressat/inn/en: Die eigentlichen Empfänger/innen eines Briefes und die entsprechende Zensurinstanz, die ggf. verschlüsselte Botschaften nicht erkennen darf (vgl. Willand 2020: 601). Es lassen sich viele Textstellen nachweisen, aus denen hervorgeht, dass sich die Verfasser/innen des Zensors bewusst waren: Ich bin wie ein kleines Kind. Ich möchte mich zu Dir auf den Schoß setzen […]. Jämmerlich nicht? Nur dass ich mich gar nicht geniere, und den 3. Leser des Briefes muss ich ausschalten, sonst könnte ich überhaupt nicht schreiben! (HD, 24. 4. 1943).

Schreiberlaubnis bedeutete grundsätzlich, jeweils nur einer Person schreiben zu können, weshalb die jeweils inhaftierte Person darauf verwiesen ist, relevante Erkundigungen etwa nach anderen Personen an den/die Hauptadressaten/in zu delegieren. Die jeweils adressierte Person hatte dafür Sorge zu tragen, das familiäre, freundschaftliche und seltener auch das professionelle Beziehungsnetzwerk zu informieren und aufrechtzuerhalten, den Inhaftierten grundsätzlich am Alltags(er)leben teilhaben und, soweit möglich, ihn/sie an relevanten Entscheidungen mitwirken zu lassen. Eine Gewissheit, ob ein Brief den jeweils Anderen/die jeweils Andere erreicht hat, ist nur dadurch zu gewinnen, dass dieser/ diese antwortet. Für die inhaftierte Person sind Briefe oft außerhalb des Wachpersonals und Vertreter/innen des NS-Apparates der einzige Kontakt zur Außenwelt und insbesondere zur vorgängigen Alltagswirklichkeit. Welche große Bedeutung das Eintreffen von Briefen hat und welche Irritationen der Entzug von Schreiberlaubnissen und auch der unter Kriegsbedingungen erschwerte Transport von Briefen hervorruft, zeigen die folgenden Äußerungen von Joy Weisenborn:

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Brief

Herzensjunge! Mein Pitt! Mein geliebter Günther! Wenn diese Buchstaben in Töne umzuwandeln wären, so würdest Du Dir die Ohren zuhalten müssen, denn es würden Schreie sein. Sie kommen aus meinem tiefsten Herzen. Endlich hörte ich gestern, daß Du gesund und munter bist und nur Schreibverbot hattest, konnte ich doch keine Erklärung für Dein plötzliches Schweigen finden (JW, 24. 01. 1943).

Außerdem wurde die Schreibtätigkeit auf zumeist zwei Briefbögen begrenzt, z. T. musste die/der Inhaftierte für eigene Schreibutensilien sorgen, oft wurden die Verhafteten gefesselt. In offiziellen Briefen können Haftbedingungen, die Umstände der Haft, etwa prozessbezogene Informationen und eigene negative Empfindungen nur angedeutet werden, was allein schon eine Konzentration auf den Beziehungsaspekt ergibt. Berner (2006: 225–227) zeigt anhand unterschiedlicher Gefängnisbriefe aus Brandenburger Gefängnissen und Konzentrationslagern aus den Jahren 1933–1945, dass Briefe etwa auch dann eingezogen wurden, wenn die Haftbedingungen als erträglich bezeichnet wurden oder auf schmale Kost und Hunger hingewiesen wurde. Dass die Haftbedingungen und auch damit verbundene Erniedrigungserfahrungen kaum thematisch sind, liegt allerdings auch daran, dass die Verfasser/innen zumeist darum bemüht sind, ihren Angehörigen Sorgen zu nehmen und, soweit möglich, Standhaftigkeit zu demonstrieren (s. Exkurs zur Verbalisierung von Trauer und Verzweiflung). Inoffizielle Briefe liegen in unterschiedlicher Ausprägung vor und resultieren aus den Haftbedingungen. Auf dem einen Ende des Kontinuums stehen die vielen Seiten umfassenden Briefe, die sich das Ehepaar Moltke vermittelt über den Gefängnispfarrer Harald Poelchau zukommen ließ. Helmuth J. von Moltke bezeichnet es als ein Wunder, dass 3 bis 4 Mal die Woche, nein wohl noch öfter P.’s [Poelchau – B-M.Sch.] Schlüssel in meiner Tür klirrt (HM, 6./7. 12. 1944). Am anderen Ende des Kontinuums stehen Geheimbotschaften etwa auf den Inhalten von Paketen, die sich Hans von Dohnanyi von seiner Frau schicken ließ.29 Seine Frau kommt selbst seinem verzweifelten Wunsch nach, ihm krankmachende Kulturen zu schicken: Ich benutze meine Krankheit als Kampfmittel […] Zeitgewinn ist die einzige Lösung. Ich muss sehen, vernehmungsunfähig zu werden. Am besten wäre es, wenn ich eine solide Ruhr bekommen würde. Eine Kultur müsste im Koch’schen Institut für ärztliche Zwecke zu haben sein. Wenn Du eine Speise rot zudeckst, am besten auch noch einen Tintenklecks auf dem Becher, so weiß ich, dass darin ein anständiger Infekt ist, der mich ins Krankenhaus bringt (HD, 27. 2. 1945).

29 Zum Verständnis der Briefe ist es wichtig zu wissen, dass mit Briefen auch Zeichnungen, Liedtexte und andere Liebesgaben transportiert wurden. Zeitgleich wurden viele Pakete mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken und, sofern erlaubt, Büchern verschickt.

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Im Folgenden soll dargestellt werden, wie mittels der offiziellen und inoffiziellen Briefe bei der von allen Verfasser/innen identischen Konzeptualisierung des Briefes als ›Unterhaltung‹ eine spezifische Form der Beziehungskommunikation hergestellt wird, die zum einen den Haftbedingungen angepasst wird, zum anderen an vielfältige gemeinsame Wissensbestände anknüpft, zu denen auch das Wissen um sozial und kulturell angemessene (emotionale) Einstellungen und Wertungen, einschließlich der entsprechenden Partnermodelle, gehören. Da in offiziellen Briefen das Themenspektrum begrenzt ist, ergibt sich eine Konzentration auf die Beziehungsdimension von Sprache. In inoffiziellen Briefen ist der Adressat/die Adressatin oft konspirative/r Mitspieler/in, der/die überlebenswichtigen Informationen beschafft, weitergibt und beratend zur Seite steht. Gerade die inoffiziellen Briefe klären über Selbst- und Fremdverständnis, Weltdeutung und (retrospektive) Sicht auf die jeweilige Widerstandstätigkeit auf; sie sagen auch etwas darüber aus, wie eine bestimmte Person ihre/seinen Widerstand nach seinem/ihrem Ableben gedeutet wissen will. Im Zentrum stehen hier die Selbstpositionierungen von Helmuth J. von Moltke.

4.3

Beziehungskommunikation in der Haft: Typische Sprachhandlungsmuster

Mit der Haft bricht die alltägliche und selbstverständliche Kommunikation zwischen sich nah stehenden Menschen ab. Die Briefkommunikation wird durchgängig als ein Gespräch bzw. als Ersatz für eine Unterhaltung verstanden und ist von dem Wunsch geprägt, noch Teil des Lebens des Anderen zu sein bzw. diese/diesen zu begleiten (Ich habe daher diese Woche ganz innig mit Euch gelebt, mein Herz – HM, 30. 9. 1944). Die ›Unterhaltung‹ umspannt, ausgehend von der Schreiber-Origo, unterschiedliche Zeitschichten, und entfaltet sich entlang der für die Kommunikationsform »Brief« charakteristischen Bestandteile der Identifizierung, Authentifizierung, Situierung und Adressierung. 4.3.1 Datieren, Anreden und Verabschieden Die Datumsangabe ist ein wichtiger Orientierungspunkt in der unter erschwerten Bedingungen stattfindenden Briefkorrespondenz (vgl. 3). Der geregelte Briefverkehr, über den die Datumsangabe Gewissheit gibt, gewährleistet es, die angemessenen Fragen zu stellen und entsprechende Antworten zu geben und die ›Unterhaltung‹ zu ermöglichen. Mein liebes Herz, ich will mich mal rasch ein wenig mir Dir unterhalten. Es ist nachmittags und wir haben keine Fesseln an, weil wir scheuern sollen (HM, 28. 10. 1944);

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Brief

Warum schreibe ich Dir das alles? Ich muss mich mit Dir unterhalten, einsam sein habe ich nicht gelernt (HD, 9. 5. 1943).

Ferner, wie aus einem inoffiziellen Brief Dietrich Bonhoeffers hervorgeht, resultiert das Aufrechterhalten von Briefkontakten auch aus einer oppositionellen Haltung: Nun sind wir wenigstens wieder im Gespräch […] Es darf Roeder und Genossen nicht gelingen, zu allem Porzellan, was sie zerschlagen, auch noch unsere wichtigsten persönlichen Beziehungen zu zerstören (DB, 15. 12. 1943).

Sofern Briefwechsel vorliegen, so zeigt sich eine Korrespondenz zwischen den jeweiligen Anreden und den Selbstbezeichnungen, wie es etwa bei Joy und Günther Weisenborn der Fall ist. So wie Joy von ihrem Ehemann angesprochen wird, bezeichnet sie sich größtenteils selbst: Anreden von JW durch GW (Auszüge): Mein Joyken, mein innig geliebtes Joyken, mein Kleines, Mein innig geliebtes Joyken, Herzensjoyken, Ach, mein Herzensjoyken, mein Mädchen, meine kleine dunkelhaarige Lebensfrau, Mein Herzensjoyken, min Söting, meine kleine, tapfere, unwiderrufliche Schicksalsfrau; Selbstbezeichnungen von JW (Auszüge): Dein Dich so innigliebendes Joyken, Dein kleines Joyken, Dein liebebedürftiges Joyken, Dein Dich immer liebendes Joyken, Oh, mein Pittchen, und Dein Joyken wollte Dir noch soviel Schönes sagen; Deine kleine Frau, Dein Komiker, Dein Joyken

Dies ist für alle Briefwechsel charakteristisch. Während sich das Ehepaar Weisenborn mit Joyken (JW) und Pitt/Pittchen (GW) anredet, redet sich das Ehepaar von Moltke mit Pim, seltener Wirtin (FM) und Jäm oder Wirt (HM) sowie das Ehepaar Gerstenmaier mit Zibebe (›Rosine‹ – BG) und Gen (EG) an. Bei Moltkes ergibt sich die Besonderheit, dass Freya von Moltke zumeist mit dem Genus Maskulinum (gelegentlich Neutrum) etwa Mein Lieber oder Mein lieber Pim angeredet wird, wohingegen Joyken mit dem Genus Neutrum korrespondiert. Den Anderen mit dem Vornamen anzureden, signalisiert zumeist Dringlichkeit und ist sehr selten. Die Verwendung der Possessivartikel mein bzw. dein ist ebenso frequent – ihr Fehlen bei Begrüßung und Verabschiedung eher die Ausnahme – wie die Verwendung von aktivisch oder passivisch zu verstehenden Partizipien und entsprechenden Konvertaten (liebendes, geliebtes – Liebende/r, Geliebte/r), um den Anspruch auf wechselseitige Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit zu bekunden. Der Briefschluss wird i. d. R. dazu genutzt, vollumfängliche sowie immerwährende Liebe zu gestalten. Auch Liane Berkowitz und Hans von Dohnanyi, bei denen die jeweiligen Antworten fehlen, nutzen eine Fülle von Kosenamen (LB etwa: Mamotschka, Koscha-Mama, Selbstbezeichnungen: Lana, Lanuschka) bzw. Mein süßer, über alles geliebter Engel, mein Liebling Du, mein Muckilein, mein Herzlein, ach, wie soll ich Dich nennen?! (HD,

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5. 4. 1943). Neben Kosenamen, zu denen etwa auch Komiker (JW) und KlickKlack (BG) gehören, zeigt sich ein umfassendes Repertoire von (konvertierten) Appellativa wie Liebste, Geliebte, Herz, Engel, Junge oder Mädchen, wobei v. a. die Anrede mein Herz häufig und wechselseitig gebraucht wird. Anreden im Text werden häufiger von den Interjektionen Oh oder Ach begleitet, die strukturell als Exklamative und pragmatisch als tradierte Sprachgebrauchsmuster zum Ausdruck von Sehnsucht, manchmal auch von Traurigkeit/Wehmut zu interpretieren sind: Ach mein Herz, ich werde mich immer, immer an Deiner Seite über die Felder gehen sehen (FM, 8./9. 10. 1944). Häufiger erscheint die Verknüpfung eines Appellativums mit Du, die als emphatische Anrufungen zu interpretieren ist: Du + Apposition (Du Geliebte, Getreue, tapferes Mädchen u.v.m.) sowie: (Pro)Nominalphrase + Du (mein alles Du, mein Engel Du). Ausdruckskombination wie Du mein Schutzengel, Du! (HD) sind häufig Anzeichen für eine intensive Beschäftigung mit der anderen, oft herbeigewünschten Person. Ein gemeinsames Wir und das zugehörige Possessivum unser finden sich vor allem beim Evozieren einer gemeinsamen Vergangenheit (vgl. 4.3.3) und bei dem seltenen Versprechen einer gemeinsamen Zukunft. Durch die Bezeichnung des/der jeweils Anderen mittels einer Anrede/Anrufung und durch Verabschiedungen, verbunden mit den Selbstbezeichnungen, wird die Reziprozität der Perspektiven auf die jeweilige Beziehung gewährleistet, das wechselseitige Partnermodell bestätigt und auch die Exklusivität der jeweiligen Beziehung hergestellt. Erwartbar häufig wird die gemeinsame Liebe beschworen und werden Gesten der Zärtlichkeit (umarmen/in den Arm nehmen, zärtlich/sanft für den Kopf streicheln, küssen) füreinander zum Ausdruck gebracht wird. Die füreinander gewählten Bezeichnungen und die Handlungen des Aufeinander-Bezugnehmens sind mit Kategorisierungen (etwa Kleines, KlickKlack) verbunden, die ebenso auf die spezifische Geschichte einer Paarbeziehung verweisen, wie sie durch kulturelle Geschlechtercharaktere beeinflusst sind. Überblickt man die Bezeichnungen für das jeweilige Gegenüber, so sind folgende Tendenzen sichtbar: Die Bezeichnungen für die Frauen und insbesondere die Nutzung von Kosenamen zeigt eine größere Varianz, was in der (historischen) Genderlinguistik schon wiederholt thematisiert worden ist (vgl. Wyss 2000). Für Frauen gewählte Bezeichnungen korrespondieren mit allen drei Genera. Die Verwendung des Neutrums interpretiert Nübling (2014) u. a. als Positionierung von Frauen im häuslichen Nähebereich. Da im Rahmen des Bezugnehmens auf eine andere Person nicht nur auf diese – pronominal und nominal – referiert wird, sondern auch etwas über diese prädiziert werden kann (Du Getreue/Du Tapfere), ist eine nähere Betrachtung der gewählten Bezeichnungen und ihre Perspektivierungen aufschlussreich: Frauen werden häufiger mit Bezeichnungen belegt, die ihre Schutzbedürftigkeit (etwa Kleine/s), ihre Kreatürlichkeit (etwa Zibebe) und ihre Infantilität (etwa Klick-Klack) konstituieren. Diese Verteilung

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ist nicht nur als Verteilung aufschlussreich, sondern sie zeigt mit der Konstitution des Bürgertums verbundene Geschlechtercharaktere, die mit unterschiedlichen Verhaltens- und Gefühlsdispositionen verbunden sind und die Briefkommunikation auch auf anderen Ebenen prägt (s. 4.3.2). Außerdem sind sie für die Konzeptualisierung von Widerstandstätigkeiten zentral: Diese auszuführen, gilt für Moltke, zumindest gegenüber seinen Söhnen, als Aufgabe für einen Mann (Dazu hat mich mein Gewissen getrieben und schließlich ist das eine Aufgabe für einen Mann – HM, 17. 10. 1944). Die Bezeichnungen und die mit ihnen verbundenen Kategorien können sich während der Haftzeit jedoch verändern. Günther Weisenborn bezeichnet seine wesentlich jüngere Frau häufig als Meine kleine Frau, Mein Kleines u. ä. und ist während ihrer Inhaftierung sehr besorgt, ob sie in der Lage sei, die Haftbedingungen und insbesondere das Alleinsein ohne ihn als sensibles, warmherziges Fräuken zu ertragen (GW, 5. 12. 1942). Allerdings verändert die gemeinsame Feuerprobe (GW ebd.) der gemeinsamen Inhaftierung offensichtlich die Vorstellung ihrer gemeinsamen Beziehung, was durch die Ausdrücke Lebensfrau und unwiderrufliche Schicksalsfrau zum Ausdruck kommt. Grundsätzlich versuchen alle Schreibenden der Haftzeit und der Trennung von gewohnten sozialen Bezügen einen Sinn zu geben: Bonhoeffer bezeichnet die Gefängniszeit für mich eine sehr heilsame Pferdekur (DB, 29. 11. 1943), Freya und Helmuth J. von Moltke bringen wiederholt zum Ausdruck, dass sie sich noch näher gekommen seien (Wir sind über ein Jahr getrennt und mehr verheiratet denn je, FM, 5. 1. 1945) und Hans von Dohnanyi bezeichnet die Haftzeit als eine Prüfung (11. 4. 1943), die ihn habe erkennen lassen, dass er nur für das Wohlergeben seiner Frau lebe, sie sei sein wirklich besseres Selbst. 4.3.2 Sorgen artikulieren, Mut zusprechen und Danken Zu den elementaren Bestandteilen des Privatbriefs gehört, sich nach dem Befinden des Adressaten/der Adressatin zu erkundigen. Befindensfragen sind in Haftbriefen nicht formelhaft und als bloßes Abarbeiten kommunikativer Obligationen zu verstehen. Es ist für die Schreibenden zentral, Gewissheit über das Befinden und das den Umständen entsprechende Wohlergehen zu erhalten. Die eigentliche an eine/n Adressaten/in gerichtete Befindensformel Wie geht es Dir ist kaum nachzuweisen und scheint, möglicherweise aufgrund ihrer Formelhaftigkeit und Alltäglichkeit, gemieden zu werden. Vielmehr lassen die Schreibenden den/die Adressaten/in, an ihren Gedanken teilhaben, die sich um das Befinden des/der Anderen drehen und bei denen die Hoffnung zum Ausdruck gebracht wird, dass es dem Anderen/der Anderen gut ergehe (häufig mit der Wie mag-/Was mag-Konstruktion, s. u.). Um die Frage als Teil einer gedanklichen Introspektion deutlich werden zu lassen, wird über den/die Andere/n geschrie-

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ben. Die folgenden Belege machen deutlich, dass Fragen nach dem Befinden mit der Sorge um das Befinden verknüpft sind: Wie mag es Dir gehen, mein Junge? Hoffentlich gut? Mir geht es gut, Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen (JW, 13. 10. 1942); Wie mag es in Dir aussehen, mein Lieber! Wie mag es Dir gehen, mein Herzensjäm. Ich möchte Dir nah sein, ich flehe darum und bin es auch (FM, 8. 10. 1944); Meine zweite Hauptsorge ist aber mein Pim. Meine Gedanken fliegen natürlich vor allem zärtlich zu ihm, aber doch immer mit dem Gefühl: Wie wird es ihm gehen? Wie soll er das durchstehen (HM, 18. 1. 1945).

Manchmal wird die Bitte nach dem aufrichtigen Ausdruck eigener Empfindungen, insbesondere angesichts des nahenden Todes, eindringlich formuliert: Nur wenn es anders kommt, als wir in den letzten Wochen hofften, dann wüßte ich gern ehrlich von Dir, ob und wie Du Dich hereinfindest, wenn Gott Dir ›die Tür zum obern Stockwerk öffnet‹, wie P. [Poelchau – B-M.Sch.] sagte (BG, 10. 1. 1945).

Dass die inständige Bitte um eine wahrheitsgemäße Auskunft allerdings durchaus berechtigt war, machen folgende Ausführungen von Dietrich Bonhoeffer deutlich: Und schließlich würde ich anfangen, Dir zu erzählen, z. B. daß es trotz allem, was ich so geschrieben habe, hier scheußlich ist, daß mich die grauenhaften Eindrücke oft bis in die Nacht verfolgen […] an die psychischen Belastungen gewöhnt man sich nicht, im Gegenteil: ich habe das Gefühl, ich werde durch das, was ich sehe und höre, um Jahre älter, und die Welt wird mir oft zum Ekel und zur Last. Vermutlich wunderst Du Dich jetzt, daß ich das so sage und denkst an meine Briefe; ja, Du schriebst so nett, ich sei ›etwas bemüht‹ gewesen, Euch über meine Lage Zuversicht zu geben (DB, 15. 12. 1943).

Offene Geständnisse wie im vorherigen Beleg sind sehr selten, was sich nicht nur durch den etwas verlogenen (HM) Charakter der offiziellen Briefe erklärt.30 Die Briefkommunikation zielt darauf ab, dass sich die Schreibenden gemeinsam und wechselseitig ein Image des jeweils Anderen erhalten und gesichtsbedrohende Akte vermeiden. Wie unten noch gezeigt wird, liegt ein vertrauensvolles Miteinander nicht darin, dem Anderen rückhaltlos die eigene Gefühlswelt zu offenbaren, sondern den Anderen zu stärken und zu schonen. Im brieflichen Miteinander ist die Frage nach dem Befinden oft mit dem Äußern von Sorgen über den/die Andere/n, jedoch auch mit Wünschen für ihn/ sie verbunden. Zu den zentralen Sequenzen der Briefwechsel gehört es, dass auf 30 Innerhalb des Abschiedsbriefes von Moltke: Alle diese Zensur passierenden Briefe sind doch etwas verlogen, und ich kann mir vorstellen, dass ich dann nicht einen leicht lügenhaften Brief an Dich schreiben möchte […] Es kann auch sein, dass ich schreibe, weil ich fürchte, dass es sonst auffällt, oder weil es die einzige Art ist, bei der mich der Beamte, der ja neben mir sitzt, in Ruhe lässt und nicht stört (HM, 8. 11. 1944).

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das Äußern von Sorgen des einen die Entlastung durch den jeweils Anderen erfolgt, der/die die Sorgen zumeist für unbegründet erklärt. Im Vordergrund steht, dass die Briefpartner/innen sich einerseits wechselseitig versichern, dass man sich um ihn/sie keine Sorgen zu machen brauche/müsse und dass die Zusicherungen eine Replik auf die Sorgen des Anderen sind. Auch hier ergibt sich tendenziell eine gendergeprägte Kommunikationsordnung. Ist der Grund der Sorge der inhaftierten Männer v. a. auf das Alltagsleben und das Beschaffen von Nahrungsmitteln gerichtet, so entkräften die Frauen diese Sorgen. Sorgen artikulieren sich jedoch auch in den Bitten, etwas zu tun oder zu unterlassen, und der Entkräftung der Sorge, indem der entsprechenden Bitte nachgekommen wird: Bitte, geh also zum Arzt und laß Dich behandeln und schon Dich und weine nicht, sondern sei tapfer und ruhig (GW, 8. 10. 1942); Mein liebster Junge, mache Dir nur keine Sorgen um mich, morgen gehe ich artig zum Arzt […] Ich bin auch ganz tapfer und weine nicht mehr (JW, 10. 10. 1942).

Joy Weisenborn charakterisiert ihr Verhalten als artig und evoziert damit – schelmisch oder nicht – eine Eltern-Kind-Kommunikation, da artig ein Kindern zugewiesenes Attribut für folgsames Verhalten ist. Bitten und insgesamt direktive Sprachhandlungen werden durch Partikel wie bitte oder auf Zustimmung zielende Partikel wie ja (häufiger auch nicht wahr, gell) ausgedrückt. Äußerungen wie Sei tapfer oder Hab Mut sind als Ermutigung, jedoch auch als Verpflichtung, also deontisch zu verstehen, eine bestimmte Haltung der Inhaftierung bzw. den veränderten Lebensumständen gegenüber einzunehmen. Tapfer ist eines der Schlüsselwörter der brieflichen Haftkommunikation: Tapfer zu sein, ist eine Selbstzuschreibung, um das Gegenüber zu beruhigen, die Eigenschaft der Tapferkeit wird zugeschrieben (durch tapferes Mädchen u. ä.) oder es wird zur Tapferkeit aufgefordert. Aus den unterschiedlichen Äußerungskontexten lässt sich schließen, dass tapfer eher in solchen Lesarten wie ›klaglos‹ und ›tüchtig‹, seltener in solchen wie ›unerschrocken, mutig‹ vorliegt. Das wechselseitige Reagieren auf die Sorgen des Anderen ist mit dem Selbstverständnis der Beziehungspartner/innen und mit einer Paaridentität/geschichte eng verwoben. Die Sorge um die allein bleibende Frau, an deren Situation man eine Mitschuld fühlt, berührt Geschlechterkonzeptionen und damit verbundene soziale Rollen. Hans von Dohnanyi quält die Sorge, nicht mehr für die Familie planen zu können, keine Verantwortung mehr übernehmen zu können und so seiner Familie nicht mehr gerecht werden zu können: Keinen Mann, wenn er so ist, wie ich ihn mir vorstelle und wie er sein muss, kann man das Gefühl der Verantwortung für die geliebte Frau nehmen (27. 4. 1943).

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Zum Selbstverständnis des Ehepaars Moltke gehört es allerdings, dass Freya nach dem Tod ihres Mannes autonom handeln kann und wird und sich Helmuth von der Rolle des treusorgenden Gatten und Vaters, die er ironisiert, entfernt hat. Seine Ehefrau bringt parallel zum Ausdruck, dass er von der Sorge um sie entlastet sei, da sie es schon fertig bringen würde: Um unser, der Söhnchen und mein Leben, machst Du Dir ja keine Sorgen. Ich fürchte mich gar nicht. Das werden wir schon fertig bringen, mit und ohne Kreisau, mit und ohne Geld, mit und ohne Kommunismus. Die Söhnchen werden schon richtig werden (FM, 29. 9. 1944); Ich hätte auch sonst viel mehr Sorge um Dich, mein Herz. Wo ist dieser erste und natürlichste Gedanke eines treusorgenden Gatten und Vaters, um im Stil einer Traueranzeige zu sprechen? Er ist einfach nicht da, sondern statt dessen ist mir jeder Gedanke an Euch drei eine Stütze und Kräftigung (HM, 30.9. 1944).

Eine ebenfalls zentrale Sprachhandlung ist das Danken. Das Aussprechen von Dank für das kontinuierliche Schreiben und für die Unterstützung in der Haftzeit erfolgt von den Inhaftierten fortwährend. Das Danken spielt jedoch auch bei der Handlung des Bilanzierens eine zentrale Rolle und findet sich gerade in Briefen, die als potentielle Abschiedsbriefe gemeint sind und die sich in den monatelang hinstreckenden Briefwechseln wiederholt finden: Ich bin dabei kein geistiger Mensch, sondern wachse wie eine Pflanze auf dieser Welt. Dies ist viel mehr mein Klima als Deins, aber Du musst sorgen, dass ich nicht zu sehr eine Pflanze bleibe, und dafür hast Du, glaube ich, schon gesorgt! (FM, 29. 9. 1944) – Antwort: Wenn Du sagst, Du seist wie eine Pflanze, dann muss ich mich in Demut vor der Pflanze neigen, die dann, wenn es drauf ankam, noch nie gefehlt hat oder geirrt hat (HM, 1. 10. 1944); Wie hast Du mir schon geholfen. Was wäre aus mir geworden, wenn Du nicht gekommen wärst. Aber viel Aufräumarbeit hast Du an mir gehabt, und nun werden wir erleben, ob unsere Felder zusammen grün werden – oder getrennt. Aber grün werden sie, meins auch! […] Darum darfst Du nicht mit Sorgen an mich denken (BG, 10. 1. 1945).

Die Metapher der wachsenden Pflanze, in diesem Fall Freya von Moltke, gegenüber dem geistigen Menschen, in diesem Fall dem Ehemann, zeigt kulturell tradierte Geschlechtercharaktere der ›kreatürlichen‹, fühlenden Frau und dem geistigen Mann.31 Die Selbstcharakterisierung evoziert Charaktereigenschaften, die auf der einen Seite als negativ betrachtet (puselig, sich verzettelnd, sich an jeweils aktuellen Bedürfnissen ausrichtend), aber auch positiv als weltzugewandt und erdverbunden bezeichnet werden.

31 s. auch den Beitrag ›Geschlechter‹ in Teil 1.

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4.3.3 Charakterisieren und Schildern Wie bisher herausgearbeitet ist, werden die brieflichen Korrespondenzen von der kontinuierlichen Herstellung einer gemeinsamen Paar-/Familienidentität geleitet. Diese erfolgt einerseits durch aufeinander Bezug nehmende (relationale), reziproke und nicht statische Kategorisierungen, andererseits durch die zuletzt beleuchteten Handlungssequenzen. Das Schreiben angesichts eines nahe gerückten Todes führt dazu, sich selbst zu charakterisieren. Dies kann andeutungshalber geschehen und auf eine gemeinsame Beziehungsgeschichte hindeuten. Eine retrospektive Komponente wird auch dann besonders deutlich, wenn ein vergangenes erzähltes Wir hergestellt wird. In nahezu allen Briefen findet sich Angedeutetes, das sich auf die intime Kenntnis der jeweils anderen Person bezieht. Das kann sich auf die Liebe und die gemeinsame ›Beziehungsarbeit‹ eines Paares im weiteren Sinne beziehen, aber besonders auch auf Charakter- und Handlungseigenschaften, die nicht Teil der öffentlichen Selbstdarstellung sind (Du machst Dir über mich keine Illusionen). Zentraler Marker sind die sich um das Verb wissen gruppierenden Konstruktionen mit Du weißt (es) ja/schon bzw. Das weißt Du ja/schon: Ich habe hier bei P. in Frieden, unter Glück, Dankbarkeit und Tränen diesen Brief geschrieben, keinen bösen, sondern nur guten Tränen, mein Herz. Die gehören nun einmal zu mir. Oft und schön habe ich sie bei Dir rollen lassen, Du weißt ja, wie das bei mir geht! (FM, 29. 9. 1944); Bitte, sieh zu, dass wir uns wieder sehen können. Siehst Du, ein so unselbständiger, wankelmütiger Mensch bin ich. Das weißt Du ja. Ich glaube, Du machst Dir über mich keine Illusionen (HD, 20. 4. 1943); Es kommt ja auch nicht auf viele Worte an, Du weißt es schon bei uns beiden, meine ich (BG, 12. 1. 1945).

In der Paarkommunikation nehmen Formulierungsmuster wie Weißt Du noch, Erinnerst Du Dich, ich erinnere mich einen größeren Stellenwert ein. Die Schreibenden erinnern sich an die Hochzeit, Reisen und Erlebnisse mit ihren Kindern. Neben Reisen sind es vor allem gemeinsame Rituale, die in Erinnerung gerufen werden und die vermutlich beiden Briefpartnern präsent sind, weil sie die Beziehung definieren. Die nicht mehr existenten gemeinsamen Rituale, oft für die freie Zeit, werden den Gefangenen durch den Rhythmus des Schreibens, häufig am Wochenende, präsent. Charakteristisch sind kurze schildernde Passagen: Weißt Du noch, unsere herrlichen Sonntagmorgen? Einer baute ein grandioses Frühstück zusammen, mit Bratkartoffeln, Kaffee usw., einer machte ein herrliches Bad. Und dazu im ›Schatzkästlein‹ Beethoven. Und alles war sauber und festlich und schön. Und dann smokte ›der Alte‹ seine Piep, und wir spielten Schach, weißt Du noch? (GW, 18. 11. 1942) –

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beinahe wortgleich zuvor seine Ehefrau Joy: Aber gerade diese Tage sind so voll schöner Erinnerungen. Unser Sonntagmorgen, mein Pittchen raucht behaglich seine Pfeife, und ich hantiere oder lese, und im Radio das Schatzkästlein! […] Weißt Du noch im vorigen Jahr? Wie wir glücklich wie Kinder unsern ersten Weihnachtsbaum schmückten? Und dann die Bescherung! (JW, 10. 10. 1942); Und das 2. Frühstück unter dem Apfelbaum im Garten – weißt Du noch? Wir haben’s aber auch genossen, es waren doch Friedensmonate – […] (HD, 17. 4. 1943); Mein erster Gruß ist zu Dir, mein alles Du! Heute säßen wir nun um diese Zeit alle – wahrscheinlich auf der Terrasse – beim Frühstück; beim Sonntagsfrühstück, das Du so wundervoll zurechtmachen konntest. Und dann wären wir Arm in Arm durch den Garten gegangen, […] Vielleicht hätten wir dann gesungen, Musik gehört und dann wäre ein langer Spaziergang gekommen mit unseren Dreien – bei diesem Wetter! (HD, 23. 4. 1943).

Ein wichtiges Kennzeichnen des Privatbriefs ist die »Selbstäußerung« (Nikisch 1990: 13): Zu den Registern des Über-sich-selbst-Redens zählt ganz sicher das (im weitesten Sinne autobiographische) Erzählen, das als menschliche Universalie nicht nur, aber auch überall dort präsent ist, wo Selbstäußerung oder Self-writing geschieht (Strobel 2020: 302).

Es handelt sich jedoch nicht um faktuale Erzählungen mit einem spezifischen ›Plot‹, sondern es werden vorgängige Beziehungsrituale sowohl in ihrem spezifischen Nebeneinander als auch in ihrer Abfolge vergegenwärtigt und eine intersubjektiv geteilte, vorgängige Beziehungswirklichkeit wiederhergestellt. Es ist aufschlussreich, dass gerade in diesen Passagen ein gemeinsames Wir mit ähnlichen sprachlichen Strategien konstituiert wird. Dazu gehört das Zusammenspiel der erinnerungsanregenden idiomatischen Frage Weißt Du noch mit einem Erinnerungsgegenstand, der durch unsere/unser als ein gemeinsamer Erinnerungsgegenstand ausgewiesen wird. Die Darlegungen beziehen sich nicht nur auf das Zusammenwirken gemeinsamer Handlungen, sondern auch auf angestammte Beziehungsrollen: Mit der ›Alte‹ wählt GW eine (wahrscheinlich) aus der Beziehungskommunikation resultierende Bezeichnung: mit smokte und Piep, dem Niederdeutschen zuzurechnende Ausdrücke, wird eine für das Paar spezifische Form der Nähe erzeugt. Es ist unübersehbar, dass die sprachliche Gestaltung dieser Schilderung, einige wesentliche sprachliche Merkmale der schriftsprachlichen, auf Kontakt ausgerichteten Nähekommunikation (vgl. Schuster 2012) aufweisen: Es dominiert ein Satzbau, der die Außenfelder des Satzbaus, das Vor-Vorfeld (rhetorisch: Prolepsen, Unser Sonntagmorgen, mein Pittchen raucht …), das Nachfeld und Nach-Nachfeld in Form von Ausklammerungen und Nachträgen, z. T. durch Kommata syntaktisch separiert, nutzt. Auch der Erinnerungsgegenstand wird syntaktisch ausgegliedert. Zu den typischen Kennzeichen gehören zudem das satzinitiale Und sowie die vom Matrixsatz getrenn-

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ten VL-Sätze (Wie wir glücklich wie Kinder unsern ersten Weihnachtsbaum schmückten?). 4.3.4 Zum sprachlichen Umgang mit Angst, Trauer und Reue Für die Beziehungen war die Inhaftierung eine Belastungsprobe, jedoch findet sich kaum der sprachliche Ausdruck von Angst, Verzweiflung oder Traurigkeit.32 Die Bezeichnung von Tränen als Tränen bei Freya von Moltke geschieht durch die paaridiomatische Formulierung Herren von Verona.33 Angst nicht zu zeigen, sich furchtlos darzustellen, scheint zunächst eine Frage des (männlichen) Anstands, bürgerlicher Tugend und menschlicher Größe zu sein. Angesichts der Haftsituation und angesichts des nahenden Todes überwiegen die Bekundungen der Inhaftierten ruhig, gefasst, furchtlos, gesichert, klar oder sogar heiter zu sein bzw. sich zu fühlen. Dazu in der Lage zu sein, also Haltung zu bewahren, ist wesentlich für Selbst- und Fremdpositionierungen, vgl. dazu die folgenden Belege: Und mit einer Ausnahme – nämlich des Kaplans Wehrle, der in der Lehrter auf 218 lag und der einmal zusammen mit mir zur Vernehmung geführt und kurz darauf offenbar verurteilt wurde und 2 Nächte lang weinte – habe ich nur Bilder männlicher Tapferkeit und hoher Fassung und vornehmster Haltung gesehen (EG, 24. 1. 1945); Ich fragte H. kürzlich nach Adam, weil er, der ungemein Sensible es gewiß besonders schwer gehabt hat. Aber H. fragte bloß: Zweifeln Sie, daß er gestorben ist, wie wir zu sterben hoffen? Ich konnte nur nein sagen. Und glaub es auch (EG, 25. 1. 1945).

Die Mitgefangenen von Gerstenmaier, darunter Moltke, werden von ihm retrospektiv nicht nur als tapfere Menschen gesehen, sondern verkörpern nahezu idealtypische Leitfiguren (Bilder männlicher Tapferkeit), er selbst wertet sich durch seine eigene Bekanntschaft mit ihnen auf. Dass jemand geweint hat und dies offensichtlich hörbar und öffentlich getan hat, dient zur parallelen Abwertung der namentlich benannten Person. Die Adam von Trott zu Solz, einem weiteren Teilnehmer der Kreisauer Besprechungen, zugeschriebene Sensibilität wird als ein potentielles Hindernis für ein aufrechtes und tapferes Sterben gewertet, was aber von Moltke, wie aus dem Referat der Dialogsequenz ersichtlich, zurückgewiesen wird. Aufschlussreich zum Verständnis dieser Haltung sind die Briefe von Bonhoeffer, aus denen eine auf Angst bezogene narrative Episode und eine auf Angst bezogene räsonierende Passage herausgegriffen werden sollen: 32 s. den Beitrag ›Gefühle äußern‹ in Teil 1. 33 Die lieben guten Freunde sahen mir schon von weitem an, dass ich nicht im Gleichgewicht war. Es muss wohl leicht zu merken sein, Du hättest es ja auch sofort gesehen, und so behielten sie mich in diesem herrlichen Hafen, und ich ließ allen Herren aus Verona freien Lauf. Das war sehr wohltuend […] (FM, 12. 11. 1944).

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Meinen täglichen Spaziergang mache ich seit einiger Zeit mit einem Gauredner, Kreisleiter, Regierungsdirektor, ehemaliges Mitglied der D.C.-Kirchenregierung in Braunschweig, z. Zt. Standortführer der Partei in Warschau. Er ist hier total zusammengeklappt und schließt sich mit einer geradezu kindlichen Anhänglichkeit an mich an, holt sich in jeder Kleinigkeit Rat, erzählt mir, wann er geweint hat etc. Nachdem ich einige Wochen sehr kühl war, verschaffe ich ihm jetzt einige Erleichterungen […] Kurz, es gibt die seltsamsten Situationen; wenn ich dir nur erst einmal richtig erzählen könnte (DB, 29. 11. 1943, 2. Advent); Der Propagandaredner, mit dem ich täglich spazierengehe, wächst sich allmählich geradezu zu einer schwer erträglichen Klette aus. Während im ganzen die Leute hier doch versuchen, Haltung zu bewahren, auch in sehr schweren Fällen, ist er total zusammengeklappt und macht eine wirklich traurige Figur. Ich bin so nett wie möglich zu ihm und rede zu ihm wie zu einem Kind. Es ist manchmal schon fast komisch (DB, 4. Advent 1943).

Der ›Spaziergang‹ bezieht sich auf den täglichen, halbstündigen Ausgang der Inhaftierten. Bonhoeffer kategorisiert seinen unfreiwilligen Begleiter, ohne seinen Namen zu nennen, zunächst durch die Auflistung der von ihm ausgeführten Ämter und ordnet ihn somit dem NS-Apparat zu. Die Verhaltensweisen des Mannes schließen ihn aus der größeren Gruppe der Inhaftierten aus, die Haltung zu bewahren versuchen und zu denen sich Bonhoeffer zurechnet, indem er die Interaktion mit dem »Propagandaredner« als seltsam und komisch bezeichnet. Zum Bewahren von Haltung gehört offensichtlich selbständiges Agieren und distanziertes Verhalten, das der Person, die total zusammengeklappt (ein für Bonhoeffer überraschend umgangssprachlicher Ausdruck) ist, nicht mehr möglich ist, jenen sogar kindisch oder zu einem Kind macht. Das Verhalten des Mannes wird als unangemessen und geradezu unnormal dargestellt. Bezogen auf die hier betrachtete Briefkommunikation bedeutet dies, dass nicht nur das wechselseitige Zuschreiben von Eigenschaften durch die Kommunikationspartner/innen, sondern auch Fremdpositionierungen das Image des Schreibenden unterstützen. Gefühlskontrolle, Selbstbeherrschung und situationsmächtiges Handeln werden als Voraussetzungen dargestellt, um den Haftbedingungen trotzen zu können. Dass negative Emotionen nur sparsam dargestellt werden, entspricht sicher einer generationellen Prägung, einer bürgerlichen Erziehung und religiös motivierten Weltdeutung. Für Bonhoeffer gehört das Reden über und das Zeigen von Angst, das er verstärkt wahrnimmt, zu den nicht angemessenen thematischen Gegenständen der Kommunikation; Angst sei seiner Ansicht nach nur in der Beichte zu besprechen. Angst müsse ebenso wie Sexualität verhüllt werden, von Angst kann also nur schamhaft (pudenda – ›Scham‹) geredet werden, wenngleich sich Bonhoeffer hier auch ungewiss ist: Ganz offen reden die Leute hier von der Angst, die sie gehabt haben. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll; denn eigentlich ist die Angst doch auch etwas, dessen sich der

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Brief

Mensch schämt. Ich habe das Empfinden, man könnte eigentlich nur in der Beichte davon reden. Es kann sonst so leicht etwas Schamloses darin liegen. Deswegen braucht man ja noch lange nicht den Heroischen zu markieren. […] Ob nicht die Angst zu den »pudenda« gehört, die verborgen werden sollten? (27. 11. 1943; auch: 29. 11. 1943).

Allerdings ist das Schreiben über Angst und Verzweiflung angesichts der Situation, in der sich die Inhaftierten befinden, nicht zu vermeiden und die bisher dargelegten Fälle beziehen sich auf Verhaltensweisen im weitesten Sinne im öffentlichen Raum. Die Angst vor dem Sterben und die Angst (die von Moltke wiederholt thematisierte animalische Angst vor dem Sterben), am Tage der Verhandlung Freisler nicht widerstehen zu können oder die Verzweiflung darüber, nicht zu wissen, ob man in den nächsten Tagen noch leben wird, wird als Anfechtung, als Hölle und als graue Welle (HM in vielen Belegen) erlebt und es werden damit v. a. religiöse Deutungsmuster herangezogen. Es ist vor dem Hintergrund der bisherigen Darlegung der stark auf Dialog und Zustimmung zielenden Beziehungskonzeption aufschlussreich, dass Freya in einem charakteristischen Antwortbrief (12. 10. 1944) auf die Formulierungen von Anfechtungen gleich zweifach auf den seelsorgerischen Beistand von Harald Poelchau und auch auf das existenzielle Alleinsein verweist. Der nachfolgende Rat: Bleib ruhig und sicher! Das ist der Teufel, der Dich plagt! Schmeiß ihn heraus. P. wird Dir dabei helfen! delegiert Verantwortung an einen professionellen Beistand. Aufschlussreich ist auch die berichtende Passage von Gerstenmaier, in der er die Verarbeitung des Todes seines Freundes Helmuth thematisiert: Sein Tod habe ihn mitgenommen und: Ich habe mit Poe. [Poelchau – B-M.Sch.] ein langes Gespräch gehabt, zu dem ich mich gezwungen habe, weil Gott ja haben will, daß wir nicht stehen bleiben, sondern tapfer weiterpflügen (EG, 24. 1. 1945).

Um Ängste und Verzweiflung angesichts des nahenden Todes auszudrücken, werden (biblische) Metaphern (Fels, geborsten, Panzer) oder auch Fremdwörter verwendet. Das Mitteilen von acedia (ein älterer Ausdruck für Depression) und tristitia ist überhaupt nur allerengsten Beziehungspartnern vorbehalten: Ich muß gestehen, daß mir das keine ganz kleine Welle – im Sinne von Matth. 14 ist. Und ich hatte schon einiges zu tun, bis ich damit fertig wurde. Aber verschlingen konnte sie mich nicht (EG, 11. 11. 1945); Du siehst, Dein stolzer Fels34 ist mal wieder geborsten und hat wieder einige Zeit in der Hölle zugebracht. Eines ist sicher, wenn ich noch Monate in dieser Lage bliebe, dann würde ich die Hölle besser kennen als Kreisau (HM, 14. 11. 1944);

34 Die Fels-Metaphorik wird von Helmuth J. von Moltke sehr häufig gewählt, um positive und negative Gefühlszustände zu bezeichnen: Ich wollte Dir nur erzählen, dass meine Seelenlage

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Mir hat Gott keinen Panzer um mein Herz gegeben – vielleicht ist das mein Hauptfehler (HD, 27. 4. 1943); Du bist der einzige Mensch, der weiß, daß die ›acedia‹ – ›tristitia‹ mit ihren bedrohlichen Folgen mir oft nachgestellt hat, und hast Dir vielleicht – so fürchtete ich damals – in dieser Hinsicht Sorgen um mich gemacht. Aber ich habe von Anfang an gesagt, daß ich weder den Menschen noch dem Teufel diesen Gefallen tun werde; das Geschäft sollen sie selbst besorgen, wenn sie wollen (DB, 18.11.43).

Die Bibel, religiöse Lieder, Taufsprüche, Grabinschriften und Gebete sind von großer, vielleicht allergrößter Wichtigkeit, um Tröstung und Erbauung in der Haft zu finden.35 So lasen Moltke und Gerstenmaier in der Woche um den Volksgerichtshoftermin am 10/11. 1. 1944 die gleichen Bibelstellen (etwa morgens Markus 11, 20–26, 2. Chron. 32, 7,8, 20–22, Ps. 23, 31, Haggai 2,9, 118, Jes. 12, Josua 2, Joh. 17 – HM, 6. 1. 1945). Wenn man sich vor Augen führt, dass es in Jes. 12 etwa heißt: Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht, so wird deutlich, dass das Thema »Angst« auch vor seinem religiösen Horizont zu lesen ist, ähnlich wie etliche andere Selbstzuschreibungen, etwa auch die – für die heutige Leserin – irritierende Heiterkeit und Freude (Jetzt heißt es wie nie zuvor: Sursum corda – die Herzen in die Höhe – EG, 11. 1. 1945). Eugen und Brigitte Gerstenmaier führen wiederholt das Lied »O Durchbrecher aller Bande« an (BG, 11. 1. 1945); Dohnanyi bekundet öfter, eigentlich nur noch in der Bibel lesen zu wollen und zu können (vgl. HD, 23. 4. 1943). Die Religiosität der Verfasser/innen ist ein wichtiger Aspekt der Konstitution des Selbst überhaupt und insbesondere auch der Konstitution des widerständigen Selbst. Die religiöse Weltdeutung bzw. die Indienstnahme des religiösen Diskurses sind ein (selbstverständliches) Hilfsmittel, um den Nationalsozialismus als feindlich und gottlos zu deuten und Erklärungen für den Nationalsozialismus zu begründen, Gott strafe das törichte[n], eitel und oberflächlich und feige gewordene[n] deutsche[n] Volk […] mit dem äußersten Wahnsinn dieses fluchbeladenen Tyrannensystems (EG, 24. 1. 1945). Nicht vor den Zumutungen der Inhaftierung zu kapitulieren, ist auch eine Selbstverpflichtung gegenüber dem Guten. In diesem Sinne lassen sich charakteristische Adjektive (sicher, heiter) und Substantive (Haltung) als deontisch interpretieren. Für eine Ideengeschichte des Widerstands ist wichtig, dass christlicher Glaube und nicht-konservatives Gedankengut eine enge Allianz eingehen können. Denn Moltke dankt Gott auch am Ende seines Lebens für Folgendes:

da ist, wo ich sie am liebsten habe: ganz tief unten, aber dort auf Felsuntergrund. Wenn ich sie da nur festhalten könnte, denn das Auf und Ab ist immer anstrengend. (HM, 30./31. 10. 1944). 35 Beim Ehepaar Weisenborn sind es selbst erdachte Lieder und Klassiker wie Goethe, Schiller oder Kleist (vgl. JW, 1. 11. 1942).

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Brief

Dann hat er in mich jenen sozialistischen Zug gepflanzt, der mich als Großgrundbesitzer von allem Verdacht der Interessensvertretung befreit (HM, 11. 1. 1945).

Freya von Moltke erklärt dies 1989 in einem Interview mit Marion Dönhoff folgendermaßen: All die Gefahren, die damals zu bestehen waren, konnte man eigentlich nur mit einem sehr starken Fundament, wie es das Christentum ist, oder auch der Kommunismus war, ertragen. Der liberale Humanismus reichte dafür nicht aus. (Freya von Moltke, Interview mit Marion Dönhoff, Die Zeit 4/1989).

Die skizzierte Haltung ist jedoch nicht für alle Haftbriefe charakteristisch. Flankierend dazu soll ein Haftbrief von Liane Berkowitz vom 28. 2. 1943 an ihre Mutter herangezogen werden, die unter Haftbedingungen ihre einzige Briefpartnerin ist. Meine liebe gute Mamotschka! 28.II.43 Wie man Dir inzwischen hoffentlich schon mitgeteilt hat, besteht in meiner Sache noch etwas Hoffnung. Da ich mich um des Kindes willen nicht mehr so furchtbar aufregen will, gebe ich mir die größte Mühe, an diese Hoffnung zu glauben. Für Remus wird wohl nichts mehr zu machen sein. Ich hoffe, daß seine Eltern ein Gnadengesuch für ihn eingereicht haben, aber es wird wohl nichts nützen. Mamico, Liebste, ist das nicht Ironie des Schicksals, daß er aus Rußland zurückgekommen ist in einem Moment, wo ich schon nicht mehr daran geglaubt habe, nur um hier in Deutschland eines so entsetzlichen Todes zu sterben. Dabei ist er um meinetwillen ganz verzweifelt und macht sich große Sorgen um unser Kind. Ich selber frage mich Tag und Nacht: Was soll werden, wenn wir sterben und Dir Gott behüte etwas passiert? Es ist nicht auszudenken! Ich möchte Dich nun dringend bitten, einen Anwalt aufzusuchen und sich zu erkundigen ob Remus (da ich ja selber noch minderjährig bin) berechtigt ist, einen Vormund für das Kind zu ernennen, und ob die finanziellen Ansprüche, die ich an das Vermögen von Henry Berkowitz habe, meinem Kinde zugute kommen können. Ich möchte bis zur Geburt wenigstens über diese Punkte Klarheit haben, da es bis dahin wahrscheinlich noch nicht entschieden sein wird, ob ich begnadigt werde oder nicht. Tue bitte, worum ich Dich bitte und gib mir Nachricht. Ich werde sicher Ende März von hier weg und ins Staatskrankenhaus kommen. Hoffentlich wird man gestatten, dass Du mich dort mal sehen kannst. Es wird notwendig sein, dass Du zur Kartenstelle gehst und Dir einen Schein ausstellen läßt, um für das Kind etwas zum Anziehen zu besorgen. Diese Sachen möchte ich aber noch nicht haben, solange ich noch hier bin, um nicht mit noch mehr Sachen zu belasten. Dagegen hätte ich gerne 2 Nachthemden, aber dünne, sollte es Anfang April noch kalt sein, habe ich ja die rosa Strickjacke. Am besten wird sein, Du kaufst mir welche, denn meine sind, glaube ich, sehr kaputt. Ausserdem werde ich dringend einen kleinen Koffer brauchen. Es ist wirklich widersinnig, man weiß nicht, ob man am Leben bleibt, trotzdem muß an solche Kleinigkeiten denken. Bitte doch Gerda, mir die Fotographie von Remus zu schicken, sie weiß schon, welche.

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Morgen ist schon der 1. März; wenn man mir vor einem Jahr meine jetzige Lage prophezeit hätte, würde ich laut gelacht haben. Erinnerst Du Dich noch an meine Ausflüge mit Remus vom vorigen Jahr? Wenn man an all das denkt und die Sonne so scheint wie jetzt, wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben. Mir scheint manchmal alles nur wie ein schlechter Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen muß. Leider ist es die rauhe Wirklichkeit. Ich habe früher nie geglaubt, dass das Leben so schwer ist, trotzdem ich mich mit allen Fasern des Herzens daran klammere. Ich weiß, meine liebe Mamico, dass Du mir vergeben hast, was ich angestellt habe, und deshalb hoffe ich, dass auch Gott mir vergeben wird, was ich an Dir gesündigt habe und mich retten wird, und auch Remus. Mamico, meine Gute, sei gesund und wohl. Gräme Dich nicht zu sehr. Du mußt leben und gesund sein, was immer auch geschieht, denn mein Kind braucht Dich. Basja, Vera, Tante Eugenie und Ulli meine herzlichsten Grüße, auch Maria Pawlowna. Auch nach Warschau alles Gute und Liebe. Ich denke oft, wie schön es im Sommer immer in Riesa[??] war. Tausend Küsse für Dich, meine liebste Mamotschka und denke immer an Deine arme Lana P.S. Neulich wurde in meiner Nähe ein kleines Kind mit einer weißen Zipfelmütze vorbeigetragen, weißt Du, so wie ich eine aufhabe auf den Bildern in Deinem Album. Mir fiel ein, dass mein Kind auch so eine Mütze tragen wird und hatte das Gefühl, dass mein Herz in Stücke geht. Vera möchte mir Doch bitte einen Band Shaw leihen und vielleicht hat Tante Eugenie »Väter und Söhne« im Original. Ich würde mich sehr freuen. Apropos Turgenjew, Du weißt doch: »Glückliche Jahre, fröhliche Tage Wie Frühjahrsgewässer sind sie vorübergerauscht!« So geht es auch mir!!! Mamotschka, bete für mich, ich habe solche Angst.

Liane Berkowitz, die von Friedrich Rehmer (Remus) ein Kind erwartet, das sie schließlich am 12. 4. 1943 gebären wird,36 bereut ihre Tat, die Klebezettelaktion zur Propagandaausstellung Das Sowjetparadies, und die Auswirkungen, die diese für das Leben ihrer Mutter und ihres erwarteten Kindes hat, sehr. Schon in ihrem zweiten, von ihr überlieferten Brief schreibt sie sich die Eigenschaft zu, ungehorsam gewesen zu sein. Ungehorsam zu sein ist eine Eigenschaft, die Kindern oder Schüler/innen zugewiesen wird, die Geboten nicht Folge leisten oder Verbote ignorieren. In der Verabschiedung eines wiederum anderen Briefes: Ich umarme und küsse Dich tausendmal, meine liebste Beste und bin immer Deine Dich liebende, wenn auch ungehorsam gewesene Lana (LB, 26. 10. 1942), wird die eigene Tat als ein Verhalten interpretiert, das sich gegen ihre Mutter gerichtet hat bzw. von ihr nicht gebilligt worden wäre. Ihre politische, auf die nationalsozialistische Öffentlichkeit gerichtete Tat scheint ihr auch als eine Dummheit (nicht im Sinne mangelnder Intelligenz, sondern im Sinne eines törichten Verhaltens). 36 Die Tochter Irina Berkowitz kommt schon im Oktober 1943 im Krankenhaus Eberswalde ums Leben, wahrscheinlich ist sie ein Opfer der NS-Krankenhausmorde.

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Brief

Noch im vorliegenden Brief, in dem sie davon ausgeht, dass ihre Mutter ihr vergeben hat, bezeichnet sie die Tat mit dem Verb etwas anstellen, was auf eine unbedachte, nicht auf eine aus wohlüberlegte Überzeugung begangene Tat hinweist, deren Konsequenzen weder sie noch ihre Mitstreiter/innen überblickt zu haben scheinen; noch hofft sie, dass auch Gott ihr vergeben möge, denn sie begreift sich selbst als sündig (was ich an Dir gesündigt habe) und nicht wie die Mitglieder des Kreisauer Kreises als Streiterin für eine höhere, göttliche Macht. Dass sich ihr Selbstbild und ihr Seelenzustand vom Imageaufbau der bisher thematisierten Widerstandskämpfer/innen unterscheidet, wird auch durch die Äußerungen bete für mich, ich habe solche Angst, das Gefühl, dass mein Herz in Stücke geht ebenso wie durch die Charakterisierung ihres Partners als verzweifelt und sich große Sorgen machend deutlich. Sie lässt ihre Mutter an ihren Gedanken bzgl. Selbstbefragungen (mit der idiomatischen Frage Was soll werden) bezüglich ihres drohenden Todes, direkt als sterben benannt, teilhaben. Bereuen bedeutet zu wünschen, dass etwas Getanes oder Unterlassenes besser nicht stattgefunden hätte, was – im Falle von Liane Berkowitz – sowohl die Tat als auch ihre Folgen betrifft. Bereuen ist eng mit dem Gefühl des Betrübtseins oder der Traurigkeit verbunden (was an der althochdeutschen Wurzel des Verbs bi(h)riuwe¯n ›betrübt sein‹ schon deutlich wird). Die Tat auf etwas wie Leichtsinn und Dummheit zurückzuführen, enthebt die Ausführende der vollen Verantwortung für die Tat und erklärt diese mit ihrem noch jungen Alter (ob die Verfasserin tatsächlich bereut, meint, töricht gehandelt zu haben, muss hier offenbleiben). Das Bedauern korrespondiert häufig mit dem Zurückversetzen an einen Zeitpunkt, an dem die Tat (Handlung) noch verhindert werden kann. Dazu werden kontrafaktische Konditionalgefüge genutzt, etwa: wenn man mir vor einem Jahr meine jetzige Lage prophezeit hätte, würde ich laut gelacht haben, was ebenfalls die Unbedachtheit ihres Tuns ausdrückt. Die den Indikativ nutzenden, nachfolgenden Konditionalgefüge formulieren eine generalisierend zu verstehende Hypothese: ›Wenn man jung ist, kann man nicht an den Tod glauben‹, weshalb ihr das gegenwärtige Erleben als ein schlechter Traum erscheint, der leider, ein Ausdruck des Bedauerns, rauhe Wirklichkeit ist. Der Ist-Zustand, also auch die aus anderen Gründen erfolgte Verhaftung von Friedrich Rehmer wird mit dem Phrasem Ironie des Schicksals bezeichnet, also ein Gegenteil des eigentlich Erwarteten: Der verletzt aus dem Rußlandfeldzug heimgekehrte Rehmer kann nicht gesunden, leben, sondern wird eines so entsetzlichen Todes sterben. Ebenso wie das Phrasem wird die Frage nach anderen Gegenständen und Kleidung, die zu den Grundvoraussetzungen des Überlebens zählen, vor dem Hintergrund des gleichzeitig drohenden Todes als widersinnig bezeichnet. Auch aus ihrem Brief geht die Wichtigkeit von Lektüre (Shaw, Tolstoi) und mit der Identifikation mit Zitaten, die ihre Welt-/Selbstdeutung unterstützen, hervor: Du weißt doch: »Glückliche Jahre, fröhliche Tage Wie Frühjahrsgewässer sind sie

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vorübergerauscht!« So geht es auch mir!!! Mit dem Bedauern über ihre Verhaftung geht die Konstruktion einer ehemals als anders, als beglückend und hoffnungsfroh erlebten Vergangenheit einher; die Verhaftung wird als biografischer Bruch erlebt. Die epistemische Selbstpositionierung (früher nie daran geglaubt), verbunden mit einer konzessiven Konstruktion (trotzdem i. S. v. ›obwohl‹), zeigen einen Widerspruch zwischen der Schwere des Lebens und dem Wunsch, es zu erhalten, auf. Anders als diejenigen, die sich lange mit den Möglichkeiten der Opposition gegen den Nationalsozialismus auseinandergesetzt und schließlich gehandelt haben, hadert sie offensichtlich mit dem Sinn ihrer Inhaftierung und ihres drohenden Todes. An der exemplarischen Analyse des Briefes zeigt sich deutlich, dass die konkrete Ausgestaltung eines Briefes nicht nur auf die Haftbedingungen und auf den übergeordneten Zweck der Briefkommunikation, Aufrechterhaltung von Beziehung, zurückgeführt werden kann, sondern dass er wesentlich auch davon beeinflusst ist, wie die Tat gegenüber anderen bewertet wird. Das Bereuen der Tat und die Konzeptualisierung der Haft als biographischer Bruch prägen den Briefwechsel und begründen sprachliche Strategien.

4.4

Sich zum Nationalsozialismus positionieren am Beispiel Heinrich James von Moltke

Die inoffiziellen Briefe enthalten immer auch einen Teil, in dem sich die Inhaftierten mit ihrer Verhaftung, den Vernehmungen und vorstehenden Verhandlungstagen und ihren Verteidigungslinien auseinandersetzen. Es stehen das eigene Überleben sichernde Überlegungen im Zentrum, nicht jedoch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Diese findet sich in den privaten Tagebüchern und Briefwechseln vor der Verhaftung. Dennoch lässt sich aus den Briefwechseln viel über die eigene Einschätzung der eigenen Rolle im Widerstand, das Verhältnis von Widerstandszirkeln und besonders auch über Vertreter des NS-Apparates (v. a. über Roland Freisler und Manfred Roeder) erfahren. Aufgrund der sehr umfangreichen Korrespondenz steht hier die Perspektive von Helmuth J. von Moltke und damit auch sein Beziehungsnetzwerk im Vordergrund. Moltke ist unzufrieden damit, mit dem 20. Juli 1944 bzw. mit dem Goerdeler-Beck-Kreis identifiziert zu werden und vom NS-Apparat als deren Vordenker betrachtet zu werden. Der Haftbefehl vom 11. 10. 1944 lautet, dass Moltke es mit Anderen unternommen habe, »die nationalsozialistische Regierung nötigenfalls mit einer gegen den Führer gerichteten Gewalttat zu stürzen, um sich selbst oder ihre Gesinnungsgenossen in den Besitz der Macht zu bringen« (Moltke/Moltke 2011: 548), was, wie Moltke wiederholt bekundet, nicht seine Motive und Prinzipien wiedergeben würde, die immer auf Gewaltverzicht beruht hätten. Auf Freyas Urteil: Du stirbst für etwas, für das es

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sich zu sterben lohnt (29. 9. 1944) antwortet er: Nun ginge ich eben lieber in den Tod, wenn es formal für meine eigenen Gedanken wäre (HM, 1. 10. 1944). So schreibt er in einem frühen, zu diesem Zeitpunkt verfrühten Abschiedsbrief an seine Söhne: Die Sache, wegen derer ich umgebracht werde, wird in die Geschichte eingehen und kein Mensch weiß, wie. Euch will ich aber folgendes sagen: ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit und der mangelnden Ehrfurcht vor Anderen, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat. […] Insofern werde ich vom nationalsozialistischen Standpunkt zu Recht umgebracht. Ich habe aber nie Gewaltakte wie den des 20. Juli gewollt oder gefördert, sondern ihre Vorbereitung im Gegenteil bekämpft […] Ihr sollt aber nur wissen, dass ich nicht in einen Topf mit den Männern vom 20. Juli gehöre (HM, 11.10. 1944).

In diesem Brief stellt er sich als überzeugten und langjährigen Kämpfer (mein ganzes Leben, schon in der Schule, angekämpft) dar, schreibt den Deutschen Eigenschaften wie Geist der Enge und Intoleranz zu und positioniert sich gegen nicht spezifizierte Bevölkerungsteile und den nationalsozialistischen Staat, die er in einer engen Verbindung zueinander sieht. Da er nie Gewaltakte befürwortet habe, wird auch eine weitere Gruppe abgelehnt und Nichtzugehörigkeit zu dieser bekundet (nicht in einen Topf mit den Männern vom 20. Juli gehöre). Ferner beauftragt er Freya, auf Gut Kreisau verbreiten zu lassen, dass er nicht zum 20. Juli gehören würde (vgl. HM, 30. 9. 1944). Er zeigt Enttäuschung darüber, dass er über das Engagement von Peter Yorck von Wartenburg im Netzwerk des 20. Juli (Moltke war zuvor längere Zeit im KZ Ravensbrück inhaftiert) in die Fallstricke der Justiz geraten ist. Bei der Konzeption seiner Verteidigungslinien führt er aus: Da sehe ich nur 2 schmale Linien: a. die subjektive, das eben feststeht, dass ich all das nicht wollte und dass ich letzten Ende von Peter während meiner Haft enttäuscht worden bin und nicht für Peter’s Schuld haften will; b. die objektive, dass ich eben meiner ganzen Haltung und Vergangenheit nach kein Reaktionär bin und wirklich innerlich nicht zu den Leuten des 20.7. gehöre (HM, 30. 9. 1944).

Die Positionierungen, die Moltke vornimmt, die Selbstkategorisierung als kein Reaktionär, wohingegen die anderen welche seien, zu denen er innerlich nicht gehöre, und das Pochen auf meiner ganzen Haltung und Vergangenheit nach sind insofern nicht verwunderlich, weil sie das fortsetzen, was schon bei vorgängigen Treffen mit Ulrich Hassell und Carl Friedrich Goerdeler zum Ausdruck kommt, die vehemente Ablehnung ihrer Pläne und ihrer Gesinnung. Goerdeler wird durch entsprechende Genitivattribute nicht nur als Fixpunkt identifiziert, insofern von anderen Vertretern des 20. Juli kaum die Rede ist, sondern er positio-

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niert sich durch bewertende Ausdrücke zur Goerdeler’schen Unternehmung (30. 9. 1944) und zu den Goerdeler’schen Machenschaften (1. 10. 1944). Er wäre nie in das Schlepptau der alten Politiker (18. 10. 1944, häufiger ältere Herren) geraten, wobei hier alt im Sinne von ›konservativ‹, jedoch auch im Sinne ›einer anderen Generation zugehörig‹ zu verstehen ist und bekennt, diese vom ersten Augenblick verabscheut und bekämpft (18.10. 1944) zu haben; auch Freya ironisiert diese (Fritzi und den Großen – 2. 1. 1945). Nach der Verhandlung am VGH, in dem Freisler äußert, dass der wahre Motor des 20. Juli im Moltke-Kreis gesteckt hätte (10. 1. 1945, nach der Wiedergabe Moltkes) ist es ihm wichtig, trotz Todesurteil zu betonen: Wir sind nach dieser Verhandlung aus dem Goerdeler-Mist raus, […] wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben (10. 1. 1944). Retrospektiv rechnet er es dem göttlichen Geschick zu, dass er auch nach der Verurteilung frei von jedem Zusammenhang mit der Gewaltanwendung bin und bleibe (10. 1. 1945) und Freya bestätigt: ja ich bin glücklich, dass Du richtig und nicht für Goerdeler stirbst (FM, 11./12. 1. 1945). Das Wissen, von Freisler (häufige pejorative Verwendung Herr Freisler), dem Präsidenten des Volksgerichtshofes ab 1942, verurteilt zu werden, prägen die vier Monate seiner Haftzeit in Tegel; wird der Nationalsozialismus resp. der NSApparat kritisiert, dann erfolgt dies ausschließlich über zentrale Repräsentanten, mit denen sich die Angeklagten unmittelbar konfrontiert sahen. Die Person Freislers wird aus seiner Perspektive und aus der Perspektive Dritter, die seine Frau trifft, beschrieben. Durch die Monate zieht sich eine Prädizierung, die des Anbrüllens.37 Anbrüllen ist als ein indexikalischer Ausdruck für Freisler zu sehen.38 Das Anbrüllen wird als eine der institutionellen Kommunikation nicht angemessene sprachliche Entgleisung betrachtet, die die Legitimität des rechtlichen Verfahrens in Frage stellt: Anbrüllen wird gleichsam zum Symbol für die, von dieser Justiz zu erwartenden Demütigungen des Angeklagten. In den Briefen wird die Person Freislers aus unterschiedlichen Perspektiven konstituiert, u. a. durch die indirekte Rede-Wiedergabe Dritter.39 Der Rechtsanwalt Dix gibt Freya von Moltke zu verstehen: Einen Angeklagten, der nicht geistig auf der Höhe sei, zermalme er wie eine Boa Constrictor ihr Opfer. Eine Verhandlung unter Freisler könnte unter Umständen atemraubend fascinierend sein. (FM, 11. 10. 1944), sie selbst äußert sich nach Abtippen einer Rede von Freisler, dass der Inhalt wirr und 37 Vgl. nichts von Dir höre und schließlich angebrüllt, geköpft und gehängt werde (30. 9. 1944), und ich denke, dass es mir vielleicht doch hilft, das Angebrülltwerden mit Gleichmut zu ertragen (6. 10. 1944) und ich diese Mitteilung nur 3 Tage nach Freislers Angebrülle erfuhr (16. 1. 1945). 38 s. auch den Beitrag ›Verhör-, Geständnis- und Verteidigungspraktiken‹ in Teil 1. 39 So von Rudolf Dix, einem wichtigen Rechtsberater der Familie Moltke, von Wolfgang Hercher, dem Pflichtverteidiger Moltkes, von Carl Viggo von Moltke, Landesgerichtspräsident und ebenfalls wichtigen Berater in Rechtsfragen.

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diabolisch sei (FM, 26. 10. 1944), dass Freisler ›begabt, genial, sehr feinfühlig, aber nicht klug‹ [sei], war H’s [Herchers] zusammenfassendes Urteil. (FM, 6. 1. 1945). Die im Bild der Boa Constrictor nahegelegten Verhaltensweisen – gefährlich, unerbittlich, skrupellos – zusammen mit den anderen Eigenschaften lassen Freisler als das personifizierte Böse erscheinen. Um diesem Bösen zu begegnen, entwickeln die Angeklagten unterschiedliche Strategien, so die letztlich erfolgreiche Strategie von Gerstenmaier, sich dumm zu stellen, die er selbst als Theater bezeichnet, nachdem er seine Maske wieder abbinden könnte (11. 1. 1945), jener wird entsprechend von Freisler als ein Schafskopf (nach eigenem Bericht, Gerstenmaier/Gerstenmaier 1992: 122) bezeichnet. Nach dem Volksgerichtsprozess befindet sich Moltke in geradezu gehobener Stimmung (10. 1. 1945). Dazu trägt v. a. bei, Haltung bewahrt, F.’s Tempo spielend mitgemacht zu haben, trotz Tobsuchtsanfällen von Freisler, metaphorisch konzeptualisiert als Orkan, sogar gelächelt zu haben und Freisler ein ebenbürtiger Gegner gewesen zu sein und geistige Überlegenheit demonstriert zu haben. Schwerer als der Umstand, das widerständige Selbst und die eigenen Werte behauptet zu haben, wiegt die Tatsache, aus Umsturzbemühungen, Gewaltanwendungen und überhaupt aus praktischen Handlungen herausgehalten worden zu sein, eben aus dem Goerdeler-Mist. Für eine andere, nämliche geistige und christliche Haltung verurteilt worden, empfindet er als Kompliment des Gegners: Und vor den Gedanken dieser drei einsamen Männer [Delp, Gerstenmaier, Moltke – BM.Sch.] den bloßen Gedanken, hat der N.S. eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will. Wenn das kein Kompliment ist. – Durch diese Personalzusammenstellung ist dokumentiert, dass nicht Pläne, nicht Vorbereitungen sondern der Geist als solches verfolgt werden soll. Vivat Freisler! (10. 1. 1945).

Besonders wichtig ist ihm der bis zu seiner Hinrichtung immer wieder zitierte Satz Freislers: Freisler sagte zu mir in einem seiner Tiraden: Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: wir fordern den ganzen Menschen!, da er für ihn demonstriert, dass Freisler seine grundsätzliche Gegnerschaft erkannt habe (so auch bei Gerstenmaier), wenngleich es ihm auch etwas seltsam anmutet, als christlicher Märtyrer verurteilt zu werden. Gleichsam ist erkennbar, dass das Urteil über den Nationalsozialismus schärfer als jemals zuvor ausfällt (Pack, Bande, Gift). An Freya von Moltke geht auch der Auftrag, seine Berichte von den Volksgerichtsprozessen, deren Anfertigung und auch deren Besitz sehr gefährlich waren, als Legende (i. S. einer religiösen Erzählung) verbreiten zu lassen, deren Erzählung der Jesuitenpater Alfred Delp übernehmen sollte (vgl. 11. 1. 1945). Die Sicherung des geistigen Vermächtnisses das geistige Erbe von uns Toten (17. 10. 1945) vertraut er seiner Frau an. Dies betrifft sowohl das Schicksal unserer langen schriftlichen Unterhaltungen (2. 1. 1945) als auch die Erhaltung des ge-

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meinsamen Bundes mit anderen Mitstreiterinnen sowie Auslandskontakte.40 Die Bereitschaft von Freya von Moltke, den Tod ihres Mannes, das Kreuz, wie sie selbst sagt, auf sich zu nehmen (FM, 4. 10. 1944), ihren Mann freiwillig (FM, 17.10. 1944) und nicht unfreiwillig als Kriegerfrau zu opfern (HM, 17. 10. 1944 in einem Brief an seine Söhne), Lebenskraft und Tapferkeit, qualifizieren sie für dieses Vermächtnis und Auftrag: Mein Lieber, […], sieh zu, dass Du den anderen Frauen hilfst. Du und Marion, Ihr müsst auf diesem Gebiet schon etwas leisten […] Lass sie nicht auseinanderlaufen, sondern versuche es so zu machen, dass sie das Gefühl eines gemeinsamen Haltes und einer gemeinsamen geistigen Erbschaft erhalten (HM, 24. 10. 1944).

4.5

Fazit

Unabhängig davon, ob es sich um offizielle oder um inoffizielle Haftbriefe handelt, wird mittels Haftbriefen eine Beziehung fortgesetzt. Sie dienen dem ›Gespräch‹ zwischen räumlich getrennten Paaren bzw. vertrauten Menschen. Die Briefe zeigen sprachlich-stilistische Elemente der Nähekommunikation, die für den Privat- und auch Liebesbrief typisch sind. Dazu gehört nicht nur die emphatische, oft liebevolle Anrede der Briefpartner/innen, sondern auch die wechselseitige Bezugnahme auf die Äußerungen des/der jeweils Anderen und die Vielzahl von Fragen, die an diese/n gerichtet werden. Dennoch zeigt das sprachliche Profil der Haftbriefe einige Besonderheiten, die sich nicht umstandslos auf die lange Tradition des Privatbriefes beziehen lassen. Selbstverständlich erschweren die Reglementierung und Verzögerungen des Briefverkehrs die briefliche Korrespondenz und zwingen immer wieder dazu, metakommunikativ darauf Bezug zu nehmen. Ferner ist zum einen auffällig, dass typische Sprachhandlungen wie die Befindensfrage nicht oder anders genutzt werden, zum anderen erkennbar, dass die Briefpartner/innen möglichst versuchen, Zustimmung zu Äußerungen des/der jeweils Anderen zu signalisieren, Sorgen zu nehmen oder dem/der Anderen zu danken. Typisch für die Haftbriefe, die hier als Interimsbriefe bezeichnet werden, weil sie angesichts langer Haftstrafen oder des drohenden Todes verfasst worden sind, ist zudem, dass das Charakterisieren und Schildern vor dem Hintergrund einer Lebensbilanz erscheinen. Dies ist besonders bei Briefen der Fall, von denen die Verfasser/innen annehmen, es könnten ihre letzten Briefe sein. Wie herausgearbeitet worden ist, spielen Trauer, Angst, Verzweiflung und Reue in den Haftbriefen eine untergeordnete Rolle, was im Übrigen auch für die offiziellen Abschiedsbriefe gilt, bei denen sich die 40 Die Freunde des Bruders, Joachim Wolfgang von Moltke, waren Vertreter des norwegischen Widerstandes.

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Brief

Verfasser/innen zumeist als ruhig, gefasst oder tapfer bezeichnen (vgl. Schuster 2014: 210f.). Für die Haftbriefe wurde hier die Interpretation angeboten, dass dies aus der religiösen Haltung der Verfasser resultieren könnte, die wiederum eine bestimmte Konzeptualisierung ihrer Widerstandstätigkeit erlaubt. Auch in zumindest einer weiteren Hinsicht zeigt die briefliche Beziehungskommunikation einen Bezug zu soziokulturellen Größen, so in Hinsicht auf die sprachliche Ausformung von Geschlechtercharakteren, wenngleich diese während der Haftzeit auch Wandlungen unterliegen. Gerade die inoffiziellen Haftbriefe bieten durch ihren sachlichen und prosaischen Teil, wie er vom Ehepaar Moltke häufiger genannt wird, eine Fülle von Materialien, um anhand der Briefe die Vorbereitung auf die Volksgerichtshofprozesse und v. a. deren Bewertung durch die Inhaftierten zu rekonstruieren, was am Beispiel von Helmuth J. von Moltke ansatzweise nachvollzogen werden kann. Sie geben somit Ansatzpunkte, um das Selbstverständnis der Akteur/innen aus dem Widerstand nachzuzeichnen.

5

Briefkommunikation im Nationalsozialismus: Ein Gesamtfazit

In der Einleitung wurden zwei zentrale Brieftypen unterschieden: der Privatbrief, der wesentlich der Beziehungskommunikation dient, und der mit einem besonderen Anliegen an eine Institution gerichtete Brief. Für den institutionellen Briefverkehr liegen lang tradierte Textmuster vor, während für den Privatbrief zwar solche Teilhandlungen wie sich zu identifizieren oder einen Anderen zu adressieren (nahezu) obligatorisch sind, der Privatbrief selbst jedoch kein klares Textmuster mit einer spezifischen Abfolge von Handlungen besitzt. Anhand der unterschiedlichen Abschnitte dieses Beitrags konnte nun Folgendes gezeigt werden: Im Krieg und in der Haft wird der private Briefverkehr in unterschiedlichen Hinsichten reglementiert. Am Feldpostwesen kann nur derjenige teilnehmen, der eine Feldpostnummer besitzt und entsprechend als Teil der ›Volksgemeinschaft‹ wahrgenommen wird. Ferner beeinflusst das Feldpostwesen das thematische und funktionale Profil der Briefe: Aufenthaltsorte der Schreibenden können nur indirekt genannt werden, und es besteht kaum die Möglichkeit, Krieg und Kriegsverlauf detailliert darzustellen oder negativ zu bewerten. In der Haft wiederum diktiert die Schreiberlaubnis, die auch willkürlich entzogen werden konnte, den Rhythmus der Korrespondenz. Ferner sind unterschiedliche Vorgaben bezüglich Schreibpapier und Textmenge die Regel. Den Briefpartner/innen obliegt es in beiden Fällen, die Kohärenz des brieflichen Gesprächs zu organisieren, was nicht nur metakommunikativ reflektiert wird, sondern z. T. auch zu ausgefeilten Nummerierungstechniken durch die Schreibenden führt. Sowohl in der Kommunikation mittels Feldpost- als auch in der Kommunikation mit

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Mark Dang-Anh / Stefan Scholl / Britt-Marie Schuster

Haftbriefen versuchen die Schreibenden, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten und an ihren vorgängigen Alltag anzuknüpfen. Der sprachliche Duktus, in dem dies geschieht, ist durchaus verwandt und setzt die Tradition des Privatbriefes als Gespräch fort, etwa durch häufige Anreden, Fragen, Formen des Dialogisierens, Verwendung von unterschiedlichen Modalpartikeln und nicht zuletzt durch die Nutzung eines variantenreichen Satzbaus (v. a. Nutzung der Außenfelder). Allerdings fallen auch Unterschiede auf: Erzählerische Elemente sind in den Haftbriefen hauptsächlich bei der Rekonstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit und entsprechend sind small stories aus der Alltagswelt der Nichtinhaftierten selten. Die drohende Möglichkeit, sich nicht wiederzusehen zu können, ist präsent – anders in Feldpostbriefen, in denen Alltagserzählungen die Brücke zur gemeinsamen Welt sind. Offizielle Haftbriefe zeigen nahezu keine Positionierungen gegenüber dem Nationalsozialismus, dies ist Kassibern vorbehalten, die Selbst-, Fremd- und Weltverständnis und entsprechend die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus zeigen (lange, elaborierte Ausführungen zum Nationalsozialismus finden sich in keiner der privaten Briefsorten). Allerdings erfolgt dies v. a. in einem spezifischen Kontext: bei der Vorbereitung auf Verhandlungen. In der hier behandelten Feldpostkorrespondenz zeigt sich eine Konvergenz zu nationalsozialistischen Rollenmodellen. Insofern bilden Feldpostbriefe zum einen die Grundlage, um das Aufrechterhalten von Beziehungen und Alltäglichkeit unter den Bedingungen des Krieges zu untersuchen, zum anderen handelt es sich bei ihnen um Datenmaterial bzw. Quellen, mit deren Hilfe sich sprachliche Spuren erschließen lassen, die wiederum auf Zustimmung oder Ablehnung des Regimes schließen lassen. Auch offizielle und inoffizielle Haftbriefe sind, wie gesagt, ein Material, der Ko-Konstruiertheit von Beziehungen unter die Kommunikation beeinträchtigenden Bedingungen nachzugehen. In diesem Beitrag wurden auch unterschiedliche Briefsorten thematisiert, die dem institutionellen Briefverkehr zuzurechnen sind. Die Briefe führen i. d. R. nicht zu Briefwechseln und im Mittelpunkt steht entsprechend nicht die Fortsetzung einer vor dem Brief schon bestehenden sozialen Beziehung. Diese soziale Beziehung zwischen Textproduzent/in und Institutionen wird durch den Brief erst hergestellt und richtet sich an institutionellen Erfordernissen und gesellschaftlichen Gegebenheiten aus, in deren Rahmen mehr oder weniger erfolgreich kommuniziert werden kann. Um das eigene Anliegen zu legitimieren, orientieren sich die Verfasser/innen an Textmustern und nutzen diese gleichzeitig für Loyalitätsbekundungen. Sie stützen sich auf gängige Argumentationsmuster und sozial erwünschte Kategorisierungen. Die Orientierung an sozial erwünschten Kategorisierungen ist in allen thematisierten Briefsorten – Bittbriefen, Huldigungs- und Denunziationsschreiben – ersichtlich und zeigt, wie wichtig es war, sich als Mitglied der ›Volksgemeinschaft‹ auszuweisen und andere von dieser sozialen Matrix aus zu diskreditieren. Die Reaktion auf soziale Ordnungen mit

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Brief

Inklusionsangeboten und Exklusionserfordernissen bildet auch für das Schreiben von Ausgeschlossenen einen Orientierungsrahmen. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass der jeweilige, mit einer Briefsorte verbundene Zweck zu typischen Handlungsmustern führt, etwa zur Wandlungs- und Läuterungsgeschichte im Huldigungsschreiben. Ein übergreifender Blick auf die hier thematisierten Briefe zeigt, dass es einzig der inoffizielle Haftbrief ist, der sich sowohl thematischen Vorgaben als auch Vergemeinschaftungserfordernissen entzieht, wenngleich er thematisch auf die Vorbereitung von Prozessen und Verhandlungen fokussiert ist. Allerdings fehlen uns noch Studien zum Privatbrief außerhalb des Kriegskontextes, die uns u. a. darüber aufklären könnten, welche Attraktivität nationalsozialistische Sinnstiftungsangebote auch außerhalb des Kriegskontexts besitzen könnten.

Quellen [AN / AN] Neuhaus, Agnes und Albert (1940–44) in: Reddemann, Karl (Hg.) (1996): Zwischen Front und Heimat. Der Briefwechsel des münsterischen Ehepaares Agnes und Albert Neuhaus 1940–1944, Münster (Westf). Münster: Regensberg. [BG / EG] Gerstenmaier, Brigitte / Gerstenmaier, Eugen (1992). Zwei können widerstehen. Berichte und Briefe 1939–1969, Bonn/Berlin: Bouvier. [DB] Bonhoeffer, Dietrich (2020) [1943–45]: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. v. Eberhard Bethge. 24. Aufl., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. [ES 1937] Ewald S. an Adolf Hitler, 17. Januar 1937, in: Ebeling, Theresa/Heidrich, Max/ Jakob, Kai u. a. (Hg.) (2011): »Geliebter Führer«. Briefe der Deutschen an Adolf Hitler, Berlin: Vergangenheits-Verlag, S. 173–175. [FH 1941] Franz Henk an die Partei-Kanzlei der NSDAP, 27. Mai 1941, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1985): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 2, 1, München: Oldenbourg, 09007. [GL 1933] G. L. an die Frau des Mannheimer NSDAP-Kreisleiters Dr. Roth, 26. August 1933, in Fliedner, Hans-Joachim (Bearb.) (1971): Die Judenverfolgung in Mannheim, 1933– 1945. Band 2: Dokumente, Stuttgart u. a.: W. Kohlhammer, S. 369–370. [GW / JW] Weisenborn, Günther/Weisenborn, Joy (2008) [1942–1943]: Wenn wir endlich frei sind. Briefe, Lieder, Kassiber 1942–1943. Mit einer Einleitung von Hermann Vinke. Erweiterte Neuausgabe, Zürich/Hamburg: Arche. [HD] Dohnanyi, Hans von (2015) [1943–1945]: »Mir hat Gott keinen Panzer ums Herz gegeben«. Briefe aus Militärgefängnis und Gestapo-Haft1943–1945, hrsg. von Winfried Meyer, München: Deutsche Verlagsanstalt. [HM / FM] Moltke, Helmuth James von/Moltke, Freya von (2011) [1944/45]: Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel. September 1944–Januar 1945, hrsg. v. Helmuth Caspar von Moltke, Ulrike von Moltke, München: C.H. Beck.

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Mark Dang-Anh / Stefan Scholl / Britt-Marie Schuster

[HW 1936] Hans Wagner an Pg. L. Mühlberger, München, 1. August 1936, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1983): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 1, 1, München: Oldenbourg, 124 02577. [LB] Berkowitz, Liane (1992) [1942–43]: Briefe, ediert von Johannes Tuchel, in: Schilde, Kurt (Hg.): Eva-Maria Buch und die »Rote Kapelle«. Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Berlin: Overall. [LM 1936] L. Mühlberger an den Stellvertreter des Führers, Pg. Rudolf Heß, 6. August 1936, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1983): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 1, 1, München: Oldenbourg, 124 02578-02579. Moltke, Helmuth James von (2009) [1944/45]: Im Land der Gottlosen. Tagebuch und Briefe aus der Haft 1944/45, hrsg. u. eingel. v. Günter Brakelmann. Mit einem Geleitwort von. Freya von Moltke, München: C.H. Beck.

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Katrin Schubert

Postkarte

1 Hinführung 2 Elise und Otto Hampel 3 Zum situativen Kontext 3.1 Produktionskontext 3.2 Identitätskonstitution und Adressierung 4 Textgestaltungsmittel 4.1 Materialität, Textanordnung und Typografie 4.2 Vertextung 5 Charakteristische Sprachhandlungen 5.1 Bewerten: es ist zu grauenhaft 5.2 Entlarven: Tricks und Bluffs in der gefälschten Hitler Propaganda 6 Fazit 7 Quellen 7.1 Primärquellen 7.2 Internetquellen

1

Hinführung

Die Postkarte gehört zu den »Massenkommunikationsmitteln des ausgehenden 19. und des gesamten 20. Jahrhunderts« (Diekmannshenke 2006: 98). Sie gilt gemeinhin als »als verlässliches Mittel zur Sicherung zwischenmenschlicher Kontakte« und wurde von Beginn an1 »von unterschiedlichen sozialen Schichten und Altersgruppen als basales Kurzkommunikationsmedium verwendet« (Holzheid 2006: 106). Sie zeichnet sich aus durch eine 1 Im deutschsprachigen Raum wurde die Postkarte am 1. Oktober 1869 von der Generaldirektion für Post- und Telegraphenangelegenheiten in Österreich-Ungarn unter der Bezeichnung »Correspondenzkarte« offiziell eingeführt. Gedacht war die Postkarte anfangs als »billigere, dafür aber reduzierte und komprimierte Form des Briefs« (Diekmannshenke 2002: 96). Zur Geschichte des Mediums siehe z. B. Holzheid (2011), Willoughby (1993) und Weiss/Stehle (1988).

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Katrin Schubert

Kombination medialer, funktionaler und distributiver Eigenschaften, die vom Leitprinzip der Ökonomie bestimmt sind: So ist eine Postkarte nicht nur kostengünstig zu produzieren, zu erwerben und zu versenden. Sie ist ebenso schnell mit einer Botschaft zu versehen, zu empfangen und zu rezipieren (ebd.).

Aufgrund des »eng begrenzten Raum[s] für den individuellen Kartentext« (Diekmannshenke 2011b: 21) und der damit verbundenen Notwendigkeit der kommunikativen »Effizienzsteigerung« (Holzheid 2006: 106) präsentiert sie sich auf der Kodierungsebene »in thematischer Minimalisierung und sprachlicher Direktheit« (ebd.). Innerhalb der nationalsozialistischen Diskurswelt spielte die Postkarte eine sehr große Rolle. Sie wurde von den Akteuren des NS-Apparats, die »den Einsatz des Bildes als politische Waffe perfektioniert« (von Hagenow 2004: 48) hatten, für propagandistische Zwecke genutzt. Zwar machten bereits in der Weimarer Republik »Plakat, Kino, Radio und Presse der Postkarte Konkurrenz«, doch »die Propagandamaschine des ›Dritten Reiches‹ belebte das Medium wieder und bebilderte die Ideologie des Regimes« (Jüllig 2004: 4).2 Zahlreiche Postkarten aus der NS-Zeit zeigen Fotografien von Aufmärschen und Zeremonien bei öffentlichen Festen und Großveranstaltungen, die »den einzelnen Teilnehmer[n] solcher Ereignisse die Möglichkeit [gaben], einen Überblick über das gesamte Geschehen zu gewinnen« (von Hagenow 2004: 49). Es gab Postkarten mit Abbildungen von Göring, Himmler oder Göbbels, allein dem Personenkult um den ›Führer‹ wurde mit einer nahezu unendlichen Zahl von Fotopostkarten gehuldigt (vgl. von Hagenow 2004: 49ff.). Herausgegeben wurden zudem zahlreiche Werbepostkarten, etwa von der ›Hitlerjugend‹ und dem ›Bund Deutscher Mädel‹, vom ›Winterhilfswerk‹, der ›Deutschen Arbeitsfront‹ sowie deren Unterorganisation ›Kraft durch Freude‹, aber auch Ausstellungen, mit denen die Volksgemeinschaft gestärkt werden sollte, wurden mit Postkarten lanciert.3 Da die Bilder eine klare 2 Im Sonderkatalog »Ansichtskarten – Sammlung Karl Stehle« des Auktionshauses Christoph Gärtner ist eine überaus große Anzahl an Werbe- und Propagandapostkarten u. a. aus der Zeit des Nationalsozialismus abgedruckt (https://stamp-auctions.de/katalogarchiv/26_karl_stehl e.pdf). Zudem hat das Deutsche Historische Museum im Jahr 2004 eine CD-ROM mit knapp 2.500 politischen Postkarten aus der Zeit von 1890 bis 1949 herausgegeben. Unter den Postkarten befinden sich auch zahlreiche Propagandapostkarten, die während des Nationalsozialismus in Umlauf gebracht wurden. Eine weniger umfangreiche, dennoch recht beachtliche Sammlung von nationalsozialistischen Propagandapostkarten findet sich zudem bei Tonie und Valmai Holt (1986). Einen guten Überblick zur Geschichte der Propagandapostkarte liefert Otto May (2012). In seiner Publikation sind auch viele Postkarten abgedruckt. 3 Mit Fotopostkarten beworben wurde beispielsweise die Reichsausstellung »Gebt mir vier Jahre Zeit«, die vom 30. April bis zum 20. Juni 1937 in Berlin gezeigt wurde. Auch zu der von der Reichspropagandaleitung der NSDAP vom 8. Mai bis zum 21. Juni 1942 im Berliner Lustgarten gezeigten Ausstellung »Das Sowjet-Paradies« gab es Fotopostkarten. Auf den gestellten Fotografien waren u. a. sowjetische Handwerker zu sehen, die in heruntergekommenen Holzbaracken ihr Tagewerk verrichten.

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Postkarte

Formensprache hatten und sehr plakativ gestaltet waren, kann man die Postkarten der Akteure des NS-Apparats als »eine Art Miniaturplakat« (Diekmannshenke 2011b: 21) betrachten.4 Für die NS-Affinen und Unauffälligen der integrierten Gesellschaft waren Propagandapostkarten, ähnlich der Briefmarken für Philatelisten, beliebte Sammelobjekte. Als Medium der privaten Kommunikation hatte die Postkarte ihre Blütezeit bereits hinter sich. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gewann die Postkarte als Medium der privaten Kommunikation jedoch wieder eine größere Bedeutung: So sicherten Feldpostkarten – ebenso wie Feldpostbriefe – den Kontakt zwischen den Soldaten an der Front und ihren Angehörigen in der Heimat. Die Akteure des NS-Apparats nutzten die Postkarte seit dem Ausbruch des Krieges hingegen verstärkt dazu, Kriegspropaganda zu betreiben und die Gegner zu diffamieren.5 Die Postkarte war – und das sollte diese kurze Ausführung zumindest andeutungsweise gezeigt haben – während der NS-Zeit omnipräsent, und zwar sowohl als Medium der privaten Kommunikation als auch als Propagandamedium. Erstaunlicherweise wurde die Postkarte von den Akteuren des Widerstands – jedenfalls innerhalb der Grenzen des ›Dritten Reichs‹6 – nur selten als Agitationsmedium genutzt.7 Zumindest gibt es nur wenige Überlieferungen. Exemplarisch sei hier auf eine Postkarte verwiesen, die in Berlin im Juli 1937 in großer Zahl in Umlauf gebracht wurde. Auf der Ansichtsseite ist ein Portrait des evangelischen Theologen Martin Niemöller abgebildet, der zu den führenden Vertretern der Bekennenden Kirche gerechnet wird. Die Postkarte wurde von seinen Gemeindemitgliedern verbreitet, nachdem er am 1. Juli 1937 von der Gestapo verhaftet worden war. Unter dem Portrait steht ein Zitat Niemöllers:

4 Es gab durchaus auch zahlreiche Plakate, die im Miniaturformat – also als Postkarte – reproduziert wurden. 5 Nicht nur die Deutschen nutzten das Medium zur Diffamierung und Demoralisierung der Kriegsgegner. Die Sowjetunion etwa hat im Winter 1941/42 über der Ostfront Postkarten abgeworfen, die auf den ersten Blick wie Feldpostkarten aussahen. Die Textseiten mit den Führungslinien und Leerflächen für die Anschrift und den Text waren unbeschriftet, die Ansichtsseiten dagegen enthielten aufgedruckte Propagandabotschaften. Andere wiederum enthielten einen Propagandatext im vorgesehenen Textfeld und Karikaturen, beispielsweise von Hitler, auf der Ansichtsseite. Eine kleinere Anzahl solcher »Feldpostkarten-Flugblätter« ist in Buchbender/Schuh (1974: 57ff.) abgedruckt. 6 Aus Spanien und Frankreich etwa sind einige wenige Postkarten aus den Jahren 1933 bis 1939 überliefert, die im Untergrund von Kommunisten produziert wurden und gegen den Faschismus gerichtet waren. Einige Exemplare werden in einer Online-Ausstellung (www.post card-social.de) gezeigt, die René Senenko verantwortet. 7 Dabei hätte sich die Postkarte aufgrund des kleinen (und damit unauffälligen) Formats und der im Vergleich zum Flugblatt festeren (und damit langlebigeren) Materialität durchaus für solche Zwecke angeboten.

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Katrin Schubert

»Wir haben nicht zu fragen, wieviel wir uns zutrauen; sondern wir werden gefragt, ob wir Gottes Wort zutrauen, dass es Gottes Wort ist und tut, was es sagt!«8 In diesem Beitrag geht es nun genau um die Nutzungsweise der Postkarte als Medium des Widerstandes. Allerdings werden keine professionell gedruckten Postkarten untersucht, vielmehr geht es um die Postkarten von Elise und Otto Hampel, jenem Berliner Arbeiterehepaar, dessen Schicksal Hans Fallada in seinem Roman »Jeder stirbt für sich allein« literarisch verarbeitet hat. Die beiden schrieben politische Botschaften auf Postkarten, die sie anschließend in Treppenhäusern öffentlich zugänglicher Gebäude ablegten. Ziel des Beitrags ist es, die charakteristischen akteursspezifischen Textgestaltungsmittel und Sprachhandlungen herauszuarbeiten. Insgesamt werden 34 der rund 150 von der Gestapo erfassten Postkarten in die Analyse einbezogen.9 Es handelt sich hierbei um jene Karten, die in den NS-Justizakten, die heute im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde verwahrt werden, überliefert sind.

2

Elise und Otto Hampel

Elise und Otto Hampel waren ›einfache Leute‹ aus dem Arbeitermilieu. Otto Hampel arbeitete als Transportarbeiter, später als Einrichter im Kabelwerk der Siemens-Schuckertwerke, Elise Hampel hatte sich vor ihrer Heirat als Haushaltshelferin verdingt. Die schulische Laufbahn der beiden war kurz: Otto Hampel hatte die Volksschule ohne Abschluss nach dem Beenden der dritten Klasse verlassen, Elise Hampel war bereits nach der ersten Volksschulklasse abgegangen. Nach der Heirat am 23. Januar 1937 bezogen sie gemeinsam ihre Wohnung in der Amsterdamer Straße 10 im ehemaligen Berliner Bezirk Wedding. Der Wedding war ein klassischer Arbeiterbezirk und galt in den späten 1920er Jahren und auch noch nach der ›Machtübernahme‹ der Nationalsozialisten als die kommunistische Hochburg Berlins.10 Doch die beiden gehörten weder einer Widerstandsorganisation an, noch hatten sie ein ideologisches Programm. In den Vernehmungen durch die Gestapo am 20. Oktober 1942 gaben beide unabhängig 8 http://niqolas.de/postcard-social.de/1937_niemoell.png. 9 Elise und Otto Hampel haben auch mit politischen Botschaften beschriebene Kanzleibogen unterschiedlicher Formate ausgelegt. In diesem Beitrag geht es jedoch ausschließlich um ihre Postkarten. 10 Im Wedding wirkten während der nationalsozialistischen Diktatur besonders viele Oppositionelle im Untergrund. Hans-Rainer Sandvoß konnte in seiner 1987 erschienenen Publikation »Widerstand in einem Arbeiterbezirk« anhand einer Statistik der Bezirksverwaltung aus dem Jahr 1947 belegen, dass mehr als 1367 Menschen aus dem Wedding zwischen 1933 und 1945 inhaftiert waren und dass mindestens 98 Weddinger wegen ihres Widerstands gegen den Nationalsozialismus mit ihrem Leben bezahlt haben (Sandvoß 1987: 4).

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Postkarte

voneinander zu Protokoll, dass sie bis zur ›Machtübernahme‹ politisch völlig desinteressiert gewesen seien und daher auch mit keiner politischen Partei sympathisiert hätten (vgl. BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 100/103). Nach dem Umbruch, so betonte Otto Hampel am Tag darauf, sei man jedoch zwangsläufig mit in das politische Milieu hineingezogen [worden] (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 105).11 Zahlreiche Aussagen des Ehepaars zu ihrem gesellschaftlichen und politischen Engagement belegen dann auch, dass sie in nationalsozialistischen Vereinen und Organisationen aktiv waren. Elise Hampel trat 1936 in die ›NS-Frauenschaft‹ ein und betätigte sich in dieser Organisation bis zum 1. September 1940 sogar als ›Zellenleiterin‹.12 Otto Hampel trat 1935 der ›Werkschar‹ der Siemens-Schuckertwerke bei, um, wie er in seiner Vernehmung am 21. Oktober 1942 aussagte, politisch nicht abseits zu stehen (ebd.). Als Werkscharmitglied, so heißt es in der Aussage ferner, habe er sich an allen von der DAF.13 durchgeführten Veranstaltungen (ebd.) beteiligt. In den Jahren 1935 und 1936 betätigte er sich in den Siemens-Schuckertwerken auch als ›Blockwalter‹.14 Elise und Otto Hampel waren dem Nationalsozialismus anfangs also durchaus zugeneigt, sie gehörten zur integrierten Gesellschaft und waren Profiteure des Systems.15 Ein Wandel ihrer Einstellung vollzog sich erst allmählich.16 In den sogenannten aktiven Widerstand gingen sie, nachdem die Royal Air Force Ende August 1940 die ersten Angriffe auf Berlin geflogen hatte.17 Die erste Karte der Hampels wurde am 11 Elise und Otto Hampel werden in den Vernehmungen versucht haben, eine Version der Ereignisse zu präsentieren, von der sie sich versprochen haben, dass diese sie möglichst wenig belasten würde. Außerdem handelt es sich bei den Protokollen nicht um Transkriptionen des gesprochenen Wortes, sondern um nachträglich in Schriftsprache transponierte und somit auch transformierte bzw. transmutierte Versionen des Kriminalsekretärs Willy Püschel. Dies muss stets mitbedacht werden, wenn in diesem Beitrag aus den Vernehmungsprotokollen zitiert wird. 12 Einen Tag später, am 2. September 1940, wurde die erste Karte des Ehepaares bei der Gestapo abgegeben. 13 DAF ist die Abkürzung für ›Deutsche Arbeitsfront‹, jenem – rechtlich der NSDAP angeschlossenen – Verband, der 1933 an die Stelle der zerschlagenen Gewerkschaften trat. 14 Ein ›Blockwalter‹ war ein Funktionär auf der untersten Organisationsebene. (vgl. SchmitzBerning 2007: 108) Zu den Bezeichnungen der Helferinnen und Helfer der der NSDAP angeschlossenen Verbände vgl. Schmiechen-Ackermann (2000). 15 Das Engagement Otto Hampels bei der DAF dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass er sich im Kabelwerk der Siemens-Schuckertwerke im Laufe der Jahre vom Transportarbeiter zum Einrichter hocharbeiten konnte. 16 Als Grund für den Wandel der Eheleute von Anhängern des Systems zu Gegnern wird in der Forschungsliteratur u. a. der Tod von Elise Hampels Bruder angegeben (vgl. Sandvoß 2003: 285; Kuhnke 2011: 18). Kurt Lemme fiel am 5. Juni 1940 als Wehrmachtssoldat im Feldzug gegen Frankreich. 17 Die Royal Air Force antwortete in der Nacht vom 25. auf den 26. August 1940 auf die Bombardierung der Themsehäfen östlich von London durch deutsche Kampffliegereinheiten am 24. August 1940: Sie flog einen Angriff auf Berlin und warf im Norden der Stadt und in Reinickendorf Bomben ab. Auch der ehemalige Berliner Bezirk Wedding, in dem Elise und

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Katrin Schubert

2. September 1940 bei der Gestapo abgeliefert. Bis zu ihrer Verhaftung am 20. Oktober 1942 verbreiteten Elise und Otto Hampel über 200 Postkarten und Briefbogen, die zum Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime aufriefen – allesamt handschriftlich verfasst. Sie forderten ihre Mitmenschen in ihren Schriften dazu auf, Organisationen wie der ›Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt‹ Spenden zu verweigern, in den Industriebetrieben langsam zu arbeiten und sich von öffentlichen Versammlungen fernzuhalten – insgesamt also zur Sabotage in allen Bereichen des öffentlichen und politischen Lebens –, aber auch zum Sturz der Regierung mittels Gewalt. Die Texte entstanden aus der tiefen Überzeugung heraus, dass man nicht mehr schweigend zuschauen dürfe, sondern Widerstand gegen das verbrecherische System leisten müsse. Ihre Schriften legten sie entweder auf den Stufen und Fensterbrettern in Treppenhäusern von Gebäuden mit Publikumsverkehr18 ab oder warfen sie – meist wahllos – in Briefkästen der Hausbewohner*innen.

3

Zum situativen Kontext

3.1

Produktionskontext

Für das Niederschreiben der Texte war Otto Hampel verantwortlich. Er verfasste sie in der Regel alleine, tauschte sich jedoch zuvor mit seiner Frau über die Tendenz der Inhalte aus (vgl. BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 106). Dass Otto Hampel kein geübter Schreiber war, zeigen die Texte sehr deutlich. Seine Handschrift wirkt ungelenk, was sicherlich (auch) dem Umstand geschuldet ist, dass er sie bewusst verstellte.19 Zudem enthalten die Texte eine Vielzahl grammatischer und orthografischer Normabweichungen, die vor dem Hintergrund, dass Otto Hampel die Volksschule nach dem Beenden der dritten Klasse verließ, jedoch kaum verwundern.20 Otto Hampel wohnten, wurde bombardiert. In den Tagen darauf folgten weitere Angriffe auf Berlin. 18 Aus einem am 20. August 1941 von Willy Püschel erstellten Bericht zu seinen Ermittlungen geht hervor, dass Elise und Otto Hampel ihre Schriften vornehmlich in Häusern ablegten, »in denen Praktische Ärzte, Zahnärzte, Dentisten oder Rechtsanwälte ihre Praxis ausüben« (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 218). 19 Am 21. Oktober 1942 sagte Otto Hampel aus: Es ist auch verständlich, wenn ich meine Schreibereien in Blockschrift hielt, da ich natürlich wollte, dass ich nicht etwa aufgrund meiner Originalschrift ertappt würde (BArch/R3018/36, Bd. 2, Bl. 106). 20 Jörg Riecke hat mit Blick auf Elise und Otto Hampel darauf verwiesen, dass es sich bei der »noch immer […] weit verbreitete[n] Ansicht […], dass Menschen, die nicht normgerecht schreiben, nicht recht ernst zu nehmen seien«, um eine »ganz und gar unangemessene Verknüpfung von Rechtschreibung und Intelligenz« (Riecke 2017: 244) handele.

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Postkarte

In den Vernehmungsprotokollen der Gestapo finden sich einige Hinweise auf den Produktionskontext. Zur Vorgehensweise bei der Herstellung der Schriften etwa sagte Otto Hampel am 22. Oktober 1942 aus: Wie ich bereits in meiner letzten Vernehmung ausführte, begann ich damit, auf zufällig vorhandenen unfrankierten Postkarten irgendwelche politischen Thesen in Blockschrift zu schreiben. Später kaufte ich dann nach und nach weitere unfrankierte Postkarten in verschiedenen Geschäften und beschriftete diese immer auf die gleiche Weise. Der jeweilige Text dieser Karte wurde von mir bzw. von meiner Ehefrau nicht vorher festgelegt, sondern ergab sich so aus dem Gedächtnis heraus. Je nach den gemachten Erfahrungen, schrieb ich die Sätze als Kritik auf diese Postkarten nieder (BArch/R 3018/36, Bd.2., Bl. 108).

Seine ersten Texte schrieb Otto Hampel folglich auf Postkarten, die er zu Hause ungenutzt liegen hatte.21 Die Aussage verweist aber zugleich auf die Schreibanlässe, die sich aus den gemachten Erfahrungen im politischen NS-Alltag ergaben. So beginnt der Text einer Postkarte beispielsweise mit den Worten: Hitler mit seinen Spiesgesellen ist zur Feier in Berlin. Der neu aufgefrischte Betrug heist! Kampf gegen den Bolschewismuss!22 (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 209). Hier zeigt sich die Kritik an Hitlers »Inszenierung eines bolschewistischen Bedrohungsszenarios«23, die Otto Hampel als Betrug entlarvt. Das Entlarven ist ein Handlungsmuster, das, auch wenn es nicht in allen Postkartentexten Otto Hampels vorkommt, als konstitutiv bezeichnet werden kann (siehe Abschnitt 5.2 dieses Beitrags).

3.2

Identitätskonstitution und Adressierung

Da es sich bei den Postkarten um widerständische Dokumente handelt, gibt es in den Texten keine konkreten Angaben zur Autorschaft. Auch ein Verfasser-Ich kommt nicht vor. Gelegentlich schrieb Otto Hampel jedoch Ein Deutscher schreibt es! oder schlicht Ein Deutscher über seine Texte. Dadurch, dass er ausdrücklich betonte, dass die Postkartentexte von einem Deutschen verfasst worden sind, hob er zweierlei Aspekte hervor: Zum einen machte Otto Hampel 21 Die erste Karte, die der Gestapo am 2. September 1940 übermittelt wurde, ist nicht überliefert. An der zweiten dort eingereichten Karte allerdings ist zu erkennen, dass er tatsächlich zunächst ›zufällig vorhandene‹ Beschreibstoffe nutzte: Es handelt sich bei dieser Karte nämlich um eine Feldpostkarte, die er möglicherweise noch aus seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg übrighatte. 22 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Zitate aus den Texten in diesem Beitrag in der Originalschreibung wiedergegeben werden, d. h. ohne jegliche Korrektur der grammatischen und orthografischen Normabweichungen. 23 s. den Beitrag ›Denkschrift‹ in Teil 2.

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deutlich, dass es sich bei seinen Postkarten nicht etwa um ›Feindpropaganda‹ oder ›Hetze‹ von ›Nicht-Deutschen‹ im Sinne des völkisch-rassistischen Konzepts der Nationalsozialisten handelt, wodurch er die Bereitschaft der Leser*innen zur Zustimmung zu fördern versuchte, zum anderen unterstrich er damit aber auch, dass er sich als deutsch empfindender Staatsangehöriger gegen das Regime richtet. Durch den Verweis auf seine nationale Identität qualifizierte er sich als jemand, dem es zusteht, das zu schreiben, was die antizipierten Leser*innen im weiteren Textverlauf erwartet. Man könnte auch von einem Akt der Selbstautorisierung sprechen. Eine solche Handlung des Selbstautorisierens zielt auf die Steuerung der Akzeptanz der Leser*innen ab. Diese wiederum werden nur selten explizit in einer Begrüßungsformel angesprochen. Wenn eine explizite Anrede am Anfang des Textes erfolgt, so verbindet sie sich stets mit einer Handlungsanweisung zum Umgang mit den Postkarten, etwa: Lieber Leser sorge für Umlauf! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 74). Grundsätzlich richten sich die Postkarten, gemäß der Intention Otto Hampels, eine Änderung der politischen Verhältnisse herbeizuführen, an alle Deutschen, die wiederum innerhalb der Texte – meist in Verbindung mit einer direktiven Äußerung – explizit angesprochen werden: Deutsche past auf! Last Euch nicht Dicktartorisch unter kriegen […]! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 33). Näher spezifizierte Personengruppen (Frauen, Männer, Eltern) werden ebenfalls stets in Verbindung mit Handlungsanweisungen angesprochen, wobei das seit dem Aufkommen der völkischen Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts stark emotional besetzte Zugehörigkeitsadjektiv deutsch den Personengruppenbezeichnungen regelmäßig vorangestellt wird: Deutsche Eltern wenig oder gar keine Kinder erzeugen! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 61). Die gehäufte Verwendung des Adjektivs deutsch war offensichtlich Teil der persuasiven Strategie Otto Hampels: Er appellierte an ein Zusammengehörigkeitsgefühl auf der Basis der gemeinsamen nationalen Identität, um Zustimmung zu erreichen. Welche Werte und Tugenden Otto Hampel mit dem ›Deutsch-Sein‹ verband, zeigt folgendes Textbeispiel: Wir als deutsche haben dass Recht uns gegen diese immer noch grausamere Verwaltigungs Methoden von der Hitler Regierung zur Wehr zu setzen! Wir sind uns Pflichtbewust und Ehrlich! (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 300).

In dieser Aussage spiegelt sich auch die Auseinandersetzung Otto Hampels mit der Frage nach dem Widerstandsrecht. Dass er Widerstand nicht nur als ein Recht, sondern sogar als moralische Pflicht der Deutschen betrachtete, zeigt sich u. a. an dem frequenten Gebrauch des deontisch explizit markierten Modalverbs müssen, das stets in Sätzen verwendet wird, in denen die antizipierten Leser*innen von der Notwendigkeit des Handelns überzeugt werden sollen, etwa: Wir müssen kämpfen für eine Gerechtigkeit! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 61).

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Postkarte

Da Otto Hampel sich nicht namentlich identifiziert und somit auf den IchGebrauch verzichtet, was in Anbetracht seiner Intention strategisch durchaus klug ist, kommt besonders das wir, seltener ein uns und sporadisch ein generisches man zum Einsatz. Das wir umfasst im Prinzip alle Deutschen, es ist adressat*inneninkludierend. Allerdings hat Otto Hampel eine klare Vorstellung davon, wer zum deutschen Volk gehört und wer nicht, was er den anvisierten Leser*innen auch explizit mitteilt: Hitler und sein Bonzentum gehört nicht zum deutschen Volke, diese Bande beabsichtigen uns deutsches Volk zu Grunde richten! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 84).

Elise und Otto Hampel hatten einen klaren Trennstrich gezogen zwischen dem Volk, das verführt und betrogen wurde, indem ihm mit Tricks und Bluffs in der hitlerischen Goebbels Propaganda […] Sand in die Augen gestreut (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 89) worden war, und den Akteuren des NS-Apparats. Die Trennung beruht auf den Erfahrungen der Hampels im NS-Alltag. So sagte Elise Hampel in ihrer Vernehmung am 23. Oktober 1942 dem Gestapo-Beamten Willy Püschel: Ich erlebte nach und nach Dinge, die nach der nationalsozialistischen Weltanschauung nach meiner Überzeugung nicht gut vereinbar waren. So musste ich gerade bei der NS.Frauenschaft die bittere Feststellung machen, wie unterschiedlich Parteigenossen und Volksgenossen, insbesondere beim Militär, behandelt wurden (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 114).

Otto Hampel hatte sich zwei Tage zuvor ähnlich geäußert: Auch im Privatleben verlief vieles anders, als uns in Wirklichkeit gesagt und versprochen wurde. Hier musste ich nach und nach feststellen, dass Ungerechtigkeiten herrschten, insbesondere in der Behandlung von Parteigenossen und Volksgenossen (BArch/R 3018/ 36, Bd. 2, Bl. 105).

An diesen Aussagen wird also (erneut) deutlich, an wen die Texte adressiert waren. Die Hampels richteten sich an das deutsche Volk, wobei sie Mitglieder der NSDAP aus dem Volk ausschlossen.

4

Textgestaltungsmittel

4.1

Materialität, Textanordnung und Typografie

Bei den Karten, die Otto Hampel nutzte, handelt es sich um Blanko-Postkarten im klassischen A6-Format. Auf den Vorderseiten – hier ist jeweils die linke Hälfte für den Text und die rechte Hälfte für die Adresse des Empfängers und die Frankierung vorgesehen – beginnen die Texte. Er hat nicht nur die vorgesehenen

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Felder für den Postkartentext beschriftet, sondern auch die Felder für die Adresse und die Freimachung überschrieben.

Abb. 1: Vorderseite einer Postkarte der Hampels (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 208)

Die Rückseiten hat Otto Hampel ebenfalls mit Text versehen. In manchen Zeilen hat er, um ein Wort am Ende der Zeile nicht trennen zu müssen, die einzelnen Buchstaben sehr eng aneinandergerückt. Absätze, die der Unterteilung von Texten in kleinere Sinnabschnitte dienen und das Lesen erleichtern, hat Otto Hampel nur selten eingefügt. Allerdings erhielten einige Postkartentexte die Überschrift Freie Presse!. Diese Überschrift sollte, als Anspielung auf die staatliche Zensur der Presseorgane bzw. deren Gleichschaltung, vornehmlich wohl das Interesse der Leser*innen wecken. Sie diente Otto Hampel aber auch als ›Erkennungszeichen‹.24 24 Otto Hampel musste sich in einer seiner Vernehmungen zur Überschrift »Freie Presse« äußern. Er gab an: Wenn mir gesagt wird, dass später die von mir verfassten Karten die Überschrift »Freie Presse« erhielten, so muss ich hierzu sagen, dass diese Überschrift von mir willkürlich gewählt wurde. Ich wollte keineswegs damit sagen, dass unsere gegenwärtige Presse zensiert werde […], sondern dachte mir diese Bezeichnung mehr als Erkennungszeichen. Es sollte für mich vielmehr eine Nachprüfung sein, ob meine verbreiteten Karten auch gelesen würden. Ich nahm an, dass mir doch hin und wieder einmal jemand sagen würde, es seien derartige Karten »Freie Presse« gefunden worden, bzw. er habe eine Karte gefunden, auf der obenauf »Freie Presse« gestanden habe. Dann hätte ich sogleich gewusst, wie meine Karten gewirkt hätten, bzw. ob sie weiterverbreitet worden sind (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 106).

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Postkarte

Auf typografisch-stilistischer Ebene fällt der gehäufte Gebrauch von Ausrufezeichen auf. Es gibt Postkarten, auf denen hinter ausnahmslos jedem Satz ein solches steht. Auch nach Sätzen, die formal Ergänzungs- oder Entscheidungsfragesätze sind, verwendete Otto Hampel fast durchgängig Ausrufezeichen: Warum sterben für Hitlers Ruhm! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 68). Ist es jetst noch ein ehrlich Kieg! Nein! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 33).

Hinter den Aufforderungssätzen hat er meist sogar mehrere Ausrufezeichen aneinandergereiht: Hitler […] schickt immer mehr unserer deutschen Väter u Söhne in den Tod! deutscher Erwache!!!!!!!! (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 209).

Erwähnenswert ist noch, dass zwei Postkarten überliefert sind, auf die Otto Hampel eine Briefmarke geklebt hat, die Hitler im Profil zeigt. Die Briefmarken hat er jedoch nicht in die für die Frankierung vorgesehenen Felder geklebt, sondern mittig auf den Karten platziert und darauf Mörder bzw. Arbeiter Mörder25 geschrieben.

4.2

Vertextung

Die Texte der Postkarten sind, ähnlich wie beispielsweise die der Denkschriften, polyfunktional.26 Es finden sich vornehmlich deskriptive und argumentative Passagen, vereinzelt lassen sich jedoch auch explikativ vertextete Teile ausmachen. Entsprechend kommt es auch hier zu einer Verschränkung verschiedener Vertextungsmuster: Weist du durch Abzug der Steuern wird doch die Arbeitskraft nicht gleich gewertet usw! Hitler kämpft für den Kapitalismuss […]! Fort mit den ungerechten Lohnabzug! So schlicht wie Hitler scheint, so gemein ist er auch Wer wollte eine neue Weltanschauung die Hitler Regierung! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 35).

Hier erklärt Otto Hampel seinen Leser*innen, dass der Lohnsteuerabzug27 dazu führt, dass die Arbeitskraft nicht gleich gewertet wird. Dass er hier etwas erklärt und somit auf eine Wissenserweiterung seiner Leser*innen abzielt, indiziert das der Aussage vorangestellte Weist du. Er kritisiert mit der Aussage aber zugleich die Steuerpolitik Hitlers, welche für Otto Hampel ein Indiz dafür ist, dass dieser 25 An dieser Stelle sei angemerkt, dass Otto Hampel Komposita nahezu durchgängig getrennt geschrieben hat. 26 s. den Beitrag ›Denkschrift‹ in Teil 2. 27 Otto Hampel spricht hier vermutlich die im Winterhalbjahr obligatorisch von den Arbeitgebern einbehalten Anteile vom Lohn an, die an das Winterhilfswerk gingen.

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ein Kapitalist ist, er argumentiert also. Anschließend bewertet er Hitler (schlicht, gemein) und stellt mit Wer wollte eine neue Weltanschauung die Hitler Regierung! die Glaubwürdigkeit Hitlers infrage.28 Allein an diesem Beispiel zeigt sich sehr deutlich, dass sich in den Texten der Hampels zahlreiche Handlungsmuster verschränken, hier das Informieren, Bewerten, Kritisieren, Infragestellen und nicht zuletzt auch das (argumentative) Überzeugen, da die Texte darauf abzielten, bei den Leser*innen eine Veränderung ihrer Einstellung und somit ihrer Verhaltensweisen hervorzurufen. Betrachtet man die Postkartentexte in der Zusammenschau, so fallen vor allen Dingen instruierende Textbausteine auf, nämlich die subjekt- bzw. agenslosen Imperativsätze: Langsam arbeiten, wenig Kinder erzeugen! (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 212). [K]einen Pfennig für die Sammelbüchse! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 48). Keine Plaketten kaufen! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 61).29

Die Leser*innen bekamen eine Art Anleitung an die Hand gegeben, wie man Widerstand im Kleinen leisten konnte. Oder anders formuliert: Otto Hampel bot ihnen Handlungsperspektiven an, die auf eine Schädigung des Herrschaftssystems abzielten. Von der Textfunktion her sind solche Sätze als appellativ einzustufen. Gleiches gilt für Fragesätze wie Warum Kämpfen und Sterben für die Hitler Plutokraten! (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 212). Explizit direktiv sind dagegen Aufforderungssätze wie: Gründlichste Verachtung der Bürgerkriegs Waffen SS und Gestapo! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 75). In Stadt und Land schluss gemacht mit der Hitler Bande! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 68).

Besonders deutlich wird die appellative Funktion der Texte jedoch an den vielen »Adverb-mit-Direktiv-Konstruktionen« (Jacobs 2008: 18): Fort mit diese Mordbrenner Pakte!!! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 38). Fort mit diese Kriegsschuldigen Hitler Regierung! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 42).

28 Mit neue Weltanschauung referiert Otto Hampel auf den Sozialismus. Hitler hatte zwar bereits früh verdeutlicht, dass er keineswegs die Absicht hatte, nach der Machtergreifung eine sozialistische Politik zu verwirklichen, er hatte sich aber den Stimmungswert des populären und ideologisch polysemen Wortes Sozialismus zunutze gemacht. Auf einem Wahlflugblatt der NSDAP zu den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 heißt es etwa: »Kämpft mit uns gegen die, die den Weg versperren in eine neue Zeit, die gestaltet wird von Gerechtigkeit und Sozialismus, in eine Zeit, in der das Wohl des Volkes das oberste des Staates ist« (zitiert nach Wilpert 1978: 117). 29 Gemeint sind die Plaketten, die das Winterhilfswerk bei den Haus- und Straßensammlungen verkaufte.

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Postkarte

Fort mit dem Hitler Partei System! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 59).

Sie werden häufig sogar in anaphorischer Reihung verwendet: Nieder mit der Hitler Regierung! Nieder mit dem Zwangs Elends Dicktat in unser Deutschland! […] Nieder mit dem Hitlerischen neuen Verbrecher Völkerbund! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 44).

Auffällig, wenn auch nicht frequent, sind zudem Passagen, die nach dem für (zeitgenössische) Flugblätter typischen »Frage-Antwort-Schema« (Schwitalla 1999: 814) aufgebaut sind, etwa: Ist es jetst noch ein ehrlich Kieg! Nein! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 33). […] meinst Du, so wie es die Hitler Regierung mit uns treibt ist es richtig! Nein!!! (BArch/ R 3018/36, Bd. 2, Bl. 35).

Diese Fragen sind nicht als Entscheidungsfragen zu verstehen, was Otto Hampel dadurch markiert, dass er die Antwort gleich mitliefert. Sie unterstreichen den appellativen Charakter der Postkartentexte. Der Rückgriff auf das Frage-Antwort-Schema und auch die gehäufte Verwendung von Parolen indizieren ein Textsortenwissen Otto Hampels: Er orientierte sich am Textmuster, das für Flugblätter charakteristisch ist30 und übertrug es auf ein Medium (i. S. v. Textträger), das gemeinhin für private Kommunikation genutzt wird. Dass er verschiedene Vertextungsstrategien, die für Flugblätter charakteristisch sind, übernahm, diese jedoch mit individuellen Gestaltungsmitteln anreicherte, sollen die folgenden Ausführungen dokumentieren.

5

Charakteristische Sprachhandlungen

Es gibt einige Sprachhandlungen in den Postkarten der Hampels, die man als besonders auffällig bezeichnen kann. Otto Hampel schrieb beispielsweise von Beginn an Distributionsanweisungen über seine Texte, die allerdings – auch wenn sie auf vielen Karten zu finden sind – nicht als obligatorische Bestandteile auszuweisen sind. Auf einer von der Gestapo am 11. März 1941 sichergestellten Postkarte beispielsweise steht: Lesen und weiter auslegen! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 40). Es finden sich auf den Karten aber auch sprachliche Varianten wie Lieber Leser, sorge für Umlauf, Bitte Karte wandern lassen, Bitte weiter auslegen! oder Weiter geben!31

30 s. den Beitrag ›Flugblatt – Flugschrift‹ in Teil 2. 31 Tatsächlich sind lediglich zwei Schriften der Eheleute nachweislich an andere Orte gelangt: Eine Schrift wurde an eine Bekanntmachungstafel desselben Hauses geheftet, in dem sie

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Charakteristisch sind darüber hinaus insbesondere Handlungen des Bewertens und des Entlarvens. Auf sie soll im Folgenden dezidiert eingegangen werden.

5.1

Bewerten: es ist zu grauenhaft

Dass das Bewerten in den Postkartentexten Otto Hampels eine zentrale Rolle spielt, wurde im vierten Abschnitt dieses Beitrags bereits angedeutet. Die Bewertungen beziehen sich häufig auf Hitler und die Parteifunktionäre, aber auch Handlungen der NS-Akteure werden bewertet. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Otto Hampel den Namen Hitler häufiger als Nomen appellativum mit dem vorangestellten Demonstrativpronomen diese verwendet, wodurch er einerseits die NS-Akteure stereotypisiert, andererseits aber auch seine Distanzierung sprachlich zum Ausdruck bringt: So grosschnautzig und frech diese Hitler damals vor 1933 es waren! so sind diese es heute noch und treten heute als wahre Bestien auf! (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 300).

Neben grosschnautzig und frech finden sich noch zahlreiche andere pejorative Adjektive in den Postkartentexten, die auf die NS-Akteure bezogen sind. Das Bewerten (bzw. Abwerten) der NS-Akteure erfolgt sehr häufig jedoch mittels pejorativer, z. T. dehumanisierender Substantive. Sie werden in dem obigen Textausschnitt als wahre Bestien bezeichnet, in anderen Texten etwa als Ausbeuter Gesindel, Lumpen, Nazi Plutokraten, Mordbrenner, Hitler Figuren oder Regierungs Bettler. Besonders das Wort Bonzen ist in den Texten hochfrequent: Hitler mit seinen Partei Bonzen Kapitalisten hatt bewust den gegenwärtigen Krieg angezettelt, um eine neue Kapitalistische Weltordnung durchzusetzen! […] In der Angelegenheit hatt Hitlers Politik doch nur Raubzügige Manieren ansich! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 65). Seit dem Jahr 1933 bietet uns diese Bande ein Innhaltsloses Leben! Liessen sich die prunkvollsten Palläste bauen, aus die uns Heute die Hitler Bonzen dicktieren, verhöhnen, und schickanieren! (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 300).

Otto Hampel schreibt die NS-Akteure hier auf eigennützige Verhaltensweisen (raubzügige Manieren haben, sich die prunkvollsten Paläste bauen lassen) fest. Als Bonzen fordern sie nicht nur von den in Deutschland lebenden Schaffenden Menschen [ein] Schinden [und] Opfern und ganz selbstverständlich den Tod (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 61), sondern beuten auch ganze Völker Europas aus Eigensucht aus:

abgelegt wurde, eine weitere wurde im Garderoberaum der Tegeler Borsigwerke gefunden, zu dem das Ehepaar keinen Zugang gehabt haben dürfte.

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Postkarte

Hitler und sein Bonzentum liesen sich prunkvolle Palläste bauen, aus denen uns Volk die Bande Heute Schickanieren, dicktieren, u verhöhnen diese Hitler Bande ist dabei Völker Europas auszubeuten und für die Ihrige Eigensucht hinzuschlachten! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 84).

Oft erfolgt das Bewerten von Handlungen der NS-Akteure in Form eines emotionalisierenden (und teilweise auch Emotionen zum Ausdruck bringenden bzw. thematisierenden) Kommentierens, etwa: Nein!!! von Jahr zu Jahr werden sie immer Brutaler! Gesetze haben diese gemacht, mann kann heulen! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 35). Hast Du es schon verfolgt mit den Hetzplakaten! den Schüttelfrost kannst du bekommen, Haushoch sind die Lügen […] (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 36). Hitler mit Bonzen kennt uns doch nur dann als deutsches Volk wenn es heist Schuften un noch und noch Opfern! Hitler der Egoistische kommt uns zum Halse raus! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 48). Diese Hitler Bande ist dabei Europäische Völker Hinzuschlachten. Im fremden Lande häufen sich Berge von Toten und Verwundeten! Deutsche Eltern es ist zu Grauenhaft […] (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 68). Wir deutschen werden nur als Schinderhannes von Hitler und seiner Bande betrachtet! Fui! (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 209). Die Hitler Regierung dicktiert Mundhalten, oder KZ Lager! Fui! Fui! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 40; Hervorhebungen alle durch die Verfasserin).

Hier zeigt sich sehr deutlich, dass das emotionale Argumentieren (im Sinne eines spezifischen Argumentationsstils) zum festen Bestandteil der persuasiven Strategie Otto Hampels zählte.32 Besonders auffällig ist der Gebrauch der Interjektion pfui. Sie zählt zu den idealtypischen Interjektionen, die »primär dem spontanen Ausdruck starker, subjektiver Emotionalität« (Nübling 2004: 17) dienen und daher vor allen Dingen in der medialen Mündlichkeit vorkommen (vgl. Nübling 2004: 16). Pfui wirkt hier wie eine von Abscheu bzw. regelrechtem Ekel affizierte Äußerung; besonders im letzten Textbeispiel, in dem sie gedoppelt ist und die Praxis der NS-Akteure, politischen Gegnern mit dem Konzentrationslager zu drohen, kommentiert.

32 Zur persuasiven Strategie des emotionalen Argumentierens siehe Albert Herbig und Barbara Sandig (1994), die das Zum-Ausdruck-Bringen bzw. die Kommunikation von Emotionen beim Argumentieren im Anschluss an Reinhard Fiehler (1993) als besondere Form des Bewertens betrachten.

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172 5.2

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Entlarven: Tricks und Bluffs in der gefälschten Hitler Propaganda

Besonders die Propaganda der NS-Akteure wird in den Postkartentexten Otto Hampels immer wieder thematisiert. Dabei bezieht sich Otto Hampel vereinzelt explizit auf Reden Hitlers: Die Hitler Rede vom 3.10.41 entspricht seinen Kampf gegen den Volks Sozialismuss machte die grösste Propaganda für eine Verlängerung des gegenwärtigen angezettelten Krieges! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 56).

Hitlers Reden, die über den Rundfunk ausgestrahlt wurden, bezeichnet er als scheinheiliges Gequatsche: Hitler macht nur noch Schein Heiliges gequatsche im Rundfunk! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 48).

Seine Leser*innen mahnt er daher an, aufzupassen: Deutsche past auf! Last Euch nicht Dicktartorisch unter kriegen was sind wir noch! dass Stumme Vieh! Gegen diese Fesseln müssen wir uns wehren sonst ist es zu spät! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 33).

Bemerkenswert ist hier seine Frage nach der Rolle des Volkes im NS-System (was sind wir noch! dass Stumme Vieh!). Es wurde an anderer Stelle dieses Beitrags bereits erwähnt, dass Otto Hampel von einem verführten Volk ausging, das durch geschickte Propaganda manipuliert worden war. Im folgenden Textbeispiel zeigt sich dies noch einmal sehr deutlich: Mit Tricks und Bluffs in der gefälschten Hitler Propaganda wird uns Volk Sand in die Augen gestreut! Die Hitler Banden und von besetzten Gebieten angekauften Spitzeln schreien immer von Lebens Raum, die Wirklichkeit ist von der Massen Bewegung, schickt der Schurke Hitler ungeachtet Väter und Söhne ins ewige Massen Grab! (BArch/R 3018/ 36, Bd. 3, Bl. 211).

Dieser Textausschnitt ist in vielerlei Hinsicht interessant: Mit schreien referiert er auf den für die NS-Redner typischen hysterisch-übersteigerten Ton. Es zeigt sich ferner, dass Otto Hampel auf ein in Widerstandsdokumenten häufiger im Zusammenhang mit Kritik an der Propaganda anzutreffendes Bild ( jemandem Sand in die Augen streuen) zurückgriff und dass er die NS-Akteure der Lüge bezichtigt, indem er die Propaganda als gefälscht entlarvt. Diese konnte also nur mit Tricks und Bluffs im Volk eine Wirkung entfalten. Dann liefert Otto Hampel ein Beispiel einer besonders infamen Propagandalüge, nämlich der Lüge vom ›Volk ohne Raum‹, mit dem die NS-Akteure ihre Expansionspolitik rechtfertigten. Dazu nutzt er das Wort Lebensraum, also einen ganz zentralen Begriff der Rassenideologie des Nationalsozialismus, um anschließend die Wirklichkeit darzustellen: die Wirklichkeit ist von der Massen Bewegung, schickt der Schurke

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173

Postkarte

Hitler ungeachtet Väter und Söhne ins ewige Massen Grab! Und hier zeigt sich dann, dass Otto Hampel nicht nur ein genauer Beobachter des politischen Geschehens war. Er setzte auch Sprache durchaus geschickt strategisch ein, was man an seiner Verwendung des Kompositums Massen Grab ablesen kann, dem er zudem noch die NS-Vokabel ewig voranstellte. Es verdichten sich in dieser kleinen Passage also einerseits Reflektionen Otto Hampels über die Propagandastrategien der NS-Akteure sowie deren Vokabular, andererseits zeigt sich hier aber auch sprachliche Kreativität: Er verändert das Determinatum des Kompositums Massen Bewegung und macht daraus Massen Grab. Es gibt noch eine andere Passage auf einer Postkarte Otto Hampels, die ähnlich aufgebaut ist: Diese verruchten schurkischen Naziz benutzen uns Werktätigen als Ambos, holen wie folgt gegen uns Volk aus, wir Nationalsozialisten führen den Krieg um die Nation satt machen zu können. Sieg um jeden Preiss! […] In fremder Erde Todes Raum! Niemals Lebens Raum! […] Notwendig ist dass sich endlich alle vernünftigen deutschen mit der freien Welt solidarisch erweisen! Nie einen Frieden mit der Eroberungs süchtigen Hitler Regierung! Nur Todes Raum gewähren! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 70).

Auch hier spricht er die Propaganda an (Diese verruchten schurkischen Naziz holen […] gegen uns Volk aus) und entlarvt die Lüge vom ›Volk ohne Raum‹ (wir Nationalsozialisten führen den Krieg um die Nation satt machen zu können). Und er benutzt wieder das Fahnenwort Lebens Raum, das er in dieser Passage zudem zu Todes Raum umwandelt. Was wir hieran ablesen können, ist, dass Otto Hampel das Wort Lebensraum ganz bewusst dazu benutzt, sich von der NSIdeologie zu distanzieren, womit er sich zugleich positioniert33. Als entlarvend kann auch folgende Passage gewertet werden: Hitlers sorge ist nur die Kriegs Wirtschaft zu steigern! Somit steigen die Hitler Göring Kurse in den Konzernen und die deutschen Väter und Söhne fallen! (BArch/R 3018/36, Bd. 2, Bl. 65).

Hier stellt Otto Hampel den Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Gewinnen der Industrie durch die Aufrüstung und dem Krieg her und schreibt die NS-Akteure (bzw. diesmal explizit Hitler) erneut auf eigennützige Verhaltensweisen fest (Hitlers Sorge ist nur die Kriegs Wirtschaft zu steigern! Somit steigen die Hitler Göring Kurse in den Konzernen).34 Dem Steigen der Hitler 33 Zum Positionieren mittels Ideologievokabular s. den Beitrag ›Rede‹ in Teil 2. 34 Eine ähnliche Formulierung, in der das Steigen der Aktienkurse und das Fallen der Soldaten nebeneinandergestellt wird, ist auch in einer im August 1942 verfassten Ausgabe der illegalen Zeitschrift »Die innere Front. Kampfblatt für ein neues freies Deutschland« zu finden, an der u. a. Arvid Harnack mitgewirkt hat. Hier heißt es: »Wenn die Helden fallen, steigen die Aktien« (http://www.gdw-berlin.de/fileadmin/themen/b17/bilder/3513a.pdf). Die Antithese, in der Zeitschrift als Chiasmus realisiert, war offensichtlich unter Widerständler*innen ein

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Katrin Schubert

Göring Kurse stellt er anschließend antithetisch das Fallen der deutschen Väter und Söhne entgegen, um auf die Grausamkeit des Krieges zu verweisen. Welchen Schluss Otto Hampel aus seiner Wirklichkeitsdiagnose ableitet, soll ein letztes Zitat zeigen: Es ist dringend notwendig, dass vernünftige deutschen den Kampf gegen dass gegenwärtige Hitler Regiem beginnen! (BArch/R 3018/36, Bd. 3, Bl. 206).

6

Fazit

Was Elise und Otto Hampel unverwechselbar aus dem breiten Komplex des Deutschen Widerstands heraushebt, ist der Sachverhalt, dass sie für ihre Appelle an die deutsche Bevölkerung Postkarten gebrauchten, die sie von Hand beschrifteten. Sie verwendeten ein Medium, das gemeinhin für private Kommunikation genutzt wird und als solches im NS-Alltag, besonders seit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, omnipräsent war, lösten es jedoch von seiner vorgesehenen Funktion los und brachten es in neue Sprachhandlungs- bzw. Texthandlungszusammenhänge. Elise und Otto Hampel kam dabei sicherlich entgegen, dass Postkarten »nicht nur kostengünstig […] zu erwerben«, sondern auch »ebenso schnell mit einer Botschaft zu versehen […] und zu rezipieren« (Holzheid 2006: 106) waren. In diesem Beitrag konnte gezeigt werden, dass Elise und Otto Hampel sich am Textmuster orientierten, das für Flugblätter charakteristisch ist. So enthalten ihre Texte beispielsweise zahlreiche Parolen (Nieder/Fort mit x), die in argumentative Passagen eingeflochten oder am Ende der Texte aneinandergereiht werden. Auch das für (zeitgeschichtliche) Flugblätter charakteristische »Frage-Antwort-Schema« (Schwitalla 1999: 814) konnte nachgewiesen werden. Es konnte aber auch gezeigt werden, dass die Texte der Hampels durchaus individuelle Gestaltungsmittel aufweisen. Zu diesen zählt beispielsweise die Interjektion pfui zur Bewertung von Handlungen der NS-Akteure. Ein Alleinstellungsmerkmal ist sicherlich auch die Verwendung des Wortes Todesraum – ein Wort, das auf den öffentlich-propagandistischen Sprachgebrauch rekurriert.

bekanntes (Stil-)Mittel zur Argumentation gegen den nationalsozialistischen Vernichtungsund Eroberungskrieg.

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Postkarte

7

Quellen

7.1

Primärquellen

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch): Justizakte R3018/36 (Bd. 2 u. 3).

7.2

Internetquellen

https://stamp-auctions.de/katalogarchiv/26_karl_stehle.pdf [letzter Abruf am 16. 03. 2022]. http://niqolas.de/postcard-social.de/1937_niemoell.png [letzter Abruf am 16. 03. 2022]. http://www.gdw-berlin.de/fileadmin/themen/b17/bilder/3513a.pdf [letzter Abruf am 16. 03. 2022].

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Britt-Marie Schuster

Flugblatt – Flugschrift

1 Einleitung 1.1 Die Kommunikationsmedien »Flugblatt« und »Flugschrift« und ihre typischen Ausformungen 1.2 Flugblattkommunikation im Widerstand: Analyseperspektiven 2 Flugblatt und Flugschrift als Widerstandsmedien 2.1 Vergiss, woher ich kam und wohin ich gehe: Kommunikative Rahmenbedingungen 2.2 Wie lange wollt ihr diese Schmach noch erdulden? Die Beziehung zum Adressatenkreis gestalten 2.3 Nicht wahr, Herr Goebbels? Sich zum Gegner positionieren 2.4 Es fällt nicht leicht das alles hier niederzuschreiben: Die nationalsozialistische Wirklichkeit beschreiben 2.5 All ihre ideologischen Verkrampfungen: Nationalsozialistische Deutungsmuster hinterfragen 2.6 In zwölfter Stunde: Warnen und Prophezeien 3 Das Spektrum der Nutzung von Flugblättern im Widerstand 3.1 Das Flugblatt Tausend Tage Drittes Reich von Adolf Freiherr von Harnier (1936) 3.2 Das Flugblatt Der Nazi-Reichsmarschall von Helmuth Hübener (1941) 4 Fazit Quellen

1

Einleitung

1.1

Die Kommunikationsmedien »Flugblatt« und »Flugschrift« und ihre typischen Ausformungen

Flugblätter und -schriften sind Kommunikationsmedien, deren deutschsprachige Tradition in das Spätmittelalter zurückreicht. Als Flugpublizistik »wird die Gesamtheit der ›fliegenden Blätter‹1 in allen Variationen bezeichnet, die unge1 »Eine Begrifflichkeit, die zunächst auf die Flüchtigkeit der Information und die schnelle Herstellungsmöglichkeit rekurrierte, die aber von Anfang an auch darauf abzielte, dass ein-

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Britt-Marie Schuster

bunden, d. h. ursprünglich ohne Einband, hergestellt werden, tendenziell geringen Blattumfang aufweisen und anlassgebunden (›ereignisabhängig‹) selbstständig publiziert werden« (Bellingradt/Schilling 2013: 273). »Unter Flugblatt wird ein meist illustrierter Einblattdruck […] in Folioformat verstanden« (Adam 1999: 132), wohingegen eine Flugschrift »ein mehrseitig bedrucktes, nicht periodisch erscheinendes ungebundenes Schriftstück in Quartform (Umfang 4, 8, 12 oder 16 Druckseiten)« (Adam 1999: 134) ist. Beim illustrierten Flugblatt sind Text und Bild gleichermaßen an der Herstellung von Bedeutung beteiligt. Trotz des häufigen Fehlens von Bildern in Flugschriften sind sie nicht als rein sprachbasierte Kommunikate zu verstehen, sondern auch hier ist das Bedeutungspotential von Textstruktur, Layout und Typographie zu beachten. Wenngleich die Kommunikationsmedien über die Jahrhunderte hinweg auch zur religiösen Erbauung, zum Bericht über neue Entdeckungen oder zur Sensationsberichterstattung genutzt wurden, bildet die Nutzung des Mediums zur persuasiven Kommunikation eine wichtige Traditionslinie: »Überall da, wo informiert und beeinflusst werden soll, findet man Flugblätter« (Caemmerer 2017: 721, Hervorhebung im Original; vgl. auch Straßner 1999: 795), was zumeist mit an die Adressat*innen gerichteten Direktiva (Aufforderungen, Mahnungen, Ratschläge etc.) einhergeht (vgl. Schwitalla 1999: 802). Die entsprechende Traditionslinie reicht von der konfessionell geprägten Flugpublizistik der Reformation und sich ihr anschließender konfessioneller Auseinandersetzungen2 über ihre Nutzung in Aufständen und Revolutionen (frz. Revolution, Vormärz/1848erRevolution) bis hin zu ihrer Verwendung in parteipolitischer Kommunikation und politischer Werbung und Feindpropaganda, besonders im Zweiten Weltkrieg (vgl. Bangerter-Schmid 1999: 187). Auch in der Gegenwart überlebt zumindest das Flugblatt als Medium des politischen Protests und der politischen Werbung. Flugblatt und -schrift prägten lange Zeit – hinsichtlich ihrer Anlässe differierende – öffentliche Auseinandersetzungen: Die für sie typische parteiische Deutung und Kommentierung der jeweiligen Gegenwart und die Darlegung eigener und fremder Meinungen trug nicht nur entscheidend zur Meinungsbildung der Rezipient*innen bei, sondern ermöglichte es ihnen auch, konkurrierende Weltanschauungen, Normen und Werte zur Kenntnis zu nehmen. Die besondere kommunikationsgeschichtliche Rolle der Flugpublizistik besteht entzelne Blätter schnell verteilt, verstreut und damit zum Fliegen gebracht werden können« (Caemmerer 2017: 711). 2 Köhler integriert die Persuasion in seine bekannte Definition v. a. frühneuzeitlicher Flugschriften: »Eine Flugschrift ist eine aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, nichtperiodische und nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation (d. h. der Beeinflussung des Handelns) und/oder der Propaganda (d. h. der Beeinflussung der Überzeugung) an die Öffentlichkeit wendet« (Köhler 1976: 50).

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Flugblatt – Flugschrift

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sprechend darin, durch die Sichtbarkeit unterschiedlicher Auffassungen ein »polyphones Meinungsklima« (vgl. Bellingradt/Schilling 2013: 275) zu erzeugen. Die Medien waren in viele gesellschaftliche Kontroversen und Konflikte unmittelbar eingebunden und trugen zur »Re- und Neukonstituierung einer religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Handlungspraxis und Handlungsorientierung« (Straßner 1999: 795) bei. Zwar werden Flugblatt/-schrift typischerweise mit öffentlicher Kommunikation verbunden, sie wurden jedoch auch zur konspirativen Gruppenkommunikation genutzt, denn »Produktion und Vertrieb [bilden] die Möglichkeit, dies auch im Untergrund, heimlich, verborgen, unauffällig und unerkannt zu tun. Die Anonymität kann in jeder Richtung gewahrt werden, wenn sich Verfasser und Vertreiber nicht offenbaren wollen« (Straßner 1999: 795).

Seit ihrer Nutzung als Massenmedien in den Anfängen der Reformation zielen Flugblatt und -schrift auf eine breite, auf gesellschaftliche Mitsprache gerichtete Rezeption (vgl. Bellingradt/Schilling 2013: 278). Um auf die Meinungen, Handlungen und auch Emotionen von Rezipient*innen Einfluss zu nehmen, wird eine große Bandbreite an Textsorten genutzt, die von Sendbriefen über Forderungskataloge bis zu Predigten reicht. Charakteristisch sind Textsorten, die sowohl informierend-beschreibende als auch argumentierende sowie appellative Bestandteile besitzen, wobei diese Bestandteile in unterschiedlicher Gewichtung realisiert sein können. Insofern reicht das Spektrum der Textsorten von kurzen Auf- und Mahnrufen bis zu ausgearbeiteten Streitschriften, die in unterschiedlicher Gewichtung die genannten Handlungsmuster aufweisen. Wiederholt ist darauf verwiesen worden, dass die ars rhetorica bzw. das »genus deliberativum« und die entsprechenden partes orationis, also die Erkennbarkeit von exordium – narratio – argumentatio/refutatio – peroratio die Flugpublizistik geprägt hätten (vgl. u. a. Straßner 1999: 797; Klug 2012: 106–111).3 Das/die zur persuasiven Kommunikation genutzte Flugblatt bzw. -schrift ist zwar thematisch offen und an keine spezifische Textsorte gebunden, es gibt jedoch charakteristische, die Jahrhunderte durchziehende sprachliche Kennzeichen, die für bestimmte kommunikative Praktiken der schriftlichen Streitkommunikation typisch sind. Zu diesen gehören: Erstens die mit bestimmten sprachlichen Mitteln erreichte Inszenierung von sozialer Nähe zum Adressatenkreis, zweitens die Abgrenzung von anderen sozialen und politischen Grup3 »Zentral sind Blätter, die in der Regel der rhetorischen Disposition von Parteireden folgen, mit Anrede, narratio (unterrichtendem Teil), argumentatio (beweisender Teil) und einem Schluß, der die entscheidenden Faktoren der Zielvorstellung pointiert zusammenfaßt« (Straßner 1999: 797). Klug (2012: 106) unterscheidet für das konfessionelle Flugblatt des 17. Jahrhunderts einen »themainduzierend-affizierenden Einleitungsteil« von einem »darstellend-argumentativen Mittelteil« und einem »affizierend-appellativem Schlussteil«.

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Britt-Marie Schuster

pierungen, was das »Bemühen, wirksame Feindbilder aufzubauen und zu perpetuieren« (Harms 2008: 262) umfasst, drittens die Bedeutsamkeit von Ironie, Spott und Humor, teils verbunden mit Sprachspiel und -witz, und viertens eine auf Verständlichkeit und Memorierbarkeit angelegte sprachliche Gestaltung. Kommunikationsmedium, Nutzungsmöglichkeiten und daraus resultierende Nutzungsgewohnheiten sowie typische Text- und Sprachgebrauchsmuster wirken entsprechend zusammen. Der Einbezug des Adressatenkreises zeigt sich an nominalen wie pronominalen Anreden und Rezeptionsappellen (etwa sieh, merk, hör, wiss(e)t vgl. etwa Rössing-Hager 2009: 785–787). Ferner wird in der Flugpublizistik eine große Bandbreite von an die Rezipient*innen gerichteter Sprachhandlungen verwenden. Oft entspannt sich zwischen Textproduzent*innen und Rezipient*innen ein Dialog, was als »Fiktionen des Szenischen« (Rössing-Hager 2009: 817) aufzufassen ist und oft mit der Simulation ihrer Kopräsenz einhergeht. Jene fingierten Dialoge weisen ihrerseits unterschiedliche nähesprachliche Signale wie Partikeln, Interjektionen oder pragmatische Idiome auf. Im Rahmen der Flugpublizistik ist es zudem nicht ungewöhnlich, sich als Verfasser*innen zu erkennen zu geben und ggf. auf den eigenen Schreibprozess Bezug zu nehmen. Zu ihrer Sichtbarkeit tragen typischerweise etwa die Autor(gruppen)deixis, Markierungen der eigenen Sprechereinstellung, Operator-Skopus-Strukturen (ich denk, ich mein …), expressive Sprachhandlungen sowie Modalpartikeln und Modalwörter bei. Das übergeordnete Ziel dieses mit der Schriftkommunikation verbundenen Näheregisters ist es, die Akzeptanz des Geäußerten zu erhöhen. Wiederholt ist deutlich gemacht worden, dass es sich bei den genannten Merkmalen und Verfahren nicht um Reflexe mündlicher Alltagskommunikation, sondern um die Inszenierung von Nähekommunikation handelt: Die in den Flugblatttexten eingesetzten, für die gesprochene Sprache typischen Versprachlichungsstrategien dienen dazu, die Nähe, d. h. den Kontakt und die Beziehung zwischen Sprecher und Rezipienten trotz der konzeptionellen Distanzsprachlichkeit der Texte künstlich herzustellen und während der Textkommunikation aufrecht zu erhalten (Klug 2012: 124; ähnlich Schuster 2001: 15–24).

Den Bekundungen der Nähe zu den Adressat*innen steht die Be/Verurteilung der als Gegner*innen ausgewiesenen Personen(gruppen) gegenüber. Durch Bezugnehmen auf diese und durch das Zuschreiben von vermeintlich charakteristischen Eigenschaften und Verhaltensweisen und schließlich auch durch an diese gerichtete sprachliche Handlungen (etwa Anreden oder verdiktive Sprachhandlungen wie Drohen) werden Eigen-, potentiell assoziierte Partner- und Gegnergruppe(n) sprachlich konstituiert. Auch hier zeigt sich ein gleichbleibendes Register, das im Wesentlichen auf Schimpfwörtern, Dysphemismen, dehumanisierenden und dämonisierenden Metaphern und Vergleichen beruht.

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Flugblatt – Flugschrift

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Zudem bedienen sich Verfasser*innen des Sprachspiels und -witzes. Nicht nur Flugblatt/-schrift der Frühen Neuzeit, sondern auch Flugblätter des 19. Jahrhunderts zeigen die »Verbindung der kommunikativen Leistungen ›Begründen‹ und ›Auffordern‹ mit sprachlichen Mitteln des Humors, Spotts und der ironischen bis sarkastischen Aggressivität« (Schwitalla 1999: 807; vgl. Polenz 1999: 529 zum »Hessischen Landboten«). Es ist zu betonen, dass etwaige invektische Passagen nicht zur Stabilisierung der Eigengruppe beitragen, sondern diese sogar erst aufbauen helfen (vgl. Schwerhoff 2017: 46).4 I. d. R. tradieren sie schon bestehende soziale Stereotypen und »bewegen sich innerhalb gesellschaftlich zugelassener Grenzen von Direktheit und Indirektheit, Tabuisiertem und Erlaubtem« (Schwitalla 2010: 97) und dienen in diesem Sinne der Tradierung und Bestätigung sozialer Ordnungen. Flugblatt und -schrift zielen, wie schon betont, auf eine breite Rezeption. Dazu trägt nicht nur die Erkennbarkeit von Eigen- und Gegnergruppe oder die Verwendung wiederkehrender Argumentationstopoi bei, sondern auch eine auf Verständlichkeit und Memorierbarkeit ausgerichtete sprachliche Gestaltung. Das Erbe der rhetorischen Tradition zeigt sich nicht nur an textuellen Strukturierungstechniken (vgl. Schuster 2001: 245–265), sondern auch an verständnisfördernden sprachlichen Handlungen wie dem Erläutern, indiziert durch mehrteilige Konnektoren wie das heißt oder das ist, dem Exemplifizieren, Analogisieren und der Nutzung vielfältiger Sprachbilder. Besonders hervorzuheben sind die Merkmale einer kommunikationsbezogenen Syntax (vgl. Rössing-Hager 1981; Petry 1999), einschließlich der zentralen Abwägung zwischen dem »grammatisch Zulässigen und rhetorisch Gebotenem« (vgl. Rössing-Hager 1981: 136). Dies ist mit der Nutzung der Außenfelder des deutschen Satzes verbunden, wie sie sich an Prolepsen, Ausklammerungen, Nachträgen oder Neuansätzen zeigt. Parenthesen, syntaktische Konstruktionslockerungen oder -brüche oder die Nutzung von Übergangsformen zwischen Para- und Hypotaxe sowie die Verwendung subordinierter V2-Sätze (vgl. Schuster 2008; 2015: 102) lassen sich ebenfalls als zentrale Elemente dieser Form der sprachlichen Gestaltung ausweisen. Die syntaktische Variabilität dient vor allem der Markierung kommunikativ gewichtiger Redegegenstände und erhöht die Memorierbarkeit des Gesagten. Auf Memorierbarkeit zielt zudem die Nutzung von Wiederholungsfiguren (etwa Aufzählungen) und ein Reim und Rhythmus berücksichtigender Sprachgebrauch (vgl. Klug 2012: 160). Klug (2012: 145–48) weist zudem 4 »Of course, we can see invectivity as the mere expression of an underlying camp mentality, the ›irreconcilability‹ of the conflicting parties due to their respective claims to possess absolute authority or their mutually exclusive claims to the truth. However, these camps had not existed from the beginning, they had evolved instead over time. It is clearly evident here that irreconcilability and exclusion were actually produced by means of ›invectivity‹ and not just ›depicted‹ in it« (Schwerhoff 2017: 46).

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Britt-Marie Schuster

auf etymologische Herleitungen von Namen, auf Wortspiele und rhetorische Figuren wie die figura etymologica hin.

1.2

Flugblattkommunikation im Widerstand: Analyseperspektiven

Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sind nun Flugblatt/-schrift neben der Denk5- und Programmschrift zentrale Kommunikate, um besonders im sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Widerstand der Ablehnung des Regimes Ausdruck zu verleihen. Allerdings wurden diese Kommunikationsmedien insbesondere während des Zweiten Weltkriegs auch von nicht auf ehemalige Parteien zurückgehende Gruppierungen verwendet, von denen die Weiße Rose und die Schulze-Boysen-Hartnack-Gruppe (›Rote Kapelle‹) sicherlich die bekanntesten sind. Doch auch Jugendliche, die sich zum Teil in kleinen Gruppen zusammenschlossen, etwa der Kreis um Helmuth Hübener und die Herbert-Baum-Gruppe, bedienten sich dieses Mediums. Selten ist der Gebrauch dieses Mediums in kirchlichen und auch bürgerlich-konservativen Gruppen. Gerade die Verfasser*innen von Flugblättern und -schriften aus dem linken Spektrum dürften mit dem Medium, seiner Herstellung und seiner Verteilung u. a. aus den politischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik vertraut sein, wohingegen es in anderen Gruppen kaum Vorerfahrungen in der Produktion und Distribution dieser Kommunikationsmedien gegeben haben dürfte. Die im Widerstand produzierten Flugblätter/-schriften werden in diesem Beitrag vor dem Hintergrund der in Abschnitt 1.1 skizzierten Texttradition gelesen. Dass die Tradition Verfasser*innen von Flugschriften präsent war, zeigen intertextuelle Verweise auf die zugehörige Tradition: So heißt es in dem u. a. von Heinrich Mann verfassten »Manifest der deutschen Freiheit« etwa: Georg Büchner, hat in Hessen illegale Flugblätter verbreitet und eines der packendsten politischen Manifeste unserer Sprache geschrieben, den »Hessischen Landboten« (Man: 206). Alle Schriften sind als ein Versuch zu lesen, eine subversive Gegenöffentlichkeit zu erhalten bzw. zu schaffen. Obgleich sich viele Verfasser*innen der Gefahr, die dies bedeutete, und auch der möglichen Wirkungslosigkeit angesichts der Übermacht des nationalsozialistischen Staates bewusst waren, versuchten sie, auf die deutsche Bevölkerung oder Teile von ihnen Einfluss zu nehmen. Sehr viele Verfasser*innen wurden entdeckt und bezahlten dies mit ihrem Tod. Der Auseinandersetzung mit Flugblatt/-schrift verfolgt zwei miteinander verbundene Ziele: 5 Siehe Beitrag »Denkschrift« in Teil 2.

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Flugblatt – Flugschrift

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In den nachfolgenden Kapiteln wird grundsätzlich die Frage beantwortet, wie Vertreter*innen unterschiedlicher Widerstandsgruppen mit einem zentralen Streitmedium und mit dem in ihm angelegten Affordanzen umgehen. Dabei werden die oben genannten sprachlichen Kennzeichen und die mit ihnen verbundenen Praktiken als kulturell ratifizierte Grundelemente persuasiver Kommunikation betrachtet. Zudem soll die Frage beantwortet werden, welche Wechselwirkung das Kommunikationsmedium mit dem Geflecht von Praktiken des Sich-Widersetzens besitzt.6 Im Vordergrund steht in diesem Beitrag vor allem, wie sich Widerstandskämpfer*innen zu ihren Gegner*innen positionieren und aus welchem Blickwinkel die nationalsozialistische Gegenwart konzeptualisiert wird. Zunächst wird nachgezeichnet, unter welchen kommunikativen Rahmenbedingungen Flugblätter und -schriften erstellt und distribuiert werden und inwieweit die Texte selbst Aufschluss über den anvisierten Rezipientenkreis geben (vgl. 2.1). Im Blickpunkt steht dann, wie das widerständige Selbst schreibend Beziehungen gestaltet und sich vom NS-Apparat abgrenzt (vgl. 2.2, 2.3). Erfasst werden typische sprachlichen Realisierungen der Praktiken des Referierens auf Eigen-, Partner- und Gegnergruppe und des Zuschreibens von Eigenschaften und Handlungen sowie charakteristische Sprachhandlungen, die an die Eigen-, Partner- oder Fremdgruppe gerichtet werden. In Abschnitt 2.4 wird dargestellt, welche Ausschnitte der nationalsozialistischen Wirklichkeit beschreibend konstituiert werden. Daneben ist erkennbar, dass sich die Widerstandskämpfer*innen der nationalsozialistischen Wirklichkeit nicht nur beschreibend annähern, sondern sich häufig auf Versatzstücke des öffentlichen Diskurses und auf Deutungsangebote des Nationalsozialismus beziehen, diese an der Wirklichkeit messen (vgl. 2.5). In Abschnitt 2.6 wird herausgearbeitet, wie die Skizze der nationalsozialistischen Gegenwart und mit ihr verbundener Diskurse zu zwei charakteristischen sprachlichen Handlungen, dem Warnen und dem Prophezeien führt. Die Darlegungen des zweiten Abschnitts basieren im Wesentlichen auf 44 Flugblättern und -schriften, die größtenteils im Projekt HetWik annotiert worden sind.7 In diesem Korpus befinden sich sowohl bekannte Schriften, so etwa die Flugblätter der Weißen Rose oder die Sorge-Flugschrift der Schulze6 Wie schon in anderen Zusammenhängen dargelegt, lässt sich widerständiger Sprachgebrauch nicht auf einzelne Lexeme und vereinzelte Äußerungen reduzieren, sondern betrifft das Geflecht der Praktiken des Sich-Widersetzens, das sich aus Praktiken der Selbst-, Beziehungsund Sachverhaltskonstitution sowie aus Praktiken des Widersprechens, des Widerlegens und der Gegenwehr zusammensetzt (etwa u. a. Schuster 2018, 2022a/b sowie Schuster/Markewitz/ Wilk in Vb., 2023 zum argumentativen Widersetzen und zur Charakterisierung der Praktiken der Gegenwehr). 7 Das Tagset ist über: www.uni-paderborn.de/forschungsprojekte/hetwik/aktuelles/projekt/tag set-stand-2020, Stand: 20.2. 2022 einzusehen.

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Britt-Marie Schuster

Boysen-Hartnack-Gruppe, als auch Schriften weithin unbekannter Widerstandsgruppen. Während der zweite Abschnitt charakteristische sprachliche Merkmale und die mit verbundenen Praktiken in den Mittelpunkt stellt und nach deren möglicherweise unterschiedlicher Ausprägung in den einzelnen Widerstandsgruppen fragt, beleuchtet der dritte Abschnitt zwei eher unbekannte Kommunikate, deren Verfasser – zum einen ein monarchistisch gesinnter Adeliger, zum anderen ein nicht-parteilich gebundener Siebzehnjähriger – nicht unterschiedlicher sein könnten: Es handelt sich um das Flugblatt Tausend Tage Drittes Reich (1936) von Adolf Freiherr von Harnier, dem Kopf des sogenannten Harnier-Zott-Kreises (vgl. 3.1) und um das Flugblatt Der Nazi-Reichmarschall (1941) des Jugendlichen Helmuth Hübener. Obgleich diese Flugblätter Besonderheiten aufweisen, fügen sie sich auch in die Flugschriftentradition ein und zeigen deren Wirkmächtigkeit.

2

Flugblatt und Flugschrift als Widerstandsmedien8

2.1

Vergiss, woher ich kam und wohin ich gehe: Kommunikative Rahmenbedingungen

Die widerständige Flugschriftenproduktion konzentriert sich einerseits auf die Jahre 1933–1936, andererseits auf die Jahre 1941–1944. Im Mittelpunkt der ersten Jahre steht die Auseinandersetzung insbesondere linker Gruppierungen mit Verfolgung, Folter und Tod von Oppositionellen, die Zerschlagung von Gewerkschaften und Parteien sowie die vom NS-Apparat verantwortete Wirtschafts- und Sozialpolitik und deren Auswirkungen. Jedoch dienen die widerständigen Flugschriften, wie es in den sogenannten Reinhart-Briefen heißt, auch dem Anführen von Widerstandsnestern oder der Wiedergabe von Tatsachen für die Flüsterpresse (vgl. Ts 1), was zumeist die Darlegung unterschiedlicher Formen der Alltagsresistenz beinhaltet. Gleichzeitig prägt diese Zeit die öffentliche Auseinandersetzung zwischen christlichen Kirchen und dem nationalsozialistischen Staat. Die thematischen Schwerpunkte der Jahre 1941–1944 bilden die 8 Dieser Beitrag stellt die Nutzung von Flugblatt und -schrift im Widerstand ins Zentrum. Das heißt nicht, dass diese Medien exklusiv vom Widerstand genutzt worden wären oder dass es ein sehr enges Verhältnis zwischen weltanschaulich-politischer Orientierung und der Nutzung der Medien geben würde. Die Nutzung in der politischen Kommunikation ist vor 1933 ebenso in linken wie in rechten Parteien und Gruppierungen erfolgt. Auch die NSDAP hat die Medien als Streitmedien vor 1933 intensiv genutzt und setzt sie insbesondere im Kontext der Feindpropaganda ein. Die in Abschnitt 1.2 und nachfolgend in diesem Beitrag besprochenen Merkmale und charakteristischen Praktiken sind ebenfalls nicht exklusiv mit der Widerstandskommunikation, sondern v. a. mit dem Streiten verbunden.

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Flugblatt – Flugschrift

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Kriegspolitik, insbesondere der Russlandfeldzug, und die sie begleitende Propaganda sowie die Auswirkungen des Krieges auf die deutsche Zivilbevölkerung. Obgleich die unterschiedlichen Widerstandsgruppen nur zum Teil miteinander kooperierten, zeigt sich deutlich, dass alle Widerstandsgruppen für ein baldiges Ende des Krieges plädieren und zu passivem und aktivem Widerstand aufrufen. Eine wichtige, gruppenübergreifende argumentative Linie bildet die Legitimation des Widerstandes, die im weiteren Sinne daran gesehen wird, zur Ehrenrettung des deutschen Namens beizutragen und/oder positiv auf die Zukunft der deutschen Bevölkerung Einfluss zu nehmen. Die Bandbreite der Flugpublizistik ist groß: Sie reicht von wenigen erhalten gebliebenen Streu- und Klebezetteln, ein- oder zweiseitigen Flugblättern über längere Flugschriften bis hin zu zeitungsähnlichen Kommunikaten. Letztere wurden wie »Der Friedenskämpfer« (1942) dann in das Korpus einbezogen, wenn sie sich auf ein Thema richten.9 Ein Großteil der Flugblätter und -schriften beruht auf der Vervielfältigung mit Schreibmaschine erstellter Produkte, einige wurden gedruckt, nur wenige sind als handgeschriebene Kommunikate verteilt worden. Sie sind selten bebildert, doch ist auffällig, dass bestimmte Textstrukturierungsund non-verbale Hervorhebungstechniken auftauchen, wobei sich handgezeichnete graphische Elemente und mittels Schreibmaschine mögliche Hervorhebungen ergänzen, wie das folgende durchaus charakteristische Flugblatt von 1938 (Sigle: Nein) verdeutlicht. Insbesondere in Abschnitt 2.4 wird beleuchtet, wie graphische und verbale Hervorhebungstechniken miteinander korrespondieren. Die Distribution der Kommunikate erfolgt grundsätzlich nicht so, dass Produzent*innen im öffentlichen Raum erkennbar würden.10 Dass Flugblätter ein Ersatz für die fehlende Öffentlichkeit sind, wird im folgenden Flugblatt, das der Flugblattserie Das Freie Wort! angehört, metakommunikativ reflektiert: Leider verbietet uns die Polizei desselben Ministers ihm in freier und offener Rede zu antworten. Uns so müssen wir ihm auf diesem, etwas umständlichen, aber im nationalsozialistischen Volksstaat nicht mehr ungewöhnlichem Wege, die Antwort geben (Fw 2).

Grundsätzlich erfolgt die Kennzeichnung der Texte als Flugblätter resp. Flugschriften selten. Insofern bilden die Flugblätter der Weißen Rose (bspw. das 9 An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass es auch Flugschriften gibt, die kaum mit anderen verglichen werden können. Dazu gehört die sog. Napoleon-Schrift von Harro Schulze-Boysen (»Napoleon Bonaparte. Sein politischer Weg, kurz dargestellt in Auszügen aus bekannten Werken der Geschichtsschreibung«, 1942), in der ausschließlich über den Werdegang von Napoleon berichtet und historische Quellen kompiliert werden, ohne die für die Leser*innen wahrscheinlich offenkundigen Parallelen zu Hitler, etwa den gescheiterten Russlandfeldzug, zu erwähnen. 10 Eine Ausnahme bildet die öffentliche »Protestschrift« der evangelischen Kirche (Pro), die sich direkt an den NS-Apparat wendet.

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fünfte Flugblatt: Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland) eine Ausnahme. Die Texte werden häufiger als Aufruf, Mahnruf, Manifest, Erklärung und (offener) Brief bezeichnet. Neben Aufruf oder Mahnruf, die die appellative Funktion direkt anzeigen, werden zum Auftakt des Flugblattes/-schrift auch performative Äußerungen verwendet, etwa: Wir klagen an! (Kl: 236). Einige

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Flugblatt – Flugschrift

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Kommunikate gehören eine Textserie an, was etwa bei den Flugblättern der Weißen Rose, bei der u. a. von Hanno Günther verantworteten Serie Das Freie Wort! oder bei Otto Hampels Freie Presse!11 der Fall ist. Dass viele Kommunikate als Flugblatt oder Flugschrift zu verstehen sind, lässt sich den Anweisungen entnehmen, wie der Kreis der Adressat*innen mit ihnen umgehen soll: Schickt diesen Brief in die Welt hinaus, so oft ihr könnt! Gebt ihn an Freunde und Arbeitskameraden weiter! Ihr seid nicht allein! Kämpft zunächst auf eigene Faust, dann gruppenweise. Morgen gehört und Deutschland! (Sf: 5); Gebe dieses Flugblatt weiter, und wenn Dir eine Schreib- oder Vervielfältigungsmaschine zur Verfügung steht so verbreite unsere Forderungen! […] Verhindere das unbesonnene Kameraden dieses Flugblatt zur Polizei bringen, denn sie bringen nur sich selber und ihre Kameraden in Verdacht, und haben unangenehme Nachforschungen durch die Polizei zu erwarten! (FW 1); Denk an Deine und Deiner Kollegen Sicherheit/Kleb mich nicht an!/Wirf mich nicht achtlos auf die Strasse!/Versteck mich mit Sorgfalt!/Bewahr mich nicht lange auf!/Gib mich nur an zuverlässige Kämpfer! Vergiss, woher ich kam und wohin ich gehe (Ts 1: 1).

Die Weiße Rose, die in ihrem ersten Flugblatt noch das distanzierte Anredepronomen Sie verwendet, bittet wie die »Gemeinschaft für Frieden und Aufbau« um selbstständige Abschriften: Wir bitten sie, dieses Blatt mit möglichst vielen Durchschlägen abzuschreiben und zu verteilen (Wr 1: 2); Hilf uns und Du hilfst Dir. Du hast vorstehendes 10 mal abzuschreiben und an 10 verschiedene Leute zu versenden. […] Behalte dieses Schreiben für Dich als Ausweis (Gfa).

Flugblatt und -schrift werden unter Einhaltung vieler Vorsichtsmaßnahmen (Auswahl von Schreibmaschinen, Papier etc), die keine Rückverfolgung gewährleisten sollen, wer die Schriften produziert hatte, erstellt. Die Schriften werden entweder an ausgewählte Rezipient*innen versendet oder etwa in Betrieben weitergereicht. Die Adressat*innen der von J. Rittmeister und H. SchulzeBoysen (nach einem Entwurf von C. Bontjes van Beek und H. Strewlow, vgl. Coppi/Andresen 2002: 348) verantworteten Agis12-Flugschrift »Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk« (1942) wurden sorgfältig ausgewählt. Sie wurde sogar an das Reichspropagandaministerium mit dem Ziel, den Staatsapparat zu verunsichern, geschickt, wobei die Verfasser*innen auch damit

11 Siehe zu den von Otto Hampel verantworteten Postkarten den Beitrag »Postkarte« in Teil 2. 12 Dieser Name spielt sowohl auf 2. Person Singular von lat. agere als auch auf Agis IV, spartanischer König, 244–241 v. Chr., Reformer, der die spartanische Gesellschaft neu ordnen wollte, an.

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Britt-Marie Schuster

rechneten, dass viele Schriften an die Gestapo übermittelt würden.13 Die Versende- statt der zuvor üblichen öffentlichen Verteilpraxis dieses Kommunikationsmediums lässt sich vielfältig dokumentieren. Im vierten Flugblatt der Weißen Rose heißt es entsprechend: Zu ihrer Beruhigung möchten wir noch hinzufügen, dass die Adressen der Leser der Weissen Rose nirgendwo schriftlich niedergelegt sind. Die Adressen sind willkürlich aus Adressbüchern entnommen (Wr 4: 2). Das Besorgen von Adressen kann auch dazu dienen, ein Widerstandsnetzwerk aufzubauen: Wo es geht, stecken wir ihnen auch mal ein Stück schriftliches Material zu, oder verweisen sie auf die Sendungen des ›Nationalkomitees‹. Wir können uns auch ihre Adressen beschaffen, um ihnen ab und zu mal ein Flugblatt schicken zu können (Saef: 84).

Die Verantwortlichen für die Schriften kennzeichnen sich verständlicherweise nicht mit ihren Klarnamen. Neben Verweisen auf etablierte Parteien und Institutionen (etwa Sozialdemokratie, K.P.D.) werden neue Gruppennamen auf der Basis von Appellativa gewählt, die einerseits zentrale Forderungen oder Zielstellungen ihres Handelns wie Freiheit, Frieden und Neubeginn anzeigen (die deutsche Friedensfront, freie Presse, AGIS, Neu Beginnen! oder Gemeinschaft für Frieden und Aufbau). Es ist andererseits auffällig, dass Namen gewählt werden, die die Verantwortlichen als Teil eines größeren Kollektivs ausweisen, die, wie im Falle von -front, anderen Gruppen gegenüberstehen. Eine Bezeichnung wie Nationalkomitee und das nahe liegende Verständnis eines Komitees als Zusammenschluss eines mit besonderen Befugnissen ausgestatteten Personenkreises, der für eine Nation, Kollektiv, sprechen möchte, sowie die sloganartige, appositiv verwendete Phrase »Freies Deutschland« bekunden einen hohen Anspruch: In dieser Stunde höchster Gefahr für Deutschlands Bestand und Zukunft hat sich das Nationalkomitee »Freies Deutschland« gebildet. […] Das Nationalkomitee erachtet sich als berechtigt und verpflichtet, in dieser Schicksalsstunde im Namen des deutschen Volkes zu sprechen, klar und schonungslos, wie die Lage es erfordert (Man 2: 1).

Obgleich es der bekundete Anspruch in diesen und anderen Fällen ist, für weite Teile der Bevölkerung zu sprechen, ist die kommunikative Reichweite der allermeisten Flugblätter und -schriften begrenzt. Das sechste Flugblatt der Weißen Rose erreichte sicherlich die größte Bekanntheit, da es über Schweden, initiiert von Helmuth von Moltke, nach England gelangte und im Rahmen der britischen Propaganda verteilt wurde. Auch Thomas Mann thematisierte das Flugblatt in einer seiner BBC-Reden im Juni 1943.

13 Viele Rezipient*innen brachten die Exemplare der Gestapo: Diese erhielt 288 Exemplare, u. a. von Pfarrern, Professoren, Diplomaten und höheren Beamten (vgl. Roloff 2004).

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Flugblatt – Flugschrift

2.2

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Wie lange wollt ihr diese Schmach noch erdulden? Die Beziehung zum Adressatenkreis gestalten

Für die hier beleuchtete Tradition des/der Flugblattes/Flugschrift ist charakteristisch, dass ihre Verfasser*innen sowohl eine Eigengruppe, der sie sich zugehörig fühlen und für die sie sprechen, als auch eine Gegengruppe, von der sie sich abgrenzen, sprachlich konstituieren; die Adressat*innen werden häufig entweder als Teil der Eigengruppe verstanden oder gehören einer assoziierten Partnergruppe an. Durch Handlungen des Adressierens, des Bezugnehmens und des Prädizierens wird generell die Existenz des Adressierten, Benannten und Zugeschriebenen behauptet, wobei mit jeder dieser Handlungen zumindest auch eine epistemische Positionierung (Du Bois 2007: 143) verbunden ist. Mit Handlungen des Bezugnehmens, etwa durch Personenbezeichnungen, korrespondiert häufig die Zuordnung zu einer sozialen Kategorie und die Zuschreibung »kategoriengebundener Merkmale« (i. S. v. von Schegloffs »membership categorization«, 2007: 469). Die entsprechenden sprachlichen Handlungen sind schon deshalb in ihrer sozialen Bedeutung nicht zu unterschätzen, weil mit ihnen eine spezifische Sichtweise auf gesellschaftliche Ordnungen, etwa auf relevante Personengruppen, konstituiert wird. Dabei können in der Widerstandskommunikation ebenso wie in jeder anderen Kommunikation Selbst- und Fremdstereotypisierungen entstehen, »die ihrerseits als einstellungsbedingte Dispositionen für soziales Handeln« (Kallmeyer 2002: 154) zu betrachten sind. Hornscheidt (2019: 153) hält sprachliche Kategorisierungen gar für zentrale »Weltherstellungs-, -erklärungsund Verständigungsmittel«. In der Widerstandskommunikation tritt indes noch ein besonderes Moment hinzu: Durch das Bilden von Eigen-, Partner- und gegnerischen Gruppen können durch die Verfasser*innen soziale Identitäten im Diskurs erhalten werden, die im öffentlichen Diskurs stigmatisiert oder anders besetzt sind bzw. es werden soziale Positionen und Rollen beansprucht, die nicht mit den Rollenangeboten der ›Volksgemeinschaft‹ übereinstimmen. Das Bilden von Eigengruppen, zu verstehen als das Bilden von Gegengemeinschaften (vgl. Schuster 2022a), erfolgt gerade im linken Widerstand mithilfe eines häufig inklusiv zu verstehenden Wir. Es wird ferner deutlich, dass mithilfe nominaler Bezeichnungen auf eine gemeinsame politische Orientierung, Weltanschauung referiert wird und dass Einzelpersonen und Gruppen mittels vor allem relationaler Adjektive (etwa deutsch, sozialdemokratisch, christlich) näher bestimmt werden (Ausnahmen jedoch unten). Ein wesentlicher Unterschied zu vielen Denkschriften besteht darin, dass zwar wie in Denkschriften der Anspruch formuliert wird, Bevölkerungsgruppen zu vertreten, dass jedoch nicht nur über die deutsche Bevölkerung bzw. Teile von ihr geschrieben wird, sondern versucht wird, sie als Partner für den gemeinsamen Kampf zu gewinnen. Das sprachliche Herstellen von Eigen- und Partnergruppen und gegnerischen Gruppen be-

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Britt-Marie Schuster

schränkt sich nicht auf die entsprechenden Nominationseinheiten, sondern zeigt sich auch an sprachlichen Handlungen wie dem Fragen, Auffordern, Warnen sowie an solchen Handlungen wie dem Erläutern, die das Verständnis der angesprochenen Rezipient*innen stützen sollen. Flugblätter und -schriften können, wie zumeist aus ihrem Kopf hervorgeht, entweder an spezifische Adressatenkreise oder an die gesamte Bevölkerung gerichtet werden. Vornehmlich im jugendlichen Widerstand lässt sich eine Adressierung der eigenen Generation oder Teile von dieser nachweisen, etwa An die geknechtete deutsche Jugend! (Pfa: 529); An die Jugend Deutschlands An alle jungen Arbeiter, jungen Arbeiterinnen, Jungangestellte, Jungbauern, Studenten, Schüler! (Ju: 181) oder Kommilitoninnen! Kommilitonen! (Wr 6: 1). Gerade in Flugblättern, die sich an die eigene Partei oder entsprechende Organisationseinheiten richten und vor allem der subversiven Gruppenkommunikation zuzurechnen sind, können jedoch auch andere eher spezifische Gruppen angesprochen werden, etwa: Merkblatt für Bauarbeiter!!! (Bau: 79); Liebe Genossen! (Saef: 82) oder An die deutsche Ärzteschaft! (Baum: 1). Viele Schriften richten sich an die gesamte deutsche Bevölkerung. Allerdings sind hier zwei Einschränkungen zu machen: Aus dem gesamten Text ist in sozialistischen und kommunistischen Schriften häufig erkennbar, dass ›Volk‹ nicht die Gesamtbevölkerung meint, sondern vor allem diejenigen, die unter der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft leiden (etwa die Arbeiter, die zum militärischen Einsatz gezwungenen Soldaten und/oder die von anderen Einschränkungen betroffenen Familien). Gerade die Flugblätter aus dem nicht-kommunistischen Widerstand wenden sich an alle Teile der deutschen Bevölkerung, sondern an ehrliche, vernünftige, aufrechte, anständige Deutsche oder den bessere[n] Teil Deutschlands: Sie ruft alle aufrechten Deutschen zu ehrlicher Mitarbeit! (Mi: 2); Und was die Heimat von einem Manne fordert, der im Osten die Partisanen bekämpft, was sie von demjenigen verlangt, der ein aufrechter Deutscher sein will (Ob: 5).

Eine typische Adressierungspraktik ist die Wahl des vertrauten Anredemodus mit Ihr und weniger häufig mit Du. Sofern Du verwendet wird, richtet es sich nicht an eine Einzelperson, sondern ist generisch oder im Verbund mit den entsprechenden sozialen Kategorisierungen als sozial typisierend zu verstehen. Dein gesunder Menschenverstand wird Dir – wenn nicht schon seit langem, so bestimmt in den letzten Wochen – gesagt haben, dass dieser Krieg in ein für Deutschland kritisches Stadium getreten ist. Wenn Du Gelegenheit hast, andere als deutsche Radiosender zu hören, wirst Du über die Kriegslage im Osten orientiert sein (Bäst: 436).

Der vertraute Anredemodus resultiert sicherlich im linken Widerstand aus einer Anredepraxis, die sich bis heute in politischen Parteien hält. Dass diese auch in

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Flugblatt – Flugschrift

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anderen Flugschriften nachweisbar ist, könnte aus der Flugschriftentradition selbst resultieren. Adressiert man nun seine Schriften an den besseren Teil Deutschland, so ist selbstverständlich auch die Zugehörigkeit zu diesem Teil Deutschlands nahegelegt. Nicht selten steht das Adjektiv wahr14 im Verbund mit derartigen Adressierungen: Wenn also wie im folgenden Beleg wahre Patrioten15 adressiert werden, so heißt dies auch, dass das Verständnis von Patriotismus, welche die Gegenseite vertritt, fehlgeht: Das Gewissen aller wahren Patrioten aber bäumt sich auf gegen die derzeitige Form deutscher Machtausübung in Europa. Alle, die sich den Sinn für echte Werte bewahrten, sehen schaudernd, wie der deutsche Name im Zeichen des Hakenkreuzes immer mehr in Verruf gerät (Sf: 1).

Im Korpus fehlen weitgehend die für die Flugschriftentradition charakteristischen Rezeptionsappelle wie sieh/seht, hör/hört oder merk/merkt (siehe jedoch Abschn. 3.1). Es wird jedoch häufig auf einen unterstellten common-sense rekurriert, der von den Verfasser*innen entkräftet wird: Immer wieder hört man die Redewendung: »Wir müßen durch! Wenn wir jetzt nicht siegen, geht es uns ganz schrecklich an den Kragen, dann müßen wir alle für die Untaten der Nazis büßen!« Das ist Gerede, das die derzeitigen Machthaber selbst verbreiten, um ihre Herrschaft zu festigen (Sf: 5).

Vor allem an Schriften des kommunistischen Widerstands ist erkennbar, dass die Flugblätter/-schriften auch in der Absicht geschrieben werden, dem Adressatenkreis etwas zu erläutern bzw. ihn zu belehren. Genutzt werden hier vor allem idiomatisierten Fragen (Wie sieht es aus mit X?, Was lehrt uns X?, Wie erklärt sich X?) und die mehrteiligen Konnektoren das heißt/meint/bedeutet. Die Erläuterungshandlungen beziehen sich – grosso modo – auf die Bedeutung einzelner (subversiver) Handlungen, auf die Bewertung der aktuellen Gegenwart sowie auf den sozialen Sinn einzelner Handlungen der nationalsozialistischen Machthaber. Im Regelfall folgen diesen erläuternden auffordernde Passagen: Gegen Hitler stimmen, das heist[!] für persönliche und politische Freiheit stimmen; Gegen Hitler stimmen, das heist[!] für Glaubensfreiheit stimmen; Gegen Hitler stimmen, das heist[!] für bessere Löhne und gegen Hetzarbeit stimmen (Nein); Die Ziele des Sozialismus zu verfechten, heisst: Idealen dienen, heisst: die Menschheit kulturell weiterbringen, heisst: sie der grosstmöglichen Vollkommenheit näherbringen, heisst kurz: sich wie ein Mensch benehmen. Den Zielen nationalistisch-imperialistischer Willkür zu dienen, heisst: tierischer als jedes Tier zu sein (RB 2: 1); 14 Vgl. dazu den Betrag »Wahr-Sagen im Widerstand« in Teil 1. 15 Sich als wahre X (X = eine geradezu beliebige Personengruppenbezeichnung) zu deklarieren, stellt ein bis heute bewährtes Verfahren der politischen Kommunikation dar und ist in der Weimarer Republik und zuvor vielfach nachzuweisen.

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Britt-Marie Schuster

Wie erklärt sich die Kurzlebigkeit der bürgerlichen Revolution, die so dramatisch anfängt und so schnell in den grauen und jämmerlichen Alltag hinübergleitet? Jede bürgerliche Revolution schliesst einen ungeheuren Betrug der Massen in sich (Rs: 645).

Bei Erläuterungen verweisen Fragehandlungen auf die nachfolgende Beseitigung eines möglicherweise vorhandenen Wissensdefizits. Jedoch findet sich auch eine Fülle von rhetorischen Fragen, mit denen eindringlich auf die Rezipient*innen eingewirkt wird, was in besonderer Weise bei performativen Fragen wie ich frage Dich der Fall ist. Dass die Fragen als rhetorische konzipiert werden, wird daran ersichtlich, dass sie häufig nachfolgend nicht nur mit Ja oder Nein beantwortet werden, sondern ihnen auch Aufforderungen folgen. Im ersten Beleg der nachfolgenden Belegreihe ist dies in einen fingierten Dialog eingebettet und mit einer Bezugnahme auf einen vermeintlichen ›common sense‹ bzw. gängigen Argumentationstopos verbunden: Unser heutiger ›Staat‹ ist eine Diktatur des Bösen. ›Das wissen wir schon lange‹, höre ich Dich einwenden, ›und wir haben es nicht nötig, dass uns dies noch einmal vorgehalten wird.‹ Aber, frage ich Dich, wenn ihr das wisst, warum regt ihr euch nicht, warum duldet ihr, dass diese Gewalthaber Schritt für Schritt offen und im Verborgenen eine Domäne eures Rechts nach der anderen rauben (Wr 3: 1). Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist? Wollt Ihr mit dem gleichen Masse gemessen werden wie Eure Verführer? Sollten wir auf ewig das von aller Welt gehasste und ausgestossene Volk sein? Nein! Darum trennt Euch von dem nationalsozialistischem Untermenschentum! (WR 5: 1); Wie lange noch wollt ihr diese Schmach noch dulden? Stürzt Hitler! Kämpft gegen SS und Gestapo! Macht Schluß mit der Tyranney! (Fk: 3); Wollt ihr es erdulden, wie Euch Euer Lebensglück genommen wird und Eure Kinder und die schönsten Jahre ihres Lebens betrogen werden? Wolt Ihr es erdulden? (Hü 3: 198).

Obwohl die Rezipient*innen nicht nur an diesen Textstellen, vor den Konsequenzen ihrer eigenen Handlungen gemahnt werden (siehe auch Abschn. 2.6), ist jedoch ersichtlich, dass die Beziehung zu den Rezipient*innen zumeist als eine solidarische Beziehung gestaltet wird, deren Verbundenheit durch gemeinsame Werte und durch das gemeinsame Leiden in und am Nationalsozialismus garantiert ist (vgl. Abschn. 2.3). Allerdings grenzt sich die Weiße Rose deutlich von der deutschen Bevölkerung ab, in dem diese metaphorisch als ›schlafend‹ bzw. eine seichte willenlose Herde bezeichnet wird. Und wieder schläft das deutsche Volk in seinem stumpfen, blöden Schlaf weiter und gibt diesen faschistischen Verbrechern Mut und Gelegenheit weiterzuwüten – und diese tun es (Wr 2: 2).

Sie vertreten die These einer Mitschuld und Mitverantwortung am prognostizierten Untergang Deutschland:

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Flugblatt – Flugschrift

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[A]ber heute hat es eher den Anschein, als sei es eine seichte, willenlose Herde von Mitläufern, denen das Mark aus dem Innersten gesogen und nun ihres Kernes beraubt, bereit sind, sich in den Untergang hetzen zu lassen (Wr 1: 1).

Ebenso gilt dies für die »Offenen Briefe von der Ostfront«, verantwortet von John Sieg und Adam Kuckhoff, und zum Teil auch für die noch zu thematisierende Schrift von Adolf Harnier. Blickt man von den Flugschriften auf die Widerstandskommunikation, so ist ein scharfes Urteil über die deutsche Bevölkerung auch aus den BBC-Reden Thomas Mann und auch in den Protokollen des Kreisauer Kreises erkennbar.16 Sicher ist das Aufrütteln von Rezipient*innen Teil der Flugschriftentradition, doch ist meines Erachtens eher ungewöhnlich diejenigen, auf die man zählt, auch moralisch zu verurteilen. Dennoch hält dies auch die Weiße Rose nicht davon ab, die Rezipient*innen zum widerständigen Handeln aufzufordern. Die Praktiken der Gegenwehr (Auffordern, Fordern, Warnen, Vorwerfen) und ihren typischen Realisierungen werden auf der Basis der entsprechenden Annotationen umfangreich bei Wilk (i.Vb., 2023) behandelt.17 Es sei an dieser Stelle besonders die Parolen hervorgehoben, da sie die für die Flugpublizistik typische Memorierungsfunktion aufweisen. Auffällig sind vor allem oft wiederholte Aufforderungen zum Kampf mit variablen Aufforderungskonstruktionen sowie Sprachgebrauchsmuster mit nieder oder fort: Kämpft gegen den Nazi-Terror (Rh: 96); Kämpft für ein neues freies Deutschland (Fk: 7); Kampf für Gerechtigkeit und Frieden! (Mi: 2), Es gibt für uns nur eine Parole: Kampf gegen die Partei! (Wr 6: 1); Es lebe der Kampf um die Freilassung der Opfer des kriegswütigen Faschismus! (Ju: 183). Fort mit Hitler! (Mi: 2); Fort mit Hitler und seiner Mörderbande! (Fk: 7); Nieder mit dem Krieg der Faschisten (Bau: 79); Nieder mit dem faschistischen Blutterror! Nieder mit der Militarisierung der Jugend und der Vorbereitung des neuen imperialistischen Massenmordens!, (Ju: 188); Nieder mit dem Naziregime! (Fk: 7), Krieg dem Wahnsinnskriege! Für Freiheit, Brot und Friede! (Fw 1).

16 Siehe auch den Beitrag »Denkschrift« in Teil 2, insbesondere Abschn. 4.2. 17 Praktiken der Gegenwehr seien auf Konflikthaftes hin kalibriert. Beim Auffordern etwa sind »die imperativischen Satzmuster zu finden sowie Konstruktionen mit grammatischen Appellativa wie dem deontischen Infinitiv (Weitersagen!) oder dem Adhortativ (Zögern wir nicht länger!). Die Auffordern-Kategorie umfasst ferner alle Konstruktionen mit Anrede in der 2. Person, u. a. appositiv ergänzt durch referenzielle Bezeichnungen (Ihr, Arbeiter Berlins, seid aufgerufen), performative Formeln (Werktätiges deutsches Volk! Wir rufen sich auf) und Hervorhebungen (Auch DU musst zum Ankläger werden)« (Wilk, i. Vb., 2023).

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194 2.3

Britt-Marie Schuster

Nicht wahr, Herr Goebbels? Sich zum Gegner positionieren

Das Anreden von, das Referieren auf den NS-Apparat und das Zuschreiben von Eigenschaften, Verhaltens- und Handlungsweisen sind ein elementarer Bestandteil der Flugblätter und -schriften. Durch die Untersuchung referentieller und prädizierender Strategien erschließt sich, wie der Nationalsozialismus sprachlich konstituiert und wahrgenommen wird. Zu den Angesprochenen gehören fast ausschließlich Hitler, Goebbels, Göring, Himmler, Rosenberg und Ley sowie einige, für bestimmte Maßnahmen verantwortliche Beamte. Interessant ist, dass es einzig Hitler ist, der nicht mit Herr Hitler o. Ä. angeredet wird, sondern in erkennbar ironischer Absicht als Führer: Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. 330.000 deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir! (Wr 5: 1).

Anreden von Angehörigen des NS-Apparates sind in Abhängigkeit vom soziokulturell akzeptierten Anrederegister zu sehen. Mit pronominalen Anreden wie Du oder Ihr setzen sich die Verfasser*innen in eine scheinbar vertraute, symmetrische soziale Beziehung zu den Machthabern und ratifizieren den Führungsanspruch der Angeredeten nicht. Es wird allein schon dadurch ein alternatives soziales Feld konstituiert, in dem scheinbar unter Gleichen kommuniziert wird. Die Nennung von Titeln oder der nominalen Anrede Herr ist ferner ausnahmslos ironisch und nicht als Respektbekundung zu verstehen. Mit Pronominalphrasen wie Ihr Herren wird ebenso ironische Distanz bekundet wie mit expressiven Sprachhandlungen wie Wir danken Dir oder Wir gratulieren. Mit welchem Ideal vor Augen soll das deutsche Volk Krieg führen? Die allgemeine Unfreiheit, der totale Rückschritt, das sind keine Ideale, für die man freudig stirbt, ihr Herren! (Sf: 2); Ganz so, als ob in Moskau nur Strohköpfe säßen, die nicht einmal bis drei zählen könnten und von Strategie nicht einen blassen Schimmer hätten, nicht wahr, Herr Goebbels. (Hü 4: 2); Was bleibt also von diesem angeblichen ›Wunder‹? Es bleibt Zwangsarbeit schlimmster Art […] Wahrlich, ein schönes ›Wunder‹! Wir gratulieren, Herr Koch! (Rs: 647).

Die Bezeichnung Herr und/oder die Nennung von Titel und Berufsbezeichnungen ist auch dann ironisch markiert, wenn über die entsprechenden Personen geschrieben wird: [B]ald verkündete der Herr Reichsschulungsleiter Rosenberg seine Mystik des Blutes als positives Christentum (Pro: 1);

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Flugblatt – Flugschrift

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Die mächtigsten Herren im Land sind heute die Herren Himmler und Goebbels. Aber der grösste Terror des Herrn Himmler kann auf die Dauer nicht die Wahrheit bezwingen. Die grösste Lüge, der grösste Bluff des Dr. Goebbels können uns nicht mehr retten (Sf: 3).

Über die genannten Belege hinaus sind kaum sprachliche Handlungen vorhanden, die sich direkt an den NS-Apparat richten. Eine Ausnahme bildet entsprechend der folgende Beleg: Zu solcher Abwehr gehört die klare Frage an den Führer und Reichskanzler, ob der Versuch, das deutsche Volk zu entchristlichen durch weiteres Mitwirken verantwortlicher Staatsmänner oder auch nur durch Zusehen und Gewährenlassen zum offiziellen Kurs der Regierung werden soll (Pro: 1).

Sofern nun auf die zentralen Größen des NS-Apparates referiert wird, erfolgt dies häufig durch die Nennung des Namens, gelegentlich auch des Vor- und Zunamens und nahezu nie durch den Vornamen (siehe jedoch Abschn. 3.2). Dass Hitler und Goebbels als die zentralen Repräsentanten des NS-Apparates wahrgenommen werden, wird auch daran ersichtlich, dass auf der Basis der Eigennamen die Adjektive hitler(i)sch- und goebbelsch- abgeleitet werden. Die herausgehobene Stellung dieser ›Protagonisten‹ wird zudem an entsprechenden Komposita und Derivationen ersichtlich, so an Komposita mit dem Determinans Hitler- (etwa Hitlerplutokraten, Hitlerdeutschland, Hitlerregime uvm.) und weniger frequent mit dem Determinans Goebbels- (etwa Goebbelspropagandisten). Ferner wird durch Lexeme wie Hitlerismus und den davon abgeleiteten Hitleristen die Ausnahmestellung Hitlers akzentuiert. Doch auch Goebbels und seine angenommenen Mitstreiter sind sehr präsent: Neben dem häufigen Rekurs auf den Propagandaminister und die Institution Propagandaministerium und deren Sitz, die Wilhelmstraße (etwa Berliner Wilhelmsplatz-Hetzzentrale) wird Goebbels (und auch Göring, siehe Abschn. 3.2) wird er häufig durch seine Stigmata identifiziert, etwa durch eine Formulierung wie klumpfüssiger Propagandazwerg. Das Wissen um typische Handlungen, etwa die des Propagierens, ermöglicht eine große Anzahl von metonymischen Sinnverschiebungen, wie sich etwa an der Bezeichnung Tintenkulis für die am Propagandaministerium tätigen Personen zeigt. Auf Personengruppen wird ebenso mit metonymisch zu verstehenden Bezeichnungen für das System, etwa Nationalsozialismus, Faschismus oder Terrorismus wie mit Personengruppenbezeichnungen wie Nationalsozialisten/Nazis, Faschisten, Terroristen etc. referiert. Die Zusammensetzung mit dem Kurzwort Nazi erweist sich als außerordentlich produktiv: Nazibonzen, -barbaren, -henker, -verbrechern, -regierung, -system, -plutokratie oder auch für Nazidirektion. Eine häufige Attribuierung ist das Adjektiv braun, das metonymisch aus der typischen Kleidung (Uniform) abgeleitet ist. Zur Kennzeichnung insbesondere des NSApparates werden jedoch auch Bezeichnungen wie Häuptling oder Vesir und

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Britt-Marie Schuster

entsprechende Determinativkomposita verwendet: Um den Antisemitenhäuptling Streicher ist es plötzlich wieder sehr still geworden (Ts 3: 3), O.T.-Häuptlinge (Bau: 79; O.T. = Organisation Todt); Die Enthaltsamkeit Hitlers und seines preussischen Großvesirs (Rs: 645). Ein Sprachgebrauchsmuster durchzieht nahezu alle Flugblätter/-schriften: Die Verwendung der pejorativen Konstruktion ›X und Possessivartikel Y‹, wobei X einen Eigennamen darstellt, etwa dem Obersäufer Ley und seinen Konsorten (Fk: 4) oder Goebbels und seine Zeitungssöldner (Bäst: 431), wobei die Nutzung von Bande oder mit geringer Frequenz: Klicke/Clique/Klikke oder auch Konsorten häufig ist. Die Bedeutung dieses Sprachgebrauchsmuster ist nicht hoch genug einzuschätzen: Einerseits werden mit ihm sowohl zentrale Protagonisten identifiziert und als führender Teil eines geschlossenen sozialen Netzwerks betrachtet, das andererseits der deutschen Bevölkerung gegenübergestellt wird. Neben dem NS-Apparat wird, was das eben skizzierte Sprachgebrauchsmuster schon zeigt, auf Gruppen verwiesen, die mit den NS-Apparat zusammenarbeiten oder gar deren Interessen den Nationalsozialismus diktieren (etwa Hitler und seine Auftraggeber, die Herren von Kohle und Stahl – Fw 3: 1). Es sind vor allem der marxistischen und auch sozialistischen Gesellschaftsanalyse entsprechend Vertreter der Industrie, des Militärs und des Großgrundbesitzes: Bonzen, Grossindustrielle (I.G. Farben, Krupp, Siemens, Leuna), Unternehmer, GrossArgrarier, Junker, Hochfinanz, Finanzhyänen – kurzum: die Diktatur des Geldsacks (Bau: 79). Das Referieren auf den NS-Apparat oder einzelne Personen umfasst ferner ein weites Spektrum pejorativ zu deutender Bezeichnungen wie Diebe, Lump, Schurke, Verbrecher, Gangster, Banditen, Lügner, Maulhelden, Hetzer, Henker, Henkersknechte, Mordbuben, Ausbeutern, neue Herrenschicht oder Brandstifter. Neben der dominanten Konzeptualisierung als ›Kriminelle‹ und damit außerhalb einer rechtsstaatlichen Ordnung stehend, werden, wenngleich weniger, dominant ihre intellektuellen Fähigkeiten angezweifelt, wie es bei Lexemen wie Dilettanten oder Kretin der Fall ist. Unter den Appellativa finden sich dehumanisierende oder dämonisierende Bezeichnungen18 wie Bestien oder (widerwärtige) Kreatur. Diese dehumanisierende Tendenz korrespondiert mit metaphorisch zu verstehenden Adjektiven wie tierisch, viehisch oder bestialisch (und entsprechenden Konvertaten) oder Verben wie wittern oder girren; auch wüten kann in diesen Zusammenhang gestellt werden:

18 Spiess (2021: 112) hat zuletzt darauf aufmerksam gemacht, dass ausgrenzende Metaphorik quasi spiegelverkehrt darauf verweist, wer aufgrund von welchen Eigenschaften zur menschlichen Gesellschaft gehört. Dass mit dehumanisierenden Metaphern nicht nur Eigenschaften prädiziert und abgewertet werden, sondern dass sich damit eine spezifische Deontik verbindet, ist zudem häufiger festgestellt worden.

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Flugblatt – Flugschrift

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[S]o ist all das, was in diesen Ländern an tierischer Gemeinheit passiert (Fk: 4); Kann es denn schwer sein, […] die Wahl zu treffen zwischen der stolzen, ehrenhaften Tradition Preussens, die an Ihr Gewissen appelliert, und der nichtswürdigen Vertiertheit des SS-Gelichters (Ob: 4); Etwas schwieriger wird es, der SA Herr zu werden. Sie wittert Unrat und zeigt einstweilen keine Neigung, sich ebenso betrügen zu lassen wie der Rest der Nazi-Wähler (Rs: 645).

Einer der drastischsten Bilder wählt die Weiße Rose, wenn sie den Nationalsozialismus mit einem Krebsgeschwür vergleicht, das gleichsam aufbrach und den ganzen Körper besudelte (Wr 2: 1). Auch wird die Machtelite des NS-Staates mit dem Satan identifiziert: Hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren, hinter allen sachlichen logischen Überlegungen steht das Irrationale, d.i. der Kampf wider den Dämon, wider den Boten des Antichrists (Wr 4: 1); Das Kriegsgrauen, welche diese satanischen Gewaltpolitiker in die Länder friedliebender Nationen getragen haben, kommt nun mehr und mehr nach Deutschland zurück (An: 258).

Zu den zentralen Eigenschaften gehört ferner die Unaufrichtigkeit, die in den Schriften in ihrem Gesamt sowohl eine zentrale Wortfamilie (etwa Lügen, lügen, belügen, lügenhaft, verlogen, Lügengewebe, Lügenminister, Lügengehirns, Lügenhaftigkeit) als auch ein zentrales semantisches Feld bildet. Mit dem Archisem ›unaufrichtig handeln‹ lassen sich die folgenden, frequent vorhandenen Lexeme, Kollokationen und Phraseme (etwa Sand in die Augen streuen, mit Lügen füttern, täuschen, unter dem (Deck)mantel/mäntelchen von X, bemänteln, vorspiegeln, heucheln, fälschen, jemanden verwirren) verbinden. Zu diesem Wortfeld gehören ebenfalls: Bluffs, Tricks, Kniffe, Hochstapelei, Scheinmanöver oder Fälschungen. Im Friedenskämpfer von 1942 in der Darlegung der Schlacht bei Charkow heißt der Artikel nicht nur »Die Wahrheit über die Schlacht bei Charkow«, sondern ihm ist ein (memorierbares) Motto beigegeben Sie lügen wie gedruckt und schwindeln aus Prinzip (Fk: 9). Die emphatische Bekundung, es mit Lügnern zu tun zu haben, durchzieht die Flugschriften: Sie lügen! Unser Volk, sie lieben es nicht, wie sie nicht geliebt werden (Man: 220) oder Jedes Wort, das aus Hitlers Munde kommt, ist Lüge (Wr 5: 1). In einem von Helmuth Hübener verantworteten Flugblatt werden Mitglieder des Propagandaministeriums nicht direkt als Lügner, sondern als illusionistische Seifenbläser aus der Berliner Wilhelmstraße bezeichnet, die lediglich Worte produzierten, wobei sich jugendliche Autor des Flugblatts hier auf Hamlet bezieht: [W]enn die alliierte und U.S.A-Flotte mit frischen Reserven wirkungsvoll in die Schlacht um den den Atlantik eingreift, dann wird man den illusionistischen Seifenbläsern aus der Berliner Wilhelmstrasse mit Hamlet nicht weiter entgegnen als: ›Worte, Worte, Worte! (Hü 4: 1)

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Britt-Marie Schuster

Teils wird nicht nur behauptet, dass gelogen wird, sondern es wird auch die Technik demonstriert, mit der Gerüchte verbreitet werden: Er [Goebbels – B-M.Sch.] lässt überhaupt die haarsträubensten Geschichte verbreiten. Er hat seinen Kniff dabei. Da reisen unentwegt Leute aus seinem Apparat herum, in allen öffentlichen Verkehrsmitteln, »direkt von Russland gekommen«, und mit der unwiderstehlichsten Miene die Wahrheit zu erzählen dann diese »Fronturlauben« so laut, dass jeder es hört, ihre gelernten Märchen. Oder sie sitzen abends in Bierlokalen, wo sie auf der Lauer liegen nach ihrer Gelegenheit, »direkt von Russland« zu erzählen, und sie lassen sich dann (das gehört dazu) noch eine Weile bitten und nötigen und dann heben sie an, mit Enttäuschungsprogramm in der Stimme: »Ja, dieses sogenannte Arbeiterparadies« (Ob: 4).

Allerdings können die unterschiedlichen Lügen nicht darüber hinwegtäuschen, dass, wie es häufiger heißt, sich die Protagonisten des NS-Regimes verrechnet, auskalkuliert hätten oder ihre Urteile/Auffassungen verfehlt sind bzw. fehlgehen. Eine weitere, wiederholt verbalisierte Eigenschaft ist die Gewalttätigkeit des Nationalsozialismus, wobei die Verwendung von Blut oder blutig ebenso als Indiz für verübte Gewalt gelten kann wie die Tatsache, dass der NA-Apparat vor keiner Gewalt zurückschreckt: In diesem Sinne sind etwa blutige Henker, blutbesudelten Hitler-Regierung (Rh: 4), das, was sie erträumten, wurde von Adolf Hitler in einem Meer von Blut und Verrat ertränkt (Ts 2: 61) oder der blutige Kretin Himmler (Ob: 3) zu verstehen (vgl. Schuster/Wilk 2021).19 Wie schon an den Einzelbelegen zur Unaufrichtigkeit deutlich wird, ist die deutsche Bevölkerung ein Opfer der nationalsozialistischen Gewalttätigkeit – mit ihr wird etwas getan: Sie wird etwa ins Unglück gestürzt, in den Abgrund geführt oder Frauen zu Witwen oder Kinder zu Waisen gemacht. Die Bevölkerung fällt etwas zum Opfer, wird in Ketten gelegt oder befindet sich in einem Gefängnis. In den Beschreibungen der nationalsozialistischen Gegenwart tauchen einzelne Bevölkerungsgruppen nicht in der Rolle der Agierenden auf. Dominierend sind Passivkonstruktionen (sowohl Vorgangs- als auch Zustandspassiv), bei denen die jeweiligen Bevölkerungsteile zwar als grammatische Subjekte erscheinen, semantisch jedoch die Rolle der Erleidenden bzw. der Maleficienten einnehmen. Vollverben werden ferner durch augmentative Präfixe wie hin- oder hinein- verstärkt: Die Bevölkerung wird also betrogen, gezwungen, (aus)gepresst, unterdrückt, unterworfen, in etwas hineingezerrt/hineingehetzt, versklavt, erschossen, geopfert, vernichtet, ermordert, hingemordet, hingeschlachtet oder ist etwas ausgesetzt. Die Handlungen des Referierens und Zuschreibens nutzen ein großes Spektrum pejorativer Sprachmittel. Sowohl Flugblatt als auch -schrift zielen auf maximale Distanz und Ausgrenzung und machen in Hinsicht darauf, wie der NSApparat zu beurteilen ist, keinerlei Konzessionen. Insgesamt zeigt sich jedoch, 19 Noch genauer wird »Blut« in dem entsprechenden Beitrag in diesem Teil dargestellt.

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Flugblatt – Flugschrift

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dass der gewählte Wortschatz sich nicht wesentlich von den Wahlflugblättern der Endphase der Weimarer Republik unterscheidet (vgl. Wilpert 1978: 96). Ein Großteil der Bezeichnungen und der mit ihnen verbundenen Metaphern und Metonymien ist nicht neuartig. Insbesondere die dehumanisierende Metaphorisierung schließt sich größtenteils an die Auseinandersetzungen zwischen Kommunist*innen, Sozialist*innen und Nationalsozialist*innen der beginnenden 1930er Jahre an. Auch die NSDAP nutzt die entsprechende ausgrenzende Metaphorik20: Nach Hunderttausenden zählt die Schar der vertierten kommunistischen Mörder, die in einem furchtbaren Blutrausch alles erschlugen und erschossen und weder Frauen noch Kinder noch Greise schonten! (NSDAP 1932, zitiert nach Wilpert 1978: 36).

Nicht weniger drastisch formulieren SPD und KPD: Deutschland erwache! Noch ist es Zeit, dem Morden, Ehrabschneiden und Verleumden ein Ende zu bereiten […] Schluß mit diesen Nazischwindlern! Schluß mit der braunen Mordpest! (SPD 1932, zitiert nach Wilpert 1978: 37); Macht Schluß mit der braunen Mordpest! (KPD, zitiert nach Wilpert 1978: 36).21

Es wird deutlich, dass die Bezeichnungen und Sprachgebrauchsmuster auf die moralische Diskreditierung des Gegners und seine Exklusion aus der menschlichen Gemeinschaft zielen. Es ist ebenso deutlich, dass es bestimmte Eigenschaften und Handlungsweisen sind, die immer wieder genannt und damit stereotypisiert werden. Durch die Bewertungen können, wie oben schon beleuchtet, Gruppen geformt und stabilisiert werden. Sind Nationalsozialist*innen hier das bewertete Objekt, so kann eine Alignierung zwischen Produzent*innen und Rezipient*innen stattfinden.22 Mit dem Versuch, auf die eigene Exklusion ebenfalls mit Exklusionsversuchen zu reagieren, ist auch der Versuch verbunden, gesellschaftliche und soziale Ordnungen zu destabilisieren (vgl. Abschn. 4).

20 Zum Exkludieren vgl. den entsprechenden Beitrag in Teil 1. 21 Wilpert führt etwa für die KPD u. a. auf: [D]iese Banditen, die braunen Mordbanditen, die braune Mordpest, die Nazibanditen, die Terrorbanden der Nazis, die Nazimordbanditen, faschistische Mordbanden, die Partei der nationalen und sozialistischen Sklaverei und der imperialistischen Unterdrückung, die braune Pest (1978: 96, siehe etwa auch 127). 22 Im Sinne des Modells des stance-taking: »I evaluate something, and thereby position myself, and therby align with you« (Du Bois 2007: 163).

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200 2.4

Britt-Marie Schuster

Es fällt nicht leicht das alles hier niederzuschreiben: Die nationalsozialistische Wirklichkeit beschreiben

Wie aus den vorherigen Darlegungen schon deutlich geworden sein dürfte, wird die nationalsozialistische Wirklichkeit kaum in Hinsicht auf ihre Vergemeinschaftspraktiken beschrieben, sondern es dominiert sowohl in frühen als auch in späten Flugblättern und -schriften die Beschreibung von Gewalträumen und den damit verbundenen Ausgliederungspraktiken, unter denen viele Angehörige des Widerstands litten. In den Fokus des Widerstands gerät also nicht der Volksgemeinschaftsgedanke, sondern die zweite zentrale Säule des Nationalsozialismus, die Gewalt: Gewalt war eine zentrale Säule der neuen politischen Ordnung seit 1933, und es gehörte zu den Wesensmerkmalen der NS-Herrschaft, staatliche und parteiamtliche Gewalt immer weiter zu entgrenzen. Das war nicht nur ein abstrakter Prozess, sondern individuell spürbar und öffentlich in der Lebenswelt sichtbar. Der Kampf um Orte und Räume spielte in der Diktatur eine wichtige Rolle: die Herrschaft über die Plätze, Straßen und Umzüge; der Versuch, die Gerichtssäle im Geist der Volksgemeinschaft umzugestalten; die neuen Lager, in denen Volksgenossinnen und Volksgenossen geschult, die ›Gemeinschaftsfremden‹ gefoltert und gemordet worden (Süß 2017: 10).

Die Darstellung von Gewalt gegenüber der Bevölkerung und anderen Nationen ist oft drastisch. Wesentliche Kennzeichen des Handlungsmusters »Beschreibens« werden am folgenden Textstück sichtbar: Die Welt, die er mit seiner Bande verkörpert, das ist der endlose und opferreiche Krieg, ist eine Welt der Massengräber, des Hungers, der absoluten Verelendung des Volkes. Seine Welt, das ist die Welt der 200 Plutokratenfamilien, denen die Konzerne und Monopole gehören; Seine Welt ist die der Schieber und Grossverdiener, Schweiss und Tränen, ist die Welt der Konzentrationslager, der Galgen, des Henkerbeils und der Geisselerschiessungen (Fk: 2).

Den Auftakt bildet die Linksversetzung und damit Herausstellung des thematischen Bezugsausdrucks die Welt, der durch die Proform das wieder aufgegriffen wird, parallel verhält es sich mit Seine Welt, das ist. Durch das Kopulaverb sein wird diese mit der endlose und opferreiche Krieg und weiteren Bestimmungen wie eine Welt der Massengräber identifiziert. Mit Prolepse, Anapher, Parallelismus und Aufzählung zeigen sich einige, für die Streitschrift typische sprachstilistische Mittel. In der folgenden Beleggruppe zeigt der erste Beleg die Aufzählung eines ganzen Spektrums thematischer Bezugsausdrücke, die ebenfalls mit das aufgegriffen werden. Nicht notwendig muss ein Resumptivpronomen wie das erscheinen, wie der nächste Beleg verdeutlichen soll. Ähnlich typisch ist der im letzten Beleg verwendete Neuansatz (das fürchterlichste Verbrechen … ein Verbrechen):

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Flugblatt – Flugschrift

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Millionen Tote und Verwundete an den Fronten, Verwüstung eines großen Teiles der deutschen Industrie, Hunderttausende Tote an der Heimatfront und grenzenloses Elend: das ist die Bilanz dieses verbrecherischen Krieges (Neu: 80); Die Millionen Deutscher, die in fremder Erde verweisen oder zu Krüppeln geschossen wurden, die Hunderttausende deutscher Frauen und Kinder, die erschlagen unter den Trümmern unserer Städte liegen, – Hitler hat sie umsonst geopfert (Man 2: 1); Hier sehen das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann (Wr 2: 1).

Die Verfasser*innen der Flugblätter/-schriften nutzen also, wie dies in der Flugschriftentradition verankert ist, die Außenfelder des Satzes. Prolepse, und Neuansatz, jedoch auch Ausklammerung und Nachtrag sind als Techniken zu verstehen, mit denen sich Informationen hervorzuheben lassen, was zur Kennzeichnung ihres kommunikativen Gewichts beiträgt. Das Herausheben von Informationen korrespondiert mit der intendierten persuasiven Wirksamkeit der hier betrachteten Kommunikationsmedien. Unterstützend können zudem verbale und non-verbale Hervorhebungstechniken zusammenwirken23: DER MANN, der diesen Krieg von langer Hand vorbereitete. DER durch seine Politik den Frieden und den Bestand anderer Völker bedrohte und Deutschland dadurch von der Welt isolierte. DER die drei größten Mächte der Welt gegen Deutschland herausforderte. DER es in die aussichtslose Lage brachte, indem es Krieg nun an vielen Fronten führen muß. […] DIESER MANN IST HITLER! (Kl: 236).

Der thematische Bezugsausdruck ist hier der durch Kapitälchen-Schreibung und Unterstreichung besonders ausgezeichnete Der Mann, dessen Handlungen durch mehrere Attributsätze skizziert werden. Dabei ist der bestimmte Artikel der kataphorisch zu verstehen. Die der Nominalphrase Der Mann untergeordneten Attributivsätze werden alle mit dem Relativpronomen der eingeleitet. Durch Absatzgliederung und durch die jeweilige Großschreibung des Relativums DER und dadurch durch eine besondere Kenntlichmachung eines Junktors, werden die untergeordneten Attributsätze aus ihrem syntaktischen Verband gelöst. Es findet damit eine Parataktisierung formal hypotaktischer Gefüge statt, wodurch das kommunikative Gewicht aller gegebenen Informationen ähnlich gestaltet wird. Ähnliche Formen einer derartig segmentierenden Syntax sind im Flugschriftenkorpus häufiger zu beobachten: Für das Selbstbestimmungsrecht der Völker? Für den Neuaufbau Europas? Für die Freiheit des deutschen Volkes????? NEIN!! Sondern einzig und allein für die grössen23 Der nachfolgende Beleg bildet die Strukturierung des Kommunikats ab.

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Britt-Marie Schuster

wahnsinnigen Weltbeherrschungspläne unser plutokratischen Führungsklicke! (Fw 1: 1, Hervorhebungen im Original); Wir sagen, so darf es nicht weitergehen, sonst wird es nicht langedauern und wie, die junge Generation, […], werden in Gas- und Trommelfeuer unser Leben geben und verwesen müssen. Und für wen? Für was? Für die Regenten des Dritten Reichs, für Thyssen, Krupp und Klöckner (Ju: 182).

Das Interessante an einer derartigen Syntax ist nicht nur die Informationsgewichtung selbst, sondern auch die Separierung kommunikativer Minimaleinheiten. Anstelle einer Äußerung wie »Hitler setzt sich nicht für die Freiheit des deutschen Volkes ein« (einer Feststellung) wird durch die Segmentierung der Information (hier der Ausgliederung der Präpositionalphrase) eine Untergliederung in Feststellen – Fragen – einen negativen Bescheid geben – erreicht. Nicht immer ist der Schnitt durch Sätze und Gefügestrukturen derart auffällig wie in den besprochenen Beispielen. Eine häufige Hervorhebungstechnik ist die Markierung von kausalen (etwa Darum:) und adversativen Konnektoren (etwa Dennoch!): Hitler’s Niederlage ist nicht unsere Niederlage, sondern unser Sieg! Darum: Stört den planmäßigen Aufbau der Befestigungsbauten. Sorgt für langsames und qualitativ schlechtes Arbeiten (Bau: 79); Fast übersteigt es Menschenkraft, das wieder aufzurichten, was Hitlers Machtwahn und der Krieg vernichtet hat. Dennoch! Sie ruft alle aufrechten Deutschen zu ehrlicher Mitarbeit (Mi: 2).

Durch die aufgeführten Techniken erhalten Beschreibungen und die daraus resultierenden Forderungen ein hohes Maß an Eindringlichkeit. Die Eindringlichkeit wird auch dadurch erreicht, dass Formulierungen wie der absoluten Verelendung, bis aufs Letzte24 oder zur Neige gehen25 verwendet werden, die das Ende eines Prozesses darstellen. Charakteristisch sind ferner die symbolisch für den gewaltsamen Tod stehenden Lexeme wie Konzentrationslager, Galgen, Henkersbeil und Geiselerschiessungen. Lexeme und Phraseme, die die Einzigartigkeit der Ereignisse (beispiellos) oder Lexeme, die weit über das Normalmaß greifende Zustände (grenzenlos, fürchterlichste) verbalisieren, sind für die Deskription nationalsozialistischer Gewalträume charakteristisch. Diese Beschreibung von Gewalträumen sei noch an einem weiteren Beispiel demonstriert, das 24 Wir wollen nicht mehr mitansehen, wie unsere Soldaten sich an der Front verbluten. Wir dulden nicht mehr, dass Tag und Nacht unsere Heimat von Bomben zertrümmert wird. Wir wollen nicht zusehen, wie unsere Arbeiter in 73 Wochenstunden bis aufs Letzte ausgebeutet werden (Gfa). 25 [A]lles geht zur Neige in Deutschland, während die Macht der Gegner ständig anwächst. Während die Armeen Hitlers unter den Schlägen der Roten Armee zertrümmert und zurückgejagt werden (Neu: 80).

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Flugblatt – Flugschrift

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mit der Schlussfolgerung endet: Was sich täglich in den Konzentrationslagern und Gefängnissen abspielt, ist unmöglich, in Worten auszudrücken (Rh: 4). In den Kellern spielen sich die täglich die grausamsten Folterungen der revolutionären Arbeiter ab, wie sie grausamer das Mittelalter nicht zu berichten weiss. Hier unten hauchten unsere Besten unter entsetzlichen Qualen, geprügelt und geschändet von Bestien und Sadisten, ihr Leben aus. Hier spielten sich Exzesse ab, deren Grausamkeit nicht in Worten auszudrücken ist. […] Über hundert Arbeiter wurden hier unten zu Krüppeln geschlagen. Schwere Kopfwunden, herausgeschlagene Zähne, zerschmetterte Kinnladen, schwere Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen wurden ihnen hier unten beigebracht. Es gibt Genossen, denen man mit Koppelriemen und Reitpeitschen buchstäblich das Fleisch vom Hintern geprügelt hat (Rh: 2).26

Auch in diesem Textstück zeigen sich einige markante sprachliche Kennzeichen: So die Verwendung von Superlativen (grausamste), der Gebrauch von Vergleichssätzen (wie sie grausamer das Mittelalter nicht zu berichten weiß), sowie die Aufzählung von gewalttätigen Handlungen und deren Folgen. Einerseits wird Unsagbarkeit der Handlungen postuliert, andererseits werden diese bemerkenswert detailreich beschrieben. Die auch in diesem Textstück verwendete Formulierung zu Krüppeln geschlagen hat für den kommunistischen und sozialistischen Widerstand eine Schibbolethfunktion. Neben Gewalterfahrungen wird die nationalsozialistische Gegenwart in fast allen Flugschriften als eine beschrieben, die von (Klassen)Gegensätzen und von (materiellem) Elend bestimmt ist, wobei Formulierungen wie wächst […] ins Uferlose und ins Riesenhafte […] gesteigert die Singularität der damit verbundenen Erfahrungen akzentuieren: [W]ächst die Not unseres Volkes ins Uferlose. Während der Reichtum der Plutokraten und er Nazihierarchie sich ins Gigantische steigerte (Fk: 4); Ins Riesenhafte sind die Gegensätze gesteigert zwischen Reichtum, Macht, Schiebertum und Korruption auf der einen Seite und Not, Elend, Sklaverei auf der anderen Seite (Neu: 81).

Eine Alternative zu den skizzierten Beschreibungen stellt die Parallelisierung dieser Gegenwart mit Beschreibungen von Terrorregimen in Literatur und Philosophie dar. Die nationalsozialistische ›Wirklichkeit‹ wird mithilfe in den Flugblättern der Weißen Rose mit Zitaten aus der klassischen Literatur, so Zitate 26 Auf die Terrorpraxis wird in den »Offenen Briefen aus der Ostfront« direkt rekurriert: In ihrer 8. Folge richtet sich die Schrift an einen Polizeihauptmann: Wissen Sie noch, wieviel Grauenhaftes Sie mir gleich 1933 erzählten, Bestialitäten ohne Zahl aus den Kellern der SA- und SSTerrorlokale, den Zellen und Kammern der Gestapo, dem verfluchten Moor und den anderen KZ-Höllen? Und auch Sie, wie entsetzt sie damals waren, und dabei kannten Sie aus der Gesichte (!) der Terrorliteratur, die Ihr Beruf Ihnen nahelegte, all die ausgeklügelten Blutrünstigkeiten einer untergehenden Klasse, der Reaktion (Ob: 1).

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204

Britt-Marie Schuster

von Aristoteles, Schiller und Goethe, gelesen. Diese intertextuelle Dimension, die auch an Anspielungen deutlich wird, ist wiederum eng mit der Flugschriftentradition verwoben, etwa damit, zeitgenössische Ereignisse vor dem Hintergrund biblischer Ereignisse oder Äußerungen zu werten. Durch kulturell akzeptierte Quellen wird die Legitimation der eignen Beschreibung abgestützt und perspektiviert. Besonders deutlich ist das Ineinandergreifen von historischer und aktueller Beschreibung im folgenden Beleg: Sie haben unser Volk in Knechtschaft gelockt. Jahre girrte die Bande, die jetzt schamlos ihre Machtgier weidet. Jetzt ist dies Volk zum würdelosen Werkzeug gemacht, und Krieg oder Frieden hängt von den Launen und dem Gutdünken dieser Bande ab. »Ihr seid nichts! Ihr habt nichts! Ihr seid rechtlos! Ihr müsst geben, was Eure unersättlichen Fresser fordern und tragen, was sie Euch aufbürden!« hiess es im »Hessischen Landboten«. Unser Volk wir geknechtet und sein Zustand ist unerträglich (Man: 210).

2.5

All ihre ideologischen Verkrampfungen: Nationalsozialistische Deutungsmuster hinterfragen

Die Flugblätter und -schriften zeichnen – teils drastisch – ein abstoßendes Bild der gegenwärtigen Machthaber und ihrer Handlungen. Ein weiteres wichtiges Element ist die Bezugnahme auf vereinzelte Schlagwörter der NS-Ideologie und vereinzelte Äußerungen der Machthaber, womit flankierend zur Gegenwartsbeschreibung der Herrschaftsdiskurs kontextualisiert wird. In diesem Kapitel soll vor allem der Umgang mit nationalsozialistischen Hochwertwörtern skizziert werden. Dass die Kontextualisierung des Herrschaftsdiskurses eine zentrale Rolle beim Widersprechen besitzt und bei der Entwicklung von Contra-Argumentationen besitzt, ist etwa von Schuster (2022b) gezeigt worden.27 Wie im Folgenden gezeigt wird, ist der Rekurs von Schlagwörtern flugschriftenübergreifend ein zentrales Element, das unterschiedliche Funktionen besitzt, besonders aber der Deklaration von Widersprüchen28 und dem Entlarven dient. Entsprechend wird das aufmerksame Verfolgen des öffentlichen Diskurses in Flugblättern/-schriften unter dem Gesichtspunkt, Widersprüche zu entlarven, als subversive Strategie wiederholt postuliert: Laßt darum keine Gelegenheit vorübergehen, der Propaganda entgegenzutreten. Lest alte Führerreden! Erinnert Euch Eurer alten Zeitungen und vergleicht die Verspre-

27 Zum argumentativen Widerstehen siehe Markewitz (2022) und Markewitz (i.Vb., 2023). 28 Etwa im folgenden Beispiel: Sehr schnell ist man über den Schottlandflug des Reichsministers Heß zur Tagesordnung übergegangen, aber das dumme Volk hat nicht vergessen, daß der Mann, der sich gestern noch Stellvertreter des Führers nannte, am anderen Tage des Wahnsinns bezichtigt wurde (Sf: 2).

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Flugblatt – Flugschrift

205

chungen, die man vor einem Jahr dem Volke machte, mit den harten Tatsachen der Gegenwart (Sf: 5).

Häufig ist die Bezugnahme auf Fahnen- und Hochwertwörter des Nationalsozialismus, zu denen zumeist allein schon dadurch Distanz bekundet wird, dass Anführungsstriche gesetzt werden.29 Zunächst lässt sich konstatieren, dass, sofern nationalsozialistischer Wortschatz metakommunikativ kommentiert wird, dieser etwa als Phrasen, als ideologische Verkrampfungen (siehe unten) oder als Propagandageschwätz bezeichnet wird. Grundsätzlich wird in keiner Flugschrift der Nationalsozialismus als ›satisfaktionsfähige‹ bzw. als geschlossene Weltanschauung akzeptiert. Die Bezugnahme auf Fahnen- und Hochwertwörter (Lexeme/Phraseme) und einschlägige Parolen erfolgt zumeist, um die mit diesem Wortschatz verbundenen Deutungsmuster von Wirklichkeit an der Wirklichkeit zu messen und um Widersprüche zu deklarieren und/oder die eigentlichen Motive für die Verwendung bestimmter Ausdrücke zu entlarven: Heuchler, die ihre Verbrechen für »Revolution«, ihre Unterdrückung für »Freiheit«, ihre Kriegsvorbereitungen für »Friedensbereitschaft« ausgeben, Schurken, die Söhne und deutsches Blut nach Spanien verkaufen, erfrechen sich, von einer Erneuerung Deutschlands zu reden […] und stellten den recht- und schutzlosen Zustand aus den beschämendsten und finstersten Zeiten des Absolutismus wieder her (Man: 203).

In diesem Beleg werden mit den in Anführungsstrichen gesetzten Revolution, Freiheit und Friedensbereitschaft nicht nur Ausdrücke zitiert, sondern das Verständnis für die damit verbundene nationalsozialistische Gegenwarts-/Geschichtsdeutung vorausgesetzt, nach der die Machtergreifung als Revolution begriffen, die durch die damit einhergehende Umgestaltung der Gesellschaft den Deutschen die Freiheit garantiere, so dass die Friedensbereitschaft der Deutschen gegeben sei. Die Diagnose der Verfasser*innen ist die, dass nicht nur kein Frieden gegeben sei, sondern dass diese Schlüsselwörter die wirklichen Pläne und Ziele camouflierten, weshalb ihre Verwender Heuchler und Schurken seien. Dieser aus dem »Manifest der deutschen Freiheit« stammende Beleg setzt nicht zufällig am Verständnis von Freiheit an, da die gesamte Schrift zeigt, dass ein nationalsozialistisches Freiheitsverständnis den deutschen Traditionen geradezu entgegengesetzt ist.30 Im folgenden Beleg wird in ähnlicher Weise davon ausgegangen, 29 Seine Herrschaft, die er so gern als Volksherrschaft auszugeben versucht, ist nichts anderes, als die brutalste Herrschaft der Plutokraten und der Hierarchie der NSDAP (Fk: 2); Die faschistische Regierung hat ihre ›Volksabstimmung‹, die der faschistischen Diktatur und ihren braunen Banden bescheinigt (Me: 27). 30 Heute will ein Fremder wie dieser geistig arme Rosenberg sich anmassen, das freie Deutschland zu missachten. Aus ihm spricht ein undeutsches Regime, das gar nichts weiss, weder von unseren grossen Freiheitskämpfen, noch von seinen Dichtern wie Lessing (Man: 203).

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Britt-Marie Schuster

dass Ausdrücke wie Blut und Boden die eigentlichen, letztlich ökonomischen Motive der Machthabenden verhüllten. Selbst antisemitische Stereotype dienten letztlich nur dazu, kapitalistische Interessen nicht offenzulegen: Alle ihre ideologischen Verkrampfungen: Blut und Boden, Heroismus, Volksgemeinschaft, Führerprinzip und Führerkult entsprechen gewiss der zu erfüllenden imperialistischen Mission, aber sie sind gleichzeitig und noch mehr Aeusserungen des sozialreaktionären Charakters der Partei, den sie ideologisch zu verdecken versucht. Wenn der Altwarenhändler Moritz Abraham ein Ausbeuter des Volkes ist, die Röchling, Krupp und Thyssen aber Volksgenossen, wenn 10stündige Arbeitszeit mit nachfolgender Nachtübung heroische Erziehung genannt wird, wenn durch Führerkult der Tatbestand vorgetäuscht werden soll, […], dann wird damit bewusst verdunkelt, wo die Ausbeuter und Ausgebeuteten sitzen (Ts 2: 61).

Während in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus vor allem vermeintliche Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und das nationalsozialistische Konzept von Arbeit/Arbeiter31 und ihrer Ehre aufgriffen werden, ist es in den Kriegsjahren vor allem die propagandistische Begleitung vermeintlicher Kriegsgewinne/-verluste und gängiger Floskeln wie letzte endgültige Entscheidungsschlacht u. Ä., die im Zentrum stehen. Auch hier wird den Deutungen nicht nur widersprochen, sondern sie werden als Elemente strategischer Argumentation entlarvt: Wohl liegt nun überall Eis und Schnee, aber der deutsche Vormarsch, oder besser gesagt die »letzte endgültige Entscheidungsschlacht« hat noch keine weiteren Fortschritte gemacht. Im Gegenteil! Überall dort, wo im Herbste die deutschen Soldaten unter Verschleiß an Menschen und Material Gewinne erzielten, wehen heute schon wieder die Siegeszeichen der Russen (Hü 4).

Neben der Bekundung ironischer Distanz durch das Setzen von Anführungszeichen werden Formulierungen im Wortlaut wieder aufgriffen. Diese Aufgriffe besitzen den Charakter von Echo-Sequenzen, wobei das Echo einer schon geäußerten Feststellung ebenso einen Zweifel markieren wie Empörung ausdrücken kann. Im ersten Beleg der nachfolgenden Belegreihe wird die Äußerung das deutsche Volk ist absolut winterfest wortgleich wieder aufgegriffen, wobei diese Äußerung als unwahr begriffen wird. Sollte den Soldaten nämlich tatsächlich nichts fehlen, wären Spenden nicht notwendig, denn Spenden beglichen einen Mangel, der tatsächlich nicht gegeben sein sollte. Im zweiten Beleg wird eine Frage Görings (Was ist hier sozial?) aufgegriffen und insofern rekontextualisiert, als dass sie auf einen anderen, eklatanten Fall sozialer Ungerechtigkeit – die Verpflichtung zum Pflichtjahr für arbeitende junge Frauen, wohingegen nichtberufstätige Frauen dazu nicht gezwungen würden – übertragen wird. 31 Vgl. auch den Beitrag »Arbeit« in Teil 2.

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Flugblatt – Flugschrift

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[W]enn er, wie zum Beispiel am 30.01. vergangenen Jahres, sagte: ›Sie hoffen auf den Winter; aber ich sage ihnen: das deutsche Volk ist absolut winterfest!‹ (Stürmischer Beifall.) Das deutsche Volk ist absolut winterfest! Darum durfte es nun wohl auch alle Woll- und Pelzsachen den Soldaten ›spenden‹, die scheinbar nicht so winterfest sind (Hü 4). »…Gewiss, der Bessergestellte kann sich Butter kaufen denn, er soll in erster Linie die Preiserhöhung tragen. Der Minderbemittelte kann sich ebenfalls Butter kaufen, wenn sie ihm aber zu teuer ist, hat er die Möglichkeit, dafür verbilligte Margarine einzukaufen. (Aber nur in sehr geringem Masse) Nun frage ich euch, Volksgenossen, was ist hier sozial?« Jawohl! Das fragte der Beauftragte für den Vierjahresplan Reichsmarschall, Reichsminister, Reichstagspräsident, Reichsjagd und -forstmeister und Schwerindustrielle Herrmann Göring am 15.11. Wenn ein Mädel, das gezwungen ist sich ihr Geld selbst zu verdienen, arbeiten gehen will, so muss sie erst ihr sogenanntes Pflichtjahr, praktisch umsonst, abarbeiten. […] Wenn ein Mädel es aber nicht nötig hat zu arbeiten und also auch kein Arbeitsbuch braucht, braucht sie auch kein Pflichtjahr zu machen. Was ist hier sozial? […] Nichts, nichts und nochmal nichts! (Fw 3).

2.6

In zwölfter Stunde: Warnen und Prophezeien

Alle hier bereits thematisierten Flugblätter und -schriften teilen die Forderung, dass der Nationalsozialismus beendet werden muss. Im Zweiten Weltkrieg ist es die zentrale Forderung, dass mit der Beendigung des Krieges auch der Nationalsozialismus enden muss: Der Nationalsozialismus und seine Lügen müssen mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, damit wir die Achtung vor uns selbst zurückgewinnen und der deutsche Name wieder ehrlich wird in der Welt (Mi: 2).

Das zentrale Datum bilden die Beschreibungen der nationalsozialistischen Wirklichkeit mit dem Ziel, die Propagandalügen der ohnehin zumeist diskreditierten Protagonisten aufzudecken. Die Schlussfolgerung, dass der Nationalsozialismus ebenso wie der Zweite Weltkrieg beendet werden müsste, ergibt sich aus den Stützen der Argumentationen bzw. aus den zentralen Argumentationstopoi der Flugblätter und -schriften. Folgende zentrale Argumentationstopoi lassen sich rekonstruieren: i. Wenn ein System Rechtstaatlichkeit, zentrale bürgerliche Freiheiten und schon etablierte moralische Standards missachtet, ist es abschaffen. ii. Wenn ein Krieg in jedweder Hinsicht gegen moralische Standards, internationale Konventionen etc. verstößt, ist er zu beenden. iii. Wenn ein Krieg ein imperialistischer Eroberungskrieg ist, der vornehmlich ökonomischen Interessen dient, ist er zu beenden.

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Britt-Marie Schuster

iv. Wenn ein Krieg nur Elend über die Bevölkerung bringt, im Gegensatz dazu jedoch zu den Gewinnen einzelner beiträgt, ist er zu beenden. v. Wenn ein im deutschen Namen geführter Krieg die ehemals von der deutschen Bevölkerung vertretenen Werte verletzt, ist er zu beenden. Mit zunehmender Kriegsdauer verbindet sich mit der Forderung nach Beendigung des Krieges und dem Abschaffen des Nationalsozialismus, ein weiterer Argumentationstopos, der Gefahrentopos (vgl. Wilk i.Vb., 2023): ›Wenn der Krieg vorsehbar dazu führt, dass die Bevölkerung unter fremde Herrschaft gerät, ist er zu beenden‹. Die Bevölkerung sei dann ebenso einer bleibenden (für immer) Stigmatisierung ausgesetzt, sei geknechtet bis zum jüngste Tage oder werde in der bestehenden Form gar vernichtet: Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, seine Peiniger zerschmettert und ein neues geistige Europa aufrichtet (Wr 6: 1); denn wenn Hitler den Krieg gewinnt ist Europa ein Chaos, die Welt wird geknechtet sein bis zum jüngsten Tage. Bereitet der Knechtschaft ein Ende ehe es zu spät ist (Hü 2); Wer allerdings die verbrecherische Gewaltherrschaft der Hitlerbanditen bis zu ihrem sicheren Ende unterstützt, muß sich nicht wundern, wenn er vernichtet wird (An: 258).

Das häufig prophezeite nahende Ende des Krieges legt die Dringlichkeit widerständigen Handelns nahe. Für dieses stehe nur noch ein begrenzter Zeitabschnitt zur Verfügung, in dem die Bekundung von Widerstand möglich sei. Die Vorstellung, man befinde sich an einem Wendepunkt, wird durch die Formel zwölfte/letzte Stunde zum Ausdruck gebracht. Aus dieser Diagnose werden wiederum Aufforderungen und Forderungen abgeleitet, etwa: Deutsches Volk besinne dich in zwölfter Stunde. Stürze die Nazi-Plutokratie solange du noch mächtige genug bist einen dauerhaften Weltfrieden herbeizuführen (FW 2: 1); Das Volk […] sich damit auch vor der Welt vom Fluch der Mitschuld befreien und sich in letzter Stunde das Recht gesichert haben, über seine Zukunft selbst zu bestimmen! Wehe, wenn unser Volk diese Stunde verpasst! (Man 2: 1); Wir würden es verdienen, in alle Welt verstreut zu werden, wie der Staub vor dem Wind, wenn wir uns in dieser zwölften Stunde nicht aufrafften und endlich den Mut aufbrächten, der uns seither gefehlt hat (Wr 3: 1).

Angesichts des drohenden Untergangs ergibt sich die Alternativlosigkeit des widerständigen Handelns. Hier ist auffällig, dass restriktive Konditionale (nur dann, wenn; nur, wenn) verwendet werden. Zur Kennzeichnung der Alternativlosigkeit von Handlungsoptionen wird darüber hinaus häufig die restriktive Partikel nur sowie vergleichbare Formulierungen wie einzig und allein oder Vergleichskonstruktionen wie nicht anders als gebraucht, etwa:

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Flugblatt – Flugschrift

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Deutschland kann nur gerettet werden, wenn unser Volk selbst ganz klare Fronten schafft (Fk: 7); Wir retten uns und unser Land nur dann, wenn wir den Mut finden, uns in die Kampffront gegen Hitler einzureihen und damit den Beweis zu liefern, daß Faschismus und Kriegswahnsinn keine deutschen Erscheinungen sind (Sf: 5); Nur durch das entschloßene Zusammengehen der volksgebundenen Kräfte der Wehrmacht mit den besten Teilen der Arbeiterklaße und der Intelligenz kann der herrschenden Partei das Heft aus der Hand gerißen werden (Sf: 3); Nur Deutsche können Deutschland retten! (Saef: 88).

3

Das Spektrum der Nutzung von Flugblättern im Widerstand

Im folgenden Kapitel werden zwei Schriften behandelt, deren Verfasser sich stark unterscheiden: Es handelt sich zum einen um eine Flugschrift des adeligen Rechtsanwalts Adolf Freiherr von Harnier und um eine Flugschrift des erst siebzehnjährigen Lehrlings Helmuth Hübener. Beide Schriften gehören zu den eher unbekannten Flugblättern aus dem Widerstand.

3.1

Das Flugblatt Tausend Tage Drittes Reich von Adolf Freiherr von Harnier (1936)

Tausend Tage haben wir geschwiegen, Tausend Tage haben wir der Regierung Zeit gegeben Ihre 12jährigen Versprechungen in die Tat umzusetzen. Tausend Tage haben wir der Diktatur des III. Reiches das moralische Recht unbestritten zuerkannt um der Nation willen. Tausend Tage unbestrittener Machtausnützung sind vorbei, die Zeit der Abrechnung ist gekommen; denn nach tausend Wochen würde kein Deutsches Reich mehr bestehen und gar tausend Jahre zu warten, können nur Irrsinnige verlangen. In tausend Tagen hat die Hitlerregierung es fertig gebracht das deutsche Volk an den Bettelstab zu bringen, denn die Kassen sind leer, ihr Inhalt besteht nur mehr aus Schuldverschreibungen, ungedeckten Reichsschatzwechseln, sowie aus wertlosem Hartgeld, das alles am laufenden Band hergestellt wird. Deutscher Arbeiter, Angestellter und Berater, der Du nicht nur um Deine Arbeitskraft betrogen wirst, wach auf, denn die Kassen Deiner Krankenversicherung und die der Altersversorgung sind ausgeraubt bis auf den letzten Pfennig, ihr Inhalt besteht ausschliesslich aus wertlosen Schuldverschreibungen und Reichsanleihen des III. Reiches. Elendiglicher denn je stehst Du deutscher Arbeiter der Stirne und der Faust einer grausigen Zukunft gegenüber. Wach auf deutscher Arbeiter, wach auf, vorbei sind tausend Tage des Duldens, der Erniedrigung und des Entrechtens, nun kommen die Tage der Abrechnung. Siehe zu deutscher Arbeiter, was Du aus den Trümmern des III. Reiches zu retten vermagst für Dich und Dein deutsches Vaterland.

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Deutscher Handelsmann-Gewerbetreibender und Industrieller, Ihr alle habt den wirtschaftlichen Wiederaufstieg des Deutschen Reiches erwartet und erhofft, denn auch Euch hat man zwölf Jahre lang Versprechungen gemacht. Die tausendtägige Regierungszeit Hitler hat Euch gezeigt, dass er nicht imstande war, auch nur eine seiner Versprechungen einzulösen. Das was Euch gegeben wurde, ist alles nur Schein. Gleich dem deutschen Arbeiter steht auch Ihr vor dem völligen Nichts. Bedenkt, dass es um die Existenz Eurer Geschäfte, Betriebe und Werke geht, denn wisset, der grösste Teil des deutschen Volksvermögens ist verbraucht, entwertet, verpfändet und von den Prominenten des III. Reiches ins Ausland verschoben. Darum deutscher Handelsmann, deutscher Gewerbetreibender und deutscher Industrieller, greif zu mit starker Hand, greif zu! greif in die Speichen des Deutschen Geschickes, reiss nieder die Kulissen des III. Reiches, auf dass Du mit dem Deutschen Volke vereint aufbauen kannst ein Deutsches Reich des Friedens und der Ehrlichkeit. Deutscher Bauermann, auch Du bist mitten im Strudel des Verderbens, denn das, was heute noch Dein, kann in kürzester Zeit fremdländisches Eigentum sein. Darum wach auf deutscher Bauersmann wach auf, es geht um Haus und Hof, es geht um Deinen deutschen Boden. Deutscher Soldat, deutscher Offizier, Ihr seit [!] des Volkes Stolz und Stütze. Des deutschen Volkes Glaube ruht noch auf Euch, nun zeigt, dass Ihr dieses Glaubens wert seid und zeigt, dass Ihr nicht Verrat treibt am deutschen Volk um eines Parteigefüges willen, zeigt, dass das Wohl des Volkes Euer Wille ist, zeigt, dass Ihr nichts gemein habt mit denen, die den wirtschaftlichen und somit den Ruin des Deutschen Reiches herbeiführen und wisset, dass das Volk zu danken und zu richten vermag. Deutsche Richter deutschen Rechtes, wir machen Euch für jedes politische Urteil, das nach dem tausendsten Tag gefällt wird persönlich verantwortlich, darum deutsches Recht und nicht Parteirecht, dann auch Ihr werdet von den Blutspfennigen der deutschen Arbeiter und der deutschen Wirtschaft bezahlt und nicht von der Partei. Nun zu Euch Ihr Männer der N.S.D.A.P., zu Euch Ihr Stützen der Regierung, wisset, Eure Zeit ist um! Zwölf lange Jahre habt Ihr Euren Prominenten geholfen an dem Ausbau der Partei, habt geholfen an der Verbreitung von Versprechungen, Lügen und Schwindel aller Art; wir haltens Euch zu Gute, dass Ihr es getan in dem Glauben, der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Volke zu dienen. Tausend Tage Regierungszeit, dieses von Eurem Glauben und Eurer Arbeit entstandenen Parteigefüges haben Euch gezeigt, dass Ihr auf das schmählichste betrogen und getäuscht wurdet, dass das was Ihr geschaffen der Untergang des Deutschen Reiches ist. Nun wisset, dass wir bereit sind Euch nicht dafür verantwortlich zu machen, was bis zum tausendsten Regierungstag Eurer Partei geschah, dass aber vom 1001. Tag an Gericht gehalten wird über jeden von Euch, der noch Dienst macht bei den Maulhelden und Mördern Eurer Partei; wisset, dass jeder von Euch, der nach dem tausendsten Tag in Uniform oder Parteiabzeichen gesehen wird, durch Photo und Namensnennung festgelegt wird. Wir kämpfen für des Volkes Zukunft und des Reiches Einigkeit. Wir sind deutscher [!] Arbeiter, Angestellte, Beamte, Bauern, Handelsmänner, Gewerbetreibende und Industrielle.

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Flugblatt – Flugschrift

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Wir sind das erwachte Deutsche Volk! Heil Hitler ist bei Alt und Jung Der Ausdruck für Verwunderung. Bewunderung hin, Verwunderung her, Der Hitlergruss, er zieht nicht mehr. Versprochen war uns reichlich Brot Und Arbeit gegen unsre Not. Doch hat Herr Hitler auf besseres Fressen, Aber nicht auf das Senken dar Löhne vergessen. Doch wenn du alter Kämpfer bist, Du jetzt die schönste Zeit geniesst. Ein gut Geschäft ist’s, glaube mir, Ein Landhaus bringt es sicher Dir. Herr Himmler baut am Tegernsee Ein kleines Häuschen auf der Höh‹ Herr Goebbels hat ganz still und sacht in Schweden schon Quartier gemacht. Herr Göhring, dieser Göttersohn Ist sesshaft in Ragusa schon Aus Münchens Residenz er klaut Gobelins für die befleckte Judenbraut Der Wagner, Weber, Fiehler, Epp, Wer nicht ein Lump ist, ist ein Depp, Begaunern uns bei Tag und Nacht, Die Scheinchen druckt der ErzLump [!] Schacht. Jetzt gibt es keine Sünde mehr, Und doch ist Dachau noch nicht leer. Das Morden wird jetzt tugendhaft, Und Raub bringt Ehrenbürgerschaft. Ich könnt noch tausend Strophen bringen Und weiss ihr würdet gern sei [!] singen Doch graust’s mich so, drum bitt ich Euch Besingt doch selbst das Dritte Reich. Refrain: Jupp heil Hitler, jupp Sa etc…….

Die Flugschrift geht auf den Münchner Rechtsanwalt Adolf Freiherr von Harnier zurück, »der ab 1935 einen Kreis von Gegnern des Nationalsozialismus um sich scharte, in dem von einem Rechtsstaat mit einem König an der Spitze geträumt wurde« (Benz 2018: 72) und dessen gesellschaftliche Vorstellungen sich an der Restituierung des Ständestaates orientierten. Dennoch hatte der Kreis, dem unter anderem auch Margarethe von Stengel, Heinrich Weiß und Josef Zott

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angehörten, auch Kontakte zu anderen Oppositionellen wie etwa Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen. Die Flugschrift gehört zu den wenigen Beispielen der Nutzung der Flugschriftentradition in konservativen, sogar monarchistisch gesinnten Kreisen. In dieser Flugschrift bezeichnen sich die für die Flugschrift Verantwortlichen mit einem wir, das sich nicht näher sozial kategorisiert. Dieser Verzicht auf weiterführende Kategorisierungen entspricht der Widerstandskommunikation aus konservativen Kreisen bzw. aus den Reihen der Funktionselite (vgl. Schuster 2022a). Allerdings inkludiert der Verfasser einige der in der Schrift genannten Gruppen am Ende in ein gemeinsames wir: Wir sind deutscher [!] Arbeiter, Angestellte, Beamte, Bauern, Handelsmänner, Gewerbetreibende und Industrielle sowie Wir sind das erwachte deutsche Volk. Dass der Verfasser gerade diese Gruppen nennt, ergibt sich aus der Schrift, denn Angehörige des Militärs und NSDAP-Parteimitglieder werden, sollten sich diese nicht zu einer Umkehr entschließen, gewarnt: [W]isset, dass das Volk zu danken und zu richten vermag sowie wisset, dass jeder von Euch, der nach dem tausendsten Tag in Uniform oder Parteiabzeichen gesehen wird, durch Photo und Namensnennung festgelegt wird. Die Tatsache, dass es sich um 1933 nicht um entschiedene Gegner des Nationalsozialismus gehandelt hat, wird besonders am Eingang der Flugschrift deutlich: Tausend Tage haben wir der Regierung Zeit gegeben Ihre 12jährigen Versprechen in die Tat umzusetzen. Tausend Tage haben wir der Diktatur des III. Reiches das moralische Recht unbestritten zuerkannt um der Nation willen. Dass auch andere dem Nationalsozialismus eine Chance eingeräumt haben, so die Parteimitglieder der NSDAP oder die Gewerbetreibenden, wird ebenfalls konstatiert. Doch die Entwicklungen in den letzten Jahren erfordern eine radikale Wende, entsprechend sei die Zeit der Abrechnung gekommen. Das Flugblatt dient der Bilanzierung sowie der Warnung, Mahnung und düsteren Prophezeiung: Wenn das System in der bekannten Form fortbestehe, stehe Deutschland vor dem ökonomischen Untergang. Entsprechend begründet die Notsituation der einzelnen Bevölkerungsteile eindringliche Aufforderungen, sich gegen den Nationalsozialismus zu stellen. Das Ziel der Bemühungen ist es nicht nur, den Nationalsozialismus zu beseitigen, sondern ein Deutsches Reich des Friedens und der Ehrlichkeit zu schaffen, was wiederum in die Parole Wir kämpfen für des Volkes Zukunft und des Reiches Einigkeit mündet. Die NS-Apparat wird neben Diktatur als Hitlerregierung bezeichnet. Zwar fehlen in der Bezugnahme auf den NS-Apparat die stark pejorativen Bezeichnungen (mit der Ausnahme: [D]er noch Dienst macht bei den Maulhelden und Mördern Eurer Partei), dennoch wird das Bild einer skrupellosen und betrügerischen Elite gezeichnet, die durch wertlose Schuldverschreibungen, ungedeckte Reichsschatzwechsel und durch eine gewissenlose Finanz- und Wirtschaftspolitik Deutschland an den Rande des Ruins gebracht habe: Der grösste Teil des deut-

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Flugblatt – Flugschrift

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schen Volksvermögens ist verbraucht, entwertet, verpfändet und von den Prominenten des III. Reiches ins Ausland verschoben. Diese Diagnose wird auch an den Äußerungen an das deutsche Militär ersichtlich: [Z]eigt, dass Ihr nichts gemein habt mit denen, die den wirtschaftlichen und somit den Ruin des Reiches herbeiführen. In dem der Flugschrift nachfolgenden Spottgedicht, was eine für die Flugschriftentradition nicht untypische Textsortenallianz darstellt (vgl. Bellingradt/Schilling 2013: 277), werden einige zentrale Vertreter des NS-Apparates in den Blickpunkt gerückt, deren Gemeinsamkeit ist: Begaunern uns bei Tag und Nacht, Das Scheinchen druckt der ErzLump Schacht. Nicht nur der Betrug an der deutschen Bevölkerung wird angeprangert, sondern auch deren Gewalt und die Umkehrung der damit verbundenen moralischen Werte: Das Morden wird jetzt tugendhaft. Und Raub bringt Ehrenbürgerschaft. Eine Besonderheit der Flugschrift besteht darin, dass einzelne Gruppen der Bevölkerung getrennt angerufen werden. Dabei ist charakteristisch, dass das die nationale Zugehörigkeit betonende Adjektiv deutsch jeweils verwendet wird: Deutscher Arbeiter, Angestellter und Berater, Deutscher Bauersmann … . Die einzelnen Gruppen werden teils mir Du, teils mit Ihr angesprochen, was, wie gesehen, auch für andere Schriften aus der Zeit charakteristisch ist. Als eine Besonderheit kann verstanden werden, dass auch die Funktionsträger des nationalsozialistischen Staates und nicht nur die NS-Führungsspitze angesprochen werden: Deutscher Soldat, deutscher Offizier, Ihr seid des Volkes Stolz und Stütze, Deutsche Richter deutschen Rechtes, wir machen Euch für jedes politische Urteil, das nach dem tausendsten Tage gefällt wird, persönlich verantwortlich und Nun zu Euch, Ihr Männer der NSDAP. zu Euch Ihr Stützen der Regierung, wisset, Eure Zeit ist um! Anders als die sonst in der Schrift genannten Bevölkerungsschichten werden sie als Mitwirkende und Täter ausgemacht. Auch in dieser Schrift werden einzelne soziale Schichten als Opfer einer betrügerischen Elite gesehen, was mit den schon thematisierten Passivkonstruktionen einhergeht: [D]enn die Kassen Deiner Krankenversicherung und die der Altersversorgung sind ausgeraubt, bis auf den letzten Pfenning. Bei den jeweiligen Appellen dominiert strukturell der Imperativ: Die Appelle an Arbeiter und Bauer (wach auf … wach auf) zeigen auf, dass insbesondere diese Gruppen belehrt werden sollen, wohingegen anderen zugetraut wird, in die Speichen des Deutschen Geschickes einzugreifen und an der Entstehung eines neuen Reiches mitzuwirken. Schon die Einzelbelege dürften deutlich machen, dass die Schrift einige charakteristische Merkmale der Flugschriftentradition zeigt: Dazu gehören nicht nur die Anrede von Partner- und gegnerischen Gruppen, sondern auch einige sprachstilistische Ausprägungen. Auffällig ist zunächst, dass Wiederholungsfiguren, insbesondere Anapher und Parallelismus, durchgängig gebraucht werden und ein hoher Anteil an lexikalischer Rekurrenz die Schrift prägt. Ferner zeigen sich Ausklammerungen wie etwa die der Altersversorgung sind ausgeraubt bis auf

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den letzten Pfennig, die die Schrift allerdings weniger dominieren, als dies in manchen kommunistischen Flugblättern der Fall ist. Auffällig sind insbesondere zwei Erscheinungen, die der Flugschrift einen leicht archaisierenden Duktus verleihen, es sind einerseits die häufiger vorangestellten Genitivattribute (des Volkes, des Reiches) und insbesondere das wiederholt gebrauchte wisset, das sonst nicht im Flugschriftenkorpus zu finden ist und an die Textsorte Predigt erinnert.

3.2

Das Flugblatt Der Nazi-Reichsmarschall von Helmuth Hübener (1941)

DER NAZI-REICHSMARSCHALL Ja, der gute, feiste Hermann: Reichsmarschall. Wer hätte das gedacht. Seine Weltkriegskameraden, deren Schuldner er noch heute ist. Oder hat er jemals selbst daran gedacht? O ja, er hat schon etwas los, der kleine Schäker mit den Kulleraugen. Eine blendende Karriere, eine nette Schauspielerin und ein nicht zu verachtendes Bombengehalt, nur keinen Verstand. – Nein, wirklich nicht, so groß sein Kopf auch ist. Dennoch redet er ohne Hemmungen immer darauf los, daß selbst dem Adolf die Sache ungemütlich wird. Wenn die R.A.F. jemals dazu kommt, Berlin zu bombardieren, will ich Meier heißen, sagte er zu Beginn des Krieges. Heute zeigen die Straßen Berlins schon deutliche Spuren der Britischen Luftoffensive, doch Göring ist immer noch Göring – und er freut sich, daß er es ist. – Und dann das allzu beliebte Schlagwort: 1000 für eine! Auch ein blendender Reinfall; denn heute ist die deutsche Luftwaffe zufrieden, wenn sie die Insel überhaupt noch einmal überfliegen kann, ohne dabei durch die Abwehr schwere Verluste und blutige Köpfe erleiden zu müssen. Wohl kann der Luftmarschall der Nazis noch immer eine horrende Dividende – er ist eben ein gerissener Kriegsgewinnler und Geschäftsmann – aus seinen Rüstungswerken ziehen, doch der Traum von der uneingeschränkten, immer zunehmenden Luftüberlegenheit seiner Fliegerarmada geht dem Ende immer mehr entgegen. Es wird ein böses Erwachen geben. Denn Winston S. Churchill sagte: Wenn es sein muß, bringen unsere tapferen Bombenflieger Tod und Verderben über Nazi-Deutschland!! Wir wünschen es nicht, haben es nie gewollt, doch der Tod vieler tausender hingemordeter Menschen in Rotterdam, Belgrad und nicht zuletzt in Frankreich, Norwegen und Polen, das Blut vieler freiheitsliebender Brüder in dem durch Gestapo-Terror niedergehatenen Europa darf nicht ungesühnt bleiben. = Vergeltung wird kommen – so oder so, Herr Göring =

Das vorliegende Flugblatt stammt von dem 1941 siebzehnjährigen Helmuth Hübener, der der Religionsgemeinschaft der Mormonen angehörte und zu diesem Zeitpunkt eine Lehre an der Hamburger Sozialbehörde begonnen hatte. Er ist der Verfasser von 35 Flugblättern, die von ihm und einigen wenigen Freund*innen verbreitet wurden. Er wurde 1942 verhaftet und starb im selben

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Flugblatt – Flugschrift

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Jahr unter dem Fallbeil in Berlin-Plötzensee (vgl. Steinbach/Tuchel 1998: 97). Sein Engagement geht darauf zurück, dass er ab 1941 begann, den Londoner Rundfunk abzuhören, was auch das längere Zitat Churchills am Ende des Flugblattes zeigen könnte. Das Flugblatt thematisiert Hermann Göring und will die nationalsozialistische Kriegspropaganda entlarven. Grundsätzlich zeigt das Flugblatt die oben schon thematisierte Strategie, Äußerungen eines Vertreters des NS-Apparates mit Tatsachen zu konfrontieren und einer Lüge, in diesem Fall eines Fehlurteils zu überführen. Hier werden die Äußerungen Wenn die R.A.F. jemals dazu kommt, Berlin zu bombardieren, will ich Meier heißen und Und dann das allzubeliebte Schlagwort: 1000 für eine! reformuliert, die, da keine weiteren Quellen, wie sonst häufig üblich, angegeben werden, im öffentlichen Diskurs einen größeren Bekanntheitsgrad besitzen dürften. Gleichzeitig wird der britische Gegenspieler Winston S. Churchill zitiert: Wenn es sein muß, bringen unsere tapferen Bombenflieger Tod und Verderben über Nazi-Deutschland !! Das vorliegende Flugblatt reiht sich, was die Abwertung Görings und Hitlers anbelangt, grundsätzlich in die schon thematisierten Flugblätter und -schriften ein. Zur Abwertung Görings wie auch Hitlers trägt bei, dass beide im ersten Absatz nur mit ihrem Vornamen (der gute, feiste Hermann und dem Adolf) genannt werden. Diese, zumal mit einem Artikel versehene Nennung des Vornamens ist im Flugschriftenkorpus ansonsten nicht nachzuweisen. Eine weitere Besonderheit des Flugblattes stellt es dar, dass kein Bezug auf eine Eigen- oder Partnergruppe gegeben ist. Der Verzicht auf den Nachnamen bzw. den sonst üblichen Führertitel ist eine als eine höhnische Verweigerung von Respekt sowie nationalsozialistischer Rollenangebote zu interpretieren, wie dies ähnlich auch für andere Dokumente bei pronominalen und nominalen Anreden gezeigt worden ist (vgl. Abschn. 2.3). Am Ende der Flugschrift wird dieser wiederum nominal mit Herr Göring adressiert. Der Verfasser wählt insbesondere im ersten Absatz einen vertraulichen Ton, der Kenntnisse über Görings Lebensweg und –wandel nahelegt. Zu dieser ›Vertraulichkeit‹ trägt das Sprachgebrauchsmuster ›der/die gute X‹ bei, mit dem eine Äußerungs-, Verhaltens- oder Handlungsweise als typisch für eine Person kategorisiert und mit dem teils Missmut, teils Spott über bestimmte, wiederkehrende Verhaltensweisen geäußert werden kann. Dass hier auf eine (vermeintliche) gemeinsame Wissensbasis mit den möglichen Rezipient*innen rekurriert wird, erschließt sich durch die Modalpartikel ja. Auch die Routineformeln Wer hätte das gedacht und er hat schon etwas los legen eine Vertrautheit mit dem Lebensweg Görings nahe. Das Zuschreiben von Eigenschaften bezieht sich auf körperliche Merkmale (feist, Kulleraugen, so groß sein Kopf auch ist), explizit bezeichnete Eigenschaften und intellektuelle Fähigkeiten (nur keinen Verstand, redet er ohne Hemmungen immer darauf los, kleiner Schäker) sowie nahelegte

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Eigenschaften wie ›unzuverlässig‹ (Seine Weltkriegskameraden, deren Schuldner er noch ist). Es ist erkennbar, dass Göring skizzenhaft als eine Person gezeichnet wird, die nicht imstande ist, in einer verantwortlichen Position zu agieren. Auch in diesem Flugblatt findet sich besonders im ersten Absatz eine variantenreiche syntaktische Gestaltung, die die schon skizzierten Hervorhebungstechniken (vgl. Abschn. 2.4) zeigt (etwa der Nachtrag der kleine Schäker mit den Kulleraugen). Ferner inszeniert der Textproduzent seinen das Schreiben begleitenden Reflexionsprozess. Dazu tragen die offenbleibende Frage (Oder hat er jemals selbst daran gedacht?), die den nachfolgenden Sachverhalt bestätigende Interjektion Oh ja oder das ablehnende Nein, wirklich nicht bei. Alle Merkmale sind der Flugschriftentradition nicht fremd, erinnern jedoch auch an die Tradition des essayistischen Schreibens. Das Bild Görings wird im ersten Absatz nicht komplementiert, sondern nachfolgend durch die sozialen Kategorisierungen Kriegsgewinnler und Geschäftsmann ergänzt; dass sich der NS-Apparat an der deutschen Bevölkerung oder am Krieg bereichert, ist ferner ein typischer Argumentationstopos. Neben der Diffamierung Görings werden dessen Äußerungen an der von Hübener wahrgenommenen Realität gemessen: So wird der ersten Äußerung die Tatsache entgegengesetzt, dass die Straßen Berlin schon deutliche Spuren der britischen Luftoffensive zeigten, der zweiten Äußerung (1000 für eine) wird zunächst durch das sprachspielerische Auch ein blendender Reinfall (anstelle von Auch ein blendender Einfall) als falsch ausgewiesen und begründet mit denn heute ist die deutsche Luftwaffe zufrieden, wenn sie die Insel überhaupt noch einmal überfliegen kann. Aufgrund der britischen Lufthoheit erfolgt das, wie gesehen, für die Flugschriften nicht ungewöhnliche Prophezeien: Es wird ein böses Erwachen geben, was am Ende des Flugblatts nochmals aufgegriffen wird: Das herausgestellte so oder so, ebenfalls ein pragmatisches Idiom, bringt zum Ausdruck, dass, gleichgültig, was Göring behauptet, eine Vergeltung kommen wird. Ähnlich wie auch in anderen Flugblättern wird Göring hier insgesamt ironisch adressiert. Ironie zeigt sich am ironischen Gebrauch der Göring durch den Possessivartikel seine zugewiesenen Fliegerarmada: Eine Armada im Sinne einer ›Streitmacht‹ ist, so zeigt das Flugblatt, die deutsche Luftwaffe nicht.

4

Fazit

Im Beitrag wurde die Ähnlichkeit der Flugschriften aus unterschiedlichen Kreisen des Widerstands beleuchtet. Die zur persuasiven Kommunikation genutzten Medien bilden eine Texttradition, die in allen Dokumenten, unabhängig von der politischen Positionierung, erkennbar wird. Dabei bildet die Abwertung und Verurteilung des NS-Apparates und seiner bekanntesten Vertreter ein alle

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Flugblatt – Flugschrift

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Widerstandskommunikate verbindendes Element. Die Gegenüberstellung zwischen einer Gruppe, der sich die Verfasser*innen zugehörig fühlen und in deren Namen sie zumeist sprechen, und einer gegnerischen Gruppe evoziert die lange Tradition der mit den Flugmedien verbundenen Freund-Feind-Rhetorik. Dass insbesondere Flugschriften aus dem sozialistischen und kommunistischen Lager bruchlos an Verbalisierungsstrategien anknüpfen, die vor dem Nationalsozialismus in den Parteien etabliert worden sind, lässt sich leicht nachzeichnen. Wenngleich eine Freund-Feind-Gegenüberstellung also für viele Schriften charakteristisch ist, unterscheidet sich die Behandlung der möglichen Partner*innen, die in der einen oder anderen Form an der Beseitigung des Nationalsozialismus beteiligt werden sollen. Hier ist vor allem auffällig, dass eine Mitverantwortung der deutschen Bevölkerung an der Gestaltung des Dritten Reiches zunächst kaum erkennbar wird, so dass die direkte Adressierung von Parteimitgliedern und Richtern, wie in der Flugschrift Harniers deutlich wird, eine Ausnahme darstellt. Wenngleich mit zunehmender Kriegsdauer die Passivität der deutschen Bevölkerung beklagt und sie zum Mithandeln nicht nur aufgerufen, sondern geradezu ermahnt werden, fällt insbesondere das Urteil über die deutsche Bevölkerung bei den eher bürgerlichen Vertreter*innen des Widerstands scharf aus. Dies mag darin begründet sein, dass diese Gruppen mutmaßlich wenig Zugang zu Sozialmilieus hatten, in denen sich punktuell resistente Verhaltensweisen im Alltag zeigten. Es ist ferner auffällig, dass sich jedoch alle Widerstandsgruppen, unabhängig vom Äußerungszeitpunkt, darüber einig sind, dass das Regime zum einen mit Lug und Trug arbeite und zum anderen vor Gewalt(exzessen) nicht zurückschrecke. Ein wichtiges Anliegen ist es deshalb, wie gezeigt, den Lügen sowohl eigene Darstellungen von Ereignissen entgegenzusetzen, als auch nationalsozialistische Deutungsmuster zu entlarven. Die Beschreibung der nationalsozialistischen Gegenwart und das Hinterfragen nationalsozialistischer Deutungsmuster bilden wichtige Fundamente, um Handlungsappelle zu motivieren. Eine besondere Rolle spielen hier Äußerungen, die einen ungünstigen Ausgang des Zweiten Weltkrieges nahelegen. In diesem Beitrag wurde auch dargelegt, dass persuasive Kommunikation mit einer kommunikationsbezogenen Syntax korrespondiert und sich Traditionshaftungen ebenfalls an einem typischen textsyntaktischen und -stilistischen Repertoire zeigen. Es ist auffällig, dass es insbesondere Flugblätter aus dem kommunistischen Widerstand sind, bei denen eine einzelne Informationseinheiten fast parzellierende Syntax und andere visuelle Hervorhebungstechniken miteinander verbunden sind und zu einem charakteristischen Erscheinungsbild der Schriften führen. Die Flugblätter der Weißen Rose, jedoch auch die Sorge-Flugschrift werden vergleichsweise sparsam untergliedert, zeigen jedoch gleichermaßen eine Vielfalt von Wiederholungsfiguren und einen variabel gestalteten Satzbau. Diese syntaktische Gestaltung ist sowohl in Hinsicht auf Verständlichkeit und Me-

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morierbarkeit als auch in Hinsicht auf das dadurch ermöglichte Sprachhandlungsprofil interessant. Die Widerstandskommunikation fügt sich damit insgesamt in die Kommunikationsgeschichte von Flugblatt und -schrift ein; es gilt allerdings darauf aufmerksam zu machen, dass die Wirkmächtigkeit der Tradition dieser Kommunikationsmedien sich nicht nur in der Widerstandskommunikation, sondern auch die Nutzung dieses Mediums in der nationalsozialistischen Gesellschaft und in der Feindpropaganda betrifft. Der soziale Sinn der Flugblätter und -schriften aus dem Widerstand unterscheidet sich zum Teil jedoch erheblich von bloßer Feindpropaganda: Insbesondere mit Flugblatt und -schrift, die sich an ein eher unbekanntes Publikum richten, wird versucht, Diskurse präsent zu halten und/oder zu entfalten und dem öffentlichen Diskurs etwas entgegenzusetzen. Praktiken der Selbstkonstitution und der sprachlichen Konstitution eines gegnerischen Gegenübers lassen sich vor der Folie lesen, soziale Identitäten aufrechtzuerhalten und weiter zu beanspruchen. Das heißt: Die vom NS-Apparat Exkludierten schließen ihrerseits ihre Peiniger aus. An den Gegner gerichtete Adressierungs-, Referenzierungsund Zuschreibungspraktiken, etwa provokative Ihr-Anreden oder die Dehumanisierung des NS-Apparates, verweisen darauf, dass dieser aus der deutschen oder auch menschlichen Gemeinschaft exkludiert werden soll. Ein weiteres Element der Destabilisierung ist die Beschreibung von Erfahrungen, die nicht Teil öffentlicher Diskurse sind. Ferner ist der Nachweis von Lüge und Betrug eine wichtige subversive Handlung, die in unterschiedlichen Ausformungen vorliegt und dem Deutungsmonopol des NS-Apparates eine eigene Wirklichkeitssicht entgegensetzt. Vor dem Hintergrund, dass sich der nationalsozialistische Staat schon durch das Ausbleiben des Hitlergrußes, das Abhören von Feindsendern oder durch die falsche Kleidung herausgefordert sah, stellt der Versuch, gesellschaftliche Ordnungen mittels Flugschriften zu hinterfragen und abzulehnen und diese Ablehnung unmissverständlich darzulegen, ein bedeutendes Wagnis dar.

Quellen [An] Antinazistische Deutsche Volksfront und Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen (1975/[1943]): Kampfbündnis, in: Altmann, Peter/Brüdigam, Heinz/MausbachBromberger, Barbara/Oppenheimer, Max (Hg.): Der deutsche antifaschistische Widerstand 1933–1945. In Bildern und Dokumenten, Frankfurt a. M.: Röderberg, S. 258. [Bäst] Bästlein, Bernhard (1998/[1944]): Lieber Freund! – Der Feind hört mit!, in: Hochmuth, Ursel (Hg.): Illegale KPD und Bewegung »Freies Deutschland« in Berlin und Brandenburg 1942–1945 [Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand: Reihe A, Analysen und Darstellungen 4], Teetz: Hentrich & Hentrich, S. 431–436.

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Flugblatt – Flugschrift

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[Bau] Jacob, Franz/Bästlein, Bernhard (2000/[1942]): Merkblatt für Bauarbeiter!!!, in: Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand in Deutschland 1933–1945. Ein historisches Lesebuch, München: Beck, S. 79. [Baum] Baum, Herbert (1942): An die deutsche Ärzteschaft, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.was-konnten-sie-tun.de/uploads/tx_iobio /h_baum_flugblatt_5704_19_04.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Fk] Knöchel, Wilhelm (1942): Der Friedenskämpfer, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publikatione n/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_4.5_DE-2.Aufl_RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Fw 1] Günther, Hanno (1940a): Das freie Wort, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitmate rialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_13.1_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Fw 2] Günther, Hanno (1940b): Das freie Wort, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.was-konnten-sie-tun.de/themen/th/fuer-den-frie den-eintreten/, Stand: 20. 2. 2022). [Fw 3] Günther, Hanno (1940c): Das freie Wort, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitmate rialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_13.2_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Gfa] Scharff, Werner/Schallschmidt, Johanna (1944): Zweites Flugblatt der Gemeinschaft für Frieden und Aufbau. Generalmobilmachung, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/pu blikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_18.3_DE_2.Aufl-RZ-w eb.pdf, Stand 20. 2. 2022). [Ha] Harnier Gruppe (1994/[1936]): Tausend Tage Drittes Reich, in: Aretin, Karl Ottmar von/Roon, Ger van/Mommsen, Hans (Hg.): Opposition gegen Hitler, Berlin: Siedler, S. 121. [Hü 1] Hübener, Helmuth (1941a): Der Nazi-Reichsmarschall, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publi kationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_13.5_DE_2.Aufl-RZ-web.p df, Stand: 20. 2. 2022). [Hü 2] Hübener, Helmuth (1941b): Im Jahr einundvierzig, Online-Publikation. (www.wa s-konnten-sie-tun.de/uploads/tx_iobio/h_huebener_flugblatt_11692_12_07.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Hü 3] Hübener, Helmuth (1991/[1942b]): Stimme des Gewissens, in: Karl-Heinz-Schnibbe (Hg.): Jugendliche gegen Hitler. Die Helmuth Hübener Gruppe in Hamburg 1941/42, Augsburg, S. 195–198. [Hü 4] Hübener, Helmuth (1942a): 3. Oktober bis 3. Februar, Online-Publikation. (www.wa s-konnten-sie-tun.de/uploads/tx_iobio/h_huebener_flugblatt_8535_12_09.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Ju] Deutsches Initiativkomitee zur Vorbereitung des Weltjugendkongresses gegen Krieg und Faschismus (1989/[1933]): An die Jugend Deutschlands, in: Jahnke, Karl-Heinz/ Buddrus, Michael (Hg.): Deutsche Jugend 1933–1945. Eine Dokumentation, Hamburg: VSA, S. 181–183.

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[Kl] KPD (1978/[1944]): Wir klagen an, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 236–237. [Man 2] Manifest Nationalkomitee Freies Deutschland (1943). (www.gdw-berlin.de/filead min/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_18.1_D E_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Man] Hutten, Ulrich von (fingiert)/Mann, Heinrich/Münzenberg, Willa/Spiecker, Carl (2009/[1938]): Manifest der deutschen Freiheit, in: Langkau-Alex, Ursula (Hg.): Deutsche Volksfront 1932–1939 – Zwischen Berlin, Parus, Prag und Moskau, Berlin: Akademie-Verlag, S. 202–218. [Me] Anonym (1982/[1933]): Der Metallarbeiter, in: Uhlmann, Walter (Hg.): Metallarbeiter im antifaschistischen Widerstand, Berlin: GDW, S. 27–30. [Mi] Mierendorff, Carlo (1943): Sozialistische Aktion, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publikatione n/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_12.2_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Nein] KPD (1978/[1938]): Deutsches Volk, Nein ist die wahre deutsche Parole, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 211. [Neu] Neubauer, Theodor (2000/[1944]): Der Krieg ist vorbei! Nur Kindsköpfe träumen noch von Sieg, in: Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand in Deutschland 1933–1945. Ein historisches Lesebuch, München: Beck, S. 80–82. [Ob] Sieg, John/Kuckhoff, Adam (1942): Offene Briefe an die Ostfront, Berlin: OnlinePublikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/fileadmin /bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_14.2_DE_2.Au fl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Pfa] Pfadfinder (1941): An die geknechtete deutsche Jugend!, in: Dohms, Peter (1977): Flugschriften in Gestapo-Akten. Nachweis und Analyse der Flugschriften in den GestapoAkten des Hauptarchivs Düsseldorf; mit einem Literaturbericht und Quellenübersicht zu Widerstand und Verfolgung im Rhein-Ruhr-Gebiet 1933–1945 [Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen Reihe C, Quellen und Forschungen 3], Siegburg: Respublica-Verl., S. 529–530. [Pro] Protestschrift der Deutschen Evangelischen Kirche an Reichskanzler Hitler (1936), Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berli n.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/F S_5.2_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [RB] ISK [1936]: Reinhart-Brief März 1936. Widerstandsnester, in: Lemke-Müller, Sabine (Hg.): Ethik des Widerstandes. Der Kampf des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) gegen den Nationalsozialismus. Quellen und Texte zum Widerstand aus der Arbeiterbewegung 1933–1945, Bonn: Dietz, S. 92–93. [Rh] Rote Hilfe (1978/[1934]): Das Tribunal, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 93–96. [Rs] Der Rote Stoßtrupp (2018/[1933]): NS-Bewegung/Reichstagsbrand, in: EggingerGonzalez, Dennis (Hg.): Der Rote Stoßtrupp. Eine frühe linkssozialistische Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, Berlin: Lukas, S. 645–649.

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Flugblatt – Flugschrift

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[Saef] Saefkow, Anton (2000/[1942]): Nichts entsteht auf dieser Welt ohne Kampf und ohne Opfer, in: Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand in Deutschland 1933– 1945. Ein historisches Lesebuch, München: Beck, S. 82–88. [Sf] Schulze-Boysen, Harro (1942): Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gd w-berlin.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deut sch/FS_14.1_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Ts 1] Tarnschrift 0925. 1939. Arbeiter und Soldaten. (db.saur.de/DGO/basicFullCitation View.jsf ?documentId=BTS-0904, Stand: 20. 2. 2022). [Ts 2] Tarnschrift 0842. 1938. Das kommende Deutschland. (db.saur.de/DGO/basicFullCita tionView.jsf ?documentId=BTS-0827, Stand: 20. 2. 2022). [Ts 3] Tarnschrift 0385. 1935. Welt im Aufruhr. (db.saur.de/DGO/basicFullCitationView.jsf ?documentId=BTS-0376, Stand: 20. 2. 2022). [Wr 1] Scholl, Hans/Schmorell, Alexander (1942a): Flugblätter der Weissen Rose I, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/file admin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_15.1_D E_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Wr 2] Scholl, Hans/Schmorell, Alexander (1942b): Flugblätter der Weissen Rose II, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/file admin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_15.2_D E_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Wr 3] Scholl, Hans/Schmorell, Alexander (1942c): Flugblätter der Weissen Rose III, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/file admin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_15.3_D E_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Wr 4] Scholl, Hans/Schmorell, Alexander (1942d): Flugblätter der Weissen Rose IV, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berli n.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/F S_15.4_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Wr 5] Scholl, Hans/Schmorell, Alexander/Huber, Kurt (1943a): Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland. Aufruf an alle Deutsche!, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publi kationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_15.5_DE_2.Aufl-RZ-web. pdf, Stand: 20. 2. 2022). [Wr 6] Scholl, Hans/Schmorell, Alexander/Huber, Kurt (1943b): Komillitonen! Komillitonen!, Berlin: Online-Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gd w-berlin.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deut sch/FS_15.6_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 20. 2. 2022).

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Denkschrift

1 Einleitung 2 Denkschriften des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft 2.1 Mein Führer: Selbstauszeichnungen und Adressierungen 2.2 Wird Deutschland verloren sein: Konstruierte Krisen 2.3 Ich tue das hiermit und bitte den Führer: Selbsterklären und Bitten 2.4 Unsere politische Lage: ›Volksgemeinschaft‹ als Kollektiv 2.5 Mit eiserner Hand durchgreifen: Fachmännische und ideologische Inszenierungsstrategien 3 Denkschriften der Ausgeschlossenen 3.1 Ehe wir auf die derzeitige Lage der deutschen Judenheit eingehen: Selbstverortungsund -positionierungsreflexionen 3.2 Uns allen die Wahrheit zu sagen liegt in Ihrem und im Interesse des ganzen deutschen Volkes: Abgrenzung durch Aufforderung 4 Denkschriften des Widerstands 4.1 Lautere, sachkundige Männer: Selbstautorisierungen 4.2 Mit diesen Menschen ist direkt wenig anzufangen: Formen der Partei- und Distanznahme 4.3 In Wirklichkeit: Faktizitätsherstellung aus der Defensive 4.4 Die Nürnberger Gesetze sind bekannt: Tatsachen feststellen und Fragen stellen 4.5 Die erste Aufgabe der neuen Regierung wird sein: Die Lage beurteilen und Handlungsverpflichtungen übernehmen 5 Fazit Quellen

1

Einleitung

Aufgrund der Bestandteile des Kompositums Denkschrift erscheint die Textsorte intuitiv relativ einfach charakterisierbar als eine Schrift bzw. ein Text, in der bzw. dem Gedanken zu einem bestimmten Gegenstand (in einer bestimmten bzw. dem Gegenstand angemessenen Form angeordnet) geäußert werden.

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Die dieser skizzenhaften Arbeitsdefinition inhärente Problematik der strukturellen, thematischen etc. Offenheit ist aber zugleich das Problem der Bestimmung der Textsorte, so dass, obgleich »Texte der Sorte DENKSCHRIFT nicht selten vor[kommen]« (Schellenberg 1992: 246, Hervorhebung im Original) und ihre Wurzeln bis in die Antike zurückreichen (vgl. Jackob 2002: 9–23), die Textsorte in ihrer funktionalen Polyvalenz sowie historischen Vielgestaltigkeit als bisher nur vage definiert gelten kann und Sprachnutzer vielfach »von der inhaltlich-kommunikativen Leistung dieser Textsorte nur vage Vorstellungen« (Schellenberg 1992: 246) haben. Auch im Rahmen textlinguistischer Forschungsbewegungen wurden Denkschriften – trotz z. T. anderweitiger Aussagen (vgl. Rehm 2004: 121) – kaum wahrgenommen (vgl. Böhm 2010: 78). Die fehlenden Bestimmungen stehen im Kontrast zu ihrer Produktivität, erweist sich die Textsorte doch als wichtiges Kommunikationsmittel der politischen (vgl. Strauß 1986: 178 oder Tillmann 1989: 53), religiösen (vgl. Böhm 2010: 78) sowie allgemeingesellschaftlichen Öffentlichkeit (vgl. Fleskes 1996: 75). Im historischen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (Online Version) werden drei Typen von Denkschriften explizit gemacht: Als solche gilt: a) eine »schrift zum andenken an eine person oder ereignis, memoria«, b) eine »eingabe an die behörde, welche die lage der dinge darstellt, um damit eine bitte zu erreichen, ein promemoria« und c) eine »abhandlung einer gelehrten gesellschaft, nach dem franz. mémoire« (Hervorhebungen im Text). Hinsichtlich der Beschreibung der Textsorte im ›Dritten Reich‹ erscheint zunächst der zweite Typ konstitutiv. Tatsächlich finden sich viele Denkschriften als Behördeneingaben1 – dies trifft aber vor allem auf Denkschriften der integrierten Gesellschaft zu. Sowohl Textproduzenten des NS-Apparates (Abschnitt 2) als auch des Widerstands (Abschnitt 4) verfassten Denkschriften oft aufgrund anderer Handlungsanlässe und verfolgten andere Ziele. In dieser Hinsicht ist es sinnvoll, die Denkschrift zunächst abstrahiert bzw. relativ offen als eine »[l]ängere, offizielle schriftliche Darlegung über eine wichtige Sache im allgemeinen Interesse, mit Analyse-, Konzeptions- und Argumentationspassagen« (Schellenberg 1992: 249) zu beschreiben, die sich konstitutiv aus den (Sprach-)Handlungen des Feststellens oder Festsetzens sowie des Verändern-Wollens zusammensetzt. Sie kann sich dabei an Behörden richten (vgl. Osterkamp 2003: 326–327), wie die der integrierten Gesellschaft, sie kann aber auch die eigenverantwortliche Umsetzung angesprochener Ziele thematisieren, wie die des NS-Apparates und vor allem des Widerstands. Diese Zweiteilung macht es auch möglich, Denkschriften von ähnlichen Textsorten, wie der

1 s. den Beitrag ›Brief‹ in Band 2.

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Denkschrift

Programmschrift oder des Memorandums, abzugrenzen.2 Dahingehend ist die Denkschrift als komplexe, polyfunktionale Textsorte zu verstehen, die sowohl der Darstellung wie Bewertung als auch der Aufforderung dient und dergestalt zu den funktional komplexesten schriftkonstituierenden Texten gezählt werden kann (vgl. Rolf 1993: 90). In dieser Ausgestaltung werden Denkschriften zu produktiven textuellen Kommunikaten in Zeiten umfassenden gesellschaftlich-kulturellen Wandels. Die durch Wandel ausgelösten Veränderungen und Neuorientierungen können durch entsprechende Analysen von Ist- wie Soll-Zuständen sowohl erfasst als auch gesteuert werden. Zugleich erlaubt die Textsorte eine eigene produzentenbezogene Positionierung und so eine Inszenierung als z. B. sachkundiger und verantwortungsvoller Experte der jeweiligen Situation, die es nicht nur zu beschreiben bzw. zu analysieren (Feststellung und Bewertung), sondern auch zu verändern bzw. weiterzuentwickeln (Aufforderung bzw. Verändern-Wollen) gilt. Es erscheint dahingehend plausibel, der Denkschrift während der unruhigen Zeit des Nationalsozialismus’ eine wichtige Rolle im textuellen Kommunikationsprozess zuzusprechen und sie als produktives kommunikatives Instrument der verschiedenen Akteursgruppen zu verstehen: Für den NS-Apparat dienten Denkschriften als wichtiges Mittel der Festsetzung unter seiner Ägide geänderter Machtverhältnisse als auch der kontinuierlichen sowie umfassenden Veränderung kultureller, gesellschaftlicher, politischer, juristischer, ethisch-moralischer etc. Positionen. Der integrierten Gesellschaft konnten Denkschriften ein geeignetes Mittel sein, auf die veränderten Bedingungen zu reagieren. In diesem Sinne verwendeten auch jüdische Ausgeschlossene die Textsorte. Und für den Widerstand waren Denkschriften zentral für die Aufarbeitung der Bedingungen der NS-Herrschaft ebenso wie für die Skizzierung künftiger gesellschaftlicher, politischer etc. Vorstellungen im Rahmen eines Opponierens gegenüber den durch die Machthaber veränderten Bedingungen. Ausgewertet wurden in diesem Beitrag 21 Denkschriften: 6 von Akteuren des NS-Apparates, 3 von Akteuren der integrierten Gesellschaft, 1 von ausgeschlossenen Akteuren und 11 von Mitgliedern der verschiedenen Widerstandsgruppen.3 Dabei wurde bei der Auswahl von Denkschriften aus dem NS-Apparat vor allem auf die sozial-diskursive Rolle geachtet, die die entsprechenden Autoren 2 So wird in einer Programmschrift vornehmlich der Aspekt des Verändern-Wollens im Sinne grundsätzlicher Forderungen oder Ziele fokussiert und der Aspekt des Feststellens bzw. Festsetzens zurückgestellt und in einem Memorandum wird eher das Feststellen bzw. Festsetzen im Sinne einer Stellungnahme oder Erinnerung in den Vordergrund gestellt, und daraus abzuleitende Handlungsaufforderungen oder -ziele werden eher vernachlässigt. 3 Zur weiterführenden Ermittlung typischer Sprachgebrauchsmuster wurde zudem das Denkschriftenkorpus des HetWik-Korpus mit 22 weiteren Denkschriften herangezogen.

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einnahmen, so dass deren Denkschriften als prägend für die Ausgestaltung von Strukturelementen des ›Dritten Reiches‹ gelten können. Die Autoren standen im Zentrum der Macht (Hitler, Goebbels, Himmler, Rosenberg). Somit kommt ihren planenden Ausführungen besondere Bedeutung zu und hatte unmittelbare Konsequenzen, sei es auf außen-, wirtschafts-, bildungs- oder ›rassen‹politischer Ebene. So wurde Adolf Hitlers frühe (im Kontext seiner Rolle als gewählter »Reichskanzler«) Denkschrift zum Vierteljahresplan (1936) (AH) ausgewählt, in der er konzeptionelle Festlegungen seiner wirtschafts- wie außenpolitischen Ziele vornimmt, die seine Politik weithin prägen sollten. Auch die drei Denkschriften Alfred Rosenbergs übernehmen diese Funktion, konturiert er in diesen doch die künftige (Aus-)Bildungspolitik des ›Dritten Reiches‹ im Rahmen der Etablierung der ›Hohen Schule‹ (AR I, AR II, AR III). Diese Funktion kommt auch Himmlers Denkschrift (1940) (HH1) zur Ausweitung der Judenfrage (vgl. Longerich 2008: 524–525) zu. Schließlich wird eine unbenannte Denkschrift Joseph Goebbels (1944) (JG) aufgenommen, die im thematischen Kontext des von Goebbels ausgerufenen ›totalen Krieges‹ entstanden ist und Vorschläge der strategischen Positionierungen in diesem macht. Alle Texte vermitteln ein eindringliches Bild der Funktionsmechanismen wie -konflikte der Führungselite des ›Dritten Reiches‹, die versuchte, eigene Positionen durchzusetzen, Macht zu wahren und positiv vom Machtzentrum Hitler wahrgenommen zu werden. Ungleich weniger Wirkung hatten Denkschriften der integrierten Gesellschaft, in denen sich aber zeigt, inwiefern und -weit die ideologische Macht- und Rassenpolitik des NS die Volksgemeinschaft durchdrungen hat, so in der Denkschrift Richard Ungewitters (1935) (RU), der aus medizinischer Sicht Maßnahmen zur Erhaltung der Erbgesundheit thematisiert.4 In eine ähnlich rassistisch motivierte Richtung geht eine Denkschrift der Berliner Gestapo (1938) (BG) Über die Behandlung der Juden in der Reichshauptstadt auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Dass auch alltägliche Themen Anlass zur Produktion gaben, zeigt sich an der Denkschrift Fritz Neumanns (1934) (FN), in der der Autor die wirtschaftlich problematischen Zustände in einem Nordseebad hervorhebt und zu Veränderungen aufruft. Schließlich offenbart eine frühe Denkschrift (1933) von Ausgeschlossenen – der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums (OJ) – die Versuche jüdischer Akteure, sich noch als Teil der ›Volksgemeinschaft‹ verstehend, sich mit dem neuen Regime zu arrangieren. Denkschriften bilden auch eine zentrale Textsorte der Widerstandskommunikation. Da der sog. ›Denkschriftenwiderstand‹ (vgl. Mommsen 2000) besondere Bedeutung für die Funktionseliten hatte, werden vor allem die Denkschrift Ludwig Becks und Carl Friedrich Goerdelers (unter der Beteiligung Julius Lebers, 4 s. zu dieser Denkschrift auch den Beitrag ›Sich beschweren‹ in Teil 1.

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Denkschrift

Wilhelm Leuschners und Jacob Kaisers) Der Weg (1944) (G1) und die Denkschrift Das Ziel (1941), die Goerdeler (G2) allein verfasst hat, fokussiert. Beide können als Grundlegung der Regierungserklärung gelten, die nach dem Staatsstreich des 20. Juli 1944 hätte in Kraft treten können (R1). Viele Denkschriften sind aus dem Umfeld des ›Kreisauer Kreises‹ überliefert. Es werden daher zwei Texte (K1 und K2) behandelt, in denen Vorstellungen zur Befriedigung Europas thematisiert werden, die auf der dritten Kreisauer Tagung (12.–14. Juni 1943) behandelt werden sollten; auch wird die aus den Denkschriften hervorgehende Grundsatzerklärung (Gru1) analysiert. Weiterhin sollen die Denkschriften Helmuth J. von Moltkes Ausgangslage, Ziele und Aufgaben (K3, 1. Fassung vom 24. April 1941, vgl. van Roon 1967: 507–517) sowie Die kleinen Gemeinschaften (K4) ausgewertet werden. Ferner werden drei Texte Willy Brandts thematisiert: Hitler ist nicht Deutschland vom 28. September 1938 (Br1), Friedensziele der deutschen Sozialisten 1943 (Br2) sowie Zur Nachkriegspolitik der deutschen Sozialisten vom Juli 1944 (Br3). Alle (mit Ausnahme von Br1) behandeln die Neugestaltung Deutschlands und Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Schließlich wurden zwei Denkschriften einbezogen, die in der christlichen Opposition entstanden sind: Die Denkschrift gegen die Euthanasie von Pastor Paul Gerhard Braune aus dem Jahr 1940 (im Folgenden: B) sowie die Zur Lage der deutschen Nichtarier, die von Elisabeth Schmitz 1935, mit einem Nachtrag von 1936 (im Folgenden: Sch) geschrieben worden ist. Ähnlich der Rede5 lassen sich bei so gut wie allen untersuchten Denkschriften grundsätzliche Ähnlichkeiten der Textsortentradition, im Hinblick auf Textaufbau und textorganisatorische Handlungen ausmachen. Nichtsdestotrotz setzen sich die Denkschriften widerständischer Akteure von denen des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft deutlich ab.6 Dies ist nicht mit fehlendem Textsortenwissen zu erklären, gehörte doch das Abfassen von Denkschriften zur nahezu alltäglichen professionellen (z. B. juristischen) Kommunikation der (bürgerlich-konservativen) widerständischen Akteure. Stattdessen können andere Ursachen für die Differenzen der Denkschriften ausgemacht werden: Andere Ziele,7 wie das Überkommen des Ist-Zustandes im ›Dritten Reich‹, unterscheiden die Denkschriften von denen der anderen Akteure, denen es eher um einen Erhalt dieses Zustandes geht. Auch unterscheiden sie sich

5 s. den Beitrag ›Rede‹ in Teil 2. 6 Die ausgewählte Denkschrift der Ausgeschlossenen steht mehr oder weniger zwischen diesen Polen und wird daher auch in einem eigenen Unterkapitel thematisiert. 7 Ziele der Denkschriften des Widerstands liegen in der Herstellung einer grundsätzlichen Zustimmung der Adressat*innen zu Grundannahmen und Werten ihrer Produzent*innen. Mit ihnen sollen darüber hinaus alternative Gesellschaftsentwürfe zum NS entfaltet werden, bei deren Implementierung sich die Verfasser*innen eine maßgebliche Rolle zugestehen.

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hinsichtlich des Handlungsbereiches8 und der Situationsbeteiligung.9 Daher haben wir uns dafür entschieden, eine konstitutive Aufteilung zwischen NSAkteuren, Ausgeschlossenen und Widerstand vorzunehmen.

2

Denkschriften des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft

2.1

Mein Führer: Selbstauszeichnungen und Adressierungen

Als textsortenkonstitutiv können explizite Adressierungen sowie Selbstauszeichnungen der Texte durch die Textproduzenten gelten. Mit Ausnahme der Denkschrift Joseph Goebbels’ sind in allen Texten des NS-Apparates sowie der integrierten Gesellschaft Auszeichnungen und somit texttypologische Festlegungen anzutreffen: Im Rahmen dieser Bezeichnungsprozesse finden sich sowohl Textsortenbezeichnungen, die die Texte als Denkschrift ausweisen (AH: 205, AR II: 3, AR III: 1, BG: 320, FN: 169, RU: 306), als auch teilweise der Gebrauch von Umschreibungen, z. B. als Einige Gedanken (HH1: 196). Dabei findet die Selbstbezeichnung oft im Titel statt und perspektiviert die intendierte Textrezeption augenblicklich – dies trifft auf direkt benennende Verweise als auch auf die Umschreibungen zu: Denkschrift über die Behandlung der Juden in der Reichshauptstadt auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens (BG); Denkschrift über die wirtschaftlich unhaltbaren Zustände im Nordseebad WesterlandSylt (FN); Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten (HH1).

Der Benennungsprozess erscheint dabei in den meisten Fällen auf den Titel begrenzt zu sein und lediglich in den Denkschriften Hitlers sowie Ungewitters sind im Text selbst Rekurse auf die Textsortenbezeichnung auszumachen: 8 Die Denkschriften des Widerstands gehören nicht der öffentlichen Kommunikation an, wie die des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft. Es handelt sich stattdessen um Dokumente, die der Geheimhaltung unterliegen bzw. nur im Ausland veröffentlicht werden können. Dies hängt auch mit ihren Themen, z. B. dem In-Frage-Stellen der Rassenideologie (Sch) zusammen, die keinen Platz im öffentlichen (deutschen) Diskurs haben. 9 Die Denkschriften des Widerstands richten sich nicht an Institutionen, Parteiinstanzen oder Vertreter*innen des NS-Staates, sondern an gleich oder ähnlich Gesinnte, an Diskussionspartner*innen der jeweiligen sozialen Gruppen und auch an (potenzielle) internationale Verhandlungspartner*innen. Die unterschiedlichen Adressatenkreise werden nicht zu etwas aufgefordert, sondern die in den Denkschriften oft enthaltenden Aufgabenkataloge sind als Formulierung von Aufträgen mit (selbst)verpflichtendem Charakter zu verstehen.

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Denkschrift

Es ist nicht der Zweck dieser Denkschrift, die Zeit zu prophezeien, in der die unhaltbare Lage in Europa zur offenen Krise werden wird (AH: 205); Ich bin überzeugt, wenn Adolf Hitler diese Denkschrift in die Hände bekäme, so würde er unverzüglich die nötigen Massnahmen zur revolutionären Beseitigung der schmachvollen Zustände ergreifen (RU: 318).

In beiden Fällen ist der Rekurs bedeutungskonstitutiv: Hitler verweist auf die temporalen Grenzen der vorzunehmenden Situationsbeschreibung, während Ungewitter die Bedeutsamkeit seiner Ausführungen durch einen Rekurs auf die Textsorte, die die Wichtigkeit des Textes signalisieren soll, unterstreicht. Die charakteristische Selbstbezeichnung im Titel legt nahe, dass die so vorgenommene Bezeichnung als ausreichender rezeptionssteuernder Hinweis erachtet wurde, der ein weiteres Aufgreifen innerhalb der sich anschließenden Ausführungen nicht mehr notwendig macht. Dass sich darüber hinaus keine Variationen und nur im geringen Umfang Umschreibungen antreffen lassen, legt ein scheinbar gefestigtes Verständnis der Textsorte bzw. ein entsprechendes Textsortenwissen nahe, innerhalb dessen relativ weitreichend definiert ist, was als Denkschrift zu gelten hat. Die frequenten Selbstbezeichnungen indizieren so schon das Textsortenwissen der Produzenten, ebenso wie die Bereitschaft, sich auf die Konventionen der Textsorte einzulassen und ihre Texte entsprechend zu gestalten. Dies kann auch als eine Form des Anschlusses an eine früher bestehende Textsortenwelt (des 18. und 19. Jahrhunderts) verstanden werden und evoziert Traditionslinien sowie die Suggestion der Fortsetzung routinisierter Formen der politischen und gesellschaftlichen Kommunikation. Im Rahmen des (Selbst-)Verständnisses des eigenen Textes als Denkschrift ist die explizite Adressierung ein weiteres wichtiges Merkmal. Anhand der Textsortenexemplare des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft zeigt sich die nahezu ausschließliche Ausrichtung auf die Figur des ›Führers‹. Sofern sich Adressierungen ausmachen lassen,10 wird stets auf die Person Hitlers Bezug genommen. Dieser wird vor allem in seiner sozialfunktionalen Rolle als Führer adressiert.11 Formulierungen wie Mein Führer (JG: 305/309/310/311/312/313/314, AR II: 5/7/9 oder AR III: 16) finden sich frequent in den Texten insbesondere Goebbels’ und Rosenfelds. Es ist weiterhin interessant, dass vor allem bei Akteuren des NS-Apparates eine konstante Adressierung Hitlers im Textverlauf anzutreffen ist, während in den Texten der integrierten Gesellschaft eine solche vornehmlich einleitend oder 10 Eine Adressierung Hitlers fehlt in der Denkschrift Himmlers, die schon durch ihre Betitelung angibt, dass es sich nicht um eine prototypische Denkschrift handelt, (logischerweise) in der Hitlers und in der der Berliner Gestapo. 11 s. dazu auch den Beitrag ›Führer‹ in Teil 2.

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am Ende gefunden werden kann (als Anrede bei Begrüßung und Verabschiedung). Dies mag mit dem unterschiedlich asymmetrischen Verhältnis zwischen Produzent*innen und Rezipient*innen bei Akteuren des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft zusammenhängen. Die ›Monofixierung‹ auf den ›Führer‹ spiegelt ein zentrales Inszenierungsmerkmal der Machtstruktur im ›Dritten Reich‹ wider: Nahezu alles war (inszenatorisch) auf Hitler ausgerichtet. Selbst um kleinere Belange schien sich der Diktator selbst zu kümmern und übernahm Entscheidungsgewalt sowie -verantwortung, so dass eine entsprechende Adressierung im Rahmen der in den Denkschriften geäußerten Vorschlägen konsequent auf diesen ausgerichtet sein musste. Dahingehend folgt der Adressierung oft der Wunsch, Hitler würde diesen Text lesen und daraus entsprechende Schlüsse ziehen: Ob dieses grosse Werk aus taktischen Erwägungen schon jetzt offiziell von der Hohen Schule herausgegeben werden kann oder nicht, bitte ich den Führer zu entscheiden (AR II: 5).

Die nahezu singuläre Adressierung Hitlers ist ein Schlüsselmoment für das Verständnis der Machtstrukturen des ›Dritten Reiches‹ sowie des Selbstverständnisses der Akteure des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft:12 NS-Akteure, die zu Hitlers »Hofstaat« (Görtemaker 2019) gezählt werden können, wie Goebbels, Himmler oder Rosenberg, adressieren Hitler, da er die entscheidende Instanz war, Macht und Verantwortung zu verteilen, aber auch zu entziehen und an die man sich zu wenden hatte, um eigene Ziele voranzutreiben. »Sein Wort konnte Gesetzeskraft haben« (Longerich 2017: 525). Hitlers »Regierungschaos« (Kershaw 1999: 137) bzw. undurchsichtiges System variierender Zuschreibung, aber auch Entziehung von Machtbefugnissen machte es für Akteure des NS-Apparates notwendig, das eigene Karrierestreben sowie die eigenen Handlungen und Pläne an Hitlers Person und seine Vorstellungen zu binden (vgl. Longerich 2017: 877). Die Relevanz der positiven Aufnahme durch Hitler wird auch dadurch untermauert, dass die Textproduzenten in ihren privaten

12 Lediglich die Denkschrift der Berliner Gestapo fällt hier aus dem Rahmen, ist diese doch nicht an Hitler adressiert. Stattdessen findet sich überhaupt keine explizite Adressierung, man kann allerdings als Adressaten Joseph Goebbels annehmen, da dieser den Text in Auftrag gegeben hat (vgl. Gruner 1995: 307). Dergestalt ist der Text ein Beispiel einer wenn auch nur indirekten Adressierung an einen machthierarchisch hochstehenden NS-Akteur abseits Hitlers. Der zentrale Unterschied ist dabei produktionsbezogen: Bei den anderen Denkschriften lässt sich keine vorgängige direkte Aufforderung zur Produktion ausmachen. Dies legt nahe, dass unaufgefordert verfasste Texte größtenteils Hitler zumindest als Ko-Adressaten aus den oben genannten Gründen angeführt haben und andere Adressierungen nur nach direkter Aufforderung anvisiert wurden. Dies lässt sich allerdings lediglich als Tendenz und auf Basis des relativ kleinen Korpus beschreiben.

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Denkschrift

Aufzeichnungen z. T. genau festgehalten haben, wann sie dem ›Führer‹ ihre Texte übermittelt haben und wie dieser sie aufgenommen hat: Am Sonnabend, den 25.d. Mts., gab ich dem Führer meine Niederschrift über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten. Der Führer las die 6 Seiten durch und fand sie sehr gut und richtig (HH2: 195).

Die entsprechenden Bezüge auf Hitler durch die integrierte Gesellschaft zeigen weiterhin deutlich, wie stark der NS-Staat (zumindest bis zu den Auflösungsprozessen des ›Führermythos‹ in den Kriegsjahren; vgl. Kershaw 2018: 251) auch in der ›Außenperspektive‹ der ›Volksgemeinschaft‹ auf Hitler hin reduziert werden kann. Dass er als Adressat selbst für die Belange von z. B. Seebädern angeführt wird (vgl. FN), macht deutlich, wie sehr er lange Zeit im öffentlichen Fokus des ›Dritten Reiches‹ stand und so die Wahrnehmung erzeugte, dass man sich an den alles erfassenden ›Führer‹ zu wenden hätte.

2.2

Wird Deutschland verloren sein: Konstruierte Krisen

Auf der einen Seite ging es Textproduzenten von Denkschriften darum, analysierte Sachverhalte durch Reflexion festzustellen und auf der anderen Seite, Wandel bzw. Veränderung herbeizuführen. Deutlich wird bei den Textsortenexemplaren der Akteure des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft, dass der zweite Aspekt überwiegt. Damit einher geht eine Inszenierungsstrategie, den Sachverhalt als unmittelbar relevant sowie bedrohlich krisenhaft zu skizzieren – dies korreliert damit, dass das Handlungsmuster Warnen (siehe Abschnitt 2.3) ein wichtiger, wenn auch nicht obligatorischer Bestandteil der Denkschriften war. Diese Beobachtungen entsprechen geschichtswissenschaftlichen wie mentalitätsgeschichtlichen Forschungen, die darauf verweisen, dass, oft ausgehend vom NS-Apparat, das ›Dritte Reich‹ als beständig im Krisenmodus befindlich konstruiert wurde. Die künstliche Krisenstimmung, oft verbunden mit einem unmittelbaren Bedrohungsmoment, ist eine wichtige Strategie der Führung und findet ihren Niederschlag in den Texten: So rekurriert z. B. Hitler in seiner Denkschrift von 1936 auf die sich zuspitzende Bedrohung Deutschlands durch den Bolschewismus: Das Ausmaß einer solchen Katastrophe kann nicht abgesehen werden (AF: 205) und leitet daraus entsprechend unbedingte und so schnell wie möglich zu erfolgende Handlungskonsequenzen ab: Wenn es uns nicht gelingt, in kürzester Frist die deutsche Wehrmacht in der Ausbildung, in der Aufstellung der Formationen, in der Ausrüstung und vor allem auch in der geistigen

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Erziehung zur ersten Armee der Welt zu entwickeln, wird Deutschland verloren sein (AH: 205, Hervorhebung im Original).13

Auch Goebbels betont in seiner Denkschrift, dass sofort gehandelt werden muss: Wir müssen also heute handeln (JG: 308) oder Aus diesem Grunde halte ich es für notwendig, daß wir nicht mehr warten, sondern unverzüglich handeln (JG: 312). Dabei verweist er erneut auf Hitler selbst, der die einzige Person ist, die drohende Katastrophe abzuwenden: Sie, mein Führer, sind die einzige Bürgschaft des Sieges. Ohne Sie wären wir bestimmt verloren. Es bliebe uns dann nur noch ein ehrenvoller und heroischer Untergang (JG: 310).14

13 Dass es sich in diesem Fall um ein vornehmlich inszeniertes Krisenmoment bzw. Bedrohungsszenario handelt, wird durch die Aufarbeitung des Entstehungskontextes sowie der mit der Denkschrift verbundenen Ziele deutlich: In der Zeit der Abfassung und Veröffentlichung seines Textes befand sich Hitler in einer Phase äußeren wie inneren Triumphes (vgl. Kershaw 2013: 15): Innenpolitisch hatte er seine Macht nach fingierten Wahlen endgültig gefestigt und außenpolitisch konnte er große Erfolge für sich verbuchen, indem er z. B. »die volle deutsche Souveränität über das Rheinland wiederherstellte« (Kershaw 2013: 15). Hitler reagierte somit mit seinen Ausführungen nicht auf eine tatsächlich sich anbahnende außenpolitische Krise, sondern eine durch seine monokausal auf die Wiederaufrüstung und damit den Krieg bezogene problematisch gewordene Wirtschaftspolitik: »Im Spätsommer und Herbst warnte sowohl Schacht als auch der ehemalige Reichskommissar für Preisüberwachung, der Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler, immer lauter vor dem unvermeidlichen fiskalischen und monetären Ungleichgewicht« (Simms 2019: 410). Daher diente die Denkschrift vor allem der innerparteilichen Entmachtung Schachts (vgl. Treue 1955: 192 oder Simms 2019: 412/449). Hitler bedient sich eines suggerierten Bedrohungsszenarios, um eigene Vorstellungen begründen und durchsetzen zu können: Die umfassendere Wiederaufrüstung (zum Krieg) Nazi-Deutschlands sowie die Entmachtung derjenigen Personen bzw. Stellen, die diesem Ziel im Wege standen. Dass sein Text diesen Zwecken gewidmet war, zeigt auch die thematische Unausgewogenheit und Unklarheit seiner Ausführungen, die nur wenig konkret, relativ offen (vgl. Kershaw 2013: 56) sowie z. T. missverständlich waren (vgl. Treue 1955: 196). Sie waren lediglich ein Feigenblatt für seine eigentlichen Ziele: Die Aufrüstung »und zwar nicht zur Wiederherstellung irgendeiner Rüstungsgleichheit mit anderen Mächten, sondern zum Kriege« (Treue 1955: 203). 14 Im Unterschied zum situativen Kontext der Hitlerschen Denkschrift befand sich das ›Dritte Reich‹ 1944 in einer tatsächlichen Krise, hatte sich doch der Kriegsverlauf als letztlich katastrophal erwiesen (vgl. Longerich 1987: 296). Dies führte zu einer Reihe an Aktivitäten, die vor allem der Intensivierung der Kriegsanstrengungen sowie der Umorganisation des Herrschaftsapparates gewidmet waren (vgl. Longerich 1987: 289). Dass es Goebbels aber nur bedingt um eine Verbesserung der Lage Nazi-Deutschlands bzw. des deutschen Volkes ging, wird durch seine Ausführungen unmittelbar deutlich, in denen er nämlich seine kritische Situationsanalyse einer drohenden Katastrophe mit eigenen Macht- bzw. Karrierebestrebungen verbindet und sich explizit an Hitler mit der Aufforderung bzw. Bitte richtet, ihm umfassende Vollmachten zu verleihen: »Ich schlage also vor: Geben Sie, mein Führer, für jede zu lösende Aufgabe, die unschwer in einer gemeinsamen Besprechung bei Ihnen zu finden ist, einen Mann ihres [sic!] Vertrauens größte Vollmachten« (JG: 310).

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Denkschrift

Interessant ist, dass die vom NS-Apparat ausgehende inszenierte ›Krisenstimmung‹ als gesamtgesellschaftliche Konstruktion beschrieben werden kann bzw. auch die ›Volksgemeinschaft‹ erfasst und sich so in Texten der integrierten Gesellschaft wiederfindet: Auch dort wird, erneut seit Beginn des ›Dritten Reiches‹, davon gesprochen, dass die derzeitigen Verhältnisse […] unhaltbar sind und unmittelbar vor einer Katastrophe stehen (FN: 178) und es werden letzte Lösungen aufgezeigt, ohne die die Folge dieses Vergehens […] unabsehbar [sind] (RU: 312, Hervorhebung im Original). Das der Textsorte eigene Verständnis einer objektiven Situationsanalyse (vgl. Osterkamp 2003: 327) wird so bis zu einem gewissen Grad instrumentalisiert. Dies zeigt sich insbesondere bei der Inszenierung eines bolschewistischen Bedrohungsszenarios in den Ausführungen Hitlers. In den Texten der integrierten Gesellschaft haben die Krisenmomente hingegen größere Legitimität durch Faktizität. Zudem zeigt sich an den Texten der integrierten Gesellschaft die deutliche Tendenz, Krisen und Bedrohungen im Sinne nationalsozialistischer Ideologie zu definieren und zu problematisieren, wenn etwa Richard Ungewitter auf die bestehenden Probleme der ›Rassengesundheit‹ und ›-pflege‹ eingeht und so auf die NS-Rassenideologie Bezug nimmt.

2.3

Ich tue das hiermit und bitte den Führer: Selbsterklären und Bitten

Auf der Ebene der Textstruktur sowie der Vertextung zeigt sich die Komplexität der Textsorte: Charakteristische Handlungszüge umfassen das Explizit-Machen der Struktur, das sich sowohl anhand von Zwischenunterschriften, Einteilungen (anhand von Buchstaben oder Zahlen) als auch direkten Hinweisen auf den Textverlauf vollzieht (vgl. Schellenberg 1992: 251). Der komplexen Themenentfaltung entsprechend kommt es zu Vermischungen verschiedener Vertextungsmuster. Insbesondere sind deskriptive und argumentative Passagen anzutreffen. Auch explikativ vertextete Teile lassen sich ausmachen (vgl. Schellenberg 1992: 254). Korrelierend mit der Funktion der Textsorte dominieren Handlungsmuster des Informierens und Steuerns. Erneut ist in den Analysetexten des NS-Apparates sowie der integrierten Gesellschaft eine Übernahme der charakteristischen strukturellen sowie Vertextungscharakteristika feststellbar. Insbesondere zahlreiche Strukturhinweise fallen ins Auge: So gliedern alle Textproduzenten ihre Ausführungen in mehrere Teile – dies geschieht entweder über Zwischenüberschriften oder Nummerierungen (I., II., III., …). Etwas seltener, aber dennoch erkennbar sind weitere Gliederungshinweise, wie Kursivierungen (vgl. JG), Unterstreichungen (vgl. AR I, II und III sowie RU) und Sperrungen (vgl. RU). In zwei Texten finden sich direkte Angaben, wie Das vorausgeschickt (JG: 386) sowie nachstehend (AR I: 2). In dieser

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Hinsicht dient die Strukturierung auch der Suggestion der Komplexität des Themas, das ausdifferenziert dargestellt werden muss. Dem umfassenden Strukturierungsgestus eines wissenschaftlichen Textes entsprechend (vgl. Sandig 1997: 30 oder Roelcke 2010: 96) erweist sich die Denkschrift Fritz Neumanns am komplexesten, verwendet dieser abseits eines Gliederungssystems doch Fußnoten und endet mit einem Literaturverzeichnis. Dies entspricht der Selbstinszenierung als kundigem Fachmann mit breitem Wissen über den zu beschreibenden Sachverhalt. Dass der Strukturierungsgrad der Ausführungen in einem engen Zusammenhang mit der Selbstdarstellung steht, trifft auf alle Exemplare zu. Dabei wird vornehmlich die Expertenrolle eingenommen. Damit einher geht die paratextuelle Strukturierung sowie innertextuelle Vertextung, die diesen Inszenierungsgestus unterstützt. Die textstrukturelle Gliederung ist zugleich Hinweis auf die unterschiedlichen, aufeinander folgenden Vertextungsmuster. Prototypisch ist eine Zweiteilung der Textsorte in einen deskriptiven sowie einen argumentativen oder explikativen Teil. Damit einher gehen charakteristische Handlungen: Zunächst wird dabei eine Situation oder ein Gegenstand dargestellt (und z. T. bewertet bzw. werden die Umstände kritisiert). Daraus ergeben sich Folgerungen, die in Handlungen des Aufforderns, Bittens und z. T. Warnens münden. Dieser groben Einteilung folgen auch die untersuchten Textsortenexemplare des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft. Prototypische Handlungsmuster sind dabei die des Konstatierens bzw. Darstellens, damit zusammenhängend des Erklärens und schließlich die des Aufforderns oder Bittens: So findet sich z. B. in der Denkschrift Hitlers ein darstellender erster Teil, in dem dieser zweckhaft theoretisierend (vgl. Treue 1955: 186) weltanschauliche Hintergründe präsentiert, die als Grundlage der im zweiten Teil folgenden Aufforderungshandlungen hinsichtlich der Umgestaltung der Wirtschaft dienen. Deutlich wird dabei das Ineinandergehen von Darstellung und Erklärung: Deutschland wird wie immer als Brennpunkt der abendländischen Welt gegenüber den bolschewistischen Angriffen anzusehen sein. Ich fasse dies nicht als eine erfreuliche Mission auf, sondern als eine leider durch unsere unglückliche Lage in Europa bedingte Erschwerung und Belastung unseres völkischen Lebens (AH: 204).

Nach diesen Ausführungen kommt Hitler schnell zum umfangreicheren zweiten Teil, in dem er seine Ziele definiert und zu ihrer Umsetzung auffordert: Die militärische Auswertung soll durch die neue Armee erfolgen. Das Ausmaß und das Tempo der militärischen Auswertung unserer Kräfte können nicht groß und nicht schnell genug gewählt werden (AH: 205, Hervorhebung im Original); In diesem Sinne ist die deutsche Brennstofferzeugung nunmehr im schnellsten Tempo vorwärtszutreiben und binnen 18 Monate zum restlosen Abschluss zu bringen (AH: 208);

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Denkschrift

Ich stelle damit folgende Aufgabe: I. Die deutsche Armee muß in 4 Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muß in 4 Jahren kriegsfähig sein (AH: 210).

Erklärungen dienen dabei nicht nur der genaueren Skizzierung der Situation, sondern werden vielfältig zur Selbsterklärung und -inszenierung eingesetzt;15 insbesondere von Goebbels, der in seinem Text unablässig auf sich selbst, seine Einstellungen und Motive Bezug nimmt, so dass seine Denkschrift schon fast zu einem Psychogramm wird: Ich habe während des ganzen Krieges, auch in seinen kritischsten Perioden, nie auch nur eine Sekunde an unserem endgültigen Erfolg gezweifelt. Ich bin von Natur aus ein zu gläubiger Mensch, als daß ich jemals an Ihrer Person oder an Ihrem geschichtlichen Werk irre werden könnt (JG: 305); Ich brauche kaum zu betonen, mein Führer, daß kein persönlicher Ehrgeiz mich zu diesen Zeilen treibt. Mich bewegt nur die Sorge um das Vaterland (JG: 311); Ich habe diese mit niemandem anders besprochen, sie entspringen meinem eigenen Nachdenken und meiner eigenen Besorgtheit über die gegenwärtige Situation (JG: 312).

Auch Rosenbergs Texte sind voller selbsterklärender Passagen: Es bleibt noch eine Menge Themen übrig, die ich beabsichtige, durch den Nachwuchs an der Universität Halle vorbereiten zu lassen (AR II: 4).

Damit einher gehen Rekurse auf ein Verpflichtungsmotiv, das zur Selbsterklärung hinzugefügt wird: So verweist erneut Goebbels darauf, dass er sich in dieser kritischen Entwicklungsphase des Krieges […] verpflichtet [fühlt], Ihnen noch einmal meine Gedanken zur totalen Ausschöpfung unserer nationalen Kräfte […] zu unterbreiten (JG: 307).

Ein solcher Verpflichtungsgestus findet sich auch in Texten der integrierten Gesellschaft und kann mit weiteren selbsterklärenden Positionierungsbewegungen zusammengehen, wie bei Ungewitter, der es als alter überzeugter Nationalsozialist (RU: 306) für meine unbedingte Pflicht (RU: 306, Hervorhebung im Original) hält, den massgebenden Stellen reinen Wein einzuschenken (RU: 306). Zwar finden sich auch selbsterklärende Sprachhandlungen in den Texten der integrierten Gesellschaft – Gegen Empfehlung dieser Therapie muss ich Einspruch erheben (RU: 312) –, die Häufigkeit der Bezüge durch die Akteure des NSApparates wird allerdings nicht erreicht.

15 Eine weitere Form des Erklärens findet sich dergestalt, dass der Textproduzent zuvor Gesagtes durch genauere Konkretisierung erklärt; so z. B. in der Denkschrift Heinrich Himmlers: Ich will damit sagen, daß wir nicht nur das größte Interesse daran haben, die Bevölkerung des Ostens nicht zu einen, sondern im Gegenteil in möglichst viele Teile und Splitter zu zergliedern (HH1: 196).

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Es zeigen sich somit akteursspezifischere Sprachhandlungen, selbsterklärend die Gründe der eigenen Ausführungen anzuführen. Dies mag mit der u. U. gefährlichen Position des Kritik-Übens am Machtapparat gegenüber Hitler zusammenhängen:16 Dem im Laufe der Jahre zunehmend misstrauischer werdenden Diktator, der gegenüber vermeintlichen Verschwörungen drakonisch reagierte, mussten eigene Motive offengelegt werden, um keine Gefährdung der eigenen Position (sowie des eigenen Machtstrebens) zu evozieren. Dies mag den z. T. unterwürfigen Ton, insbesondere Goebbels, erklären, der durch Angst sowie ideologisch-wahnhafte Verblendung gekennzeichnet war. Der Übergang zwischen einem deskriptiv-darstellenden und einem argumentativ- oder explikativ-auffordernden Teil ist auch innerhalb einzelner Abschnitte selbst aufzufinden und betrifft so nicht nur die makro- sondern auch mikrotextuelle Textorganisation. Dergestalt zeigt sich die enge Verbindung beider Aspekte z. B. in den Ausführungen Rosenbergs: Die nationalsozialistische Revolution hat das alte Schönheitsbild der Griechen in germanischer Form wieder in seine alten Rechte eingesetzt, sowohl nach aussen, als auch nach den inneren Werten hin. Eine Geschichte der bildenden Kunst wird deshalb trotz schon bestehender guter Darstellungen doch auch zu einer unausweichlichen Notwendigkeit (AR III: 9, Hervorhebung im Original).

Im ersten Satz wird ein situativer Zusammenhang grob skizziert bzw. konstatierend dargestellt. Daraus wird in der unmittelbar nachfolgenden Äußerung eine Aufforderung als unausweichliche Notwendigkeit abgeleitet. Ein derart enges Beziehungsverhältnis zwischen Darstellung und Aufforderung findet sich auch in anderen Texten und kann als charakteristisch beschrieben werden. Ein wichtiger Unterschied liegt im Charakter der Aufforderungshandlungen: Während Hitler (und z. T. Goebbels17) fordert, zeigt sich bei anderen Akteuren des NS-Apparates, ebenso wie bei denen der integrierten Gesellschaft ein wesentlich indirekterer, bittender Gestus: Ich tue das hiermit und bitte den Führer […] mir doch in Berlin für die gesamten laufenden Arbeiten als Beauftragten des Führers zur Sicherung der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Dienstgebäude zu bewilligen (AR II: 7); Um dem verderblichen Einfluß jüdischer Lehrherren auf arische Lehrlinge Einhalt zu gebieten, wäre der Erlaß eines Gesetzes anzuregen (BG: 331);

16 Eine weitere Ursache ist in den Spezifika der Textsorte zu vermuten: Die Denkschrift kann als individualisierte Form der Textkommunikation beschrieben werden, durch die ein enges Beziehungsverhältnis zwischen Textproduzent*innen und -rezipient*innen hergestellt wird. Dieses Verhältnis evoziert u. U. ein komplexeres Adressierungsverhältnis, das sich auch in der rezeptionssteuernden Angabe von Gründen des Abfassens des Textes niederschlägt. 17 Vgl. Wenn Sie, mein Führer, befehlen, so werden die Ihren nicht nur Ihren Befehlen folgen, sondern sie auch befolgen. Aber geben Sie Ihnen Befehle! (JG: 314).

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Denkschrift

Hier wäre zu erwägen, den Juden den Besuch bestimmter Ausflugsorte durch eine auf ein Rahmengesetz gestützte polizeiliche Anordnung zu verbieten (BG: 334).

Erneut kann dies mit der machthierarchischen Position des ›Führers‹ erklärbar gemacht werden, der nahezu unerreichbar für Akteure der integrierten Gesellschaft und zugleich durchaus gefährlich für die des NS-Apparates war. Als weitere fakultative Elemente kommen schließlich Kritisieren und Warnen hinzu. So kritisiert z. B. Goebbels die Wehrmacht als auch die Verwaltung und trennt diese von der NS-Parteiorganisation, der er Vertrauen ausspricht: Ich habe unbegrenztes Vertrauen zur Partei. Mein Vertrauen zur Wehrmacht, insbesondere zu ihrer Generalität, ist allerdings schwer erschüttert. Die Wehrmacht ist unser großer Menschenverzehrer (JG: 307); Ich will nicht sprechen von dem Leerlauf, der in der Verwaltung selbst allüberall festzustellen ist (JG: 308).

Daran schließen sich direkte Warnungen an: So laufen wir Gefahr, auch durch neue Zuführungen von Männern an die Wehrmacht nichts Grundlegendes zu ändern. Wir schütten damit Wasser in ein Faß ohne Boden (JG: 307).

Interessanterweise finden sich umfassendere kritisierende oder warnende Passagen vor allem in Texten der integrierten Gesellschaft, die als ›freier‹ bzw. ›offener‹ kommunizierend beschrieben werden können, in ihrer Kritik allerdings auch nicht den internen NS-Machtapparat angreifen und sich daher u. U. ungefährdeter äußern: So wird z. B. vor den scheinbar problematischen Folgen mangelnder Rassenpflege gewarnt: Ich warne deshalb die Regierung und alle massgebenden Stellen [auf] das eindringlichste (RU: 313, Hervorhebung im Original). Im selben Text finden sich vielfältige kritisierende Sprachhandlungen, wenn etwa darauf verwiesen wird, dass die befragten Schulmediziner […] nicht die Wahrheit berichtet [haben] (RU: 306). Auch Neumann kritisiert umfänglich die unzureichende (FN: 172) Propaganda sowie eine nicht zu rechtfertigende Unterlassungssünde der lokalen Wirtschaft (FN: 180) und leitet aus dieser Kritik eine Warnung ab, dass die derzeitigen Verhältnisse im Nordseebad Westerland unhaltbar sind und unmittelbar vor einer Katastrophe stehen (FN: 178). So lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten der Vertextung als auch spezifische Unterschiede zwischen NS-Apparat und integrierter Gesellschaft ausmachen: Gemeinsam ist der Rekurs auf die textsortenkonstitutive Zweiteilung in einen darstellenden sowie erklärenden und einen auffordernden bzw. bittenden Teil. Unterschiede finden sich sowohl hinsichtlich der Verwendung fakultativer Elemente, wobei Warnungen und Kritik vor allem in den Texten der integrierten Gesellschaft zu finden sind, als auch des Umfanges, den die verschiedenen Teile im Rahmen der jeweiligen Denkschrift einnehmen. Es ist auffällig, dass in den

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Texten der integrierten Gesellschaft wesentlich mehr dargestellt und erklärt, denn gefordert wird. Umfassender – und im Inszenierungsgestus des fachlich kompetenten Experten – werden die Bedingungen und Umstände der problematisierten Situation differenziert herausgearbeitet. Im Gegensatz dazu stehen die z. T. nur kursorischen darstellenden Hinweise in den Texten der Akteure des NS-Apparates (z. B. Hitlers), die von Aufforderungen oder Bitten oft um ein Vielfaches übertroffen werden. Auch dies mag mit der Position der Akteure zusammenhängen, die als Teil der integrierten Gesellschaft umfassender darstellen sowie argumentieren mussten, um welches Problem es sich handelt und sich in ihrer Rolle als Fachmann zu legitimieren hatten, als die näher am Machtzentrum stehenden Akteure des NS-Apparates.

2.4

Unsere politische Lage: ›Volksgemeinschaft‹ als Kollektiv

Nach von Polenz (2020: 170) drückt sich sprachlicher Totalitarismus durch eine »Erzeugung von Konformismus« (Hervorhebung im Original) aus, der sich vor allem in einem »Wir- und Unser-Stil« (Hervorhebung im Original) widerspiegelt, »mit dem der Redner dem Hörer eine undiskutierte und undiskutable Gemeinsamkeit suggeriert«. Diese Perspektivierung lässt sich anhand der Denkschriften des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft sowohl bestätigen als auch ausdifferenzieren. Dabei kann für erstere Akteure die Beobachtung festgehalten werden, dass Machtnähe eine spezifische Verwendung von Personalund Possessivpronomina im Sinne der Selbstverortung bzw. Positionierung hervorruft. So ist auffällig, dass Hitler zwar auf z. B. [u]nsere politische Lage (AH: 204) im Rahmen der Situationsbeschreibung verweist, bei sich aus diesen Beschreibungen ergebenden Handlungsanweisungen allerdings den konformistischen Wir-Stil z. T. verlässt, um sich als handlungsauslösendes Subjekt in den Mittelpunkt zu stellen: An die Spitze möchte ich stellen … (AH: 205); Ich halte es für notwendig, daß nunmehr mit eiserner Entschlossenheit auf all den Gebieten eine 100 %ige Selbstversorgung eintritt (AH: 209).

Zugleich wird der Wir-Stil aber nicht völlig aufgegeben, da die Aufforderungen wiederum unserem Volk zukommen sollen: Ähnlich der militärischen und politischen Aufrüstung bezw. Mobilmachung unseres Volkes hat auch eine wirtschaftliche zu erfolgen und zwar im selben Tempo, mit der gleichen Entschlossenheit und wenn nötig auch mit der gleichen Rücksichtslosigkeit (AH: 208).

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Denkschrift

In dieser Hinsicht lässt sich eine strategische Ausdifferenzierung beobachten, innerhalb derer die gemeinsame Wir-Gegenwart beschrieben und Wir-Zukunft entworfen wird, letztere sich aber nur verwirklichen lässt durch die Handlungsvorschläge bzw. -aufforderungen des Ich-Akteurs. Bei anderen Akteuren des NS-Apparates findet sich diese Trennung nicht ganz so deutlich. So spricht z. B. Himmler im Kontext von Handlungsanweisungen bzw. nun eher -vorschlägen davon, dass wir darauf sehen [müssen], soviel wie möglich einzelne Völkerschaften anzuerkennen (HH1: 196) und rekurriert nur auf die eigene Person, wenn er seine Ausführungen (und damit sich selbst) zu erklären sucht: Ich will damit sagen, dass […] (HH1: 196); Schon in ganz wenigen Jahren – ich stelle mir vor, in 4 bis 5 Jahren (HH1: 197); Als gefühls- und verstandesmäßig selbstverständlich erachte ich es […] (HH1: 198).

Während sich ein entsprechender Wir-Stil bei Situationsbeschreibungen auch in anderen Denkschriften von Akteuren des NS-Apparates findet,18 setzt sich die deagentive Selbstinszenierung in den Texten Rosenbergs weiter fort: Forschungen müssten deshalb von vornherein zielbewusst auf diese Abfassung einer deutschen Geschichte ausgerichtet werden (AR I: 8).

Bezüge zur eigenen Person finden sich bei seinen Texten – ähnlich wie bei Himmler – in einem erklärend-positionierenden Sinne. So spricht er etwa gehäuft von meiner Dienststelle (AR I: 2) oder meiner Leitung (AR III: 6), formuliert aber Handlungsvorschläge (die der Karriereförderung dienen) passivisch: Es wäre also zu überlegen, ob hier nicht unter meinem Vorsitz ein »Zweckverband Hohe Schule« gegründet werden könnte (AR II: 9).

Auch Goebbels Denkschrift folgt diesem Schema: Wir-Stil bei (gegenwärtigen wie zukünftigen) Situationsbeschreibungen (bzw. -entwürfen) sowie Ich-Konstruktionen bei selbsterklärenden Passagen (die in Goebbels’ Text einen großen Raum einnehmen; siehe dazu auch weiter oben). Interessanterweise – und dies mag mit Goebbels’ Nähe zum unmittelbaren Machtzentrum zusammenhängen – formuliert Goebbels Handlungsvorschläge (nun wieder als -aufforderungen) aktivisch und z. T. mit Ich-Bezug: Ich schlage also vor: Geben Sie, mein Führer, für jede zu lösende Aufgabe, die unschwer in einer gemeinsamen Besprechung bei Ihnen zu finden ist, einem Mann ihres [sic!] Vertrauens größte Vollmachten (JG: 310).

18 Vgl. etwa Die letzten Wochen haben bewiesen, daß unsere Fronten an den kritischen Punkten menschen- und materialmäßig zu dünn besetzt sind (JG: 306).

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Zusammenfassend lässt sich für die Akteure des NS-Apparates sagen, dass ein kollektiver Wir-Stil meist den situationsbeschreibenden Passagen zukommt, während Ich-Konstruktionen der Selbsterklärung vorenthalten sind. Handlungsaufforderungen sind zumeist passivisch und deagentiv gehalten – als Ausnahmen sind Hitler und Goebbels anzuführen, was wohl mit ihren machthierarchischen Positionen im NS-Diskurs zusammenhängt. Bei den Akteuren der integrierten Gesellschaft sind Bezüge auf die eigene Person, wenn, dann nur in einem selbsterklärenden Sinne anzutreffen und beziehen sich vor allem auf Inszenierungen als entsprechende Fachmänner für das Thema. In dieser Form finden sich diese Bezüge allerdings nur in der Denkschrift Richard Ungewitters:19 Die immer weiter zunehmende Vergiftung des deutschen Volkes […] zwingt mich meinen Denkschriften […] diese heute grundsätzliche Denkschrift folgen zu lassen, in der ich nicht nur den Nachweis der Zerstörung der Erbgesundheit erbringe, sondern auch den einzigen Weg zur endgültigen Errettung des deutschen Volkes zeigen werde (RU: 306, Hervorhebungen im Original).

In dieser Apodiktik und Selbstbezüglichkeit ähnelt der Text den Ausführungen der nationalsozialistischen Funktions-Elite. Dies kann allerdings nicht im selben Sinne machtdiskursiv erklärt werden, so dass ein aus der Inszenierung der sozialen Rolle (als Mediziner und damit Fachmann) erwachsendes Selbstbewusstsein bzw. Selbstverständnis angenommen wird.20 Gleichzeitig finden sich ebenso Spuren des Wir-Stils, was ein weiteres Mal die alltägliche Durchdringung der nationalsozialistischen Ideologie nahelegt, die sich auf sprachlicher bzw. Sprachmusterebene ausmachen lassen: Bezüge zu einem kollektiven Wir finden sich z. B. hinsichtlich »unsere[r] Partei« (FN: 171). Handlungsaufforderungen bzw. -vorschläge werden schließlich erneut – dies erhärtet den Zusammenhang von Versprachlichung und machthierarchischer Position – eher passivisch formuliert: Um die katastrophale Wirtschaftslage […] in ihrer Ursache zu erkennen, muß die Entwicklung der Seebäder einer Betrachtung unterzogen werden (FN: 173).

19 So formuliert z. B. Fritz Neumann durchgehend – und damit u. U. einen wissenschaftlichen Stil antizipierend – deagentivisch und passivisch. Vgl. Vorliegende Denkschrift wurde durch den Unterzeichneten angesichts der großen volksgesundheitlichen Bedeutung ihres Inhalts und der Bedeutung für die Stellung bzw. Gestaltung der Seebäder im Wirtschaftsaufbau des Dritten Reiches überreicht (FN: 182). 20 Diese Interpretation korreliert mit der vorgenommenen selbstbewussten Adressierung Hitlers: Ich bin überzeugt, wenn Adolf Hitler diese Denkschrift in die Hände bekäme, so würde er unverzüglich die nötigen Massnahmen zur revolutionären Beseitigung der schmachvollen Umstände ergreifen (RU: 318).

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Denkschrift

So zeigen sich also für die Texte des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft durchaus Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Verwendung von Wir- und Ich-Bezügen, z. B. hinsichtlich der auf die ›Volksgemeinschaft‹ als Kollektiv ausgerichteten Situationsbestimmung. Unterschiede sind vor allem mit machtdiskursiven Verortungen und Selbstverständnissen hinsichtlich der eingenommenen sowie inszenierten sozialen Rollen zu erklären.

2.5

Mit eiserner Hand durchgreifen: Fachmännische und ideologische Inszenierungsstrategien

Gemäß dem schon angesprochenen Inszenierungsgestus als kompetente Fachmänner zeichnen sich die Texte durch einen thematisch sowie situativ passenden Fachwortgebrauch aus. Dies trifft sowohl auf den NS-Apparat als auch die integrierte Gesellschaft zu: So inszeniert sich z. B. Hitler in für ihn charakteristischer Form als Mischung zwischen politischem Ideologen und militärischem Führer und greift diesbezüglich auch auf einen entsprechenden Wortschatz zurück: Politik ist die Führung und der Ablauf des geschichtlichen Lebenskampfes der Völker. Das Ziel dieser Kämpfe ist die Behauptung des Daseins (AH: 204) (=politischer Ideologe); Der Krieg ermöglicht die Mobilisierung auch der letzten Metallvorräte (AH: 207) (=militärischer Führer).

Auch Alfred Rosenberg konstituiert sich in der für ihn charakteristischen Rolle als ›Hüter‹ und Fachmann der nationalsozialistischen Ideologie: Die Verästelung der gesamten Schulung und Erziehung der NSDAP […] hat es notwendig gemacht, dass zum Zweck der Sicherung der Einheit der nationalsozialistischen Weltanschauung durch einheitliche Herstellung und Zusammenfassung der Lehrmittel und Lehrstoffe sowohl als durch die Ausbildung der verantwortlichen Lehrer und Erzieher eine Hohe Schule der NSDAP gegründet wird (AR I: 2); Die Weltgeschichte, richtiger gesagt, die Geschichte der verschiedenen Rassen und Völker, wird heute grossräumiger gesehen als früher (AR III: 3).

Ein Inszenierungsgestus als Fachmann findet sich auch in den Texten der integrierten Gesellschaft, wenn Neumann die wissenschaftlichen Grundlagen der Wirkung der Kur in einem Seebad (FN: 178) darstellt und dabei Hauptfaktoren in der mechanischen Wirkung durch die Wellen und durch […] [die] Wärmeentziehung bei geeigneter Anwendung und Dosierung (FN: 178) sowie der chemischresolutorischen Wirkung der Seebäder als Mineralbad durch Absorption des im Meereswasser vorhandenen physiologisch günstigsten Salzgemisches (FN: 178)

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sieht. Auch Ungewitter inszeniert sich als medizinischer Fachmann, wenn er mit entsprechendem Fachwortschatz darauf verweist, dass Gift unter allen Umständen Giftwirkung hervorruft, weil es eine Giftfestigkeit nicht gibt, da eine Gewöhnung an Gifte doch nur einer Lähmung der Reaktionskraft gleichkommt (RU: 306).

Bei ihm ist zudem die stärkste ideologisierte Durchdringung des Fachwortschatzes feststellbar, rekurriert er doch umfassend auf durch die nationalsozialistische Ideologie beeinflusste Ausdrücke wie Rassekraft (RU: 306), artfremd (RU: 311) bzw. Artfremdes Eiweiss (RU: 311, Hervorhebung im Original), anhand derer die »Darstellung politisch-gesellschaftlicher Verhältnisse und Vorgänge« durch die Verwendung einer »biologisch-pathologische[n] Metaphorik« (von Polenz 2020: 171) ersetzt wird. Dieses »diffamierende[…] Stilmittel« (von Polenz 2020: 171) wird durch typische Stereotypisierungen begleitet, wie z. B. den Juden als Urfeind (RU: 311) darzustellen oder auf eine jüdisch-römische Moral (RU: 314) Bezug zu nehmen. Diese Beobachtungen lassen sich verallgemeinern und Spuren nationalsozialistischen Ideologievokabulars finden sich in nahezu allen Texten des NSApparates und der integrierten Gesellschaft: Dies entspricht der »Bevorzugung des Worte-Sprechens auf Kosten des Sätze-Sprechens […]. Diese Art von Vokabelmusik […] wandte sich mehr an das Gefühl als an den Verstand« (von Polenz 2020: 173, Hervorhebungen im Original) und entspricht der »zynischvirtuosen Mischung aus Schlag- und Fangwörtern« (von Polenz 2020: 167) nationalsozialistischer Akteure: So wird von der nationalen Revolution (FN: 171) und dem Führerprinzip (FN: 172) ebenso gesprochen wie von Verjudung (BG: 329), Rassekämpfen (AR II: 4), Rassenkunde (AR I: 4/5 sowie AR III: 6), rassisch Tadellosen (HH1: 197), blutlich Wertvollen und Nichtwertvollen (HH1: 197) einem Untermenschenvolk (HH1: 197) bzw. einer minderwertigen Bevölkerung (HH1: 198) und der Judenfrage (AR I: 6). Deutlich wird der vielgestaltige Rekurs auf das Konzept Rasse, es finden sich aber auch andere von der Forschung herausgearbeiteten Versprachlichungen z. B. militaristischer Couleur (vgl. Maas 1984: 85), wenn Hitler die für ihn nahezu prototypischen Rekurse auf Rücksichtslosigkeit (AH: 208) und eiserne Entschlossenheit (AH: 209) vornimmt, die sich auch bei Goebbels finden, z. B., wenn dieser fordert, mit eiserner Hand durch[zu]greifen (JG: 308). Schließlich lassen sich vereinzelte Verbindungen zwischen Ideologievokabular und einem religiösen Funktionalstil (vgl. dazu von Polenz 2020: 172) ausmachen: Diese Zusammenhänge zeigen mit aller Deutlichkeit, wie im Dritten Reiche heute noch gegen die Erbgesundheits- und Rassenpflege von der gesamten Schulmedizin gesündigt wird (RU: 316, Hervorhebung im Original).

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Denkschrift

Deutlich wird daran vor allem die ideologische Durchdringung des Schreibens der Akteure sowohl des NS-Apparates als auch der integrierten Gesellschaft. Erstere beziehen sich notwendigerweise auf diese sprachlichen Ideologieelemente, können sie doch vielfach als Verantwortliche für das Einspeisen dieser spezifischen Versprachlichungen in die entsprechenden Diskurse identifiziert werden. Dass auch letztere darauf Bezug nehmen, zeigt eindringlich die ›Veralltäglichung‹ dieser Ideologieelemente sowie den Willen der Akteure, sich dieser anzunehmen. In dieser Hinsicht wird in den Texten die Eigenlogik des nationalsozialistischen Systems aufgegriffen und übernommen, sowohl die analysierten Sachverhalte als auch die daraus abgeleiteten Handlungsvorschläge bewegen sich innerhalb des diskursiven Rahmens des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Dies wird in den Texten z. T. unmittelbar explizit gemacht, wenn etwa Neumann darauf verweist, dass die bestehenden Zustände aber keineswegs nationalsozialistischer Regierungsauffassung entsprechen (FN: 172). So zeigt sich, dass die Textproduzenten unmittelbar in den akzeptierten Grenzen der NS-Herrschaft bzw. des NS-Systems agieren.

3

Denkschriften der Ausgeschlossenen

3.1

Ehe wir auf die derzeitige Lage der deutschen Judenheit eingehen: Reflexionen zur Selbstverortung und Selbstpositionierung

Die Denkschrift der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums (OJ) nimmt eine interessante Zwischenstellung im Rahmen des verwendeten Denkschriftenkorpus’ ein: Sie kann nicht den Texten des Widerstands zugerechnet werden, da die Textproduzenten den Ausschluss aus dem herrschenden NS-Diskurs nicht akzeptiert haben, diesen auch nicht z. B. in Form von kommunizierter Opposition zu einem Teil ihres Selbstverständnisses machen und sich stattdessen als Teil der nationalsozialistischen ›Volksgemeinschaft‹ sehen. Sie kann aber ebenso wenig den Texten der integrierten Gesellschaft zugerechnet werden, da ihre Autoren – trotz anderweitiger Selbstverortungen und -positionierungen – keine diskursive Position bzw. selbstbestimmte Rolle innerhalb des NS-Diskurses hatten. In Nazideutschland »war für Juden kein Platz, ihr Leben im Deutschen Reich […] war von Beginn an von sozialer Ausgrenzung und zunehmender Rechtlosigkeit […] geprägt« (Löw 2012: 48). Ihr Ausschluss vollzog sich. Eine Möglichkeit der Zurücknahme oder Rückkehr konnte es nicht geben (vgl. dazu auch Lyotard 1987: 179–182). Dergestalt ist der Text grundsätzlich im Spannungsfeld von Ähnlichkeiten (3.1) aber auch Unterschieden (3.2) zu den Denkschriften der integrierten Gesellschaft geprägt: Zunächst zeigen sich – dies ist auch den konstitutiven Cha-

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rakteristika der Textsorte geschuldet – Ähnlichkeiten, was sowohl die Selbstbezeichnung als Denkschrift (OJ: 1) als auch die Strukturierung – in diesem Fall durch Sperrungen – angeht.21 Auch auf der Ebene der Sprachhandlungen lassen sich wiederkehrende Elemente ausmachen. Dies betrifft die Aspekte der Selbsterklärung22 und des damit einhergehenden Verpflichtungsgestus, die sich umfassend ausmachen lassen: Die unterzeichneten orthodox-jüdischen Organisationen […] halten sich für verpflichtet, Ihnen Herr Reichskanzler, offen und ehrlich ihre Einstellung zu der deutschen Judenfrage vorzutragen (OJ: 2); Hieraus leiten wir unsere Pflicht ab, unsere Stimme zu erheben, sowie unsere Hoffnung, daß unsere Stimme gehört wird (OJ: 2).

Deutlich wird das selbstbewusste Auftreten der Produzenten, die sich für verpflichtet halten bzw. es als unsere Pflicht verstehen, die eigene Stimme zu erheben, um gehört zu werden. Die verwendeten Personalpronomina machen das Zerrissen-Sein jüdisch Ausgeschlossener während der ersten Tage der Hitlerdiktatur deutlich (vgl. dazu auch Roth 2015: 14–15): Auch, wenn die Verweigerung von Deutsch-Sein bzw. nationaler Identität durch die Akteure des NS nicht akzeptiert wird, zeigen sich Prozesse der (Selbst-)Abgrenzung: Dergestalt sprechen zwar auch die Autoren der Denkschrift aus einer Kollektivperspektive und verwenden Wir und Uns in einem identitätsstiftenden Sinne. Die Verwendung grenzt sich aber durchaus von der der Akteure des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft ab und hebt den Aspekt jüdischer Identität hervor, auf den die Ausgeschlossenen während des ›Dritten Reiches‹ nahezu sofort und ausschließlich reduziert wurden und der an diesen Stellen auch als Form positiver Selbstbestimmung interpretiert werden kann:23 Ehe wir auf die derzeitige Lage der deutschen Judenheit eingehen, sei, so sehr uns dies widerstrebt, doch darauf hingewiesen, wie gewaltig in den schweren Zeiten des Welt-

21 Zugleich – aber dies wurde im Rahmen der Denkschriften der integrierten Gesellschaft und des NS-Apparates schon herausgearbeitet – finden sich Varianten, sowohl hinsichtlich der Textsortenbezeichnung – hier als Darlegung (OJ: 8) – als auch in Bezug auf die Adressierung Hitlers, der in diesem Fall nicht als Führer, sondern als Reichskanzler angesprochen wird: Sie, Herr Reichskanzler (OJ: 7). 22 Vgl. Gerade, weil wir aber die Schäden der Zersetzung mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln längst vor Ausbruch der nationalen Revolution bekämpft haben, sind wir zu der Frage berechtigt (OJ: 2). 23 In dieser Hinsicht ist es ebenso auffällig wie naheliegend, dass innerhalb der Denkschrift kaum Spuren von NS-Ideologievokabular anzutreffen sind (es finden sich aber z. B. Hinweise auf das Konzept der nationalen Revolution; vgl. OJ: 2). Dies hängt auch unmittelbar mit dem Ziel des Textes zusammen, falschen Vorstellungen über das deutsche Judentum kritisch zu begegnen (vgl. OJ: 7) und Wege für ein friedlicheres Miteinander vorzuschlagen.

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Denkschrift

krieges das jüdische Blutopfer, wie es verhältnismäßig ebenso groß wie das der übrigen Deutschen war (OJ: 5).

An diesen Stellen zeigen sich Grenzen der kommunikativen Inszenierung bzw. Positionierung als Teil der ›Volksgemeinschaft‹. Grenzen, die anhand konstitutiver Unterschiede zu den Denkschriften der integrierten Gesellschaft noch deutlicher gemacht werden können.

3.2

Uns allen die Wahrheit zu sagen liegt in Ihrem und im Interesse des ganzen deutschen Volkes: Abgrenzungen durch Aufforderungen

Zwei konstitutive Aspekte sind im Rahmen der verwendeten Sprachhandlungen bzw. Sprachhandlungsmuster feststellbar und zeigen den kritischen Impetus der Denkschrift auf: Zunächst finden sich zwar erneut Thematisierungen von Krisensituationen – aber diese werden im Unterschied zu den Denkschriften sowohl des NS-Apparates als auch der integrierten Gesellschaft als vom NS-System ausgehend identifiziert und so findet sich der Aspekt der Selbstverschuldung krisenhafter Umstände unmittelbar hervorgehoben: Diese Frage [=der Behandlung der jüdischen Bevölkerungsteile] ist durch die nationale Revolution und durch die Maßnahmen ihrer Regierung so brennend geworden, daß sie in irgend einer Form gelöst werden muß, wenn nicht die deutsche Judenheit und letzten Endes auch Deutschland selber schwersten Schaden erleiden soll (OJ: 2).

Die Maßnahmen ihrer bzw. der Hitlerregierung sind als Ursachen der gesellschaftlichen Spannungen identifiziert und die Verantwortung sowohl für die Krise als auch die Entwicklung von Lösungen wird an die Verursacher zurückgegeben, um weiteren schwersten Schaden (für den ebenfalls das NS-Regime verantwortlich zu machen wäre) abzuwenden. Dieser selbstbewusste Impetus findet sich ebenfalls in Bezug auf die Adressierung Hitlers: Während die Produzenten der integrierten Gesellschaft aber auch des NS-Apparates zu Bittstellern vor Hitler verkommen, finden sich im Gegensatz dazu in der Denkschrift der Ausgeschlossenen auffordernde Handlungen: Uns allen die Wahrheit zu sagen, liegt in Ihrem und im Interesse des ganzen deutschen Volkes (OJ: 7); Wenn aber die deutsche nationale Regierung nicht die Vernichtung der Kräfte des deutschen Judentums will […], dann möge auch dies sie uns offen sagen (OJ: 8).

Deutlich zeigt sich so das Spannungsverhältnis der Denkschrift ausgeschlossener Akteure, die sich einerseits noch als der deutschen Gesellschaft zugehörig verstehen und aus diesem Impetus zur Textsorte Denkschrift greifen, um gemäß ihrer Funktionen Missstände festzustellen und Veränderungen anzuregen. An-

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dererseits führten die unmittelbar nach der ›Machtergreifung‹ einsetzenden Exklusionsprozesse automatisch zu einem Anders-Sein und setzten entsprechende Ab- wie Ausgrenzungsbewegungen in Kraft. Diesen konnten sich auch die Produzenten nicht entziehen, die dagegen ankämpfend selbstbewusst auf die eigene jüdische Identität verwiesen und darüber hinaus durch Sprachhandlungen des Kritisierens und des Aufforderns ihren Positionierungen Gewicht verliehen.

4

Denkschriften des Widerstands

4.1

Lautere, sachkundige Männer: Selbstautorisierungen

Zu den konstitutiven Textsortenmerkmalen einer Denkschrift gehört die Kenntlichmachung einer Expertenrolle (siehe auch Abschnitt 2.5). Diese typischen »Autorhinweise« (Hausendorf et al. 2017: 230) werden in Denkschriften des Widerstands vor allem zur Selbstautorisierung genutzt.24 So wird ein Selbst erzeugt, das befähigt ist, Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung des Nationalsozialismus zu üben und in einer als anders gedachten Gesellschaftsordnung eine führende Rolle zu beanspruchen. Für die hier betrachteten Denkschriften ist charakteristisch, dass die Verfasser*innen (mit Ausnahme Braunes) sich nicht namentlich identifizieren, sondern besonders wir, seltener ich oder man nutzen (siehe dazu auch Abschnitt 2.4). Wir umfasst dabei diejenigen, die einem Widerstandsnetzwerk zugerechnet werden und inkludiert i. d. R. nicht ein größeres Kollektiv, wie etwa die deutsche Bevölkerung – dies gilt, sofern davon die Rede ist, auch von der Formel unser Volk, mit der zumeist eine der Eigengruppe fremde Gruppe begriffen wird. Selbstautorisierungen und der jeweilige Anspruch auf eine wie auch immer geartete Führungsrolle sind eng damit verbunden, wie man sich zu diesem ›Volk‹ in Beziehung setzt. In der Denkschrift »Das Ziel« wird angegeben: Höchstziel ist, alle Deutschen in einem Staate zusammenzufassen, der ihnen Freiheit im Innern, Sicherheit nach außen und die Möglichkeit der Erarbeitung höchstmöglichen materiellen Wohlstands und seelischen Glücks verbürgt (G1: 217).

24 Von Selbstautorisierung soll dezidiert dann gesprochen werden, wenn eine Gruppe bzw. Person ihre Rolle sprachlich anders gestaltet, als es die Inklusionsangebote bzw. -erfordernisse der NS-Gesellschaft nahelegen. Dabei kann sich die Selbstautorisierung auch aus einem spezifischen milieugebundenen Habitus speisen und auf Traditionsanschlüsse (etwa an politische Traditionen) verweisen.

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Denkschrift

Das Schreiben über Deutsche und das Volk, mit dem etwas getan wird, ist charakteristisch für diese und andere Denkschriften Goerdelers. Sein Rollenverständnis wird an Folgendem deutlich: Welche Aufgabe müssen wir lösen, um jenem Ziel näher zu kommen? Die Antwort müssen wir aus der Welt der Erfahrung suchen. Uns stehen zur Verfügung die Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben, die uns überlieferten Erfahrungen unserer Vorväter und die Erfahrungen anderer Völker. Bei der Sammlung und Bewertung dieser Erfahrungen unterliegen wir selbstverständlich der Gefahr eines ungewollten Intellektualismus. (G1: 217); Wir hatten in unserem Leben genügend Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln. Wir haben uns seit 1919 mit allen Parteien herumgeschlagen; wir wissen daher auch, welche gefährlichen und welche nützlichen Kräfte in ihnen schlummern; wir wissen, daß es möglich ist, mit ihnen selbst unter den schwierigsten Umständen fertig zu werden (G2: 152).

Mit wir/uns ist der nach Regierungsübernahme strebende Kreis um Goerdeler gemeint. Für das Amt qualifizieren sie eigene und fremde Erfahrungen. Die Qualifizierung durch Erfahrung und erworbenes Wissen durchzieht alle Denkschriften, die ab 1941 von Goerdeler (mit)verantwortet werden. Die wiederholte Selbstkategorisierung als erfahrener Mann ist abgrenzend und damit als Positionierung gegenüber denjenigen zu verstehen, die etwas ohne Erfahrung ›intellektualistisch‹ zu durchdringen versuchen. Die Denkschriften dienen dergestalt dazu, das aus Erfahrung resultierende Wissen zusammenzustellen und es als ein objektiv gegebenes festzuhalten. Das Erfahrungen-Haben (oder das genaue Gegenteil davon) ist somit ein zentraler Bewertungsmaßstab für politisches Handeln. In den Schriften des Kreisauer Kreises (K1, 2; Gru1) bezieht sich das wir/unser zudem fast ausschließlich auf den Kreis der jeweils über die Erneuerung Deutschlands Beratenden, die eine gemeinsame Wissensbasis besitzen: Unser außenpolitisches Gespräch um die letzte Jahrhundertwende brachte gewisse Ergebnisse, die als bekannt vorausgesetzt werden (K1: 240).

Auch Moltke ordnet sich einem wir zu, dass sich auf seine Gesprächspartner bezieht, streicht jedoch die Subjektivität seiner Überlegungen wiederholt heraus: in groben Zügen ein Bild der Ausgangslage zu geben, so wie sie sich mir darstellt (K3: 507), Das Ziel ist unscharf, wie ich gern zugebe, und ich werde für jede Verbesserung dankbar sein (K3: 509) oder Die Ziele, die wir anstreben, erscheinen mir ganz eindeutig (K3: 509). Eine spezifische, rekurrente Eigenschaftszuweisung wie erfahren ist in den betrachteten Denkschriften nicht zu erkennen, vielmehr sind es Kontakte ins Ausland, die wiederholt erwähnt werden:

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Die innere Festigung und äußere Sicherung der Person bildet in gleicher Weise das innere Ziel von Reform und Wiederherstellung in den Gedankenkreisen, die uns drüben und in den dort beeinflussten besetzen Gebieten nahestehen (K1: 244; Herv. d. Verf.); Daß dieses Streben weder in den verbrauchten Formen eines individualistischen Liberalismus noch eines kollektivistischen Sozialismus, die beide den Erschütterungen des letzten Jahrzehnts nicht standzuhalten vermochten, Genüge finden kann, scheint hüben und drüben gleicherweise außer Zweifel zu stehen (K1: 244; Herv. d. Verf.).

Mit drüben sind in diesem Fall persönliche Kontakte nach England, mit besetzten Gebieten ist v. a. Norwegen gemeint. Sie ordnen sich in ein internationales Denkkollektiv ein, das sich mit den Existenzbedingungen des modernen Menschen (K1: 244) beschäftigt. Mit der epistemischen Markierung scheint außer Zweifel zu stehen wird die Behauptung, man teile gemeinsame Grundannahmen, nur geringfügig relativiert. Sie begreifen sich auch deshalb als deutsche Vertrauensträger (K1: 245), die als gleichberechtigte zukünftige Gesprächspartner in Friedensgesprächen auftreten könnten: In der prekären Lage, […], muß es klar bleiben und mit allen Kräften zum Ausdruck gebracht werden, daß Deutschland die Wendung zu einer echten europäischen Befriedigungspolitik aus innerem Entschluß und tatsächlicher Abkehr von der gegenwärtigen Gewaltpolitik vollzogen hat, daß es aber seinerseits bei Vergewaltigung dieses Erneuerungswillens von außen her unter allen Umständen zur Notwehr berechtigt und fähig bleibt (K1: 252; Herv. d. Verf.).

Diese Überlegungen zielen (weit) in die Zukunft, bei der Voraussetzungen schon eingetreten sein werden, die erst noch zu erzielen sind, so die tatsächliche Abkehr von der gegenwärtigen Gewaltpolitik, die wiederum Bedingung dafür ist, ein dem Erneuerungswillen zuwiderlaufendes, anderes Handeln der Gesprächspartner nicht zu akzeptieren. Von einem nicht zu spezifizierenden Zeitpunkt des Verhandlungsbeginns an geben sie sich die Selbstverpflichtung (muß), ihre Positionen unmissverständlich (klar) und vereint zu formulieren. Sie profilieren sich hinsichtlich der Voraussetzungen und Bedingungen der Inhalte und der Kommunikationsmodi als Beteiligte an einem internationalen Gespräch, bei denen im Auge zu behalten sei: Das tiefverwurzelte Mißtrauen der Welt gegenüber der deutschen Unfähigkeit, sich aus dem Bann von Militarismus und Gewaltherrschaft zu lösen (K3: 253).

Vergleicht man dies mit den Selbsterklärungen der NS-Denkschriften, die auf die Bestätigung Hitlers zielen, so steht im Goerdeler-Kreis die Legitimierung als politische Führungskraft in einem monarchistisch geführten Nationalstaat und beim Kreisauer Kreis die Selbstlegitimierung als internationaler Gesprächspartner im Vordergrund. Dies ist auch durch die Auffassung bedingt, dass das

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Denkschrift

Ende des Zweiten Weltkriegs auch das Ende von Nationalstaaten in Europa bringen wird. Die Denkschriften Brandts zielen ebenfalls auf das zukünftige Deutschland und die Rolle von Hitlergegnern (Br3: 154) in diesem Deutschland ab. Die Verfasser werden in dieser Schrift benannt: Ausgearbeitet wurde diese Schrift von einem Kreis früherer Funktionäre der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) in Schweden (Br3: 155; Br2: 88).

Auch die SAP begreift sich als Teil eines internationalen, weit umspannten Gesinnungskollektivs: geht es uns auch um die kameradschaftliche Diskussion und Verständigung mit den Sozialisten und Demokraten aus anderen Ländern (Br3: 154).

Auch hier ist es das internationale Netzwerk, das ihr Tun legitimiert und sie zu Ansprechpartner*innen im Friedensprozess macht. Sie sprechen für die innerdeutschen Kräfte, die ein freiheitliches, demokratisches sowie antinazistisches Deutschland wollen und autorisieren sich v. a. dadurch, dass sie sich schon am Ende der Weimarer Republik für eine sozialistische Einheitsfront eingesetzt hätten. Die Haltung ist der der Kreisauer recht ähnlich: Auch hier werden Bedingungen und Voraussetzungen des Gesprächs bestimmt und wird ebenfalls ein wahrscheinlicher Zustand (sehr wohl möglich) in Aussicht gestellt, gegenüber dem man sich mit einem epistemischen Ausdruck des Überzeugt-Seins positioniert: Es ist sehr wohl möglich, dass Deutschland von Seiten der Siegermächte unbillige Forderungen auferlegt werden. Wir sind keineswegs der Auffassung, dass eine provisorische demokratische Regierung ohne weiteres alle Papiere unterschreiben soll, die ihr vom Ausland vorgelegt werden (Br1: 167).

Schmitz hingegen schreibt dezidiert als evangelische Christin. Ihre Denkschrift zielt darauf, dass das Handeln von Christ*innen gegenüber der jüdischen Bevölkerung nicht mit christlichen Glaubensgrundsätzen übereinstimmt. Sie begreift sich als Teil der Bekennenden Kirche; das durchgängige wir ihres Textes ist daher inkludierend zu verstehen. Es umfasst teils die Mitglieder der Bekenntnissynode, teils die Bekennende und die evangelische Kirche, teils die gesamte Christenheit. Zugleich finden sich Distanzierungshandlungen von Teilen der Bekennenden Kirche: Daß es aber in der Bek. Kirche Menschen geben kann, die zu glauben wagen, sie seien berechtigt oder gar aufgerufen, dem Judentum in dem heutigen historischen Geschehen und dem von uns verschuldeten Leiden Gericht und Gnade Gottes zu verkünden, ist eine Tatsache angesichts derer uns kalte Angst ergreift. (Sch: 16; Herv. d. Verf.).

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Sie autorisiert ihr Handeln, indem sie an das Wächteramt der Kirche nach Hes. 3, nach dem der Sünder vor seiner Sünde zu warnen ist, erinnert und fordert wiederholt zur Stellungnahme auf: Will sie sich nicht erbarmen über ihre Glieder und ihren Wächterruf erschallen lassen, um Augen zu öffnen und Gewissen wachzurütteln? Der Feind – die Vergötzung von Blut und Rasse – steht drohend unmittelbar vor der Mauer und wohl schon nicht mehr vor der Mauer (Sch: 7).

Deutlicher als an dieser Stelle kann kaum werden, wie Religion einen Deutungsrahmen vorgibt, um den Nationalsozialismus zu delegitimieren und das eigene Schreiben zu motivieren sowie zu autorisieren. Aus dem gesamten Text (siehe auch 4.2) werden Biblizismen und sakralsprachliche Elemente erkennbar, die ihrerseits als stilistische Selbstpositionierung gelesen werden können (i. S. v. eines ›style as stance‹, vgl. Kiesling 2009). Das Autoreferieren erfolgt bei Braune hingegen sparsam. Er identifiziert sich namentlich, in seiner Funktionsrolle als Pastor sowie als »Leiter der Hoffnungsthaler Anstalten«. Ferner stellt er sich in seiner Verfasser-Rolle dar, etwa mit dem wiederholten Verweis auf die beigefügten Anlagen (das ich in Anlage I in Abschrift beifüge, 83). Anders als in anderen Schriften stellt er sich denkschriftentypisch als Experte für sein formuliertes Anliegen bzw. als Kenner deutscher Heil- und Pflegeanstalten dar: haben sämtliche mir bekannten und aufgeforderten Heime (83) und rechnet sich am Ende der Denkschrift alle[n] Kundigen (97) zu.

4.2

Mit diesen Menschen ist direkt wenig anzufangen: Formen der Partei- und Distanznahme

Das Selbstverständnis, das deutsche Volk anders und besser führen zu können, ist insbesondere in den Denkschriften Goerdelers vorhanden. Dabei überwiegt das Bild eines verführten und schließlich betrogenen Volkes, das der Verteidigung bedarf. Grundsätzlich wird es von einer Beteiligung und auch einer Verantwortung für den Nationalsozialismus freigesprochen: Wir haben ein großes Interesse daran, hier die Wahrheit festzustellen und die Verantwortung des deutschen Volkes ins rechte Licht zu setzen. Die Verfassungsänderungen, die Hitler die Diktatur verschafften, sind durch Unehrlichkeit, mit Betrug und Terror herbeigeführt worden (G1: 243); Es ist oberflächlich zu sagen, daß das deutsche Volk jeweils die Führung hat, die es verdient. Es hat zu allen Zeiten Staatsführungen gegeben, die sich mit unredlichen Mitteln in den Besitz der Macht gesetzt und gehalten haben, ohne die aus klarer Un-

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Denkschrift

terrichtung und Urteilsbildung gewonnene Zustimmung des Volkes hinter sich zu haben (G2: 92).

Wie aus den Denkschriften hervorgeht, ist es v. a. Hitler, der die Diktatur erschaffen hat. Das ›deutsche Volk‹ ist einerseits Opfer nationalsozialistischen Terrors und Unredlichkeit, andererseits wird der Nationalsozialismus, zurückgehend auf das ideologische Phrasem Diktat von Versailles, letztlich auf das Ausland zurückgeführt, das die Büchse der Pandora geöffnet habe und so die Mentalität bzw. das politische Verständnis der Jugend beeinflusst habe (vgl. G1: 274). Diese Äußerungen gemahnen an die aus der politischen Rhetorik bekannte Opfer-Täter-Umkehr (vgl. Wodak et al. 1990). Die Akte der Wahrheitsfeststellung die Wahrheit festzustellen und das Phrasem ins rechte Licht rücken legen eine unwahrheitsgemäße Beurteilung der Bevölkerung nahe. Die Äußerungsbedeutung von oberflächlich zu sagen reiht sich hier ein, denn aus dem Kotext der Schrift ergibt sich, dass oberflächlich ein Urteil meint, das eben nicht auf der Synthese von Erfahrungen beruht, sondern sich auf den Horizont aktueller Erfahrungen bezieht und so die historische Dimension verkennt. Die Antithese zwischen gebeuteltem und verführtem Volk und den Vertretern des NS-Apparates reicht bis in die angedachte Regierungserklärung hinein: Während draussen unsere Soldaten kämpfen, bluten und fallen, ihre Glieder verlieren, führen Männer wie Göring und andere Grössen ein Luxusleben, rauben Edelsteine, Gemälde und sonstige Wertstücke (R1: 5). Wir empfinden es als eine tiefe Entehrung des deutschen Namens, dass in den besetzten Gebieten hinter dem Rücken der kämpfenden Truppe und ihren Schutz missbrauchend, Verbrechen aller Art begangen worden sind. Die Ehre unserer Gefallenen ist damit besudelt (R1: 5).

Mit unsere Soldaten, unsere Gefallenen (hier ist unser inkludierend, aber nicht referenzidentisch mit wir zu verstehen), kämpfende Truppe und durch die Unterstellung ihres ehrenhaften Verhaltens wird eine Allianz zwischen den Verfassern der Schrift und der integrierten Gesellschaft geschmiedet. Die exkludierten Bevölkerungsteile hingegen sind einerseits NS-Grössen, andererseits nicht näher bezeichnete, durch die Passivkonstruktionen verschleierte, Verbrechen verübende Akteure. Die Denkschriften des ›Kreisauer Kreises‹ setzten dagegen an einem anderen Punkt an: Noch im Vorfeld der ersten Tagung formulieren Delp und König25 unter dem Stichwort Kräfte, die zur Beurteilung der Lage wichtig seien: Tatsache: Entwicklungsmäßige und jetzt systematisch bewirkte Erschütterung des deutschen Menschentums. Verlust des Persönlichkeitsbewußtseins, der freien Verantwortungsfähigkeit und -willigkeit. Vermassung und Entgeistigung. Amoralische Vitali25 Der genaue Verfasser der Schrift ist nicht bekannt. Beide haben den Text jedoch bearbeitet.

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tät. Dienstfunktion. Durch den ›totalen Befehl‹ des eigenen politischen und geistigen Interessens entwöhnt. Nur auf primitive Lebenssicherungen und Bedürfnisbefriedigungen aus. Mit diesem Menschen ist direkt wenig anzufangen. (Delp/Rösch, 1987: 67); mit der weiteren Diagnose: »Familie a) tatsächlich zerstört.«, etwa durch: »durch Überbetonung der rein zahlenmaterialistisch gesehenen ›Volksvermehrung‹« (Delp/König 1987: 67).

Hier werden (Fehl)Entwicklungen skizzenhaft diagnostiziert und typisch für die hier analysierten Denkschriften als Tatsache bezeichnet. Das deutsche Menschentum, eine allumfassende Kollektivbezeichnung, wird vor dem Horizont von Entwicklungstendenzen begriffen, die schon vor dem Nationalsozialismus sichtbar geworden sind und nun auf die Deutschen wirken. Der Verlust von Individualität (Vermassung drückt hier einen Prozess aus, der zur Nichtunterscheidbarkeit von Individuen führt), innerer Haltung (Entgeistigung) und die Reduzierung auf die Dienstfunktion führen zu einem im bloßen Alltagsvollzug befangenen Menschen, woraus sie abwertend schlussfolgern: Mit diesem Menschen ist direkt wenig anzufangen. Mit dem abstrahierenden Zugriff nehmen die Verfasser einen Standpunkt ein, der sich außerhalb des NS-Kollektivs stellt: Bindungen und das Gefühl für Verantwortung für das Gemeinwesen entstehen dabei in kleinen Gemeinschaften (vgl. K4), in Selbstverwaltungskörpern, die dem staatlichen Zugriff entzogen sind. Nicht der Staat oder ein Staatsidol (K3: 511) haben Zugriff auf den Einzelnen, was zum Aufblühen wahrer Gemeinschaft (K3: 509; Herv. d. Verf.), etwa im Gegensatz zur ›Volksgemeinschaft‹, führen soll. Anders als in den Goerdeler-Schriften treten die Kreisauer nicht als Fürsprecher des deutschen Volkes auf, erwähnen auch in den vielen anderen Denkschriften weder Hitler noch zentrale Vertreter des NS-Apparates und sehen in der Krise eine Möglichkeit, Gesellschaft anders zu denken. Das deutsche Menschentum soll so befähigt werden, sich selbst zu erziehen und verantwortlich zu werden. In den bisher thematisierten Denkschriften wird die deutsche Bevölkerung als eine homogene Entität erfasst. Brandts Denkschriften (Br2, Br3) hingegen entwerfen ein differenziertes Bild unterschiedlicher sozialer Gruppen und heterogener Beteiligtenrollen: Als Kooperationspartner werden diejenigen betrachtet, die in Deutschland (Volksteile, die unter dem Nazismus und Krieg besonders gelitten haben, Br3: 156) und in den besetzten Gebieten (den vom Nazismus unterjochten Völkern, Br3: 164) unter »Hitler-Deutschland« gelitten hätten. Zur antinazistischen Bevölkerung (Br3: 156) werden wiederholt Vertreter*innen der deutschen Arbeiterschaft, Werktätigen und Intelligenz angeführt, wobei der Ausdruck Arbeiterklasse offensichtlich gemieden wird. Gebündelt werden sie meist als demokratische Kräfte. Durch unterschiedliche Mittel des Kontrastierens, darunter auf der einen Seite, auf der anderen Seite, bei den einen, bei den anderen werden die genannten Kräfte insbesondere der preussisch-deutschen

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Denkschrift

Militärkaste (Br3: 158), der reaktionären Bürokratie (ebd.), Junkern und der Schwerindustrie sowie der Grossfinanz (ebd.) gegenübergestellt.26 Es ist interessant, dass auch die Vertreter des 20. Juli mit Relativierungen zu den exkludierten Gruppen zählen. Auch hier wird allerdings noch einmal differenziert: Wir verkennen keineswegs, dass es auch hohe deutsche Offiziere gibt, die um das Schicksal des deutschen Volkes ernsthaft besorgt sind; bei anderen überwiegt jedoch auch heute noch das Interesse an der Erhaltung von Sonderrechten und an der Vorbereitung der »Revanche« (Br1: 158); unter den Jüngeren gebe es sogar »waschechte Nazis« (ebd.).

Aufschlussreich ist insbesondere die folgende Äußerung: Zugleich stellen wir jedoch fest, dass die in gewissen Teilen der Wehrmachtführung vorhandene Opposition mit ernstem Antinazismus herzlich wenig zu tun hat. Eine demokratische Neugestaltung in Deutschland lässt sich nicht auf der Basis der Wehrmacht durchführen. Das ist ganz sicher auch die Überzeugung der breiten Arbeitermassen in Deutschland. (Br1: 160)

Letztlich wird hier der Führungsanspruch der Wehrmacht zurückgewiesen. Durch das Idiom herzlich wenig mit etwas zu tun haben wird die oppositionelle Haltung der Militärs sogar spöttisch betrachtet. Zudem wird den Arbeitermassen eine Haltung unterstellt, die mit der des Verfassers korrespondiert. Es zeigt sich hier wohl der Wunsch der Verfolgten und Ausgeschlossenen, sich nicht mit denjenigen einigen zu müssen, die den Nationalsozialismus befördert, unterstützt oder toleriert haben (Der Konservatismus ist durch die Allianz mit Hitler stark kompromittiert – Br3: 161). Die Identifikation von Gruppen führt jedoch nicht so weit, die Verantwortung für den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg zu delegieren. Vielmehr handele es sich um Tatsachen, »dass das Hitlerregime sich bei seiner Rüstungs- und Kriegspolitik auf einen allzu großen Teil des deutschen Volkes stützen konnte« und »dass im Laufe dieser Jahre die schlimmsten Verbrechen an anderen Völkern von Deutschen und im Namen des deutschen Volkes verübt [worden] sind« (Br3: 163). Elisabeth Schmitz stellt ihrer Denkschrift einen Passus voran, indem sie das Ziel ihrer Schrift bestimmt. Diese kann nur ein Versuch sein, an ein paar zufälligen Punkten etwas Licht fallen zu lassen auf die furchtbare Tragödie, die sich seit drei Jahren in unserer Mitte (Sch: 1).

Die Tragödie ist für sie als evangelische Christin die Sünde unseres Volkes, und sie stellt klar, dass es sich um unsere Sünde, also um eine Sünde der Kirche, handelt. 26 Vgl. auch: Schon heute, während der Krieg noch andauert, zeigen sich halbfaschistische, autoritäre und andere reaktionäre Tendenzen. Sie können zu einer ernsthaften Gefahr für die Sache des Friedens und der Demokratie werden. Es ist die Pflicht demokratischer Sozialisten, die antidemokratischen Kräfte in ihren eigenen Ländern mit aller Kraft zu bekämpfen (Br2: 89).

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Die Beziehung zwischen Kirche und Gesamtbevölkerung wird so deutlich gemacht: Heute kommen wir von Karfreitag und Ostern her. Wir getrosten uns dessen, daß der Herr der Kirche die Sünde in die Welt getragen hat. Aber dürfen wir das, die wir sehenden Auges jeden Tag aufs neue mit Ketten uns hineinschmieden lassen in die Sünde unseres Volkes, ohne uns zu wehren? Auch die Kirche kann in keinem Augenblick anders leben als aus der Vergebung der Sünde. Wie will sie aber auf Vergebung hoffen, wenn sie Tag für Tag ihre Glieder in der verzweifelten Not im Stich läßt, der Verhöhnung aller Gebote Gottes zusieht, ja die öffentliche Sünde nicht einmal zu bekennen wagt, sondern – schweigt? (Sch: 1).

Das inklusive Wir umfasst den potentiellen Adressatenkreis der Schrift: Es entspricht dem evangelischen Selbstverständnis, auf Sündenvergebung durch Gott zu hoffen und darin Zuversicht zu finden. Sie stellt dabei grundsätzlich in Frage, ob dies die Kirche jedweder Verpflichtung enthebt, Stellung zu nehmen und pointiert in der gesamten Schrift sowohl die Mitverantwortung der Kirche an der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung als auch den Widerspruch zu christlichem Glauben und christlicher Ethik. Das Bild des Uns-Hineinschmieden-Lassens in Ketten zeigt ein komplexes Zusammenspiel von Personengruppen: Es handelt sich um die Kennzeichnung eines von Handelnden verantworteten Verfertigungs- und Formgebungsprozess, dem sich andere Handelnde untätig überantworten, damit aber ihr eigenes Gefangensein mitverantworten. An späterer Stelle bekennt sie deutlicher: In diese Schuldgemeinschaft ist unentrinnbar jeder verstrickt (Sch: 15; Herv. d. Verf.). Die Diagnose unterscheidet sich stark von der Goerdelers und verdeutlicht u. U. auch, inwieweit sich im Widerstand die Grundlinien des späteren Schulddiskurses (vgl. Kämper 2005) vorbereiten. Von den anderen Denkschriften unterscheidet sie allerdings, dass nicht über das deutsche Volk gesprochen wird; vielmehr spricht bzw. schreibt sie über Ausgeschlossene. Die Zugehörigkeit der jüdischen Bevölkerung zum deutschen Volk – anders bspw. in den entsprechenden Passagen der Goerdeler-Denkschrift27 – wird durch das Possessivum unser und durch semantische Teil-Ganzes-Relationen realisiert, etwa: ist eine schwere Verfolgung hereingebrochen über einen Teil unseres Volkes um seiner Abstammung willen (Sch: 1). Explizit wehrt sie sich dagegen, sich nur für die nichtarischen Gemeindemitglieder verantwortlich fühlen zu sollen. In ihrer Darstellung der Lage, geordnet nach »innere Not« und »äußere Not«, die sie wiederholt als verzweifelt charakterisiert, betont sie:

27 Daß das jüdische Volk einer anderen Rasse angehört, ist eine Binsenweisheit. Im jüdischen Volke selbst sind die Meinungen geteilt, ob es eine staatliche Selbständigkeit erstreben soll oder nicht (G2: 106).

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Denkschrift

verzweifelt nicht nur für die, die es trifft, sondern noch viel mehr für das Volk, das dies alles tut und geschehen läßt (Sch: 7).

und betont die Schuld des deutschen Volkes: Dieses Volkes Schuld ist auch unsere Schuld (Sch: 7). Auffällig ist an diesem Zitat die Voranstellung des Genitivattributes. Sicher ist diese Strukturbesonderheit auf den auch an anderen Stellen sichtbaren archaisierenden Predigtstil zurückzuführen; informationsstrukurell fokussiert es jedoch den Verantwortungsträger. Zur Fokussierung einzelner Beteiligter oder Gruppen, deren Exklusionspraktiken28 breit geschildert werden, werden häufig – auch der Sakralsprache angehörende – Spaltsatzkonstruktion mit expletivem es und einer Kopula verwendet (›Es ist der, der‹ oder ›Es sind die, die …‹), mittels denen die Gruppe fokussiert wird: Und dies tut ein Volk, das wissen sollte, was Blockade heißt, Menschen, die als Deutsche das Schicksal der Kriegsblockade mitgetragen haben (Sch: 12).

Die Denkschrift dient dem Nachweis von Mitschuld und Mitverantwortung der evangelischen Kirche und entlässt weder diese noch die deutsche Bevölkerung aus ihrer Verantwortung. Braunes Denkschrift endet mit dem intertextuellen Verweis videant consules ne quid detrimenti res publica capiat (›Die Konsulen sollten darauf achten, dass der Staat keinen Schaden nimmt‹). Auch bei ihm ist das deutsche Volk als solches nicht Teil seiner Darstellungen. Braune tritt als Vertreter der Patient*innen, ihrer Angehörigen und auch als Verteidiger der etablierten Gesundheitsfürsorge auf. Er distanziert sich einerseits von der offiziellen Diktion, setzt z. B. lebensunwert in Anführungsstriche (etwa: Tausende von ›lebensunwerten‹ Menschen, B: 81; Ja wieviel Freude bedeutet für viele der Dienst am ›unwerten Leben‹, B: 96), spricht von kranken Menschen, Kranken, Pfleglingen, häufig von Patienten und betont wiederholt die Lebens- und v. a. Arbeitsleistungen (s. zur Bedeutung von Arbeit den Beitrag in Teil 2) erkrankter Menschen: so sind es oft Menschen, die in ihrem Leben jahrelang feste Berufe ausgeübt haben, bei denen erst späterhin geistige Störungen aufgetreten sind (B: 94; Herv. d. Verf.).

Seine Argumentation zielt jedoch nicht darauf, die nationalsozialistische Gesundheitspolitik grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern, staatliches Handeln zu korrigieren. In diesem Sinne ist auch der Rekurs auf Ideologeme zu sehen (siehe dazu auch schon Abschnitt 2.5): Das gehört zur echten Volksgemeinschaft und zur Verbundenheit im besten Sinn, wenn die Gesunden sich der Kranken und Schwachen annehmen (B: 96; Herv. d. Verf.).

28 s. dazu auch den Beitrag ›Exklusion und ihre Erfahrung‹ in Teil 1.

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Grundsätzlich unterscheiden sich die Selbstautorisierungen und Positionierungen zur deutschen Bevölkerung und die damit wiederum verbundenen Beziehungskonzepte. Die Unterschiede lassen sich durch das Selbstverständnis ihrer Verfasser*innen erklären. Zur Profilierung der unterschiedlichen Spielarten der Textsorte tragen sie insofern bei, weil sich hier übergreifend auch eine Textsortenkonvergenz zeigt: Elemente der persuasiven Kommunikation, wie sie sich in der politischen Rede29 und Flugschrift30 zeigen, durchziehen die Denkschriften.

4.3

In Wirklichkeit: Faktizitätsherstellung aus der Defensive

Goerdeler bezieht sich in seinen Denkschriften auf etwas, das in der Geschichtswissenschaft als »Polykratie« (vgl. Echternkamp 2018: 175–177) bezeichnet wurde und als wesentlich für das Entstehen von ›Gewalträumen‹ im ›Dritten Reich‹ verantwortlich gemacht wird: Er verweist auf die nicht zu berechnende Führung, auf Terror und Propaganda: ein Führerstaat, der den Grundsatz duldet, ja durchführt: die Partei befiehlt dem Staat. Wer führt nun den Führer oder die Partei? In Wirklichkeit je nach Laune und Gelegenheit: beide! Dieser Führerstaat ist ein durch Terror und unwahrhaftige, keine Verderbtheit scheuende Propaganda zusammengehalten, auf Ausnutzung der Geltungstriebe aufgebaut und muß daher die Freiheit des Geistes und des Gewissens, das helle Licht öffentlicher Wahrheit wie die Pest scheuen (G2: 152; Herv. d. Verf.).

Allen Denkschriften (mit Ausnahme von B) ist gemein, dass sie den Nationalsozialismus mit Lüge und Unwahrheit identifizieren, durch die Gewalt gerechtfertigt würde. Aus den Texten lassen sich nicht nur entsprechende Wortfelder entnehmen, sondern auch Kontiguitätsrelationen, d. h. Relationen zwischen Produzent*innen und ihrem Produkt herstellen. In ihrem Gesamt bilden diese Relationen Deutungsmuster für den Nationalsozialismus. Es wird konstatiert, dass Presse- und Lügenhetze (Br1: 381) bzw. eine unwahrhaftige, keine Verderbtheit scheuende Propaganda als ein vom NS-Apparat verantwortetes Produkt existierten. Um die Mittel der Propaganda zu kennzeichnen, bedienen sich die Verfasser*innen gängiger Metaphern wie Verzerrung oder Zerrbild, um die Verdrehung und Verfälschung von Sachverhalten, oder Vorspiegelung falscher Sachverhalte zu bezeichnen. Ferner sind die Konzeptmetaphern Politik ist ein Spiel und Politik ist ein Theater auffällig (s. u.). So werden Wahlfälschungen als vielleicht in der Geschichte noch nicht dagewesener Betrug des deutschen Volkes und der Weltöffentlichkeit (G1: 244) gewertet. Zu den Folgen gehören die Aufhetzung der öffentlichen Meinung (Sch: 1, auch Aufpeit29 s. den Beitrag ›Rede‹ in Teil 2. 30 s. den Beitrag ›Flugblatt – Flugschrift‹ in Teil 2.

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Denkschrift

schen). Lügen u. ä. seien ein Gift oder führten zur Vergiftung, also zu einem Zustand, der einer Funktionsstörung gleicht, wozu auch der Aufstieg des Denunziantentums gezählt wird. Grundlegend sei der Zweck, Teile der Bevölkerung einzufangen (Br1: 381) und sie zu einem anderen Realitätsverständnis zu führen, ihnen also, wie ein häufiges Bild lautet, Sand in die Augen zu streuen. Insbesondere Moltke diagnostiziert die negativen Wirkungen des öffentlichen Sprachgebrauchs und er kommt zu der Auffassung, dass eine Erneuerung Deutschlands auf der Wiederherstellung der Ausdrucksformen basieren müsse, denn: Worte sind ihres Sinnes beraubt, Handlungen sind zweideutig geworden. An Stelle von Handlungen hat man heute Worte gesetzt, denen entgegengesetzte Handlungen folgen, für die kein Wort der Erklärung gegeben wird. Die Übereinstimmung von Wort und Handlung ist wesentlich, dabei muss die Handlung unzweideutig sein und das Wort muß bescheiden und leise geäußert werden, nachdem die Handlung ihre Wirkung getan und als eindeutig verstanden worden ist (K3: 514).

Grundlagen der Verständigung seien beeinträchtigt, da die konventionellen Bedeutungen von Wörtern nicht mehr gelten und der soziale Sinn von Handlungen vage bleibe. Zum Teil wird sogar beleuchtet, wie die nationalsozialistische ›Konstruktion von Wirklichkeit‹ erfolgt, wobei, weil inszeniertes Handeln im Blickpunkt steht, politisches Handeln als theatralisches Handeln begriffen wird. Es geht hier um den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: Man organisierte deutsche Banden, die in polnischer Verkleidung, ja in Uniformen, überall im Grenzgebiet Überfälle verübten, selbst vor der Ermordung von Deutschen und vor der Inbrandsetzung deutscher Höfe nicht zurückschreckten. Das Feld der Außenpolitik wurde in ein Theater umgewandelt, die Außenpolitiker wurden zu Regisseuren (G1: 261).

Die Denkschriften zeigen zudem eine Fülle auf die Sachverhaltsherstellung zielender epistemischer (Teil)Äußerungen: Zum einen kennzeichnen die Verfasser*innen, was sie selbst für wahr, eindeutig, klar, offensichtlich halten, unabhängig davon, ob sie sich auf Ereignisse, ihre Folgen oder Ursachen oder auf eigene Annahmen, Grundsätze oder Schlussfolgerungen beziehen. Bezogen auf das Gesamtkorpus von Denkschriften des Hetwik-Korpus sind bestimmte Lexeme wie Tatsache und insbesondere das Basismorphem Zweifel sowie entsprechende musterhafte Ausdruckskombinationen charakteristisch. Sie markieren so eine ›Epistemik einer Sicherheit‹ (vgl. Peteri 2019). Für die Denkschriften zeigt sich darüber hinaus, dass es vor allem Evidentialitätsmarkierungen sind, die besonderes Gewicht haben, insbesondere das Sprachgebrauchsmuster Es ist/war/wurde bekannt sowie musterhafte Verwendungen mit klar. Ereignissen, aber auch eigenen Darlegungen eine Evidenz zu unterstellen, bedeutet, den intersubjektiven Nachvollzug zu suggerieren und eine gemeinsame Wissensbasis anzunehmen.

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Zugleich stellt das Korrigieren von Annahmen anderer bzw. das Entgegensetzen eine die Denkschriften übergreifende Tendenz dar, die mit epistemischen Markierungen, etwa mittels idiomatischer Konstruktionen wie in Wirklichkeit oder in Wahrheit verknüpft ist: Er [der Faschismus] findet auch immer wieder Dumme, die von den gelegentlichen Wahl-Schwindeleien und häufigen Massenaufmärschen auf die 99-prozentige Zustimmung des deutschen Volkes zu den Massnahmen und Forderungen der Naziregierung schliessen. In Wirklichkeit haben aber die letzten Monate und Wochen mit den bisher gewaltigsten Massenkundgebungen (siehe Nürnberger Parteitag) zu einer stärkeren Auflockerung in der Massenbasis geführt (Br1: 375; Herv. d. Verf.).

Die aufgeführten Ausdrücke sowie Ausdruckskombinationen sind zwar für Denkschriften typisch, jedoch nicht auf diese begrenzt. Sie zeigen sich auch in Flugblättern bzw. -schriften des HetWik-Korpus, so dass angenommen werden darf, dass das Offenlegen derartiger Sprecherhaltungen für die widerständige Kommunikation charakteristisch ist. Betrachtet man aber vergleichend die Kollokatoren von Tatsache in Denk- und Flugschriften, zeigt sich, dass Kollokatoren wie Erkenntnis oder Bewusstsein nicht in Flugschriften auftreten. Entsprechend sind die musterhaften Formulierungen im Kontext und vor den denkschriftentypischen Handlungsmustern zu sichten: Die Vorstellung, dass Textsortenbeschreibungen auch Geltungsansprüche wie den auf Wahrheit oder Wahrhaftigkeit enthalten könnten, ist in der Textlinguistik bzw. -stilistik immer wieder betont worden.31 Als zentrale Dimension der Textbeschreibung sind sie bis dato noch nicht etabliert. Die Ermittlung von »Kommunikationsprinzipien«, die insbesondere die linguistische Kommunikationsanalyse bzw. die »dynamische Texttheorie« (vgl. Fritz 2017: 378–393) verfolgt, ist dabei von der Einstellungsbekundung zu trennen. Die Orientierung an Tatsachen und auch Objektivität ist nicht immer als Äußern einer Haltung zum Wahrheitsgehalt des Geäußerten zu verstehen. Verfasser*innen können sich damit auch auf Kommunikationsprinzipien berufen (etwa: Rufen wir uns die Wirklichkeit so objektiv wie möglich ins Gedächtnis zurück – G1: 232). Die Fülle epistemischer Ausdrücke wird im Folgenden unter den folgenden Gesichtspunkten betrachtet: a) hinsichtlich ihrer Bandbreite, besonders jener der Evidentialität, b) hinsichtlich dessen, was die Verfasser*innen als gemeinsame Wissensbasis annehmen und c) in Hinsicht auf ihre Abhängigkeit von bestimmten Handlungsmustern. Ihr Auftreten, so die in diesem Beitrag vertretende These, ist als ein Positionieren gegenüber der NS-Deutung von Welt zu verstehen.

31 U. a. von Fix (2011: 148) unter dem Stichwort »Geltungsmodus«, Brinker (2010: 92) unter dem der »thematische Einstellung« und Hoffmann (2017: 53–55) unter dem der »stilistischen Einstellung«.

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Denkschrift

4.4

Die Nürnberger Gesetze sind bekannt: Tatsachen feststellen und Fragen stellen

Drei der Denkschriften zeigen einen Bezug zu spezifischen Themen: Zur Verlegung und mutmaßlichen Tötung von Insassen von Heil- und Pflegeanstalten (Braune), zum Antisemitismus der Anfangsjahre des Nationalsozialismus (Schmitz) und zur Stimmung in der deutschen Bevölkerung im Jahre 1938 (Brandt (Br1)). Grundsätzlich lässt sich an diesen Texten die Denkschriftentradition ablesen: Es ergibt sich eine Handlungsstruktur des a) Berichtens über, z. T. auch Kommentierens von Sachverhalten, wobei Berichten selbst ein der Rekonstruktion dienliches Handlungsmuster ist, das unterschiedlich ausgestaltet werden kann, indem berichtstypische Handlungen wie die Situierung von Berichtsgegenständen oder das Angeben von Quellen vollzogen werden; sowie des b) Problematisierens des Berichteten, indem Fragen gestellt werden. Ihre darstellenden Teile folgen dem Handlungsmuster des Berichtens: Braune etwa schreibt einen an der chronologischen Abfolge von Ereignissen orientierten Untersuchungsbericht, dessen Glaubwürdigkeit sich v. a. durch das Anführen von Ereignissen und Gewährsleuten ergibt, wohingegen Brandt Berichte, hauptsächlich aus der Exilpresse und aus anderen Medien, in einem deskriptiv orientierten Lage- oder Stimmungsbericht zusammenstellt, die zur Beurteilung der Lage in Deutschland befähigen sollen. Schmitz schließlich greift breit auf den antisemitischen Diskurs zurück, indem sie aus der öffentlichen Berichterstattung, aus populärwissenschaftlichen Schriften sowie Reden zitiert und gleichzeitig eigene Erfahrungen einfließen lässt, wobei die Darstellung zwischen Erfahrungsbericht und Sachverhaltskommentierung changiert. Alle Denkschriften greifen dabei zum Feststellen von Sachverhalten auf Äußerungen aus zweiter oder dritter Hand und damit berichtstypische Handlungen zurück. Braunes Bericht etwa, verstanden als Nachweis von Tatsachen (B: 82), umfasst eigene, sich vornehmlich auf Berlin beziehende Beobachtungen sowie Berichte aus zweiter und dritter Hand, deren Glaubwürdigkeit abgesichert wird: Aus den Sächsischen Anstalten ist eindeutig durch Besuche festgestellt (B: 87; Herv. d. Verf.). Neben Formen des Zitierens mittels direkter oder indirekter Redewiedergabe sind die für die jeweilige Form des Berichtens typischen Kennzeichen nachzuweisen; z. B. Temporaladverbien und temporale Konnektoren zur chronologischen Gliederung des Textes z. B. von Braune (zuerst – dann, in der zweiten Aprilhälfte, im März 1940). Die Gliederung von Brandts Text ergibt sich neben thematischen Überschriften durch Kommunikationsverben, die der Sprachhandlung des Berichtens zuzurechnen sind: In einem Berliner Bericht heißt es (Br1: 376) oder In der gleichen Richtung liegt ein Bericht aus Wien (Br1: 378).

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Schmitz führt zur Sachverhaltsfeststellung Zitate an, die ihr als Beweis für die Rassenideologie und auch Motive dieser Rassenideologie gelten: Ein klarer Beweis, wie sehr es sich tatsächlich um einen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf handelt (Sch: 12).

Mit der sprachlichen Aktivität des Sachverhaltsfeststellens sind konklusive Sprachhandlungen verbunden: Insbesondere das zu Untersuchende wird bei Braune aus der Zusammenführung von zusammengestellten Sachverhalten und schlussfolgernden Annahmen ersichtlich. So schließt er aus ihm bekannten Urnenkennzeichnungen auf eine noch größere Zahl von Tötungen: Da die ganze Anstalt normalerweise nur 100 Betten hat, so kann es sich hierbei nur um die fortlaufende Zahl der Sterbefälle handeln (B: 86).

Dass zitierte Quellen dazu befähigen, Schlüsse zu ziehen und Tatsachen zu ermitteln, wird ebenfalls bei Brandt deutlich: Entsprechend wird häufiger die idiomatisierte Wendung In Wirklichkeit oder tatsächlich, wirklich (von der wirklichen Stimmung wissen – Br1: 383) verwendet. Feststellen wird einerseits im Sinne einer Tatsachenermittlung verwendet: So wird fehlende Kriegsbegeisterung konstatiert, die übereinstimmend in den verschiedenen Teilen des Reiches festgestellt werden konnte (Br1: 375; Herv. d. Verf.) oder von einem festgestellte[n] Umschwung (Br1: 378; Herv. d. Verf.) gesprochen. Andererseits wird feststellen im Sinne eines nachdrücklichen Konstatierens verwendet: Im Ganzen kann man aber feststellen, dass unter der Betriebsarbeiterschaft die Tendenz zu einer beginnenden politischen Opposition auch in solchen Kreisen begonnen hat (Br1: 380).

Bei Schlussfolgerungen überwiegt die sichere Epistemik: Völlig abwegig ist es auch anzunehmen, dass die Wehrmacht fest in den Klauen des faschistischen Regimes sein (Br1: 381; Herv. d. Verf.); Aber als sicher kann angenommen werden, dass es auch in großen Teilen der aktiven Wehrmacht an Kriegsbegeisterung fehlt (Br1: 381; Herv. d. Verf.); Andererseits wäre es völlig abwegig, aus den verschiedenen Auflockerungssymptomen übertriebene Schlussfolgerungen zu ziehen (Br 1: 282; Herv. d. Verf.) – Am günstigsten ist es jedoch ohne Zweifel für das Regime, seine Beute erneut im Frieden heimzubringen (Br1: 383; Herv. d. Verf.).

Schmitz hingegen verwendet v. a. Evidenzformeln, die sich auf Ereignisse und andere Sachverhalte beziehen: ist wohl allgemein bekannt (Sch: 6), hält seit vielen Wochen unentwegt in allen größeren Städten seine bekannten Reden (Sch: 6) und Es ist wohl deutlich (Sch: 12). Flankiert wird dies durch die häufige Verwendung der Modalpartikel ja. Zu den bekannten Tatsachen gehören insbesondere weit verbreitete Exklusionspraktiken. Zu den Nürnberger Gesetzen etwa schreibt sie:

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Denkschrift

Die Nürnberger Gesetze sind bekannt. Eine Wertung sinnlos. Es bleibt nur übrig, auf einige Folgen hinzuweisen (Sch: 16).

Das Gewicht von Evidenzmarkierungen ist auch bei Schlussfolgerungen ersichtlich: Daß diese tägliche Verhetzung nicht ohne Folgen bleiben kann, ist selbstverständlich (Sch: 5; Herv. d. Verf.).

Die Fülle und Bandbreite derartiger Ausdrücke lässt sich darauf zurückführen, dass Schmitz annimmt, dass die Mitglieder der evangelischen Kirche sehenden Auges ihrer Rolle nicht gerecht werden. In den Denkschriften von Braune und Schmitz spielt das Stellen von Fragen eine größere Rolle: Schmitz beendet jede größere thematische Einheit mit Fragen. Grundsätzlich sind alle appellativ zu verstehen. Dabei handelt es sich um geradezu prototypische rhetorische Fragen, die wesentlich dadurch bestimmt sind, dass die Proposition der Frage nach dem sensus communis einer Gruppe als falsch gilt. Gleichzeitig ist mit der rhetorischen Frage eine typische Gestaltung verbunden, v. a. Polaritätselemente, keine Verbzweitstellung u. ä. (vgl. Schwitalla 1984, 2017): Und abgesehen von der menschlichen Verurteilung – sollte nicht auch uns das 8. Gebot gelten? (Sch: 5); Sollte denn alles das, was mit der heute so verachteten Humanität schlechterdings unvereinbar ist, mit dem Christentum vereinbar sein? (Sch: 15); Sollen die Kinder aus evangelischen Ehen in eine andere Badeanstalt gehen als Vater oder Mutter? (Sch: 10).

Andere Realisierungen sind ebenfalls nicht als bloße Ergänzungsfragen zu verstehen, sondern stehen in der Tradition der Überlegensfrage, auf die auch die Verfasserin vermutlich keine Antwort weiß: Was soll aus den Seelen dieser Kinder werden, und was aus einem Volk, das solche Kindermartyrien duldet? (Sch: 8); Was soll überhaupt aus unseren nicht-arischen Gemeindemitgliedern werden? (Sch: 9).

Die folgende Frage ist in einen fiktiven Dialog eingebettet, der selbst als intertextueller Verweis zu interpretieren ist: Was sollen wir antworten auf die Frage: Wo ist Dein Bruder Abel? Es wird auch uns, auch der Bekennenden Kirche keine andere Antwort übrig bleiben als die Kainsantwort (Sch: 13).

Diese Fragen, mit denen an Glaubensgrundsätze gemahnt und zum Nachdenken aufgefordert wird, bilden eine Alternative zu den sonst in Denkschriften vollzogenen direktiven Sprachhandlungen. Zudem stehen sie in einem Zusam-

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Friedrich Markewitz / Britt-Marie Schuster

menhang mit dem Nachweis, dass sich die evangelische Kirche nicht ihren Glaubenssätzen getreu verhalte: Ein junges Mädchen aus einem sehr bekannten christlichen Hause trat in der Schule energisch für bekenntnismäßigen Religionsunterricht ein. Zur gleichen Zeit aber brach sie ausdrücklich ihren Verkehr mit einem anderen evangelischen Mädchen ab mit der Erklärung, daß ihr Jugendbund ihr den Verkehr mit Nichtariern verbiete! (Sch: 7); Bis zu welcher Rohheit die Dinge gediehen sind, zeigt ein Vorgang in Nürnberg beim Faschingszug, über den es in der »Fränkischen Tagezeitung« heißt: »Am heitersten wurde die ausziehende Judensippschaft, die in naturgetreuen Nachbildungen zu sehen ist, aufgenommen. […] Und die, die das so heiter stimmte, sind ja wohl in ihrer großen Mehrheit Glieder der evangelischen Kirche!« (Sch: 6; Herv. d. Verf.); In einer mitteldeutschen Kleinstadt (auch protestantisch, wie die Gegend um Nürnberg!) ist vor einigen Monaten ein Jude buchstäblich totgetreten worden! (Sch: 6; Herv. d. Verf.).

In den Zitaten stehen Handlungen einer Einzelperson bzw. Menschengruppen im Vordergrund, die so nicht hätten handeln dürfen, wenn sie christlichen Geboten gefolgt wären. Während es in der zeitgenössischen Gesellschaft wohl keinen Widerspruch dargestellt hat, zur evangelischen Gemeinschaft zu gehören und gleichzeitig Exklusionsmaßnahmen zu befürworten, stellt es für die Autorin einen Widerspruch dar. Dass Dinge getan werden, obwohl sie dem christlichen Verständnis zuwiderlaufen, kann nach Ansicht von Schmitz dabei nicht folgenlos bleiben: Menschlich geredet bleibt die Schuld, daß alles dieses geschehen konnte vor den Augen der Christen, für alle Zeiten und vor allen Völkern (Sch: 16).

Die Art und Weise, wie Braune Fragen stellt, ist nur aus dem Gesamtkontext seiner Schrift zu verstehen. Er beleuchtet zunächst Folgen der ›Maßnahmen‹, die er geschickt durch die Zusammenstellung von Berichten motiviert: Selbstverständlich sprechen sich im Volk die Tatsachen herum, […]. Damit wird das Vertrauen zu solchen Anstalten auf das Schwerste erschüttert (B: 94).

Selbstverständlich ist evidential zu verstehen, die Sachverhalte werden erneut als Tatsachen deklariert. Im folgenden schlussfolgernden Teil werden die Leistungen und der Nutzen der Heil- und Pflegeanstalten mit parallel geschalteten W-Exklamativkonstruktionen, was stark von dem ansonsten nüchternen Funktionalstil des Untersuchungsberichts abweicht, gestaltet: Wieviel selbstloseste Dienstbereitschaft […] – Wieviel fröhlicher, hingebender Dienst ist auch geübt worden, […] – Wieviel Tausend oder Millionen erkrankte Menschen sind durch solchen sachkundigen Dienst wieder gesund geworden (B: 95).

Das Stellen von Fragen, die ebenso auf die Folgen (Sollen diese überaus aufbauenden Kräfte im Volksleben langsam absterben? – rhetorische Frage, B: 94),

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Denkschrift

auf die Voraussetzungen (Wo liegt die Grenze? Wer ist normal, asozial, wer ist hoffnungslos krank? – subiectio, B: 95) und die moralisch-rechtliche Dimension (Wird es die Ethik des ganzen Volkes gefährden, wenn das Menschenleben so wenig gilt? – rhetorische Frage, B: 96) zielen, können Anregungen zum Nachdenken verstanden werden. Braune beschwört eine Gefahr, die aus der Euthanasie resultierte: So handelt es sich hier um einen Notstand […], und der sich vor allem zu einer Gefahr auszuwachsen droht, deren Folgen noch nicht abzusehen sind (B: 97).

Allerdings endet die Schrift vergleichsweise moderat mit dem Äußern eines Wunsches: Mögen die verantwortlichen Stellen dafür sorgen, dass diese unheilvollen Maßnahmen aufgehoben werden (B: 97).

Dies ist wahrscheinlich dadurch begründet, dass Braune nicht in der Position war, das Aufheben der Maßnahmen selbst zu fordern.

4.5

Die erste Aufgabe der neuen Regierung wird es sein: Die Lage beurteilen und Handlungsverpflichtungen übernehmen

Anders als die unter 4.4 thematisierten Denkschriften weisen die nun thematisierten aus dem Umfeld Goerdelers (G1, 2), dem Kreisauer Kreises (K1, 2, 4, 5) und Brandts (Br2, 3) eine dezidierte Zukunftsorientierung auf. Zwar zeigen sie kein übereinstimmendes Handlungsmuster, jedoch deuten schon die Titel darauf hin, welche Handlungen und Handlungssequenzen zu erwarten sind: So heißt etwa Moltkes Text »Ausgangslage, Ziele und Aufgaben«, die Denkschriften Goerdeler et al. heißen »Das Ziel« und »Der Weg«. In diesen Schriften finden sich mit unterschiedlicher Gewichtung folgende Handlungen und Handlungsmuster: a) das Informieren über und das Erläutern zentraler Ziele, etwa das Schaffen eines demokratischen Deutschlands, b) das Beurteilen einer ›Lage‹ unter dem Gesichtspunkt, inwieweit aus ihr resultierende Bedingungen und Voraussetzungen eine Zielerreichung ermöglichen, c) das Erklären-Warum, wie es zu einer Lage gekommen ist, was eher konkretisierend – etwa durch Ereignisschilderungen – oder auch abstrakt – etwa durch sozialanthropologische Grundannahmen gestützt – erfolgen kann und zuletzt d) das Nennen von erforderlichen, auf die Zukunft gerichteten Aufgaben. Sowohl Lagebeurteilung als auch die Bestimmung von Aufgaben lassen die Denkschriftentradition erkennbar werden (siehe auch Abschnitt 1). Dabei sind erstere Kenntlichmachungen einer Perspektive, eines Standpunktes im Sinne von Faktizitätsherstellungen (vgl. u. a. Felder 2013: 15f) zu verstehen. Sie lassen

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Friedrich Markewitz / Britt-Marie Schuster

ebenso Grundannahmen wie Beurteilungsmaßstäbe der Verfasser*innen erkennen. Zwischen den Lagebeurteilungen, die auch das Erklären-Warum umfassen können, und der Bestimmung der Aufgaben besteht dabei ein konklusiver Zusammenhang. Im Vorwort der Denkschrift Zur Nachkriegspolitik des deutschen Sozialismus bestimmt Brandt das Ziel seiner Darlegungen: Wir sehen unsere Aufgabe darin, darzulegen, in welcher Weise nach unserer Meinung diese eignen Kräfte im deutschen Volke vom demokratischen und sozialistischen Standpunkt aus entwickelt und gefördert werden können (Br3: 155).

Dies erfolgt vor dem Hintergrund des eigentlichen Ziels der Schrift: der Aufgabe einer grundlegenden demokratischen Neugestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft (Br3: 167), wobei gilt: Objektiv ist die Lage so, dass ein neues Deutschland der »Geburtshilfe« von Seiten der Streitkräfte der Vereinten Nationen bedarf. Nur so wird es möglich, den Bann des nazistischen Terrors zu brechen, die Kräfte des anderen Deutschland freizusetzen (Br2: 156; Herv. d. Verf.).

Mit unserer Meinung und vom demokratischen und sozialistischen Standpunkt wird auf die Perspektive verwiesen, unter der die nachfolgende Sachverhaltskonstitution erfolgt. Die Ansicht, die Brandt und seine Mitstreiter*innen vertreten, wird durch die wiederholte Rekurrenz des Ausdrucks Standpunkt und entsprechender Ausdruckskombinationen wie stehen auf dem Standpunkt (Br3: 173), vom Standpunkt des demokratischen Deutschlands (Br3: 175) oder vom deutschen Standpunkt (Br3: 180) gezeigt. Die nationalsozialistische Wirklichkeit wird zudem als Wahrnehmungsobjekt konzeptualisiert, das man sehen (So wie wir die Entwicklung sehen – Br3: 195, sehen jedoch der Tatsache ins Auge – Br3: 178) sowie unter bestimmten Gesichtspunkten betrachten und erkennen kann. Sinneswahrnehmungen bilden die Ressource, um abstrakte Erkenntnisprozesse zu modellieren. Die Faktizitätsherstellung wird wiederholt als eine solche ausgewiesen, die sowohl von Grundpositionen ausgeht, als auch den Kommunikationsprinzipien der Sachlichkeit und Objektivität verpflichtet ist.32 Auch hier werden Sachverhalte als Tatsachen festgestellt, indem man einer Tatsache ins Auge sieht, Tatsachen in Rechnung stellt, im Bewusstsein der Tatsache oder vom Boden von Tatsachen aus argumentiert. Etwas als Tatsache zu bezeichnen, heißt etwas als unbezweifelbaren Sachverhalt darzustellen. Auch in dieser Denkschrift werden 32 Vgl. Nicht allein auf Grund prinzipieller Erwägungen, sondern vor allem auch auf Grund einer sachlichen Wertung der innerdeutschen Kräfte kommen wir zu dem Resultat, dass die stärksten Reserven des neuen Deutschlands bei der Arbeiteropposition liegen (Br3: 161; Herv. d. Verf.).

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Denkschrift

v. a. evidenzausdrückende sprachliche Mittel, insbesondere die Ausdrücke klar oder selbstverständlich verwendet. Neben einer epistemischen Lesart, die teils noch modalisiert wird (Klar dürfte sein, dass es keine genügend kraftvolle und einheitliche illegale Bewegung gibt, die am Tage nach Hitler allein die Macht ergreifen könnte – Br3: 163), tritt klar als eigenschaftszuschreibendes Adjektiv auf (etwa klar feststellen, klare Aufgabe) und bestimmt nicht den Geltungsgrad einer Proposition, sondern qualifiziert eine Handlung oder einen Gegenstand auf der Basis von Beurteilungsmaßstäben. Die Lagebeurteilung erfolgt in Hinsicht auf ein später zu erreichendes Ziel, nämlich das Schaffen eines demokratischen Deutschlands. Zu ihr gehört die Frage, welche Entwicklungen, hier v. a. nach Kriegsende zu erwarten sind, was mit der Sprachhandlung des Prognostizierens zu verbinden ist: Niemand kann mit Sicherheit voraussagen, welchen Verlauf die Erhebung nach dem Sturz Hitlers nehmen, welchen Charakter sie erhalten wird. Sicher ist jedoch, dass durch die nazistische Niederlage im deutschen Volk starke Kräfte in Bewegung geraten werden (Br3: 157); Die unterschiedlichsten Interessen werden sich geltend machen, wenn als Folge einer militärischen Niederlage die deutschen Antinazisten und mit ihnen die zahlreichen Opportunisten des dann ziemlich risikolos gewordenen Antinazismus in Bewegung geraten. Höchst verschiedene Ziele werden von Gruppen und Einzelpersonen proklamiert werden. Eine unbändige Raserei wird sich gegen Naziführer und Gestapoleute richten. Man wird nazistische Hochburgen stürmen und die hitlerschen Organisationsapparate zerschlagen (Br3: 158).

Neben als sicher gekennzeichneten Prognosen, z. B. durch die wiederholte Verwendung des Idioms mit etwas rechnen (müssen), werden die zukunftsbezogenen Äußerungen als Vermutungen gekennzeichnet, für die es jedoch ziemlich starke Indizien gibt. Dazu dienen u. a. das Modaladverb wahrscheinlich und Formulierungen wie vieles spricht dafür. Aus den Lagebeurteilungen, die innen- und außenpolitische Politikfelder umfassen, resultiert das als notwendig erachtete Festlegen von Aufgaben, das hier exemplarisch illustriert wird: Die erste Aufgabe der neuen deutschen Regierung wird sein, rücksichtslos auf die nazistischen Verbrecher niederzuschlagen. Sie müssen verhaftet und bestraft und, soweit auf Grund von Verbrechen in anderen Ländern ein solches Verlangen ausgesprochen wird, an die Regierungen der Vereinten Nationen ausgeliefert werden. Die Gestapo und SS, die NSDAP und alle ihre Unter- und Nebengliederungen sind aufzulösen, alle Terrorgesetze sind aufzuheben. Alle öffentlichen Institutionen müssen von aktiven Nazis gereinigt werden. Gestapo- und SS-Leute und andere nazistische Verbrecher sind, sofern sie nicht wegen konkreter Delikte schärfer abgeurteilt werden, zu internieren und in einem Zwangsarbeitsdienst einzusetzen (Br3: 170).

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Neben der Verwendung des Futur I, das zur Formulierung präskriptiver Äußerungen dient (Die erste Aufgabe der neuen Regierung wird sein), wird das deontische müssen in agenslosen Passivkonstruktionen (müssen verhaftet und bestraft werden) sowie modale Infinitive (sind aufzulösen, sind aufzuheben, sind zu internieren) verwendet. Welche Maßnahmen erfolgen müssen, wird in den Denkschriften Brandts auch lexikalisch indiziert: durch sich um das Lexem Notwendigkeit gruppierende Äußerungen wie ergibt sich eindeutig die Notwendigkeit (Br2: 187) oder Wir haben bereits auf die Notwendigkeit hingewiesen (Br3: 200). Ferner werden deontische Formulierungen es gilt, es ist geboten, es bedarf oder Es steht auf der Tagesordnung verwendet. Diese Erscheinungen sind fast grundsätzlich agenslos und werden beim Festlegen notwendiger Aufgaben realisiert. Eine Alternative stellt das Listen von Aufgaben wie in Br2 dar, wie es auch in Denkschriften des Kreisauer Kreises erfolgt. Durch den Gebrauch von Verbalabstrakta/Nominalsätzen wird auch hier der Akteur nicht sichtbar: Herstellung der menschlichen Grundrechte (bes. der Juden, ausländischer Arbeiter, Kriegsgefangenen usw.), Verfolgung und öffentliche Aburteilung der für die Tötung und Beraubung Unschuldiger Verantwortlichen, Bekenntnisfreiheit, Allgemeine Rechtssicherheit, Auf allen Gebieten Sichtbarwerden der bewußten Umkehr aus nicht beschönigter, allgemeiner (auch internationaler) Schuldverstrickung (K2: 254).

Für das Festlegen von Aufgaben ist darüber hinaus noch charakteristisch, dass, sofern dies nicht ohnehin schon aus dem Text hervorgeht, die Zwecke der Aufgaben benannt werden: Umfassende Kontrolle über die Wirtschaft, um Krisen zu verhindern, Ordnung und Effektivität zu schaffen und die grösstmögliche wirtschaftliche und soziale Gleichstellung zu erreichen. Sicherung des Bestimmungsrechtes des Volkes durch Sozialisierung in dem Sinne, dass die Gesellschaft durch demokratische Organe und freie Organisationen die wichtigsten Zweige der Produktion, des Finanzwesens und der Verteilung übernimmt oder in gesicherter Weise reguliert. Planwirtschaft mit dem Zweck, ausreichend Verbrauchsgüter zu erzeugen, dem ganzen Volke das Recht auf Arbeit und Wohlstand zu sichern und dem Fortschritt und der Kultur zu dienen (Br2: 90).

Charakteristisch sind die final zu interpretierenden Nebensätze (um Krisen zu verhindern) und Nominalgruppen (in dem Sinne, dass, mit dem Zweck – hier in der Nachfolge mit einem restriktiven Relativsatz).33 Die genannten sprachlichen 33 Ähnlich auch in anderen Aufgabenkatalogen: Brechung des totalitären Zugriffs auf freie Gewissensentscheidung und Anerkennung der unverletzlichen Würde der menschlichen Person (Gru: 270), Die Grundeinheit friedlichen Zusammenlebens ist die Familie (Gru: 270), Die Arbeit muss so gestaltet werden, dass […] (Gru: 270), Die persönliche politische Verantwortung

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Denkschrift

Merkmale sind für die sprachliche Handlung des Forderns typisch. Allerdings werden sie von den Verfassern nicht als Forderungen, sondern häufiger als Aufgaben verstanden. Sie sind dergestalt nicht als direktive, sondern als kommissive Sprachhandlungen zu verstehen – die Verfasser*innen verpflichten sich selbst zur Ausführung zukünftiger Aufgaben. Dies wird dadurch gestützt, dass die Verfasser*innen sich als in irgendeiner Form Beteiligte an der Neuordnung Deutschlands verstehen und über ihre Pläne verständigen. Direktiv sind sie allerdings vor dem Hintergrund des in Denkschriften genannten Diskussionsprozesses, wenn nämlich Gruppen in die Pflicht genommen werden sollen, ähnlich wie die Verfasser*innen zu verfahren. Im Blickpunkt der Kreisauer Schriften steht sowohl die Befriedung Europas als auch die Neugestaltung Deutschlands im europäischen Rahmen. Da die Entwicklung der kriegerischen Auseinandersetzung nicht eindeutig prognostizierbar sei (Es ist schwierig festzustellen, welche Tatbestandsmerkmale objektiv feststehen; K4: 507), sind sie um eine prinzipielle Beurteilung des gegenwärtigen Weltkonflikts (K1: 241) sowie die Grundsteinlegung einer verantwortlichen deutschen Außenpolitik (K1: 248) bemüht. Es geht um die Festlegung bestimmter Grundsätze, die sich auf unsere Außenpolitik ›unter allen Umständen‹ wirken müssen (K1: 241; Herv. d. Verf.).

Kompositionen mit dem Basismorphem Grund- oder Ausgang-(›Fundament‹) wie von keiner Seite anfechtbare Grundgesichtspunkt (K1: 245), Grundauffassung (K1: 247) oder Ausgangspunkt (K3) sind in den Denkschriften allgegenwärtig und beziehen sich auf Diagnosen, der moderne Mensch sei entwurzelt und Abhilfe weder in den verbrauchten Formen eines individualistischen Liberalismus noch eines kollektivistischen Sozialismus (K1: 244) zu suchen. Auch der Klärung von Grundauffassungen sind unterschiedliche Gebrauchsvarianten des Verbs von etwas ausgehen verbunden: muss davon ausgegangen werden, daß […] (K1: 250) oder Ich gehe davon aus, daß […] (K3: 215). Während in den zuvor thematisierten Denkschriften somit Tatsachen festgestellt und Evidenzen formuliert werden, wird hier Anschauungsmaterial von den sich im Text realisierenden Prinzipien gedacht und der Versuch gemacht, Politik von unanfechtbaren oder unverzichtbaren Grundsätzen aus zu begründen. Den Festlegungen auf Grundauffassungen entspricht der Gebrauch der Fokuspartikel nur, mit der bestimmte Gruppen, Verhaltens- und Handlungsweisen allen denkbaren Alternativen vorgezogen werden; die Exklusivität wird ferner durch den Gebrauch restriktiver Relativsätze bestimmt: eines Jeden erfordert seine mitbestimmende Beteiligung an der neu zu belebenden Selbstverwaltung der kleinen und überschaubaren Gemeinschaften (Gru: 271), Das zertretene Recht muß wieder aufgerichtet werden (Gru: 270).

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Friedrich Markewitz / Britt-Marie Schuster

Gegenüber der großen Gemeinschaft, dem Staat, oder etwaigen noch größeren Gemeinschaften, wird nur der das rechte Verantwortungsgefühl haben, der in kleineren Gemeinschaften in irgendeiner Form an der Verantwortung mitträgt (K3: 215).

Grundauffassungen bilden dabei die Basis für Prognosen, die durch Idiome wie nach menschlichem Ermessen und aller Voraussicht nach (K2: 251) als ziemlich wahrscheinlich gelten: Der deutsche Ordnungsbeitrag wird sich nach menschlichem Ermessen im Spannungsfeld des amerikanisch-englisch-russischen Dreiecks vollziehen müssen (K1: 248; Herv. d. Verf.).

Sowohl für Der Weg als auch Das Ziel lässt sich das Ziel angeben, den Nationalsozialismus durch ein geordnetes Staatsgebilde zu ersetzen, das seinen politischen Aufgaben wieder gerecht wird: Aufgabe jedes Staates ist es, die auf Erhaltung und Verbesserung des Lebens gerichtete, naturgesetzlich gebotene Arbeit seiner Bürger zu schützen, alle dieser Tätigkeit dienenden Kräfte zu stärken, sie vor Entartung zu bewahren und ihnen eine möglichst lange Dauer sicherzustellen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern er hat eine Seele. […] Die Tätigkeit, die Staatsführung und Volk diesen umfassenden Staatsaufgaben widmen, nennt man Politik (G2: 83).

Beide Schriften gehen von der Grundannahme aus, dass der diktatorische oder tyrannische Führerstaat ebenso unmöglich wie der entfesselte überdemokratische Parlamentarismus [ist] (G2: 152).

Für beide Denkschriften ist zudem eine Faktizitätsdarstellung charakteristisch, in der Grundannahmen und Beurteilungsmaßstäbe nicht als solche bezeichnet werden, sondern aus den Formulierungsstrategien hervorgehen. In der Denkschrift Der Weg werden nacheinander das kaiserliche Deutschland, das republikanische Deutschland sowie das Diktaturdeutschland thematisiert (G1: 218). In den so benannten Zeitabschnitten werden v. a. die Verfassung sowie Innen-, Wirtschafts- sowie Außenpolitik thematisiert und beurteilt. In den einzelnen Teilen werden die Beurteilungsmaßstäbe nicht metakommunikativ expliziert, sondern gehen aus rekurrenten Formulierungsstrategien hervor. Der Beurteilungsmaßstab für Verfassungen und Verwaltung ist der der Klarheit bzw. Unklarheit, aus der dann positive oder negative Effekte geschlossen werden: Die Verfassung Bismarcks litt an einigen Unklarheiten (G1: 218), Unklar war die Stellung des Kaisers (G1: 218) oder Diese Unklarheiten haben sich schließlich beim Fehlen einer Bismarck-Persönlichkeit besonders in der Außenpolitik ausgewirkt (G1: 218). Klarheit wird häufig mit Geordnetheit und Sauberkeit verbunden. Die Orientierung an einer ›natürlichen Ordnung‹, in der jeder/jede seinen/ihren Platz

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Denkschrift

findet, ist ebenfalls ein Bewertungsmaßstab für politisches Handeln, wobei beides, nämlich naturhaft klar, zusammenwirken kann. Rechtzeitig wandte sich dessen Sohn, Friedrich Wilhelm I., wieder der entscheidenden Aufgabe zu, dem Recht und der Ordnung in den auseinandergerissenen Teilen des preußischen Staates in einer einfachen, klaren und sauberen Verwaltung und in einer Wirtschaftspolitik, die von strenger Achtung aller Naturgesetze erfüllt war, gesunde Grundlagen zu geben. Ohne den naturhaft klaren und sauberen Wirtschaftssinn des Vaters, ohne dessen organische Organisationsgabe, ohne dessen Sparsamkeit und ohne dessen Verzicht auf alle Ruhmredigkeit wäre die Politik Friedrichs des Großen nicht möglich gewesen. Auch er setzte der Politik ein klares, begrenztes Ziel (G2: 93).

In die Faktizitätsherstellung gehen Bewertungsmaßstäbe ein, die einerseits auf Vorstellungen der natürlichen Ordnung (das neue von Natur und Seele verlangte Gleichgewicht – G2: 85), andererseits auf Vorstellungen der »Totalität der Politik« basieren. Die Vorstellung von Ordnung ist mit denen eines Normalmaßes verbunden. Dies soll exemplarisch näher analysiert werden: Die Verantwortlichkeiten des Reichspräsidenten, der Reichsminister und des Reichstages waren klar geregelt. Aber die des Reichstags standen auf dem Papier, weil in professorenhafter Gründlichkeit die Demokratie auf exakte mathematische Formeln gebracht war. Das Verhältniswahlrecht war zwar rechnerisch gerecht, bedingte aber große Wahlkreise und war in demokratischer Übergenauigkeit noch auf eine Reichsliste gesteigert. (G1: 233), weiter dort: dann aber auch in übersehbaren Bezirken dieser so weitgehenden politischen Parteizersetzung, wie sie im Reich als Wirkung des Verhältniswahlrechts sich bemerkbar machte (G1: 234).

Normalitätsmaßstäbe werden an der häufigen Verwendung des augmentativ zu verstehenden Präfixoids über- deutlich, etwa bei in demokratischer Übergenauigkeit oder entfesselte überdemokratische Parlamentarismus (G2: 152). Die ›Überdemokratie‹ wird auf das Verhältniswahlrecht der Weimarer Republik zurückgeführt, das in professorenhafter Gründlichkeit ermittelt worden sein soll; beides steht im Gegensatz zur Klarheit (klar geregelt). Dass Festlegung auf ein nicht oder kaum spezifiziertes Mittelmaß Anlass zur negativen Bewertung ist, wird auch daran deutlich, dass auch der Nationalsozialismus mit Überorganisation (G1: 245), mit Überspanntheiten (G2: 87) und der Erste Weltkrieg auf Überziele (G1: 229) zurückgeführt wird. Neben einer auf Beurteilungsmaßstäben basierenden Einschätzung der Verfassung oder Verwaltung werden Ereignisse danach beurteilt, ob sie die o.g. Ziele gehemmt oder gefördert haben. Personen werden v. a. in Hinsicht darauf eingeschätzt, ob sie richtiges und fehlerhaftes Verhalten gezeigt hätten. Goerdeler versteht sich als objektiver Betrachter deutscher Geschichte: Laufen wir noch einmal den roten Faden objektiver Feststellungen entlang: eine unentschlossene, unfähige politische Führung hatte einen Leerraum geschaffen, in den die

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gewaltigen Energien eines Ludendorff bei der auf ihm liegenden Verantwortung eindringen mußten (G1: 231; Herv. d. Verf.); Diese Gedankengänge, die sich bemühen, in den Grenzen mathematischer Beweisbarkeit zu bleiben, rücken die in den letzten Jahrzehnten verbreiteten Auffassungen von der Politik des Krieges in das rechte Licht (G2: 85; Herv. d. Verf.).

Aus einer derart präsentierten Geschichte werden dann jeweils resümierende und als z. T. notwendig markierte Schlussfolgerungen abgeleitet, die als Lehre (i. S. einer Richtschnur) verstanden werden: Das ist eine eindeutige Lehre auch für uns (G1: 227); Wir haben aus dieser Geschichte die Lehre zu ziehen (G1: 228); Die entscheidende Lehre dieser Betrachtung ist (G1: 277); Als wichtige Tatsache verdient festgehalten zu werden (G1: 224).34

Auch in diesen Denkschriften wird die Alternativlosigkeit von Handlungsdeutungen oder Handlungsvoraussetzungen (im Rahmen von konditionalen Gefügen) durch den Gebrauch der Fokuspartikel nur markiert: Daraus ergibt sich, daß für die Durchsetzung dieses Zieles überhaupt nur Raum ist, wenn Deutschland rechtzeitig durch freien Entschluß den falschen politischen Mitteln entsagt (G2: 99); Aus der Vermählung dieser beiden Grundsätze konnten nur Zerstörung des Pflichtbewußtseins, Verwirrung, Überorganisation, Desorganisation und Korruption entstehen (G1: 245).

Während in G1 ausführlich die Herleitung des Zustandes begründet wird, die Aufgabenbestimmung jedoch recht knapp ausfällt, bietet Das Ziel einen umfassenden Aufgabenkatalog. Diese Aufgaben werden nahezu ausschließlich durch den modalen, deontisch zu interpretierenden Infinitiv gebildet (Auxiliar sein/haben zu ›x-en‹). Häufig wird temporal, nämlich mit dem Adverb sofort markiert, wann diese Aufgabe zu erfüllen ist: Die Lehr- und Schulbücher sind sofort einer Überarbeitung zu unterziehen (G2: 113).

Alternativen sind der deontische Gebrauch des Modalverbs müssen (Der Justizminister muß sofort den Oberreichsanwalt und die Generalstaatsanwälte unter Ausmerzung ungeeigneter mit den erforderlichen Weisungen versehen – G2: 109) sowie Passiv-Konstruktionen (Alle Beschränkungen der Freiheit des Geistes, des

34 Zumeist wird dabei die Singularität des Nationalsozialismus unterstrichen: Uns lehrt diese nicht nur in der deutschen Geschichte, sondern auch in der bekannten Weltgeschichte noch nicht dagewesene Entthronung jeder Moral, wo der Hebel anzusetzen ist (G1: 246).

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Denkschrift

Gewissens und der Forschung werden sofort aufgehoben – G2: 110). Als typisches Textstück kann folgendes gelten: Der Arbeitsdienst für junge Mädchen wird sofort aufgehoben; sie haben genügend Möglichkeiten der handfesten Beschäftigung im Hause. Die Führerinnen werden durch geeignete Staatsmaßnahmen gegen Arbeitslosigkeit geschützt. Mit dieser Aufgabe wird eine im Roten Kreuz erfahrene, bewährte Frau beauftragt. Es ist dringend notwendig, daß das junge Mädchen eine Zeitlang wieder der Mutter hilft, um in der Familie selbst die Pflichten der künftigen Hausfrau kennenzulernen. Auch vom Standpunkt der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist hier nichts zu veranlassen. Es gibt zahlreiche Berufe, in denen Kräfte dringend benötigt werden, z. B. für die Krankenpflege, den Wohlfahrtsdienst usw., und schlimmstenfalls ist es besser, es wird zu Hause geholfen, als in Lagern Unfug getrieben (G2: 136).

Wie im gesamten Aufgabenkatalog fehlt der Akteur, der die entsprechenden Maßnahmen in die Wege leitet, was sich an den Passivkonstruktionen bzw. modalen Infinitiven zeigt (wird … aufgehoben, werden … geschützt, ist hier nichts zu veranlassen). Ebenfalls erfolgt die Aufhebung des Arbeitsdienstes sofort und als Gegenmaßnahme ist die Restituierung eines alten Zustandes durch wieder der Mutter hilft angesprochen. Ferner wird die dringende Notwendigkeit der Maßnahmen betont. Wie unter 4.1. herausgearbeitet, ist das ErfahrungenHaben zentral, um politisch sinnvoll zu handeln. Entsprechend wird für eine spezifische Teilaufgabe eine im Roten Kreuz erfahrende, bewährte Frau beauftragt. Aus dieser Textstelle wird deutlich, was eigentlich für die gesamte Darstellung der einzuleitenden Maßnahmen gilt: Einerseits soll der totalitäre Zugriff auf alle soziale Ordnungen zurückgenommen werden, andererseits ist eine konservative und auch restaurative Tendenz unübersehbar (vgl. zu diesem Aspekt den Beitrag »Geschlechter- und Generationenbilder« in Teil 2).

5

Fazit

In ihrer prototypischen Form ist die Denkschrift eine zugleich informationsvermittelnde (Feststellen) und -steuernde (Verändern-Wollen) Textsorte. Ihre Funktion beeinflusst sowohl Textstruktur, Vertextung als auch Inszenierung des Selbstverständnisses der Textproduzent*innen. Aufgrund ihrer Produktivität aus Analysen von Ist-Zuständen Soll-Zustände begründet abzuleiten, erweist sie sich als wichtiges Instrument der Textkommunikation im ›Dritten Reich‹. Dahingehend ist es nicht verwunderlich, dass alle Akteursgruppen auf Denkschriften zur Ausformulierung ihrer Konzepte und Pläne zurückgriffen und sich dabei weitestgehend auf die Charakteristika der Textsorte eingelassen haben. Dabei lassen sich sowohl akteursübergreifende Gemeinsamkeiten als auch akteursspezifische Besonderheiten feststellen, die anhand der Konzepte der Posi-

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tionierung und der Handlungsmuster aufgespannt werden können und zur akteursgeleiteten Aufteilung des Beitrages geführt haben. Während sich für den Widerstand Selbstpositionierungsakte als Handlungen der Selbstautorisierung über Rekurse auf (eigene) Erfahrungen vollziehen (4.1), geht es den Akteuren des NS-Apparates insbesondere um ›Machtergreifung‹ und -festigung durch eine explizite Beziehungsarbeit (2.1), die vor allem die Nähe zum Hitlerschen Machtzentrum widerspiegelt. Für die Ausgeschlossenen bedeutet Selbstpositionierung zunächst ein spannungsreiches Einlassen auf den Widerspruch, sich noch als Teil der deutschen Gesellschaft zu verstehen, aber zugleich aus dieser unmittelbar ausgeschlossen zu sein. Dies resultiert sowohl in Annährungs- (3.1) als auch Abgrenzungsprozesse (3.2). Dabei sind auch die Inszenierungen von NS-Apparat als auch integrierter Gesellschaft als Fachmann sowie ideologisch gefestigter Teil der NS-Machtelite und der ›Volksgemeinschaft‹ (2.5) in einem positionierenden Sinne zu verstehen. Auffällig ist die ideologische Überformung ihrer sozialen Rollen und Selbstpositionierungen: Man inszeniert sich nicht als Mediziner, sondern als nationalsozialistischer Mediziner. Im Rahmen dieser Positionierungsakte finden sich in allen Texten Formen der Partei- und Distanznahme und damit der Inklusion wie Exklusion: Für den Widerstand bedeutet dies ein Eintreten für eine zukünftige Weltgemeinschaft, in der sich auch die Textproduzent*innen eine aktive Rolle zusprechen und ein Zurückweisen des Ist-Zustandes sowie der dafür verantwortlichen Akteure des NS-Staates (4.2). Für die Textproduzent*innen des NSApparates und der integrierten Gesellschaft gilt die ideologische Grenzmarkierung zwischen nationalsozialistischer ›Volksgemeinschaft‹ (Inklusion), die im Rahmen von Wir-Bezügen als Kollektiv konstruiert bzw. inszeniert wird (2.4), und rassisch Ausgeschlossenen (Exklusion) als konstitutiv und wird in den jeweiligen Texten umfassend vollzogen. Auch auf der Ebene der Handlungsmuster zeigen sich konstitutive Differenzen: Geht es dem Widerstand darum, eigene Faktizitätsdarstellungen zu konstituieren (4.3), die in Wirklichkeit die Lage Deutschlands bzw. des NS-Regimes abbilden – damit einher gehen auch Handlungsmuster des Tatsachen-Feststellens sowie Fragens (4.4) –, ist für die Denkschriften des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft das Moment der Krisen- bzw. Bedrohungskonstruktion konstitutiv (2.2). Die Inszenierung vermeintlicher Krisen dient vor allem der Festigung des NS-Systems auf verschiedenen Ebenen u. a. der Außen-, Wirtschafts- oder Bildungspolitik. Aus dieser z. T. konstruierten Bedrohungssituation werden aber auch eigene Forderungen abgeleitet. Diese beziehen sich zumeist auf den eigenen Machterhalt oder eine Erweiterung bisheriger Befugnisse. Diese karrieristische Ausrichtung ist bei den Texten der integrierten Gesellschaft weniger anzutreffen, in denen statt individualisierter Förderung eher gruppen-, schicht- oder standesbezogene Forderungen präsentiert werden. Damit einher

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Denkschrift

gehen Handlungen des (Selbst-)Erklärens (der Krisensituation aber auch der eigenen Perspektive (auf diese) und Positionierung) und des Bittens (bei Akteuren der integrierten Gesellschaft). Für die Ausgeschlossenen erweisen sich die mit Abgrenzungsprozessen verbundenen Handlungen des Kritisierens und Aufforderns als konstitutiv und sind so auch eindringliches Beispiel für den Mut dieser Textproduzenten. Insgesamt zeigt sich die Relevanz der Textsorte für die Textkommunikation im ›Dritten Reich‹, anhand derer auch die diskursiven Handlungsstrukturen und -bedingungen der jeweiligen Akteursgruppen erschlossen werden können. Die umfassenden kulturell-gesellschaftlichen Veränderungen und Neuorientierungen werden dabei nicht nur durch die Textsorte begleitend ausgelöst, sondern ebenso konserviert und geben so tiefe Einblicke in die Funktionsweisen einer in beständiger krisenhafter Transformation gefangenen Gesellschaft.

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Denkschrift

sabeth Schmitz. Neukirchen-Vluyn 1999. Online: https://jochenteuffel.com/2019/10/11 /elisabeth-schmitz-denkschrift-zur-lage-der-deutschen-nichtarier-von-1935-36-vollsta ndiger-text-einer-judenverfolgung-im-namen-von-blut-und-rasse-muss-eine-christen verfolgung-notwendigerweise-folgen/; Stand: 31. 03. 2022.

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Rede

1 Hinführung 2 Reden des Widerstands 2.1 Zum situativen Kontext widerständischer Reden 2.1.1 Erste Phase: Kommunistisch-sozialistischer (Massen-)Widerstand 2.1.2 Zweite Phase: Partielle Resistenz und ›Volksopposition‹ 2.1.3 Dritte Phase: Fundamentalopposition 2.2 Zu strukturierenden Textgestaltungsmitteln widerständischer Reden 2.3 Zu stilistischen Gestaltungsmitteln widerständischer Reden 3 Reden des NS-Apparats 3.1 Situative Varianz in den Reden des NS-Apparats 3.1.1 Hitler-Reden 3.1.1.1 Raum Reichstag: Parlamentarische Debattenrede 3.1.1.2 Adressat Roosevelt: Inszenierte Dialogizität 3.1.1.3 Öffentlichkeit Rundfunk: Behauptete Normalität 3.1.2 Goebbels-Reden: Zeit interpretieren 3.2 Standardelemente in Hitler- und Goebbels-Reden 3.2.1 Selbstsicht bestimmen 3.2.2 Logik simulieren 3.2.3 Begebenheiten analogisieren 3.2.4 Zielerreichung behaupten 4 Fazit: Rede als kommunikativer Akt im ›Dritten Reich‹ Quellen Widerstandsreden NS-Reden

1

Hinführung

Die Rede als »mündliche, zusammenhängende, meist längere, von einer einzelnen Person vor einem Publikum vorgetragene Äußerung« (Ueding 1992: 689, zit. nach Müller/Recknagel 2019: 440) gehört zu den wichtigsten kommunikativen Praktiken (vgl. Roth 2018: 497–499) bzw. Gattungen (vgl. u. a. Meier 2016: 42–44)

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oder Textsorten (vgl. Niehr 2014: 100–111) im kommunikativen Haushalt einer Sprachgemeinschaft. Als »Primärtexte« wirken Reden »unmittelbar auf den Diskurs« (Girnth 2015: 89) ein und sind so in zentraler Weise an der Konstitution, Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung diskursiver Zusammenhänge beteiligt. Die Relevanz der Rede als (meist) öffentliche kommunikative Handlung spiegelt sich sowohl anhand ihres Auftretens in klassischen europäischen Gründungstexten, z. B. der »Ilias« und »Odyssee« (vgl. Schirren 2019: 229), als auch anhand ihrer historiographischen Erfassung seit der Antike (vgl. Schirren 2019: 31–32) umfassend wider. Ausgehend von der durch Aristoteles tradierten klassischen Redetrias aus a) Fest- bzw. Gedenkrede, b) Gerichtsrede sowie c) Beratungsrede (vgl. Schöpe 2019: 352) soll letzterer als politischer Rede (vgl. Bock 2019: 375–376) besondere Aufmerksamkeit zukommen, so dass als konstitutive Einschränkung gilt, dass, wenn von Rede in diesem Beitrag gesprochen wird, die politische Rede gemeint ist. Politische Reden sind dabei »mündlich produzierte Texte, deren wichtigstes Ziel die Persuasion ist, also die Überzeugung oder Überredung eines Publikums und somit die Änderung (oder Stärkung) seines Verhaltens und [seiner] Einstellung« (Gruber-Tokic´/Adamski 2019: 587, Hervorhebung im Original). Auch die Beschäftigung mit der politischen Rede führt tief in die europäische Geistes- und Kulturgeschichte. So ist sie auf literarischer Ebene z. B. (erneut) in den homerischen Epen dem »Wirkungsbereich der arete der Heroen« (Blank 2019: 55, Hervorhebung im Original) zugeordnet und auf (polito-)philosophischer Ebene seit der Sophistik hinsichtlich ihrer Relevanz und Wirkungsmacht thematisiert worden (vgl. Schirren 2019: 24–25). Dabei hängt »die Entwicklung der politischen Rede im Sinne der Ausübung des demokratischen Rechts auf freie Rede« (Blank 2019: 59) eng mit der Ausbildung und (Weiter-)Entwicklung des griechisch-antiken Demokratieverständnisses zusammen (vgl. ebd.), wobei sich eine spezifische europäische Rhetorikvorstellung präfigurierend ausbildet, innerhalb derer der Überzeugungskraft der eigenen Rede ein besonderer Stellenwert zukommt (vgl. Göttert 2015: 40–57). Dies zeigt sich auch daran, dass bei »der inhaltlichen Gestaltung der Reden […] grundsätzlich nicht nur der Sachverhalt zu berücksichtigen [war], sondern insbesondere auch die Zusammensetzung des Publikums und die aktuell vorherrschende Stimmungslage zum Sachthema« (Blank 2019: 70). Wenn Reden Teil der Rhetorik sind, dann sind politische Reden Teil einer politischen Rhetorikvorstellung. Im Rahmen dieses Beitrages und korrelierend mit dem vorauszusetzenden diskursiven Raum im Nationalsozialismus wird der Aspekt der Persuasion (etwa im Sinn Josef Kopperschmidts) als grundlegend für politische Rhetorik und damit die politische Rede begriffen (vgl. Girnth 2015: 22). Emittenten politischer Reden wollen also überzeugen. Sie versuchen dies unter spezifischer Beachtung bzw. unter spezifischen Bedingungen des diskur-

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Rede

siven und des situativen Hintergrundes ihrer jeweiligen Redeakte. Diese Bedingungen wie Hintergründe sind aber für die verschiedenen Akteursgruppen unterschiedlich. So können die Akteure des NS-Apparates wesentlich einfacher einen höheren Grad an Öffentlichkeit herstellen bzw. erreichen als Akteure des Widerstandes, denen unmittelbar nach der Machtübernahme die Möglichkeiten des öffentlichen Redens entzogen wurden. Zudem kam es durch die umfassende »Durchherrschung« (Fix 2014a: 20) des Alltags im Nationalsozialismus zu einer zunehmenden Politisierung der Gesellschaft sowie der öffentlichen Kommunikation. Ein durch öffentliches Reden ( jeglicher Art) vollzogenes Positionieren kam so nahezu automatisch einem politischen Akt gleich. Diese Entdifferenzierung hatte auch Auswirkungen auf Abgrenzungen zwischen politischen Reden von anderen Rede- oder redeähnlichen Kommunikationsformen. Dies bedeutet z. B. für die Analyse widerständischer politischer Reden, dass auch Predigten (als eine der wenigen öffentlichen Möglichkeiten, sich kritisch gegenüber dem Regime zu äußern) zu diesem Redetyp gezählt werden, sofern ihnen ein widerständisch-persuasiver Handlungsgestus zugesprochen werden kann. Auch die Funktionalität der politischen Rede ist akteursspezifisch bestimmbar und bedeutet u. a. für die Akteure des NS-Apparates ein Überzeugen zum (bzw. zur Konstitution des) System(s) und für die des Widerstands zur Gegnerschaft oder zum Umsturz. Die auf verschiedenen Ebenen ablaufenden textkommunikativen Funktionalisierungs- und Anpassungsprozesse widerständischer Akteure sowie Konstitutionsprozesse von Akteuren des NS-Apparates anhand der Textsorte ›politische Rede‹ sollen Gegenstand dieses Beitrages sein, innerhalb dessen sowohl historisch relevante als auch bisher von der Forschung kaum oder gar nicht beachtete politische Reden der verschiedenen Akteursgruppen analysiert werden sollen: Insgesamt wurden 32 Reden in die Analyse einbezogen. 23 stammen von Akteuren des NS-Apparates,1 neun von Mitgliedern des Widerstands.2

1 Siehe dazu die Angaben im Quellenverzeichnis. 2 Für den sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Widerstand wurden die Reden Kurt Schumachers (1932) und Otto Wels’ (1933) ausgewählt, für den kommunistischen Widerstand die Reden A. Losowskis (1933) und Maurice Thorez’ (1935), für den bürgerlich-konservativen Widerstand die Verteidigungsrede Kurt Hubers (1943) sowie zwei BBC-Ansprachen bzw. -Reden Thomas Manns (1941 und 1942), für den kirchlich-religiösen Widerstand die Predigt Clemens August Graf von Galens (1941) und schließlich für den militärischen Widerstand die Rede des Hauptmanns Ernst Hadermann (1942).

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Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz

2

Reden des Widerstands

2.1

Zum situativen Kontext widerständischer Reden

Als in der Politolinguistik konsensual anerkannte zentrale Kategorien der Redeanalyse gelten die Redesituation sowie die Rollenkonstellation (vgl. Bock 2019: 383 oder Klein 2019a: 329–330). Damit verbunden soll Aspekten der Positionierung (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004, Leonardi 2018: 192–193 oder Grundler et al. 2020: 104–105) und der Erfassung des spezifischen Redetyps Aufmerksamkeit zukommen. Für den Widerstand korrelieren die Möglichkeiten politischen Redens mit den drei Hauptphasen des Widerstands gegen das sogenannte ›Dritte Reich‹: a) der ersten Phase des kommunistisch-sozialistischen (anfangs noch Massen-)Widerstands während der nationalsozialistischen Machtdurchsetzung, b) der zweiten Phase der partiellen Resistenz und ›Volksopposition‹ (flankiert von kirchlich-religiösen Widerstandshandlungen zwischen 1935 und 1940/41) und c) der Phase der Fundamentalopposition und Umsturzversuche der bürgerlichkonservativen Eliten (einsetzend ab 1938) (vgl. zur Phaseneinteilung sowie Benennung Broszat 1986: 295). 2.1.1 Erste Phase: Kommunistisch-sozialistischer (Massen-)Widerstand In dieser ersten Phase (1933 bis 1935) dominieren kommunistische bzw. sozialistische und sozialdemokratische Bemühungen, durch öffentlichkeitswirksame Propagandaarbeit gegen das sich konstituierende Hitler-Regime vorzugehen (vgl. Broszat 1986: 295–299 sowie van Roon 1998: 55). Dabei ist die Arbeit beider Akteurskomplexe von wechselseitigen Abgrenzungsbewegungen durchzogen, die spätere Versuche zum Zusammenschluss anfänglich verhinderten (vgl. Tuchel/Albert 2016: 10 oder van Roon 1998: 52–53). Stellvertretend für die erste Phase wurden die Reden der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Akteure Kurt Schumacher und Otto Wels sowie der kommunistischen Akteure A. Losowski und Maurice Thorez ausgewertet. Dabei zeigen sich in den jeweiligen politischen Reden umfassende Abgrenzungsbewegungen sowohl untereinander als auch gegenüber den Akteuren des NS-Systems. Die Reden Schumachers und Wels’ lassen sich so als Zwischenform aus Parlaments- und Protestrede charakterisieren. Ersterer Bezug zeigt sich z. B. anhand des institutionalisierten Adressatenbezuges, beginnen doch beide Reden mit der Anrede Meine Damen und Herren (R KS: o.S. sowie R OW: 1/2). Letzteres hingegen ist z. B. daran erkennbar, dass ein dezidiert abgrenzendes Zusam-

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Rede

mengehörigkeitsgefühl evoziert wird,3 z. B. über die Verwendung von Wir als inkludierendem Kontaktsignal (vgl. Rolek 2017: 414). So spricht Schumacher in einem von der NSDAP abgrenzenden und die Zusammengehörigkeit der SPD betonenden Sinne davon, dass Wir […] uns dagegen [wenden], auf diesem Niveau moralischer und intellektueller Verlumpung und Verlausung zu kämpfen (R KS: o.S.) oder vom Grad unserer Verachtung (R KS: o.S.), an den die Herren Nationalsozialisten (R KS: o.S.) niemals heranreichen werden. Eine ideologische Positionierung nimmt Schumacher ebenfalls vor, wenn er auf sich referiert als Vertreter der marxistischen Arbeiterbewegung und sich im Rahmen seiner Verortung von [d]iese[r] Partei dort drüben distanziert. Zugleich wird deutlich, dass Schumachers Abgrenzungen (auch über Abwertungen) auf dem ›Schlachtfeld der Politik‹ (siehe zur Kampfmetaphorik in politischen Reden Abschnitt 4) bzw. auf dem Gebiet der politischen Rhetorik vorgenommen werden, verweist er doch mehrfach auf das Handeln nationalsozialistischer Akteure als Agitation: Das deutsche Volk wird Jahrzehnte brauchen, um wieder moralisch und intellektuell von den Wunden zu gesunden, die ihm diese Art Agitation geschlagen haben (R KS: o.S.).

Auch bei Otto Wels sind Selbstpositionierungen klar erkennbar, spricht er doch von Wir deutschen Sozialdemokraten (R OW: 2) und grenzt sich von der nationalsozialistischen Aushöhlung des Rechtsstaates ab: Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt (R OW: 1).

Dieser offene Widerspruch gegenüber einer Macht (vgl. dazu Warnke/Acke 2018: 333) »war das letzte offen ausgesprochene Wort des Widerstands in einem deutschen Parlament gegen die Errichtung der NS-Diktatur« (Benz 2018: 88). Die Herausforderungen, sich in schwierigen Zeiten und unter bedrängenden situativen Umständen zu behaupten, zeigen sich dabei unmittelbar in der Rede Wels’, ist er doch auf der einen Seite höhnender Ablehnung von Seiten der Nationalsozialisten ausgesetzt – mehrfach wird seine Rede durch ein Lachen bei den Nsoz. (R OW: 1/2) unterbrochen – und kann sich aber auf der anderen Seite auf die verstärkende Zustimmung aus den Reihen der Sozialdemokraten verlassen – Sehr wahr! bei den Soz. (R OW: 1), Erneute Zustimmung bei den Soz. (R OW: 1) Lebh. Zustimmung bei den Soz. (R OW: 2), Beifall und Händeklatschen bei den Soz. (R OW: 2). Zustimmung und Ablehnung, Exklusions- und Inklusionsprozesse von Seiten der adressierten Reichstagsabgeordneten werden so zu einem unerwarteten Strukturierungselement dieser Rede und zeigen das Zusammen3 Vgl. Klein (2019a: 151) sowie zur Bedeutung des Bezugs auf Eigen- und Fremdgruppen Girnth (2015: 103).

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spiel von produzentenseitiger Verortung durch Selbstpositionierung und Abgrenzung und rezipientenseitiger Aufnahme bzw. Reaktion auf diese an. Dabei kommt beiden Reden besondere Bedeutung zu, da sie sich in einem noch kommunikativ öffentlich zugänglichen Raum vollziehen konnten, bevor vom NS-Regime keine Aussagen mehr zugelassen wurden, die mit seinem Meinungsdiktat nicht in Einklang standen (vgl. Schlosser 2013: 343). In dieser Hinsicht kann vor allem die Rede Wels’ – nach der Terminologie Josef Kleins – als »Große Rede« charakterisiert werden, die von einem wichtigen Emittenten zu einem Thema von großer Bedeutung in einer spannungsreichen Situation gehalten wurde und als historisch bedeutsam gilt (vgl. Klein 2019b: 146). Nur wenige Jahre später ließ sich Widerspruch in Form der politischen Rede nicht mehr öffentlich (i.S.v. der sogenannten Volksgemeinschaft umfassend zugänglich) vollziehen. Dies bedeutete (nicht nur, aber insbesondere) für sozialistische und kommunistische Akteure, dass eine Form von Öffentlichkeit nur noch im Exil und auf dort veranstalteten Parteikongressen (oder anderen Forumsformen) möglich war. Dies ist exemplarisch und durchaus prototypisch erkennbar an den Reden A. Losowskis auf dem »13. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale« (EKKI) am 7. Dezember 1933 oder Maurice Thorez’ auf dem »VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale« am 3. August 1935. Beide Reden konnten nur als Teil der kommunikativen Gattung ›Tarnschrift‹ illegal nach Deutschland geschleust und dort verbreitet werden, was die Limitierungen des politisch öffentlichen Redens widerständischer Akteure aufzeigt. Trotz der unterschiedlichen Kommunikationsbedingungen finden sich ähnliche (Selbst-)Verortungs- sowie Abgrenzungsbewegungen: Parteiliches Ideologievokabular verwendend, adressieren beide Redner ihre Zuhörer*innen als Genossen (R MT: 1/3/5 und R AL: 10). Thorez versteht seine Rede zudem als im Namen der Arbeiterklasse (R MT: 12) gehalten und spricht sowohl von unserer Partei (R MT: 10) bzw. unsere[r] kommunistischen Partei (R MT: 12) sowie abgrenzend vom faschistische[n] Feind (R MT: 3). Auch Losowski rekurriert auf die Fundamentalopposition zum NS-Regime, wenn er darauf verweist, dass nie zuvor zwei Ideologien, zwei politische Systeme so scharf und hart aufeinander[stießen], wie der Kommunismus und Faschismus (R AL: 6). Gleichzeitig werden auch die Abgrenzungsbewegungen von sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Akteursgruppen evident, wenn etwa Losowski dazu auffordert (siehe zu Aufforderungshandlungen Abschnitt 2.2), den Einfluss der Sozialdemokraten [zu] untergraben und endgültig zu liquidieren (R AL: 29) oder Thorez davon spricht, dass den

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kommunistischen Parteien […] angesichts der Krise der Sozialistischen Internationale, angesichts ihres sinkenden Einflusses, ihres zurückgehenden Mitgliederbestandes eine außerordentlich große Verantwortung [erwächst] (R MT: 19).4

2.1.2 Zweite Phase: Partielle Resistenz und ›Volksopposition‹ In dieser Phase (1935 bis 1940/41) treten insbesondere partielle Resistenzen hervor (vgl. Broszat 1986: 300–304). Diese innerdeutschen (bzw. innerhalb der nationalsozialistischen Diskursgrenzen stattfindenden) Oppositionsbewegungen lassen sich u. a. im kirchlichen Widerstand beobachten. Erneut muss auch für die kirchlichen Akteursgruppen einschränkend hinzugefügt werden, dass Widerstand kein kirchlich-institutioneller war, sondern von Einzelnen oder kleinen Gruppen ausging (vgl. van Room 1998: 122 oder Benz 2018: 188–208). Als einer der bekanntesten und populärsten Vertreter des katholischen Widerstands (vgl. Strohm 2017: 96) gilt Clemens August Graf von Galen, dessen »deutliche Worte« (Benz 2018: 185) in seiner Predigt vom Sonntag, den 3. August 1941, auch deshalb so bedeutsam waren, da Galen als Bischof und damit »katholischer Amts- und Würdenträger« (Benz 2018: 185) ein »öffentliches Signal [des] kirchlichen Widerstands« (ebd.) sprach. Galens Predigt kann dahingehend als Protestrede interpretiert werden. Deutlich erkennbar sind aber Unterschiede – nicht unbedingt hinsichtlich der Positionierungshandlungen, aber der Abgrenzungsbewegungen – zu den sozialistischen und kommunistischen Reden. So finden sich auch bei Galen sakralstilistisch geprägte Adressierungen des Publikums, und somit Inklusionshandlungen, als Meine lieben Diözesanen (R CG: 1), Andächtige Christen (R CG: 2), Christen von Münster (R CG: 6) sowie Meine Christen (R CG: 6). Weiterhin inkludierend spricht er von unseren Brüdern und Schwestern (R CG: 1) sowie von jene[n] armen kranken Menschen, Angehörige[n] unserer Familien (R CG: 2) bzw. von Menschen, unsere[n] Mitmenschen, unsere[n] Brüder[n] und Schwester[n] (R CG: 3). Im Gegensatz zu diesen positionierenden und inkludierenden Sprachhandlungen finden sich nur wenige Abgrenzungen. Zwar spricht er u. a. davon, dass er [g]egen einen Burschen, der vor Zeugen es wagte, derartiges zu behaupten, […] bereits Strafanzeige beim Herrn Oberstaatsanwalt erstattet (R CG: 1) hat, nicht aber wird eine Opposition zwischen katholischem Glauben und Faschismus (wie etwa in der Rede Losowskis) thematisiert. Stattdessen werden Einzelne – eben dieser Bursche[…], der vor Zeugen wagte, derartiges zu be-

4 Thorez’ Rede kann insgesamt als versöhnlicher charakterisiert werden, werden doch auch Vorschläge für ein Zusammenarbeiten thematisiert: Am 30. Mai wandten wir uns an den Vorstand der Sozialistischen Partei mit der Aufforderung zur gemeinsamen Organisierung des Kampfes für die Befreiung Thälmanns (R MT: 20).

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haupten (R CG: 1) kritisiert, nicht aber das System als Ganzes. Dies zeigt sich auch auf sprachstruktureller Ebene durch passivische Konstruktionen: Wie ich zuverlässig erfahren habe, werden jetzt auch in den Heil- und Pflegeanstalten […] Listen aufgestellt von solchen Pfleglingen, die als sogenannte »unproduktive Volksgenossen« abtransportiert […] werden sollen (R CG: 2). Aus der Anstalt Marienthal bei Münster ist in dieser Woche der Transport abgegangen (R CG: 2).

Dies indiziert an dieser Stelle auch die Schwierigkeiten, Opposition innerhalb der Machtbedingungen des herrschenden Diskurses auszuüben. 2.1.3 Dritte Phase: Fundamentalopposition In dieser letzten Phase des Widerstands (1938 bis 1944/1945) wird die Fundamentalopposition gegenüber dem verbrecherischen Hitler-Regime von z. B. bürgerlich-konservativen Akteuren offen kommuniziert, die aus dem Exil heraus Widerstand betreiben, wie Thomas Mann, der etwa in seinen 58 BBC-Reden umfänglich Kritik an den nationalsozialistischen Machthabern übte (vgl. Markewitz 2019: 245–247). In dieser Hinsicht lassen sich auch seine Redebeiträge dem Typ der Protestrede zuordnen. Explizit an Deutsche Hörer (R TMa: 34 sowie R TMb: 49) adressiert, macht Mann kein Hehl daraus, dass er das NS-Regime als Feind (R TMb: 50) bzw. als ein Experiment letzterreichbarer Unmoral und Brutalität, das sich nicht übersteigern und nicht wiederholen läßt (R TMa: 35) betrachtet und trotz aller (auch nachträglicher) Vorbehalte zwischen dem deutschen Volk und den Gewalten, die es heute beherrschen (R TMa: 34) unterscheidet (vgl. dazu Hoffschulte 2003: 280). Dass er sich selbst auf der Seite des guten Deutschlands bzw. des Deutschlands Dürers und Bachs und Goethe’s und Beethovens (R TMa: 35) verortet, indizieren umfängliche Selbstpositionierungs- und Abgrenzungsbewegungen, die er als bürgerlich-konservativer Akteur vor allem deshalb vornehmen konnte, weil er sich dem Diskursraum Nazideutschlands durch Exilierung entzog und nur durch besondere Umstände eine Möglichkeit fand, zu einem Teil Deutschlands zu sprechen. Dabei ist nicht auszuschließen, dass er an seinen Adressaten ›vorbeisprach‹. »Seine Stimme muß den Deutschen […] sehr, sehr fern vorgekommen sein« (Kurzke 2010: 22). Fundamentalopposition aus der Ferne bzw. dem Exil übte auch der Hauptmann Ernst Hadermann als Vertreter des militärischen Widerstandes, der während seiner Kriegsgefangenschaft weitere deutsche Offiziere vom Widerstand gegen Hitler zu überzeugen suchte. Ähnlich Galen, Schumacher oder Wels spricht Hadermann in seiner Protestrede direkt zu seinem Publikum, das er dementsprechend mit Meine Herren (R EH: 9/11/37/47) adressiert. Gleichzeitig

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finden sich umfassende Selbstpositionierungen. So spricht er z. B. von unserer antifaschistischen Gruppe (R EH: 37) bzw. von Wir antifaschistischen Offiziere (R EH: 9) sowie von uns alte[n] Frontkämpfer[n] (R EH: 11). Ähnlich Galen nimmt er auch Inklusionshandlungen vor und rekurriert auf unsere Kameraden (R EH: 9) bzw. – und dies ist aufgrund der ideologischen Markierung von besonderem Interesse – unsere[n] bürgerliche[n] Kameraden (R EH: 37). Neben der Konstitution eines ideologisch grundierten Redner-Ichs bzw. -Wirs sowie umfassenderen inkludierenden Bezügen grenzt sich Hadermann explizit vom NSRegime und insbesondere dem ›Führer‹ ab: Ein einziger Mann, durch Frevel zur unumschränkten Macht gekommen, hat ein stolzes, freies 80-Millionen-Volk in Fesseln gelegt und führt es, geblendet vom Wahnsinn der Maßlosigkeit und des Ehrgeizes, dem Abgrunde zu (R EH: 9–10).5

Die Fundamentalopposition mündet bei Mann wie bei Hadermann nicht nur in explizite Kritik, sondern auch in Aufforderungen, das Regime so schnell wie möglich zu überwinden: Diese Buße kann unser Volk aber nur von sich abwenden, wenn es sich von Hitler lossagt und die Verantwortung für seine Frevel rechtzeitig von sich weist (R EH: 15). Nicht siegen müßt ihr, denn das könnt ihr nicht. Ihr müßt euch reinigen (R TMb: 51).

Dass Fundamentalopposition aber nicht nur aus dem Exil kommend möglich war, zeigt die (geplante) Verteidigungsrede Kurt Hubers, der als Mitglied der Weißen Rose zwar an sich dem jugendlichen Widerstand zugehört, aber aufgrund seines Alters und seiner Stellung als Universitätsprofessor hier dem bürgerlich-konservativen Widerstand zugeordnet wird. Huber musste sich vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz Roland Freislers verteidigen und hatte dementsprechend eine Rede vorbereitet.6 Trotz der lebensbedrohlichen Situation fand Huber kritische Worte für das NS-Regime als Staat, der jegliche freie Meinungsäußerung unterbindet (R KH: 271) und dementsprechend ein ungeschriebenes Recht [bricht] (R KH: 272). Anders als die anderen Emittenten verortet sich 5 In diesem abgrenzenden Sinne lehnt er auch die Gültigkeit des soldatischen Eides auf Hitler ab: Wir haben unseren Fahneneid geleistet auf den Führer des deutschen Volkes. Von ihm uns loszusagen ist uns schwer geworden, sehr schwer […]. Aber Gott, der die Gewissen prüft und durchschaut, wird wissen um unsere Not und unsere Lauterkeit und wird uns freisprechen. Denn den Eid, den wir Hitler geleistet haben, haben wir ihm nur geleistet als dem Führer des deutschen Volkes. Hitler aber hat das Recht verwirkt, sich Führer des deutschen Volkes zu nennen. Durch Freveltaten zur Macht gekommen, führt er, vom Wahn geblendet, das Volk in die Katastrophe. Führer und Volk sind nicht mehr eins (R EH: 32). 6 Aufgrund der konkreten Redesituation (inklusive eines anwesenden Publikums) finden sich auch explizit an Freisler adressierte Beschwörungen: Ich bitte und beschwöre Sie in dieser Stunde, diesen jungen Angeklagten gegenüber im wahren Wortsinn schöpferisches Recht zu sprechen (R KH: 271).

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Huber allerdings nicht ideologisch oder in sonstiger Weise in einem Kollektiv.7 Dementsprechend fehlen weitestgehend inkludierende Sprachhandlungen. Stattdessen verweist er erklärend auf sich selbst, spricht davon, Was ich bezweckte (R KH: 270) oder davon, dass Ich […] mich im Sinne von Kants kategorischem Imperativ gefragt [habe] (R KH: 270). Abschließend kann für den Widerstand festgehalten werden, dass politische Reden vor allem durch die diskursiv sowie z. T. situativ bedingte Trias aus Selbstkonstitution, (Adressaten-)Inklusion und Abgrenzungsbewegungen charakterisiert sind. Unabhängig von den sich verändernden Möglichkeiten, öffentlich innerhalb des herrschenden nationalsozialistischen Diskurses zu sprechen, die lediglich am Anfang gegeben (siehe die Reden Schumachers und Wels’) und dann nur noch bestimmten Akteursgruppen unter einschränkenden Bedingungen zugänglich waren (siehe die Predigt Galens), so dass ein in irgendeiner Form öffentliches Sprechen vornehmlich aus dem Exil möglich war (siehe die Reden von Losowski, Thorez sowie Mann), finden sich in den Reden Konstitutionshandlungen, das rednerische Ich zu positionieren bzw. ideologisch zu verorten, daraus ableitend (anwesende, aber auch antizipierte) Adressaten anzusprechen oder zu inkludieren und sich insbesondere von Akteuren des NSApparates abzugrenzen. Diese Abgrenzungen fanden vornehmlich in Form kritischer Beurteilungen statt. Die Heterogenität und fehlende Einigkeit der verschiedenen Widerstandsgruppen konnten anhand der Analyse kommunistischer Reden herausgearbeitet werden. Dass Kritik und Widerspruch auch unter den widrigsten Bedingungen möglich war, zeigt die Rede Hubers. Deutlich wurden schließlich einzelne Sprachhandlungen, die in einem sich nun anschließenden Schritt umfassender aufgearbeitet werden.

2.2

Zu strukturierenden Textgestaltungsmitteln widerständischer Reden

Die Ebene der Textstruktur und der Vertextung (bzw. Themenstruktur) politischer Reden ist insbesondere durch den Hinweis auf das konstitutive Charakteristikum politischer Rhetorik als Persuasionsrhetorik (vgl. Klein 2019b: 11) vorgezeichnet. In dieser Hinsicht wird vor allem auf die argumentative Ausgestaltung der Reden zu achten sein. Argumentationen sind akteurs(gruppen)übergreifend redekonstitutiv und finden sich auch in den Reden des NSApparates wieder (siehe dazu die Abschnitte 3.1.1.3 sowie umfassender 3.2.2). 7 Als Ausnahme kann der Bezug auf ein Fichte-Gedicht am Ende seiner Rede gelten: Ich habe gehandelt, wie ich aus einer inneren Stimme heraus handeln mußte. Ich nehme die Folgen auf mich nach dem schönen Wort Johann Gottlieb Fichtes (R KH: 272). Dieser Rekurs auf ein literarisches Bezugssystem ähnelt der (Selbst-)Verortung Thomas Manns (innerhalb eines Deutschlands Dürers, Goethes und Beethovens).

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Weiterhin spielen auch narrative Elemente eine Rolle. Weitere auffällige Sprachhandlungen sowie Strukturhinweise werden ebenfalls thematisiert. Unabhängig von der zu untersuchenden Akteurskategorie zeigt sich für den Widerstand, dass Strukturhinweise mit der Komplexität der jeweiligen Rede einhergehen – je umfassender, desto mehr bzw. überhaupt finden sich Hinweise, z. B. in denen kommunistischer Akteure, die durch Einschübe wie Wie wir später ausführlicher zeigen werden … (R MT: 4), bevor ich … (R MT: 5), Die erste Frage, die wir zu beantworten haben … (R AL: 7) oder Ich sprach davon, wie … (R AL: 17) ihre Referate umfassend textstrukturell organisiert haben. Dies ist aufgrund der jeweiligen Längen (gedruckt gehen die Reden weit über zwanzig Seiten hinaus) notwendig, um dem Publikum rezeptionssteuernde Hilfen zu geben. Auch der militärische Akteur Ernst Hadermann gibt solche Hinweise: Nur kurz streifen will ich … (R EH: 19) sowie Doch ich kehre zurück zur Sache (R EH: 35).8 Eine konstitutive sprachliche Handlung innerhalb politischer Reden (vgl. Bock 2019: 382) ist die der Aufwertung (der eigenen Position und die der eigenen Partei). Sie vollzieht sich umfänglich in den verschiedenen widerständischen Reden. So rekurrieren z. B. die kommunistischen Emittenten auf einen grossen Erfolg (R AL: 13) bzw. ein positive[s] Beispiel (R AL: 19) der eigenen ideologischen Arbeit und leiten daraus die Gewissheit des Sieges ab: [U]nd wir werden ohne allen Zweifel den Sieg davontragen (R AL: 32). Ähnliche Aufwertungshandlungen zeigen sich bei den sozialistischen Redebeiträgen, wenn etwa Schumacher mit Stolz betont, daß System und Politik des Marxismus derartige persönliche Schmutzigkeiten immer ausgeschlossen haben (R KS: o.S.) oder Wels emphatisch darauf hinweist, dass [u]nsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete […] vor der Geschichte bestehen [werden] (R OW: 2). Individuellere, stärker auf die Emittenten bezogene Aufwertungshandlungen finden sich – dies mag mit ideologischen Gründen sowie unterschiedlichen Herangehensweisen an die Konzeption von Reden zusammenhängen – bei Akteuren des kirchlichen oder bürgerlich-konservativen Widerstands, wenn z. B. Galen darauf verweist, dass er bereits am 26. Juli bei der Provinzialverwaltung […] schriftlich ernstesten Einspruch erhoben [hatte] (R CG: 3) und sich so als positives Beispiel richtigen Handelns präsentiert. Auch Huber verweist – ähnlich wie Wels – darauf, dass [m]ein Handeln und Wollen […] der eherne Gang der Geschichte rechtfertigen [wird] (R KH: 271). In dem oben bestimmten Verhältnis von politischer Rhetorik als Persuasionsrhetorik (vgl. Klein 2019b: 11) steht »ein Miteinander von Streben nach politischer Macht (wer hat das Sagen?) und Sprachformen« (Schild 2019: 486) im Vordergrund. Dies wirkt sich unmittelbar auf die Vertextung der Reden aus, 8 Die anderen politischen Reden dieses (widerständischen Teil-)Korpus’ sind hingegen zumeist wesentlich kürzer und bedürfen daher keiner expliziten Strukturierung.

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wobei die Argumentation bzw. das Argumentieren als zentraler sprachlicher Handlungstyp der politischen Rede insgesamt (also akteurs[gruppen]übergreifend) bestimmt werden kann (vgl. Klein 2019b: 65, 129). Die Argumentation kann in einem rhetorischen Sinne9 definiert werden als a social, intellectual, verbal activity serving to justify or refute an opinion, consisting of a constellation of statements and directed towards obtaining the approbation of an audience (van Eemeren et al. 1987: 7).

Als kommunikative Praktik (vgl. Grundler et al. 2020: 101) bzw. komplexe Sprachhandlung (vgl. Klein 2019b: 71) kommt sie zum Einsatz, wenn etwas Strittiges behandelt und dann gerechtfertigt oder zurückgewiesen werden soll (vgl. ebd.). Dabei spielt bei Argumentationen innerhalb politischer Reden die Rechtfertigung von Handlungen eine wesentlich größere Rolle als die Wahrheitsfindung (vgl. Klein 2019b: 76) – auch dies entspricht dem persuasiven Impetus politrhetorischen Argumentierens im Gegensatz zu dem epistemologischen Impetus formallogischer Argumentationen. Das bedeutet, dass es »nicht darum gehen [kann], Aussagen auf ihre formallogische Schlüssigkeit zu überprüfen« (Bock 2019: 384).10 Entscheidend ist die »Relevanz der Argumente und die (wahrgenommene) Plausibilität der Relation zwischen Argument und Konklusion« (Bock 2019: 385). Dahingehend soll der Analyse ein reduziertes Argumentationsschema zugrunde gelegt werden, um die rhetorische Einbettung und die indirekte bzw. komprimierte, normativ aufgeladene, persuasive Funktion von Argumentationen in den Blick zu nehmen. Als ein solches wird das Schema Josef Kopperschmidts verwendet, der Argumentationen auf folgende Struktur bringt, davon ausgehend, dass dieses Schema nicht in allen Argumentationen vollständig realisiert wird: »p gilt, weil q gilt aufgrund von Gb [= Geltungsbedingungen; Anmerkung FM] in Pb [= Problembeschreibung; Anmerkung FM]« (Kopperschmidt 2018: 279). Auch in den widerständischen Reden zeigen sich Argumentationen vor allem indirekt und unvollständig realisiert. Umso wichtiger erscheint es, den argumentativen Charakter einzelner Sprachhandlungen anzuzeigen und so findet sich eine Vielzahl an Argumentationsindikatoren, darunter Aus diesem Grund 9 Dergestalt folgt dieser Beitrag einem rhetorisch geprägten Argumentationsverständnis i. S.v. u. a. Frans H. van Eemeren (1987: 213), Chaim Perelman (van Eemeren et al. 1987: 264–265) oder Josef Kopperschmidt (2018: 233 und 249). Nicht die formallogische Gültigkeit steht bei dieser Perspektivierung von Argumentation(en) im Vordergrund, sondern ihr Bewirkungspotenzial. 10 Dies ist auch insofern problematisch, als in Alltagsargumentationen selten vollständige Argumentationsschemata realisiert werden. So wird z. B. vielfach auf die »Nennung der Konklusion verzichtet […], weil die umstrittene These als Gegenstand der Argumentation bereits zu Beginn formuliert wurde« (Bayer 2007: 148).

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(R AL: 11), auf Grund (R AL: 14), weil (R AL: 9/RKS: o.S./R TMb: 51),11 denn (R THa: 36/R EH: 28) oder da (R CG: 3). Dies ist (in einem rezeptionssteuernden Sinne) durchaus notwendig, vollziehen sich doch die meisten Argumentationen implizit und sind in hohem Maße kontextbedürftig. Als Beispiel kann die Äußerung Wels’ angeführt werden: Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt (R OW: 1).

Offensichtlich ist, dass es um eine Rechtfertigung von Handlungen geht, nämlich der Verweigerung der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz der NSDAP. Die strittige Frage besteht darin, warum die Sozialdemokraten nicht für dieses stimmen. Im Sinne von Kopperschmidts Schema und unter Berücksichtigung der nicht explizierten Aspekte lässt sich folgende Argumentation rekonstruieren: Die SPD kann nicht für das Ermächtigungsgesetz stimmen [p gilt], weil die Mitglieder der SPD von denjenigen, die das Ermächtigungsgesetz eingebracht haben, verfolgt wurden [weil q gilt] und da man nicht für eine Partei (oder ein Gesetz) stimmen kann, die (das) Menschen verfolgt (sowie entmündigt und entrechtet) [aufgrund von Gb], wie es in dieser Situation der Fall ist [in Pb].

Deutlich wird anhand der kurzen Passage, dass es um die Überzeugung eines Publikums geht (das nicht unbedingt mit den anwesenden Akteuren im Reichstag übereinstimmen muss). Dies wird durch den Teilsatz wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können auch expliziert. Weiterhin zeigt sich, dass es nicht um epistemologische, sondern normative Zusammenhänge geht – [weil q gilt] muss in dieser Hinsicht als gesetzt gelten (dass die Mitglieder der SPD Verfolgung ausgesetzt waren),12 damit die strittige These bewiesen werden kann.13 Ebenso muss die Argumentation in den Köpfen der Hörer noch um entsprechende Geltungsbedingungen ergänzt werden, um zu einem vollständig realisierten Argumentationsschema zu kommen. Dies ist aber 11 Die Bestimmung von weil als Argumentationsindikator ist in der Forschungsliteratur umstritten (siehe dafür z. B. Kopperschmidt 2018: 268 und dagegen z. B. Eggs 2000: 407). Dies hängt auch mit dem jeweiligen Argumentationsverständnis zusammen. Da diesem Beitrag ein rhetorisches zugrunde liegt, lässt sich auch weil als argumentationsindizierend verstehen. 12 Dies könnte selbst wiederum eine strittige These werden, die in weiteren Schritten zu begründen wäre. 13 An dieser Stelle zeigt sich prototypisch die von Klaus Bayer angesprochene Tendenz von Alltagsargumentationen, Konklusionen wegzulassen, da sie schon in der strittigen These zu Beginn der Argumentation thematisiert wurden. Dies ist auch hier der Fall, ließe sich doch »Die SPD kann nicht für das Ermächtigungsgesetz stimmen« auch als Konklusion bzw. Ergebnis verstehen: »Die SPD wird verfolgt« [strittige These]. »Keine Partei hat das Recht auf unbegründete Verfolgung ihrer Gegner« [argumentative Stützung]. »Daher kann die SPD nicht für das Ermächtigungsgesetz stimmen« [Konklusion].

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in der tatsächlichen Situation und für das Verständnis der argumentativen Redepassage überflüssig, da es für die meisten Menschen eine selbstverständliche Ausgangssituation ist, dass Terror und Verfolgung verabscheuungswürdige Handlungen von Individuen und Parteien sind, denen man die Unterstützung entziehen sollte. Nun sind es allerdings nicht nur argumentative Passagen, durch die sich politische Reden auszeichnen. Ebenso bedeutsam sind narrative Elemente (vgl. Girnth 2015: 219), die dazu dienen, das Rednerimage zu profilieren sowie der Rede Anschaulichkeit und Lebendigkeit zu verleihen (vgl. Klein 2019b: 143–144 und insgesamt zu Narrationen Girnth/Burggraf 2019). Dies trifft auch auf die politischen Reden des Widerstands zu: Gruppenübergreifend rekurrieren Emittenten entweder auf selbst Erlebtes oder von anderen Seiten Erfahrenes, das sie narrativ vertexten, um so entweder sich selbst zu konturieren oder ihre persuasiven Strategien zu unterstützen. Als Beispiel für die Profilierung des Rednerimages sei auf einen narrativen Einschub Hadermanns verwiesen, innerhalb dessen er sein eigenes (schon frühes) Zweifeln am Nationalsozialismus greifbarer zu machen versucht: Unvergeßlich in Erinnerung bleibt mir ein Zwiegespräch mit einem bedeutenden konservativen deutschen Schriftsteller, den auch Sie alle kennen und achten werden, im Sommer 1935. Das Volk folgte damals noch, berauscht von Festen, Aufmärschen, Militärmusik, jubelnd Adolf Hitler […] (R EH: 12).

Raumzeitlich situierend (im Sommer 1935) erzählt Hadermann von seinem Erlebnis mit dem konservativen deutschen Schriftsteller, der schon vor der großen Gefahr Hitlers warnt und so auch den (späteren) Hauptmann zu einer zweifelnden Haltung bewegt, die sich nun – zum Redezeitpunkt 1942 in Kriegsgefangenschaft als antifaschistischer Offizier (R EH: 9) – offen zeigt und so das Verhalten des Emittenten (als Teil seines biographischen Narrativs) legitimieren soll. Als Beispiel für den Einsatz narrativer Elemente zur Unterstützung der persuasiven Strategie der Rede mag Galens langer erzählender Einschub dienen, innerhalb dessen er den Umgang mit »lebensunwertem Leben« und die damit verbundenen Konsequenzen für die einzelnen Familien eindringlich schildert.14 14 Aufgrund der Länge des Einschubes wird dieser in einer Fußnote wiedergegeben: Ich will euch ein Beispiel sagen, von dem, was jetzt geschieht. In Marienthal war ein Mann von 85 Jahren, ein Bauer aus einer Landgemeinde des Münsterlandes – ich könnte euch den Namen nennen –, der seit einigen Jahren unter Geistesstörungen leidet und den man daher der Provinzial-Heilanstalt zur Pflege anvertraut hatte. Er war nicht ganz verrückt, er konnte Besuch empfangen und freute sich immer, so oft seine Angehörigen kamen. Noch vor 14 Tagen hatte er Besuch von seiner Frau und einem seiner Söhne, der als Soldat an der Front steht und Heimaturlaub hatte. Der Sohn hing sehr an seinem kranken Vater. So war der Abschied schwer. Wer weiß, ob der Soldat wiederkommt und den Vater wiedersieht, denn er kann ja im Kampf

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Galens Protest im Rahmen seiner Predigt gegen die Euthanasiebestrebungen des NS-Regimes und sein Ziel, seine lieben Diözesanen (R CG: 1) vom ethisch-moralischen bzw. sittlichen und religiösen Unrecht dieser Handlungen zu überzeugen, wird durch diesen narrativen Einschub gestärkt und zeigt die Relevanz dieses Vertextungsmusters als Teil politischer Reden des Widerstands. Korrelierend mit dem Bewirkungsziel politischer Reden finden sich in den Reden umfassende Aufforderungshandlungen. Erneut unabhängig von der widerständischen Zugehörigkeit fordern die Emittenten ihr Publikum zu Handlungen auf, die sie durch argumentative und narrative Sprachhandlungen zuvor begründet haben. So etwa bei Galen: Ich fordere alle meine Zuhörer auf, ja alle anständigen Mitbürger, von heute ab, falls in ihrer Gegenwart solche Anschuldigungen […] ausgesprochen werden, sofort den Namen und die Wohnung des Anklägers und der etwa anwesenden Zeugen festzustellen (R CG: 1),

aber auch bei Mann: Nicht siegen müßt ihr, denn das könnt ihr nicht. Ihr müßt euch reinigen (R TMb: 52), Hadermann: Wir fordern unsere Kameraden an der Front auf, das deutsche Volk vor der ungeheuersten Katastrophe seiner Geschichte zu retten (R EH: 9)

oder Losowski: Die Hauptaufgabe besteht darin, in die tiefsten Schichten der Massen einzudringen und jedem Arbeiter klarzumachen, dass wir die Partei der Revolution, die Reformisten, die Partei der Verfassung sind (R AL: 14).

Spezifisch widerständische Sprachhandlungen der untersuchten politischen Reden sind vor allem die der Selbstkritik; insbesondere der kommunistischen und – zumindest in Ansätzen – militärischen bzw. bürgerlich-konservativen Akteure. Dies ergibt sich für erstere aus dem Redeanlass (auf den entsprechenden Kongressen und Versammlungen, auf denen bisherige Strategien reflektiert und neu entworfen wurden) und dem Selbstverständnis der Emittenten, die im Laufe der ersten Jahre den Aufstieg Nazideutschlands sowie die zunehmende für die Volksgenossen fallen! Der Sohn, der Soldat, wird wohl sicher den Vater auf Erden nicht wiedersehen; denn er ist seitdem auf die Liste der Unproduktiven gesetzt. Ein Verwandter, der in dieser Woche den Vater besuchen wollte, in Marienthal, wurde abgewiesen mit der Auskunft, der Kranke sei auf Anordnung des Ministerrates für die Landesverteidigung von hier abtransportiert. Wohin, könne nicht gesagt werden. Wie wird diese Nachricht lauten? Wieder so, wie in allen anderen Fällen? Daß der Mann gestorben sei, daß die Leiche verbrannt sei, daß die Asche gegen Entrichtung einer Gebühr abgeliefert werden könne? Dann wird der Sohn, der im Felde steht und für die deutschen Volksgenossen sein Leben einsetzt, den Vater auf Erden nicht mehr sehen – weil deutsche Volksgenossen in der Heimat ihn ums Leben gebracht haben! – Die von mir hier ausgesprochenen Tatsachen stehen fest. Ich kann den Namen des Kranken, seiner Frau, seines Sohnes, der Soldat ist, nennen und den Ort, wo sie wohnen! (R CG: 4).

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Ineffektivität des eigenen Handelns erkennen mussten und dahingehend die notwendig zu implementierenden Veränderungen (hinsichtlich der Ausrichtung ihrer Strategien) selbstkritisch reflektierten. Das offene Ansprechen erkannter Fehler ist dabei unmittelbar an das politische wie ideologische Selbstverständnis der kommunistischen Widerständler gebunden und nimmt so auch einen wichtigen Teil innerhalb der Reden ein: Trotz wirklicher Fortschritte bleibt indes die Organisation noch immer unser schwacher Punkt (R MT: 15). Fragen wir uns aber, was all dieser Selbstkritik gemeinsam ist, was der charakteristische Zug für alle hier angeführten positiven und negativen Beispiele ist, so müssen wir sagen, dass allen folgendes gemeinsam ist: 1) Die nicht genügend konsequente, systematische und zähe Vorbereitung dieser Kämpfe, 2) Das Unvermögen, selbst diejenigen Bewegungen auszunutzen und zu festigen, die unter unserer unmittelbaren Leitung entstanden sind und sich entfaltet haben, 3) Der wellenartige Charakter unserer Aktivität (R AL: 13).

Aber nicht nur das kommunistische und sozialistische Selbstverständnis ist durch die NS-Herrschaft und die damit verbundenen Erfolge in eine Krise geraten. Spätestens im Laufe des verheerenden Zweiten Weltkrieges wird für die militärische sowie bürgerlich-konservative Elite die Auseinandersetzung der schuldvollen Mitverantwortung eine zunehmend drängende Frage. Beispiel dafür sind die kritischen Ausführungen Hadermanns: Heute aber sind wir Vergewaltiger und Zerstörer der Völker. Wir opfern denselben Götzen, die uns im ersten Weltkriege so schmählich im Stich gelassen haben […]. Wir führen einen Tanz ums goldene Kalb. Und wir müssen büßen mit tragischem Untergang, wenn wir nicht rechtzeitig den Weg zurück finden zu uns selbst, zum Genius unseres Volkes (R EH: 46).

Anhand dieser Ausführungen zeigt sich zuletzt auch die Komplexität der Verschränkung der einzelnen Sprachhandlungen, kann so auch die Selbstkritik (bzw. Kritik des eigenen Standes, der eigenen Partei etc.) einem persuasiven Zweck dienen und soll ebenso von Widerstand überzeugen und zugleich dazu auffordern. Die Analyse der charakteristischen Vertextungsstrategien bzw. Sprachhandlungen in den politischen Reden des Widerstands hat die kompositionelle Komplexität der Reden deutlich hervortreten lassen. Neben akteursübergreifend eingesetzten Sprachhandlungen des Argumentierens, des narrativen Erzählens und des Aufforderns zeigen sich aber auch akteursspezifischere Strategien, wie die der Selbstkritik. Die Komplexität politischer Reden zeigt sich schließlich auch hinsichtlich ihrer stilistischen Ausgestaltung, die in einem weiteren und letzten Schritt zum Gegenstand gemacht werden soll.

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Rede

2.3

Zu stilistischen Textgestaltungsmitteln widerständischer Reden

Die Bedeutung des Einsatzes rhetorischer sowie stilistischer Mittel, um gewünschte Redeeffekte hervorzurufen oder zu unterstützen, ist hinlänglich beschrieben und in der rhetorischen Forschung gesichertes Wissen. Stil kann dahingehend als integraler Bestandteil eines jeden Textes und der damit verbundenen Textkommunikation beschrieben werden (vgl. Hoffmann 2017: 11/144) und dient dazu, dem differenzierten Kommunikationsbedürfnis der verschiedenen Produzent*innen zu entsprechen (vgl. Hoffmann 2017: 129). Damit ist zugleich die rezipientenseitige Notwendigkeit der Anpassung von rhetorischstilistischen Mitteln an Redegegenstand, Redesituation und eben auch Redepublikum zu bedenken (vgl. Gruber-Tokic´/Adamski 2019: 588ff.). Der so umfassende wie gezielte Einsatz stilistischer Textgestaltungsmittel zeigt sich auch in den verschiedenen Reden widerständischer Akteure. Dabei ist einleitend hinzuzufügen, dass wir Stil als holistisches und damit textganzheitliches Phänomen verstehen (i.S.v. u. a. Sandig 2006 oder Hoffmann 2017), im Rahmen dieses Analyseschrittes aber nicht das textuelle Stilganze, sondern einzelne Stilgestalten15 fokussieren, die in ihrem textuellen Zusammenhang die Gestaltstruktur des Textes bilden (vgl. Hoffmann 2017: 32). Dergestalt nehmen wir eine Mikroebenenperspektive (Stilgestalten) ein, sind uns aber der Meso- und Makroebenenzusammenhänge (erfassbar u. a. über Stilzüge) bewusst und leugnen keinesfalls die holistische Qualität von Stil. Deutlich erkennbar wird der frequente Gebrauch rhetorischer bzw. stilistischer Mittel innerhalb der untersuchten widerständischen politischen Reden. Sowohl Schlüsselwörter als auch (damit zusammenhängendes) Ideologievokabular finden sich dabei in allen Texten und indizieren eine universale Gebrauchstendenz, die aufgrund von Positionierungsakten notwendig erscheint: In dem Maße, in dem ein Redner ein Publikum für sich gewinnen bzw. von seiner Sache überzeugen will, muss er sich in den meisten Fällen als einer Sache zugehörig beschreiben. Dies trifft auf die durchaus heterogenen Widerstandsgruppen unmittelbar zu und bildet sich am Ideologievokabular (vgl. zur genaueren Bestimmung u. a. Niehr 2014: 65 oder Girnth 2015: 60–61), ebenso wie anhand von Schlüsselwörtern ab. Wenig verwunderlich sind Rekurse der kommunistischen und sozialistischen Emittenten auf entsprechend ideologisch gebrauchte Ausdrücke wie Genosse (R MT: 3/5), Bourgeoise (R MT: 4/6 oder R AL: 5), Proletariat (R MT: 4), Klassenkräfte (R MT: 6), Klassenkampf (R AL: 30), 15 Stilgestalten verstehen wir dabei im Sinne Hoffmanns als »sich aus Elementen (Gestalteinheiten) zusammen[setzende] [Phänomene], z. B. aus Silben und Wörtern« (2017: 31). Diese »können prägend sein für einen Text insgesamt oder für eine Textpassage oder für einen Teiltext« (Hoffmann 2017: 31).

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Großkapital (R MT: 9), Kleinbürgertum (R MT: 14), Arbeiterklasse (R MT: 12 oder AL: 7), Kapitalismus (R AL: 6) oder Sozialismus (R OW: 2) bzw. sozialistische Bewegung (R OW: 2). Interessant ist allerdings, dass Frequenz und Vielfalt in den kommunistischen Texten um einiges umfassender ausfällt als in den sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Kommunikaten, die zudem eine leichte Tendenz zu Institutionsvokabeln bzw. zur »Verfahrenssprache« (Girnth 2015: 58), wie formaler Protest (R KS: o.S.) aufweisen. Auch der militärische Akteur rekurriert auf sozialistische bzw. kommunistische Ideologievokabeln wie Antifaschismus (R EH: 9). Dies erklärt sich aber aus seiner Selbstpositionierung als antifaschistische[r] Offizier (R EH: 9). Zudem finden sich Bezüge zum NSIdeologievokabular,16 das aber in einem distanzierten Sinne gebraucht wird; etwas, das über die Anführungszeichen, in denen die Ausdrücke stehen, offensichtlich wird. Auch die bürgerlich-konservativen Redner nehmen distanzierenden Bezug auf dieses Vokabular, z. B. wenn Mann von junge[n] Untermenschen (R TMb: 49) spricht, der Redekontext aber klar erkennen lässt, dass er die ermordeten Juden nicht in diesem rassisch-minderwertigen Sinne versteht oder wenn Huber auf eine wahre[…] Volksgemeinschaft (R KH: 270) Bezug nimmt, die aber durch die systematische Untergrabung des Vertrauens von Mensch zu Mensch zunichte gemacht ist (R KH: 270). Auch Galen rekurriert z. B. mit dem Distanzmarker sogenannt auf lebensunwertes Leben (R CG: 2/3). Deutlich wird dergestalt, dass Rekurse auf Ideologievokabular der eigenen Positionierung dienen: Entweder, indem dieses verwendet wird, um sich selbst einer ideologisch fundierten Bewegung zuzuordnen, wie es die kommunistischen Akteure tun, oder in einem abgrenzenden Sinne, wenn sich die Emittenten von der NSIdeologie distanzieren wollen. Während der Gebrauch von Ideologievokabular unterschiedlichen Strategien unterliegt und dahingehend heterogen ausfällt, ist eine wesentlich größere Homogenität hinsichtlich der Schlüsselwörter »als Kernbestand des Ideologievokabulars« (Girnth 2015: 61) festzustellen. Schlüsselwörter haben »die Funktion, die komplexe Wirklichkeit, vereinfachend, man könnte auch sagen verdichtend, darzustellen« (Girnth 2015: 62). Sie sind Ausdrücke, die zu einer bestimmten Zeit besondere Aktualität gewinnen und mit denen man sein Programm bzw. seine Ziele bewirbt (vgl. Niehr 2019: 676). Dergestalt können sie als »Argumentation in nuce« (Niehr 2019: 676) gelten. Als relevante Schlüsselwörter des politischen Diskurses gelten u. a. Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit oder Demokratie (vgl. Girnth 2015: 63 oder Niehr 2014: 73).17 Da alle widerständischen Akteure die 16 So z. B. Rassenlehre (R EH: 14), Führer (R EH: 24), Endsiege (R EH: 25), artgemäß (R EH: 25) oder überfremdet (R EH: 26). 17 In der Forschung werden diese auch z. T. als Hochwertwörter bezeichnet. Konstitutiver Unterschied zwischen Schlüssel- und Hochwertwort ist die unterschiedliche Reichweite

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Rede

Gegnerschaft zum NS-Regime eint, ist es wenig verwunderlich, dass in allen Reden auf diese Bezug genommen wird: In fast allen Texten wird Freiheit (R MT: 14, R EH: 9/16/2118, R TMa: 36, R KH: 270/271, R OW: 1) als positiver Bezugswert gesetzt, den es zu erreichen gilt,19 ebenso wie sich Bezüge auf Frieden (R EH: 9/39, R TMa: 34) und Gerechtigkeit (R TMa: 34/35, R OW: 2) ausmachen lassen. Abseits dieser ›universell‹ verwendeten Schlüsselwörter zeichnen sich die einzelnen Widerstandsgruppen zusätzlich durch akteursspezifischere aus. So nehmen beispielsweise kommunistische Emittenten häufig in Form von Kriegsbzw. Kampfmetaphorik Bezug auf die proletarische Revolution (R MT: 5), den antifaschistischen Kampf (R MT: 5) oder das Ende des Kapitalismus (R AL: 6), während bürgerlich-konservative oder militärische Redner (durchaus erwartet; vgl. dazu Schlosser 2013: 121) ethisch-moralische, also deontisch markierte Schlüsselwörter wie Ehre (R EH: 39), Treue (R EH: 32), Pflicht (R KH: 271, R EH: 27), Gewissen (TMb: 50, R KH: 271), aber auch Schuld (R TMb: 51), Sittlichkeit (R KH: 270) oder Sühne (R TMb: 51) verwenden.20 Dies eint sie mit kirchlichen beider: »Im Gegensatz zum ›Hochwert‹- ist das ›Schlüsselwort‹ dadurch charakterisierbar, dass es keine universelle Verwendung findet. Stattdessen kommt es dann zur Anwendung, wenn unterschiedliche Deutungsmuster vorliegen und durch Ausdrücke auf diese Bezug genommen wird […]. Dergestalt kann von der Kontextbedürftigkeit des ›Schlüsselwortes‹ gesprochen werden; eine Kontextbedürftigkeit, die beim ›Hochwertwort‹ nicht in dieser zwingenden Form gegeben ist« (Markewitz 2020: 38). Vor dem Hintergrund der Agonalität und Inkommensurabilität der verschiedenen Diskurse im ›Dritten Reich‹ (insbesondere zwischen widerständischen Diskursen und Diskursen des NS-Apparats) und den damit einhergehenden semantischen Kämpfen erscheint es passender, auch scheinbar ›universelle‹ Ausdrücke wie Freiheit oder Gerechtigkeit als kontextbedürftig zu charakterisieren, die von den jeweiligen Akteuren bedeutungskonkurrierend gebraucht, also mit unterschiedlichem Inhalt wie Sinn versehen werden. 18 Hadermann benutzt Freiheit in derart hoher Frequenz, dass der Ausdruck als Leitvokabel seiner Rede charakterisiert werden kann: Das deutsche Volk ist von Hitler in Ketten geschlagen. Es kann weder politisch reden noch politisch handeln. Noch kann es nichts tun für die Wiedereroberung seiner Freiheit. Wir Kriegsgefangenen […] sind politisch freier als unser sogenanntes freies, in Wirklichkeit versklavtes Volk (R EH: 29). 19 s. zur Bestimmung des Ausdrucks im Nationalsozialismus den Beitrag ›Freiheit‹ in Teil 2. 20 Diese stark religiös motivierten bzw. konnotierten Ausdrücke lassen die Reden Manns in die Nähe zur Predigt Galens rücken: Je länger der Krieg dauert, desto verzweifelter verstrickt dieses Volk sich in Schuld, und aus dem einzigen Grunde dauert er heute noch an, weil es euch Deutschen zu spät scheint zum Aufhören; weil ihr fühlt, es sei zuviel geschehen, als daß ihr noch zurück könnt; weil euch Entsetzen erfaßt, bei dem Gedanken der Liquidation, der Abrechnung, der Sühne (TMb: 51). Mann erweist sich dabei als auch aus dem Exil genauer psychologischer Beobachter der Mentalität der deutschen Volksgemeinschaft, deren ausbleibender kollektiver Widerstandswillen auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive mit den von Mann erkannten Gründen erklärt wurde: »Je weiter der Krieg vorangeschritten war, desto stärker erwies sich die Furcht vor den Folgen einer Niederlage als Bindeglied zwischen Führung und Volk. Die Angst vor einem Einmarsch der Roten Armee, das schlechte Gewissen wegen der Massenverbrechen, der Mitwisserschaft und auch der Komplizenschaft waren Gründe für das widerstandslose Durchhalten bis zuletzt« (Roth 2015: 260). In dieser Hinsicht kann trotz der

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Akteuren wie Galen, der ebenfalls auf Ehre (R CG: 1) und Sittlichkeit (R CG: 3) rekurriert. Dass diese Schlüsselwörter zudem in einem Gebrauchsnexus zueinanderstehen, wird durch frequente Bezüge und Kollokationen der Ausdrücke ebenso deutlich: Ihre Ehre war es, freie Männer zu sein, als freie Männer im Thing [sic!] des Volkes über Krieg und Frieden zu entscheiden, als freie Schwertträger ihres Volkes Recht zu finden und ihres Volkes Schicksal zu bestimmen (R EH: 39–40).

Über die Texte der kommunistischen Akteure hinausgehend wird so nicht nur ein allgemeiner Zielzustand (des Friedens, der Freiheit oder Gerechtigkeit) konstruiert, und damit eine kollektivistische Perspektive eingenommen, sondern auch das Individuum bzw. die Ebene des individuellen Handelns angesprochen, von der ausgehend auf die Pflicht des Einzelnen Bezug genommen wird, sittlich oder ehrenhaft zu handeln: Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht (R OW: 1). Ich bin es der Ehre unserer Ordensleute, der Ehre unserer hlg. Katholischen Kirche und auch der Ehre unseres deutschen Volkes und unserer Stadt Münster schuldig, daß ich durch Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft für gerichtliche Klarstellung des Tatbestandes und für die Bestrafung gemeiner Verleumder Sorge trage (R CG: 1).

Diese ethisch-moralische Perspektive wird z. T. auch expliziert, wenn z. B. Huber auf den kategorischen Imperativ als Richtschnur seines Handelns verweist: Ich habe mich im Sinne von Kants kategorischem Imperativ gefragt, was geschähe, wenn diese subjektive Maxime meines Handelns ein allgemeines Gesetz würde (R KH: 270).

Zu weiteren frequent gebrauchten rhetorischen bzw. stilistischen Mitteln, die sich in den politischen Reden des Widerstands haben finden lassen, gehört die Verwendung von Superlativen, Metaphern sowie Parallelismen, die so auch den Text als Ganzes prägen und durch ihre Verwendung Hinweise auf die Selbstinszenierung der Emittenten geben können: Insbesondere der Parallelismus, ebenso wie die Anapher, wird dazu verwendet, um einen inhaltlichen Aspekt besonders hervorzuheben (z. T. im Sinne der Profilierung des Redner-Ichs oder der Gruppe, der sich der Redner zugehörig fühlt): Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Barone, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht (R OW: 2).

zerdehnten Redesituation von einer Anbindung bzw. Einfühlung Manns an bzw. in sein intendiertes Publikum gesprochen werden.

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Rede

Man mag sie zerschlagen, man mag sie schlachten, sobald sie diese Bestimmung nicht mehr erfüllen (R CG: 3). Wie können wir uns in den reformistischen Gewerkschaften halten, wenn wir gegen uns die Gewerkschaftsbürokraten haben? Wie können wir uns in ihnen behaupten, wenn der gesamte Staatsapparat die Gewerkschaftsbürokraten gegen uns unterstützt? (R AL: 20).

Auch superlativische Formulierungen dienen dem Zweck der Verstärkung: Wir haben tausend und abertausend Mal zusammen mit Euch beschlossen, dass wir eine Einheitsfront nur für den Kampf gegen das Kapital herbeiführen (R AL: 15, Hervorhebung im Original). Und diese Gesinnung war wohl die uneigennützigste, idealste, die man sich denken kann! (R KH: 271).

Korrelierend zum beschriebenen Ideologievokabular finden sich vornehmlich Kriegs- bzw. Kampfmetaphern: Man darf das Gesicht der Kommunistischen Partei nicht verhüllen, man muss in den Kampf mit offenem Visier ziehen (R AL: 31). Wir sehen keinen Gegner, mit dem wir die Klinge kreuzen könnten (R KS: o.S.)

oder Revolutionsmetaphern: Er [i. e. der Kommunismus] zerstört alle Hindernisse, er reisst alle Schranken nieder, denn die kommunistische Partei verkörpert die gesamte Macht […] die gesamte revolutionäre Leidenschaft unserer grossen Klasse (R AL: 31).

Schließlich sind auch natur- oder tiermetaphorische Elemente nachweisbar: Im ganzen Lande, in Paris und in der Provinz, erhebt sich eine mächtige Welle der Unzufriedenheit (R MT: 4). Man urteilt, sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das unheilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine Kuh, die nicht mehr Milch gibt (R CG: 3).

Letztere tiermetaphorische Zusammenhänge finden sich dabei sowohl in abwertend-negativen als auch aufwertend-positiven Zusammenhängen (vgl. zur Bedeutung und Funktionalität von Tiermetaphorik z. B. Walaszewska 2017: 73– 86): Dergestalt spricht etwa Galen nicht nur von der problematischen Gleichsetzung im Rahmen der nationalsozialistisch propagierten Ideologie von Kranken oder Behinderten mit alten Pferden, die unheilbar lahm geworden sind (in einem negativen Sinne), sondern auch von (seinen) Gläubigen, die von Gott wie die Henne als Kücklein unter seine Flügel genommen werden (vgl. R CG: 4) (und damit in einem positiven Zusammenhang).

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Diese metaphorisch aufgeladenen Einschübe dienen vornehmlich der Intensivierung des Gesagten, um eine stärkere Emotionalisierung des Publikums zu erreichen (vgl. auch Meyer/Serbina 2019: 619). Es zeigt sich also, dass der Einsatz rhetorischer bzw. stilistischer Mittel als Teil der Textkommunikation (vgl. Hoffmann 2017: 11) vor allem zwei Zielen dient: einerseits der Verstärkung eines Aussagegehalts, damit sich dieser z. B. besser einprägt, aber auch, im Sinne von Stilfärbung, der Emotionalisierung des Zielpublikums. Andererseits dient die Verwendung aber auch zur Konturierung oder Profilierung des Emittenten im Sinne der Rollengestaltung und Imagepflege (vgl. Hoffmann 2017: 65–66). Dies trifft auch bei der Verwendung umgangssprachlicher Elemente zu, über die sowohl eine größere Nähe zu den intendierten Adressaten hergestellt als auch die eigene emotionale Involviertheit hervorgehoben werden soll. In diesem Sinne werden unerwartete und z. T. harsche Ausdrücke verwendet, z. B. durch Huber, der davon spricht, dass die Forderung der freien Selbstbestimmung auch des kleinsten Volksteils […] in ganz Europa vergewaltigt [ist] (R KH: 270), durch Mann, der mehrfach die umgangssprachlich gebrauchte Redewendung auf den Hund gekommen (R TMa: 34) verwendet oder Schumacher, der die ganze nationalsozialistische Agitation (R KS: o.S.) als dauernden Appell an den inneren Schweinehund im Menschen (R KS: o.S.) beschreibt. Daneben wird dieser Registerwechsel auch durch Ausdrücke wie festnageln (R MT: 5) oder Geschwätz (R AL: 5) vollzogen. Als weitere rhetorische bzw. stilistische Auffälligkeiten, die allerdings nicht in dem Frequenzumfang der soeben genannten Aspekte auftreten, lässt sich die Verwendung von Ironie und rhetorischen Fragen sowie der Gebrauch der rhetorischen Figuren des Chiasmus21 und der Epanalepse22 bestimmen. Ironisches Sprechen, als pragmatische Konstellation, bei der ein Sprecher oder Schreiber aufgrund von geteilten bzw. als geteilt vorausgesetzten Wissensbeständen das Gegenteil oder jedenfalls etwas Anderes meinen kann als das, was aufgrund des wörtlich Geäußerten erwartbar wäre (Gloning 2019: 703),

kann in der mündlichen Kommunikation über eine Vielzahl prosodischer Elemente indiziert werden. Dieser ›Erkennensproblematik‹ bei der Analyse ver21 Vgl. z. B. Ich habe gehandelt, wie ich aus einer inneren Stimme heraus handeln mußte (R KH: 272) oder Die Welt braucht Deutschland, aber Deutschland braucht auch die Welt (R TMa: 35). 22 Vgl. z. B. Die Nachricht klingt unglaubwürdig, aber meine Quelle ist gut. In zahlreichen holländisch-jüdischen Familien, so wurde ich unterrichtet, in Amsterdam und anderen Städten, herrscht tiefe Trauer um Söhne, die eines schaurigen Todes gestorben sind […]. Sie sind tot – gestorben für die »Neue Ordnung« und die Kriegs-Ingeniösität der Herrenrasse. Eben dafür waren sie allenfalls gut genug. Es waren ja Juden. Ich sagte: Die Geschichte klingt unglaubwürdig (R TMb: 49).

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Rede

gangener Reden wird in vielen Texten dahingehend begegnet, dass die ironisch (und dabei oft in einem dekonstruktiven Sinne) verwendeten Ausdrücke in Anführungszeichen gesetzt werden. So zeigt sich, dass widerständische Redner vor allem NS-Ideologieausdrücke in einem ironisch-dekonstruktiven Sinne verwenden: Nie war der Bauer so wenig mitberechtigter Bürger in seiner Gemeinde, nie so wenig Herr auf seinem eigenen Hofe, wie unter dem nationalsozialistischen Regime. Das ist die »Wiederherstellung der Freiheit des Bauerntums« (R EH: 19).

An diesem Beispiel erkennbar ist auch das Ineinandergehen verschiedener rhetorischer bzw. stilistischer Mittel, die so in einem eng verwobenen Netz gegenseitiger Verstärkung zum Einsatz kommen und damit auch die Textganzheitlichkeit von Stilgestalten erkennbar machen. Auch rhetorische Fragen lassen sich in diesem Netz finden (in den folgenden Beispielen verbunden mit Superlativen und Parallelismen) und dienen den identifizierten Emittentenzielen der Verstärkung des Inhalts oder der eigenen Positionierung: Und können Sie sich Stifter als SA-Sturmführer, Raabe als Gauschulungsleiter und den höhesten unserer Sänger, Hölderlin, als SS-Mann vorstellen? (R EH: 23). Hat der Sohn Gottes in seiner Allwissenheit damals nur Jerusalem und sein Volk gesehen? Hat er nur über Jerusalem geweint? (R CG: 6).

Abschließend kann hinsichtlich der rhetorischen bzw. stilistischen Ausgestaltung der politischen Reden der Widerständler vor allem die Frequenz an Variationen festgehalten werden. Akteursgruppenübergreifend erweisen sich die Emittenten als versierte Redner, die zur Verstärkung ihrer persuasiven Botschaften ebenso wie zur Konturierung sowie Profilierung ihres Redner-Ichs eine Vielzahl rhetorischer bzw. stilistischer Mittel kunstvoll ineinander verwoben einsetzen. Obwohl in unterschiedlichen rhetorischen Traditionen stehend, erweisen sich die kommunistischen und sozialistischen Akteure, die aufgrund ihrer politischen Arbeit geübte Redner waren, ebenso wie die bürgerlich-konservativen Emittenten, die z. B. aufgrund ihrer Professionen (Huber als Hochschullehrer und Mann als Literat) rhetorisch-stilistisch versiert waren, als kundige Redner, die geschickt die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzten, um im persuasiven Kampf um Meinungs- und Deutungshoheit die eigene bzw. gruppenbezogene Haltung zu vermitteln sowie davon zu überzeugen.

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Reden des NS-Apparats

Wenn es ein Sprachereignis gibt, das als konstitutiv für den Nationalsozialismus gilt, wenn es eine Textsorte gibt, die als symptomatisch den Akteuren des NSApparats zugewiesen wird, wenn es eine Performanz gibt, die prototypisch den Nationalsozialismus und seine Auftritte kennzeichnet, dann ist es die mündlich realisierte politische Rede, insbesondere Hitlers und Goebbels’. Während die Reden vor 1933 dabei vornehmlich der Machterringung und der Konsolidierung der NSDAP dienten, waren sie nach 1933 davon geprägt, dass Hitler als Führer und Reichskanzler rhetorisch agierte. So urteilt Ian Kershaw noch in Bezug auf das Jahr 1927, dass Hitler »nur wenig Aufmerksamkeit zuteil [wurde]. Wer Hitler beachtete, reagierte oft abfällig oder herablassend oder beides zugleich« (Kershaw 1998: 386). Das war nach 1933 natürlich ganz anders – zumal der NS-Staat nun auch ›Erfolge‹ vorweisen konnte. Die intonatorischen Elemente insbesondere der Reden Hitlers sind ebenso umfassend beschrieben worden (vgl. u. a. Scholdt 2003, Kopperschmidt 2003 und Kühn 2003), wie es Analysen auf lexikalischer Ebene gibt, die für den NSSprachgebrauch bzw. nationalsozialistischen Sprachstil (Braun 2007) charakteristische Elemente herausgearbeitet haben, darunter Superlative, Wiederholungen, biologistische, Technik- und Sport-Metaphorik, Vereinfachungen, vielfache Reproduktion von Schlag- und Fahnenwörtern, Gebrauch von Pleonasmen etc.23 Auch der interaktive Aspekt der Massenreden, also die Einbeziehung des Publikums, wurde analysiert (Beck 2001). Da die politischen Reden Hitlers und Goebbels’ also bereits umfassend untersucht sind, wird der Fokus nachfolgend auf die situativ-pragmatische Anpassung und ihre sprachliche Entsprechung gelegt. Am Beispiel von drei ausgewählten Reden Hitlers werden die drei situativen Faktoren Raum, Adressat, Öffentlichkeit, und am Beispiel diverser Kriegsreden Goebbels’ wird der redekonstituierende Faktor Propaganda und Krieg exemplarisch untersucht. Anschließend werden vier mit hoher Evidenz reproduzierte rhetorische Standardelemente als seriell vorkommende Redenphänomene vorgestellt. Sie ergänzen die in den Abschnitten 2.2 und 2.3 beschriebenen Aspekte und machen so auch die Heterogenität von widerständischen und NS-Reden sichtbar.

23 Vgl. dazu exemplarisch die Beiträge in Kopperschmidt (2003).

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301

Rede

3.1

Situative Varianz in den Reden des NS-Apparats

Wie alle Redner passen Hitler und Goebbels ihre Reden und den durch sie erforderten Inhalt und Redestil situativ an (siehe zur Bedeutung der Redesituation auch Abschnitt 2.1). Die Beschaffenheit ihrer Reden ist daher von einer Reihe an Faktoren beeinflusst.24 Hitler wusste: »Führer [brauchen] Distanz […] – räumlich wie sozial; und die war nur in großen Räumen herstellbar – mit Massen« (Kopperschmidt 2003: 187). Räume und Orte spielen eine herausragende Rolle. Sie wurden planvoll nach strategischen, adressatenorientierten (vgl. Epping-Jäger 2003: 153) sowie den Redeerfolg (Persuasion und Emotionalisierung) gewährleistenden Kriterien ausgewählt.25 Prototypisch findet öffentliche NS-Rede in dem Szenario ›jubelnde und begeisterte Menschenmassen in großem Raum‹ statt. Die vor mehreren Hunderttausend Anwesenden gehaltenen Parteitagsreden, Hitlers Rede vor 54.000 Hitlerjungen 1935, die 1. Mai-Rede 1937 im Berliner Lustgarten in Anwesenheit von ca. 1,2 Millionen Zuhörer*innen (vgl. Kershaw 2000 Band 2: 75), und Goebbels’ Rede vom 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast sind hier exemplarisch.26 Die Kommunikationsform politische Rede spezifizieren, neben solch RaumAnlass-Konstellationen27, außerdem das Medium (Rundfunkrede), der Inhalt (Kulturrede), der Zeitpunkt (vor/nach 1933, 1939 bis 1941/nach 1943), der Öffentlichkeitsgrad (Geheim- vs. Massenrede) und die Adressaten (Arbeiter, Hitlerjugend, Frauen). Unter den Bedingungen einer zeitlich und/oder örtlich zerdehnten Rezeption sind Reden also kommunikative, interaktive Sprachereignisse. Sie haben mehr 24 Allerdings sollte das inhaltliche Moment nicht zu stark bewertet werden: »Stets hing die Wirkung seiner [Hitlers] Reden sehr stark davon ab, in welcher Atmosphäre sie gehalten wurden. Inhaltlich waren die Reden von Wiederholungen und Monotonie beherrscht. Die Themen kannte man inzwischen. Die Errungenschaften der Vergangenheit wurden gepriesen, großartige Zukunftspläne verkündet, die Schrecken und Gefahren des Bolschewismus unterstrichen« (Kershaw 2000 Band 2: 76). 25 »Zu diesen Inszenierungsstrategien gehörte grundlegend, dass die Räume der Massenveranstaltungen unter akustischen Gesichtspunkten ausgewählt und ausgestattet wurden, denn die Sichtbarkeit des ›Körpers des Redners‹ war maßgeblich auf eine funktionierende technische Übertragung der Stimme des Redners angewiesen« (Epping-Jäger 2003: 152). Zum Zusammenhang zwischen Raum und Gefühl vgl. Lehnert 2011. 26 Auch dieses räumliche Szenario setzt die Vorstellung um, die Hitler bereits in »Mein Kampf« formuliert hat, allerdings hinsichtlich der Körpersprache des Redners, die der große Raum erfordert: Vom »Massenversammlungsredner« sei »die Geste, die der große, tausende Menschen fassende Raum erfordert« (zit. nach Plöckinger 2003: 124). 27 Als weitere Redeanlasstypen sind zu nennen: Wahl-, Dank-, Begrüßungs-, Tisch-, Festrede, Rede zum Reichsparteitag, Gedenkreden zur Parteigründung und zum 30. Januar sowie zum »Heldengedenktag« etc.

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oder weniger explizit benannte Adressaten, deren Verstehensvoraussetzungen im Sinn eines »audience adressed« (Schild 2019: 492) antizipiert werden – sowohl hinsichtlich des Inhalts der Rede, als auch in Bezug auf ihren Stil.28 Diese Redestrategie haben auch die NS-Akteure Hitler und Goebbels verfolgt. Entsprechend unserer Akteursunterscheidung sind politische Reden auf der einen Seite interaktive Sprachereignisse für ein anwesendes Publikum, das zumeist aus affinen Mitgliedern der Integrierten Gesellschaft bestand und deren Haltung zum Nationalsozialismus zur »Funktionalisierung der Massenresonanz« (Epping-Jäger 2003: 155) diente. Sie reagieren unmittelbar in der asymmetrischen face-to-face-Situation mit Jubelausbrüchen, Begeisterungsstürmen etc. (vgl. Beck 2001) Nur gelegentlich wird diese Zustimmungsinteraktion unterbrochen durch Störungen solcher Anwesenden, die nicht affin waren.29 Auf der anderen Seite sind Reden kommunikative Sprachereignisse in der zerdehnten Konstellation, die Radio oder Lautsprecher in akustischer Hinsicht, Zeitungsabdruck in textlicher Hinsicht medial repräsentieren. Was das Radio und der Lautsprecher den Deutschen rezipierbar macht, sind nicht im Studio aufgenommene Reden, sondern Übertragungen von Massenveranstaltungen, so dass sich die Radio- und Lautsprecherhörer*innen als »eine natürliche Extension der Zuhörerschaft in der Massenveranstaltung begreifen sollen« (Epping-Jäger 2003: 148).30 NS-Affine stellen dabei das Standardpublikum der öffentlichen NS-Reden dar und damit den obligatorischen Empfänger*innen-Part in der dyadischen rhetorischen Kommunikationskonstellation. Sie sind diejenigen, deren »Normalität« sich in Hitler verdichtet und sprachlich repräsentiert. Er vermochte »für sie« 28 ›Recipient design‹ ist der Name, der in der Konversationsanalyse für dieses antizipierende Konversationsverhalten verwendet wird. Er bezeichnet die Formulierungsstrategie von Sprecher*innen, die ihren Redebeitrag auf die Rezipient*innen des Beitrags in Bezug auf angenommene Verstehensvoraussetzungen anpassen (vgl. Sacks 1992). Dieses rezipientenorientierte kommunikative Verstehenskonzept ist aufgrund der Basalität seiner Grundidee transponierbar: Jeglicher adressierte, in Kommunikationssituationen realisierte Sprachgebrauch ist adressatenangepasst. Insofern lässt sich auch Rhetorik »als interaktive Kommunikation […] im Rahmen einer sog. dyadischen Konzeption […], deren Grundgedanke die Einbettung von rhetorischer Quelle und Adressaten der rhetorischen Kommunikation in einem konzeptionellen Rahmen mit Innen- und Außenperspektive beinhaltet« (Schild 2019: 485) verstehen. 29 Diese sind das »obstinate audience« (Titel von Raymond Bauer 1964), das die Homogenität des Standardpublikums und dessen generelle Zustimmungsbereitschaft und -verlässlichkeit durch Zwischenrufe stört. 30 Bei in den Versammlungssälen aufgestellten Lautsprechern kommt die »Funktionalisierung der Massenresonanz« hinzu: »Die Performanzsignale dieser kommunikativen Inszenierungen sichern also nicht nur […] die imaginäre Sichtbarkeit des ›Rednerkörpers‹ für ein Massenpublikum, sondern sie stellen zugleich einen technischen Interaktionsrahmen zur Verfügung, in dem sich die Führerstimme durch die Resonanz der jeweils kollektiv adressierten Massen affizieren und aufbauen kann« (Epping-Jäger 2003: 155).

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zu reden, »indem er ihnen seine Stimme leiht und ihnen so zu sozialer Existenz verhilft« (Kopperschmidt 2003: 190f.). Dazu zählt nicht zuletzt, dass sich Hitler »der gesellschaftsprägenden Gefühle wie Furcht und Machtlust [bediente] ebenso wie der großen Leidenschaften: Liebe und Hass« (Scholdt 2003: 267).31 Diese Strategie verfängt bei denjenigen, bei denen Zustimmungs- und Begeisterungsbereitschaft angelegt ist. Die Beschaffenheit dieses Publikums ist konsensbestimmt. Das Argument der Manipulation, um rhetorischen Erfolg zu begründen, ist unter dieser Voraussetzung obsolet, insofern »die ManipulationsHypothese die Tatsache [vernachlässigt], dass durch Propaganda, damit sie wirksam sein kann, immer auch auf wirkliche Bedürfnisse eingegangen werden muss« (Pankau 2003: 65; vgl. auch Kegel 2006: 92). Und nicht nur das. Es muss ein geteiltes Einstellungspotenzial vorhanden sein, ohne welches Zustimmungsbereitschaft nicht ausgedrückt werden könnte. So müssen wir die Euphorie des NSaffinen Publikums nicht als Manipulations-, sondern als Resonanzeffekt deuten.32 3.1.1 Hitler-Reden Die Performanz von Hitlers rhetorischen Auftritten »offenbar[t] die Führerproklamationen als einen Einweihungs- und Verwandlungsakt, der die ganze Gesellschaft erfassen sollte« (Ueding 2003: 452).33 Das Szenario ist die weithin bekannte rednerische Standardsituation der inszenierten, propagandistisch hoch aufgeladenen Massenrede. Wir berücksichtigen in Bezug auf Hitler-Reden nachfolgend die sehr relevanten Faktoren Raum (exemplarisch seine Reichstagsrede zur Weigerung der SPD-Fraktion, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen), Adressat (exemplarisch seine Antwort auf ein Telegramm Roosevelts) und Öffentlichkeitsgrad

31 In dem Beitrag »Gefühle äußern« in Teil 1 wird dieser rhetorische Effekt im Zeichen von Gefühlsausdruck als Handlungsimpuls früher Nationalsozialist*innen, sich als Teil der Gefolgschaft zu integrieren, aus der Innensicht dargestellt. 32 Mit Bezug auf Erkenntnisse der psychologischen Forschung legt Gudrun Brockhaus (2006: 159) dar, dass diese »die Wirksamkeit von Beeinflussung und Suggestion für begrenzt hält und vor allem in der Verstärkung vorhandener Dispositionen und Einstellungen sieht. Die Menschen lassen sich nicht dazu bringen, das Gegenteil von dem zu wollen, was sie vor Eintritt in eine suggestive Massensituation gewollt hatten«. 33 Als »Führerproklamationen« charakterisiert Gert Ueding die Reden Hitlers nach 1933: »[S]ie waren pathetische öffentliche Erklärungen, wurden durch wichtige soziale, politische oder kulturelle Ereignisse veranlasst, beeinflussten, ja steuerten die öffentliche Meinung und enthielten verbindliche (auch rechtsverbindliche) Regelungen des Zusammenlebens, des politischen, wirtschaftlichen und privaten Handelns« (Ueding 2003: 447f.).

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(exemplarisch seine Rundfunkrede nach dem Attentat vom 20. Juli 1944) als zentrale, Rede konstituierende Faktoren im Sinn von Kommunikationsrahmen.34 3.1.1.1 Raum Reichstag: Parlamentarische Debattenrede Dem idealen Szenario der politischen Rede in der Demokratie, um Sachverhalte streitende, um Zustimmung konkurrierende Parteien, steht prototypisch die agitatorische, Emotionen schürende und proklamatorische Rede in der Diktatur gegenüber. Indes: Insofern jeder Redner auf Gemeinsamkeit mit seinem Auditorium setzt (vgl. Beck 2001: 3) und auch die politische Rede in der Diktatur auf die Erzeugung von Zustimmung zielt, ist diese als Handlungsziel auch der nationalsozialistischen Rhetorik vorauszusetzen.35 Der Reichstag als Institution ist durch eine »kommunikative Ordnung« (Mergel 2005a: 13) vorbestimmt. Das in der Weimarer Republik herrschende Selbstverständnis des Reichstags war das einer »Politik als von Ordnung geprägtes Handeln« (Mergel 2005a: 164). Das ist die Rahmung der Kommunikationsbedingungen, die auch noch in den ersten Monaten des NS-Regimes gelten. Seine zweite Rede, die Hitler am 23. März 1933 im Zusammenhang mit der Einbringung des Entwurfs zum Ermächtigungsgesetz hält,36 ist eine unmittelbare Erwiderung auf die Rede des sozialdemokratischen Akteurs Otto Wels, in der dieser erklärt, warum die SPD dem Gesetz nicht zustimmen kann (siehe zu Wels’ Rede oben Abschnitt 2). Hitlers Rede ist ausschließlich eine Replik, indem er seine einzelnen Aussagen jeweils systematisch einleitet mit responsiven Bezugnahmen auf Aussagen Wels’: Sie sagen, Sie meinen, Sie sprechen von etc., an die er jeweils die Darlegung der eigenen Position anschließt. Welche Lesart Hitler dieser Rede gibt, macht er eingangs mit dem direkt adressierten Piccolomini-Zitat kenntlich (das dann mehrmals im Verlauf der

34 Mit diesem Terminus orientieren wir uns an Josef Klein (2019a), der eine differenzierte Systematik von »Redegattungen/Textsorten der politischen Rhetorik und ihre Charakteristika« vorlegt, die er als »Interaktionsrahmen« interpretiert (Klein 2019a: 327f.). 35 Insofern setzen auch NS-Redner auf Persuasion: »Persuasion zielt immer darauf ab, Meinungen oder Einstellungen der Adressaten zu beeinflussen und gleichzeitig Vertrauen in die Richtigkeit des Gesagten und die handelnden Akteure zu schaffen« (Girnth/Burggraf 2019: 566). Und keine der von Jens Kegel aufgezeigten »sprachlichen Handlungen mit entsprechenden Zielsetzungen« ist für die NS-Rhetorik auszuschließen (vgl. Kegel 2019: 517). Auf den Zusammenhang von Zustimmung und Emotion verweisen Árpád von Klimó und Malte Rolf (2006: 16f.): »Diktaturen erreichen partielle innere Stabilität durch eine Legitimation, die jenseits oder parallel zu der Gewalt der Waffen und Geheimdienste besteht. Sie verfügen über einen reichen Schatz an Legitimationsritualen, die immer auch auf die Evozierung von solchen Gefühlslagen abzielen, bei denen das jeweilige Regime und seine Repräsentationen mit positiven Empfindungen verknüpft sind.« 36 In der ersten Rede bringt Hitler das Ermächtigungsgesetz ein, Wels antwortet darauf, was Hitler in seiner zweiten Rede zum Anlass der Erwiderung nimmt.

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Rede leitmotivisch variiert wird, etwa mit der Formulierung Auch hier kommen Sie zu spät): Spät kommt ihr, doch ihr kommt! Die schönen Theorien, die Sie, Herr Abgeordneter, soeben hier verkündeten, sind der Weltgeschichte etwas zu spät mitgeteilt worden (Hitler 1933d: 242).

Eine der von Hitler am häufigsten angewendeten rhetorischen Strategien ist das rhetorisch reproduzierte Narrativ ›Ich tue heute, was meine Vorgänger längst schon hätten tun können/müssen‹. In legitimierender Funktion verwendet er in diesem Sinn replizierend musterhaft Versagensformeln, die auch der Selbstkonzeption ›wir müssen richten, was früher versäumt wurde‹ entsprechen. So repliziert Hitler die Rede Wels’ mit folgenden Argumenten: Vielleicht hätten diese Erkenntnisse, praktisch angewendet vor Jahren, die heutigen Klagen von Ihnen erspart. Sie erklären, daß die Sozialdemokratie unser außenpolitisches Programm unterschreibt, daß sie die Kriegsschuldlüge ablehnt, daß sie gegen die Reparationen sich wende. Nun erhebe ich nur die eine Frage: Wo war denn dieser Kampf in der Zeit, in der Sie die Macht in Deutschland hatten? Sie hatten einst die Möglichkeit, dem deutschen Volke das Gesetz des inneren Handelns vorzuschreiben (Hitler 1933d: 242).37

Den rhetorischen Versuch der Delegitimierung mit dem konjunktivisch adressierten Vorwurf der Untätigkeit kombiniert Hitler mit der ebenfalls in hoher Evidenz bei ihm vorkommenden Strategie der Selbstviktimisierung: Sie sagen, man solle einen Besiegten nicht für vogelfrei erklären. Nun, Herr Abgeordneter, vogelfrei sind wir gewesen, solange Sie die Macht hatten. Sie reden von Verfolgungen. Ich glaube, es sind wenige nur unter uns hier, die nicht die Verfolgungen von Ihrer Seite im Gefängnis büßen mußten. Es sind wenige unter uns, die nicht die Verfolgungen von Ihrer Seite in tausendfältigen Schikanen und tausendfältiger Unterdrückung zu spüren bekommen haben! […] Aus Ihren Verfolgungen sind wir gewachsen! […] damals hat man unsere Presse verboten und verboten und wieder verboten, unsere

37 Diese Strategie durchzieht die Rede musterhaft, an anderer Stelle: Auch hier lag es ja an Ihnen, die Sie fast vierzehn Jahre lang die Macht besessen haben, dafür zu sorgen, daß dieses deutsche Volk der Welt das Beispiel einer Ehre gegeben hätte. Es lag an Ihnen, dafür zu sorgen, daß, wenn schon die äußere Welt uns unterdrückt, die Art, in der das deutsche Volk diese Unterdrückung entgegennimmt, dann aber wenigstens eine würdige ist (Hitler 1933d: 242). Vorzugsweise die adressierte Formel Sie hätten drückt dieses Vorwurfsmuster aus: Und Sie hätten es vermeiden müssen, daß […] Und Sie hätten weiter sich damals zur deutschen Trikolore bekennen müssen […] Sie hätten dann Gelegenheit gehabt, selbst wenn die Umwelt uns gezwungen hätte, das alles preiszugeben, was uns früher hoch und heilig war, in der inneren Ausführung die nationale Ehre der Welt gegenüber in die Erscheinung treten zu lassen (Hitler 1933d: 243).

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Versammlungen verboten und uns das Reden verboten und mir das Reden verboten, jahrelang! Und jetzt sagen Sie: Kritik ist heilsam! (Hitler 1933d: 243).38

Mit replizierenden Reproduktionsmarkierungen (Sie sagen, Sie reden von, jetzt sagen Sie), mit der Anrede Herr Abgeordneter und mit pronominaler Deixis (Ihre) stellt Hitler Dialogizität her und zählt in seinem Generalanwurf auf, was den mit wir bezeichneten Angehörigen der »Bewegung« widerfuhr. Die Konklusion aus dieser Rekapitulation der jüngsten Geschichte ist die Abwandlung der Sentenz von Friedrich Nietzsche39 »was mich nicht umbringt, macht mich stark«. Mit der Textkohäsion herstellenden sechsmaligen Repetition des selbstreferierenden Verbs verboten intensiviert Hitler die Selbstzuschreibung der Opferrolle. Es ist weiterhin kennzeichnend, dass seine Rede durchzogen ist von einer limitisch-oppositionellen Konstellation. Sie wird gebildet mit den Anrede-Pronomen Sie/Ihnen, die dem selbstreferentiellen Pronomen Wir entgegengesetzt werden: Wir haben das Äußerste getan, um diese Katastrophe durch den letzten Appell an die Kraft des deutschen Volkes abzuwenden. In der Zeit mieden Sie den Kampf, den Sie heute in Worten plötzlich der Mitwelt mitteilen wollen (Hitler 1933d: 242).

Diese, die Differenz zwischen Sozialdemokratie und NSDAP maximal herstellende Sie-Wir-Opposition stellt ein den Redetext kennzeichnendes einfaches Aufwertung-Abwertung-Schema dar.40 Das mit diesem Schema durchgängig konsequent kombinierte Argumentationsmuster der Rede ist das der Widerlegung: Sie sagen: Gleiches Recht! So wie wir es nach außen hin wünschen, so wünschen wir es auch nach innen. Für dieses »gleiche Recht«, Herr Abgeordneter Wels, haben wir vier38 Derartige Reproduktionen stellen, durch Intertextualität erzeugte, Dialogizität her. Es ist dies eine rhetorische Strategie, die als ein Muster dieser Rede gelten kann: Sie sagen, daß wehrlos nicht ehrlos ist. Nein, das braucht es nicht zu sein. Auch wenn wir wehrlos sein müßten: ich weiß, wir würden nicht ehrlos sein. Unsere Bewegung war dank der Unterdrückung durch Ihre Partei jahrelang wehrlos gemacht worden, ehrlos ist sie nie gewesen. Ich bin der Überzeugung, daß wir dem deutschen Volke den Geist einimpfen werden, der es auch bei seiner heutigen Wehrlosigkeit sicherlich, Herr Abgeordneter, nicht ehrlos sein lassen wird (Hitler 1933d: 242). 39 »Aus der Kriegsschule des Lebens. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker« (Nietzsche 1888: 60). 40 Sie sprechen von mangelnder Rechtssicherheit. Meine Herren der Sozialdemokratischen Partei! Ich habe die Revolution ja im Jahre 1918 auch gesehen. Ich muß schon wirklich sagen: wenn wir nicht das Gefühl für das Recht hätten, dann wären wir nicht hier, und Sie säßen auch nicht da! Sie haben im Jahre 1918 sich gegen die gewendet, die Ihnen nichts getan hatten. Wir beherrschen uns, gegen die uns zu wenden, die uns vierzehn Jahre lang gequält und gepeinigt haben (Hitler 1933d: 244). Wir erkennen hier ein Muster, das auch für die Widerstandsrede evident ist (s. o.) und das als Kennzeichen politischer Rede und Kommunikation generell gelten kann.

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zehn Jahre gekämpft! Dieses gleiche Recht des nationalen Deutschlands haben Sie nicht gekannt! Also reden Sie heute nicht von gleichem Recht! (Hitler 1933d: 243).

Es ist das akribische, den Vorredner inkrementell denunzierende und ihn angreifende Widerrede-Muster, die konsequent beibehaltene Widerlegungsstrategie – begleitet von begeistertem Applaus und Jubel von Anhängern des Nationalsozialismus auf den Rängen –, die bei den Nationalsozialisten den Eindruck einer Niederlage des SPD-Sprechers hervorrief. Goebbels notiert Kampf-undSieg-metaphorisch am 24. März 1933 in seinem Tagebuch: Man sah niemals, daß einer so zu Boden geworfen und erledigt wurde wie hier. Der Führer spricht ganz frei und ist groß in Form. Das Haus rauscht vor Beifall, Gelächter, Begeisterung und Applaus. Es wird ein Erfolg ohnegleichen (Goebbels, 24. 3. 1933).

Während die Reichstagsparteien des Weimarer Parlaments mehrheitlich Politik und Krieg als Gegensätze verstanden, war die Institution für die Nationalsozialisten (wie für die Kommunisten) genau dieses, »und die ›Ordnung‹ nur eine Kriegslist des Gegners, um die eigenen Waffen stumpf zu machen« (Mergel 2005a: 165). Formal indes hielt Hitler sich als Kanzler zunächst an diese Ordnung. Seine Erwiderung auf die Rede Wels’ kann formal nicht als Ausdruck von Antiparlamentarismus bezeichnet werden und auch die sprachlichen Umgangsformen werden eingehalten: Anstandsregeln sind beachtet, die Anreden sind korrekt (Herr Abgeordneter Wels). Es ist jedoch nicht nur die Wirkmacht der parlamentarischen Geschäftsordnung, deren Autoren viel Sorgfalt bei der Erarbeitung von Verhaltensregeln haben walten lassen (vgl. Mergel 2005a: 158– 163), die sich hier manifestiert. Es ist auch der bürgerliche Habitus, um den Hitler bemüht war. Die bedrohlich wirkende Anwesenheit der SA, die Verstöße gegen das Neutralitätsgebot seitens des Parlamentspräsidenten Göring, das Absingen des Horst Wessel-Lieds nach Ende der Sitzung, die Uniform als Bekleidung – ungeachtet all dieser Symbole und Ausdrucksformen faschistischer Herrschaft erscheint die Rhetorik als solche noch als weitgehend angepasst. Dass es sich um antidemokratisch-antiparlamentarische Inhalte handelt, versteht sich allerdings von selbst. 3.1.1.2 Adressat Roosevelt: Inszenierte Dialogizität Eine unter inhaltlichen und rhetorischen Gesichtspunkten viel beachtete Rede Hitlers war die vom 28. April 1939, mit der er auf ein Telegramm Roosevelts reagiert. Pikiert darüber, dass er, als Adressierter, nicht der Erste war, an den der Text gegangen ist, sondern zunächst die Medien informiert wurden, begründet Hitler die Einberufung des Reichstags mit seinem Wunsch, zuerst dessen Mitglieder seine Antwort an den amerikanischen Präsidenten wissen zu lassen.

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Außerdem nutzt Hitler die Rede zur Kommentierung der Zerschlagung der Tschechoslowakei.41 Als »inszenierte Dialogizität« lässt sich der Hauptteil der Rede beschreiben, die unter rhetorisch-pragmatischen Gesichtspunkten aufgrund des hohen Responsivitätsgrads wohl die Wirkung dieser Rede begründet. Hitler identifiziert von 1 bis 21 durchnummerierte Themen in dem Telegrammtext, die er, bis auf das letzte, jeweils mit Antwort kenntlich gemacht, repliziert und so Ordnung und Systematik seiner Rede suggeriert.42 In jeweils mehr oder weniger ausführlichen Repliken widerlegt Hitler den Inhalt, den er immer als Vorwurf versteht, behauptet das Gegenteil, leugnet den Inhalt oder gibt an, immer schon so gehandelt zu haben wie gefordert.43 Die als (meine) Antwort bezeichneten Bezugnahmen zu dem Text von Roosevelt erfolgen explizit durch den Text durchziehende Formeln wie Herr Roosevelt ist der Meinung, daß; Herr Roosevelt glaubt in seinem Telegramm, daß; Herr Roosevelt erklärt, daß; Herr Roosevelt glaubt weiter, daß; Herr Roosevelt glaubt endlich, daß; Herr Roosevelt spricht endlich von; Herr Roosevelt ist endlich der Meinung, daß; Herr Roosevelt meint weiter, daß; Herr Roosevelt erklärt nun weiter, daß; Herr Roosevelt stellt weiter fest, daß; Herr Roosevelt glaubt, daß; Herr Roosevelt verlangt endlich; Herr Roosevelt versichert endlich, daß; Herr Roosevelt erklärt abschließend, daß.

Auch diese intertextuellen Verweise, die musterhaft entweder auf Haltungen referieren (ist der Meinung, glaubt, meint) oder deklarative explizit-performative Sprechakte klassifizieren (erklärt, stellt fest, versichert), sind kalkuliert gestaltet. Jeweils als Einleitung zu den 21 Stellungnahmen verwendet, positioniert sich ihr Urheber damit als offensiv und selbstbewusst, so tritt er Roosevelt, dem mächtigsten Mann der Welt, gegenüber, und inszeniert diesen raumzeitlich zerdehnten Dialog.44 Denn: Diese Erwiderung ist natürlich nicht nur an die

41 Ich will diese Gelegenheit aber auch wahrnehmen, um jenen Empfindungen Ausdruck zu verleihen, die mich angesichts der gewaltigen geschichtlichen Geschehnisse des Monats März dieses Jahres bewegen (Hitler 1939b: 1148). 42 1. Herr Roosevelt ist der Meinung, daß auch ich mir darüber klar sei, daß in der ganzen Welt Hunderte von Millionen der menschlichen Wesen häufig in ständiger Furcht vor einem neuen Krieg, ja sogar vor einer Reihe von Kriegen lebten. […] Antwort: Dazu wäre zunächst zu sagen, daß diese Furcht vor Kriegen ohne Zweifel seit jeher […] (Hitler 1939b: 1166). 43 3. Herr Roosevelt erklärt, […] Antwort: Ich habe diese Auffassung bisher auch selbst stets vertreten, und wie die Geschichte es ja auch erweist, ohne Waffengewalt, das heißt, ohne Appell an die Waffen, die notwendigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme geregelt (Hitler 1939b: 1168). 44 Diese Souveränität drückt Hitler gelegentlich auch mit Ironie aus, dazu zwei Beispiele: Ich darf noch einmal feststellen, daß ich […] nicht wüßte, für welchen Zweck ich überhaupt einen Krieg führen sollte. Ich wäre Herrn Roosevelt dankbar, wenn er mir darüber Aufklärung geben wollte (Hitler 1939b: 1169). Bei aller Einsicht Roosevelts in die Nöte und Sorgen anderer Staaten ist immerhin trotzdem anzunehmen, daß der irische Präsident die Gefahren, die sein

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Reichstagsmitglieder, und nicht nur an das deutsche Volk, und nicht nur an die deutsche und internationale Presse, sondern auch an Roosevelt direkt adressiert.45 Die letzte Antwort Hitlers, Nummer 21, die zugleich die längste ist, ist durchgängig als direkt adressierte, dialogisch formulierte Antwort konzipiert, die als das Ende der gesamten Rede auch ihren inhaltlichen und rhetorischen Höhepunkt bildet. Sein Standardnarrativ ›ich habe als unbekannter einfacher Soldat die Deutschen wieder zu Wohlstand gebracht und Chaos in Ordnung gewandelt‹, das zu seiner rhetorischen Grundausstattung gehört, ebenso wie die Bezugnahme auf die Vorsehung, aus der dann die Erzählung ›beispielloser Aufstieg der Deutschen ohne Blutvergießen‹ entwickelt wird, mit der Hitler seine Rede beginnt46, hat auch im weiteren Verlauf Funktion. In diesem Fall dient es als Vergleichsmoment zu dem unter ungleich günstigeren Bedingungen agierenden Roosevelt: Ich, Herr Präsident Roosevelt, bin in einen viel bescheideneren und kleineren Rahmen gestellt. Sie haben 135 Millionen Menschen auf 9 1/2 Millionen Quadratkilometer. […] Ich übernahm einst einen Staat, der dank seines Vertrauens auf die Zusicherungen einer anderen Welt sowie durch das schlechte Regime einiger demokratischer Staatsführungen vor dem Ruin stand. In diesem Staat leben nicht wie in Amerika 15, sondern rund 140 Menschen auf dem Quadratkilometer (Hitler 1939b: 1177).

Natürlich ist die formale ›Verzwergung‹ das Gegenteil einer solchen, denn mit einer rhetorischen Strategie, die man die Konstruktion einer ›Steighöhe‹ nennen kann, imaginiert Hitler die Größe seiner Leistung, deren Existenz er, syntaktisch einfach, mit ›ich habe x‹-Sätzen behauptet. Nachdem Hitler sich selbst, sein Ziel und seine Aufgabe schlicht-veredelnd dargestellt hat47, wendet er sich der Inventur seiner sechseinhalbjährigen Herrschaft zu.48 Indem er, sein Standard-

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Land bedrohen, doch wohl noch besser kennen wird als der Präsident der amerikanischen Union (Hitler 1939b: 1174). Ihre gute Meinung in Ehren, Herr Roosevelt, aber dieser Ihrer Meinung steht gegenüber die reale Tatsache, daß …; Glauben Sie, Herr Roosevelt, daß, …; Herr Roosevelt, es hat in der Weltgeschichte bisher nur ein Volk und eine einzige Regierung gegeben, die …; Herr Roosevelt, ich darf Ihnen versichern, daß …; Ich glaube, Herr Roosevelt, daß …; Ich glaube, Herr Roosevelt, daß … Zur Mehrfachadressierung solcher Debattenreden vgl. Klein (2019a: 331). Meine tiefsten Gefühle kann ich nur in der Form eines demütigen Dankes der Vorsehung gegenüber abstatten, die mich berufen hat und die es mir gelingen ließ, als einstiger unbekannter Soldat des Krieges zum Führer meines heißgeliebten Volkes emporzusteigen (Hitler 1939b: 1148). Ich habe seit dieser Zeit nun, Herr Präsident Roosevelt, nur eine einzige Aufgabe erledigen können. Ich kann mich nicht für das Schicksal einer Welt verantwortlich fühlen, denn diese Welt hat am jammervollen Schicksal meines eigenen Volkes keinen Anteil genommen. Ich habe mich als von der Vorsehung berufen angesehen, nur meinem eigenen Volk zu dienen und es aus seiner furchtbaren Not zu erlösen (Hitler 1939b: 1178). Ich habe daher in diesen nunmehr zurückliegenden 6 1/2 Jahren Tag und Nacht stets nur dem einen Gedanken gelebt […] Ich habe das Chaos in Deutschland überwunden […] Ich habe

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narrativ erneut reproduzierend, aus dieser Leistung einen Anspruch ableitet49, adressiert der Redner abermals sein imaginiertes Gegenüber, dessen Herrschaftsbedingungen explizit herausstellend50, sowie mit einem kontrastierenden verbalen Bescheidenheitsgestus anschließend.51 Am Schluss der Rede bringt Hitler zudem noch die Grundwerte der westlichen Welt auf: Allein ich glaube, dadurch noch am ehesten dem zu nützen, was uns allen am Herzen liegt: der Gerechtigkeit, der Wohlfahrt, dem Fortschritt und dem Frieden der ganzen menschlichen Gemeinschaft! (Hitler 1939b: 1179).

Damit positioniert er sich als dieser Gemeinschaft zugehörig (uns allen) und schließt mit seiner Gemeinschaftsidee, in dieser an die Welt gerichteten Rede variiert als menschliche Gemeinschaft.52

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Kanäle graben lassen […] Ich habe die uns 1919 geraubten Provinzen dem Reich wieder zurückgegeben, ich habe Millionen von uns weggerissener, tiefunglücklicher Deutscher wieder in die Heimat geführt, ich habe die tausendjährige historische Einheit des deutschen Lebensraumes wieder hergestellt, und ich habe, Herr Präsident, mich bemüht, dieses alles zu tun, ohne Blut zu vergießen und ohne meinem Volk oder anderen daher das Leid des Krieges zuzufügen (Hitler 1939b: 1178). Ich habe dies, Herr Präsident, als ein noch vor 21 Jahren unbekannter Arbeiter und Soldat meines Volkes, aus meiner eigenen Kraft geschaffen und kann daher vor der Geschichte es in Anspruch nehmen, zu jenen Menschen gerechnet zu werden, die das Höchste leisteten, was von einem einzelnen billiger- und gerechterweise verlangt werden kann (Hitler 1939b: 1178). Sie, Herr Präsident, haben es demgegenüber unendlich leichter. Sie sind, als ich 1933 Reichskanzler wurde, Präsident der amerikanischen Union geworden, Sie sind damit im ersten Augenblick an die Spitze eines der größten und reichsten Staaten der Welt getreten (Hitler 1939b: 1178). Denn meine Welt, Herr Präsident Roosevelt, ist die, in die mich die Vorsehung gesetzt hat, und für die ich verpflichtet bin. Sie ist räumlich viel enger. Sie umfaßt nur mein Volk (Hitler 1939b: 1179). Hitler verwendet, wie alle Rhetoren (auch die des Widerstands, s. o.), Leit- und Schlüsselwörter, die seine Reden durchziehen. Hier sind es Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Fortschritt und Frieden. Das Ausmaß der rein taktischen Funktion, die – exemplarisch – der Gebrauch von Frieden hat, zeigt eine Geheimrede Hitlers, die er 1938 vor der deutschen Presse hielt: Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden. Nur unter der fortgesetzten Betonung des deutschen Friedenswillens und der Friedensabsichten war es mir möglich, dem deutschen Volk Stück für Stück die Freiheit zu erringen und ihm die Rüstung zu geben, die immer wieder für den nächsten Schritt als Voraussetzung notwendig war (Hitler 1938e: 974). Hiroyuki Takada (2018: 58f.) weist nach, dass Frieden »das Schlüsselwort […] im Korpus der Reden nach der Machtergreifung« ist, insbesondere in den Jahren 1935 und 1936 und zwischen September und Dezember 1939.

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3.1.1.3 Öffentlichkeit Rundfunk: Behauptete Normalität Während der Öffentlichkeitsgrad der Massenrede immer noch relativ begrenzt ist, bietet maximale Öffentlichkeit zum einen der Lautsprecher53, zum andern der Rundfunk. Der Nationalsozialismus war das erste Regime, das diese technischen Möglichkeiten konsequent nutzte. Die Unsichtbarkeit, aber Hörbarkeit des Redners im Radio und über Lautsprecher stellt im multimedialen Gesamtgefüge der unmittelbar visuell und akustisch erlebten Rede einerseits eine Reduktion dar: Gestik, Mimik, Körpersprache sind der Wahrnehmung entzogen. Verglichen jedoch mit der gelesenen Rede bietet die gehörte Informationen hinsichtlich Intonation, Prosodie und Stimmlage. Die »Ausschaltung der gesamten körpersprachlichen Rhetorik durch den Wegfall der visuellen Präsenz des Sprechers« bewirkt »jene[…] Apotheose der Stimme, die den zeitgenössischen Radio-Diskurs charakterisiert« (EppingJäger 2003: 146). Vor allem aber: Die gehörte Rede ändert nichts an ihrer Grundeigenschaft der Mündlichkeit. Diese Faktoren liefern die Begründung dafür, dass sich Hitler unmittelbar nach dem auf ihn verübten Attentat am 20. Juli 1944 über den Hörfunk an die Deutsche[n] Volksgenossen und -genossinnen! wendet. Er wählt dieses Medium nicht nur, weil es ihm Omnipräsenz gewährleistet wie kein anderes. Hauptfunktion in diesem Fall ist: Seine durch das Radio weithin vermittelte Stimme soll Dokument sein, dass er das Attentat überlebt hat, ihm nichts Gravierendes zugestoßen ist, mit der Funktion der Beruhigung und der Erzeugung von Gleichmut und Alltäglichkeit. Ich weiß nicht, zum wievielten Male nunmehr ein Attentat auf mich geplant und zur Ausführung gekommen ist. Wenn ich heute zu Ihnen spreche, dann geschieht es aus zwei Gründen: 1. Damit Sie meine Stimme hören und wissen, daß ich selbst unverletzt und gesund bin. 2. Damit Sie aber auch das Nähere erfahren über ein Verbrechen, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht (Hitler 1944: 2127f.).

Nach dieser Einleitung, die deutlich macht, dass Hitler auf dasselbe Ereignis gleichzeitig verharmlosend (Ich weiß nicht, zum wievielten Mal) und skandalisierend (Verbrechen, das seinesgleichen sucht) referiert und dahingehend zwei widersprüchliche Strategien verfolgend, setzt er seine das Ereignis bagatellisierende Verharmlosungsstrategie weiter fort, indem er die Akteure marginalisiert, demoralisiert und kriminalisiert:54 53 Die »Vorteile der Verwendung« von Lautsprechern habe man unmittelbar erkannt, erlaubt doch der Einsatz des Lautsprechers die »Inszenierung der Rednerauftritte als Massenspektakel« (Göttert 1998: 445). So wurde Hitlers Sportpalast-Rede am 10. Februar 1933 in Berlin »an zehn Stellen durch Riesenlautsprecher übertragen […], um die sich die Massen scharten« (Göttert 1998: 447). 54 Inwiefern diese Strategie der Wirklichkeit widerständischen Handelns entgegensteht, hat erst vor kurzem Linda von Keyserlingk-Rehbein (2018: 13) in ihrer Netzwerkanalyse »Nur eine

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Eine ganze kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab praktisch der deutschen Wehrmachtführung auszurotten (Hitler 1944: 2128).

Ein Opfergedenken schließt an diese Akteurskonstituierung an, um erneut darauf zu verweisen, dass er selbst unverletzt blieb: Die Bombe, die von dem Oberst Graf v. Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter an meiner rechten Seite. Sie hat eine Reihe mir teurer Mitarbeiter sehr schwer verletzt, einer ist gestorben. Ich selbst bin völlig unverletzt bis auf ganz kleine Hautabschürfungen, Prellungen oder Verbrennungen (Hitler 1944: 2128).

Dieses Überlebthaben deutet Hitler, wie er sein Handeln stets gedeutet hat – als die Wirkmacht einer höheren Kraft, die er auch in diesem Zusammenhang, wie immer, Vorsehung nennt: Ich fasse es als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen, so wie ich es bisher getan habe. Denn ich darf es vor der ganzen Nation feierlich gestehen, daß ich seit dem Tage, an dem ich in die Wilhelmstraße einzog, nur einen einzigen Gedanken hatte, nach bestem Wissen und Gewissen meine Pflicht zu erfüllen, und daß ich, seit mir klar wurde, daß der Krieg ein unausbleiblicher war und nicht mehr aufgeschoben werden konnte, eigentlich nur Sorge und Arbeit kannte und in zahllosen Tagen und durchwachten Nächten nur für mein Volk lebte! (Hitler 1944: 2128).

Retrospektiv, die den Ausgang des Ersten Weltkriegs begründende Fahnenformulierung Dolchstoß in den Rücken55 verwendend, die Akteure des Attentats erneut marginalisierend und auf den Dokumentationscharakter seiner Rundfunkrede verweisend, setzt Hitler fort: Es hat sich in einer Stunde, in der die deutschen Armeen in schwerstem Ringen stehen, ähnlich wie in Italien, nun auch in Deutschland eine ganz kleine Gruppe gefunden, die nun glaubte, wie im Jahre 1918 den Dolchstoß in den Rücken führen zu können. Sie hat sich diesmal aber schwer getäuscht. Die Behauptung dieser Usurpatoren, daß ich nicht mehr lebe, wird jetzt in diesem Augenblick widerlegt, da ich zu euch, meine lieben Volksgenossen, spreche (Hitler 1944: 2128).

Auch die folgende Sequenz beginnt mit der Marginalisierung der AttentäterGruppe.56 Es folgt die Mitteilung personeller Umbesetzungen57 und eine weitere ›ganz kleine Clique‹. Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944« nachgewiesen, innerhalb derer sie eine Beteiligung von »rund 200 Personen aus verschiedensten Gesellschaftsschichten« nachweisen konnte und so die Hitler’schen Faktizitätsäußerungen von einer ganz kleinen Clique widerlegt. 55 Zu diesem Argumentationsmuster vgl. Kreuz (2018). 56 Der Kreis, den diese Usurpatoren darstellen, ist ein denkbar kleiner. Er hat mit der deutschen Wehrmacht und vor allem auch mit dem deutschen Heer nichts zu tun. Es ist ein ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden. Ich befehle

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Deutungsdimension des Ereignisses: Eingeleitet mit einer zum dritten Mal wiederholten Marginalisierung der Akteure transponiert Hitler das DolchstoßNarrativ von 1918/19 in die Gegenwart von 1944, indem er Front und Heimat konfrontiert. Mit einer Selbstpositionierung (wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind) und einem weiteren Exklusionsakt, der die Attentäter in Opposition setzt zum anständige[n] Offizier und tapfere[n] Soldat, kündigt er weiteres Handeln an.58 Eine sakralisierende Sequenz schließt an, die Hitler mit einer kontrafaktischen Reflexion beginnt und einer Reihe von Bescheidenheits-, Demuts- und Aufrichtigkeitsformulierungen abschließt: Welches Schicksal Deutschland getroffen hätte, wenn der Anschlag heute gelungen sein würde, das vermögen die wenigsten sich vielleicht auszudenken. Ich selber danke der Vorsehung und meinem Schöpfer nicht deshalb, daß er mich erhalten hat – mein Leben ist nur Sorge und ist nur Arbeit für mein Volk –, sondern, wenn ich danke, nur deshalb, daß er mir die Möglichkeit gab, diese Sorgen weiter tragen zu dürfen und in meiner Arbeit weiter fortzufahren, so gut ich das mit meinem Gewissen und vor meinem Gewissen verantworten kann (Hitler 1944: 2128).

Schließlich adressiert Hitler einen Gruß explizit an seine alten Kampfgefährten, antizipiert, grammatisch nicht normgerecht (Ich darf Sie […] freudig begrüßen, daß es mir wieder vergönnt war), einen erfolgreichen Ausgang des Attentats, um daraus wiederum eine von der höheren Macht ausgehenden Legitimation abzuleiten: Ich darf besonders Sie, meine alten Kampfgefährten, noch einmal freudig begrüßen, daß es mir wieder vergönnt war, einem Schicksal zu entgehen, das nicht für mich Schreckliches in sich barg, sondern das den Schrecken für das deutsche Volk gebracht hätte. Ich

daher in diesem Augenblick: 1. Daß keine Zivilstelle irgendeinen Befehl entgegenzunehmen hat von einer Dienststelle, die sich diese Usurpatoren anmaßen. 2. Daß keine Militärstelle, kein Führer einer Truppe, kein Soldat irgendeinem Befehl dieser Usurpatoren zu gehorchen hat, daß im Gegenteil jeder verpflichtet ist, den Übermittler oder den Geber eines solchen Befehls entweder sofort zu verhaften oder bei Widerstand augenblicklich niederzumachen (Hitler 1944: 2128). 57 Ich habe, um endgültig Ordnung zu schaffen, zum Befehlshaber des Heimatheeres den Reichsminister Himmler ernannt. Ich habe in den Generalstab Generaloberst Guderian berufen, um den durch Krankheit zur Zeit ausgefallenen Generalstabschef zu ersetzen, und einen zweiten bewährten Führer der Ostfront zu seinem Gehilfen bestimmt. In allen anderen Dienststellen des Reiches ändert sich nichts (Hitler 1944: 2128). 58 Ich bin der Überzeugung, daß wir mit dem Austreten dieser ganz kleinen Verräter- und Verschwörer-Clique nun endlich aber auch im Rücken der Heimat die Atmosphäre schaffen, die die Kämpfer der Front brauchen. Denn es ist unmöglich, daß vorn Hunderttausende und Millionen braver Männer ihr letztes hergeben, während zu Hause ein ganz kleiner Klüngel ehrgeiziger, erbärmlicher Kreaturen diese Haltung dauernd zu hintertreiben versucht. Diesmal wird nun so abgerechnet, wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind. Ich bin überzeugt, daß jeder anständige Offizier, jeder tapfere Soldat in dieser Stunde das begreifen wird (Hitler 1944: 2128).

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ersehe daraus auch einen Fingerzeig der Vorsehung, daß ich mein Werk weiter fortführen muß und daher weiter fortführen werde! (Hitler 1944: 2129).

Es ist dies eine der kürzesten politischen Reden Hitlers. In ihrer Überschaubarkeit hat sie drei Funktionen: sein Überleben zu dokumentieren, das Attentat zu bagatellisieren sowie zu skandalisieren und die Attentäter zu marginalisieren. Letztere kann als die Hauptfunktion betrachtet werden, allein in der Häufigkeit der Formel ganz klein bezogen auf Clique, Gruppe, Kreis, Verräter- und Verschwörer-Clique, Klüngel wird diese Funktion manifest. 3.1.2 Goebbels-Reden: Zeit interpretieren Goebbels’ politische Reden hatten propagandistische Funktion. Damit unterscheiden sie sich insofern von denen Hitlers, als die beiden Urheber unterschiedliche Ämter innehatten und von differierenden Selbstverständnissen bestimmt waren. Während Hitler politisches Handeln in nationalen und internationalen Dimensionen plante und praktizierte, ist Goebbels der Vermittler dieses Handelns und seiner Planung, derjenige, der dem Volk erklärt, es zu überzeugen versucht und bei ihm wirbt. Diese Funktionsbestimmung betrifft insbesondere die Kriegsreden Goebbels’. Ein diese Kriegsreden kennzeichnendes Spezifikum ist die das Kritische normalisierende Praktik. Solche Usualisierungen werden repräsentiert mit entsprechenden Formeln wie u. a. wie damals, wieder einmal, schon oft zur Erzeugung der Botschaft: ›Was wir augenblicklich erleben, ist nichts Außergewöhnliches, deshalb Ruhe bewahren.‹ Am Beispiel der Sportpalastrede Goebbels’ vom 18. Februar 1943 lässt sich diese Strategie in ihrer Vielfalt nachvollziehen.59 Solche Veralltäglichungen sind zeitreferentielle Aussagen, die eine negative Erfahrung der Vergangenheit mit einer der Gegenwart parallelisiert. Mit dieser Parallelisierung wird in Form einer Art Schlussregel behauptet: ›Wer eine negative Erfahrung mit positivem Ausgang in der Vergangenheit schon einmal gemacht hat, wird in den Ereignissen der Gegenwart nichts Ungewöhnliches und deshalb nichts Beunruhigendes erkennen.‹60 Normalitätsbehauptungen können quantifizierende sein (nicht das erste Mal, oft).61 Sie können aber auch rhetorisch-fragende vergangenheitsbezogene Erin59 Vgl. zur Sportpalastrede Jens Kegel (2006), der eine »semiotische und linguistische Gesamtanalyse« (Untertitel) der Rede vorlegt. 60 Wir haben schon oft in der Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung vor einer ähnlichen Notwendigkeit gestanden. Auch da mußten wir uns manchmal über viele Hemmungen und Einwände hinweg zur Klarheit unserer Entschlüsse durchringen; und hatten wir sie einmal gefaßt, dann fiel es uns wie Zentnerlast vom Herzen herunter (Goebbels 1943b: 127). 61 Es ist nicht das erste Mal, daß ich in einer schwierigen Stunde unseres nationalen Lebens von dieser Stelle aus vor dem ganzen deutschen Volke das Wort ergreife (Goebbels 1943c: 138);

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nerungsappelle sein mit der Implikatur: ›Was früher möglich war, muss auch heute möglich sein‹.62 Erinnerungsappelle können sich umgekehrt auch auf Vergessenes, damit Unbedeutendes beziehen, mit der daraus extrahierten verharmlosenden Botschaft.63 Weitere veralltäglichende, Kontinuität und Perpetuierung behauptende und an vorhandenes Wissen appellierende Formeln und Ausdrücke sind gingen und gehen, (heute) wieder, alte, uns wohlbekannte, aufs Neue, damals und heute, dieselben, wieder einmal in wiederholender und daher die Aussage intensivierender Reihung64, mit dem das Wissen um eine positive Erfahrung aktivierenden und dieses Wissen auf die Gegenwart übertragenden Abschluss: aber an ihrem Ende wird einmal, wie damals, derselbe Sieg stehen. Diese Formeln sind Chronoferenzen, die zur Aktivierung vorhandenen Wissens aufrufen. Exkurs Den Terminus verwendet Achim Landwehr, um auf den Sachverhalt zu verweisen, »dass Menschen und Kollektive dazu in der Lage sind, sich auf nicht-gegenwärtige Zeiten zu beziehen, also Vergangenheiten und Zukünfte unterschiedlicher Art zu imaginieren, um diese zu anwesend-abwesenden Zeiten zu machen« (Landwehr 2020: 245). Nun muss aus Sicht der Sprachwissenschaft gesagt werden: Seit 2000 Jahren wird auf diese Fähigkeit der Sprache verwiesen. Mit ihr lässt sich auf Abwesendes verweisen, sei es zeitlich oder räumlich, sei es vergangen oder künftig, sei es präsent oder nicht-präsent. Insofern spricht Wiederum ist dieses Riesenringen vielen Schwankungen und Zufälligkeiten ausgesetzt. Wir kennen das, denn wir haben es zu oft in der Zeit vor der Machtübernahme, wenn auch in bescheidenen Dimensionen, erlebt (Goebbels 1943c: 145). 62 Im Berliner Sportpalast erlebten wir in den vergangenen 15 Jahren alle Höhen und Tiefen der deutschen politischen und im Kriege militärischen Entwicklung. […] Niemals sah dieser Saal eine Gefolgschaft, die entmutigt oder ohne Hoffnung gewesen wäre (Goebbels 1943c: 138). 63 Feindliche Männer und Kräfte, die heute schon vollkommen aus unserem Gedächtnis entschwunden sind, deren Namen und Bezeichnungen man sich kaum noch erinnert, sind uns in diesen fünfzehn Jahren entgegengetreten. Die Zeit ist über sie hinweggeschritten (Goebbels 1943c: 138). 64 Wieder befindet sich das deutsche Volk mitten im schwersten Ringen um sein Schicksal. Seine traditionellen Feinde, mit denen wir uns bis zum Jahre 1933 so oft, manchmal unter den aussichtslosesten Bedingungen, aber am Ende doch immer siegreich, auseinandersetzen mußten, haben sich wieder gegen uns zusammengefunden. Die alte, uns wohlbekannte Feindkoalition ist aufs Neue erstanden, nur, daß dieses gigantische Ringen um unser Leben nunmehr überkontinentale Formen angenommen hat. Kampf war damals die Parole der nationalsozialistischen Bewegung von Anfang an, und Kampf ist unsere Parole bis zum heutigen Tage geblieben. Wie uns damals nichts geschenkt wurde, so wird uns auch heute nichts geschenkt. Wir müssen uns alles selbst erobern und erarbeiten. In der Stunde der augenblicklichen schwersten Kämpfe im Osten glaubt der Gegner wieder einmal, über uns triumphieren zu können. […] Dieselben Gegner wie damals stehen uns heute wieder gegenüber. Sie wenden dieselben Methoden an, um uns zu überlisten und niederzuringen. Dieselben Krisen und Beängstigungen wie damals stürzen auf uns ein (Goebbels 1943c: 140–146).

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die Linguistik in diesem Fall auch nicht von einer Paradoxie, und einen Satz wie »sie [die Zeit] bezieht sich auf eine Vergangenheit oder eine Zukunft, obwohl da gar nichts ist, worauf man sich beziehen kann« (ebd.) verwirft sie in dem Sinn: Dass »da gar nichts ist, worauf man sich beziehen kann«, ist der sprachlich-kommunikative Normalfall, aus dem die Leistungsfähigkeit des sprachlichen Zeichensystems und dessen Eigenschaft der Arbitrarität resultiert.

Ende des Exkurses Mit solchen Chronoferenzen werden gerade nichtalltägliche Situationen markiert und formal als Alltäglichkeitsbehauptungen präsentiert. Dabei wird die Krisenhaftigkeit der Gegenwart nicht geleugnet, sondern im Gegenteil relevant gesetzt.65 Insofern wird Krisenhaftigkeit normalisiert, indem ihre Überwindung markiert wird, weniger aber ihr gegenwärtiges Vorhandensein: Wir müssen handeln, und zwar unverzüglich, schnell und gründlich, so wie es seit jeher nationalsozialistische Art gewesen ist. Von ihrem Anfang an ist die Bewegung in den vielen Krisen, die sie durchzustehen und durchzukämpfen hatte, so verfahren. Und auch der nationalsozialistische Staat hat sich, wenn eine Bedrohung vor ihm auftauchte, ihr mit entschlossener Willenskraft entgegengeworfen (Goebbels 1943d: 169).

Eine der Hauptfunktionen dieser Rede ist also: mit Verweis auf Entsprechungen nicht nur singulärer, sondern kontinuierlich gemachter Erfahrungen in der Vergangenheit das, was in der Gegenwart von 1943 gefordert ist, zu routinisieren. Fassen wir zusammen: Der Rhetor Goebbels hat die Aufgabe, die Kriegsbereitschaft der Deutschen aufrechtzuerhalten. Dazu dienen für die Kriegsreden typische Chronoferenzen: einerseits die Überhöhung der Gegenwart, andererseits aber auch das Gegenteil, ihre Marginalisierung. Zu diesem Zweck wird sie als Phänomen des Heute hinsichtlich ihrer Mühen konstituiert, als Phänomen der Zukunft, auf das man zurückblickt, gleichzeitig antizipierend aufgewertet.

65 Dies dokumentieren auch die vielen Appelle in dieser Rede, mit denen Goebbels kriegsangepasstes Verhalten einfordert, mit deren Charakterisierung als transitorisch: Nach dem Kriege wollen wir gern wieder nach dem Grundsatz verfahren: Leben und leben lassen. Während des Krieges aber gilt der Grundsatz: Kämpfen und kämpfen lassen!; Feinschmecker wollen wir wieder nach dem Kriege werden. Heute haben wir Wichtigeres zu tun, als den Magen zu pflegen; Was sollen heute noch Modesalons, die Licht, Heizung und menschliche Arbeitskraft verbrauchen. Sie werden nach dem Kriege, wenn wir wieder Zeit und Lust dazu haben, neu erstehen; Gemütlich werden wir es uns wieder machen, wenn wir den Sieg in Händen haben. Jetzt aber müssen wir für den Sieg unter weitestgehender Aufopferung unserer Bequemlichkeit kämpfen.

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Standardelemente in Hitler- und Goebbels-Reden

Dieselbe Rede kann nicht zu einem anderen Anlass, vor einem anderen Publikum und an einem anderen Ort gehalten werden: Es gleicht keine rhetorische Situation so sehr einer anderen, als dass man sich unter Vernachlässigung gegebener Optionen politischer rhetorischer Kommunikation vorab auf schematisch zu bestimmende Produktionsstadien festlegen könnte (Schild 2019: 503).

Gleichwohl: Die politischen Reden der beiden rhetorischen Hauptakteure, Hitler und Goebbels, fallen durch die stereotype Wiederkehr bestimmter Textelemente auf, die themen- und situations-, zeit- und ortsunabhängig reproduziert werden. Sie entsprechen damit einem anderen Befund der Rhetorik-Forschung mit nicht geringerer Gültigkeit: »Mit der Begrenztheit der politischen Inhalte korrelieren sprachliche Formelhaftigkeit, Wiederholungen der Gedanken, Bilder und Slogans« (Grieswelle 2019: 261). Die vier im Folgenden dargestellten Praktiken zählen auf der Handlungsebene zur Typik der Rhetorik Hitlers und Goebbels’. Es sind, neben vielen weiteren Kennzeichen, die Standardelemente ›Selbstsicht bestimmen‹, ›Logik simulieren‹, ›Begebenheiten analogisieren‹ und ›Zielerreichung behaupten‹. 3.2.1 Selbstsicht bestimmen Zentrale rhetorische Strategie Hitlers ist seine sich selbst überhöhende Konstituierung als der sogenannte Führer (anfangs noch in der Verbindung Führer und Reichskanzler), die er zur Erzeugung von Zustimmung, zur Akzeptanzgewinnung und mit dem legitimatorischen Verweis auf eine Exekutionsaufgabe funktionalisiert.66 Er verkörpert aus seiner Selbstsicht den Volkswillen, »aus dieser Position heraus agierte er als Redner, in ihr war seine charismatische Wirkung verankert« (Ueding 2003: 447).67 66 Im übrigen bin ich nicht Staatsoberhaupt im Sinne eines Diktators oder eines Monarchen, sondern ich bin deutscher Volksführer! […] Herr Churchill und diese Herren sind Abgeordnete des englischen Volkes, und ich bin Abgeordneter des deutschen Volkes. Der Unterschied liegt nur darin, daß auf Herrn Churchill nur ein Bruchteil der englischen Stimmen gefallen ist, während ich, ich darf es sagen, das ganze deutsche Volk repräsentiere! (Hitler 1938d: 969); Die nationale Regierung […] erkennt es als ihre geschichtliche Aufgabe, die Millionen deutscher Arbeiter im Kampfe um ihre Daseinsrechte zu stützen und zu fördern. Als Kanzler und Nationalsozialist fühle ich mich ihnen als den einstigen Gefährten meiner Jugend verbunden (Hitler 1933c: 234). 67 Als Euer Führer und im Namen der Regierung der nationalen Revolution fordere ich Euch daher auf, die Ehre und damit aber auch die Würde des neuen Regiments so zu vertreten, daß sie vor der deutschen Geschichte dereinst auch in Ehren und Würde zu bestehen vermag (Hitler 1933a: 221).

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Mit biografisch motivierten Selbstüberhöhungen68 errichtet Hitler zum »Nachweis von Führungsqualitäten«69 eine Steighöhe, die mit Elementen wie unbekannter Soldat, unbeirrbar meinen Weg gegangen, in kurzer Zeit entsteht. Ein damit formulierter »Herrschaftsanspruch[…] aus persönlichen Qualitäten« (Grieswelle 2019: 267) fehlt in keiner Rede in der Funktion, ein aus diesen Elementen zusammengesetztes Legitimierungspotenzial zu erzeugen, mit dem er seine Ansprüche biografisch argumentierend begründet. Syntaktisch umgesetzt werden diese Selbstreferenzen, die Hitler als Leistungsnachweise konzipiert, mit existenzbehauptenden apodiktischen ich war-, ich bin- bzw. ich habe-Formeln.70 Dieser Befund deckt sich mit Erkenntnissen einer quantitativen Analyse von 556 Reden Hitlers aus den Jahren 1921 bis 1945 (vgl. Takada 2018: 70). Der nach der Machtübergabe zur vollen Wirksamkeit gekommene Autoritarismus und Totalitarismus sowie das omnipräsente, vollständig auf Hitler fokussierte Führerprinzip sind die Erklärungen für dieses Phänomen. Dieses Führerprinzip wird qualitativ divers begründet, indem Hitler sich selbst u. a. die ›Führereigenschaften‹ ›Entschluss(-kraft‹), ›Wehrhaftigkeit‹, ›Exekutor einer höheren Macht‹, ›Glaube‹ zuschreibt.71 Diese Autoreferenzen weisen kontextbedingte Funktionsunterschiede auf: In den öffentlichen Massenreden erfüllen sie die kommunikative Funktion, den 68 Auch an dieser Stelle ist darauf zu verweisen, dass Auf-/Abwertungshandlungen zum Standardrepertoire der politischen Rede zählen, weshalb diese Phänomene auch bereits für die Widerstandsrede beschrieben wurden (s. o.). 69 »Für den Nachweis seiner Führungsqualitäten gab es in der Geschichte der NSDAP genug Belege, die er [Hitler] als Argumentationsmuster nach dem Analogieprinzip benutzte« (Ueding 2003: 446). 70 Ich bin 18 Jahre meines Kampfes einen Weg gegangen, den mir die Erkenntnis und das Pflichtbewußtsein zu gehen aufgegeben haben. Ich habe mich auf diesem Wege nie umgesehen (Rede an die Frauen auf dem Reichsparteitag 1936; Hitler 1936; zit. nach Scholtz-Klink 1936); Als unbekannter deutscher Frontsoldat hatte ich dieses kühne Programm aufgestellt, […] und in fünf Jahren habe ich es jetzt verwirklicht! In diesen fünf Jahren bin auch ich ein Arbeiter gewesen (Hitler 1938a: 796); Ich habe dies, Herr Präsident, als ein noch vor 21 Jahren unbekannter Arbeiter und Soldat meines Volkes, aus meiner eigenen Kraft geschaffen […] Ich habe […] in diesen nunmehr zurückliegenden 6 1/2 Jahren Tag und Nacht stets nur dem einen Gedanken gelebt, die eigenen Kräfte meines Volkes […] zu erwecken […] Ich habe das Chaos in Deutschland überwunden (Hitler 1939b: 1178). 71 [N]ur meine Entschlußkraft hat wahrscheinlich ihm und zehntausend anderen das Leben gerettet (Hitler 1938b: 830); [unter keinen Umständen kann] Wissen als Ersatz für Haltung, Mut, Tapferkeit und Entschlußfreudigkeit [gelten]. Bei der Führung einer Volksgemeinschaft in Partei und Staat sind diese Eigenschaften die wichtigeren (Hitler 1939a: 1051); Ich bin Nationalsozialist und als solcher gewohnt, jeden Angriff sofort zurückzuschlagen (Hitler 1938b: 830); Meine tiefsten Gefühle kann ich nur in der Form eines demütigen Dankes der Vorsehung gegenüber abstatten, die mich berufen hat und die es mir gelingen ließ, als einstiger unbekannter Soldat des Krieges zum Führer meines heißgeliebten Volkes emporzusteigen (Hitler 1939b: 1148); Ich habe meinen Weg begonnen mit einem unbändigen Glauben an das deutsche Volk. […] Heute ist dieser Glaube wunderbar gerechtfertigt (Hitler 1938c: 965).

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Redner einem großen Publikum, der Weltöffentlichkeit und den politischen Kontrahenten als starken und in jeder Hinsicht kompetenten Staatslenker und Kriegsherrn zu präsentieren. Eine adressaten- und anlassbedingte Variante dieses Musters sind die Reden vor »alten Kämpfern«. Sie haben die Funktion, eine vertraute Erfahrungs- und Erlebnisgemeinschaft zu suggerieren. Mit Vertraulichkeits-Formeln wie Sie kennen mich ja werden Eigenschaften intimisiert, geraten zu einem Wissen, das exklusiv und nicht jedermann zugänglich ist, werden umgesetzt in selbst- und gemeinschaftsinszenierende Phrasen: Sie kennen mich ja aus unserer Parteizeit her. Ich habe niemals den Stillstand gekannt, sondern wenn irgendwo zehn Batterien stehen, dann kommen noch fünf dazu, und wenn fünfzehn stehen, dann noch einmal fünf weitere und noch weitere dazu (Hitler 1941a: 1774).72

Diese Realisierungsvariante des Selbstkonzepts Führer lässt (scheinbar) die Gefolgschaft partizipieren und entspricht damit einem Aspekt des nationalsozialistischen Gemeinschaftskonzepts.73 Dieses kommunikativ praktizierte intimisierte Verhältnis Führer-Gefolgschaft erfährt eine Steigerung, wenn es im Sinn von Besitz ausgedrückt wird, der in direkt adressierten Anreden realisiert wird. Das Possessivpronomen in Anreden hat in den Reden der NS-Rhetoren die Funktion, das stets relevant gesetzte Führer-Gefolgschaftsverhältnis zu seiner unmittelbarsten, nämlich besitzenden Form zu bringen.74 Ihr entsprechen Anreden mit mein in Verbindung mit der Nennung von Funktionen, auch nationalisiert (meine (deutschen) Arbeiter!; Meine Abgeordneten; meine Abgeordneten des Reichstages), von politischer Zugehörigkeit (Meine Parteigenossen!; Sie, meine alten Kampfgefährten), von Ortszugehörigkeit (meine Berlinerinnen und 72 Weitere intimes Wissen konstituierende Vertrautheitsformeln (Sie kennen, Sie wissen), kombiniert mit der bekenntnishaften Beschreibung persönlicher Wesenszüge sind in diversen Reden belegt: Sie kennen meine Methode; Sie wissen, daß ich oft monatelang, ja oft jahrelang über eine Sache schweige. Es heißt nicht, daß ich sie nicht berücksichtige oder, daß ich sie nicht erkenne; Bei mir genügt immer mein Kopf ganz allein. Ich habe keinen Gehirntrust zu meiner Unterstützung notwendig; Ich sehe alle diese Dinge von einer – ich darf wohl sagen – höheren Warte; ich bin nun allerdings so viel Materialist, daß ich sie [die gewaltige Aufgabe] als viel wichtiger ansehe, als mich etwa darum zu kümmern, welche Religionen in den verschiedenen Ländern herrschen; Meine eigenen Empfindungen werden Sie verstehen […] ich bin so glücklich, Sie wieder hier zu sehen, meine alten Gefährten, meine alten Kampfgenossen. Und Sie dürfen mir schon glauben, daß mir in diesem Jahr eine ungeheure Last vom Herzen genommen worden ist. Ich empfinde so recht die ganzen Opfer, die wir bringen mußten. 73 Das ganze deutsche Volk wird aus alledem immer aufs neue verstehen, warum die nationalsozialistische Bewegung so stolz ist auf ihr Werden, auf ihren Kampf, und warum sie so verbunden ist untereinander, warum Gefolgschaft und Führer in dieser Bewegung so eins sind wie niemand sonst (Hitler 1936: 653). 74 Der Ausdruck mein Führer war bekanntlich Hitler vorbehalten, und zwar ausschließlich in der direkten Kommunikation (vgl. Schmitz-Berning 1998: 240–245).

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Berliner). Es gibt kombinierte Varianten (Sie, meine Abgeordneten, Männer des Reichstages; Sie, meine Berliner Parteigenossen und -genossinnen). Diese Anreden ersetzen das usuelle Damen und/oder Herr(en), das Hitler wiederum variiert mit der antibürgerlichen Formel Sie, meine Männer und Frauen. Insbesondere, wenn er die Zuhörenden direkt anspricht, ihre Eigenschaft (Parteigenossen) nennt, persönliche Bindung mit dem Possessivpronomen mein und die Intensität dieser possessiven Bindung ausdrückt mit alt, und wenn er darüber hinaus diese Adressierung mit einer Vertraulichkeitsformel wie Glauben Sie mir einleitet, hat er einen Grad an Intimität erzeugt, der ihm Personenbindung und damit Zustimmung zu seinen Ausführungen und zu seinem entsprechenden politischen Handeln sichert: Glauben Sie mir, meine alten Parteigenossen, es war das der schwerste Entschluß meines ganzen bisherigen Lebens, ein Entschluß, von dem ich wußte, daß er uns in einen sehr schweren Kampf verwickeln würde, von dem ich aber hoffte, daß die Chancen, ihn zu gewinnen um so größer waren, je schneller wir den anderen zuvorkommen würden (Hitler 1941a: 1774).

Eine andere Ausprägung der Gleichmachungsstrategie ist erkennbar, wenn Hitler seine Rede patriarchalisch etwa an Autobahnarbeiter situations- und adressatenspezifisch anpasst. Indem er diese Selbstpositionierung in den Kontext von erfahrener Diskriminierung stellt, erhöht sich der Bindeeffekt: Ich bin, meine Arbeiter, in der Zeit meines Kampfes um die Macht in Deutschland von denen, die selbst vorgaben, Arbeiterinteressen zu vertreten, oft angegriffen worden mit dem Hinweis auf meine Herkunft. Damals pflegte man zu sagen: Was will denn der ehemalige Bauarbeiter oder Anstreicher eigentlich? Ich bin glücklich und stolz, daß mich das Schicksal gezwungen hat, diesen Weg zu gehen. So habe ich vielleicht mehr als andere Verständnis bekommen für den deutschen Arbeiter, für sein Wesen, für sein Leid, aber auch für seine Lebensnotwendigkeiten (Hitler 1933e: 302).

Die nationalsozialistische Leitidee der Volksgemeinschaft ist auch hier das Verwendungsmotiv, das deutlich macht: Volksgemeinschaft sollte nicht nur die Egalisierung aller Volksgenossen bewirken, sondern auch eine Beziehung zu dem aus der Masse herausgehobenen Führer herstellen (im Sinn von Gefolgschaft) bzw. umgekehrt von diesem zum Volk der Deutschen.75 Während Hitler sich mit selbstreferenziellen Aussagen an Volksgenossen und Arbeiter als Gleicher wendet, besteht das selbstreferenzielle Muster hinsichtlich des politischen Gegners in der umgekehrten Funktion der Abgrenzung. Die grundsätzlich binäre, sich variantenreich als Repräsentation der entwederoder-Opposition ausdrückende Weltsicht des Nationalsozialismus manifestiert sich in diesem Zusammenhang mit Strategien rhetorischer Selbstkonzeptionen 75 Vgl. den Beitrag ›Gemeinschaft‹ in Teil 1.

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in dem ich-sie-Schema, das im Selbstaufwertung-Fremdabwertung-Schema ausgeführt wird.76 Stereotype, die dieses Differenzschema realisieren, lauten im Sinn von Existenzaussagen etwa ich will Frieden – sie wollen Krieg, ich bin ein großer Staatsmann – sie sind Stümper. Emotionalisierte Steigerungen dieses Differenzschemas sind die Beleidigungen, mit denen Hitler typischerweise Kontrahenten versieht: ad personam bzw. ad hominem, Angriffe und Herabsetzungen sind Kernelemente der NS-Rhetoren, insbesondere Hitlers.77 3.2.2 Logik simulieren Die politischen Reden Hitlers und Goebbels’ sind durch spezifische Argumentationsmuster, speziell die Konstruktion von Logik simulierenden Schlüssen gekennzeichnet (siehe zum Argumentieren aus widerständischer Perspektive Abschnitt 2.2). Zwar wird Emotionalisierung als zentraler Funktionsaspekt nationalsozialistischer Rhetorik beschrieben.78 Damit ist aber nicht gesagt, dass die NS-Rhetoren nicht auch gleichzeitig auf Argumentation setzten.79 Ein Kennzeichen, das die Rhetorik-Forschung der faschistischen (ebenso wie der kommunistischen) agitatorischen Rede zuschreibt, ist das der Unterkomplexität: Gemäß der Diagnose, die politischen Verhältnisse seien einfach und würden nur von den Gegnern künstlich kompliziert, bietet man keine differenzierende, analysierende Erörterung, sondern verwendet klischeehafte Verallgemeinerungen und Formeln, die die gleichbleibenden Inhalte einhämmern. […] Eine vergröbernde Schwarz-WeißKlassifikation spart Beweise und ersetzt sie durch nachdrückliche Affirmationen (Grieswelle 2019: 261).

Ein Instrument zur Erzeugung dieser Wirkung ist an der sprachlichen Oberfläche das Argumentieren, sehr häufig z. B. in vielschichtig erscheinenden wenn-dannKonstruktionen, mit denen komplexe Sachverhalte geschaffen wurden, um Ar-

76 Sie haben im Jahre 1918 sich gegen die gewendet, die Ihnen nichts getan hatten. Wir beherrschen uns, gegen die uns zu wenden, die uns vierzehn Jahre lang gequält und gepeinigt haben (Reichstagsrede 23. 3. 1933; Hitler 1933d: 244). 77 Aus Hitler-Reden sind belegt: Dummköpfe; Säufer; Nullen; Nichtskönner; Schwadroneure; Verbrecher; Generalverbrecher; Geisteskranker. Es handelt sich hier um Beleidigungen, die – anders als die Polemik – keine argumentative Funktion haben (vgl. Dieckmann 2005). Grieswelle (2019) kennzeichnet den Agitationsstil von Hitler-Reden vor 1933 mit den typischen diffamierenden ad-personam-Referenzen (Lügner und Schieber), die Hitler, wie wir sehen, in der Auseinandersetzung mit Churchill (Säufer) und Roosevelt (Nichtskönner) und mit seinen Kriegsgegnern generell (Nullen) insbesondere im Kriegsverlauf wieder aufnimmt. 78 Siehe den Beitrag »Gefühle äußern« in Teil 1. Vgl. Klein 2019a: 333–336. 79 Die Parallele zur Widerstandsrede besteht darin, dass beide – als Reden mit der Grundfunktion der Persuasion – auf Begründung zur Erreichung dieses Zwecks setzen (siehe die Abschnitte 1 und 2.2 dieses Beitrages).

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gumente, also Begründungen, zu plausibilisieren. Beispiel ist Hitlers Konstruktion zum Münchner Abkommen: Wenn heute der Schrei in der Welt erhoben wird: »Niemals wieder München!«, dann ist dies die Bestätigung dafür, daß den Kriegshetzern die friedliche Lösung des Problems als das Verderblichste erschien, was jemals geschah. Sie bedauern, daß kein Blut geflossen ist. Nicht ihr Blut natürlich: denn diese Hetzer stehen ja nicht dort, wo geschossen, sondern nur dort, wo verdient wird. Sondern es ist das Blut vieler namenloser Soldaten. Es wäre im übrigen aber auch gar nicht notwendig gewesen, daß die Konferenz von München stattfand, denn diese Konferenz war nur deshalb zustande gekommen, weil die erst zum Widerstand um jeden Preis aufhetzenden Staaten später, als das Problem so oder so zur Lösung drängte, in einer mehr oder weniger anständigen Form versuchen mußten, sich den Rückzug zu ermöglichen (Hitler 1939b: 1154).

Dieser Absatz ist reich an Argumentationsmarkern (siehe zur Bedeutung von Argumentationsmarkern auch oben Abschnitt 2.2): wenn – dann, denn nicht – sondern, sondern, aber – denn, nur deshalb – weil. Die Referenzbereiche, auf die sich diese Marker jeweils beziehen, sind Sachverhaltsbehauptungen oder Implikaturen, denen Hitler mit der Verwendung von auf sie referierenden Argumentationsmarkierungen auf diese Weise Faktizitätsstatus zuschreibt. Argumentationslinien der NS-Rhetorik wie diese begründen das Urteil ›Scheinlogik‹, mit dem sie charakterisiert wird. Mit der »Taktik der ›skeptischen Alltagsschläue‹« (Grieswelle 2019: 276) werden an der sprachlichen Oberfläche scheinargumentative Muster realisiert, die einer Pseudoentlarvung dienen. Als ein Kennzeichen Hitler’scher Rhetorik wird beschrieben, dass dieser »trotz seiner ausgeprägten Tendenz zur apodiktischen Behauptung keineswegs auf den formalen Rahmen einer sachlichen Beweisführung« verzichtete. »Er legt im Gegenteil größten Wert auf eine Scheinlogik seiner Begründungen« (Scholdt 2003: 264): Deutschland ist nun wieder eine Weltmacht geworden. Welche Macht der Welt aber würde es auf die Dauer ruhig hinnehmen, wenn vor ihren Toren eine Millionenmasse von Angehörigen des eigenen Staatsvolkes auf das bitterste mißhandelt wird? Es gibt hier Augenblicke, in denen es einer selbstbewußten Nation unmöglich ist, noch länger zuzusehen! (Hitler 1938b: 828).

An diesem Beispiel zeigt sich die Funktionsweise. Scheinlogische Konstruktionen wie diese basieren auf einer Aneinanderreihung von Existenzbehauptungen: 1. Existenzbehauptung: Deutschland ist Weltmacht. 2. Existenzbehauptung: Angehörige dieser Weltmacht werden misshandelt. 3. Existenzbehauptung: Eine Weltmacht nimmt nicht hin. 4. Existenzbehauptung: Eine Weltmacht sieht nicht zu. Zusätzliche Plausibilisierungsfunktion hat die Form der rhetorischen Frage von Existenzbehauptung 3. Was mit der oben recht umgangssprachlich benannten »Alltagsschläue« gemeint ist, und was vielleicht präziser selbstvoraus-

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setzende Pseudo-Argumentation heißen kann, zeigt eine rhetorische Aufeinanderfolge von Existenzbehauptungen wie diese, die an der sprachlichen Oberfläche deshalb als plausibles Argumentationsgefüge erscheint, weil sie aus auf sich selbst sich beziehenden Aussage-Konklusion-Sequenzen besteht. 3.2.3 Begebenheiten analogisieren Eine weit verbreitete rhetorische Strategie in NS-Reden ist die Herstellung von Analogiebeziehungen, mit denen, wie mit Logik simulierenden Konstruktionen, Plausibilität und Legitimation hergestellt wird. Die Analogie wird »dazu gebraucht, um Unbekanntes aus Bekanntem zu erschließen oder um Ungleiches mit Ungleichem in Zusammenhang zu bringen« (Hoenen 1992: 498). Diese Relation wird mithilfe eines Vergleichs erzeugt, in dem beiden Sachverhalten Entsprechungen, Ähnlichkeiten oder Gleichheit zugeschrieben wird, so dass sie als »konzeptuell zusammengehörig interpretiert werden« (Kämper 2012a: 278). Auf syntaktischer Ebene ist ihre Grundstruktur mit der Formel »wie x, so y« ausgedrückt. Es ist dies die explizierte Basisversion, die Dieter Wanner (2006) »proportional analogy« nennt.80 Es handelt sich dabei um zwei Existenzaussagen, die zueinander in ein Similaritätsverhältnis gesetzt werden. Deren Differenz lässt sich am besten auf der Basis eines Thema-Rhema-Modells beschreiben.81 Nach diesem Schema lässt sich x als Thema, y als Rhema darstellen. Die Differenz der in ein Similaritätsverhältnis gesetzten Sachverhalte besteht mit diesem Modell in thematischer Varianz bei rhematischer Identität82

80 Dieter Wanner (2006) hat die Herstellung von Analogiebeziehungen in Spracherwerbsprozessen zur Erklärung von Sprachwandel zum Gegenstand. Dazu setzt er sich mit den von Ferdinand de Saussure definierten Dimensionen der Diachronie und Synchronie auseinander und folgt dabei der These, dass Analogisches usuell ein Teil historischen Denkens ist. 81 In diesem syntaktischen Strukturmodell, das in der Prager Schule von Vilém Mathesius entwickelt wurde, wird zwischen dem Thema als Bekanntem und dem Rhema als Neuem unterschieden. Ähnlich lässt sich auch zwischen Referenz und Prädikation, zwischen Topik und Kommentar unterscheiden. Der Hauptgedanke dieses Modells besteht darin, dass die Informationsstruktur eines Aussagesatzes aus dem, worüber etwas ausgesagt wird, und dem, dass etwas über etwas ausgesagt wird, besteht. So kritisch dieses Modell wegen fehlender klarer Abgrenzung der beiden Kategorien voneinander sowie zur Erklärung von Textstrukturen, auf die es erweitert wurde, zu sehen ist (vgl. Brinker 2005: 51, Adamzik 2004: 119), scheint es im vorliegenden Fall, aufgrund der klaren Grundstruktur der Analogie (»so wie x, so y«) nützlich. 82 Ebenso wie die Armee – die Waffe – nicht ohne dieses Gesetz der absoluten Autorität […] bestehen kann, kann es auch nicht die politische Führung dieser Waffe (Hitler 1937: 762). Armee und politische Führung werden hier in Beziehung gesetzt, deren Similarität, hergestellt mit der Formel ebenso wie … auch nicht, durch das je identische rhematische Element Gesetz der absoluten Autorität.

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oder rhematischer Varianz83, oder in thematischer Identität bei rhematischer Varianz.84 Als rhetorisches Spiel ist der Positionentausch in der Thema-RhemaStruktur zu beschreiben.85 Da Analogien Interpretationen von Wirklichkeit sind, die im politischen Kontext parteilich orientiert werden, sind die die Vergleichbarkeit der beiden relationierten Sachverhalte herstellenden Aussagen Behauptungen. Deshalb geht analogischen Figuren häufig eine apodiktisch formulierte Sachverhaltsbehauptung voran. Es ist dies die Bezeichnung oder Nominierung eines Sachverhalts, der die Existenz des zu Begründenden behauptet. Eine Analogiebeziehung herstellen bedeutet im Textverbund daher nicht nur, eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zwei oder mehr Sachverhalten herzustellen, sondern auch, der Funktion der Analogie entsprechend, diese Beziehung als Begründung für eine Existenzaussage zu platzieren. Anaphorisch wird etwa eine Zurückweisung formuliert, die die Analogie motiviert.86 Analogisch formulierte Zuversicht wird begründet.87 83 Ich hielt es aber auch für notwendig, der Warschauer Regierung klar zu machen, daß so, wie sie einen Zugang zum Meere wünscht, Deutschland einen Zugang braucht zu seiner Provinz im Osten (Hitler 1939b: 1162). In diesem Beispiel werden Warschauer Regierung und Deutschland in thematische, Zugang zum Meer und Zugang zu seinen Provinzen im Osten in rhematische Beziehung gesetzt. Die Analogiebeziehung drückt die Formel so wie aus. Die Plausibilität in diesem Fall evoziert zum einen die Funktionsidentität der Akteure, zum andern der Redegegenstand, der jeweils ausdrucksidentisch mit Zugang bezeichnet ist. 84 So wie in ihm [dem Großdeutschen Reich] alle Ströme des deutschen Blutes münden, so einen sich in ihm alle vergangenen Traditionen, ihre Symbole und Standarten, vor allem aber alle die großen Männer, auf die deutsche Menschen einst Grund hatten, stolz zu sein (Hitler 1939a: 1067). Similarität stellt hier die Analogie-Formel so wie … so her. Ströme deutschen Blutes und alle vergangenen Traditionen (etc.) bezeichnen hier die rhematisch differierenden verglichenen Sachverhalte, beide referieren auf das identische Thema Großdeutsches Reich (bzw. dessen referenzidentische Pronominalisierung ihm). 85 [S]o wie die Völker seit unzähligen Jahrtausenden leben, ohne daß es einen Völkerbund gab, so wird es einst wohl schon längst keinen Völkerbund mehr geben, trotzdem die Völker durch die Jahrtausende weiterbestehen werden (Hitler 1938b:828). Was im ersten Teil dieser Analogie Thema ist (Völker leben seit Jahrtausenden), ist im zweiten Teil Rhema (Völker bestehen weiter) und umgekehrt, das Rhema aus dem ersten Teil (ohne Völkerbund) ist Thema im zweiten Teil (Völkerbund). Vereinfacht ausgedrückt werden die beiden Sachverhalte Völkerbund in der Vergangenheit und Völkerbund in der Zukunft über die Aussage Völker können ohne Völkerbund leben zueinander in Beziehung gesetzt, um die politische Meinung des Regimes, dass der Völkerbund überflüssig ist, zu belegen und legitimatorisch zu stützen. 86 Sicher aber ist das eine, daß die Lösung nicht einer englischen Kontrolle oder englischen Kritik untersteht. Denn die Länder Böhmen und Mähren haben als letztes Restgebiet der ehemaligen Tschecho-Slowakei mit der Münchener Abmachung überhaupt nichts zu tun. So wenig, als etwa englische Maßnahmen […] einer deutschen Kontrolle oder Kritik unterstellt sind, so wenig ist dies bei diesen alten deutschen Kurfürstentümern der Fall (Hitler 1939b: 1157). 87 Ich weiß dabei, daß nicht nur unsere eigene Wehrmacht einer höchsten militärischen Beanspruchung gewachsen ist, sondern ebenso auch die militärische Macht Italiens. Denn so wenig das heutige deutsche Heer beurteilt werden kann nach der alten Bundesarmee etwa in der Zeit von 1848, so wenig kann das moderne Italien des Faschismus gewertet werden nach den Zeiten der italienischen staatlichen Zerrissenheit (Hitler 1939a: 1063); Wir sind mit allen Gefahren

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Eine politische Konstellation wird legitimierend erläutert.88 Die anaphorische Setzung behauptet eine Erwartung, auf die die Analogie im Sinn einer Konsequenz anschließt.89 Insbesondere dienen anaphorische Existenzaussagen im Kontext antisemitischer Exklusion dazu, eine Situation zu veranschaulichen90 oder auch zur Legitimierung antisemitischer Restriktionen, die analogisch konstruiert sind.91 Als kommunikative Praktik im politischen Kontext ist Analogisieren eine argumentative Strategie, mit der Unbekanntes, Nichtakzeptiertes, Strittiges u. Ä. dadurch plausibilisiert oder legitimiert wird, dass es zu Bekanntem, Akzeptiertem, Unstrittigem u. Ä. in Beziehung gesetzt wird. Die Vorkommenshäufigkeit dieser Strategie dokumentiert, dass das NS-Regime auf solche Zustimmung angewiesen und der Legitimationsdruck damit groß war.92 3.2.4 Zielerreichung behaupten Das teleologische Schema besteht in der sprachlichen Ausgestaltung der Parteigeschichte, die das Narrativ ›trotz Verbots und Widerstands hat die NSDAP gesiegt‹ bzw. die Geschichte Hitlers vom unbekannten Soldaten zum Führer erzählt, das durch gegenwartsmarkierende, oftmals in Kombination mit vergangenheitsmarkierender Zeitdeixis realisiert wird und in der Gegenwart mit dem Erreichen des Ziels (Machtübergabe) endet. Dieses Muster ist vielfältig

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und Krisen fertig geworden. Und so, wie das in der Vergangenheit war, so wird es auch in der Gegenwart und in aller Zukunft sein (Goebbels 1943c: 138). [D]er Kampf, der sich in den ersten Monaten dieses Jahres allmählich als unausbleiblich abzuzeichnen begann, […] geht ebenfalls über die Interessen unseres eigenen Volkes und Landes weit hinaus. Denn so wie einst die Griechen gegenüber den Karthagern nicht Rom, Römer und Germanen gegenüber den Hunnen nicht das Abendland, deutsche Kaiser gegenüber den Mongolen nicht Deutschland, spanische Helden gegenüber Afrika nicht Spanien, sondern alle Europa verteidigt haben, so kämpft Deutschland auch heute nicht für sich selbst, sondern für unseren gesamten Kontinent (Hitler 1941b: 1797). Der Führer erwartet von uns eine Leistung, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Wir wollen uns seiner Forderung nicht versagen. Wie wir stolz auf ihn sind, so soll er stolz auf uns sein können (Goebbels 1943d: 203). Mit allen Mitteln der Verführungskunst wenden sie sich an die deutsche Front und an die deutsche Heimat, um sie ihrer Führung abspenstig zu machen. Wie sie damals den Kaiser bekämpften, so bekämpfen sie heute das nationalsozialistische Regime und seine berufenen Träger (Goebbels 1943a: 107). Sofort begann das Judentum nunmehr mit der planmäßigen inneren Zersetzung unseres Volkes, und es hatte dabei die besten Bundesgenossen in jenen verbohrten Bürgern, die nicht erkennen wollten, daß […] man […] die großen Aufgaben der Zeit nur zu meistern vermag unter einer autoritär zusammengefaßten Kraft der Nation, […] genau so wie umgekehrt die Erfüllung dieser gleichen Pflichten auch zwangsläufig zu gleichen Rechten führen muß (Hitler 1945: 2196). »jede Form politischer Herrschaft – auch eine diktatorische – [bedarf] der Legitimation und Anerkennung wie Mitwirkung durch die Beherrschten« (Steuwer 2017, 366).

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variiert, z. B. in der Rede Hitlers am 21. März 1933, dem sogenannten Tag von Potsdam: Er wählt in dieser die entpersönlichende Abstrahierung und lässt Sinn für situative Opportunität walten, indem er sich nicht als handelnde Person herausstellt, sondern im Bescheidenheitsmodus ohne expliziten Ich-Bezug spricht, Deutschland und der Welt Ernsthaftigkeit, Seriosität und Integrität des Reichskanzlers zu demonstrieren. Zu diesem Zweck ist junges Deutschland partiell referenzidentisch mit Hitler, und wir in wir Männer dieser nationalen Regierung hat ebenso diese selbstinkludierende Funktion: Diesem jungen Deutschland haben Sie, Herr Generalfeldmarschall, am 30. Januar 1933 in großherzigem Entschluß die Führung des Reiches anvertraut. In der Überzeugung, daß aber auch das Volk selbst seine Zustimmung zur neuen Ordnung des deutschen Lebens erteilen muß, richteten wir Männer dieser nationalen Regierung einen letzten Appell an die deutsche Nation (Hitler 1933b: 227).

Generell spricht Hitler in dieser Rede im Pluralis Majestatis, was insbesondere dort als rhetorisches Element auffällt, wo er am Ende der Rede eine Formulierung verwendet, die er sonst musterhaft in der 1.Person Singular gebraucht: Möge uns dann aber auch die Vorsehung verleihen jenen Mut und jene Beharrlichkeit, die wir in diesem für jeden Deutschen geheiligten Raum um uns spüren als für unseres Volkes Freiheit und Größe ringende Menschen zu Füßen der Bahre seines größten Königs (Hitler 1933b: 228).

Zwölf Jahre später und referierend auf denselben Sachverhalt ist die teleologische Denkfigur immer noch so präsent, dass Hitler, in der Situation des verlorenen Kriegs, darauf Bezug nimmt: Als mich als Führer der stärksten Partei vor zwölf Jahren der verewigte Reichspräsident von Hindenburg mit der Kanzlerschaft betraute, stand Deutschland im Innern vor der gleichen Situation wie heute in weltpolitischer Hinsicht nach außen (Hitler 1945: 2195).93

Das teleologische Schema ist eine retrospektive Praktik der Chronoferenz, die aus der zeitlichen Position der Gegenwart auf Ereignisse in der Vergangenheit referiert, die die Erreichung des Ziels ermöglicht haben. Dieses erinnernd-retrospektive Moment ist in der NS-Rhetorik hoch präsent. Es stellt im Kontext des NS-Festtagskalenders und der jeweils gehaltenen Reden eine Obligation dar.94 93 »Dass in der ständigen Versicherung seiner Führerqualitäten […] auch immer ein Stück Selbstüberredung steckte, wird in den beiden letzten Kriegsjahren als geradezu zwanghafter Mechanismus deutlich. Die Referenzen auf jenen Ideenleib der persönlichen Führerschaft, der Identität von Volk und Führer, werden immer wahnwitziger, größenbesessener und zugleich desperater, je weniger die Realität einer solchen Deutung noch zugänglich ist« (Ueding 2003: 450). 94 »Das NS-Feierjahr begann mit dem ›Tag der Machtergreifung‹ am 30. Januar, wurde am 24. Februar mit der Parteigründungsfeier und im März mit dem ›Heldengedenktag‹ und der ›Verpflichtung der Jugend‹ fortgesetzt und führte über den ›Führer-Geburtstag‹ am 20. April,

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Dieser Kalender weist zumindest drei Daten auf, die der parteigeschichtlichen Erinnerung i. e. S. dienen, der 30. Januar (Machtübergabe), der 24. Februar (Parteigründung) und der 9. November (Putsch- und Totengedenken). Mit diesen die Selbstwahrnehmung von Partei und Regime stark markierenden Ereignissen wird das teleologische Moment in den entsprechenden Reden in einen ritualisierten und perpetuierten Sinnzusammenhang der Retrospektive gestellt. Teilnehmer an diesen perpetuierten Riten sind die Parteimitglieder. Seine Gedenkrede zum 9. November, die er 1941 im Münchner Löwenbräu gehalten hat, leitet Hitler adressaten-, situations- und anlassgemäß ein, indem er Gemeinschaft suggeriert (mit Ihnen, meine ersten Anhänger und Mitkämpfer) und der Gedenkveranstaltung den Charakter eines Gesprächs gibt (zu sprechen).95 Weitere anlassbezogene Bezugnahmen, die durch memoriale Elemente96 realisiert werden, verweisen in diesem Sinn auf die Vergangenheit ( jene zu ehren, die damals …; Wir dürfen gerade in diesem Jahr mit noch mehr Stolz vor die Gräber unserer alten Kameraden hintreten), gegen Ende der Rede im Rahmen einer längeren Ausführung: Ich blicke jetzt fast wie erlöst in diesem Jahr zu den Gräbern unserer Parteigenossen hin, denn ich weiß, daß diese Parteigenossen ja einst alle das gleiche Ziel hatten: den Kampf gegen diesen marxistischen Weltfeind und seine Verbündeten. Sie sind damals unter den Kugeln dieser Front, die sich von einer dummen Reaktion bis zum fanatisierten Wahnwitz des Bolschewismus hin erstreckte, gefallen. Wir erinnern uns gerade in diesem Jahr dieser Gefallenen mit besonderer Rührung und mit besonderer Ergriffenheit (Hitler 1941a: 1781).

Hitler kontextualisiert in dieser Passage die memorial-vergangenheitsbezogene teleologische Aussage mit der gegenwartsbezogenen, indem er eine Parallele konstituiert zwischen den Zielen derjenigen, derer gedacht wird, und derjenigen, die in der Gegenwart handeln. Dieser Parallele weist er eine emotionalisierende Funktion zu. Die Ich-Wir-Konstellation entspricht hier einer gemeinschaftsstiftenden Teil-Ganzes-Beziehung.

den zum ›Nationalen Feiertag‹ umfunktionierten 1. Mai sowie den ›Muttertag‹ und die ›Sommersonnenwende‹ schließlich zum Reichsparteitag Anfang September, von da zum ›Erntedankfest‹ und zum Gedenktag für die ›Gefallenen der Bewegung‹ am 9. November und endete schließlich mit der ›Deutschen‹ oder ›NS-Volksweihnacht‹« (Reichel 1996: 210). 95 Parteigenossen und -genossinnen! Deutsche Volksgenossen! Ich bin wieder auf wenige Stunden hierhergekommen, um dem alten Brauche treu, mit Ihnen, meine ersten Anhänger und Mitkämpfer, zu sprechen und jene zu ehren, die damals das größte Opfer, das sie bringen konnten, für unsere Bewegung und damit für Deutschland gebracht haben (Hitler 1941a: 1771f.). 96 Zur Gedenkrede vgl. Felder (2000), zu Instanziierungsprozessen des kollektiven Gedächtnisses vgl. Kämper (2015).

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In einer weiteren das teleologische rhetorische Prinzip realisierenden memorialen Sequenz97 wird zunächst mit der wir-Aussage Gemeinschaft gebildet. Von der darauffolgenden referenzidentischen sie-ich-Konstellation wird diese aufgelöst. Hitler spricht die Zuhörer direkt mit Sie an und weist ihnen im Sinn einer Zielerreichungsrhetorik einen emotionalen Zustand zu (stolz sein), dessen Berechtigung er begründet, indem er die Zuhörer als beherzte, den widrigen Umständen ungeachtet handelnde Agenten konzipiert (daß Sie mir folgten). Mit der Benennung der widrigen Umstände verweist er auf sich (ich), und es ist die bekannte formelhafte Selbstkonzeption ›ich als unbekannter einfacher Soldat‹, die Hitler auch hier verwendet. Auf sprachlich komplexe Weise separiert er Agens und Patiens, um gleichzeitig sich selbst – als Patiens – einerseits als von einer höheren Macht Auserwählter zu überhöhen und andererseits als denjenigen, dem gefolgt wird, die Führer-Gefolgschafts-Konstellation hier auf diese Weise ausführend. Abschließend wird die memoriale Komponente aktiviert (vor die Gräber unserer alten Kameraden hintreten) in einer Formulierung, die die Gegenwart explizit markiert (gerade in diesem Jahr).

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Fazit: Rede als kommunikativer Akt im ›Dritten Reich‹

Im Rahmen dieses Beitrages haben wir mit der Analyse von politischen Reden des Widerstands und des NS-Apparats die beiden antagonistischen Akteursgruppen dieser Zeit fokussiert. Die Akteure beider Beteiligtengruppen agieren in der Domäne der Politik, ihre Reden sind dergestalt politische Reden. Diese haben, neben einer informativen, insbesondere eine persuasive und z. T. integrative Funktion (vgl. Girnth 2015: 47– 48). Sie eignen sich auf ideale Weise zur Vermittlung und Durchsetzung eigener diskursiver Deutungen bzw. Perspektiven. Von daher ist es kaum verwunderlich, dass Reden im sogenannten ›Dritten Reich‹ große Bedeutung hatten und von allen Akteursgruppen frequent verwendet wurden. Wir können trotz der antagonistischen Akteurskonstellation Parallelen feststellen, die nicht zuletzt auf die persuasive Grundfunktion politischer Reden zurückzuführen sind: Auf- und Abwertungshandlungen, der Gebrauch von Leit-

97 Wir alle können glücklich sein, daß wir diese Zeit anbahnten und Sie, meine Freunde aus alter Zeit, Sie können stolz darauf sein, daß Sie mir, den die Vorsehung bestimmt hat, diesen Weg zu beschreiten, schon damals in einer Zeit und unter Umständen folgten, in denen ich in dieser Stadt noch als ein unbekannter Mann meinen Weg begann. Wir dürfen gerade in diesem Jahr mit noch mehr Stolz vor die Gräber unserer alten Kameraden hintreten (Hitler 1941a: 1780).

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wie Schlüsselwörtern und die Verwendung von Argumentationsmustern lassen sich ebenso parallelisierend finden wie Abgrenzungsstrategien.98 Weit höhere Evidenz haben jedoch erwartbar die Differenzen der politischen Reden des Widerstands einerseits und des NS-Apparats andererseits, was auch die getrennte Darstellung der Reden des Widerstands (Abschnitt 2) und des NSApparates (Abschnitt 3) begründet. Die akteursabhängigen textkonstitutiven Spezifitäten der verschiedenen Reden lassen sich so deutlicher erkennbar machen. Spezifika der Widerstandsrede konnten wir wie folgt identifizieren: Widerständischen Akteuren blieb ein öffentlicher diskursiver Raum mehr oder weniger unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 versperrt. Als letzte Zeugnisse rednerischen Widerstands erweisen sich die von sozialistischen Akteuren vorgetragenen Reden im Reichstag, wobei vor allem der Rede Otto Wels’ besondere und historische Relevanz zukommt. Das bedeutet, dass spätere Reden nur unter spezifischen Bedingungen gehalten und verbreitet werden konnten, z. B. auf Parteitagen und Kongressen im Ausland (kommunistische Akteure) oder mit der Hilfe medialer Transformationen (bürgerlich-konservative Akteure). In einem weiteren Sinne innerhalb Nazideutschlands öffentlich widerständisch oder widersprechend reden zu können, war fast nur kirchlichen Akteuren möglich. Zentrales Zeugnis dafür ist die Predigt Galens, die wir in unserem Verständnis als Rede klassifizieren (siehe zur Begründung Abschnitt 1). In allen untersuchten Reden zeigt sich der persuasive Impetus, der vor allem durch (unvollständige bzw. komprimierte) Argumentationen sowie narrative Einschübe umgesetzt wurde, und in Sprachhandlungen z. B. des Aufforderns mündete. Widerstandsspezifisch ist zudem die Sprachhandlung der Selbstkritik, die sich vor allem bei kommunistischen Akteuren und in Ansätzen in den Reden der militärischen und der bürgerlich-konservativen Funktionselite hat finden lassen. Schließlich haben exemplarische rhetorisch-stilistische Analysen die Frequenz und den Reichtum an sprachkreativen Elementen herausstellen können. Dabei erwiesen sich alle Emittenten der verschiedenen Widerstandsgruppen als versierte Redner, die zur Verstärkung wie Konturierung ihrer persuasiven Botschaften eine Vielzahl rhetorisch-stilistischer Mittel geschickt einzusetzen wussten. Reden des NS-Apparats dagegen sind hinsichtlich der sozialen Position und Funktion ihrer Urheber, der Redeanlässe und des Publikums bzw. der Adressaten äußerst divers, haben unvergleichbar mehr Öffentlichkeit und werden medial vielfältig inszeniert und reproduziert. Unabhängig von der Grundfunktion der Persuasion, als der Erzeugung von Zustimmung, reflektieren die funktionale Diversität der NS-Akteure insbesondere die Redekonstellationen Raum (exemplarisch wurde die Reichstagsrede analysiert) und Adressat (hinsichtlich 98 An entsprechenden Stellen der jeweiligen Abschnitte wurde auf die Parallelität hingewiesen.

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Hitlers politischen Antipoden Roosevelt ebenso wie, exemplarisch, in Bezug auf die Adressaten der Arbeiter oder der sogenannten ›alten Kämpfer‹ mit entsprechend spezifischen Gestaltelementen) sowie zeitliche Voraussetzungen (mit dem Beispiel der Kriegsreden Goebbels’). In Bezug auf rhetorische Standardelemente der NS-Rede haben wir kennzeichnende Elemente der Selbstkonstituierung, scheinargumentative Muster, Analogisierung als Legitimationsstrategie sowie das teleologische Erzählschema beschrieben, mit jeweils vielfältigen Realisierungen dieser musterhaft vorkommenden Textelemente. Selbstreferenz, Argumentation und Narration können in diesem Zusammenhang als die dominanten Vertextungsstrategien bezeichnet werden. Es lassen sich, zusammenfassend, zwei Perspektiven benennen, die die Differenzqualität von Widerstands- und von NS-Rede als strategisch kalkulierte und reflektierte kommunikative Handlungen begründen: Die basalen Funktionsgegensätze – systemzerstörend vs. systemerhaltend – motivieren für Widerstandsreden z. B. die Redeelemente des Argumentierens, der Selbstkritik und der Verwendung exkludierender (bezogen auf den NSDiskurs) und inkludierender (bezogen auf den widerständischen Diskurs) Ideologieausdrücke sowie für die NS-Reden die Redeelemente der Selbstsicht, Analogisierung, Normalisierung, und teleologischen Narration. Der akteursbedingt ungleiche Grad der Öffentlichkeit (ausgewählte Adressaten vs. maximale Rundfunköffentlichkeit) ist derjenige Faktor, der für die Widerstandsreden Abgrenzungs- (sowohl untereinander als auch gegenüber den NS-Akteuren) und Inklusionsbewegungen (adressatenseitig) sowie Selbstpositionierungen und für die NS-Reden eine Diversität von Räumen (Reichstag, Löwenbräu, Sportpalast etc.) wie auch von Adressatenbezügen (mit entsprechender sprachlicher Ausgestaltung) nach sich zieht. Politische Reden im öffentlichen Raum können zumeist als Akte der (Selbst-) Positionierung und (Fremd-)Überzeugung bestimmt werden. In Zeiten radikal divergierender Deutungsmuster und Sinnkategorien kommt ihnen somit eine elementare Bedeutung zu. Dies ließ sich anhand der untersuchten Reden der verschiedenen Akteursgruppen im sogenannten ›Dritten Reich‹ sowohl exemplifizieren als auch untermauern und bezeugt so den hohen Stellenwert dieses (text-)kommunikativen Mittels.

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Rede

Quellen Widerstandsreden Galen, Clemens August Graf von (1941): Predigt am Sonntag den 3. August 1941 in der Lambertikirche zu Münster. Online-Quelle: https://www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilde r/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_5.4_DE_2.Aufl-RZweb.pdf; letzter Aufruf am 31. 3. 2022, S. 1–6 [R CG]. Hadermann, Ernst (1942): »Rede des Hauptmanns Ernst Hadermann«. Als Tarnschrift 0971. Wie ist der Krieg zu beenden? Ein Manneswort eines deutschen Hauptmanns, in: Benz, Wolfgang/Eckert, Brita/Wengst, Uta (Hgg.): Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert Online (http://db.saur.de /DGO/basicFullCitationView.jsf?documentId=BTS-0950; letzter Aufruf 31. 03. 2022), S. 9– 47 [R EH]. Huber, Kurt (2000) [1943]: Rede, in: Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hgg.): Widerstand in Deutschland 1933–1945. Ein historisches Lesebuch, München: C.H. Beck, S. 269–272 [R KH]. Losowski, A. (1933): »Auf zum Kampf um die Mehrheit der Arbeiterklasse. Rede, gehalten auf dem 13. Plenum des EEKI am 7. 12. 1933«. Als Tarnschrift 0057: Hören Sie unsere neuesten Platten. Eine genußreiche Stunde. ODEON Gramophonplattenfabrikation und Vertrieb, in: Benz, Wolfgang/Eckert, Brita/Wengst, Uta (Hgg.): Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert Online (http://db.saur.de/DGO/basicFullCitationView.jsf ?documentId=BTS-0050; letzter Aufruf 31. 03. 2022, S. 5–32 [R AL]. Mann, Thomas (2004) [1941]: Deutsche Hörer!, in: Mann, Thomas: Deutsche Hörer. Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940–1945, Frankfurt am Main: Fischer, S. 34–36 [R TMa]. Mann, Thomas (2004) [1942]: Deutsche Hörer!, in: Mann, Thomas: Deutsche Hörer. Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940–1945, Frankfurt am Main: Fischer, S. 49–52 [R TMb]. Schumacher, Kurt (1932): Appell an den inneren Schweinehund. Online-Quelle: https:// www.fes.de/fulltext/historiker/00781a20.htm; letzter Aufruf am 31. 3. 2022, o.S. [R KS]. Thorez, Maurice (1935): »Die Volksfront für Brot, Freiheit und Frieden. Die Erfolge der antifaschistischen Einheitsfront in Frankreich. Rede, geh. am 3. 8. 1935. Rubrik: VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale«. Als Tarnschrift 0288: Zell, Th.: Tierfabeln und andere Tierirrtümer in der Tierkunde, in: Benz, Wolfgang/Eckert, Brita/ Wengst, Uta (Hgg.): Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert Online (http://db.saur.de/DGO/basicFullCitati onView.jsf ?documentId=BTS-0274; letzter Aufruf am 31. 03. 2022), S. 5–45 [R MT]. Wels, Otto (1933): Erklärung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion in der Sitzung am 23. Mai 1933. Online-Quelle: https://www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publika tionen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_4.1_DE–2.Aufl_RZ-web.pdf; letzter Aufruf am: 31. 03. 2022), S. 1–2 [R OW].

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Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz

NS-Reden Domarus, Max (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Teil I: Triumph 1932–1938. Bd. 1, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 57–464. Domarus, Max (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Teil I: Triumph 1932–1938. Bd. 2, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 465–1000. Domarus, Max (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Teil II: Untergang 1939–1945. Bd. 3, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 1001–1642. Domarus, Max (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Teil II: Untergang 1939–1945. Bd. 4, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 1643–2260. Fröhlich, Elke (Hrsg.) (2006): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil 1: Aufzeichnungen 1923–1941. Bd. 2.3, München: K. G. Saur. Goebbels, Joseph (1933): Tagebucheintrag vom 24. 03. 1933, in: Fröhlich (2006), München: K. G. Saur, S. 785. Goebbels, Joseph (1943a): Neujahrsgruß an unsere Soldaten, in: Schirmeister (1944), Leipzig: Oscar Brandstetter, S. 105–112. Goebbels, Joseph (1943b): Der totale Krieg, in: Schirmeister (1944), Leipzig: Oscar Brandstetter, S. 121–128. Goebbels, Joseph (1943c): »Führer befiehl, wir folgen!«, in: Schirmeister (1944), Leipzig: Oscar Brandstetter, S. 138–150. Goebbels, Joseph (1943d): »Nun, Volk, steh auf, und Sturm brich los!«, in: Schirmeister (1944). Leipzig: Oscar Brandstetter, S. 167–204. Hitler, Adolf (1933a): Rundfunkansprache, in: Domarus (1973), Bd. 1, Leonberg: Pamminger & Partner, 220–223. Hitler, Adolf (1933b): Rede in der Garnisonskirche von Potsdam, in: Domarus (1973), Bd. 1, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 224–228. Hitler, Adolf (1933c): Regierungserklärung vor dem Reichstag, in: Domarus (1973), Bd. 1, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 229–237. Hitler, Adolf (1933d): Rede Hitlers in Antwort auf Otto Wels im Reichstag, in: Domarus (1973), Bd. 1. Leonberg: Pamminger & Partner, S. 242–246. Hitler, Adolf (1933e): Rede vor deutschen Autobahn-Arbeitern, in: Domarus (1973), Bd. 1. Leonberg: Pamminger & Partner, S. 301–303. Hitler, Adolf (1936): Rede auf den »Schildknappen« Dr. Goebbels bei der Feier zum 10jährigen Bestehen des Gaus Groß-Berlin, in: Domarus (1973), Bd. 2, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 652–653. Hitler, Adolf (1937): Geheimrede vor Kreisleitern und Gauamtsleitern über »Aufbau und Organisation der Volksführung«, in: Domarus (1973), Bd. 2, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 761–763. Hitler, Adolf (1938a): Rede vor dem Reichstag. Auszüge, in: Domarus (1973), Bd. 2, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 792–804.

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Rede

Hitler, Adolf (1938b): Rede vor dem Reichstag. Auszüge. in: Domarus (1973), Bd. 2, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 826–832. Hitler, Adolf (1938c): Rede auf dem Gautag der thüringischen Nationalsozialisten in Weimar. Auszüge, in: Domarus (1973), Bd. 2, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 963– 966. Hitler, Adolf (1938d): Rede im Münchner Bürgerbräukeller. Auszüge, in: Domarus (1973), Bd. 2, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 966–970. Hitler, Adolf (1938e): Geheimrede vor der deutschen Presse. Auszüge, in: Domarus (1973), Bd. 2, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 973–977. Hitler, Adolf (1939a): Rede vor dem Reichstag, in: Domarus (1973), Bd. 3, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 1046–1073. Hitler, Adolf (1939b): Rede vor dem Reichstag, in: Domarus (1973), Bd. 3, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 1147–1179. Hitler, Adolf (1941a): Gedenkrede im Münchner Löwenbräukeller, in: Domarus (1973), Bd. 4, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 1771–1781. Hitler, Adolf (1941b): Rede vor dem Reichstag, in: Domarus (1973), Bd. 4, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 1793–1812. Hitler, Adolf (1944): Rundfunkrede zum Attentat, in: Domarus (1973), Bd. 4, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 2127–2129. Hitler, Adolf (1945): Rundfunkrede zum 30. Januar, in: Domarus (1973), Bd. 4, Leonberg: Pamminger & Partner, S. 2194–2198. von Schirmeister, Moritz August Konstantin (Hg.) (1944): Der steile Aufstieg. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1942/43. 2. Aufl., Leipzig: Oscar Brandstetter. Scholtz-Klink, Gertrud (1936): Die Aufgabe der Frau unserer Zeit. Frauenkundgebung, Reichsparteitag der Ehre (08.–14. 09. 1936), Nürnberg. Hg. vom Deutschen Frauenwerk. Selbstverlag.

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2 Diskurse verdichten

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Stefan Scholl

Führer

1 Einleitung 2 Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen 3 Akteursspezifische Gebrauchsdarstellung 3.1 NS-Apparat 3.2 Integrierte Gesellschaft 3.2.1 Das Führerprinzip: Führen und Folgen 3.2.2 Führer als Integrations- und Inklusionskonzept 3.2.3 Affektive Positionierungen – dem Führer, zum Führer, für den Führer 3.2.4 Im Sinne des Führers als Argumentationselement 3.3 Ausgeschlossene und Dissidenten 3.4 Widerstand 4 Fazit Quellen Führerprinzip, Führer und Reichskanzler, Führertum, Führerstaat, Führergeburtstag, Führerrede, Führer und Volk, Führen und Folgen, im Sinne des Führers, Führer des deutschen Volkes

1

Einleitung

Innerhalb der NS-Forschung wurde lange Zeit darüber gestritten, ob Adolf Hitler ein starker oder ein schwacher Diktator war und ob der nationalsozialistische Staat nicht eher als polykratisches Machtgeflecht denn als autokratischer Führerstaat zu beschreiben sei (vgl. zusammenfassend Kershaw 1994: 114–148). Weithin unbestritten war und ist hingegen, dass dem Konzept ›Führer‹ eine äußerst wichtige Rolle im nationalsozialistischen Herrschaftssystem zukam (vgl. Broszat 1970; Frei 1987; Wehler 2003: 600–642; Süß 2017: 59–148). Denn im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Propaganda wie auch der Zustimmung großer Teile der Bevölkerung zum Nationalsozialismus stand der ›Führer‹ Adolf Hitler als oberste Instanz des ›Führerprinzips‹. Obwohl sich die Akzente der

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Stefan Scholl

Forschung mittlerweile weg von der Fixierung auf seine Person hin zu einer Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus verschoben haben, bleiben die Thesen Ian Kershaws zur Bedeutung des Führermythos weiterhin valide: Der Kult um den ›Führer‹ war elementar für die Stabilisierung und Integration des NS-Systems, »indem er Unzufriedenheit entschärfte und eine Sphäre der ›nationalen‹ Politik und des ›nationalen‹ Interesses schuf, die sich außerhalb der Normalität des Alltags befand und selbst Regimekritiker dazu brachte, wichtige Elemente der NS-Herrschaft zu unterstützen« (Kershaw 1999: 87). Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass ebendieser Führerkult ko-produziert war, das heißt, er wurde gleichermaßen von weiten Teilen der Bevölkerung angenommen und ausgeübt, wie er von den Propagandaaktivisten des NS-Systems befeuert und immer wieder bekräftigt wurde. Die folgende Analyse trägt der Zentralität des Führerkonzepts während des Nationalsozialismus Rechnung und skizziert – orientiert an der leitenden Akteurseinteilung in zentrale Repräsentanten des NS-Apparats, verschiedene Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft und der Ausgeschlossenen sowie Akteure des Widerstands – ein differenziertes Bild des zeitgenössischen Sprachgebrauchs und der unterschiedlichen Verwendungsweisen des Führerkonzepts. Führer wird als nationalsozialistisches Leitkonzept konturiert, das eng mit weiteren Leitkonzepten wie Volk, Nation und Reich verknüpft war. Es besaß einerseits hohe integrative und affektive Kraft, diente andererseits – auf Seiten der Ausgeschlossenen, Dissidenten und des Widerstands – als Einsatzpunkt von Distanzierung und Kritik.

2

Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen

Laut dem Grimm’schen Wörterbuch von 1866 lassen sich die Ausdrücke füerære, vüerære, füerer, vüerer in der Hauptbedeutung einer der führt zuerst im Mittelhochdeutschen nachweisen (Deutsches Wörterbuch 1866).1 Als Bedeutungsebenen werden dort – nun vor allem mit Belegen aus dem 18. Jahrhundert illustriert – unter anderem genannt: einer der den weg weisend geleitet und einer der einen andern oder andere im handeln bestimmt. Auch die Bezeichnung politische Führer findet sich in dieser Ausgabe des Grimm’schen Wörterbuchs aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgelistet als führer einer partei in einer landständischen Kammer (ebd.). Deutlich wird hier bereits die reziproke Beziehungsebene, die basal im Ausdruck Führer angelegt ist, da stets die Geführten eingeschlossen sind, die den Führer anerkennen und ihm aus Überzeugung 1 Das althochdeutsche Wort fôrari sei dagegen lediglich im Sinne von lohnträger oder lastträger nachweisbar (Deutsches Wörterbuch 1866).

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Führer

folgen. Der einflussreiche rechtskonservative Staatsrechtler Ernst Forsthoff, der auch während der NS-Zeit seine akademische Karriere fortführte, drückte dieses Verhältnis in seiner 1933 erschienen Schrift »Der totale Staat« folgendermaßen aus: Führung ist ein umfassender politischer Lebensvorgang, der eine Vielheit aktionsbereiter Menschen in der Person des Führers eint, indem er sie zur Gefolgschaft macht, der andererseits den Führer aus dieser Gefolgschaft heraushebt, ohne ihn zum Vorgesetzten werden zu lassen und ihn auf diese Weise zu trennen. Der Führer wird darum Führer erst durch die Gefolgschaft, wie die Gefolgschaft erst durch den Führer Gefolgschaft wird. Führer und Gefolgschaft bilden eine Einheit, die nicht formal logisch begriffen, sondern nur erfahren werden kann (Forsthoff 1933: 35; vgl. Süß 2017: 42).

Generell scheint der politische Gehalt des Führerkonzepts im Laufe des 19. Jahrhunderts stärker akzentuiert worden zu sein – und dies durchaus mit demokratisch-plebiszitärer Stoßrichtung. Der deutsche Frühsozialist Wilhelm Weitling schrieb 1842 beispielsweise: Wer der erste aufsteht, wer der erste vorangeht, wer am tapfersten aushält und dabei seine Lebenslage gleichstellt mit der aller übrigen, ist Führer (zitiert nach Groh 2004: 730). Doch erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich eine tatsächlich weite Verbreitung des politischen Führerkonzepts konstatieren:2 Zum einen wurden die Vorsitzenden politischer Parteien nun oftmals funktional als Führer bezeichnet. Zum anderen war das Konzept in der Jugendbewegung weithin gebräuchlich (vgl. Schmitz-Berning 1998: 240f.). In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bildete die Bezeichnung Führer mithin eine Schnittstelle von Funktions- und Qualitätsbezeichnung. In letzterer Hinsicht »wurde ›Führer‹ gebraucht im Sinn von ›eine aufgrund bestimmter Eigenschaften, wie Überlegenheit, Willensmacht, Besonnenheit, Entschlossenheit, und aufgrund herausragender Fähigkeiten, wie Durchsetzungskraft und Selbständigkeit, aus der Masse hervorragende Person, die zum Leiten, Wegweisen und Orientierung Geben geeignet und mit Macht und Autorität ausgestattet ist‹« (Kämper 2021b; vgl. auch Fichtner-Kaiser 1996: 137). Wie der Historiker Thomas Mergel herausgestellt hat, war die gesamte Phase der Weimarer Republik mitunter von der Suche nach dem einen politischen Führer geprägt – eine zentrale politische Erwartungsstruktur jener Zeit, die gleichwohl immer wieder enttäuscht wurde (vgl. Mergel 2005b). Die Verwendung des politischen Führerkonzepts und die Hoffnung auf den einen politischen Führer war dabei zu Beginn des 20. Jahrhunderts kein Alleinstellungsmerkmal der politischen Rechten. Vielmehr stellte Führer auch im pro-demokratischen Diskurs ein Leit- und Schlüsselkonzept dar:

2 Dass die Verbreitung des politischen Führerkonzepts zudem keineswegs auf Deutschland beschränkt war, zeigen Enker/Hein-Kirchner (2010).

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»Kennzeichen dieses Gebrauchs ist die Bezeichnung demokratischer, vom Volk ausgehender Vorgänge mit Auslese, selbstgewählt u. a. in Formulierungen wie ›Wahl der Führer‹, ›Auslese der demokratischen Führer‹, ›Völker und ihre erwählten Führer‹, ›der Staat stellt sich unter einen Führer‹, oder in Zusammensetzungen wie ›Führerauslese‹« (Kämper 2021b).

Aus dieser Perspektive betrachtet ging es bei der Suche nach einem Führer »nicht um eine Abschaffung der Demokratie, sondern um die Möglichkeit, angesichts der zunehmenden Organisierung der Gesellschaft die Dimension des Personalen […] zu wahren« (Mergel 2005b: 106). War das Führerkonzept demnach während der Weimarer Republik über die Grenzen der politischen Lager hinweg anzutreffen, so ist zugleich seine besondere Rolle für die deutsch-nationale und völkische Rechte hervorzuheben. Hier waren die Hoffnungen auf einen nationalen Führer besonders präsent und äußerten sich nicht zuletzt gerade als Kritik an den ›Berufspolitikern‹ der ›führerlosen‹ Weimarer Demokratie. Ian Kershaw hat diese Erwartungshaltung der politischen Rechten und die dazugehörenden Attribuierungen prägnant zusammengefasst: »Den idealen Führer erblickte man […] in einem Mann aus dem Volk, dessen Eigenschaften Kampf, Konflikt und die Werte des Schützengrabens verkörperten. Er sollte hart, mitleidlos, entschlossen, kompromisslos und radikal sein, die von Privilegien und Klassen geplagte Gesellschaft beseitigen und einen neuen Anfang begründen, indem er das Volk in einer ethnisch reinen und sozial harmonischen ›nationalen Gemeinschaft‹ einte« (Kershaw 1999: 34).

Dass Adolf Hitler diesen Platz einnehmen sollte, war außerhalb der nationalsozialistischen ›Bewegung‹ – und selbst hier war die Position Hitlers lange Zeit nicht so gefestigt, wie es die parteieigene Legendenbildung im Nachhinein erscheinen ließ – keineswegs absehbar. Im nationalsozialistischen Parteidiskurs schwankte das Führerkonzept ebenfalls zwischen Funktions- und Qualitätsbezeichnung, was zu späteren Zeitpunkten durchaus Anlass zu internen Debatten über die korrekte Bezeichnung gab (siehe hierzu weiter unten). In Alfred Rosenbergs Erläuterung zum Parteiprogramm der NSDAP von 1922 ist diese Parallelisierung manifest, tauchte hier doch sowohl die Singular- als auch die Pluralform auf: Der gewählte Führer soll und muß Führer sein. Das heißt, in dem Bereich der ihm gestellten Aufgabe hat der Gewählte auf eigene Verantwortung, unbeeinflußt durch lahmlegende Zwischenstimmen, volle Handlungs- und Bestimmungsfreiheit. So allein sind Leistung, Zielsicherheit und der Endsieg möglich. Glaube und Pflichtbewußtsein soll alle Nationalsozialisten beherrschen und so den Führern die Erreichung des deutschen Zieles ermöglichen. Als Abschluß des Programms aber ist von den Gründern niedergelegt, versprochen und in vielen Prüfungsstunden auch bereits gehalten worden:

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Führer

›Die Führer versprechen, wenn nötig unter Einsatz ihres eigenen Lebens, für die Durchführung der vorstehenden Punkte rücksichtslos einzutreten‹ (Rosenberg 1933: 48).

Deutlich wird hier zum einen die pseudodemokratische Kopplung von Wahl (der gewählte Führer) und autokratischer Handlungs- und Bestimmungsfreiheit. Zum anderen ist hier die elementare Komponente des Verhältnisses von Führer und Geführten (hier: alle Nationalsozialisten) anzutreffen, auf die im diskurssemantischen Netz von Glaube und Pflichtbewußtsein referiert wird. Im letzten Satz deutet sich schließlich das Nebeneinander von dem singulären Führer und den vielen Führern auf den Funktionsebenen der Partei an.3 Innerhalb der NSDAP war der auf Hitler bezogene Gebrauch des Wortes Führer anfangs eher auf seine Führungsposition innerhalb der Partei beschränkt. Ende 1922 setzte dann allerdings eine Bezeichnungsverschiebung ein, die mutmaßlich auch durch das Vorbild Mussolinis beeinflusst war: In der nationalsozialistischen Parteipresse wurde nun zunehmend von unserem Führer, mitunter auch von dem Führer geschrieben, wenn von Hitler die Rede war (vgl. Kershaw 1999: 37 u. 55; Schmitz-Berning 1998: 242). Nicht zuletzt durch intensive visuelle Propagandaarbeit wurde die feststehende Bezeichnung der Führer sukzessive als politischer »Markenartikel« eingeführt und für Hitler reserviert (Behrenbeck 1996). Zu beobachten ist eine Onymisierung: Das Appellativum wurde zum Eigennamen (nomen proprium), was sich semantisch dann sogar in Komposita niederschlug (Führerrede, Führergeburtstag). Diese Entwicklung, die innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung bereits während der Weimarer Republik vollzogen wurde, sollte sich während der nationalsozialistischen Herrschaft allgemein manifestieren. Schon vor der Regierungsübernahme der NSDAP im Januar 1933 und der darauffolgenden Ausrichtung des staatlichen Machtapparats auf Adolf Hitler war das politische Führerkonzept demnach weit verbreitet und tief in die Erwartungsstrukturen der Bevölkerung des Deutschen Reichs eingelassen. Zumindest ein großer Teil jener Wähler*innen, die der NSDAP am Ende der Weimarer Republik ihre Stimme gaben (im November 1932 über ein Drittel, im Januar 1933 dann sogar knapp 44 Prozent) scheint in Hitler tatsächlich jenen einen nationalen Führer gesehen zu haben, auf den sich die politischen Hoffnungen so lange gerichtet hatten. Die spezifischen konzeptuellen Verknüpfungen und Verwendungsweisen des Konzepts zwischen 1933 und 1945 lassen sich mithin nur vor dem Hintergrund der allgemeinen Etabliertheit des Konzepts, der 3 Diese Parallelität von Führern innerhalb der NSDAP im Plural und dem einen Führer Adolf Hitler, die sich bis ins ›Dritte Reich‹ hineinzog, wird noch in einem Aufruf Hitlers aus dem Jahr 1932 deutlich, in dem es hieß: SA.- und SS.-Männer! Meine Führer! Eine schwere Arbeit liegt hinter Euch. Eurem mutigen Schutz und Eurem unermüdlichen Fleiß verdanken wir einen neuen großen Sieg. Ich bin grenzenlos stolz darauf, Euer Führer zu sein (Hitler 1932).

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spezifischen politischen Erwartungsstrukturen sowie der Anerkennung Hitlers als nationaler Führer in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft erklären.

3

Akteursspezifische Gebrauchsdarstellung

3.1

NS-Apparat

Grundsätzlich dürfte relativ bald nach der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ klar gewesen sein, dass stets Adolf Hitler gemeint war, wenn von dem Führer geschrieben oder gesprochen wurde. Doch angesichts der gleichzeitig breiten Verwendung des Führerkonzepts als Funktionsbezeichnung im Sinne des Führerprinzips (z. B. Betriebsführer, Oberster SA-Führer, Reichsführer SS, Reichsjugendführer, Stabsführer Reichssportführer, Verbandsführer, Vereinsführer) kam es während des ›Dritten Reichs‹ verschiedentlich zu Bestrebungen, die Bezeichnung Führer exklusiv für Adolf Hitler zu beanspruchen. So wurde im Zuge der Zusammenlegung der Ämter von Reichskanzler und Reichspräsident im Sommer 1934 die Bezeichnung Reichspräsident gestrichen und Hitler von nun an offiziell als Führer und Reichskanzler betitelt. Im Oktober 1934 ordnete Robert Ley, Leiter der Deutschen Arbeitsfront, an, dass innerhalb seiner Organisation kein politischer Leiter mehr das Wort Führer als alleinstehende Bezeichnung für sich verwenden dürfe (vgl. Schmitz-Berning 1998: 243).4 Allerdings wurden solche Bestrebungen mithin durch Hitler und Goebbels selbst konterkariert, die in Reden und publizistischen Beiträgen immer wieder von Führern der Bewegung, SA-Führern, Führern der Armee etc. sprachen und schrieben. Ab 1939 intensivierten sich die Monopolisierungstendenzen. Im Januar 1939 erging an die deutsche Presse eine strenge Anweisung, Hitler in Zukunft nicht mehr als Führer und Reichskanzler, sondern nur noch als Führer zu bezeichnen. Bezeichnungen wie Führer des Betriebes oder U-Bootführer sollten zudem unterlassen werden (vgl. Schmitz-Berning 1998: 243). Um die Jahreswende 1943/44 wurde zwischen Partei-Kanzlei und Reichskanzlei ein neuer Vorstoß unternommen, der einen aufschlussreichen Einblick in parteiinterne Sprachreflektionen liefert: In seinem Initialschreiben bemängelte der Leiter der ParteiKanzlei, Martin Bormann, dass es bisher keine eindeutige Regelung über den Gebrauch des Wortes ›Führer‹ gegeben habe. Es hätten daher in großen [sic] 4 Bereits 1935 reflektierte ein überlieferter Witz solche Versuche, Bezeichnungsexklusivität herzustellen, auf humoristische Weise: Ein Fuhrmann kommt mit seinem Gespann nach München und verletzt eine Verkehrsvorschrift. Der Schutzmann will ihn aufschreiben und fragt: ›Was sind sie von Beruf ?‹ ›Pferdeführer.‹ ›Das dürfen Sie nicht sagen: Wir haben nur einen Führer, das ist Adolf Hitler.‹ ›Schön. Dann bin ich eben Gau(l)leiter!‹ (zitiert nach Voigt 1975: 250).

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Umfange Leiter von Organisationen, Verbänden und Gesellschaften für sich die Bezeichnung ›Führer‹ allein oder in Verbindung mit allen möglichen Zusätzen in Anspruch genommen. Auch wenn aufgrund der Kriegslage keine umfassenden Änderungen vorgenommen werden könnten, sollten kleinere Schritte unternommen werden, um Zusammensetzungen mit dem Wort ›Führer‹ zu beseitigen oder zu vermeiden. Die Obersten Reichsbehörden müssten davon unterrichtet werden (Bormann 1943). In der Reichskanzlei entstand daraufhin ein Dokument, das die Verbreitung der Bezeichnung Führer aufzeigte – sowohl als Funktionsbezeichnung innerhalb des nationalsozialistischen Parteiapparats als auch im alltäglichen Sprachgebrauch (z. B. Führerschein oder Opernführer). In Anbetracht dieses weiten Gebrauchs wurde von dem Versuch abgeraten, die Bezeichnung ›Führer‹ in solchen Wort-Zusammensetzungen oder -Verbindungen auszumerzen, in denen sie bisher schon eingeführt oder gebräuchlich war (N.N. 1944). Im abschließenden Schreiben Hans Heinrich Lammers’ an die Obersten Reichsbehörden im April 1944 hieß es schließlich: Die Bezeichnung Adolf Hitler’s [sic] als ›Führer‹ hat sich zu einem der ganzen Welt bekannten, fest umrissenen geschichtlichen Begriff entwickelt, der seine Stellung als Führer der NSDAP., als Staatsoberhaupt der Großdeutschen Reiches, als Regierungschef (Reichskanzler) und als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht durch ein Wort zum Ausdruck bringt. Dies findet seinen Niederschlag darin, daß bei Gesetzen, Erlassungen und Verordnungen, im formellen Verkehr mit dem Ausland sowie in der Anrede ausschließlich die Bezeichnung ›Führer‹ verwandt wird. […] Diese Entwicklung bringt es auf der anderen Seite mit sich, daß mit der Benutzung des Wortes ›Führer‹ in anderem Sinne, entweder allein oder in Zusammensetzungen gebraucht, Zurückhaltung geübt werden muß. Der Führer wünscht daher, daß zwar auf die anderweitige Verwendung des Wortes ›Führer‹ im täglichen Sprachgebrauch derzeit kein Einfluß genommen werden soll, daß hingegen im zivilen staatlichen Bereich in Zukunft neue Berufs- und Rangbezeichnungen nicht geschaffen werden sollen, in denen das Wort ›Führer‹ sei es allein, sei es in Zusammensetzungen, vorkommt. Auch sonst soll im amtlichen Gebrauch des zivilen staatlichen Bereiches die anderweitige Verwendung des Wortes ›Führer‹ nach Möglichkeit vermieden werden (Lammers 1944).

Letztlich kann festgehalten werden, dass die Versuche, sprachliche Exklusivität zu verordnen, scheiterten, da Führerkomposita als Funktionsbezeichnungen zu weit verbreitet waren. Die Bestrebungen demonstrieren jedoch die Bedeutung, die dem auf Hitler bezogenen Ausdruck Führer aus Sicht des NS-Apparats zukam. Hitler selbst wiederum titulierte sich in seinen Reden des Öfteren als Führer. Emotionssprachlich auffällig ist dabei eine Häufung von Belegen, in denen Hitler seinen Stolz ausdrückte, Führer des deutschen Volkes zu sein (Hitler 1936: 621; Hitler 1943a; Hitler 1943b: 2058; Hitler 1943c). Auf diese Weise wurde von der Sprecherposition des ›Führers‹ selbst aus ein emotionales Element in die Be-

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ziehung zwischen Führer und Gefolgschaft eingebracht. Das Referenzobjekt, d. h. die Entität, als dessen Führer er sich darstellte, variierte in den Reden zwischen Nation, Volk und Reich. Anzutreffen sind unter anderem die Verbindungen Führer dieser Nation (Hitler 1943b: 2058), Führer dieses Volkes/des deutschen Volkes (Hitler 1943c: 2039/2035), Führer des Reiches und der Nation (Hitler 1935b), Führer und Beauftragter der deutschen Nation (Hitler 1935a), dieses große Deutsche Reich, dessen Führer ich bin (Hitler 1938b). Eine prägnante Stelle aus einer Rede an die deutsche Jugend, die Hitler anlässlich des 1. Mai 1938 hielt, steht beispielhaft für die Verknüpfung des Führerkonzepts mit weiteren nationalsozialistischen Leitkonzepten (hier Reich, Volk und deutsche Jugend): Vor dem einen Führer steht ein Reich, vor dem einen Reich steht ein Volk, und vor dem einen Volk steht eine deutsche Jugend! (Hitler 1938a). Eher selten gebrauchte Hitler dagegen die direkte und eine persönlichere Beziehungsebene vermittelnde Formulierung euer Führer. In den Reden und publizistischen Beiträgen Joseph Goebbels’ ist vor allem die häufig auftretende Kollokation von Führer und Volk hervorzuheben. In vielen dieser Passagen beschwört Goebbels die enge Verbindung zwischen den beiden Entitäten durch Reihung (Führer und Volk; Ein Volk, ein Reich, ein Führer) oder, indem Volk Führer syntaktisch vorangestellt und damit auf dieses Konzept bezogen wird: Das deutsche Volk fühlt sich durch den Führer wieder in die ihm gebührende Weltstellung hineingehoben (Goebbels 1939: 102); Das kommt daher, daß das deutsche Volk im Führer die Inkarnation seiner völkischen Kraft und das leuchtendste Beispiel seiner nationalen Zielsetzung gefunden hat (Goebbels 1940: 285); Wie oft in diesen schweren Wochen und Monaten hat das deutsche Volk im Geiste seine Blicke auf den Führer gerichtet (Goebbels 1942: 291). Teilweise wurde die innige Beziehung von Volk und Führer von Goebbels auch durch gleichsetzende Personifizierung behauptet: Es ist schon oft gesagt worden, dass der Führer für uns alle ein Abbild des deutschen Volkes darstelle. Das stimmt in einem überraschenderen Sinne, als wir uns das meistens klarmachen. Könnte man das Gesicht unseres Volkes nachzeichnen, es würde im Verlauf dieses Krieges wahrscheinlich dieselben tiefen Wandlungen aufzuweisen haben, die wir mit ernstem Stolz im Gesicht des Führers feststellen (Goebbels 1943: 256).

Die führenden Repräsentanten des NS-Apparats – so lässt sich zusammenfassen – nutzten das Führerkonzept vor allem, um eine Einheit von Führer und Volk zu postulieren. Hitler wurde gemeinhin als der Führer tituliert, gebräuchlich waren außerdem konkretisierende Attribute (des deutschen Volkes, der Nation oder des Reiches). Hinsichtlich der umfassenderen Bestrebungen seitens der Administration, das Lexem Führer zu exklusivieren, muss allerdings ein Scheitern konstatiert werden, nicht zuletzt, da die Bezeichnung Führer als Funktionsbezeich-

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nung und im Rahmen des allfällig beschworenen Führerprinzips einen größeren Personenkreis umfasste als den Führer Adolf Hitler.

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Integrierte Gesellschaft

3.2.1 Das Führerprinzip: Führen und Folgen Grundsätzlich war das Konzept von Führen und Folgen, das den Kern des Führerprinzips ausmachte, in jenem Teil des nationalsozialistischen Schrifttums äußerst präsent, das sich darum bemühte, eine ›volksgemeinschaftliche‹ Pflichtenlehre zu popularisieren. Stellvertretend für diesen Diskusstrang seien hier die Publikationen »Führen und Folgen« von Alfred Kotz (1934), »Zucht und Ordnung« von Georg Usadel (1935) und »Du und Deine Volksgenossen« von Heinz Leder (1936) ausgewertet. Sie sind insgesamt gekennzeichnet von einer deontischen Überhöhung des Führerprinzips: Bei Kotz geht es prominent um rechtes Führen und Folgen (Kotz 1934: 96). In diesem Rahmen werden Führen und Folgen als untrennbar zusammengedacht: Des Führers Geist ist der Gefolgschaft Geist (ebd.: 18). Die Sollensanforderungen betreffen demensprechend sowohl die Führer (in diesen Schriften nicht exklusiv auf Hitler bezogen, oftmals wird abgrenzend von Unterführern geschrieben), die mit besonderen Führergaben ausgestattet seien, als auch die Folgenden. Ein Führer müsse für die andern da [sein], immer und überall (ebd.), er müsse erziehen sowie Begeisterung und Hingabefreudigkeit schaffen (ebd.: 94). Die Gefolgschaft habe gegenüber dem wahre[n] Führer […] zu gehorchen verstehen weil er versteht zu befehlen, und weil die gesunde Gefolgschaft die Überlegenheit eines Führers gerne anerkennt, ja, sie geradezu wünscht (ebd.: 95). Von Usadel wurde eine einzigartige Wechselwirkung zwischen Führertum und Gefolgschaft behauptet, die durch Hitler hervorgerufen worden sei (Usadel 1935: 50). Während Führertum […] immer wieder verdient werden müsse und der Führer Verantwortung für seine Gefolgschaft trage (ebd.: 50f.), sei es die Pflicht eines jeden Gefolgsmannes, seinem Führer blind [zu] vertrauen (ebd.: 44). Im Schlusswort seiner Schrift wird die deontische Dimension des Prinzips von Führen und Folgen deutlich und zugleich mit weiteren Leitkonzepten nationalsozialistischer Diskurse, wie Volk, Dienst, Ehre und Freiheit, verknüpft: Das Leben jedes Nationalsozialisten wird durch den Dienst in den Gemeinschaften als Gefolgsmann und Führer erfüllt, weil das Leben des einzelnen aus seinem ganzen Volke kommt und er mit seinem Schicksal verbunden ist. Der Dienst als Gefolgsmann bzw. als Gefolgsmann und Führer fordert die Erfüllung ganz bestimmter Werte, die Formung eines festumrissenen Typus. Den Lebensinhalt des Gefolgsmannes und Führers bildet das

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Dienen aus sittlicher Verantwortung und Verpflichtung, das seinen Adel durch die Ehre und durch die Freiheit erhält (ebd.: 73).

Im Erziehungsbuch Heinz Leders finden sich ganz ähnliche Aufladungen des Führerkonzepts: Zum Führer gehöre der Begriff der Gefolgschaft, die ihm folgt, weil er führt (Leder 1936: 122). Führung und Gefolgschaft werden als anthropologische Konstanten gefasst (›Unser ganzes Leben verläuft in Führung und Gefolgschaft‹ hat Adolf Hitler einmal gesagt) (ebd.: 123) und durch die Verknüpfung mit Hochwertkonzepten des Moraldiskurses deontisch überhöht (Führer – Ehre / Gefolgschaft – Treue). Besondere Bedeutung erlangten die Konzepte Führerprinzip, Führerstaat und Führertum außerdem innerhalb der nationalsozialistisch gefärbten Staats- und Rechtswissenschaft, die sich darum bemühte, ihnen juristische Legitimität und Autorität zu verleihen (vgl. hierzu mit einigen Beispielen Pauer-Studer/Fink 2014; Hirsch/Majer/Meinck 1984: 141–235). Charakteristisch war hierbei die Abgrenzung eines ›neuen‹, ›wahren‹ Führerprinzips von angeblich traditionellen Vorstellungen von Führung und Führertum – eine Argumentation, die typisch für die nationalsozialistische Neudeutung älterer Konzepte war. So wollte sich beispielsweise Carl Schmitt dagegen wehren, daß ein spezifisch deutscher und nationalsozialistischer Begriff [gemeint war Führung, S. Sch.] durch eine Assimilierung an fremde Kategorien getrübt und geschwächt wird. Das aus dieser Sicht ›wahre‹ Verständnis von Führung schloss eine unbedingte Artgleichheit zwischen Führer und Gefolgschaft in sich ein, die Schmitt durch untrügliche[n] Kontakt, gegenseitige Treue sowie innere Einigkeit verwirklicht sah (Schmitt 1933: 41f.). Argumentativ ganz ähnlich formulierte der Rechtswissenschaftler Herbert Krüger in seiner 1934 erschienenen Schrift »Führer und Führung«: Der Führergedanke unterscheidet sich von einer liberalen Ideologie dadurch, dass er von einem Erlebnis der Wirklichkeit ausgeht. Der Führer sei die stärkste Wirklichkeit unseres politischen Lebens, das Führererlebnis die bestimmende Wirklichkeit im Leben des politischen Menschen (Krüger 1934: 23) – ein Satz, in dem die zahlreichen euphorischen Schilderungen von Führerbegegnungen durch Anhänger*innen des Nationalsozialismus widerhallen (vgl. hierzu Schmidt 1981; Kosubek 2017). Letztlich bildete das Führerkonzept im juristischen Diskurs des Nationalsozialismus den Anfangs- und Endpunkt einer zirkulären Argumentationskette, die sich zwischen Volk, Gefolgschaft, Treue und Vertrauen aufspannte. Wie einer der führenden NS-Staatsrechtler, Ernst Rudolf Huber, formulierte: Der Führer schafft aus der vorgegebenen naturhaften Einheit des Volkes das bewusste und handlungsbereite politische Volk und damit den völkischen Staat. Auf diese Leistung gründet sich die innere Autorität, die der Führer besitzt und das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird; aus ihr erwächst dem Führer aber auch die Totalität der staatlichen Gewalt (Huber 1935: 83).

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3.2.2 Führer als Integrations- und Inklusionskonzept Wie oben bereits ausgeführt, war der Kult um den ›Führer‹ Adolf Hitler keineswegs allein das Produkt der nationalsozialistischen Propaganda, sondern er wurde ko-produziert, vollzogen und animiert von großen Teilen der Bevölkerung, die in Hitler tatsächlich jene Person sahen, die legitimiert und befähigt war, die Nation zu ›führen‹. In der Auswertung eines Korpus aus verschiedenen Textsorten (Sachbücher, Tagebücher, Feldpostbriefe, Eingaben, Schulaufsätze und autobiographische Berichte) sollen die sprachlichen Realisierungen dieser Ko-Produktion durch NS-affine Akteure der integrierten Gesellschaft im Folgenden veranschaulicht werden. Markant tritt dabei die Bedeutung des Führerkonzepts als Identifikations- und Integrationskonzept hervor. Im Verbund mit dem bereits genannten Konzept von Treue, aber auch emotional aufgeladenen Gefühlskonzepten wie Liebe, Begeisterung und Verehrung, besaß der Gebrauch des Führerkonzepts durch Akteure der NS-affinen integrierten Gesellschaft oftmals eine zutiefst affektive und affirmative Dimension. Beispielhaft für die Verwendung des Führerkonzepts in populären Verherrlichungsschriften Adolf Hitlers steht Johanna Haarers 1939 zuerst erschienenes Buch »Mutter, erzähl von Adolf Hitler!«, das bis 1943 fünfhunderttausend Mal verkauft wurde (vgl. Benz 2010). Das Werk, das sich an Kinder und Jugendliche richtete und als Vorlesegeschichte gestaltet war, handelte im Kern davon, wie Hitler zum Führer wurde, genauer (und in den Worten der Verfasserin): wie Hitler vom Führer der Hitlerleute [ihr Führer (Haarer 1941: 87), ein Führer (ebd.: 85)] zu unserem Führer wurde. Im neunten Kapitel (Adolf Hitler wird unser Führer und Reichskanzler) vollzieht sich diese Wende, die sprachlich durch den Wechsel der Personalpronomen markiert ist. Laut der Darstellung hatte Hitler durch unermüdlichen Kampf ganz Deutschland dazu gebracht, einzusehen, dass er und kein anderer Führer ist (ebd.: 114). In mehreren Passagen wird die Transformation des Parteiführers Adolf Hitler zum Führer des ›deutschen Volkes‹ als akklamatorischer Akt dargestellt: Wir sagten alle aus ganzem Herzen: Ja, ja, ja. Adolf Hitler soll unser Führer sein, wir wollen uns ihm ganz und gar anvertrauen, ihm folgen und gehorchen (ebd.: 124).5 Am Schluss steht ein gebetsartiges Bekenntnis, in dem zugleich noch einmal die enge, persönliche Beziehung zwischen jedem bzw. jeder einzelnen Folgenden und seinem bzw. ihrem Führer zutage tritt:

5 Vgl. auch die folgenden Stellen: Kam Adolf Hitler nach Berlin, dann sammelten sich die Leute auf den Straßen und riefen und schrien: Hitler soll unser Führer werden! Er soll befehlen, ihm sollen wir gehorchen! Weg mit den anderen! (Haarer 1941: 119); Und langsam nun hatte Deutschland angefangen, auf ihn zu hören. Jetzt aber war er Reichskanzler, war unser aller Führer geworden. Wir alle, alle hatten dazu Ja gesagt! (ebd.: 124).

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Heute haben wir unseren Führer! […] Ihm wollen wir glauben, ihm vertrauen, ihm folgen, wohin er uns führt, jetzt und immerdar. […] Noch eines sollt ihr Kinder lernen aus der langen Geschichte, die ich euch von Adolf Hitler erzählt habe: Ihr, Fritz und Hermann, müsst erst ganze deutsche Jungen werden, die in der HJ ihren Platz ausfüllen, und später tüchtige und mutige deutsche Männer, damit ihr es auch wert seid, dass Adolf Hitler, euer Führer ist. Du, Gertrud, musst ein rechtes deutsches Mädel sein, ein richtiges BDM-Mädel und später eine rechte deutsche Frau und Mutter, damit auch du dem Führer jederzeit in die Augen sehen kannst (ebd.: 248).

Die Engführung des Führerkonzepts auf eine Person kam wohl am offensichtlichsten in der gebräuchlichen (und auch offiziell geforderten, vgl. SchmitzBerning 1998: 244f.), an Adolf Hitler gerichteten Anrede Mein Führer zum Ausdruck. Sie findet sich in etlichen Briefen, Bittgesuchen, Glückwunschadressen und Huldigungsschreiben, die an Hitler geschickt wurden. Stellvertretend sei hier aus dem Brief eines österreichischen Militärkapellmeisters zitiert, der nach dem ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich um die Tilgung der unverschuldete[n] Schmach der jüdischen Abkunft seiner Frau bat. Der Brief begann mit: Mein Führer! Verzeihen Sie, mein Führer, dass ich Sie in diesen Tagen der äußersten körperlichen und geistigen Anstrengungen mit einer Bitte überfalle, und wiederholte in der Schlusssequenz die persönliche Anrede: Als ich heute Ihre Rede hörte, in der Sie, mein Führer, sagten […]. Bitte, mein Führer, sprechen Sie ein Machtwort (FI 1938). In manchen Zusammenhängen konnte die Anrufung Mein Führer mitunter religiöse Züge annehmen, so etwa, wenn Kölner Kinder vor einer Speisung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt folgenden Spruch aufzusagen pflegten: Führer, mein Führer, von Gott mir gegeben, beschütz’ und erhalte noch lange mein Leben! Hast Deutschland gerettet aus tiefster Not, Dir danke ich heute mein täglich Brot. Bleib lange noch bei mir, verlaß mich nicht. Führer, mein Führer, mein Glaube, mein Licht! Heil, mein Führer! (zitiert nach Mosse 1993: 268).

Während die persönlich-affektive Formulierung Mein Führer vor allem in direkten Anreden, meist in Briefen an Hitler selbst, benutzt wurde, lässt sich die Formulierung unser Führer in vielfältigeren Kontexten nachweisen, beispielsweise in Feldpostbriefen6 oder Tagebüchern.7 Das Possessivum unser verweist 6 Zum Beispiel: Unser Führer und Ihr Lieben in der Heimat werdet Euch auf Eure grauen Söhne hier draußen verlassen können. (HD 1940). 7 Zum Beispiel: Wir müssen alle Gott danken, und es gibt auch wohl nur wenige Deutsche (und sicher sind das nur schlechte Menschen), die nicht bei der Nachricht von dem Attentat einen furchtbaren Schreck bekamen und die dann ganz glück- und dankerfüllt waren, daß unser Führer noch lebt und gesund ist. (LW 1939: 146f.).

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dabei auf die Zuordnung des Sprechenden bzw. Schreibenden zu einem größeren Kollektiv der dem Führer Folgenden. Eine markante Stelle im Propagandaroman »Ein Mädel erlebt den Führer« (1943) führt diese Verwendung eindrücklich vor Augen. Zu Beginn der Geschichte erzählt die Hauptfigur Ingrid Mertens, ein Mädchen aus dem Sudetengebiet, ihren Klassenkameradinnen von einer Reise nach Berlin, bei der sie eine Rede Adolf Hitlers miterlebt hatte.8 Eine jüdische Mitschülerin fragt sie, ob sie auch den sogenannten Führer gesehen habe. Auf diese Frage, die als hämischer Versuch einer Verächtlichmachung dargestellt wird, folgt eine Passage, die stolze Führerverehrung und damit einhergehende Inund Exklusionsdynamiken auf bedrückende Weise transportiert. Im Mittelpunkt von all dem steht die Formulierung Unser Führer: Sechzehn Augenpaare finden ein Ziel – Ingrid! Dort finden sie einen vorher noch nie gesehenen Glanz in den Augen, die plötzlich nicht mehr in dem engen, kahlen Zimmer der fünften Klasse der Oberschule verweilen, sondern in unbegrenzte Fernen wandern. »Ja! – Ich habe den Führer gesehen!« Das klingt wie ein Bekenntnis. Ein Bekenntnis, das sechzehn junge Herzen hochreisst und sie in gleichem Takte schlagen lässt. Und Ingrid fühlt es plötzlich – sie geht nicht allein. Viele sind mit ihr, neben ihr, empfinden dasselbe wie sie. »Unser Führer!« Das Wort steht wie ein Fanal im Zimmer. Sekundenlang lauschen die Mädchen dem Wort nach wie dem Donner eines aufziehenden Gewitters. Wer hat es ausgesprochen? Wer durfte es wagen? Die »Schwarze«, wie man die Jüdin heimlich nennt, lacht grell auf: »Was für ein Getue um einen Mann! – Wahrscheinlich ist es die Uniform – na, man wird euch die Illusion schon nehmen – ich …« Ingrid hat ihren Arm hochgerissen. – Die Jüdin zieht den Kopf ein und schweigt. Lore tritt neben die Freundin, die noch immer drohend vor der »Schwarzen« steht. »Lass doch – Judenpack!« sagt sie verächtlich. Und plötzlich ist in der Klasse kein geschlossener Kreis mehr. Die Jüdin steht allein (Wolmar 1943: 11f.).

Als weitere Manifestation der persönlich-vertrauten Beziehungsebene, die viele Menschen mit ihrem Führer herstellten, ist die pronominale Anredeform mit Du zu nennen, die sowohl in vielen an Hitler gerichteten Briefen und Gedichten als auch in Treueschwüren (Führer befiehl, wir folgen Dir!; Führer Dir gehören wir, wir Kameraden Dir!) auftaucht. Ein Brief in Gedichtform, den ein junges Mädchen aus Berlin 1938 an Hitler schickte, veranschaulicht die Verwendung der Duz-Form auf exemplarische Weise: Lieber Führer! Adolf Hitler ist ein fleißiger Mann, der Deutschland immer wieder erretten kann. Wir haben ihn ja wirklich gern und müssen immer dankbar sein. Ich kann ja nicht genug Gutes tun, als schreiben dieses Brieflein nun. Es muss Dir alles, alles tun und Dir sagen, Du sollst einmal ruhn. 8 Die Geschichte spielt 1937, also vor der Einverleibung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich.

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Wie strengst Du Dich an den ganzen Tag und machst Dir immer so viel Plag. Darum soll es Dir weiter so gut gehen. Lieber Führer, Du kannst mich ja verstehen. Ein kräftiges Sieg Heil unserem Führer! Deine dankbare Lotti H. (LH 1938).

Die Attribuierung lieber Führer, die in diesem Schreiben benutzt wird, ist ebenfalls häufiger anzutreffen. Weitere Attribuierungen, die in Texten der integrierten Gesellschaft – speziell in an Hitler gerichteten Briefen – auftauchen, sind geliebter Führer, großer Führer oder guter Führer. Sie alle drücken eine enge, bewundernde, manchmal auch intime Beziehung zwischen den Schreibenden und ihrem Führer aus (vgl. speziell zu Liebesbriefen an Hitler auch Geppert 2010). 3.2.3 Affektive Positionierungen – dem Führer, zum Führer, für den Führer Führer war für NS-affine Akteure der integrierten Gesellschaft ein in hohem Maße affektbeladenes, aber auch positionierungsrelevantes Lexem. Dieser Sachverhalt manifestierte sich – neben der Verwendung von Possessiva und adjektivischen Attribuierungen – in zahlreichen Formulierungen, die eine Hinwendung zum Führer oder eine Unterstützung des Führers ausdrückten. Besonders häufig finden sich hierbei die Wendungen dem Führer, zum Führer und für den Führer. Es folgt eine Auswahl, die die Charakteristik dieser Verwendungsweisen dokumentiert: dem Führer: Jetzt muß das deutsche Volk der Welt zeigen, daß der Wille des Führers auch sein Wille ist, daß hinter dem Führer in geschlossener Front das Volk steht, beseelt von der Liebe zum Führer und dem Willen zum Frieden der Welt (LW 1936). Menschen, die einmal mit dem Führer Adolf Hitler beisammen waren, betonen immer wieder, daß man sich durch seine Gegenwart nie zusammengedrückt und klein fühlt, wie bei manchen Vorgesetzten aus fremden Zeiten, sondern emporgehoben, groß und frei wird (Holzner 1940: 64). Im Jahre 1930 sprach der Führer in der Festhalle zu Frankfurt a. Main und war mir hier die Gelegenheit gegeben zu sehen, wie Volksgenossen aus allen Schichten mit grosser Begeisterung dem Führer Adolf Hitler huldigten (AZ 1934). Wir vertrauen dem Führer, dem Deutschlandlenker, Dem Gottgesandten, dem edlen Denker (EK 1939).

Auffällig an diesen ausgewählten Belegen ist einerseits erneut die enge Verbindung zwischen dem Führer und seiner Gefolgschaft, die in den Formulierungen hinter dem Führer und mit dem Führer ausgedrückt wird. Andererseits sind die

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Verben zu beachten, die häufig in dem Führer-Konstruktionen auftauchen: Menschen huldigen, vertrauen, danken dem oder schwören auf den Führer. Ähnliches ist auch für Formulierungen zu beobachten, die die (Präpositional-) Phrase zum Führer beinhalten: In den allermeisten Fällen begegnen hier positiv konnotierte, oftmals hochgradig affektiv aufgeladene Konzepte, die die Positionierung des Verfassers oder der Verfasserin zum Führer bekunden sollen. zum Führer: Herr Gott, den Deutschen aber wollest Du ›Hitler‹ bewahren und erhalten. Schenke uns Liebe und Treue zum Führer, den Du uns zur rechten Stunde geschenkt hast (GPD 1934). Gottlob ist die Stimmung bei uns allen Soldaten gut, ja sehr gut. Jedermann hat vollstes Vertrauen zum Führer, jeder weiß um was es geht, warum wir diese Opfer bringen müssen (HJS 1942). Ich erkläre hiermit noch einmal, dass ich mit Pg. Strasser in keiner Weise irgendwelche Bindungen habe oder hatte, dass sich meine Einstellung zum Führer nie auch nur um ein Jota je geändert hat (FK 1933). Ich selbst kann Ihnen nur versichern, dass ich stets ein Deutscher war und auch bleiben werde, komme was da kommen mag und genau wie immer, so auch heute noch zu meinem Vaterlande und somit auch zum Führer stehe (EG 1943).

Gemäß dem Führerprinzip und der Anerkennung Hitlers als oberste Autorität, ja geradezu als Verkörperung des Volkswillens, betonten viele Akteure der NSaffinen integrierten Gesellschaft ihr vergangenes, gegenwärtiges oder künftiges Engagement für den Führer. Für den Führer eingetreten zu sein, zu kämpfen (und im Krieg auch: zu sterben9) war gleichbedeutend mit einer persönlichen Zuordnung zur nationalsozialistischen ›Volksgemeinschaft‹. für den Führer Horst sprach. Zu dem Trupp und den anderen, die er noch gewinnen wollte. Gleich am ersten Abend. Er hat nicht, er forderte. Einsatz, Opferbereitschaft, Hingabe. Für die Idee, für die Bewegung, für den Führer (Wessel 1938: 124). Die Bezeichnung der Vereinsbank als ›Nazihochburg‹ während der Kampfjahre wird für mich die schönste Erinnerung an mein Wirken für den Führer Adolf Hitler und dessen Idee sein (GU 1934). Ich habe ohne Achtung meiner Person 15 Jahre lang fanatisch für den Führer und Deutschland gekämpft und bin stolz darauf, auch jetzt als Soldat an der äußeren Front meine Treue unter Beweis stellen zu dürfen (AF 1940).

9 Vgl. hierzu die in Todesanzeigen gefallener Soldaten weit verbreitete Floskel gefallen/gestorben für Führer, Volk und Vaterland.

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Durch mein freies, und jederzeit offenes Eintreten für den Führer wurde dieses von der hiesigen Zentrums-Einwohnerschaft vollständig gemieden (OB 1936).

Wie in einigen dieser Beispiele bereits erkennbar ist, reflektierte sich die affektive Positionierung zum Führer vor allem in der Einbindung weiterer Leitkonzepte, allen voran Treue,10 aber auch Gefolgschaft,11 Vertrauen,12 Glaube(n)13 und Gemeinschaft.14 Tatsächlich finden sich diese Lexeme unter den zehn häufigsten substantivischen Kollokationen von Führer (in einem Umfeld von je fünf Wörtern rechts und links) in Texten der integrierten Gesellschaft. Als häufigstes Substantiv findet sich im Umfeld von Führer allerdings Volk. Dies unterstreicht noch einmal die enge Verbindung zwischen diesen beiden Leitkonzepten, die weiter oben auch für die Akteursgruppe NS-Apparat konstatiert wurde. In einigen Texten – speziell solchen, die dem Genre der propagandistischen Schulungsliteratur zugeordnet werden können – wurde die konzeptuelle Verknüpfung in unerschöpflichen Variationen vorangetrieben: Er ist der Volksführer, der die Haltung des Volkes formt, und gleichzeitig der Ausdruck des Willens dieses Volkes. Es hat den Anschein, als ob ein wechselseitiges Überströmen der Kräfte zwischen Volk und Führer ständig vor sich geht: Vom Führer strömt der Wille ins Volk und der Wille des Volkes strömt auf ihn zurück und stärkt ihn für immer neue Aufgaben (Usadel 1935: 50). Der Führer ist der Keim, der zur Bewegung wird, und die Bewegung ist der Keim, der sich zum Volk entfalten möchte, das Volk aber ist der Boden, aus dem Führer und Bewegung wachsen: Führer, Bewegung und Volk bilden eine naturhafte Einheit (Klagges/Franke/ Malthau 1941: 206).

3.2.4 Im Sinne des Führers als Argumentationselement Dass dem Führerkonzept bzw. den Bezugnahmen auf den Führer eine große Bedeutung in ganz verschiedenen Textsorten zukam und dass diese Bezugnahmen in einem Geflecht von weiteren Leitkonzepten sowie individuellen Zuordnungsversuchen stattfanden, wurde bis hierhin herausgearbeitet. Die besondere Autorität, die dem Führer als letzte Legitimations- und Berufungsinstanz im 10 Durch die Treue zum Führer sind wir alle zusammengeschweißt, durch die Treue zum Deutschen Volk einen sich unsere jugendlichen Ziele (Deutscher Prüfungsaufsatz 1936: 53). 11 So finden wir in der N.S. Bewegung Führer und Gefolgschaft untrennbar zusammen (GU 1934). 12 So wuchs in allen das Vertrauen zum Führer. Wenn wir sagen: was der Führer macht, ist recht, so ist das ein Zeichen unseres Glaubens an ihn (Deutscher Prüfungsaufsatz 1940: 91). 13 Und alle bindet der Wille zum Aufbau, zum Schaffen und Schöpfen, und der Glaube an den Führer (LW 1936). 14 Gemeinschaft und Führer bedingen sich gegenseitig. sie beziehen voneinander Kraft. Die Gemeinschaft wird an ihrem Führer gerichtet, und der Führer an der Gemeinschaft (Eggers 1937: 58).

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nationalsozialistischen Herrschaftsmodell innewohnte, ermöglichte es allerdings auch, das Konzept zur Profilierung der eigenen Person und Position zu nutzen. Speziell in Eingaben, das heißt in Briefen, die einzelne Personen in eigener Sache an NS-Behörden und Parteiinstanzen richteten,15 lässt sich diesbezüglich immer wieder die Formulierung (nicht) im Sinne des Führers nachweisen. Neben der bloßen Identifikation mit dem und der Zuordnung zum Führer, auf die weiter oben bereits eingegangen wurde, lässt sich hier die kreative Einbettung des Führerkonzepts in eigene Argumentationsgänge beobachten, die zudem in vielen Fällen Elemente von Kritik oder Beschwerden enthielten. Im Juni 1933 richtete beispielsweise der Leiter der Nationalsozialistischen Betriebszelle im Verlag Ullstein einen Brief an die Reichskanzlei, in dem er sich über die anhaltenden Boykottaktionen lokaler NSDAP-Gruppen gegen das als ›jüdisch‹ angefeindete Unternehmen beschwerte. Darin erklärte er, sich bisher nicht um grosse Politik gekümmert zu haben, da er als Nationalsozialist gewohnt [sei], meinem Führer zu gehorchen. Haben wir hier also einen weiteren Beleg für die personalpronominale Zuordnung zum Führer als Ausweis der eigenen nationalsozialistischen Loyalität, nutzt er danach die Autorität des (angenommenen) Führerwillens, um sein Anliegen zu unterfüttern: Er wolle grosses Unheil verhüten, das bestimmt nicht im Sinne des Führers wäre (NB 1933). Ähnliche Formulierungen lassen sich in vielen weiteren Eingaben finden. So beklagte sich ein ›Volksgenosse‹ über die, seiner Meinung nach, miserable Behandlung der sogenannten ›Wartestandsbeamten‹. Es läge gewiss nicht im Sinne unseres Führers, dass solche Männer als Deutsche zweiter Klasse behandelt werden (HK 1934). Der Trierer Bischof Franz Rudolf Bornewasser kritisierte in einem Schreiben an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz nationalsozialistische Aktivisten, die gegen die Kirche agitierten. Den daraus resultierenden Eindruck einer Gleichstellung: Nationalsozialismus gleich Antichristentum, dazu noch, als ob sie im Sinne des Führers läge, nannte er verheerend (zitiert nach Heyen 1967: 196). Und ein anonymer Verfasser, der sich im Herbst 1941 beim Propagandaministerium über verschiedene Vergehen lokaler Parteimitglieder beschwerte, fragte anklagend: Ist das 100 %iger Nationalsozialismus? Ist das im Sinne des Führers? (Anon. 1941). Zusammenfassend lässt sich für Akteure der integrierten Gesellschaft – zumal wenn sie Anhänger*innen des Nationalsozialismus waren oder dies zumindest in ihren Texten ausdrückten – konstatieren: Das Führerkonzept besaß hohes identifikatorisches und integratives Potenzial, das sprachlich auf unterschiedliche Weise aktiviert werden konnte. Da der Führer im nationalsozialistischen Diskursraum eine Schlüsselposition innehatte, bezeugte die Berufung auf ihn, die Bekundung ihn zu unterstützen, ihm treu zu folgen usw. zugleich eine Zu15 s. hierzu den Beitrag ›Brief‹ in Teil 2.

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ordnung zum nationalsozialistischen Gesellschaftsprojekt. Wenn Akteure aus der integrierten Gesellschaft das Lexem Führer verwendeten, taten sie dies zudem oftmals in Verbindung mit weiteren Leitkonzepten nationalsozialistischer Diskurse wie Volk, Treue oder Nation.

3.3

Ausgeschlossene und Dissidenten

Anders verhält es sich bei der Akteursgruppe der Ausgeschlossenen und Dissidenten, also bei Personen, die dem NS-Regime entweder kritisch gegenüberstanden oder von Repressions- und Verfolgungsmaßnahmen betroffen waren. Auch wenn die Bandbreite der Äußerungen in diesen Akteursgruppen relativ weit ist, so eint sie doch bezüglich des Führerkonzepts eine merkbare Tendenz zur Distanzierung vom Führerkult und zu dessen kritischer Reflektion. Nicht immer fiel die reflexive Distanzierung dabei derart sprachkritisch aus wie im Falle Victor Klemperers, der im Juli 1934 in sein Tagebuch notierte, man müsse das Wort ›Führer‹ auf lange Zeit eingraben […], ehe es wieder rein und gebrauchsfähig ist (Klemperer 1934: 123).16 In vielen Fällen äußerte sie sich eher im Gebrauch von Anführungszeichen, die als wichtiges Instrument der Distanzierung gelten können (vgl. Dreesen 2019).17 Sie zeigten in vielen Fällen an, dass die Bezeichnung Führer nicht ohne weiteres in den eigenen Sprachgebrauch übernommen wurde: Am 1. Januar 1941 – also vor einem Jahre – erließ der »Führer« an die Nationalsozialisten und Parteigenossen (an mich wendet er sich nicht!) einen Aufruf und einen Tagesbefehl an die Wehrmacht (Kellner 1942). Die Stürmerkästen mit den widerlichen Bildern sind auch verschwunden wegen der fremden Gäste zur Olympiade! Ich verstehe zwar nicht, wie die Fremden in dieses Land kommen konnten und nun auch noch dem »Führer« und seinem Stab die notwendigen Ehren erweisen! (Nathorff 1936). Also wieder einmal ein großer Bluff, der uns nur schaden kann. Natürlich auch wieder eine große Rundfunkrede des »Führers« mit den bekannten, zu Herzen gehenden Wendungen. »Die Welt blickt auf Deutschland.« Die albernen deutschen Zeitungen platzen wieder einmal vor Wichtigkeit (Sieveking 1933). 16 Anlass zu diesem Urteil war eine Predigt, die ein befreundeter für einen Gemeindevorsteher gehalten hatte und deren Überschrift »Unserm Führer …« lautete. Klemperer lehnte also recht früh schon selbst die weit verbreitete Funktionsbezeichnung ›Führer‹ aufgrund ihrer ›Verunreinigung‹ durch die Nationalsozialisten ab. 17 Dass dies je nach in Anführungszeichen gesetztem Lexem kein Alleinstellungsmerkmal von dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstehenden Personen war, hat wiederum Klemperer betont, der das »ironische Anführungszeichen« als charakteristisch für die LTI ansah (vgl. Klemperer 2018: 86f.).

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Führer

Ich bin für die Zukunft sehr besorgt, denn es wird im Volk Hysterie großgezogen, der sogen. »Führer« wurde als Gottesgeschenk gepriesen (und dann die Außenpolitik!!) (Berenberg-Gossler 1933).

Es ist mithin bezeichnend, dass diese Belege sämtlich aus Tagebüchern stammen. Öffentlich geäußerte Kritik am ›Führer‹ war aufgrund von Kriminalisierung und Verfolgung selten, aber auch sie kam vor. Ein Beispiel, das als Kritik an der Pseudo-Religiosität des nationalsozialistischen Führerkults gelesen werden kann, ist eine Predigt, die der katholische Jesuitenpfarrer Josef Spieker im Oktober 1934 in Köln hielt (und für die er geheimpolizeilich belangt wurde). Darin nahm er verschiedene traditionelle und auch in der nationalsozialistischen Propaganda anzutreffende konzeptuelle Zuordnungen des Führerkonzepts auf, deutete aber an, dass sie auf Hitler nicht zuträfen: Ein Führer muss selbstlos sein. Das ist kein Führer, der aus dem Volke das Letzte herausholt, um auf Kosten des Volkes zu prassen. Ein Führer muss die wahre Liebe seines Volkes haben. Das ist kein Führer, dem die Volksmassen deshalb zujubeln, weil sie organisiert gewaltsam auf die Straße geführt werden und um Stellung und Brot fürchten. Ein Führer muss treu sein. Das ist kein Führer, dessen Unterführer das Volk martern und peinigen, quälen und schädigen. Ein Führer muss wahr sein. Das ist kein wahrer Führer, der große Taten erfindet, um sich dadurch in der Masse Anhang zu verschaffen. Deutschland hat nur einen Führer. Das ist Christus! Diesem Führer sind alle weltlichen Führer und geistlichen Führer unterworfen. Wir erkennen die staatliche Autorität an, aber wir sind ihr nur insoweit unterworfen, als ihre Gesetze zu denen unseres einzigsten Führers nicht in Widerspruch stehen (zitiert nach Johnson 2000: 215).

Dass Hitler – gerade aufgrund seiner Zentralität für die nationalsozialistische Propaganda – auch von eher populären Anfeindungen nicht ausgenommen blieb, hat Bernward Dörner (1998: 68–71) in seiner Untersuchung von ›Heimtücke‹-Fällen gezeigt. Denn häufig war es Hitler, auf den sich die Äußerungen bezogen hatten, wenn Verfahren wegen ›heimtückischer‹ Rede gegen nationalsozialistische Führer eröffnet wurden. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, Äußerungen wie Der Führer müsste erschossen werden, Der Führer ist warm oder Ich kann mir nicht erklären, wie der Führer zu seinem Eisernen Kreuz gekommen ist getätigt zu haben.18 Neben der Distanzmarkierung durch den Gebrauch von Anführungszeichen und abfällige Bemerkungen über Hitler lassen sich auch immer wieder Passagen in Texten von Ausgeschlossenen und Dissidenten finden, in denen der Führer18 Wie Dörner (1998: 68) allerdings zu bedenken gibt, könnte der hohe Anteil angezeigter Beleidigungen des ›Führers‹ auch damit zusammenhängen, dass Denunzianten kritische Bemerkungen über Hitler aufgrund des Führerkults und Hitlers Popularität besonders häufig zur Anzeige brachten.

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kult selbst reflektiert wurde. Die populäre Führerverehrung und der Glaube weiter Teile der deutschen Bevölkerung an die Allmacht und die guten Absichten des ›Führers‹ wurden aufmerksam registriert und problematisiert: Der alte Hindenburg ist tot. Nun kann Herr Hitler ja tun und lassen, was er will, mehr noch als bisher, und er tut es reichlich und, wenn es gar zu bunt ist, sagen die verrückten Weiber: »Das ist nicht im Sinne des Führers, der Führer weiß das nicht – das machen die andern«. Ein Führer der nicht weiß? Dieser Führer weiß alles (Nathorff 1934). Ist das deutsche Volk ein Kulturvolk? Nein! Ein Kulturvolk muß selbständig denken und handeln und sich anständig benehmen. Das deutsche Volk läßt sich (aber) von einem »unfehlbaren« Führer lenken und leiten, ohne selbst auch nur den geringsten Anteil an seinem Schicksal zu nehmen. »Der Führer hat immer recht«, »Der Führer irrt nie«. Das wurde dem deutschen Volke eingeträufelt. Und wie sieht es in Wirklichkeit aus? (Kellner 1941). Zuviel Mitmenschen ließen sich von der Nat. Soz. Propaganda blenden. Der »Sonnenpolitik« erlagen Menschen, die wirklich mit etwas kritischerem Blick die auf die Leinwand gezauberte Fata Morgana (hätten) (als das erkennen müssen, was sie war: Bluff u. Schwindel, gemeiner Volksbetrug). Schon auf Grund ihres Bildungsganges. Aber nur nicht denken. Es ist ja so bezaubernd (schön) wenn der »Führer« aber auch rein alles für die denkfaule Menschheit erledigt. »Der Führer macht es schon richtig«, war ein geläufiges Sprüchelchen (Kellner 1939).

Sehr hellsichtig (und durchaus spätere Forschungsansätze zu Nationalsozialismus und Führerkult als politische Religion antizipierend) stellte sich der deutsch-jüdische Rechtsanwalt Kurt Fritz Rosenberg im Sommer 1933 die Frage: Woher aber kommt das Bedürfnis nach einem solchen Führerbild? […] Dieser Führer ist nun zugleich symbolischer Träger der Wünsche – er ist Verkünder einer wirtschaftlichen Gesundung, neuer Ideale – und in erster Linie Verkünder dessen, daß etwas Neues kommt, das die alten belasteten Zeiten ablöst. Man sehnt sich aus schlechten Zeiten immer in neue Zeiten hinüber und glaubt, daß neu auch besser sei (Rosenberg 1933a).

Die Erscheinung Hitlers als Führer markiere eine Parallele zur Erscheinung des Messias und erfülle als solche ein ungestillte[s] Religionsbedürfnis vieler Menschen (Rosenberg 1933b: 59).19 Durch distanzierende Markierungen, kritische Anmerkungen zum Führerkult bis hin zu Beleidigungen brachten Akteure aus der Gruppe der Ausgeschlossenen und Dissidenten ihre Nicht-Anerkennung Adolf Hitlers als ›Führer‹ zum Ausdruck. Allerdings – dies muss der Vollständigkeit halber angemerkt werden – lassen sich auch einige Belegstellen finden, in denen die Bezeichnung Führer für 19 Die Pseudo-Religiosität des Führerkults nahm auch Friedrich Kellner in einem Tagebucheintrag aus dem Januar 1943 aufs Korn, als er den nationalsozialistischen Kindergartenspruch Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken mit den Worten kommentierte: Auf diese Weise entsteht mit der Zeit der Herrgott Nr. 2 (Kellner 1943).

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Führer

Adolf Hitler ohne weitere Markierung verwendet wurde. Dies spricht – wie auch im Falle der Widerstandsakteure zu sehen sein wird – für die weite Verbreitung des politischen Führerkonzepts allgemein und die rasche Etablierung der auf Hitler bezogenen Benennung im Speziellen.

3.4

Widerstand

In Texten des Widerstands taucht das Führerkonzept tatsächlich öfter zur Bezeichnung der eigenen oder politischer Führer aller Art auf, als dass es spezifisch zur Kritik am Nationalsozialismus oder Hitler verwendet wird: Viele von uns haben auch dann noch am schärfsten die linken sozialdemokratischen Führer angegriffen, als sie sich bereits für die Einheitsfront aussprachen (Florin 1935: 20). Heute verlangt die Arbeiterklasse von einem Führer, daß er sich mit dieser letzteren Seite unserer Aufgabe gründlich befasst (Sozialistische Front 1934: 118). Unsere brüderliche Bereitschaft zum gemeinsamen Kampf mit Euch gegen die braune Diktatur ist – wir versicheren Euch das erneut – keine Angelegenheit kleinlicher und vorübergehender taktischer Überlegungen, wie es leider noch manche katholischen Führer annehmen (KPD 1938). Wer abwartet, ohne sich ständig organisiert politisch mit der Entwicklung der faschistischen Gesellschaft auseinanderzusetzen, wird in der Stunde, auf die er gewartet hat, kein Führer der Massen, sondern nur ein trauriges Fossil einer fernen Vergangenheit sein (Neu Beginnen 1936: 102).

Dieser Befund bestärkt den Eindruck, dass das politische Führerkonzept in seiner basalen Bedeutung – zur Bezeichnung politischer Anführer – vor 1933 und über 1933 hinaus relativ losgelöst von bestimmten politischen Richtungen verwendet wurde. Führer der antifaschistischen Front, Führer der Arbeiterbewegung, Führer der Arbeiterschaft, sozialistische Führer, kommunistische Führer, Führer der Gewerkschaften, Führer der katholischen Jugend – all diese Bezeichnungen lassen sich im Widerstandskorpus finden. Ein weiteres Verwendungsmerkmal des Lexems Führer in Widerstandstexten ist, dass es sich oftmals nicht exklusiv auf Hitler, sondern auf eine größere Gruppe nationalsozialistischer Führer bezog, womit der verbreiteten Verwendung des Ausdrucks als Funktionsbezeichnung Rechnung getragen wurde: Vielleicht würden ernstere Schwierigkeiten auftreten, wenn die NSDAP nach dem Wort einiger ihrer Führer (auch Görings!) handeln würde (Blumenberg 1933: 54). Wir kennen doch die »Führer« des Hitlerfaschismus aus nächster Nähe! Es war ein Saustall, es ist ein Saustall und es wird ewig ein Saustall sein, weil jene Menschen der Reihe nach, wie sie da sind, Postenjäger und persönlich, charakterlich minderwertige Subjekte sind (Sozialistische Front 1934: 113).

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Richten wir nun den Blick auf den nur auf Hitler bezogenen Gebrauch der Bezeichnung Führer, so ist zum einen, wie in den Texten von Ausgeschlossenen und Dissidenten, die häufige Setzung von distanzierenden Anführungszeichen zu konstatieren: Die Reden waren auf den Nenner gebracht, daß das Reich und Danzig eine Einheit sei, und daß der »Führer« allein über Danzig zu bestimmten habe (DB 1938: 1168). Das deutsche Volk aber muß leben. Darum muß Hitler fallen und mit ihm das Finanzkapital, das ihn zum »Führer« gemacht hat (Neubauer-Poser-Gruppe 1943: 106). Die Diktatur will dem Menschen eine einzige sogenannte Weltanschauung der NSDAP aufzwingen, möchte am liebsten auch nur einen Glauben, den Glauben an sich, den »Führer« sehen. Deshalb verkrüppelt der Mensch unter der Diktatur. […] Sie verehren Hitler »den von Gott gesandten Führer« und unterjochen damit sich selber (Brill 1938: 70). Trotzdem gibt es in der NSDAP natürlich Tausende von prächtigen Menschen und guten Kämpfern, die eigentlich bei uns stehen müssten. Noch vertrauen sie blindlings ihrem »Führer« Adolf Hitler. Sobald dieses Vertrauen ins Wanken gerät, müssen wir eingreifen und sie zu uns herüber zu holen versuchen (Der Rote Stosstrupp 1933a: 634).

Die Distanzierung, die Nicht-Anerkennung des Status ›Führer‹, die in diesen Belegen durch die Anführungszeichen markiert wird, lässt sich auch in Formulierungen Thomas Manns erkennen, wenn er in seinen BBC-Reden Hitler als Monstrum bzw. als ein unglückseliges Geschöpf bezeichnet, das sich für eine kurze Frist noch den Führer Deutschlands nennen darf bzw. sich den Führer Deutschlands nennt (Mann 1942: 85; Mann 1941: 46).20 Vor allem in Kommunikaten des Widerstands, die sich appellierend an die deutsche Bevölkerung wendeten, d. h. Flug-, Tarn- und Programmschriften, kam es immer wieder vor, dass der (seltener: die) Führer als Lügner und Betrüger der deutschen Bevölkerung gekennzeichnet wurde. In Ansätzen lassen sich hier Versuche erkennen, einen Gegendiskurs zum omnipräsenten Führerkult zu etablieren, der die Unfähigkeit zum Führen und die Unaufrichtigkeit des Führers bzw. der Führer ins Zentrum stellte. So nutzte etwa ein Flugblatt des Kommunistischen Jugendverbandes von 1939 wiederholt die Bezeichnung falscher Führer und bezichtigte Hitler bezüglich seiner territorialen Absichten der Lüge (Kommunistischer Jugendverband 1939). In einem anderen Flugblatt der KPD hieß es: Hast Du schon gemerkt, dass in Deutschland nicht mehr gesprochen wird? O, doch! Schalte Deinen Lautsprecher ein! Wird darin noch gesprochen? Nein! Du wirst angebrüllt. Angebrüllt auch von der Zeitung, auch von der Filmleinwand. In Deutschland wird nur gebrüllt. Und wer brüllt? »Der Führer«, der Lügner, der Verräter, 20 Vgl. auch: Der Führer der Deutschen, wie er sich selber nennt (Hiller 1938).

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der Kriegsbrandstifter und Verlierende. […] Weg mit dem »Führer«! Kampf dem Nazigesindel! (KPD 1941).

Ein Flugblatt aus der Frühzeit des NS-Regimes warf dem Führer vor, die Kernanforderung – das Führen – entgegen seinen Versprechungen nicht zu leisten. Zudem brachte es das im nationalsozialistischen Diskurs eng mit dem Führerkonzept verknüpfte Leitkonzept Volk in Frontstellung zu diesem: Aussenpolitik und Innenpolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Kulturpolitik – alles wollte ER, der »Führer«, mit der kleinen Clique seiner Ratgeber und Mitarbeiter allein leiten und verantworten. Das ist nun über Nacht anders geworden. Der »Führer« will nicht mehr führen! Die Verantwortung, die er mit Gewalt an sich gerissen hat, wird ihm zu schwer. Er kann sie nicht mehr tragen. Er will sie nicht mehr tragen. Wer muss herhalten? Das Volk! Das misshandelte, verachtete, rechtlos gemachte Volk! Es soll dadurch, dass es abstimmt, die Verantwortung übernehmen, die der Führer ablehnt (Der Rote Stosstrupp o. D.).

In einigen Widerstandstexten wurde zudem versucht, den Adressat*innen eine Loslösung vom Führer nahezulegen. Der Führer wisse, so hieß es in einer Tarnschrift aus dem Jahr 1944, daß der Krieg unrettbar verloren ist. Und er wisse ebenso, daß niemand, kein Land der Erde, mit ihm als dem Führer des deutschen Volkes Frieden machen wird (Tarnschrift 1944: 16). In einem Aufruf des Nationalkomitees Freies Deutschland hieß es am Ende einer Reihung appellierender Fragen: Hast Du Dich endgültig frei gemacht von den Phrasen von ›Ehre‹ und ›Treue‹ mit denen ›der Führer‹ Dich und Euch alle am Gängelband hält, um sein Leben und das seiner Kumpane zu retten oder wenigstens zu verlängern? (NKFD 1944). Und bereits 1936 stellte eine Programmschrift der Sopade apodiktisch fest: Deutschland kann nur gesunden, wenn es sich vom Wahnsinn des ›Führergedankens‹ und vom ›Führer‹ befreit (Sopade 1936). Um den Wahnsinn der Führerverehrung zu kennzeichnen, wurde schließlich in einigen Widerstandstexten auf die Stilmittel der Ironie und des Sarkasmus zurückgegriffen. So persiflierte ein Flugblatt aus dem Jahr 1933 die pathetische Tonlage offizieller Verlautbarungen rund um den Führer, wenn es dort hieß: Mit feierlicher Erklärung soll er [Hindenburg, S. Sch.] die Präsidentschaft des wiedererstandenen Heiligen Deutschen Reichs seinem lieben Freunde, dem Führer des Volkes, dem Genius der wieder erwachten Nation – ADOLF HITLER – übergeben. Und Hitler seinerseits soll die Reichskanzlerschaft seinem lieben und getreuen … (schenken wir uns das weitere!) GOERING überantworten (Der rote Stosstrupp 1933b: 661).

Sowohl ein Flugblatt der Weißen Rose als auch ein Klebezettel aus dem Jahr 1944 führten die Dankeshymnen an den Führer durch Imitation ins Absurde:

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Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. 330.000 deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken Dir! (Weiße Rose 1943). Das Reich wurde zum Totenhaus Das danken wir dem Führer […] Städter – deine stolze Stadt stirbt Das dankst du deinem Führer Bauer das war dein Heim und Hof – Das dankst du dem Führer – Die Freiheit wurde zur Sklaverei Das danken wir dem Führer – (Klebezettel 1944).

Insgesamt jedoch – dieser Eindruck ergibt sich aus der Auswertung des Widerstandskorpus – spielte das auf Hitler bezogene Führerkonzept in Texten des Widerstands eine eher untergeordnete Rolle. Zwar wurde durch unterschiedliche sprachliche Mittel markiert, dass man den Anspruch Hitlers, Führer Deutschlands zu sein, nicht anerkannte, und die Führerverehrung großer Teile der deutschen Bevölkerung wurde kritisch registriert und teilweise kommentiert. Das politische Konzept Führer an sich wurde jedoch nicht explizit in Frage gestellt. Dies lag mutmaßlich auch an der breiten Verwendung des Konzepts zur Bezeichnung der eigenen politischen Führer.

5

Fazit

Führer war zweifelsohne ein Leitkonzept im politischen Kommunikationsraum des Nationalsozialismus, was nicht zuletzt an der weiten Verbreitung der Bezeichnung im politischen Diskurs seit Beginn des 20. Jahrhunderts lag. Vor diesem Hintergrund versuchten die Propagandisten der nationalsozialistischen ›Bewegung‹, Adolf Hitler als den Führer zu präsentieren, auf den sich die politischen Hoffnungen und Erwartungen großer Teile der deutschen Bevölkerung gerichtet zu haben schienen. In Texten des NS-Apparats lässt sich nicht nur eine starke Tendenz zur Verbindung des Führerkonzepts mit den Lexemen Volk, Nation, Deutschland und Bewegung finden, sondern es sind auch verschiedene Versuche zu verzeichnen, die Bezeichnung Führer (als Mischung von Funktionsund Qualitätsbezeichnung) exklusiv für Hitler zu beanspruchen. Gemäß der Zentralität des Führerkonzepts im Rahmen der versuchten Neuausrichtung der nationalsozialistischen Gesellschaft fungierte es in Texten von Akteuren der integrierten Gesellschaft primär als Identifikations- und Integrationskonzept. Seinem Führer in Treue zu folgen, zu dienen und für ihn zu kämpfen war Anforderung und Ausweis der eigenen Zuordnung zur ›Volksgemeinschaft‹. In Briefen, Tagebucheinträgen, Schulaufsätzen, literarischen Texten und vielen

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weiteren Textsorten wurde die kollektive und persönliche Loyalität zum Führer und die Verehrung des Führers zum Ausdruck gebracht, der Führerkult damit ko-produziert. Von der nationalsozialistisch gewendeten ›Volksgemeinschaft‹ Ausgeschlossene und Dissidenten beobachteten den Kult um den Führer dagegen skeptisch und markierten in der Verwendung des Führerkonzepts vornehmlich ihre Distanz. Ähnliches lässt sich auch für die Akteursgruppe des Widerstands konstatieren, wenngleich das Führerkonzept zur Bezeichnung der eigenen politischen Führer hier ebenso häufig (wenn nicht quantitativ häufiger) anzutreffen ist.

Quellen (AF 1940) Brief von Arthur F. an Joseph Goebbels, 30. 3. 1940, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1985): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 2, 1, München: Oldenbourg, Microfiche-Nr. 076712. (Anon. 1941) Anonymes Schreiben an die Reichspropagandaleitung (September 1941), in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1985): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 2, 2, München: Oldenbourg, Microfiche-Nr. 067831. (AZ 1934) Zimmermann, August (1934): Lebenslauf (Wie ich Nationalsozialist wurde), in: Hoover Institution Library & Archives, Theodore Fred Abel Papers, Record Number: 50000.01.0586. https://digitalcollections.hoover.org/objects/58225, Stand: 15. 3. 2022. (Berenberg-Gossler 1933) Berenberg-Gossler, Cornelius Freiherr von: Tagebucheintrag vom 18. September 1933, in: Bajohr, Frank/Meyer, Beate/Szodrzynski, Joachim/Wieczorek, Niklas (Hg.) (2013): Bedrohung, Hoffnung, Skepsis. Vier Tagebücher des Jahres 1933, Göttingen: Wallstein, S. 363. (Blumenberg 1933) Blumenberg, Werner (1933): Flugschrift »Was soll werden?«, in: Theilen, Karin (Hg.) (2000): Sozialistische Blätter. Das Organ der »Sozialistischen Front« in Hannover 1933–1936, Hannover: Hahnsche Buchhandlung, S. 45–64. (Bormann 1943) Martin Bormann an Hans Heinrich Lammers (20. 11. 1943), in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1983): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 1, 1, München: Oldenbourg, Microfiche-Nr. 101 29825–29827. (Brill 1938) Brill, Hermann (1938): Programmschrift »Freiheit«, in: Brill, Hermann (1946): Gegen den Strom. Wege zum Sozialismus, Heft 1, Offenbach am Main: Bollwerk Verlag, S. 62–87. (DB 1938): Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), 1934–1940. 5. Jahrgang. 1938. Salzhausen/Frankfurt am Main: Verlag Petra Nettelbeck/ Zweitausendeins. (Der Rote Stosstrupp o. D.) Der Rote Stosstrupp: Flugblatt »Ja oder Nein«, in: EggingerGonzalez, Dennis (Hg.) (2018): Der Rote Stoßtrupp. Eine frühe linkssozialistische Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, Berlin: Lukas-Verlag, S. 712–713. (Der Rote Stosstrupp 1933a) Der Rote Stosstrupp: Flugschrift Nr. 14 (21. 7. 1933): »Deutscher oder italienischer Faschismus«, in: Egginger-Gonzalez, Dennis (Hg.) (2018): Der

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Rote Stoßtrupp. Eine frühe linkssozialistische Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, Berlin: Lukas-Verlag, S. 630–634. (Der rote Stosstrupp 1933b) Der Rote Stosstrupp: Flugschrift Nr. 20 (15. 9. 1933): »Was bringt der 2. Oktober«, in: Egginger-Gonzalez, Dennis (Hg.) (2018): Der Rote Stoßtrupp. Eine frühe linkssozialistische Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, Berlin: Lukas-Verlag, S. 661–666. (Deutscher Prüfungsaufsatz 1936) Deutscher Prüfungsaufsatz, Gymnasium zu BerlinSteglitz, den 20. 1. 1936, in: Sauer, Bernhard (Hg.) (2012): »Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stich lassen«. Abituraufsätze im Dritten Reich, Berlin: Duncker & Humblot, S. 52–54. (Deutscher Prüfungsaufsatz 1940) Deutscher Prüfungsaufsatz, Gymnasium zu BerlinSteglitz, den 29. 1. 1940, in: Sauer, Bernhard (Hg.) (2012): »Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stich lassen«. Abituraufsätze im Dritten Reich, Berlin: Duncker & Humblot, S. 90–93. (Deutsches Wörterbuch 1866) Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1866): Führer. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/DWB, Stand: 15. 3. 2022. (EG 1943) Brief von Emil G. an Hermann Göring (22. 3. 1943), in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1983): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 1, 2. München: Oldenbourg, Microfiche-Nr. 307 01415-01418. (Eggers 1937) Eggers, Kurt (1937): Vom mutigen Leben und tapferen Sterben, Oldenburg: Stalling. (EK 1939) Brief von Elisabeth Korb an die Präsidialkanzlei (18. August 1939), in: Eberle, Henrik (Hg.) (2007): Briefe an Hitler. Ein Volk schreibt seinem Führer. Unbekannte Dokumente aus Moskauer Archiven – zum ersten Mal veröffentlicht, Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe, S. 379–380. (FI 1938): Brief von Franz Ippisch an Adolf Hitler (6. April 1938), in: Eberle, Henrik (Hg.) (2007): Briefe an Hitler. Ein Volk schreibt seinem Führer. Unbekannte Dokumente aus Moskauer Archiven – zum ersten Mal veröffentlicht, Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe, S. 237–239. (FK 1933) Brief von Friedrich K. an Rudolf Heß (12. 9. 1933), in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1985): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 2, 1, München: Oldenbourg, Microfiche-Nr. 013808-013815. (Florin 1935) Florin, Wilhelm (Oktober 1935): Wie stürzen wir Hitler? Der Weg zur Einheitsfront und zur antifaschistischen Volksfront in Deutschland. Rede und Schlusswort auf der Brüsseler Konferenz der Kommunistischen Partei Deutschlands (Tarnschrift 0304), in: Tarnschriften 1933 bis 1945. Microfiche-Ausgabe unter Verwendung der »Bibliographie Tarnschriften 1933 bis 1945« von Heinz Gittig, hrsg. vom K.G. Saur Verlag in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, München: K.G. Saur. (Forsthoff 1933) Forsthoff, Ernst (1933): Der totale Staat. 2. Aufl. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. (Goebbels 1939) Goebbels, Joseph: Führergeburtstag 1939, in: Goebbels, Joseph (1941): Die Zeit ohne Beispiel, München: Franz Eher Nachf., S. 97–103.

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Führer

(Goebbels 1940): Goebbels, Joseph: Führergeburtstag 1940, in: Goebbels, Joseph (1941): Die Zeit ohne Beispiel, München: Franz Eher Nachf., S. 282–288. (Goebbels 1942): Goebbels, Joseph: Führergeburtstag 1942, in: Goebbels, Joseph (1943): Das eherne Herz, München: Franz Eher Nachf., S. 286–294. (Goebbels 1943) Goebbels, Joseph: Führergeburtstag 1943, in: Goebbels, Joseph (1944): Der steile Aufstieg. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1942/43, Leipzig: Oscar Brandstetter, S. 252–262. (GPD 1934) Graf von Dyck, Peter (1934): Wie ich Nationalsozialist wurde, in: Hoover Institution Library & Archives, Theodore Fred Abel Papers, Record Number: 50000.01.0090. https://digitalcollections.hoover.org/objects/58225, Stand: 15. 3. 2022. (GU 1934) Ullein, Gerhard (1934): Mein Lebenslauf, in: Hoover Institution Library & Archives, Theodore Fred Abel Papers, Record Number: 50000.01.0171. https://digitalcol lections.hoover.org/objects/58225, Stand: 15. 3. 2022. (Haarer 1941) Haarer, Johanna (1941): Mutter, erzähl von Adolf Hitler! Ein Buch zum Vorlesen, Nacherzählen und Selbstlesen für kleinere und größere Kinder, München: Lehmann. (HD 1940) Feldpostbrief von H. D. an seine Freundin (29. 3. 1940), in: Museumsstiftung Post und Telekommunikation. Briefsammlung. www.museumsstiftung.de, Stand: 15. 3. 2022. (Hiller 1938) Hiller, Kurt (1938): Der König kann kein Unrecht tun, in: Sozialistische Warte. Blätter für kritisch-aktiven Sozialismus (1938), S. 1103–1104. (Hitler 1932) Hitler, Adolf: Rede vom 10. 4. 1932, in: Domarus, Max (1988): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Teil 1, Band 1. Leonberg: Pamminger und Partner, S. 104. (Hitler 1935a) Hitler, Adolf: Rede vor dem Reichstag am 21. Mai 1935, in: Domarus, Max (1988): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Teil 1, Band 2. Leonberg: Pamminger und Partner, S. 505–514. (Hitler 1935b) Hitler, Adolf: Schlussansprache auf dem Parteikongress am 16. September 1935, in: Domarus, Max (1988): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Teil 1, Band 2. Leonberg: Pamminger und Partner, S. 541. (Hitler 1936) Hitler, Adolf: Rede im Berliner Lustgarten am 1. Mai 1936, in: Domarus, Max (1988): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Teil 1, Band 2. Leonberg: Pamminger und Partner, S. 621–622. (Hitler 1938a): Hitler, Adolf: Rede zum 1. Mai 1938, in: Domarus, Max (1988): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Teil 1, Band 2. Leonberg: Pamminger und Partner, S. 855. (Hitler 1938b): Hitler, Adolf: Rede in Karlsbad vom 4. Oktober 1938, in: Domarus, Max (1988): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Teil 1, Band 2. Leonberg: Pamminger und Partner, S. 950. (Hitler 1943a) Hitler, Adolf: »Deutsches Volk! Nationalsozialisten, Nationalsozialistinnen, Parteigenossen!«. Rede am 1. Januar 1943, in: Domarus, Max (1965): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Teil 2, Band 2. München: Süddeutscher Verlag, S. 1967–1971. (Hitler 1943b) Hitler, Adolf: Rede im Münchner Löwenbräukeller, 8. November 1943, in: Domarus, Max (1965): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von

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einem deutschen Zeitgenossen, Teil 2, Band 2. München: Süddeutscher Verlag, S. 2050– 2059. (Hitler 1943c) Hitler, Adolf: Rundfunkrede am 10. September 1943, in: Domarus, Max (1965): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Teil 2, Band 2. München: Süddeutscher Verlag, S. 2035–2039. (HJS 1942): Feldpostbrief von Hans-Joachim S. (28. 7. 1942), in: Museumsstiftung Post und Telekommunikation. Briefsammlung. www.museumsstiftung.de, Stand: 15. 2. 2022. (HK 1934) Brief von Heinrich K. (Reichsverband der Wartestandsbeamten und Lehrer e.V. Provinzial- und Landesverbände) an Adolf Hitler (27. 2. 1934), in: Generallandesarchiv Karlsruhe, 233, 24228. (Holzner 1940) Holzner, Anton (1940): Ewige Front, Berlin: Nordland. (Huber 1935) Huber, Ernst Rudolf (1935): Wesen und Inhalt der politischen Verfassung. Der deutsche Staat der Gegenwart, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. (Kellner 1939) Kellner, Friedrich: Tagebucheintrag vom 7. 10. 1939, in: Kellner, Friedrich (2011): »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939–1945, hg. v. Sascha Feuchert, Göttingen: Wallstein, Heft 1, S. 30–31. (Kellner 1941) Kellner, Friedrich: Tagebucheintrag vom 29. 7. 1941, in: Kellner, Friedrich (2011): »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939–1945, hg. v. Sascha Feuchert, Göttingen: Wallstein, Heft 3, S. 176–177. (Kellner 1942): Kellner, Friedrich: Tagebucheintrag vom 1. 1. 1942, in: Kellner, Friedrich (2011): »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939–1945, hg. v. Sascha Feuchert, Göttingen: Wallstein, Heft 3, S. 223. (Kellner 1943) Kellner, Friedrich: Tagebucheintrag vom 9. 1. 1943, in: Kellner, Friedrich (2011): »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939–1945, hg. v. Sascha Feuchert, Göttingen: Wallstein, Heft 5, S. 374. (Klebezettel 1944) Klebezettel aus dem Jahr 1944, abgedruckt in: Aretin, Karl Otmar von (Hg.) (1994): Opposition gegen Hitler, Berlin: Siedler, S. 270–271. (Klemperer 1934) Klemperer, Victor: Tagebucheintrag vom 14. 7. 1934, in: Klemperer, Victor (1995): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941, Berlin: Aufbau-Verlag, S. 119–125. (Kommunistischer Jugendverband 1939) Flugblatt des Kommunistischen Jugendverbands Berlin-Süd: »Ich rufe die Jugend der Welt« (1939), in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz-Verlag, S. 277. (Kotz 1934) Kotz, Alfred (1934): Führen und Folgen. Ein Katechismus für Hitlersoldaten, Potsdam: Voggenreiter. (KPD 1938) Flugblatt der KPD »An die Katholiken Westdeutschlands. Ein ernstes Wort in ernster Stunde« (1938), in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz-Verlag, S. 94. (KPD 1941) Flugblatt der KPD »Gebrüllt oder geflüstert?«, 1941, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz-Verlag, S. 298–199. (Krüger 1934) Krüger, Herbert (1934): Führer und Führung, Breslau: Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn.

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(Lammers 1944): Hans Heinrich Lammers an die Obersten Reichsbehörden (9. April 1944), in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1983): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 1, 1, München: Oldenbourg, Microfiche-Nr. 101 29203. (Leder 1936) Leder, Heinz (1936): Du und Deine Volksgenossen. Ein Wegweiser zu neuzeitlichen Umgangsformen, Minden: Köhler. (LH 1938): Brief von Lotti H. an Adolf Hitler (31. Mai 1938), in: Eberle, Henrik (Hg.) (2007): Briefe an Hitler. Ein Volk schreibt seinem Führer. Unbekannte Dokumente aus Moskauer Archiven – zum ersten Mal veröffentlicht, Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe, S. 241–242. (LW 1936) Lore Walb: Aufsatz »Wahlzeit« vom 29. 3. 1936, in: Walb, Lore (1997): Ich, die Alte – ich, die Junge. Konfrontation mit meinen Tagebüchern 1933–1945, Berlin: Aufbau-Verlag, S. 74. (LW 1939) Lore Walb: Tagebucheintrag, ohne Datum (zwischen dem 9. November und dem 16. November 1939), in: Walb, Lore (1997): Ich, die Alte – ich, die Junge. Konfrontation mit meinen Tagebüchern 1933–1945, Berlin: Aufbau-Verlag, S. 146–148. (Malthan 1941) Malthan, Paul (1941): Der Weg zum Großdeutschen Reich (Volk und Führer. Ausgabe für Oberschulen und Gymnasien, 8), Frankfurt a. M.: Diesterweg. (Mann 1941) Mann, Thomas: Rundfunkansprache (Oktober 1941), in: Mann, Thomas (1986): Deutsche Hörer! Europäische Hörer! Radiosendungen nach Deutschland, Darmstadt: Darmstädter Blätter, S. 45–47. (Mann 1942) Mann, Thomas: Rundfunkansprache (29. November 1942), in: Mann, Thomas (1986): Deutsche Hörer! Europäische Hörer! Radiosendungen nach Deutschland, Darmstadt: Darmstädter Blätter, S. 85–87. (Nathorff 1934) Nathorff, Hertha: Tagebucheintrag vom 20. 8. 1934, in: Dies. (1987): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945, hrsg. von Wolfgang Benz, München: Oldenbourg, S. 60–61. (Nathorff 1936) Nathorff, Hertha: Tagebucheintrag vom 8. 8. 1936, in: Dies. (1987): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945, hrsg. von Wolfgang Benz, München: Oldenbourg, S. 86. (NB 1933) Brief der Nationalsozialistischen Betriebszelle des Verlages Ullstein an die Reichskanzlei, z. Hd. Hans Heinrich Lammers (21. 6. 1933), in: Leo Baeck Institute, Max Kreutzberger Collection (AR 7183), Series I, Subseries 1, B: Protests and reactions, in Germany and abroad, to Nazi policies toward the Jews (#37), 1933–1934, S. 859–860. (NKFD 1944) Nationalkomitee Freies Deutschland: Flugblatt »Lieber Kamerad!« (Ende Juni 1944), in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz-Verlag, S. 416–417. (Neu Beginnen 1936) Programmschrift der Gruppe »Neu Beginnen«: Jahr IV Die Probe aufs Exempel (1936), in: Langkau-Alex, Ursula (Hg.) (2009): Deutsche Volksfront 1932– 1939: Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau, München: Akademie-Verlag, S. 90–105. (Neubauer-Poser-Gruppe 1943) Flugschrift der Neubauer-Poser-Gruppe »Hitlers Krieg ist verloren« (1943), in: Glondajewski, Gertrud/Schumann, Heinz (Hg.) (1957): Die Neubauer-Poser-Gruppe. Dokumente und Materialien des illegalen antifaschistischen Kampfes (Thüringen 1939 bis 1945), Berlin: Dietz-Verlag, S. 105–107.

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(N. N. 1944): Vermerk der Reichskanzlei »Betrifft: Bezeichnung ›Der Führer‹« (1944), in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1983): Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Teil 1, 1, München: Oldenbourg, Microfiche-Nr. 101 29834. (OB 1936) Brief von Otto B. an NSDAP-Kreisleiter Müller (Trier) (14. 12. 1936), in: Landeshauptarchiv Koblenz, 662, 003, 60. (Rosenberg 1933) Rosenberg, Alfred (1933): Wesen, Grundsätze und Ziele der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Das Programm der Bewegung, herausgegeben und erläutert von Alfred Rosenberg, München: Deutscher Volksverlag. (Rosenberg 1933a) Rosenberg, Kurt Fritz: Tagebucheintrag vom 18. Juni 1933, in: Bajohr, Frank/Meyer, Beate/Szodrzynski, Joachim/Wieczorek, Niklas (Hg.) (2013): Bedrohung, Hoffnung, Skepsis. Vier Tagebücher des Jahres 1933, Göttingen: Wallstein, S. 91. (Rosenberg 1933b) Rosenberg, Kurt Fritz: Tagebucheintrag vom 1. Mai 1933, in: Bajohr, Frank/Meyer, Beate/Szodrzynski, Joachim/Wieczorek, Niklas (Hg.) (2013): Bedrohung, Hoffnung, Skepsis. Vier Tagebücher des Jahres 1933, Göttingen: Wallstein, S. 58–65. (Schmitt 1933) Schmitt, Carl (1933): Staat, Bewegung, Volk, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. (Sieveking 1933) Sieveking, Nikolaus: Tagebucheintrag vom 15. 10. 1933, in: Bajohr, Frank/ Meyer, Beate/Szodrzynski, Joachim/Wieczorek, Niklas (Hg.) (2013): Bedrohung, Hoffnung, Skepsis. Vier Tagebücher des Jahres 1933, Göttingen: Wallstein, S. 449. (Sopade 1936) Erklärung der Sopade »Für Deutschland – gegen Hitler!« (30. 1. 1936), in: Langkau-Alex, Ursula (Hg.) (2009): Deutsche Volksfront 1932–1939. Zwischen Berlin, Parus, Prag und Moskau, Berlin: Akademie-Verlag, S. 83–89. (Sozialistische Front 1934) Sozialistische Front: Flugschrift »›Röhm-Revolte‹ oder Ende des Nationalfaschismus« (1934), in: Theilen, Karin (Hg.) (2000): Sozialistische Blätter. Das Organ der »Sozialistischen Front« in Hannover 1933–1936, Hannover: Hahnsche Buchhandlung, S. 110–122. (Tarnschrift 1944) Anonyme Tarnschrift »Im Namen des deutschen Volkes« (1944), Leipzig: Philipp Reclam jun. (Usadel 1935) Usadel, Georg (1935): Zucht und Ordnung. Grundlagen einer nationalsozialistischen Ethik, 5. Aufl., Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. (Weiße Rose 1943) Sechstes Flugblatt der Weißen Rose, verfasst von Kurt Huber (Februar 1943), Berlin: Gedenkstätte Deutscher Widerstand. https://www.gdw-berlin.de/filead min/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_15.6_D E_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 15. 3. 2022. (Wessel 1938) Wessel, Ingeborg (1938): Mein Bruder Horst. Ein Vermächtnis, 7. Aufl., München: Eher Verlag. (Wolmar 1943) Wolmar, Daisy Wolfram von (1943): Ein Mädel erlebt den Führer, Dresden: Franz Müller Verlag.

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Britt-Marie Schuster / Nicole M. Wilk

Blut

1 Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen 2 Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung 3 Akteursspezifizierte Gebrauchsdarstellung 3.1 NS-Apparat 3.1.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.1.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.1.3 Diskurssemantisches Netz 3.2 Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft 3.2.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.2.2 Aktersgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.2.3 Diskurssemantisches Netz 3.3 Widerstand 3.3.1 Akteusgruppenspezifische generalisierende Befunde 3.3.2 Akteusgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.3.3 Diskurssemantisches Netz 4 Fazit Quellen Blutopfer, Blutsgemeinschaft, Bluteinsatz, blutrünstig, Blutzoll (entrichten/zahlen) Heldenblut, blutig, blut(s)mäßig, blutsgebunden, deutschblütig, Blutmaterialismus, Blutorden, Blutfahne, Arierblut, Blut und Boden, Blut und Rasse, Blutterror, Blutverlust, Blutvergießen, Blutschande, Blutschuld, Blutorgie Blutrausch, Blutregiment, blutdürstig, Polenblut, Soldatenblut, Mannesblut, Ausblutung, Blutbad, Blutherrschaft, verbluten

1

Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen

Das Lexem Blut entwickelt sich im Nationalsozialismus zum ideologischen Schlüssellexem. Es wirkt wie ein »Erkennungszeichen und Verdichtungsmarker« (Felder 2012: 135) der rassistischen Diskriminierungspraxis im Nationalsozialismus. So ist Blut auch zentraler argumentativer Bestandteil des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, das am 15. September 1935

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als eines von drei Nürnberger Gesetzen erlassen wird (vgl. Blutschutzgesetz 1935). Das so genannte Blutschutzgesetz zielt auf die Reinhaltung des deutschen Blutes und verbietet die Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden. Verstöße gegen dieses Gesetz werden als Rassenschande geahndet und mit Gefängnis- oder Zuchthaus bestraft.1 Im Kontext der Rassenlehre liefert die Blut und Boden-Ideologie die Rechtfertigung für die Eroberung von Lebensraum im Osten. Von der Verbindung Blut und Boden heißt es bereits in zeitgenössischen Abhandlungen, sie schließe das gesamte nationalsozialistische Programm ein (vgl. Schmitz-Berning 2007: 111). Bezogen auf Hitlers Eroberungskrieg stiftet sie unter der Endsiegprämisse einen (metonymischen) Zusammenhang zwischen dem individuellen Körper und dem Körper der Nation. Die Bedingungen für diese Entwicklung reichen weit ins 19. Jahrhundert hinein. Zunächst ist Blut im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (1854) im Wesentlichen eine Metapher für das körperliche und geistige Leben des Individuums. Blut ist der Lebenssaft, der nach dem Deutschen Wörterbuch die Organe zum Blühen bringe, und Stoff, auf den sich menschliche Eigenschaften gründen (stolzes, heißes, kaltes Blut). Blut kann metonymisch für die Persönlichkeit stehen ( junges Blut). Im Kontext von Tod und Sterben mit der Bedeutungsfacette des märtyrerhaften Opfers für eine Idee zeigen sich usuelle Gebrauchsweisen wie Blut kosten/lassen/einsetzen oder das euphemistische im Blute liegen. Die Kollektivierung vollzieht sich am Leitfaden der Zugehörigkeit zu Familie, Volk und Nation (Blutsverwandtschaft). Vor dem Hintergrund des Fichteschen Mythos vom deutschen Urvolk hat sich bereits mit Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn der deutsche Nationalismus zum ›Blutkult‹ entwickelt: Teutschkeit entscheidet sich über die Reinheit des Blutes. Ihr stehen ausdrucksseitig und begrifflich Blutschuld und Blutschande gegenüber (vgl. Hoffend 1987: 263). Mit der Nationenbildung des 19. Jahrhundert wird der Körper im Zuge einer politischen Ökonomie für nationale Interessen auch metaphorisch in Dienst genommenen. Im Paulskirchen-Parlament setzen vor allem die Parteien der rechten Seite die Organismus-Metapher während der Nationalversammlung 1848/49 ein, um die lebendige, natürlich gewachsene Einheit Deutschlands argumentativ zu stützen (vgl. Grünert 1974: 191f.). Aus dem Bild des organischen Volkskörpers entwickelt sich ein weitverzweigtes metaphorisches Netz, in dem sich neben Herz, Adern und Gesundheit auch Blut etabliert. Die argumentative Kraft des Organismus-Gedankens und die Vorstellung, es fließe gesundes Blut durch die Adern des gesamten deutschen Vaterlandes (Grünert 1974: 192) wird im 20. Jahrhundert ausgebaut. 1 Zur pseudowissenschaftlichen Begründung der Rassentheorie und rassistischer Verfolgungen vgl. Gruchmann 1983, Essner 2002 und Przyrembel 2003.

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Blut

Patriotisch ausdeutbare Metaphern mit Blut gehörten auch in der wilhelminischen Zeit zum beliebten Begriffsfeld des Nationalismus. Blut wird wie viele andere positive Schlüsselwörter für euphorische Zukunftshoffnungen und Ganzheitsmythen »anfällig« (vgl. Polenz 1999: 552). Im revolutionären Schrifttum erhebt sich nach der Niederlage von 1918 die Lehre vom Blut zum »politischen Mythos« gegen den Rationalismus einer technikbegeisterten Fortschrittsgesellschaft (vgl. Clason 1981: 96). Die »organisch« gegliederte Volksgemeinschaft, die auf den Prinzipien von Führung und Gefolgschaft beruht, wird im Zuge der Konservativen Revolution gegen die Weimarer Demokratie in Stellung gebracht, womit Aufklärung und Rationalismus zu Schmähwörtern, blutlich und organisch zu kombinatorisch sehr flexiblen Fahnenwörtern einer völkisch-nationalen Gesinnung werden (vgl. Schlosser 2013: 27), die später Anschluss an rassenbiologische Konzepte gewinnen. Von den antiliberalen Gruppen der Weimarer Republik wird Blut geradezu rauschhaft als Bindemittel für die »Volksgemeinschaft« beschworen (vgl. Beck 2003: 291). Von der vitalistischen Blutsgemeinschaft einer bestimmten Gruppe zeichnet sich schließlich die Entwicklung zur biologisch-rassistischen und antisemitischen Gebrauchsweise von Blut ab. Hitlers rassistische Forderung Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich löst nationalromantische Vorstellungen über die Nationenbildung auf der Basis der geteilten Sprache und Kultur ab (vgl. Schlosser 2013: 37). In der rassistischen Verengung des Blutbegriffs verschränkt sich die ökonomisch akzentuierte Blutsmetapher mit der Metonymie des Soldatenkörpers: Der Körper des einzelnen steht für die gesamte Nation. Entsprechend wird der (Helden-)Tod des einzelnen als Blutverlust des Volkes verrechnet. Daneben existieren zwischen 1933 und 1945 weitere Gebrauchsweisen von Blut, die aus der Perspektive der integrierten Gesellschaft an kulturelle Traditionen der Physiologie und der Medizin anschließen. Die Gruppierungen des deutschen Widerstands und der Verfolgten entwickeln verschiedene Verfahren der Gegenwehr gegen die NS-typischen Sprachgebrauchsmuster. Ihnen ist gemein, dass sie die rassistische Bedeutungsfacette aufbrechen und dabei das Sprachhandlungsmuster der Anklage aufgreifen, womit auch der Tod des Individuums sprachlich ins Bild kommt. Im Folgenden werden die Sprachgebrauchsmuster mit dem Wort(bestandteil) Blut hinsichtlich ihrer handlungsleitenden Konstitution, Verknüpfung und Bewertung von Sachverhalten (vgl. Felder 2012: 118) beschrieben.

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Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung

Das Stofflexem Blut befindet sich im Schnittfeld verschiedener politischer, ökonomischer und naturwissenschaftlicher Diskurse der späten 1920er bis 1940er Jahre. Es tritt in der Zeit zwischen 1933 und 1945 im Wesentlichen in fünf Handlungs- und Wissensfeldern auf: a) Rasse, b) Krieg, c) Physiologie, d) Kultur/ Religion und e) Rechtsbruch. Die Akteursgruppe des NS-Apparats greift vor allem auf Sprachgebrauchsmuster in a) und b) im Zusammenhang mit den sprachlich vermittelten Handlungen des Ausgrenzens ganzer Bevölkerungsteile und der Legitimation ihrer Verfolgung bzw. Ermordung zurück, während e) im Handlungsfeld der Mobilisierung für den Widerstand angesiedelt ist. Die Lesarten aus c) und d) dominieren in der privaten und literarischen Schriftlichkeit der integrierten Gesellschaft. Der Anpassung signalisierende Gebrauch im Sinne von a) und b) zum Schutz der eigenen Existenz ist hier ebenso zu finden wie die im Ansatz widerständigen Gebrauchsweisen, die sich dann in den Schriften verschiedener Gruppierungen des Widerstands entfalten. Dabei zeigen die BlutVerwendungen der linken Gruppen (kommunistischer Widerstand, Arbeiterwiderstand und Widerstand aus dem Exil) eine Tendenz zu teils offenen Anklagen, während sich die Verfolgten aus Gründen der Zensur und als Überlebensstrategie NS-typische Verwendungen aneignen. Im bürgerlich-konservativen sowie im kirchlich-religiösen Widerstand werden im Rahmen der Gegenwehr kulturelle, literarische und biblische Traditionen der Blut-Metaphorik reaktiviert.

3

Akteursspezifizierte Gebrauchsdarstellung

3.1

NS-Apparat

3.1.1 Funktional-abstrahierende Einordnung Im Kontext der nationalsozialistischen Rassenlehre wird Blut zum Synonym von Rasse. Das dabei wirksame metaphorische Verfahren stützt sich auf tradierte Körper- und Organismuskonzepte. Die semantische Aufwertung der Eigengruppe (Inklusion) geht einher mit der Abwertung der als rassisch minderwertig deklarierten Fremdgruppe (Exklusion).2 In der NS-Propaganda wird die inkludierende Lesart metonymisch zugespitzt: Das Blut des einzelnen, das er im heldenhaften Kampf fürs Vaterland einsetzt, wird in Macht und Ehre des Volkskörpers verwandelt. 2 s. den Beitrag ›Exklusion und ihre Erfahrung‹ in Teil 1.

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Blut

3.1.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster Den biologisch determinierten Zusammenhang zwischen Blut und Rasse markieren Adjektivkomposita wie blutmäßig3, blut(s)gebunden und blutsbedingt (vgl. Schmitz-Berning 2007: 114). In jedem einzelnen Angehörigen des nationalsozialistischen Staates habe sich das Gefühl für die blutmäßig begründete Verbundenheit und Verpflichtung zur Volksgemeinschaft zu entwickeln (Leder 1936: o. S.). Hitler selbst spricht von der einzig vernünftigen Solidarität, die es geben kann: von der Solidarität, die blutmäßig ewig begründet ist (Hitler 1933: 300). Maßstab juristischen und verwaltungstechnischen Handelns werden die qua Rasse zugeschriebenen Rechte. Durch die Personenattribute deutsch-, mischund reinblütig erfolgt die sprachliche Zuschreibung von Rasseeigenschaften. Die rassistischen Biologisierungen haben Blut als Grundwort (Arier-, Juden-, Mischoder Polenblut), die Personenbezeichnung (Voll-)Blutjude tritt vereinzelt auf. Im semantischen Feld der Kriegshandlungen treten die Blut-Komposita Blutopfer, Blutvergießen, Blutverlust und Bluteinsatz hochfrequent auf. Zwar gewinnt es ab 1942 mit diesen Wortbildungen einen konkretisierenden Zug, da reales Blut für die Volksgemeinschaft fließt (vgl. Beck 2003: 291). Gleichzeitig entsteht eine abstrahierende Sicht auf den einzelnen Soldaten(-körper), dessen Blut nur im Rahmen einer Gewinn- oder Verlustrechnungen für die Kollektivinstanz »zählt«. Das Lexem Blutopfer ist bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in erster Linie im Rahmen religiöser Rituale gebräuchlich: Es werden den unterschiedlichsten Göttern Blutopfer dargebracht. Ebenfalls ist es für die Beschreibung des Kriegstods belegt. Dabei sind es nicht nur Soldaten, sondern auch die Zivilbevölkerung oder wie bei Jahn (1810: 14) ein pathetisches wir, das sich als »Zeitgenossen der Sterbensnoth und des letzten Volksthumsringen« damit tröstet, »als Blutopfer und Blutzeugen für die Menschheit [zu] fallen«. In dieser Lesart gewinnt das Lexem in der NS-Propaganda neben vielen weiteren Blut-Komposita einen zentralen Stellenwert für das Zelebrieren des Todes zum Zweck der Erlösung des Vaterlandes. Gefallene werden zu Blutopfern und Blutzeugen stilisiert, mit ihrem Tod fließt im Einklang mit Versatzstücken der germanischen Mythologie Heldenblut. Zur Bezeichnung der Hakenkreuzflagge wird die aus dem Heiligen Römischen Reich übernommene Bezeichnung Blutfahne eingesetzt. Der 1933 gestiftete Blutorden, den zunächst die Teilnehmer des Putsches von 1923 erhielten, wurde ab 1938 ranghohen Parteigenossen verliehen, die ihr Leben für die »Bewegung« riskiert hatten.

3 Die Reihenfolge der Bezeichnungen richtet hier und an anderer Stelle nach der Rangfolge der Belege in den IDS-Korpora und wird absteigend aufgeführt.

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Was die nationalsozialistischen Blut-Metaphern von früheren Verwendungen unterscheidet, ist die Einführung einer buchhalterischen Gewinn- und Verlustrechnung des menschlichen Körpers für das deutsche Volk. Mithilfe der Komposita Blutverlust, Bluteinsatz und Blutzoll und den parallelen Syntagmen blutige Verluste und blutiger Einsatz wird die Leiderfahrung des Krieges in eine kollektive Ehre fürs Vaterland übersetzt oder finanzlogisch betrachtet verrechnet. Selbst das Sterben der Jüngsten wird so für Goebbels zu einem sehr positiven Ergebnis abstrahiert. Er notiert am 25. Februar 1942 in seinem Tagebuch: 7000 höhere HJ-Führer sind bereits in diesem Kriege gefallen, ein Beweis dafür, welch ein hoher Bluteinsatz von der Hitlerjugend geleistet wird (Goebbels TB 1942: 370). Die Attribution von (Blut-)Einsatz/(Blut-)Verlust mit Adjektiven, die das enorme Ausmaß kennzeichnen, ist in propagandaaffinen Schriften usualisiert (z. B. enorm, heroisch, schwer, groß); häufig stehen die Adjektive im Superlativ (schwerste, größte, schwierigste, höchste). Der ökonomische Zug stützt sich auch auf NS-typische Blut-Kollokationen wie Blut kosten, mit (Strömen von) Blut bezahlen oder Blut einsetzen und Blut sparen. Kritik an kriegerischen Handlungen anderer wird mit den Lexemen Blutbad und Blutvergießen vollzogen, die sich musterhaft mit Adjektiv-Kollokatoren verbinden wie unnötiges/ nutzloses Blutvergießen und fürchterliches/entsetzlichstes Blutbad. Vereinzelt werden Anklagehandlungen durch Eigenschaftszuschreibungen mit blutrünstig vollzogen, die sich gegen linke, insbesondere kommunistische AkteurInnen richten. 3.1.3 Diskussemantisches Netz Blut besitzt im Sprachgebrauch des NS-Apparats zwei zentrale Bedeutungsprofile, die metaphorisch auf einer Abstraktion vom leiblichen Körper zum Körper der Nation basieren. Paradoxerweise ist diese metonymische Bewegung immer noch in die materialistische Auffassung von Blut als biologischem Rassemerkmal eingebunden. Für das einzelne Subjekt entstehen damit Entkörperlichungseffekte und Enteignungen des Körpers zugunsten eines nationalistisch aufgeladenen Volkskörpers (vgl. Maas 1984: 91ff.). Diverse Vertreter des NS-Apparats berufen sich im Sinne der Bluttheorie auf Blut in einem in- und exkludierenden Sinn. Sie kennzeichnen ihre national orientierte und rassentheoretisch begründete Zugehörigkeit (Inklusion), um soziale Ausschlüsse (Exklusion) in Gestalt von Denunziation, Verfolgung und Ermordung zu legitimieren.

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Blut

3.2

Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft

3.2.1 Funktional-abstrahierende Einordnung Die Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft äußern sich in verschiedenen Gattungen der privaten Schriftlichkeit (Tagebücher und Briefe), Belletristik (Prosa und Gedichte) und Sachliteratur (Artikel und Abhandlungen). In diesen Texten finden sich vielfach alltagssprachliche Phraseme mit Blut, die weder Anklänge an die Rassen- und Kriegspropaganda noch an deren Gegenkonzepte aufweisen. Sie besitzen eine hohe Idiomatizität, oft verbunden mit einer emotionalen Semantik wie die Phraseologismen Blut und Wasser schwitzen, in Fleisch und Blut übergehen oder Blut in den Adern erstarren lassen. Vor allem in der Belletristik, in Tagebüchern und Briefen treten konventionelle Metaphern wie blutige Anfänger und kommunikative Formeln wie nur ruhig Blut auf. Zwei weitere zentrale Gebrauchsdomänen, in denen die Fließeigenschaft des Blutes fokussiert wird, sind das Physiologische und das Seelische. 3.2.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster In der privaten Schriftlichkeit spielt die nominale Komposition eine weitaus geringere Rolle als in den Sprachgebrauchsmustern des NS-Apparats. Das NStypische Kompositum Blutzeuge wird allenfalls mit Anführungszeichen verwendet, um Beobachtungen zur NS-Propaganda zu reflektieren. Alternativ kommt das kritikindizierende Bezugsnominal vor wie in Andreas-Friedrichs (1986: 18) Schilderung eines verzweifelte[n] Sichaufbäumen[s] gegen Rasse- und Blutgesetze in einem Tagebucheintrag vom 15. Oktober 1938. Metonymien des nationalen Blutverlusts treten nur vereinzelt auf. Blutverlust wird eher für den individuellen Körper infolge von Krankheit und Verwundung beschrieben. Auch in der Gebrauchsdomäne Physiologie/Medizin steht der menschliche Körper im Vordergrund. Er erleidet Blutvergiftungen, Blutstürze und Blutungen. Auch Blutdruck, Blutbild und Blutkreislauf werden aus medizinischer Sicht beurteilt, in den Sachtexten ist das medizinische Fachvokabular noch spezifischer (Blutgefäßentzündungen, Blutpartikelchen). Kulturelle Verwendungskontexte mit Blut geben Impulse für eine substantialistische Auffassung, die Anschlüsse für rassistische Lesarten des Blutkonzepts bietet. Hier finden sich einige jener »bedeutungsverschobene(r) Traditionswörter« wieder, die im Rahmen einer Begriffsentwicklung »zum Nationalnationalismus hin« (Polenz 1999: 547, 552) das nationalsozialistische Gedankengut stützen. In der privaten und literarischen Schriftlichkeit vermischen sich unterschiedliche diskursive Stil und die Schreibenden orchestrieren sprachlich verschiedene kulturelle Sphären, so dass die biologische NS-Deutung mit Bezug auf eigene Biografien mehr oder weniger

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großen Raum gewinnt. Somit vollzieht sich im Sinne der pragmatischen Stilistik (vgl. Fix 2018) die Veränderung sozialer Ordnung über die Umgangsweisen mit propagandistischen Schlüsselwörtern. Nicht ohne Pathos und Anbiederungswillen wird über die Bande oder Macht des Blutes (Engelkes 1943: 84) räsoniert und die »Blutlehre« auf den vormodernen Judenhass projiziert, wie ihn bspw. Martin Luther im Rahmen einer theologischen Argumentation breit entfaltet hat: »Jawohl, sie halten uns Christen in unserem eigenen Lande gefangen, sie haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und schreien uns an, daß wir arbeiten, sind also unsere Herren, wir ihre Knechte mit unserem Gut«, so bemerkt schon Martin Luther in seiner Schrift »Von den Juden und ihren Lügen«. Wenn aber die jüdische Rasse in absehbarer Zeit von der nichtjüdischen Welt zurückgedrängt wird, einen Trost kann sie mitnehmen: Sie hat den Zurückbleibenden für alle Zeiten den Wert von Rassenerhaltung und Blutswertung klar, verständlich und unauslöschlich gemacht (Schulz/Frercks 1934: 4f.).

Auch im belletristischen Kontext werden Kollektiv und Individuum, Moral und Biologie über den Blutsgedanken kurzgeschlossen. So ist etwa das jahrhundertealte[n] Bauernblut (Welk 1937: 67) Grund für Zweifel und Skrupel des Protagonisten Martin nach seinem Diebstahl der Roggensaat. Im belletristischen Kontext wird unser bzw. mein Blut beschworen und von der Fremdheit des Blutes (Salomon 1933: 39) und der Blutrache als Sippenpflicht (Engelkes 1943: 70) erzählt. In Sachtexten ist die Tendenz zur rassistischen Deutung aus den fremdrassigen Blutsquellen (Schulz/Frercks 1934: 14) oder dem blutswertlichen Erbgut (Darré 1941: 11), das in der Ehe weitergegeben wird, ablesbar. Letzteres wird wiederum verstanden als Aufgabe, welcher sich zwei Menschen zur Fortpflanzung ihres Blutes unterwerfen (Darré 1941: 36). Auch im blutvolle(n) Denken (Spengler 1933: 11) sind biologische Verankerungen von Mentalitäten angedeutet. Deutsche Zivilpersonen in ihren Bitt- und Beschwerde-Schreiben an offizielle Stellen knüpften an die rassistische Blutidee auch bei der Beschreibung und Bewertung anderer Personen ( jüdischen, negroiden, deutschen Bluts) an, um ihre Anliegen zu begründen. Die Hinwendung zum Nationalsozialismus wird in den strategischen Verwendungen auch explizit gemacht. So entfaltet ein Anwalt in seinem öffentlichen Bittgesuch um Wiederaufnahme in die NSDAP das Argument, er habe sein Blut für die völkische Idee hergegeben (Johannes L. 1937). Anhand von morphologischen Prozeduren zeigt sich häufig die Tendenz zur semantischen Reduktion: In der propagandistischen Entwicklung werden aus Freunden Blutsbrüder (Hertwig 1934: 290), aus der Sippe oder Gruppe wird eine (germanische, nordische, jüdische) Blutgemeinschaft. Im religiösen Kontext finden sich zahlreiche Verwendungsbeispiele aus der biblischen Tradition wie den heiligen Kreis des Blutes (Soerensen 1940: 8) oder das Blut des Erlösers (Schenzinger 1939: 362). Schon in Erich Bischoffs Monografie von 1929, die 1942 ihre

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Blut

vierte Auflage erreicht, wird die aus der Kainsgeschichte bekannte biblische Blutschande auf die Blutschande jüdischer Personen projiziert (Bischoff 1929: 86). Die Buchhaltungsmetaphorik der Kriegstoten ist nur vereinzelt zu finden. Hingegen ist die metaphorische Bedeutung von ›Tod‹ und ›Sterben‹ der BlutEinheiten in vielen morphologischen und syntaktischen Wortverbindungen aufgehoben, sie zeigt sich regelmäßig in den Verwendungsweisen der Adjektive blutig und blutrot. Färbt sich etwas blutrot, wird hiermit nicht nur in literarischen Texten zum Ausdruck gebracht, dass Lebewesen sterben. Das Adjektiv blutig, das Sterben impliziert, wird musterhaft mit Ereignisbezeichnungen wie (Vernichtungs-) Kampf/Kämpfe/Schauspiel/Schlacht/Auseinandersetzung/Überfall kombiniert und nur vereinzelt attributiv zu Körperteilen wie Köpfe oder Gesicht gesetzt. Diese Verwendungsweise von blutig ist im NS-Apparat ebenfalls geläufig (insbes. blutige Kämpfe und Schlachten), sie wird im Widerstand modifiziert und entlang der Bedeutungskonzepte ›Enthüllung‹ und ›Anklage‹ pragmatisiert. Viele Kollokationen beziehen sich auf die Fließeigenschaft der roten Substanz (das fließende/schießende/rinnende Blut) und verweisen sowohl in narrativen als auch deskriptiven Kontexten auf den empfindsamen und verwundbaren Körper des Subjekts. Kontrastierend zur rassischen Blutlehre wird eine anthropologisch ausgerichtete Mensch-Tier-Schranke eingezogen (Menschenblut, Tierblut, Fischblut). 3.2.3 Diskussemantisches Netz Die Gebrauchsweisen von Blut in den Texten der integrierten Gesellschaft lassen die Entwicklung von Sprachgebrauchsmustern mit Blut zum Nationalsozialismus hin erkennen. Von der Bedeutungsdimension »Kultur und Religion« ausgehend entwickeln sich einige der Reduktionsformen der NS-Blut- und Rassentheorie. Lexeme, die eine Fährfunktion zum Kampfkonzept und zur Bluttheorie des Nationalsozialismus besitzen, sind insbesondere Leben, Vaterland, Einsatz, Kampf/Krieg, Treue und Wert.

3.3

Widerstand

3.3.1 Akteursgruppenspezifische generalisierende Befunde Der Widerstand hat den herrschenden Diskurs als Voraussetzung. Seine Aussagen sind Produkt und Faktor einer existenziellen Auseinandersetzung mit dem NS-Unrechtsregime. Prinzipien und Verfahren des Widersprechens und der Gegenwehr kontextualisieren den Sprachgebrauch des Nationalsozialismus

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durch verschiedene Formen der kritischen Bezugnahme, Verkehrung oder Kontrastierung, was sich an den Sprachgebrauchsmustern mit Blut nachzeichnen lässt. Bezeichnungen aus dem Spektrum der Wortbildungen und morphologische Wortverbindungen mit Blut sind in den Dokumenten des Widerstands vielfach belegt. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, liegt doch die Vermutung nahe, dass eine (strategische) Abgrenzung vom rekurrenten NS-Gebrauch darin besteht, Blut-Ausdrücke eher zu meiden. Die Gebrauchsweisen weichen aber vom Diskurs des NS-Apparats und der integrierten Gesellschaft insofern ab, als Blut vielfach für die kritische Kontrastierung genutzt wird. Mit Blut-Bezeichnungen werden der Tod als Folge der nationalsozialistischen Kriegsführung und der NSVerbrechen konkretisiert sowie die tödlichen Maßnahmen des NS-Regimes aufgedeckt und verurteilt. Verwendungen im Sinne der NS-Rassenlehre finden sich nur vereinzelt und aus Zensurgründen. Der Gleichheitsgedanke spiegelt sich weniger in der Kritik an der NS-Rassentheorie und eher in der Verwendung der Lexeme Frieden, Freiheit und Menschen wider. Die Widerspruchsstrategien sind vielfältig und reichen von Zurückweisungen über Verkehrungen und Verschiebungen des Bezugs einzelner Blut-Komposita bis hin zu Rekontextualisierungen durch die Verbindung mit Wörtern, die den semantischen Aspekt des Rechtsund Normbruchs profilieren (Blutorgien, Tribunal 1934: 94, Blutspuren auf dem Schlüssel zu Blaubarts Kammer, Goerdeler 1943: 185). Die semantische Umbesetzung steht im Zeichen eines ethisch fundierten Rechtsbegriffs. 3.3.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster Im Widerstand haben die Blut-Nomen zwar in der Verteilung der Blut-Belege nach Wortarten den höchsten Anteil, die adjektivischen Verwendungsfrequenzen liegen jedoch signifikant höher als in den beiden anderen Akteursgruppen. Das erklärt sich vor allem dadurch, dass die Adjektive blutig, blutrünstig und blutdurstig für die Anklagefunktion eine zentrale Rolle spielen. Sie werden in den beiden Hauptverfahren der Gegenwehr, der Rekontextualisierung und der Umperspektivierung, auf unterschiedliche Weise eingesetzt. Das dritte Verfahren der Gegenwehr knüpft an das Sichtbarmachen des empfindsamen Körpers im Schrifttum der integrierten Gesellschaft an. Die Verfahren werden im Folgenden mit Blick auf die Typizität für die einzelnen Widerstandsgruppen dargestellt. Die Rekontextualisierung ist ausgeprägt in den Zeitungsartikeln und Flugblättern der linken WiderstandsakteurInnen und des religiösen Widerstands zu finden. Sie bezeichnet ein Verfahren, bei dem neue Kontexte durch Negation und Austausch (von Wörtern), durch Kontraste und Verkehrungen geschaffen werden. Semantische Ver- oder Umkehrungen entstehen zumeist unter Weiterverwendung des gängigen Vokabulars. Insgesamt wird ein pragmatischer Effekt des

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Dagegens erzielt. Dieser kann pragmatisch auch durch metasprachliche Verschiebungen mittels Modalisierungen (Anführungszeichen etc.) erzeugt werden. So kann in der NS-typischen kapitalistischen Sprechweise, das Schuldkonto des Nationalsozialismus (von Hildebrand 1934a: 239) durch die furchtbare Blutschuld und infame Treulosigkeit (von Hildebrand 1934a: 239) belastet werden. Der kommunistische und der sozialistische (Exil-)Widerstand reagieren direkt auf die nationalsozialistischen Anfeindungen, so dass sich die rote in eine braune Gegnergruppe verwandelt. Dabei kommen ähnliche lexikalische Mitteln zum Zug: Aus dem Exil heraus wird der Blutterror Hitlers angeprangert, die Blutopfer vieler tausend Arbeiter, Bauern und Bürger (Mann/Münzenberg/Spiecker 1938: 209) werden beklagt oder die auch propagandasprachlich prominente ungeheuere Blutschuld wird nachgewiesen, die das Hitlerregime auf dem Volk aufgewälzt (sic) hat (Knöchel 1942: 6). Eine gängige Technik der Rekontextualisierung einer ethischen Rahmung ist die Hinzufügung des Attributs faschistisch (vgl. Ising 1988: 412) z. B. in den Aufrufen zum Widerstand gegen den blutigen faschistischen Terror oder der Erinnerung an die revolutionäre Pflicht im Kampf gegen die faschistische Blutherrschaft (Parteikonferenz KPD 1935: 21). Auch das Adjektiv blutrünstig oder bluttriefend wechselt das Bezugsnomen von Bezeichnungen für marxistische Personen im Nationalsozialismus hin zu Bezeichnungen für faschistische Personen im Widerstand, so dass sich für den linken Widerstand festhalten lässt, dass häufig mit gleicher (sprachlicher) Münze heimgezahlt wird. Davon zu unterscheiden ist das Verfahren der Umperspektivierung, bei dem sich die sprachliche Umgebung kategoriell oder phraseologisch deutlich verändert. Bspw. wird der Kollokator blutig nicht mit Ereignissen kombiniert, sondern auf Personen und Institutionen bezogen und gewinnt dabei Anklagecharakter. Aus der Referenz auf blutige Taten und blutige Kriege mit dem semantischen Merkmal ›tödlich‹ wird der Vorwurf gegen den blutige[n] Kretin Himmler (Sieg/ Kuckhoff 1942: 3) oder das Wüten der Blutdiktatur (Sozialistische Blätter 1936: 305), bei denen das Adjektiv die Bedeutungsfacette ›mörderisch‹ erhält. Im bürgerlich-konservativen Widerstand finden sich zahlreiche Belege für diese neuen Perspektivsetzungen z. B. durch die intertextuelle Verknüpfung mit klassischen Stoffen der deutschen (Märchen-)Literatur, wenn etwa die Widerstandsgruppe Weiße Rose (Scholl/Schmorell 1942: 2) prophezeit, dass solange Blut über Europa strömen wird, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden (nach einem Novalis-Zitat) oder die Belastung auf der Geschichte nicht wie die Blutspuren auf dem Schlüssel zu Blaubarts Zimmer weggewischt werden kann (Goerdeler 1943: 185). Im religiösen Widerstand verwendet von Hildebrand (1934b: 224) den markierten Ausdruck Blutmaterialismus (der Rassenvergottung), um die nationalsozialistische Rassentheorie auch aufgrund ihrer pseudoreligiösen Anklänge

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abzulehnen. Blut-Lexeme werden in Predigten in ihren biblischen Herkunftskontexten verwendet, so dass durch das Blut Christi immer auch auf das individuelle Leiden geblickt wird. In den bürgerlichen Texten sind Ablösungsprozeduren vom nationalsozialistischen Rassekontext zu beobachten. Dort heißt es z. B. im Sinne der verwandtschaftlichen Beziehungen und Sorge, die den einzelnen zu Vernunft und Einsicht führen soll: Eure Brueder, Eure Soehne, Eure Vaeter, Euer eigenes Blut spricht zu Euch, mahnt Euch zur Besinnung (Friedensappell 1945: 1). Mit dem eigenen Blut ist wiederum der einzelne Mensch als Individuum adressiert, eine Tendenz, die das dritte Verfahren der Gegenwehr einfängt, bei dem in einer Bewegung der Entmetonymisierung das Individuum, insbesondere das leidende und sterbende im Mittelpunkt steht. Eindringlich klingt da der Appell der Weißen Rose aus dem jugendlichen Widerstand, die nationalsozialistische Kriegspolitik zu stoppen, ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist (Scholl/Schmorell 1942: 1). Die Verben bluten und verbluten sind in ihrem Bezug auf den Tod menschlicher Subjekte widerstandsspezifisch und fungieren als ethischer Appell zur Beendigung des Krieges. Sie treten auch in den Schriftäußerungen des militärischen Widerstandes auf, der damit das sinnlose Sterben der Soldaten abmahnt, denn, so heißt es gegen Kriegsende lakonisch und unverschleiert, an allen Fronten verbluten die Männer (NKFD Krieg 1944: 1). Ähnlich wird in linken Exilzeitungen über die Kriegsfolgen berichtet, [v]or Stalingrad verblutete eine ganze Armeegruppe von 350 000 Mann (Soldatenkomitee 1943: 363) oder beklagt, dass die Jugend als Kanonenfutter verblutet (KPD 1936: 162). Zugleich finden sich die eingeschliffenen Sprachgebrauchsmuster der militärischen GewinnVerlust-Rechnung mit den Nomen-Verb-Kollokationen Blut kosten oder der auch in der Wehrmacht gebräuchlichen Ausblutung bzw. dem Weißbluten. Starke und wohl als Überlebensstrategie zu wertende Anschlüsse an den NSSprachstil zeigen die Kommunikate der Verfolgten. In den jüdischen Zeitungen dokumentiert sich der an die Zensur angepasste Tarnungsversuch, die jüdische Position in der Logik des Nationalsozialismus zu fassen. Unter Rückgriff auf die kommunikativen Schablonen der Rassentheorie werden Schlüsselkonstruktionen wie Blutsgemeinschaft und Blut und Boden auf die eigene jüdische Identität und Existenzweise übertragen. 3.3.3 Diskussemantisches Netz Der Blut-Ausdruck bildet auch für die Akteursgruppen des Widerstands ein zentrales Konzept. Er schließt anders als die integrierte Gesellschaft seltener an kulturelle Verwendungstraditionen an. Eine Ausnahme bildet hierbei der religiöse Widerstand. Vielfach sind anhand des Blut-Ausdrucks zentrale Verfahren der Gegenwehr erkennbar, in denen über Rekontextualisierungen bzw. Kon-

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trastierungen der NS-Sprachgebrauchsmuster mit Blut oder über Umperspektivierungen Kritik versprachlicht wird. In dieser pragmatischen Operation wird der Lesart eines Blut-Ausdrucks häufig das Merkmal ›mörderisch‹ bzw. ›verbrecherisch‹ hinzugefügt. In der Kritik an der ideologischen Auffassung von der NS-Blutgemeinschaft wird Blut stärker individualisiert, d. h. einem abstrakten nationalistisch geprägten Volkskörper-Kollektiv entgegengestellt und in seinen leib- und leidbezogenen Eigenschaften reanimiert.

4

Fazit

Durch seine Funktion bzw. semantische Aufladung als »Lebenssaft« im menschlichen Körper sowie die kulturhistorisch etablierte Metaphorik von Leben und Tod erweisen sich der Ausdruck Blut und seine Verbindungen als »anfällig« für ideologische Ausformungen im Zeichen der Nationalismen. Es ist jedoch zugleich durch sein metaphorisches Potenzial in besonderer Weise für grundlegende ethische Betrachtungen und Positionierungen geeignet. Während Mitglieder der NS-Akteursgruppe die teilweise neologistischen Komposita mit Blut zur Festigung der Bluttheorie und zur Ideologisierung des Kriegssterbens instrumentalisieren, werden in der Gegenwehr die Adjektivderivate blutig, blutend und blutrünstig im Dienste der Mordanklage intensiv genutzt. Den für die deutsche Nation verrechneten Blutopfern durch Heldentod im »Befreiungskrieg« stehen im Widerstand konkrete körperbezogene Lesarten von Blut zur Beschreibung des Sterbens gegenüber. Schließlich wird in (Exil-)Zeitungen, Flug- und Tarnschriften das Sterben im Krieg durch Verben wie (hin)schlachten und meucheln versprachlicht und das Sterben in Folge von Haft als (er-)morden und ums Leben bringen offen als Rechtsbruch markiert.

Quellen (Andreas-Friedrich 1986) Andreas-Friedrich, Ruth (1986): Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938–1945, Berlin: Suhrkamp. (Bischoff 1929) Bischoff, Erich (1942): Das Buch vom Schulchan Aruch. 4. Aufl. Leipzig: Hammer. (Blutschutzgesetz 1935) Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Das »Blutschutzgesetz« ist Bestandteil der »Nürnberger Gesetze«. Vom 15. September 1935, in: Reichsgesetzblatt 1935 I, S. 1146–1147. (www.documentarchiv.de/ns/nbgesetze 01.html, Stand: 7. 2. 2022). (Darré 1941) Darré, Richard Walther (1941): Neuordnung unseres Denkens, Goslar: Blut und Boden Verlag.

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Britt-Marie Schuster / Nicole M. Wilk

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Blut

(NKFD Generale 1944) Nationalkomitee Freies Deutschland (1944): Aufruf der 50. Generale an Volk und Wehrmacht. Moskau 8. 12. 1944. (de.wikipedia.org/wiki/Ernst-Eberha rd_Hell#/media/Datei: An_Volk_und_Wehrmacht_Blatt_1.jpg, Stand: 18. 2. 2022). (NKFD Krieg 1944): Nationalkomitee an Volk und Wehrmacht: 25 Artikel zur Beendigung des Krieges. Flugschrift vom 8. 12. 1944, abgedruckt in: Freies Deutschland. Organ des Nationalkomitees »Freies Deutschland« 2 (50), 10. Dezember 1944, S. 1. (Parteikonferenz KPD 1935) Vierte Parteikonferenz der KPD (1935): Die vierte Parteikonferenz der KPD an den Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, Genossen Dimitroff (Tarnschrift 0301), in: Abel, Georg (Hg.): Neue Album- und Stammbuchverse mit Denksprüchen, S. 20–21, in: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945, Online-Datenbank (Stand: 27. 11. 2017): de Gruyter. (db.saur.de/ DGO/login.jsf) (Salomon 1933) Salomon, Ernst von (1959): Die Kadetten. 3. Aufl. Hamburg: Rowohlt. (Schenzinger 1939) Schenzinger, Karl Aloys (1954): Metall, Gütersloh: Bertelsmann. (Scholl/Schmorell 1942) Scholl, Hans/Schmorell, Alexander (1942): Flugblatt der Weissen Rose I, Berlin: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, S. 1–2. (www.gdw-berlin.de/filead min/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_15.1_D E_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 18. 2. 2022). (Schulz/Frercks 1934) Schulz, Edgar/Frercks, Rudolf (1934): Ein Beitrag zur Judenfrage. Warum Arierparagraph?, Berlin: Neues Volk. (Sieg/Kuckhoff 1942) Sieg, John/Kuckhoff, Adam (1942): Offne Briefe an die Ostfront – 8. Folge – An einen Polizeihauptmann (Agis-Flugblatt), Berlin: Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/ Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_14.2_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 18. 2. 2022). (Soerensen 1940) Soerensen, Wulf (1940): Freund Hein – Ein Buch des Lebens, Berlin: Nordland-Verlag. (archive.org/details/SoerensenWulfFreundHeinEinBuchDesLebens 194018S./page/n7/mode/2up, Stand: 23. 02. 2022). (Soldatenkomitee 1943) Soldatenkomitee Dänemark (1943): Kameraden! Man verschweigt uns die Wahrheit!, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 363. (Sozialistische Blätter 1936) Sozialistische Front (1936): Flugschrift Sozialistische Blätter, in: Theilen, Karin (Hg.) (2000): Das Organ der »Sozialistischen Front« in Hannover 1933–1936, Hannover: Hahnsche Buchhandlung Hannover Verlag, S. 300–311. (Spengler 1933) Spengler, Oswald (1933): Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München: Beck. (Tribunal 1934) Rote Hilfe (1934): Flugschrift Das Tribunal, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 93–96. (Welk 1937) Welk, Ehm (1968): Die Heiden von Kummerow, Gütersloh: Bertelsmann.

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Nicole M. Wilk

Arbeit

1 Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen 2 Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung 3 Akteursspezifizierte Gebrauchsdarstellung 3.1 NS-Apparat 3.1.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.1.2 Diskurssemantisches Netz 3.2 Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft 3.2.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.2.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.2.3 Diskurssemantisches Netz 3.3 Widerstand 3.3.1 Akteursgruppenspezifische generalisierende Befunde 3.3.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.3.3 Diskurssemantisches Netz 4 Fazit Quellen Arbeiterpartei, Arbeitskampf, Arbeitsbeschaffung, Arbeiter der Faust und Arbeiter der Stirn, schwere Arbeit, hart gearbeitet, illegale Arbeit, Arbeitsfront, Arbeitssklaven, Arbeitsdienst, erwerbstätig, Werktätige, Reichsarbeitsdienst, Zivilarbeiter, Frontarbeiter, deutsches Arbeitertum, Freiheit der Arbeit, Zwangsarbeit, Arbeitsfrontbonze, Rüstungsarbeiter, Reichsarbeitsführer, Tätigkeit, Frauenarbeitseinsatz, Aufklärungsarbeit, Heimarbeiter, Erziehungsarbeit, Arbeiterschaft, Arbeiterbewegung, Arbeitslosigkeit, Arbeiterorganisationen, harte Arbeit (geleistet), Massenarbeit, Aufbauarbeit, Arbeitsleistung, Soldat der Arbeit, Arbeitsehre

1

Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen

Die Beschäftigung mit dem »hoch aggregierten und hoch abstrahierten begrifflichen Konstrukt« Arbeit (Kocka 2010: o.S.) erfordert eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Arbeitsverständnissen in Philosophie, Wirtschaft und

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Nicole M. Wilk

Gesellschaft. Arbeit ist ein Schlüsselwort, das für gesellschaftliche und politische Probleme ab den 1920er Jahren verstärkt aufgegriffen wird. Es beinhaltet Grundfragen, die von verschiedenen Akteursgruppen höchst unterschiedlich beantwortet werden (vgl. Liebert 2003). Insofern besitzt der Ausdruck Arbeit aus korpuslinguistischer Sicht je nach sprachlicher Umgebung und Verwendungsweise verschiedene »attitudinal associations and implications« (White 2011: 15). Als roter Faden zieht sich ein etymologisch angelegter Bedeutungsaspekt durch die deutsche Sprach- und Kulturgeschichte, der für die NS-Zeit entscheidend wird: Das Lexem Arbeit geht in seinen indogermanischen Wurzeln auf die Bedeutung ›Mühe‹, ›Plage‹ und ›schwere körperliche Anstrengung‹ zurück, wodurch Arbeit in den Gegensatz zu Spiel und Muße gerät (vgl. Voß 2010: 25; Pfeifer 1993).1 Bereits in der christlich geprägten Vormoderne wird Muße als Gefahr für die Seele begriffen und Arbeit zu einer obligatorischen Lebenskomponente (»ora et labora«) (vgl. Buggeln/Wildt 2014: IX). Bezogen auf das einzelne Individuum garantiert die mühevolle und kräftezehrende Arbeit dem arbeitenden Subjekt seit der Frühen Neuzeit seinen Platz in der Gesellschaft. Arbeit ist mit Persönlichkeitsrechten und gesellschaftlicher Anerkennung verbunden. Dies gilt allerdings nur für die Masse oder das Volk, denn – wie es bei Schiller heißt – Ehrt den König seine Würde, ehret uns der Hände Fleiß. (Schiller zitiert nach Kocka 2010: o. S.) In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft setzt sich ab 1800 die lohnabhängige Arbeit als dominante Arbeitsform durch (vgl. Buggeln/Wildt 2014: Xf.). Sie verbindet sich mit einer protestantischen Ethik, die in ihrer extremen Ausgestaltung den Sinnspruch »Wer nicht arbeitet, soll nicht essen« geprägt hat.2 Er wird im Nationalsozialismus zur Grundlage für den Anspruch auf Zuteilung. Im Umkehrschluss wird der, der nicht arbeitet und der Volksgemeinschaft zur Last fällt, aus dieser ausgeschlossen, und das bedeutet getötet: »Diese biologischutilitaristische Definition der ›Volksgemeinschaft‹ war keine vornehmlich inkludierende Ordnung, sondern eine radikal exklusive, biopolitische Ordnung tödlicher Ungleichheit« (Wildt 2009: 40). Infolge der Industrialisierung trennten sich die gesellschaftlichen Sphären der Heim- und Lohnarbeit. Auch die Geschlechterordnung richtet sich an dieser Trennung aus. Das bürgerliche Selbstverständnis etabliert durch die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung das male-breadwinner-Modell in der gesamten kulturellen Sphäre. Durch diese Entwicklung bildete sich mit der Machtposition 1 Anderson et al. (1984: 23f.) beschreiben die Bedeutungsentwicklung des polysemen Lexems arbeit als semantischen Umschichtungsprozess. Bis zum Frühneuhochdeutschen weicht das Bedeutungsmerkmal ›mühseliges Dulden‹ der semantischen Nuance ›berufliche Tätigkeit‹. 2 Im Puritanismus und Calvinismus gilt Arbeit sogar als Selbstzweck des Lebens. Es werden sowohl körperliche als auch geistige Arbeit als asketische Mittel empfohlen (vgl. Guttandin 1998: 150).

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Arbeit

des Mannes eine Maskulinität heraus, die den Mann in der öffentlichen Sphäre verortete und als Beschützer von Frau und Kind entwarf (vgl. Buggeln/Wildt 2014: XI). In der bürgerlichen Lebensform ist die aus der Arbeit abgeleitete Diszipliniertheit vom individuellen Subjekt verinnerlicht. Es entsteht ein bürgerliches Selbstbewusstsein in Abgrenzung von Adel und Arbeiterschaft. In seiner Fundamentalkritik am Kapitalismus bezeichnet Karl Marx die Fabrikarbeit als menschenunwürdig und entfremdet, da der Wert, den der Arbeiter schafft, vom Kapitalisten ungerechtfertigt als Mehrwert angeeignet wird (vgl. Buggeln/Wildt 2014: X). Aus dieser Perspektive vertieft der Nationalsozialismus die Spaltung zwischen Arbeitern der Faust und Arbeitern der Stirn, die er vorgab zu beseitigen, indem er die Arbeiterklasse zum Zweck der Aufrüstung ausbeutete. Göring prägte als Teil seiner Aufrüstungsstrategie intern das Motto Kanonen statt Butter (vgl. Hachtmann 2010: 6). Gleichzeitig aber avancierte der »Slogan« Arbeiter der Stirn und der Faust zur »Beschwörung der Gemeinschaft aller Schaffenden« (Schmitz-Berning 2007: 40, Hervorhebung im Original). Dieser Widerspruch, d. h. die angedeuteten Kriegspläne Hitlers und die Zusammenarbeit der NS-Funktionäre mit den Großindustriellen, wurde zur Zielschreibe des linken (Exil-)Widerstands ab 1933. Zudem führten die drastischen Mangel- und Hungersituationen die Arbeiter der Faust zunehmend zu einer »Hinnahme des NS-Regimes« (Lüdtke 1993: 182, Hervorhebung im Original) und waren laut Sopade-Berichten nicht stark genug, um dem Regime gefährlich zu werden (vgl. Lüdtke 1993: 181). Bereits im 19. Jahrhundert wurde der Topos der nationalen Arbeit für den Arbeiter verpflichtend, indem sein Dienst an der Nation zur Ehre aufgrund geleisteter Arbeit stilisiert wurde. Der Vorstellung vom schaffenden Deutschen wird im völkischen Denken des Nationalsozialismus das Stereotyp des raffenden Juden gegenübergestellt. Der nationale Sozialismus mit der Arbeiterschaft an seiner Basis schließt einen bestimmten Teil des Kapitalismus durch rassistische Diskriminierung aus, während er einen anderen, auf die Produktivkraft bezogenen, nutzbar macht. Hierbei korrespondiert der in den 1920er Jahren entwickelte nationalsozialistische Arbeitsbegriff mit der Arbeitsauffassung der sozialistischen Arbeiter, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großem Stolz auf ihre Arbeitsleistung ein Stück »deutsche Qualitätsarbeit« schufen (vgl. Buggeln /Wildt 2014: XIII). Die leistungsbetonte Sicht auf Arbeit findet sich auch bei den AkteurInnen der integrierten Gesellschaft wieder. Seit der Ökonomisierung und Spezialisierung der Arbeit und der damit verbundenen Arbeitsteilung im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägten die Vorstellungen und Erfahrungen von Arbeit nicht nur die gesellschaftspolitischen Verhältnisse, sondern auch das Selbstverständnis der Arbeiter und Angestellten. Trotz aller Versuche einer sprachlichen Aufwertung von Arbeit kristallisierte sich der nationalsozialistische Arbeitsbegriff nicht so sehr als

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Hochwertwort, sondern vielmehr als Mittel einer tiefgreifenden Spaltung der Gesellschaft heraus. Die vermeintliche Fürsorge der Nationalsozialisten und ihre Bestrebungen, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit zu beseitigen, verschlechterten de facto viele Arbeitsbedingungen, verringerten Löhne und führten zur »Versklavung« der deutschen Arbeiter, die im Rahmen der militärischen Organisationsprinzipien der neuen Einheitsgewerkschaft (Deutsche Arbeitsfront) als Arbeitssoldaten unter der Führerschaft streng hierarchisch organisierer Betriebe standen. Im Zuge einer rassistischen und insbesondere antisemitischen Wirkungsdimension des Arbeitsbegriffs wurden Nicht-Arier (Juden, »Zigeuner«) sowie »Asoziale«, »Erb- und Geisteskranke«, »Behinderte« und in besonderen Fällen auch »Bummelanten« von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen und auf Anordnung als Zwangsarbeiter in (Konzentrations-)Lagern untergebracht. Für sie bedeutete Arbeit Leid bis zur Vernichtung. Im Laufe der Kriegszeit kehrt sich die bellizistische Metaphorik mit dem Typus des Arbeitssoldaten im Zentrum um. Nun wird der Kriegsdienst als Arbeit ausgegeben. Die als Arbeitseinsatz getarnten kriegerischen Handlungen haben ebenfalls kaschierende Funktion: Sie verschleiern den Tod und das Sterben an der Front (vgl. Buggeln/Wildt 2014: XXXI).

2

Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung

Wenngleich Zentralbegriff der Wirtschaft ist Arbeit in der Zeit zwischen 1933 und 1945 semantisch für viele Lebensbereiche elementar. Die Bezeichnung Arbeit umfasst die lohnabhängige Erwerbsarbeit ebenso wie die unbezahlte Hausarbeit und die politische Parteiarbeit. Allerdings präferieren insbesondere AkteurInnen der linken Diskurspositionen für lohnvermittelte Arbeitsformen Bezeichnungsweisen mit Tätigkeit wie Werktätigkeit und Erwerbstätigkeit. In der Zeit zwischen 1933 und 1945 treten Arbeits- und Tätigkeitslexeme im Wesentlichen in den folgenden Handlungs- und Wissensfeldern auf: a) Militär und Nation, b) Leistungsorientierung des Individuums und der persönlichen Ehre (Arbeitsethos), c) Klassenbewusstsein, d) soziale Exklusion und rassistisch motivierte Ausgrenzung sowie e) Parteiorganisation. Die kommunikativen Funktionen sind in einer globalen Sicht sowohl nach innen (Markierung sozialer/ religiöser/ nationaler Zugehörigkeit) als auch nach außen gerichtet (Ausgrenzung und aggressiver Eroberungskrieg). Sie differenzieren sich in den Perspektiven der verschiedenen Akteursgruppen unterschiedlich aus: Für die Vertreter des NS-Apparats ist eine Eingrenzung auf den rassistisch-völkischen Kontext feststellbar, die sich in den Lesarten a) und d) manifestiert. Demgegenüber nimmt b) in der Pflichtenorientierung und Tugendhaltung der integrierten Gesellschaft eine ganz andere Ausprägung an als in den Denkmustern der Opferbereitschaft des NS-

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Arbeit

Apparats. Pragmatisch besehen sind hier sogar zwei ganz unterschiedliche Bedeutungsaspekte hervorgehoben: Zum einen die mühselige Arbeit, die möglicherweise durch (Rationalisierungs-)Technologien überwunden wird, zum anderen die Härte der Arbeit, die als Selbstzweck auf die Erfüllung einer politischen, kulturellen o. ä. Vision zielt (nationale Freiheit, christliche Erlösung etc.). Die auf den Klassenkampf bezogene Bedeutungsdimension c) ist für die linken Gruppierungen des Widerstands kennzeichnend. Auch e) tritt vielgestaltig sowohl in den NS-Dokumenten als auch für den Widerstand auf. Dort entwickelt sich mit der Selbstbezeichnung der Gruppenaktivität als illegale Arbeit ein sprachlicher Marker für eine genuin widerständige Haltung.

3

Akteursspezifizierte Gebrauchsdarstellung

3.1

NS-Apparat

3.1.1 Funktional-abstrahierende Einordnung Trotz aller »Anbiederungsversuche« wurden die Gewerkschaften am 2. Mai 1933 zerschlagen (vgl. Hachtmann 1999: 69) und der 1. Mai ab 1934 zum gesetzlichen Feiertag erklärt, dem »Tag der nationalen Arbeit«. An die Stelle der Gewerkschaft trat die Deutsche Arbeitsfront (DAF). Sie war nach dem ideologischen Führerprinzip organisiert und unterstand dem Reichsorganisationsleiter Robert Ley. Die rechtliche Grundlage dieser Neuorganisation schuf das am 20. Januar 1934 in Kraft tretende »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« (Gesetz Feiertag 1933), das Unternehmer als Betriebsführer einsetzte und die absolute Unterordnung der arbeitenden Gefolgschaft bestimmte. Der Ausdruck Gefolgschaft, der die Vorstellung erzeugt, alle würden dem Betriebsführer die Treue halten, wird von Klemperer als Teil einer kriegsheischenden Rhetorik erkannt, die die Rolle der Arbeiter grundlegend verändert hat: Mit altdeutscher Tradition, das machte sie zu Vasallen, zu waffentragenden und zur Treue verpflichteten Gefolgschaftsleuten adliger, ritterlicher Herren. War solche Kostümierung ein harmloses Spiel? Durchaus nicht. Es bog ein friedliches Verständnis ins Kriegerische. (Klemperer zitiert nach Hachtmann 2010: o. S.)

Zum Prototyp des deutschen Arbeiters wird der Frontarbeiter, von Ley beschrieben als eine sichtbare Synthese zwischen Arbeiter und Soldat und damit auch sichtbarer Ausdruck unseres neuen, revolutionären deutschen Arbeitertums (Ley zitiert nach Hachtmann 2010: o. S.). Arbeit und Krieg bildeten somit im Nationalsozialismus keinen Gegensatz, sondern waren als Ausdruck des Lebenskampfes »zwei Seiten derselben Medaille« (Hachtmann 2010: o. S.). Die militaristische Aufladung des Arbeitsbegriffs verwandelte die Arbeiterschaft in

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eine »Manövriermasse« (Hachtmann 2010: o. S.), deren Arbeitseinsatz vollständig nationalen Interessen unterlag (vgl. Linne 2014). Passend zu dieser Auffassung wird innerhalb der NSDAP der im 19. Jahrhundert analog zu Bürgertum verwendete und mittlerweile ungebräuchlich gewordene Ausdruck Arbeitertum reanimiert, der die Bezeichnungen Arbeiterschaft und Proletariat ersetzen sollte. Das Lexem Arbeitertum wird 1936 in Meyers Lexikon aufgenommen und mit der Erläuterung versehen, dass die Begriffsschöpfung mit dem Ziel der Bildung einer wirklichen Leistungsgemeinschaft aller Deutschen den klassenkämpferische(n) Begriff des Proletariats überwindet (zitiert nach Schmitz-Berning 2007: 42). Der für die Leistungsgemeinschaft eintretende Opfergeist, mit dem die Deutschen nicht nur ihrer Lohnarbeit nachgingen, sondern auch die Zumutungen der Notstandsarbeiten, des Arbeitsdienstes oder der Landhilfe ertrugen, entstand durch eine wirksame Propaganda. Sie richtete sich vor allem auf die Arbeitsbeschaffung, denn die Beseitigung der Arbeitslosigkeit war das große Versprechen der Nationalsozialisten und Arbeitslosigkeit ihr personifizierter Feind. Die Arbeitsbeschaffung wurde ebenfalls in militaristischer Form als Arbeitsschlacht zu einem wichtigen Faktor für die »Volksgemeinschaft« (vgl. Humann 2014: 71). Mit Parolen wie Frauen! Millionen Männer ohne Arbeit3 oder Arbeit, Freiheit, Brot4 präsentiert sich die NSDAP in den 1920er Jahren auf ihren Wahlplakaten als neue Arbeiterpartei. Die junge NS-Regierung versicherte passend dazu, dass sie nicht so sehr beseelt als der Wille, nun mit ganzer Kraft sich dem Aufbau der Wirtschaft zuzuwenden und der Arbeitslosigkeit weiter zu Leibe zu rücken. (Heinrich Klinkenberg am 12. Juli 1933 zitiert nach Minnerup 1989: 229). Hitlers Programme zur Arbeitsbeschaffung waren zwar vom Volumen her beträchtlich höher als die Maßnahmen der Weimarer Zeit (vgl. Humann 2014: 72), führten jedoch nicht immer zu einer eindeutigen Verbesserung der Lebenssituation. So beschreibt ein Drogist in einem persönlichen Bericht, er habe ein Leben führen müssen, welches dem eines Erwerbslosen nicht nachstand. Wenn der Erwerbslose nur den Gedanken im Kopfe hatte, wie bekomme ich Arbeit und wie komme ich mit meinem Gelde aus, so hatte ich weiterhin den Gedanken, wie bezahle ich bei dem enorm zurückgegangenen Umsatz auch noch die Schulden. (Seyffardt 1934: 2)

Es ist zu vermuten, dass die Gemeinschaftserfahrung, insbesondere im Freiwilligen Arbeitsdienst und bei den Notstandsarbeiten, einigen Menschen Zugehörigkeit vermittelte und Zuversicht zurückgab. Sie tat es auf jeden Fall aus Sicht der Propaganda. Die Nationalisierung der Arbeit hatte zusammen mit der Propaganda vom Volksstaat zum Ziel, alle sozialen Unterschiede einzuebnen. Dass

3 https://calisphere.org/item/af05b803df5e7c0be8cc97ae62a2743d/, Stand: 19. 12. 2021. 4 https://calisphere.org/item/7d19e5e92db31186c29e08cf2d8b3946/, Stand: 19. 12. 2021.

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Arbeit

diese Strategie mitunter aufging, belegen Beschreibungen der soziale Gleichheit stiftenden Wirkungen von NS-Aktivitäten in der privaten Schriftlichkeit. Aber auch in 1000 kleinen Beispielen zeigt sich immer wieder in vielen Situationen der echte Gemeinschaftssinn des Einzelnen! Wenn der Handarbeiter beim Schanzen u. Auswerfen des Grabens dem Studienrat oder Mediziner, der diese Arbeit nicht gewöhnt war, den grössten Teil »so nebenbei« mitmachte, oder aber die zufällig in einem Winkel der Tasche gefundene Zigarette teile, so waren das immer wieder typische Beispiele herzlichsten Gemeinschaftssinns (Raunis 1934: 3).

Die Entbehrungen, die jemand für den Arbeitseinsatz auf sich nahm, wurden als selbstverständliche Opfer verstanden, denn – dies indiziert im folgenden Beleg die Modalpartikel ja – Nationalsozialist sein heißt ja opfern (Kohlenberg 1934: 8). Solange die Erfahrung der Arbeit vom Geist der Volksgemeinschaft durchpulst und durchflutet wird, kann sie, so der DAF-Führer Ley am 13. Mai 1939, auch nicht schaden (Ley zitiert nach Hachtmann 2010: o. S.). Der nationalsozialistische Machtapparat sah nicht nur freiwillige und entlohnte Arbeit vor. Zum Reichsarbeitsdienst mit seinem Slogan Arbeit adelt waren alle jungen Menschen zwischen 18 und 24 für ein halbes Jahr verpflichtet. Hier verschränken sich Erziehung, Militarismus und Nationalismus (vgl. Patel 2003) und die Bezeichnung Arbeiter gewinnt analog zu Soldat den Status eines Ehrentitels: Der Name Arbeiter soll ebenso wie der Name Soldat an die vornehmsten Pflichten jedes Deutschen erinnernder Ehrentitel werden (Konstantin Hierl 1932 zitiert nach Brückner 1998: 124). Hitler siedelt die für das Volk geleistete Arbeit im Kern der Volksgemeinschaft an und nennt die Gründung des Reichsarbeitsdienstes die stolzeste Tat, die der Nationalsozialismus zur Aufrichtung einer kommenden deutschen Volksgemeinschaft vollbracht hat (Hitler 1937: 719). An anderer Stelle heißt es, der Reichsarbeitsdienst ist ein großes Unterfangen, nun ein ganzes Volk zu diesem neuen Arbeitsbegriff und zu dieser neuen Arbeitsauffassung zu erziehen (Hitler 1934: 449). Diese Auffassung definiert Hitler in einer Rede vor Jugendlichen als militärische: Wenn ich Sie vor mir sehe als die Front der Deutschen Arbeit, dann, bitte, ermessen Sie den Begriff des Wortes ›Front‹. Front heißt ein Wille, heißt ein Entschluß, Front heißt ein Ziel und heißt eine Tat! (Hitler 1936: 643).

Die Verschränkung der beiden Bedeutungsdimensionen ›Gemeinschaft‹ und ›Krieg‹ im Arbeitsbegriff kristallisiert sich auch in der hochfrequenten Koordination Kampf und Arbeit, die sich bis in die Kriegsjahre hinein stark verfestigt und zunehmend mit spirituell erhöhten Stimmungen aufgeladen wird. Wer von uns möchte auch nur einen Tag in diesen harten, ewig von Kampf und Arbeit erfüllten Jahren missen? Wer von uns empfände es nicht als das höchste Glück, ja als den

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eigentlichen Inhalt und die Erfüllung seines Lebens, um ihn gewesen zu sein, als er eine Revolution gewann, und jetzt um ihn zu sein, wo er dabei ist, den großen Krieg um Deutschlands Leben und Freiheit zu gewinnen (Goebbels 1941: 468).

Glück und Erfüllung des Lebens zielen auf den nationalen Gedanken: Es geht um Deutschlands Leben und Freiheit. Die Verkopplung des individuellen Arbeitseinsatzes mit dem nationalen Gedanken geschieht über die im 19. Jahrhundert als Verfleißigung herausgebildete Funktion von Arbeit als Ausdruck des (individuellen wie nationalen) »Lebenskampfes«. Aber er [der stolzeste Sieg, N.W.] wird uns nicht geschenkt; wir müssen ihn uns durch stetes Ausharren in Kampf und Arbeit verdienen. Niemand weiß besser als wir, wie schwer und hart das ist und wie viele bittere Opfer es erfordert (Mosse 1933: 303).

Im preußisch-protestantischen Aufklärungsgeist wird Arbeit zur deutschen Tugend schlechthin (vgl. Brückner 1998: 61). Ihr sozialer Distinktionswert begründet das Selbstbewusstsein des Bürgertums bezogen auf die Leistungsorientierung des Individuums und seiner persönlichen Ehre. Gleichsam wird im Zuge der Umgestaltung des Sozialstaats auf der Basis der Erwerbsarbeit der gesellschaftliche Status an die Arbeitsleistung gekoppelt. Erst in diesem Zusammenhang kommt in den 1880er Jahren der Begriff der Arbeitslosigkeit auf. Nur wer arbeitet, gewinnt die Chance auf Anerkennung und Prestige. Für das nationalsozialistische Arbeitsethos wird das begriffliche Konzept der (Arbeits-) Ehre zentral (vgl. Hachtmann 2010: o. S.), um die Arbeit des einzelnen mit dem Konzept der Nation zu verknüpfen. In diesem Sinne wird Leys Proklamation von einem Zeitgenossen zitiert: Der Begriff der sozialen Ehre steht im Mittelpunkt des nationalsozialistischen Denkens, gibt jedem einzelnen das frühe Bewußtsein, als gleichwertiges Glied mitzuarbeiten am Aufbau der Nation und reißt alte Schranken nieder, die bisher die Bewertung nach Geld und Gut im deutschen Volke aufrichteten. Dieser Begriff der sozialen Ehre, der inneren Anständigkeit, bildet das Fundament des neuen Gesetzes, das die Vollendung bringen wird der Heimkehr des deutschen Arbeiters in die Nation, die endgültige Verwirklichung der Volksgemeinschaft und die unlösliche Zusammenschweißung aller Deutschen zu einem untrennbaren Volk (Ley zitiert nach Schulz 1941: 12).

Die kollokativen Verknüpfungen Arbeit leisten/geleistet, schwere/harte Arbeit sowie Arbeit und Fleiß/Mühe/Leistung zeigen, dass der Bedeutungsaspekt von Arbeit, der diese nationale Integration erfüllt, in der individuellen Leistungsbereitschaft bzw. Leistungsfähigkeit liegt. Der lexikalische Kookkurrent leisten gewinnt insbesondere in Form des Partizips geleistet eine NS-spezifische semantische Prosodie des Superlativischen über musterhafte Attribute wie ausgezeichnete, phantastische, großartige, vorbildliche, übermenschliche oder beachtliche [Arbeit geleistet]. Für die Verbalphrase scheint die Zeitangabe obligatorisch zu sein, die Füller präferieren den semantischen Aspekt des Enormen:

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Man war Tag und Nacht oder den ganzen Tag bei der Arbeit.5 Eine besondere Festigkeit besteht zwischen den Adjektiven schwere und harte und dem NN Arbeit. In verschiedenen pragmatischen Konstellationen treten die Merkmale der ›Ehre/ Ehrfurcht‹ hinzu, die sich jemand durch harte Arbeit verdient, aber auch der ›Investition, die sich auszahlt‹. So solle der Junge der Stadt […] mit Dank und Ehrfurcht auf die harte Arbeit des Bauern blicken, der dir dein Brot schafft und den Hunger stillt! (Belstler 1943: 32) und müsse ein ganzes Volk seine Fehltritte spät durch harte Arbeit und opfervollen Kampf wiedergutmachen. Es hat seine Rechnung mit Zins und Zinseszins zu begleichen, ob es will oder nicht (Goebbels 1942: 100). Vor dem Hintergrund dieses schicksalsgetränkten Arbeitsideals der Härte und Diszipliniertheit, die sich an der entbehrungsreichen Situation des Soldatenlebens bemisst, wird die Ernsthaftigkeit von NS-typischen Sprichwörtern wie Arbeit bringt Segen oder Arbeit macht frei deutlich, die ab der Nachkriegszeit auch als Zynismen gedeutet wurden (vgl. Brückner 1998: 30). Selbst in seinen Tagebüchern entwirft sich Goebbels als jemand, der in preußischer Tugendhaftigkeit bis spät in die Nacht arbeitet oder vor dem noch viel Arbeit liegt. Im Einklang mit einem bürgerlichen Wertesystem stellt er unter Verwendung der formelhaften Beschreibung viel zu tu(e)n sowohl seinen Einsatz am Schreibtisch als auch sein Geschick bei Verhandlungen und Zusammenkünften dar.6 Auch Hitler selbst betont in seinen Reden kurz nach der Machtübernahme die gewaltige und gigantische Arbeit, mit der er die großen Werke dank der Zusammenarbeit vieler legitimiert. Dies ist im Subtext auch gegen die Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit der Weimarer Demokratie gerichtet: Ich weiß, daß diese gigantische Arbeit nur denkbar ist durch die Zusammenarbeit vieler, daß dieses Werk nie hätte entstehen können, wenn nicht, angefangen vom Kabinett, der Reichsregierung, über die Deutsche Reichsbank und die Deutsche Reichsbahn die Erkenntnis der Größe dieses Werkes Platz ergriffen hätte, und der Wille, dieses Werk zu verwirklichen (Hitler 1933: 302).

Die »völkische Perversion von ›deutscher‹ Arbeit« (Brückner 1998: 60) gewinnt eine rassistische Dimension über das Personenstereotyp des arbeitsscheuen Juden und eine sozial exkludierende Dimension über das Personenstereotyp des Bummelanten, des Finanzkapitalisten und des Intellektuellen (vgl. Schmid 2009). Die Adjektivkomposition zeigt hier typische Antonymrelationen wie arbeitsfähig–arbeitsunfähig, arbeitswillig–arbeitsunwillig und arbeitsam–arbeitsscheu. Die Pflichterfüllung für die Volksgemeinschaft trägt einerseits völkisch-rassische 5 Allein in den Tagebüchern von Goebbels (1923–1945) kommt die Phrase den ganzen Tag Arbeit 24 Mal vor. 6 Den Hinweis auf diese idiolektal-eigensinnige Konstruktion in den Goebbels-Tagebüchern verdanke ich Heidrun Kämper.

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Züge, weil einige vom regulären Arbeitsleben systematisch ausgeschlossen werden; sie führt andererseits zur Abwertung des einzelnen Arbeiters, dessen Werk nur insofern zählt, als es der Vergemeinschaftung förderlich ist (vgl. Hachtmann 2010: o. S.). In der rassistisch-biologistischen Logik bedeutet dies: Der Erfolg kommt aus der Leistung. Und die Leistung kommt aus dem Können und das Können kommt aus den Fähigkeiten und die Fähigkeiten kommen aus der Rasse (Ley 1940, Wortlaut einer Rede vom 22. August 1940, 00.10–00.18). Auch Arbeit in ihrer Bedeutung als Werk und Produkt gewinnt rassistische bzw. antisemitische Züge. Die schöpferische Arbeit ist »dem Arier« vorbehalten, während »der Jude« das Gegenteil von Arbeit verkörpert, d. h. Kapital, Wucher und Ausbeutung. Ihm fällt das »raffende Kapital« im Unterschied zum »schaffenden Kapital« des germanischen Menschen zu, der sowohl Arbeiter der Faust als auch Arbeiter der Stirn sein kann. Lexikalisch werden diese nationalen Unterschiede anhand der Adjektivattribuierung von Arbeiter und Arbeitskräfte deutlich: deutsche, ausländische, volksdeutsche, fremdvölkische, polnische, tschechische, italienische usw.7 Die rassistische Kehrseite des Konzepts der »nationalen Arbeit« ist Zwangsarbeit und Vernichtung (vgl. Löw 2014: 299). Über diese Lesart schweigen die Belege. Der Sinnspruch Arbeit macht frei ist programmatisch als brutale und oftmals tödliche Erziehungsmaßnahme aufzufassen.8 Spuren des Diskurses über Euthanasie-Programme sind am Rande und in ableugnender Weise erkennbar. So warnen die Meldungen aus dem Reich vor den Aufdeckungen des katholischen Widerstands, die nicht folgenlos geblieben sind: Es hätten sich zum Beispiel viele Volksgenossen geweigert, an der Röntgenreihenuntersuchung teilzunehmen, da sie nach den Hetzpredigten des Bischofs von Münster und des Bischofs von Trier u. a. eine Ausscheidung (Euthanasie) als »unproduktive« Menschen befürchteten (Meldungen 1942: 3455).

Schließlich wird die eigene Arbeit an der völkischen Umwertung in der NSDAP und ihren Institutionen in vielfältigen Komposita wie Propagandaarbeit und Parteiarbeit eingefangen. Die tiefgreifenden Umwälzungsbestrebungen der nationalsozialistischen Ideologie schlagen sich ausdrucksseitig in der Aufbau- und der Erziehungsarbeit nieder.

7 Frauen, Mütter und Jugendliche werden nicht als Arbeiter/innen bezeichnet, sondern als Werktätige, seltener auch als Erwerbstätige. 8 Brückner 1998 gelingt es, die Herkunft der KZ-Torinschrift Arbeit macht frei bis zu einer Buchpublikation aus dem Jahr 1872 zurückzuverfolgen.

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3.1.2 Diskussemantisches Netz Arbeit erweist sich als Schlüsselwort der NS-Propaganda. Es schließt semantisch die Nationenidee an die sozialistisch orientierte Sprach- und Wertorientierung der Arbeiterschaft an. Die Einheitsgewerkschaft der Deutschen Arbeitsfront (DAF) wurde mit Einführung der Vertrauensräte zunächst begrüßt, das rassistische Programm dahinter, das vokabularisch im Gewand des sozialen Ausgleichs erscheint, jedoch erst später von Teilen der Arbeiterschaft erkannt. Mit ihrem Ziel der Bildung einer Volks- und Leistungsgesellschaft stellt die DAF institutionell das Bindeglied zwischen der NS-Gemeinschaft und dem seit dem 19. Jahrhundert virulenten Topos der nationalen Arbeit dar. Durch die Nationalisierung entstehen NS-typische Haltungen: »Aus dem ›Recht auf Arbeit‹ wurde eine ›Pflicht zur Arbeit‹, stilisiert zur ›Ehre der Arbeit‹« (Buggeln/Wildt 2014: XII). Die Bedeutungsdimensionen von Leistung und Ehre schlagen sich in der Kollokation Arbeit geleistet mit elativischem bzw. superlativischem Adjektiv nieder sowie in der spezifischen Adjektiv-Nomen-Kollokation schwere/harte Arbeit. Mit dieser semantischen Auszeichnung vollzieht sich zugleich der (rassistische) Ausschluss gegenüber denen, die kein Werk schaffen, und die dadurch sogar ihr Lebensrecht verwirken.

3.2

Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft

3.2.1 Funktional-abstrahierende Einordnung In den heterogenen Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft bilden der drohende Verlust des Arbeitsplatzes und (länger andauernde) Arbeitslosigkeit mitsamt den Nöten und Sorgen um die finanzielle Absicherung in Gegenwart und Zukunft die häufigsten Anlässe, um in Briefen oder in Tagebuchform über die eigene berufliche Entwicklung zu berichten. In der privaten Schriftlichkeit und in belletristischen Texten finden sich hochfrequent zeittypische sprachliche Prägungen mit dem Lexem Arbeit, die kaum von der rassistischen Ehr- und Leistungssemantik des NS-Apparats überlagert werden. Neben diesem Spektrum an festen Kollokationen tritt in ausgewählten kommunikativen Gattungen wie der Beschwerde9 oder dem Gesinnungsaufsatz der propagandistische Bedeutungskontext von Arbeit hervor. NS-typische Komposita wie Arbeitsschlacht und Arbeitskampf sind hingegen niedrigfrequent. In einigen Verbindungen von Arbeit und Glück/Erfüllung/Freude o. ä. sind deutliche Anknüpfungspunkte für eine NS-konforme Instrumentalisierung der Arbeitshaltung zugunsten des militarisierten Dienstes an Volk und Nation (Kampfesfreude) erkennbar. 9 s. den Beitrag ›Sich beschweren‹ in Teil 1.

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3.2.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster In belletristischen Texten zwischen 1933 und 1945 hat Arbeit einen festen Platz im Tagesablauf und kommt als Wort daher häufig zur zeitlichen Gliederung der Narration vor. Dies geschieht in temporalen Ereignisangaben wie bei der Arbeit oder durch die inchoative Verbalphrase sich an die Arbeit machen. Zudem halten es viele AkteurInnen der integrierten Gesellschaft für mitteilenswert, wenn die Anforderungen der Arbeit eigenen oder fremden Interessen im Weg stehen, d. h. Aktivitäten verhindern oder verzögern. Diese Musterbildung kristallisiert sich vor allem in der Briefkommunikation heraus. Dort wird das hohe Arbeitspensum als Begründung oder Erklärung für zeitliche Neuordnungen u. ä. herangezogen (dass du mein Schweigen entschuldigst, denn ich habe verdammt viel Arbeit, Guicking 1943: o. S., Feldpostbrief vom 26. März 1943). Berichtet wird darüber, dass viel Arbeit anfällt, etwas viel Arbeit macht, dass man viel Arbeit hat oder bekommt oder dass es generell viel Arbeit gibt. Der Adjektivkollokator viel tritt zu den Nomen-Verb-Verbindungen musterhaft hinzu und markiert den Angelpunkt einer Erklärung oder Begründung. Arbeit wird erledigt bzw. abgeliefert, wenn man eine bestimmte Zeit damit zugetan hat. Zeitfüller wie unentwegt, viel (gearbeitet) oder die Angabe konkreter Uhrzeiten scheinen obligatorisch zu sein. Die Angabe zeigt semantisch eine Präferenz für das hohe Ausmaß wie z. B. in einem Tagebucheintrag von Lore Walb: Ich habe in diesen Wochen zeitlich außerordentlich intensiv gearbeitet – keine unnötige Nebenbeschäftigung oder Ablenkung (Walb 1940: 214). Auch in den Romanen und Tagebüchern der Akteursgruppe, die nicht dem NS-Apparat angehörte, sind Menschen gelegentlich emsig, fleißig oder eifrig bei der Arbeit. Auch können es Frauen sein, die selbst jetzt noch, d. h. gegen Abend noch fleißig arbeiten, im Sinne einer bürgerlichen Arbeitsauffassung wird in einem Roman von Höfler hervorgehoben, dass ihnen die Arbeit Freude bereitet: Fleißig arbeiten die Frauen selbst jetzt noch, gegen Abend. Der helle Schweiß steht ihnen auf der Stirn, aber sie sind fröhlich und guter Dinge, wie ihre sehr lebhafte Unterhaltung beweist (Höfler 1937: 167).10 Auch wenn es sich um dieselbe Adjektiv-Verb-Kollokation handelt (fleißig arbeiten) und die kommunikative Wirkung ebenfalls als Fremd- oder Selbstaufwertung beschrieben werden kann, liegt hier weder eine Rückbindung an einen nationalen Arbeitsbegriff noch an ein nationalistisches Ehrkonzept vor. Auch die völkischen Dualismen in Bezug auf Arbeit wie Arbeiter der Faust vs. der Stirn oder deutsche vs. fremdvölkische Arbeiter werden nicht übernommen. Stattdessen finden sich vielfältige Charakterisierungen wie körperliche und

10 s. den Beitrag ›Geschlechter und Generationen‹ in Teil 1.

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geistige Arbeit, aber auch deutscher, ungelernter, klassenbewusster, junger oder englischer Arbeiter. Arbeit wird in den Texten der integrierten Gesellschaft oftmals erledigt oder abgeliefert, um sich anderen Dingen zu widmen. Arbeit tritt nicht in einen ideologisch erhöhten Prozess zur Gewinnung einer ehrenwerten Gesinnung, sie ist erfüllend (die Tage sind wieder ausgefüllt mit viel Arbeit, Höfler 1937: 74) und hat in der Freizeit ihr Gegengewicht frei nach dem Motto Nach getaner Arbeit ist gut ruhn (Zöberlein 1931: 124). Adjektivkollokatoren im Umfeld prädikativer Konstruktionen besitzen eine hohe Tokenvariabilität und eine ausgeglichene Antonymrelation, was auf einen vielfältigen Arbeitsbegriff mit auch objektbezogenen Aussagen hindeutet: Die Schreibenden beziehen sich nicht nur auf Bewertungen, sondern auch auf Sinn und Inhalt der Arbeit, die sie beschreiben,11 Adjektivkollokatoren werden kaum genutzt. Auch für die prädikativen Satzmuster ist eine Verfestigungstendenz für bestimmte Adjektive nicht erkennbar. Als Brückenkonstruktion zur NS-propagandistischen Lesart fungiert das Phrasem ganze Arbeit leisten/verrichten/machen/leisten, dessen idiomatischer Kern ursprünglich auf eine Gesamtleistung zielt, die Stolz weckt oder ins Schrecknis gewendet wird, wenn niedergebrannte Dörfer erkennen lassen, dass der Krieg wirklich ganze Arbeit geleistet hat (Becker 1941: o. S.). Der Stolz, ganze Arbeit zu leisten, wird auch sarkastisch auf das gründliche Morden der ganzen Familie bezogen. Es zeigt sich darin auch, wie eingeschliffen, d. h. konventionalisiert und in gewisser Weise gehumanisiert das Phrasem ganze Arbeit leisten ist. Friedrich Recks Tagebucheintrag vom 16. August 1944 über die Verurteilung der u. a. am Attentat und versuchten Staatsstreich vom 20. Juli 1944 beteiligten Offiziere enthält die ironische Pointe, dass sich im Krieg unter Hitler alle ethischen Regungen von der soldatischen Arbeit, d. h. auch den Erschießungsaufträgen, entkoppelt hat: Denn die Luft ist voll Sterbens. Ich denke nicht einmal daran, was wir durchs Radio hören – daß man 5000 Offiziere erschossen habe, daß man alles, was, ohne etwa im Zusammenhang mit diesem Attentat zu stehn, der Partei mißliebig sei, alles morde, daß man, um ganze Arbeit zu leisten, mit den eigentlich Verdächtigen auch gleich die ganze Familie erschieße […] (Reck 1944: 225).

Auf der Seite der NS-affinen Lesarten spielen die negierten Derivate Arbeitslosigkeit und arbeitslos/en eine zentrale Rolle. Für die Möglichkeit, wieder in Lohn und Brot zu kommen, werden soldatische (SA, im Krieg) und völkische Grundwerte (tüchtig) performativ aufgegriffen, wie in dem folgenden Bittschreiben zum

11 Die Modifikatoren unermüdlich, schwer und viel finden sich fast ausschließlich in Feldpostbriefen.

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Ausdruck kommt. Eine heiratswillige Ehefrau bittet darin um eine Arbeitsmöglichkeit für ihren Mann: Mein Bräutigam, mit dem ich mich vor 1 Jahr verlobte, ist bei der SA. Reserve. […] Doch leider kann ich nicht heiraten, weil eben für den Mann, den ich zu heiraten gedenke, keine Arbeitsmöglichkeit vorhanden ist. Er ist auch geschieden und ist ein tüchtiger Mensch, machte früher das Einjährige, war 4 Jahre im Krieg und besuchte die Oberrealschule. Mit 38 Jahren ist einer eben leider zu alt. Wir ab (sic) arbeiten so feste für die Sache Ihrer Idee und wünschen nur, dass es bald anders werde (Frida S. 1932: 64).

Die prägende Erfahrung der Arbeitslosigkeit war für viele ein Grund, Hitlers Aufstieg zu begrüßen und zu unterstützen. Auch in Bezug auf den Beitrag zur NS»Bewegung« wirkt in der Formulierung arbeiten feste für die Sache Ihrer Idee die Leistungsorientierung weiter. Das Lexem arbeitslos ist im Teilkorpus der integrierten Gesellschaft von nominalen Kookkurrenten wie Hunger, Elend und Armut umgeben. Der Wunsch nach Arbeit gewinnt zugleich eine politische Dimension, da Arbeitskraft und Arbeitsleistung auch mit nationalem Selbstbewusstsein verknüpft werden: Und endlich durfte ich am 30. Januar 1933 die grösste Freude meines Lebens erfahren, dass der jetzt heimgegangene Reichspräsident von Hindenburg meinen bisherigen Parteiführer mit der Führung des ganzen Volkes betraute. Mein heissester Wunsch ist es, dass es ihm recht bald gelingen möge, mit seinen Getreuen Deutschland ganz frei zu machen von der Arbeitslosigkeit und ihm die wohlverdiente Gleichberechtigung mit allen Völkern zu verschaffen. Dass auch meine Mitbürger meine Bestrebungen anerkennen, geht wohl daraus hervor, dass ich nach langer Arbeitslosigkeit zum Fluraufseher der Gemeinde Godramstein bestellt wurde (Ackermann 1934: 3).

Die Koordination Arbeit und NN ist mit Lohn und Verdienst und entsprechend musterhaft mit Brot gefüllt. Hierbei sind auch anbiedernde Lesarten zu verzeichnen wie in diesem handgeschriebenen Brief vom 13. September 1935: Nun vertauschte ich die Stempelkarte mit der Drehbank. Somit verdanke ich dieses unseren (sic) Führer Adolf Hitler, daß ich wieder in Arbeit und Brot gekommen bin. (Richard B. 1935: 83). Sogar im militärischen Jargon des Regimes verknüpft ein NS-Sympathisant in einem Brief an Hitler Arbeit, Militär und nationalen Stolz, indem er ihm dafür dankt, dass die große Arbeitslosen-Armee beseitigt wird. Das (sic) wir die Wehrmacht wieder erhalten haben. Und das (sic) wir mit stolz sagen können wir sind Deutsche (Willy L. 1935: 81). NS-typische Lesarten entstehen durch die Füller Opfer, Mühe und Disziplin, jedoch ergibt die Koordination Arbeit und Ehre keinen Treffer. In den Kollokationen und Wortbildungen sind rassistische Ausgrenzungen mithilfe des Arbeitskonzepts nicht erkennbar. Die Vielfalt der Lesarten illustrieren Füllwerte,

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die auf die individuelle Situation hindeuten wie Arbeit und Zufriedenheit (Rotter 1932: 50) und Begabung (Spengler 1933: 60) und nicht zuletzt solche, die die Aufopferungssemantik ablehnen wie Armut, Ausbeute und Entbehrung. Hier schlägt sich die enorme Resonanz nieder, die die DAF anfänglich gefunden hat. Zudem kommen die Härten des Arbeitsdienstes zum Ausdruck und nicht zuletzt die Erfahrung, dass die Arbeitsbedingungen unter Hitler oft schwer erträglich und die Löhne unangemessen waren. 3.2.3 Diskussemantisches Netz Die Gebrauchsweisen von Arbeit in den Texten der integrierten Gesellschaft lassen eine enorme Spannbreite erkennen. Die phraseologischen Phänomene reichen von idiomatischen Mustern (ganze Arbeit leisten) über Phraseme (sich an die Arbeit machen) und festen Kollokationen (viel Arbeit) bis hin zu NS-typischen Prägungen (harte Arbeit). In dieser großen Bandbreite von morphosyntaktischen Verwendungen mit Arbeit entwickelten sich sprachlich Möglichkeiten für ideologische und rassistische Engführungen vor allem für die sprachlichen Muster [Arbeit und Nomen (z. B. Opfer)] und [Adjektiv (z. B. ungeheure) Arbeit leisten]. Mit ihnen entstehen im privaten oder literarischen Sprachgebrauch implizite semantische Anschlüsse an die NS-Rassenlehre, an einen nationalsozialistisch gewendeten Gemeinschaftssinn und nicht zuletzt an die allgemeine Kriegsbereitschaft.

3.3

Widerstand

3.3.1 Akteursgruppenspezifische generalisierende Befunde Im Widerstand tritt ein Befund sehr deutlich hervor, der ein abweichendes Sprachgebrauchsmuster gegenüber dem NS-Apparat markiert: Das Lexem Arbeit wird am häufigsten mit illegal attribuiert, so dass für das Simplex Arbeit die Lesart der eigenen (lebensgefährlichen) Parteiarbeit in den Vordergrund rückt. Die Widerstandsarbeit, verstanden als diskursiv ausgeschlossene illegale Arbeit, verweist zugleich auf die Gesetzmäßigkeiten des herrschenden Diskurses: Die Form, in der diese Arbeit ausgestaltet wird, ihre Diskursivität und ihr Charakteristikum, Dinge demokratisch zu verhandeln statt diktatorisch festzusetzen, ist zugleich ein gewichtiger inhaltlicher Kritikpunkt gegenüber den Freiheitsberaubungen und Entrechtungen der Hitler-Diktatur. Diese Anklagen werden durch die weiteren semantischen Zuschreibungen zu dieser illegalen Arbeit gestützt, die als öffentliche und als gemeinsame Arbeit, schließlich auch als sichtbare illegale Arbeit ein bereits in nuce entworfenes demokratisches Gegenmodell

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der freien Meinungsäußerungen darstellt. Dass die Kritik des Gegenstands selbst zum Gegenmodell für den verhandelten und kritisierten Gegenstand wird, hat zur Folge bzw. zur Voraussetzung, dass lohnvermittelte Arbeit zusätzlich als Tätigkeit bezeichnet wird, und Arbeiter außerdem in ihrer Rolle als Beschäftigte, Werktätige und Erwerbstätige genannt werden. 3.3.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster Trotz der gemeinsamen Kritik an Hitlers Versprechen gegenüber der Arbeiterschaft, alle Deutsche in Lohn und Brot zu bringen, unterscheiden sich in den verschiedenen Widerstandsgruppierungen die Akzente der Gegenwehr, ihr Fokus und ihre Zielvorstellungen mitunter erheblich. Der Tag, an dem das Ermächtigungsgesetz in Kraft trat, bedeutete nicht nur das Ende der Demokratie, sondern auch das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland. Wenige haben das so klar erkannt und so mutig ausgesprochen wie Otto Wels in seiner Rede vom 23. März 1933 vor dem Reichstag. Er enttarnt die Absichten der Nationalsozialisten als arbeiterfeindlich und hebt die Errungenschaften der Sozialdemokraten im Bereich der Arbeiterrechte und der Chancengleichheit hervor: Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offen steht. Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen Führer preiszugeben (Wels 1933: 2).

Und doch wurde diese rassistische Spaltung der Gesellschaft mithilfe nationalistischer Propaganda möglich. Der propagandistische Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und für die Klassenversöhnung hat anfangs aber doch auch abhängig Erwerbstätige überzeugt. Wer nicht fest im Verbandsleben oder im Betriebsalltag in den klassischen Formen der Arbeiterbewegung verwurzelt war, wie Angestellte und Techniker mit im Produktionsprozeß herausgehobenem Status oder Jungarbeiter ohne Arbeiterbewegungssozialisation, erwies sich als leicht anfällig für die Propaganda der NSDAP, die von der Volksgemeinschaft aus vereinten und freien ›Arbeitern der Stirn‹ und ›Arbeitern der Faust‹ sprach, in der auch »antikapitalistische Sehnsüchte« befriedigt werden konnten (Grebing 1993: 58).

Im Mittelpunkt des sozialdemokratischen bzw. des gesamten Arbeiterwiderstands steht der Arbeiter, oft in Koordination mit Angestellten u. a. werktätigen Gruppen. Seine politische Situation in Verbindung mit der persönlichen Lage bestimmen die Ziele des Widerstands: So treten als Bezugsnomen der Possessivphrase der Arbeiter im linken (Exil-)Widerstand z. B. die Interessen der Arbeiter (Blumenberg 1933: 62) oder die sozialpolitischen Rechte der Arbeiter (KPD 1933: 24) hervor. Das NN Arbeit ist überwiegend durch unsere und illegale at-

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tribuiert sowie als Possessivphrase prävalent. Die Bezugsnomen sind inhaltlich auf einen breiten Verständigungsprozess und damit auf demokratische Strukturen gerichtet, die den Hintergrund für Möglichkeiten zur Gegenwehr bilden. Zumeist sind es im Plural die grundsätzlich diskutierten Bedingungen/Methoden/ Träger der illegalen Arbeit und im Singular die für die sozialistische Einheitsfrontpolitik relevanten Größen wie Ziel/Stadium/Druck/Form/Frucht unserer Arbeit. So schillernd die hier dargelegte Diskursdynamik in Bezug auf die Arbeitsauffassungen wirken mag, so hinderlich war sie doch in der politischen Formierung gegen das Hitler-Regime z. B. durch die Bildung einer Einheitsfront. Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften 1933 zerfielen auch Protestbewegungen der SPD, die aufgespalten war: Auf der einen Seite standen Facharbeiter der mittleren und der älteren Generation mit ihrer Tendenz zur Erhaltung der Besitzstände. Auf der anderen Seite standen die radikaleren Jüngeren im sozialistischen Widerstand mit ihrer teils aggressiven Ablehnung der kommunistischen Arbeiter. Ein Verfahren der Gegenwehr allerdings eint die linken, überwiegend aus dem Ausland operierenden Splittergruppen wie SAP, I. S.K. und Neu Beginnen. Es findet sich selbst in den Flug- und Tarnschriften konservativer Akteure: die Aufforderung zur Sabotage insbesondere der die Kriegsvorbereitung unterstützenden Arbeit, die sich aus ihrer Sicht geschickt umsetzen lässt (wer will da nachweisen, dass es Sabotage war?, Tarnschrift Arbeiter 1939: 3). Stilistisch sind Empfehlungen und Anleitungen zur Sabotage in kurze, infinite oder imperativische Appelle gefasst wie Unsere Losung: Fernbleiben, sabotieren (Gruppe Metall 1933: 34), Sabotiert die Arbeit an den Militärstraßen (Loewenstein 1938: 5) oder Rüstungsarbeiter – sabotiert die Fertigung mit allen Mitteln (NKFD Volk 1943: 238). Die Hauptkollokationen im Bereich der linksseitigen Attribuierung sind unsere Arbeit und illegale Arbeit. In Berichten, Programm- und Flugschriften treten linksseitige Kollokatoren im Zusammenhang mit einer Zielsetzung auf. Diese ist ausgerichtet auf friedenspolitische Methoden des Widerstands, somit sollen alle Ziele ohne weitere Kriegshandlungen erreicht werden, so dass sich auch diese Arbeitsform entsprechend als neuartig erweist: Das nächste Ziel unserer Arbeit ist der Sturz des faschistischen Systems. Unsere Einsicht in die gesellschaftliche Fundierung dieser neuartigen Staatsform bestimmt die Methoden und Formen unserer Arbeit (Neu beginnen 1933: 29).

Zwar überwiegt die Personenbezeichnung (deutsche, sozialistische) Arbeiter; als Kontextualisierungshinweis für den Arbeiter- und auch den kommunistischen Widerstand treten jedoch oft Bezeichnungen wie werktätige Massen/Bevölkerung/Jugend/Schichten sowie Erwerbstätige auf. Das Lexem Tätigkeit sowie das zugehörige Verbalphrasem tätig sein als ist typisch für journalistische Berichte

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und »Enthüllungen« der linken (Exil-)Presse.12 Die nationalsozialistische Unterscheidung zwischen Arbeitern der Faust und Arbeitern der Stirn wird damit von den linken WiderstandsakteurInnen unterlaufen (vgl. Kölbl 2006: 117). In den Dokumenten des kommunistischen Widerstands erweist sich Arbeit als morphologische Basis für zahlreiche hochfrequente Komposita wie Arbeiterklasse, Arbeitermassen, Arbeitsmethoden, Arbeitsprodukte, Arbeitsdienst und Arbeiterbewegung.13 Die NS-Gewerkschaftsbezeichnung (Deutsche) Arbeitsfront und die (mehrfach belegte) KPD-Prägung Arbeitsfrontbonze finden sich schwerpunktmäßig in Tarnschriften, die Strategien entwerfen, um in eine Auseinandersetzung mit dem »Führungspersonal« der nationalsozialistischen Einheitsgewerkschaft zu treten: Wenn sich in dieser Organisation auch in der Hauptsache nur Mitglieder des NSDAP befinden, so geben doch die in dieser Organisation immer stärker hervortretenden Differenzen über die Wirtschaftspolitik der Hitlerregierung und die Empörung über die Willkür des Unternehmertums, sehr gute Möglichkeiten, mit den Mitgliedern darüber zu diskutieren und einen sehr grossen Teil in den betrieblichen Kampf für die Arbeiterforderungen einzubeziehen. Die gleichen Möglichkeiten ergeben sich für eine Beeinflussung der werktätigen Elemente der SA und der SS von den Betrieben aus (KPD 1935: 13).

Zahlreiche Flug- und Tarnschriftenbelege spiegeln bis 1935 die Einschätzung wieder, dass der Nationalsozialismus als kurzes politisches Intermezzo in einigen Jahren die Bahn für eine kommunistische Gesellschaftsordnung frei machen wird. Die KPD-Führung war zu diesem Zeitpunkt noch überzeugt, dass die proletarische Revolution kurz bevorsteht und sah in der Nazidiktatur nur ein letztes verzweifeltes Manöver der Monopolbourgeoisie, um der wachsenden Bedrohung durch die revolutionäre Bewegung der Arbeiter noch irgendwie Herr zu werden. […] Man könne davon ausgehen, daß sich im Zuge der Verschärfung der Krise der Arbeiter aus den Lagern der Sozialdemokratie und der Nationalsozialisten desillusioniert der Kommunistischen Partei zuwenden würden (Merson 1999: 82).

Deshalb sei nun der Moment gekommen »ganze Schichten der Arbeiterklasse« zu sich herüberzuziehen, durch eine Einheitsfront von unten den »Hauptkader der sozialdemokratischen Arbeiter« zu gewinnen und so »die Sozialdemokratie zu zerschlagen« und das »nicht nur in Deutschland, sondern in der internationalen Arena« (Koenen 2017: 880). Um dieses Ziel zu erreichen, enthalten viele Tarn12 In der Tradition des sowjetischen Sozialismus umfasst der Tätigkeitsbegriff sowohl körperliche als auch geistige Komponenten. Die so bezeichnete Arbeit gewinnt einen holistischen Charakter und bezieht sich auf den Arbeitsprozess als Ganzen mit allen Teilhandlungen (vgl. Leontjew 2012). 13 Zum Zusammenhang von Arbeiterbewegung, Marxismus und Klassenkampf vgl. Mommsen 2011: 248.

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und Flugschriften schonungslose Entlarvungen von Nazibetrügereien.14 Durch Beschreibungen des brutalen Terrors sollte den angepassten oder anpassungsbereiten Proletariern die Augen über die NS-Propaganda geöffnet und sie gleichsam zum Widerstand in der Volksfront ermutigt werden (vgl. Merson 1999: 132). Der folgende für diese Enthüllungsrhetorik charakteristische Ausschnitt beginnt mit der Schlussfolgerung, dass es sich bei der propagierten Volksgemeinschaft um einen Etikettenschwindel handelt, der die Funktion hat, die wahren Verhältnisse zu verdecken: Es gibt keine Volksgemeinschaft, keine Brüderlichkeit der entgegengesetzten Klassen, wovon die eine Klasse die andere ausbeutet. Es gibt keine Volksgemeinschaft, wo die einen, die Arbeiter, in Elendsquartieren, in Mietskasernen hungern und die anderen, die Unternehmer, in Prunkpalästen prassen, wo die einen laut Arbeitsgesetz, die »Führer« alles, und die anderen, die »Gefolgschaften« nichts zu sagen haben, wo die einen darben müssen, die anderen, die Unternehmer und ihre Schergen, die Hitler-Göbbels-Göring Millionen scheffeln, wo die braunen Bonzen das Zehn- und das Hundertfache des Arbeitslohnes beziehen. Volksgemeinschaft laut dem Arbeitsgesetz bedeutet für die Arbeiter den absoluten Verzicht auf eigene Interessenvertretung zugunsten des Unternehmerprofits. Der unverfälschte, der wahre Ausdruck der Volksgemeinschaft im Dritten Reich, das sind die Razzien, die Konzentrationslager, der blutige Terror gegen die Arbeiterschaft (Tarnschrift Arbeitsgesetz 1934: 19).

Die gegen den gesetzlich geförderten Lohnraub durch die Tarifordnung oder die Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiter gerichtete Kritik ist immer auch (rudimentäre) Sprachkritik. Kritisiert wird metakommunikativ die Verschleierung durch das propagandistische Vokabular. Die Endlösung ist der elastische Betriebslohn, die Lohnregelung, die unter der Phrase: sie sei eine Angelegenheit eines »Treueverhältnisses«15 zwischen Betriebsführer und Betriebsgefolgschaft, die jeweilige Festsetzung des Lohnes vollständig der schrankenlosen Willkür des Unternehmers im Betrieb überlässt (Tarnschrift Arbeitsgesetz 1934: 14).

Ob der Ausdruck Endlösung auch vor dem Hintergrund seiner euphemistischen Bezeichnungsweise des Mordprogramms an den europäischen Juden verwendet wird, ist zweifelhaft. Mitunter gilt jedoch der Holocaust als blinder Fleck des kommunistischen Widerstands (vgl. Weber 2001: 19). Die Benennung der Gruppen, für die der kommunistische Widerstand eintritt, reicht von Arbeitern 14 Die antifaschistische Einheitsfront scheiterte jedoch an der Spaltung der Arbeiterbewegung in mehrere Blöcke. In den Reihen der kommunistischen Widerstandskämpfer zeigte sich dabei eine gewisse Radikalisierungsbereitschaft verbunden mit einer (später bereuten) anti-sozialdemokratischen Sozialfaschismus-Doktrin (vgl. Grebing 1993: 51). 15 Dies spielt auf die Treuhänder der Arbeit an, die bei Konflikten zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft vermitteln sollten, de facto aber gemeinsam mit den abhängigen Vertrauensräten das Führerprinzip in den Betrieben durchsetzten und jede Form der betrieblichen Mitbestimmung verhinderten.

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über Arbeiterschaft bis zur Arbeiterklasse, die ausschließlich attributiv auftritt und deren Bezugsnomen die Aufgaben der kommunistischen Widerstandsorganisationen explizieren. Ausdrucksseitig richtet sich ihr Hauptziel auf die Freiheit der Arbeiterschaft (Sopade 1934: 1) und auf ihre Einheit (Pieck 1939: 25– 26), in bürgerlichen Denkschriften etwa geht es eher im juristischen Sinn um die Interessen der Arbeiter (Goerdeler 1938: 718) bzw. Arbeiterschaft (Beck et al. 1944: 252). Arbeit ist kein zentraler Begriff des bürgerlich-konservativen Widerstands. Ein großer Teil der Belege fällt auf die Komposita Mit- und Zusammenarbeit. Umso wichtiger ist es hier die Vielfalt der Attribuierungen festzuhalten, die neben den NS-typischen Zuschreibungen (ungeheure, harte) auch bürgerliche Wertorientierungen umfassen schöpferische und ruhige(r) anständige(r) (Goerdeler 1938: 759,749). Hierbei ist die Abkehr von der Arbeit für Kriegszwecke zentral und es entstehen ethische Neuorientierungen: Mit Gott für Recht, Freiheit und Sicherung friedlicher Arbeit (Goerdeler 1944: 104). Arbeit wird zudem in ihrem anthropologischen Charakter aufgerufen. In einer sozialen Fundierung wird ein Recht auf Arbeit reklamiert, das die Basis einer juristischen Neubestimmung eines künftigen Staates nach der Überwindung Nazideutschlands bildet. Auch der Ertrag der Arbeit gehört zu diesem Rechtsanspruch. Goerdeler bezeichnet es daher als unabänderliches Naturgesetz, daß Eigentum Kapital ist, daß jeder, der ein Bett besitzt, Kapitalist ist, und daß ohne Sicherung des Eigentums als des Ergebnisses geleisteter Arbeit der Mensch eben dieses Ergebnisses sich beraubt sehen, nicht mehr selbst leisten, sondern auf Raub ausgehen würde, bis das Chaos herrscht […] (Goerdeler 1938: 716).

Offen und moralisierend wird in bürgerlichen Denkschriften Hitlers Beleidigung all derjenigen beschrieben, die ehrliche Arbeit verrichten. Hitler hat vom Wesen und Wirken der deutschen Republik ein Zerrbild gegeben. Er hat Kübel des Schmutzes und der Beschimpfung über sie ausgegossen und damit die ehrliche Arbeit aller beleidigt, auch derjenigen, die nicht Republikaner waren, aber in der Not ihre besten Kräfte dem Vaterland und seinem Wiederaufbau zur Verfügung stellten (Beck et al. 1944: 232).

Ähnlich wird im militärischen Widerstand seitens des NKFD Arbeit in einen neuen semantischen Horizont gestellt. Die mit Arbeit verbundene Wertorientierung umfasst Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit, die über die Kookkurrenten (ehrliche, friedliebende Nationen und achtet/Achtung) aufgerufen werden: Bahnen wir uns durch ehrliche Arbeit, Ordnung und Gerechtigkeit die Rückkehr in die Familie der friedliebenden Nationen. Dem neuen Deutschland das die Völker achtet, werden auch die Völker die Achtung nicht versagen (NKFD Wehrmacht 1944: 249).

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Arbeiter werden selten einzeln bezeichnet und nur in Verbindung mit Bauern, Angestellten und Unternehmern als soziale Gruppe benannt: Alle aber, die gegen die Befehle Hitlers und Himmlers aufstehen, ob General oder Grenadier, ob Arbeiter oder Unternehmer, sind Kämpfer für die Rettung Deutschlands. Zu ihnen muß das Volk geschlossen stehen. Ihnen muß das Herz des Volkes gehören (NKFD Würfel 1944: 425).

Der kirchliche Widerstand verwendet Arbeit zur Selbstbezeichnung der kirchlichen, religiösen, konfessionellen, pfarramtlichen Arbeit, thematisiert jedoch kaum die NS-Propaganda am Leitfaden der Arbeitslosigkeit und nur vereinzelt die rassistischen Verbindungen zur Zwangsarbeit. Der Blick ist auf die Zukunft gerichtet, in der die Kirche ihre Rolle als wertegebende Institution festigt: Mag sein, daß der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht (Bonhoeffer 1943: 24). Die nationalsozialistische Arbeitspolitik und Arbeitspropaganda empörten den jugendlichen Widerstand in besonderem Maße. Angeprangert wird die Ausbeutung junger Menschen, auch weil sie rigoros zum Reichsarbeitsdienst verpflichtet werden. Entsprechend finden sich höhere Vorkommen an NS-typischen Arbeit-Verwendungen, in denen Propaganda-Lügen entlarvt werden und die Ausweglosigkeit aufgezeigt wird, in die die Jugend hineingestoßen wird. Man hat euch Jungs und Mädels Arbeit und Brot versprochen. Aber wer von euch das Glück hat, noch nicht zur Millionenarmee der hungernden Erwerbslosen zu zählen, wer bei Hungerlöhnen noch in den Betrieben schuften durfte, wer wenn auch nur einen Schein von Berufsausbildung genossen hat, der bekommt jetzt zu spüren, was es bedeutet, »Dienst am Volke zu tun«. Die Arbeit will man euch rauben, die Berufsausbildung soll völlig verschwinden! Nach einem Jahr Arbeitsdienst oder Landhilfe will man euch mit dem Arbeitspaß in der Tasche vor ein Nichts stellen, vor die grausamste Zukunftslosigkeit (Junge Garde 1934: 262).

Arbeit ist bei den Jüngeren begrifflich im Rahmen von Forderungen sehr präsent (wir fordern die Freiheit der Arbeit!, Günther/Pander 1940: 1). Hitlers Kriegspläne und seine Absichten zur Ausnutzung jugendlicher Arbeitskräfte für Zusatzdienste (Landhilfe, Reichsarbeitsdienst) werden offen kritisiert, um den jungen Menschen die Augen über ihre Zukunftsperspektiven zu öffnen: Man hat uns was von der Ehre der Arbeit erzählt um uns nur umso leichter zu Arbeitssklaven und Kanonen bzw. -Bombenfutter, ohne jeden eigenen Willen, machen zu können! (Günther/ Pander 1940: 1). Die Kritik richtet sich dabei auf die Bedingungen und Begleitumstände der Arbeit, so dass das nicht weiter benannte Problem der Arbeitslosigkeit gegenüber dem weit größeren Problem eines kriegstreiberischen NS-Arbeitskonzepts zurücktritt. In den Jugendgruppen der KPD konzentriert sich die Widerstandsflugpresse auf die Gruppe der (antifaschistischen) Werktätigen mit dem Ziel der

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Einheit aller Werktätigen. Die Personenbezeichnung Werktätige nivelliert den Unterschied zwischen Arbeitern, Angestellten und Unternehmern, da alle werktätig sind. Aufrufe sind mit der appellativen Personenbezeichnung Jungarbeiter (Junge Garde 1934: 263) oder Arbeiter versehen (Arbeiter der industrie (sic) l a n g s a m e r arbeiten!, Günther/Pander 1940: 1, Hervorhebungen im Original) Kritikpunkte im Umfeld manifestieren sich anhand von Ausdruckseinheiten wie Naziplutokratie (Günther 1940: 1) oder »Lebensraum« als Massengrab: Das Massengrab ist ihr »Lebensraum« (Junge Garde 1934: 263). Im Widerstand der Verfolgten ist die Bezeichnung Arbeit überwiegend der jüdischen Arbeit, der gemeinsamen, politischen oder philosophischen Arbeit vorbehalten. Das NS-Sprachgebrauchsmuster der harten oder schweren Arbeit ist nicht Gegenstand von (Sprach-)Kritik, vielmehr zielen die Argumentationen darauf ab, das Attribut schwer auch für die Arbeit jüdischer Menschen in Anspruch zu nehmen. Der Umgang mit Vorurteilen gegenüber Juden ist auch innerhalb der jüdischen Verfolgtengruppe unterschiedlich. Dies zeigt folgender Beleg: Jüdische Hausfrauen behaupteten, das jüdische Mädchen eigne sich in den meisten Fällen nicht für den Hausdienst […] Von jüdischen Hausmädchen wird demgegenüber geltend gemacht, daß sie oft in jüdischen Häusern eine schlechtere Behandlung erfahren […]. Daß die Klagen von beiden Seiten übertrieben sind, zum Teil auf Mißverständnissen und Vorurteilen beruhen, ist von sachverständiger Seite in unserem Blatte früher schon genügend nachgewiesen worden. Das neue Gesetz zwingt aber zu einer Klärung und wird, wie wir hoffen, auch jene Berge von Mißverständnissen und Voreingenommenheiten abtragen, die bisher einem echten rechten Vertrauensverhältnis zwischen Juden und Juden im Wege lagen (Israelit 1935: 3).

Arbeitsunwilligkeit ist eine weitere stereotype Kategorie, die im Akt sprachlicher Herabwürdigung als vermeintliche Erklärung dafür herangezogen wird, warum Juden nur in geächteten Kaufmannsberufen arbeiten und nicht in der Fabrik oder in der Landwirtschaft. Dass Juden seit dem Mittelalter aus vielen Berufen wie dem Handwerk vertrieben wurden und daher auf Handel und Geldleihe ausgewichen sind, wird dann nicht aus der Geschichte heraus erklärt, sondern in einer antisemitischen Argumentation im Sinne der NS-Propaganda als Charaktereigenschaft ausgewiesen. Diese Identifikation mit der rassistischen Fremdzuschreibung mag befremden, hier sind womöglich strategische oder psychologische Motive wirksam. Wir schreiben uns einmal ihre Berufe auf. Da finden wir, daß es lauter Kaufleute, Händler, Bankbesitzer sind. – Kennt Ihr einen Juden, der als Arbeiter in einer Fabrik schafft? Oder als Bauer hinter dem Pflug hergeht? Sie wollen keine schwere Arbeit leisten. Die meisten sind faul, stehen unter ihrer Ladentür und gehen spazieren. Viele Juden sind Wucherer, die die Bauern ausschmieren (einige Fälle), ihm das letzte Stück Vieh aus dem

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Stall holen… In der Regierung in Berlin, wo jetzt Hitler Reichskanzler ist, waren viele Juden, die haben viel Geld verschlampt oder für sich verbraucht (Rundschau 1933: 4).

Kritik an der NS-Phrase schwere Arbeit, die die rassische Überlegenheit begründet, findet sich, wenn auch in maskierter Weise unter den menschenfeindlichen Bedingungen des Gettoalltags, in der Chronik des Gettos Lodz/ Litzmannstadt. Während für harte Arbeit kein Beleg existiert, treten die wenigen Belege für schwere Arbeit in markierten Kontexten auf. Die folgende Wiederholung von »schwerer/r Arbeit« in Verbindung mit der Charakterisierung »arme(r) Totengräber« enthält eine vielschichtige Verkehrung des nationalsozialistischen Arbeitsbegriffs und seiner Aufladung mit Stolz und Ehre und konterkariert das Stereotyp vom faulen jüdischen Arbeiter: Die armen Totengräber haben schwere Arbeit und schwerer Arbeit sind sie nicht mehr gewachsen (GettoChronik 1944: 456). Schließlich sind als Gründe für das Nicht-mehr-Gewachsensein sowohl die unerträglichen Zustände als auch die Unterernährungssituation präsupponierbar. Mit der Übernahme der NS-konformen Kollokation schweren Arbeit eignen sich die Chronisten auch eine Begründungsfigur für das Anrecht auf bessere Lebensbedingungen an, z. B. mit ausreichender Ernährung. Es handelt sich um Frauen, die wirklich überaus schwer arbeiten, denn das Waschen mit Bürste und Rumpel ist als schwere Arbeit zu qualifizieren, und die zweifellos vollen Anspruch auf eine bessere Ernährung haben (Getto-Chronik 1943: 169).

Bekannt geworden ist zudem der Versuch, sich den Appell zur Arbeit (Arbeit macht frei) zu eigen zu machen und die Erwartungserfüllung für eine Wiedergewinnung der eigenen Würde zu nutzen. In seiner umstrittenen Rolle als Vermittler zwischen Juden und Nazis zeigt der Vorsitzende des Judenrats im Getto Rumkowski mit der Parole Unser einziger Weg ist Arbeit den jüdischen Arbeitern Chancen zum Überleben im Getto auf. Arbeit als Vernichtung oder Arbeit als Überlebenschance ist für das Schicksal der Getto- und KZ-Insassen kennzeichnend. Unter der Rubrik Zur Arbeit außerhalb des Gettos wird über Transporte in der Getto-Chronik berichtet: Die höchste Trefferzahl für das Lexem Arbeit entfällt mit 79 Belegen auf das Phrasem zur Arbeit außerhalb des Gettos, das zumeist gleichbedeutend mit Vernichtung ist und einen festen Gliederungspunkt in den Chronikeinträgen darstellt. Zur Arbeit ausserhalb des Gettos. Heute morgens 1. Transport: Der 1. Transport von 562 Menschen ist heute um 8 Uhr morgens vom Bahnhof Radegast abgegangen. Vor dem Abtransport sprach der Gestapo Kommissar Fuchs einige beruhigende Worte an die ausreisenden Personen. Er erklärte, dass es nunmehr auf Arbeit ins Reich gehe und dass für eine anständige Verpflegung gesorgt sein wird. Die Verladung erfolge zwar jetzt, mangels Personenwagen, in einem Güterzuge, doch ist unterwegs eine Umladung in Personenwagen vorgesehen. Niemand möge sich ängstigen (Getto-Chronik 1944: 382).

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Der Aufwand, mit dem die Deportationen in Vernichtungslager verschleiert werden, wird sachlich festgehalten. Anders als in den Exil-Schriften des linken Widerstands findet sich in der lebensbedrohlichen Situation der Inhaftierung keine Form des entlarvenden Berichtens (über »Etikettenschwindel« o. ä.). Dies geschieht möglicherweise aus Unkenntnis über den Zweck der Arbeit ausserhalb des Gettos, jener Arbeit im Reich, vielleicht auch weil es im Getto noch Hoffnung gibt. Sehr wahrscheinlich hätte aber auch jede Äußerung über einen Mordverdacht die Zensur auf den Plan gerufen und sofortige Lebensgefahr bedeutet. 3.3.3 Diskussemantisches Netz Arbeit hat im Widerstand an allen Handlungs- und Wissensfeldern teil, wobei die ersten beiden Bedeutungsfelder Nation und Ehre durch Wortbildungen mit hohem Kritikpotential begleitet werden. Wortbildungsprodukte wie Arbeitssklave, Arbeitsfrontbonze oder Lohnraub werden als (kondensierte) Argumentationsmuster eingesetzt. Für die linken Widerstandsgruppen ergibt sich ein wichtiger kontextualisierender Faktor daraus, dass sie die lohnvermittelte Arbeit als Tätigkeit fassen und Arbeiter im Sinne einer Pluralität der gleichberechtigt arbeitenden Bevölkerung außerdem als Beschäftigte, Werktätige und Erwerbstätige bezeichnen. Besonderheiten des sozialistisch-kommunistischen Widerstands liegen zudem in der Auseinandersetzung mit der Einheitsgewerkschaft und mit den Arbeitsbedingungen unter dem Führerprinzip, das in den Unternehmen nach Zerschlagung der Gewerkschaften eingesetzt wurde. Für die kommunistisch-sozialistischen Gruppenmitglieder, insbesondere in den von der KPD mitfinanzierten Exil-Organen, ist der durch die russische, kulturhistorische Tradition geprägte Ausdruck Tätigkeit für Erwerbsarbeit mit entsprechenden Personenbezeichnungen (werktätige Massen) vorherrschend. Erst in diesem onomasiologisch geweiteten Feld der Arbeitssemantiken zeigt sich der Unterschied zum bürgerlichen, militärischen und auch religiösen Widerstand: In den linken Gruppierungen geht es um Arbeit, die Werke und Werte (für das Volk und die Gesellschaft) schafft, während die übrigen Gruppierungen Arbeit eher als Instrument des Individuums und seiner Erfüllung entwerfen. Damit schließen sie an das individuelle Leistungsstreben aus der preußisch-konservativen Linie oder an die Perspektive religiöser Heilsphantasien an. Die thematischen Schwerpunkte des bürgerlichen Widerstands beziehen sich dagegen auf die rechtlichen Grundlagen künftiger Arbeitsverhältnisse. Auch der religiöse Widerstand hat primär die Zukunft der Arbeit im Blick, konzentriert den Ausdruck Arbeit allerdings auf die eigene Widerstandsaktivität (z. B. als kirchliche Arbeit) ebenso wie der linke Widerstand, der sich über die eigene illegale Arbeit definiert. Kernpunkt der Widerstandsaktivität aller Gruppierungen ist die Sabotage. Demgegenüber finden sich im Widerstand der (verfolgten) jüdischen Bevölke-

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rung und der Gettobewohner subtile Rekontextualisierungen von NS-Kollokationen wie harte Arbeit, die die vorherrschende rassistische Lesart konterkarieren.

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Fazit

Das Lexem Arbeit und Wortverbindungen mit Arbeit folgen einem breiten Arbeitsbegriff, der Macht, Ehre und Opfer auf der Seite des herrschenden Systems und Vernichtung auf der Seite der Verfolgten bedeutet. Das rassistische Programm des Nationalsozialismus setzt an der Leistungsorientierung der arbeitenden Bevölkerung an: Wer keinen Beitrag zum Erhalt der Volksgemeinschaft leisten kann oder darf, wird von allen gesellschaftlichen Institutionen ausgeschlossen und kommt im Extremfall durch Zwangsarbeit zu Tode. Dass aber auch diejenigen, die in den nach dem Führerprinzip umstrukturierten Betrieben oder an der Front harte Arbeit leisten und sich als opferbereit erweisen, ebenfalls von Zwangsarbeit und Verfolgung bedroht sind, zeigt der deutsche Widerstand in Zeitungsberichten und Flugschriften auf. Die Arbeitsverständnisse der integrierten Gesellschaft reichen von der lohnvermittelten Erwerbsarbeit über die Familien- und Heimarbeit bis zur Parteiarbeit. Die NS-Propaganda zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und das rassistische Arbeitsethos bieten für die Bevölkerung zahlreiche Anschlussstellen, um Anpassung oder Distanz zu signalisieren. In der privaten Schriftlichkeit dokumentiert sich eine Anfälligkeit für die gemeinschaftsstiftende Funktion der vom NS organisierten Arbeit, die man dem NS-Regime zu verdanken habe. Für den Widerstand entstehen vielfältige Möglichkeiten, sich kämpferisch gegen die menschenfeindliche Arbeitsdefinition zu richten, mit der auch die »Volksgenossen« unter dem Deckmantel des notwendigen Opfers bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit bis zum bereitwilligen Sterben an der Front gebracht werden. In den Quellen des Widerstands ist die Besonderheit zu verzeichnen, dass das Lexem Arbeit bevorzugt als illegale Arbeit für die Lesart der Arbeit in eigener Sache (Widerstandsangelegenheiten) und in der eigenen Organisation (Kirche, Partei etc.) gebraucht wird. Für die lohnvermittelte Arbeit nutzt der linke Widerstand Bezeichnungsalternativen wie Erwerbstätigkeit. Die mitunter polemische Kritik an der NS-Arbeitsorganisation entsteht am Leitfaden von Wortbildungsprodukten wie Arbeitssklave und Arbeitsfrontbonze.

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Nicole M. Wilk

(KPD 1933) KPD Opposition (1933): Auf zum einheitlichen Kampf, in: Uhlmann, Walter (Hg.) (1983): Metallarbeiter im antifaschistischen Widerstand [Beiträge zum Thema Widerstand 21], Berlin: Gedenk- und Bildungsstädte Berlin Verlag, S. 22–24.–3468. (KPD 1935) KPD (1935): Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf aller Werkta¨ tigen fu¨ r den Sturz der Hitler-Diktatur. Manifest der Bru¨ sseler Parteikonferenz der KP Deutschland. An das werkta¨tige deutsche Volk! (Tarnschrift 0308) Kopftitel: Wie unsere Kakteen richtig gepflegt werden mu¨ ssen. Laß Blumen sprechen! Kakteen nicht vergessen!, in: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Online-Datenbank. De Gruyter. 27. 11. 2017. URL: https://db.saur.de/DGO/login.jsf (Stand: 19. 12. 2021), S. 1–29. (Ley 1940) Ley, Robert (1940): Rede zur Auslandsorganisation der NSDAP in Amsterdam vom 22. 8. 1940. Ausschnitt 2 (31 s). Online unter https://archive.org/details/19400822 RobertLeyRedeZurAuslandsorganisationDerNSDAPInAmsterdamAusschnitt231s, Stand: 20. 12. 2021. (Loewenstein 1938) Loewenstein, Hubertus Prinz von (1938): Weihnachtsbotschaft über den Deutschen Freiheitssender (…). In: Hygro-Nährschutz. Das biologische Mittel gegen Ernährungsfehler und Mangelkrankheiten. (Tarnschrift 0850), in: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Online-Datenbank. De Gruyter. 11. 12. 2017. URL: https://db.saur.de/DGO/login.jsf (Stand: 19. 12. 2021), S. 1–2. (Meldungen 1942) Sicherheitsdienst des Reichsführers SS: Meldungen aus dem Reich (Nr. 267) 12. März 1942. In: Boberach, Heinz (Hrsg.) (1984): Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Bd. 9: Meldungen aus dem Reich Nr. 247 vom 18. Dezember 1941 – Nr. 271 vom 26. März 1942. Herrsching: Pawlak, S. 3448–3468. (Mosse 1933) Mosse, George L. (1933): Der nationalsozialistische Alltag. Geschichte. 3. Aufl. 1993, Frankfurt a. M.: Hein. (Neu beginnen 1933) Neu beginnen (1933): Faschismus oder Sozialismus. Als Diskussionsgrundlage der Sozialisten Deutschlands (Programmschrift), in: Löwenthal, Richard (Hg.) (1985): Die Widerstandsgruppe »Neu Beginnen«. 2. Aufl. [Beiträge zum Widerstand 1933–1945 20], Berlin: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, S. 18–34. (NKFD Volk 1943) Nationalkomitee Freies Deutschland (1943): Flugblatt Deutsches Volk, in: Altmann, Peter/Brüdigam, Heinz/Mausbach-Bromberger, Barbara/Oppenheimer, Max (Hg.) (1975): Der deutsche antifaschistische Widerstand 1933–1945. In Bildern und Dokumenten, Frankfurt a. M.: Röderberg, S. 238. (NKFD Wehrmacht 1944) Nationalkomitee Freies Deutschland (1944): 25 Artikel zur Beendigung des Krieges, in: Scheurig, Bodo (Hg.) (1984): Deutscher Widerstand 1938– 1944. Fortschritt oder Reaktion? 2. Aufl. München: dtv, S. 243–249. (NKFD Würfel 1944) Nationalkomitee Freies Deutschland (1944): Deutsches Volk! Deutsche Wehrmacht! Die Würfel sind gefallen, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 424–425. (Pieck 1939) Pieck, Wilhelm (1939): Wie kann und muß der Hitlerfaschismus gestürzt und die demokratische Republik verwirklicht werden? Ein Beitrag zur Diskussion und Verständigung, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 497–506.

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Arbeit

(Raunis 1934) Raunis, Gottfried (1934): Wie ich National-Sozialist wurde [Theodore Fred Abel Papers], Hoover Institution Archives, S. 1–4. (digitalcollections.hoover.org/objec ts/58244, Stand: 4. 2. 2022). (Reck 1944) Reck, Friedrich (1994): Tagebuch eines Verzweifelten, Frankfurt a. M.: Eichborn. (Richard B. 1935) B., Richard (1935): »In Arbeit und Brot gekommen«, 13. 9. 1935, handgeschrieben, in: Ebeling, Theresa/ Heidrich, Max/Jakob, Kai/Kühnel, Steffi/Noack, Janine/Schug, Alexander (Hg.) (2011): »Geliebter Führer«. Briefe der Deutschen an Adolf Hitler, Berlin: Vergangenheit, S. 82–83. (Rotter 1932) Rotter, Fritz (1932): Ein neuer Frühling. in: Kühn, Volker (Hg.) (2001): Kleinkunststücke. Bd. 3: Deutschlands Erwachen – Kabarett unterm Hakenkreuz 1933– 1945, Hamburg: Rogner & Bernhard Verlag, S. 50. (Rundschau 1933) Anonym (1933): Von der Woche – Nachschrift, in: Jüdische Rundschau. Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland 16. 4. 1933, S. 1–12. (Schulz 1941) Schulz, Heinrich (1941): Sozialpolitik im neuen Deutschland, Berlin: Selbstverlag. (docplayer.org/200714838-Heinrich-schulz-sozialpolitik-im-neuen-deutschlandberlin-vorwort.html, Stand: 4. 2. 2022). (Seyffardt 1934) Seyffardt, Ernst (1934): Lebenslauf eines Hitler-Deutschen, 29. 7. 1934 [Theodore Fred Abel Papers], Hoover Institution Archives, S. 1–3. (digitalcollections.ho over.org/objects/58237, Stand: 4. 2. 2022). (Sopade 1934) Sopade (1934): Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus. Artikel aus der Zeitschrift Sozialistische Aktion 4 (2), 28. Januar 1934, in: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, S. 1–2. (www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitmater ialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_4.2_DE-2.Aufl_RZ-web.pdf, Stand: 4. 2. 2022). (Spengler 1933) Spengler, Oswald (1933): Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München: C.H. Beck. (Tarnschrift Arbeitsgesetz 1934) Anonym (1934): Hitlers Arbeitsgesetz. in der Sitzung am 23. März 1933, in: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, S. 1–2. (www.gdw-berlin.de/fi leadmin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_4.1_D E-2.Aufl_RZ-web.pdf, Stand: 4. 2. 2022). (Walb 1940) Walb, Lore (1940): Tagebucheintrag vom 10. Februar 1940. In: Walb, Lore (1997): Ich, die Alte – ich, die Junge. Konfrontation mit meinen Tagebüchern 1933–1945, Berlin: Aufbau Verlag, S. 214–215. (Wels 1933) Wels, Otto (1933): Erklärung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion in der Sitzung am 23. März 1933, in: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, S. 1–2. Online verfügbar unter https://www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitma terialien/Faksimiles_PDFs_deutsch/FS_4.1_DE-2.Aufl_RZ-web.pdf (Stand: 19. 12. 2021). (Willy L. 1935) L., Willy (1935): »Arbeitslosen-Armee beseitigt«, handgeschrieben zwischen Juli und September 1935, in: Ebeling, Theresa/Heidrich, Max/Jakob, Kai/Kühnel, Steffi/ Noack, Janine/Schug, Alexander (Hg.) (2011): »Geliebter Führer«. Briefe der Deutschen an Adolf Hitler, Berlin: Vergangenheit, S. 83. (Zöberlein 1931) Zöberlein, Hans (1941): Der Glaube an Deutschland. Ein Kriegserleben von Verdun bis zum Umsturz, München: Franz Eher Nachfolger.

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Mark Dang-Anh

Kampf

1 Semantisch-diskursive Prägungen 2 Akteursbezogene Gebrauchsdarstellung 2.1 NS-Apparat 2.1.1 Kampf und kämpfen im Teilkorpus NS-Apparat 2.1.2 Kampf gegen: Konstruktion von Antagonisten 2.1.3 Kampf um: Legitimation durch Kampf 2.1.4 Kämpfen und arbeiten: Das Alltägliche im Krieg 2.1.5 Gemeinsamer Kampf 2.2 Integrierte Gesellschaft 2.2.1 Kampf als ›soziales Bindemittel‹ 2.2.2 Kampf gegen 2.2.3 Kampf um 2.3 Ausgeschlossene 2.4 Widerstand 2.4.1 Kampf gegen 2.4.2 Kampf für 3 Fazit Quellen Kampfzeit, schwere Kämpfe, Kampf führen, Kampf gegen den Bolschewismus, Kämpfe im Osten, kämpfen und arbeiten, Lebenskampf, Kampf gegen das Judentum, Kampf aufnehmen, kämpferisch, gemeinsamer Kampf, Kampf der nationalsozialistischen Bewegung, Verlauf der Kämpfe, Alte Kämpfer, Kampfraum, gemeinsamer Kampf, Freiheitskampf, harte Kämpfe, Schicksalskampf, Mein Kampf, Kampf um Stalingrad, Deutschland im Kampf, ewiger Kampf, Kampf gegen den Marxismus, politischer Kampf, Kampf und Sieg, unser Kampf, Kampfhandlungen, Kampf auf Leben und Tod, Kampf gegen die Feinde, Klassenkampf

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1

Mark Dang-Anh

Semantisch-diskursive Prägungen

Kampf ist ein tradiertes Konzept, das durch Ausdrücke unterschiedlicher Lesarten hervorgebracht wird. Wie die eingehende Auflistung hochfrequenter Komposita und Syntagmen aus dem NS-Korpus mit dem Wort(-stamm) Kampf zeigt, ist Kampf morphologisch produktiv sowie syntaktisch variabel und wird in der Zeit des Nationalsozialismus durch unterschiedliche Akteursgruppen semantisch vielfältig verwendet. Etymologisch betrachtet beruht das Lexem Kampf »auf einer frühen Entlehnung […] von lat. campus ›flaches Feld, Schlachtfeld‹« (Pfeifer 1993b). Demnach leitet sich Kampf metonymisch aus ortsbezogenen Ausdrücken, die sich auf Handlungsorte, also typische Szenerien, an denen Handlungen vollzogen wurden, ab. In den Kern der lexikalischen Bedeutung von Kampf rücken dann die aktionalen und prozessualen Prädikatsklassen der Handlung und des Vorgangs (vgl. Polenz 1985: 159–167). Entsprechend ausgehend vom Verständnis von ›Kampf als Handlung‹, d. h., als einer Auseinandersetzung, die zwischen zwei oder mehreren Akteuren physisch, unter Umständen durch den Einsatz von Waffen, ausgetragen wird, lassen sich vom Lexem Kampf zunächst unterschiedliche Lesarten ableiten, die für den politischen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts prägend waren. Das IDS-Portal OWID unterscheidet zwischen Kampf als militärisches Gefecht, als Wettstreit, als Bemühung, als Kontroverse oder als inneren Zwiespalt.1 Auch das Deutsche Wörterbuch führt Kampf auf die primäre Lesart als Einzelkampf oder Zweikampf zurück (DWB, Bd. 11, Sp. 139). Relevant ist auch das Verb kämpfen, zu dem das DWB früh eine Bedeutungserweiterung auf streit aller art (DWB, Bd. 11, Sp. 145) notiert, spezifischer darauf folgend die Lesart als (sportlicher) Wettkampf. Sprachlich von besonderem Interesse ist eine früh belegte juristische Lesart: weil der zweikampf ein rechtsmittel war, die wahrheit zu ermitteln, so heiszt auch der wortstreit vor gericht kämpfen, wie der fürspreche ein kämpfe, ja wie alle den kampf betreffende ausdrücke zugleich für den rechtsstreit galten, siegen, gewinnen, überwinden, verwinnen, fällen, unterliegen, ring, plan u. a. (DWB, Bd. 11, Sp. 147). Die Antagonisten des Kampfes werden ebenso diversifiziert: »Kämpfen mit unpersönlichen gegnern […] mit elementen […] mit verhältnissen, übeln, leiden, widerwärtigkeiten, mit dem schicksal« (DWB, Bd. 11, Sp. 148). Kampf richtet sich hier nicht nur gegen konkrete, sondern ebenso gegen abstrakte Sachverhalte. Zu unterscheiden sind demnach vor allem Kampf als physische Auseinandersetzung und ein davon abgeleiteter metaphorischer Gebrauch. In darauf aufbauender, aber auch sich davon differenzierender Art und Weise, findet das Konzept Kampf ebenso im politischen Diskurs des Nationalsozialismus Anwendung. Während im Zweiten Weltkrieg vor allem die Bedeutung von 1 Vgl. www.owid.de/artikel/54554 [Zugriff 05. 04. 2022].

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Kampf

›Kampf als Gefecht‹ im militärischen Kontext hervorgebracht wurde, sind die Verwendungen von ›Kampf als Bemühung‹2, ›Kampf als Engagement‹ bis hin zu ›Kampf als Heroismus‹ (vgl. Klemperer 2018: 13), verknüpft mit ›Kampf als Kontroverse‹, vordergründig für das Verständnis der politischen Bedeutung des Kampfkonzepts im Nationalsozialismus. Im Folgenden werden nach einer einführenden begriffsgeschichtlichen Betrachtung ausgehend von diskursiv realisierten Wortformen der Lexeme Kampf und kämpfen konzeptkonstituierende Gebrauchsweisen für die verschiedenen Akteursklassen NS-Apparat, integrierte Gesellschaft, Ausgeschlossene und Widerstand dargelegt.3 Als mittelbare sprachhistorische Vorläufer sind die folgenden diskursiven Prägungen des 19. Jahrhunderts für die Ausdeutungen des Konzepts Kampf im Nationalsozialismus, vor allem im politischen Sinne, relevant: der Darwinismus und der Marxismus. In beiden Theoriesträngen entfalten sich fundamentale, metaphorische Verwendungsweisen von Kampf, denen zweifelsohne eine diskursprägende Funktion zufällt. Der Stellenwert von Kampf wurde zunächst vor allem durch das das 19. Jahrhundert prägende Theoriegebilde des Darwinismus betont. Darwin griff den von Thomas Robert Malthus stammenden Mehrwortausdruck struggle for existence, der sich auf den Kampf als gewaltsame körperliche bzw. kriegerische Auseinandersetzung zwischen Menschen bezieht, auf und deutete ihn in einem weiteren Sinne naturbezogen um in einen Kampfbegriff, der auch die Pflanzenund Tierwelt und indirekte Abhängigkeiten zwischen Lebewesen erfasst (vgl. Ajouri 2017: 123–124). Damit steht das Verhältnis von Lebewesen und Umweltbedingungen unter der Perspektive der Anpassung im Vordergrund. Im weiteren Fortgang der darwinistischen Theorie – so bei Ernst Haeckel – wurde der Kampfbegriff wiederum enger geführt als Existenzkampf von Lebewesen um Ressourcen (vgl. Ajouri 2017: 124). Bar der unterschiedlichen Ausprägungen lässt sich festhalten, dass der Kampf ums Dasein als ein »Markenzeichen des Darwinismus« (ebd.) gelten kann. Kampf bezieht sich somit vor allem auf einen existenziellen Kampf in feindlicher Konkurrenz. In seiner Bezugnahme auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur bei Darwin zeigt sich die Ambivalenz des Kampfbegriffs: Darwin zeichnete zwar »häufig harmonische Naturszenen« (Ajouri 2017: 126), aber der Kampf steht dazu im Widerspruch, denn er bringt Verletzung, Entbehrung und das Risiko von Tod und Vernichtung mit sich. Und doch sei Kampf notwendig, nicht nur um zu überleben, sondern auch um vor2 Das Lexem Einsatz/einsetzen ist mit der Lesart ›Kampf als Bemühung‹ insofern eng verknüpft, als es als »Engagement für ein Ziel« (Schmitz-Berning 2007: 168) verstanden werden kann, was wiederum ein prägender Bedeutungsaspekt von Kampf/kämpfen im Nationalsozialismus ist. 3 Ich danke Lucia Berst und Rukiye Burkart für ihre Unterstützung bei der Belegrecherche.

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anzuschreiten und Neues hervorzubringen (vgl. ebd.). So wurde Kampf durchaus positiv gedeutet und in ihm in der begrifflichen Verknüpfung mit Bewegung, Entwicklung, Fortschritt ein »Motor zur Weiterentwicklung« (Hellwald 1872, zit. n. Ajouri 2017: 126) gesehen. In einer Zeit eines derartig darwinistisch motivierten Fortschrittglaubens galt Kampf als »Metapher der Dynamik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts« (vgl. Ajouri 2017) und zwar sowohl als legitim als auch (handlungs-)legitimierend. Gesellschaftspolitische Relevanz erlangte der Kampfbegriff vor allem durch die marxistische Theorie im Kompositum Klassenkampf. Marx und Engels dient es im »Manifest« als Fluchtpunkt historischer Gesellschaftstheorie: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen« (Marx/Engels 1848: 3). Das kommunistische Manifest von Marx und Engels legte den theoretischen Grundstein für die Organisation der Arbeiterbewegung, die in Deutschland vor allem mit dem Namen Ferdinand Lassalle verbunden ist, der 1863 mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) die erste deutsche Arbeiterorganisation gründete (vgl. Greding 1971: 61ff.).4 Die fundamentale Einteilung in die konkurrierenden Klassen der Bourgeoisie und des Proletariats, die in einer asymmetrischen Relation zueinander stehen, begründet die Notwendigkeit zum revolutionären Klassenkampf der Arbeiterbewegung, als dessen Ziel die Überwindung der Klassenunterschiede stehe. Kampf legitimiert sich hier also aus dem existenziellen Erfordernis, ein diametrales Konkurrenzverhältnis einander feindlicher Antipoden historisch und materiell zu überwinden. Die Dimension des notwendigen Kampfes ist global und erstreckt sich zunächst über Nationen: »Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden« (Marx/Engels 1848: 10). In der Praxis der Arbeiterbewegung trug sich der gemeinsame Kampf jedoch vor allem in den Fabriken zu. Eine Antwort auf die soziale Frage, der sich die Arbeiterorganisationen des 19. Jahrhunderts widmeten, suchten sie vor allem im organisierten Arbeitskampf.5 Kampf, so lässt sich dieser kurze Abriss zusammenfassen, entfaltet sowohl in der darwinistisch-anthropologischen als auch in der marxistisch-gesellschaftstheoretischen Anwendung vor allem eine legitimatorische Kraft. Indem das Kämpfen diskursiv in fundamental existenzielle Zusammenhänge eingebettet wird, ist es zuvorderst ein pragmatisches Konzept, das sowohl Mittel als auch Ziele praktischen (Kampf-)Handelns darlegt und begründet. 4 Vom Ausdruck ›Arbeiterbewegung‹ abzugrenzen ist der Ausdruck ›Bewegung‹. In Deutschland wurde es um die Jahrhundertwende »immer gebräuchlicher, politische, soziale, reformerische Bestrebungen Bewegung zu nennen« (Schmitz-Berning 1971: 100). Im Nationalsozialismus wurde der referentielle Umfang immer weiter auf die NSDAP eingegrenzt und schließlich synonym dazu verwendet (vgl. Schmitz-Berning 1971: 101). 5 Für einen historischen Überblick zur Arbeiterbewegung siehe Greding (1971).

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Kampf

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Akteursbezogene Gebrauchsdarstellung Wie viele Male zum Exempel habe ich seit dem Mai 1945 in Funkreden, in leidenschaftlich antifaschistischen Kundgebungen etwa von »charakterlichen« Eigenschaften oder vom »kämpferischen« Wesen der Demokratie sprechen hören! Das sind Ausdrücke aus dem Zentrum – das Dritte Reich würde sagen: »aus der Wesensmitte« – der LTI (Klemperer 2018: 24f.).6

Das Konzept Kampf ist im NS-Diskurs insbesondere für den NS-Apparat (NSA) zentral. Wortbildungen mit dem Morphem -kampf-/-kämpf- finden sich im Teilkorpus des NS-Apparats in Relation zur Korpusgröße weitaus öfter als in den anderen Teilkorpora der integrierten Gesellschaft (GES), der Ausgeschlossenen (AUS) und des Widerstands (WID). Vor allem im Teilkorpus der Ausgeschlossenen sind Wortbildungen, die sich dem Konzept Kampf zuordnen lassen, deutlich seltener zu beobachten. Das Korpus der integrierten Gesellschaft indes besteht zu einem großen Teil aus Texten, die NS-affinen Gesellschaftsmitgliedern zuzuordnen sind. Wortbildungen mit -kampf-/-kämpfen- in den Teilkorpora NSA GES AUS WID7 Frequenz 22.795 19.075 1.147 4.380

gesamt 47.397

Token gesamt pro Mio. Token

26.021.295 1821,47

9.482.801 2403,83

12.884.891 1480,42

1.717.450 667,85

1.936.153 2262,22

Tab. 1: Wortbildungen Kampf

Einen ersten Zugang zum Konzept Kampf bietet die Verwendung des Lexems Kampf auf der Ausdrucksebene als Komponente von Komposita, wobei Kampf-/kampf recht produktiv sind. Besonders frequent treten im untersuchten Korpus Komposita auf, die von Kriegsaktivitäten berichten. So schreibt etwa Goebbels in seinen Tagebüchern regelmäßigen über Kampfhandlungen und oft auch darüber, dass jene nicht oder kaum stattfanden. Auch in den Meldungen aus dem dritten Reich finden sich regelmäßig Berichte über Kampfhandlungen und Kampftätigkeiten. Zur Gruppe der Kriegsberichte lassen sich auch Bildungen wie Kampfflugzeuge, Kampfmittel, Kampfverbände, Abwehrkämpfe, Kampfgebiet, Kampfkraft, Kampfverlauf, Kampfabschnitt, Kampfgeschehen, Kampffront, Kampfstellung, Kampflinie, Kampfgeschwader oder Luftkampf zählen. Das Konzept Kampf war somit – wenig überraschend – vor allem während des Zweiten Weltkriegs vom situationsbezogenen Kriegsberichtswesen geprägt, das vor allem Sachverhaltsdarstellungen mit Bezug auf militärische Einheiten, Vorgänge kriegerischer Aus6 Vgl. zu kämpferisch auch Schmitz-Berning (2007: 345–347). 7 Inklusive HetWik-Korpus (zu den Korpora siehe Einleitung in Teil 1).

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einandersetzungen oder deren geografisch-positionellen Umstände zum Gegenstand hatte. Andere Kompositabildungen wiederum verweisen auf politisch-ideologische Lesarten des NS-Sprachgebrauchs: Kampfzeit, das sich auf die Phase von der Gründung der NSDAP bis zur Machtergreifung bezieht (siehe 2.1.5), Freiheitskampf, Klassenkampf, Schicksalskampf, Lebenskampf. Die Determinantien greifen hierbei jeweils unterschiedliche Aspekte auf. Freiheitskampf bindet das Hochwertlexem Freiheit ein, womit ebenso das Ziel Kampf um die Freiheit (siehe 2.1.3) benannt ist. Als Kookkurrent zu Freiheitskampf finden sich Volk bzw. deutsches Volk frequent wieder, was den zu führenden Kampf als gesellschaftliches Erfordernis umschreibt, das ›volksgemeinschaftliche‹ Ziel zu erreichen. Klassenkampf ist hingegen ein klar markiertes Fahnenwort marxistischer Ansätze. Seitens des NS-Apparats wird es sodann auch als Stigmawort gebraucht und der Marxismus etwa in einer Ausgabe zum 25-Punkte-Programm der NSDAP pejorativ als Klassenkampflehre bezeichnet (GF 1935 [1927]: 55). Hingegen wird Klassenkampf in Widerstandstexten in Bezug zu einem demokratischen System gesetzt, so wie durch die SAP: Jeder nachhaltige, andauernde Klassenkampf der Arbeiterschaft ist unter der kapitalistischen Herrschaft nur auf dem Boden demokratischer Rechte möglich (SAP 1935/ 1936: 120).

In dem für die Arbeiterbewegungen zentralen Identifikationswort Klassenkampf findet Kampf direkten Anschluss an die eingangs skizzierte marxistische Gesellschaftstheorie des 19. Jahrhunderts. Schicksalskampf und Lebenskampf wiederum schließen an den darwinistischen Topos des Existenzkampfs an, der zeitlich perspektiviert sowohl in seinem Prozess andauernd (Lebens-) und in seinem Nachgang nachhaltig (Schicksal-) sei. Hier offenbaren sich pluralistische Lesarten, die Kampf sowohl auf der individuellen als auch der gesellschaftlichen Ebene verorten und ihn als zeitlich abgeschlossenes Ereignis wie auch als dauerhaften Prozess darstellen. Dieser knappe Einblick in die morphologische Produktivität von Kampf in Komposita zeigt auf, dass zwischen den Akteursklassen starke Unterschiede hinsichtlich der sprachlichen Konzeptualisierung von Kampf bestehen, die der weiteren Differenzierung bedürfen. Aus den quantitativen Befunden zur unterschiedlichen Häufigkeit der Wortbildungen mit dem Morphem kampf (vgl. Tab. 1) lässt sich die These ableiten, dass das Konzept Kampf vor allem für den NS-Apparat und die NS-affine Gesellschaft bedeutsam war, nämlich als ideologisches Leitkonzept. Während es für die Ausgeschlossenen eine geringere Rolle spielte und daher diese Akteursklasse hier nur kurz besprochen wird, war für den Widerstand Kampf ein ebenso zentrales wie verbindendes Element. Dies legt den Schluss nahe, dass die hier als diametral konstituierten Akteursgruppen des NS-Apparats und des Widerstands

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Kampf

auch und vor allem als sprachliche Praxisgemeinschaften in feindliche Konkurrenz traten. Kampf ist möglicherweise somit ein Konzept, dass sowohl eine konkurrierende Gesellschaftskonstellation herbeiführt wie auch eines, auf das zurückgegriffen wird, um einen asymmetrischen Konkurrenzstand zu überwinden.

2.1

NS-Apparat

Mit Mein Kampf verfasste Hitler das weitverbreitete und ab der Machtübernahme 1933 im deutschen Alltag »omnipräsent[e]« (Plöckinger 2011: 443) demagogische Pamphlet des Nationalsozialismus als Kampfschrift.8 Da die Rezeptionsgeschichte vielfältig ist und hier nicht dargestellt werden kann,9 soll im Folgenden lediglich exemplarisch ein Zitat wiedergegeben werden, in denen Hitler sich zum Thema Sprachpolitik äußert. Relevant für die Konstitution von Kampf wird der Beleg durch die allgemeine Formulierung: Wie überall und immer, in jeglichem Kampf, gab es auch im Sprachenkampf des alten Österreich drei Schichten: die Kämpfer, die Lauen und die Verräter (AH 1943 [1925]: 10f.).

Der Beleg leitet generisch ein: Wie immer und überall sowie in jeglichem Kampf und markiert somit einen Verallgemeinerungsanspruch der Äußerung. Indem drei Gruppen dargestellt werden, die einem Kampf zugehörig seien, segregiert Hitler die Kämpfer von den pejorativ einzuordnenden Lauen und Verräter. Diese meliorative Kontrastierung deutet die Verwendung von Kampf als Hochwertwort der nationalsozialistischen Ideologie an. Ein früher Rezensionskommentar zu Mein Kampf bringt zum Ausdruck, welche Bedeutungsaspekte des Lexems Kampf im publizistischen Diskurs (re-) produziert wurden: Man mag zu Hitler und seinem Lebenswerk stehen, wie man will – man muss ihm das Zeugnis ausstellen, dass er ein hochbefähigter Mensch ist, der mit ehrlichem Wollen seinen in hartem Lebenskampf errungenen Ueberzeugungen ein Vorkämpfer ist. Wer die eigenartige Persönlichkeit Hitlers näher kennen lernen und Verständnis für sein Handeln gewinnen will, der greife zu seinem Buch; er wird es, ob zustimmend oder kritisch, mit Nutzen lesen (ANN 1925). 8 Zwar ist aufgrund fehlender Daten schwer zu ermitteln, wie sehr Mein Kampf rezipiert wurde (vgl. Plöckinger 2011: 444). Dass das Buch jedoch weitgehend ›ungelesen‹ war, ordnet der Mitherausgeber der kritischen Mein Kampf-Edition, Othmar Plöckinger, als durch ehemalige Hitler-Anhänger geschürten »Mythos« ein, »der sich nach 1945 in die Rechtfertigungsstrategien der frühen Nachkriegsjahre einfügte und dort eine lang anhaltende Wirkung zeigte« (Plöckinger 2011: 362). 9 Vgl. dazu Plöckinger (2011: Kap. III).

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Mit der Attribuierung hart ist ein Kernaspekt der Bedeutung von Kampf angesprochen: Kampf bedeutet Entbehrung, Schonungslosigkeit und auch Auf-SichGestellt-Sein, insofern hier ja gerade der persönliche Kampf Hitlers angesprochen ist. Das Determinans Lebens- bestimmt Kampf hier als dauerhaft, personengebunden und ideologisch durchdringend. Dass Hitler dadurch zu einem Vorkämpfer würde – eine eher selten gebrauchte Verwendung – unterstreicht den pionier- und idolhaften Charakter des Kämpfens. Diese beispielhafte Rezeption von Mein Kampf legt dar, dass das Buch durchaus Erfolg im Sinne seines Verfassers hatte, auch indem es das titelgebende Konzept Kampf im nationalsozialistischen Sinne wohlwollend und affirmativ aufnimmt und somit deontisch reproduziert. 2.1.1 Kampf und kämpfen im Teilkorpus NS-Apparat Das Korpus des NS-Apparat besteht zuvorderst aus Texten von Hitler und Goebbels. Dominant vertreten sind hierbei Reden und Abhandlungen von Hitler sowie die Tagebücher von Goebbels. Kampf ist als nationalsozialistisches Hochwertwort darin hochfrequent. Im Folgenden werden vor allem kollokative Verwendungen der realisierten Wortformen der Lexeme Kampf und kämpfen untersucht. Dazu wurden zunächst Kookkurrenten, n-Gramme und Keywords mit dem Abfragestring *k?mpf* korpuslinguistisch ermittelt (vgl. Tab. 2). Zu den Abfrageergebnissen wurden Belege ausgewählt, anhand derer die durch die Kookkurrenzen, n-Gramme und Keywords indizierten Verwendungsweisen analysiert werden. Die hierzu selektierten Abfrageergebnisse sind in der folgenden Darstellung fett markiert. Vereinzelt wurden weitere quantitative Erhebungen durchgeführt, um die Kookkurrenzen zu diversifizieren.10 *k?mpf* in NSA-Teilkorpus Methode

Saliente Kookkurrenten und Mehrworteinheiten ( jeweils top 30)

Kookkurrenten (absteigend sortiert nach Log-Likelihood-Wert mit p < 0.05 +Bonferroni)

gegen, um, im, den, der, ich, gange, statt, heftige, schweren, für, harten, schwerpunkt, diesen, unseres, fanden, des, kampf, raum, dauern, schwere, heftigen, truppen, diesem, griffen, freiheit, marxismus, harte, man

10 Aufgrund der Redundanz wurde auf eine analoge Darstellung für die weiteren Akteursklassen verzichtet. Ohnehin hat das Konzept Kampf auch quantitativ für die Akteursklasse NS-Apparat das höchste Gewicht, sodass die wichtigsten Kookkurenzen, Kollokationen und Wortverbindungen durch die Tab. 2 erschöpfend dargestellt werden.

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Kampf

(Fortsetzung) *k?mpf* in NSA-Teilkorpus

2-Gramme

3-Gramme

der kampf, den kampf, kampf gegen, kampf um, die kämpfe, im kampf, zu kämpfen, des kampfes, kampf der, im kampfraum, des kampfbundes, kampf und, kämpfen und, der kämpfe, diesen kampf, kampfraum von, kämpfe im, dieser kampf, wir kämpfen, zum kampf, kampf für, ein kampf, kampf mit, im kampfe, diesem kampf, kampf in, kämpfe in, einen kampf, den kämpfen, dieses kampfes kampf um die, kampf gegen die, kampf gegen den, in diesem kampf, in den kampf, schwerpunkt der kämpfe, daß der kampf, kampf gegen das, kampf um das, keine besonderen kampfhandlungen, kampf um den, kampf für die, ist der kampf, kämpfe im gange, für den kampf, in diesem kampfe, sind die kämpfe, daß dieser kampf, in der kampfzeit, kämpfe an der, kämpfen kam es, kampf in der, kampfes um die, bei den kämpfen, die alte hauptkampflinie, in den kämpfen, kämpfen und arbeiten, aus der kampfzeit, kampf auf leben, kämpfe im osten

der schwerpunkt der kämpfe, kampf um die macht, kampf gegen den marxismus, kampf gegen den bolschewismus, kampf auf leben und, militärische lage die kämpfe, kampf um die freiheit, kampf um sein oder, kampf der nationalsozialistischen bewegung, kampf um die deutsche, kämpfe an der ostfront, kämpfe im raum von, kampf um das leben, kampfes um die macht, kämpfe sind noch im, fanden keine 4-Gramme besonderen kampfhandlungen, arbeiten und zu kämpfen, für seine verbündeten gekämpft, schicksalskampf des deutschen volkes, nur zu örtlichen kämpfen, kampf gegen den young [plan], kampf um die innere, kämpfen bis zum letzten, es ist ein kampf, kampf gegen das deutschtum, kampf gegen das judentum, kampf um das tägliche, kampf um die erhaltung, kampf um die seele, kämpfe noch im gange Tab. 2: Kampf und kämpfen im NSA-Teilkorpus

Im Korpus hochfrequent ist die Verwendung der Ausdrucksformen von Kampf und kämpfen in Verbindung mit konkreten militärischen Kriegshandlungen. Die Attribuierungen schwere, harte, heftige, erbitterte weisen hierauf ebenso hin, wie, in den meisten Fällen, der Plural Kämpfe sowie Ausdrücke wie keine besonderen Kampfhandlungen, schwere Kämpfe, nur zu örtlichen Kämpfen, Kämpfe an der Ostfront oder Kampfhandlungen, Hauptkampflinie und Truppen. Mit den Ausdrucksformen von Kampf werden hierbei Konkreta erfasst – als wahrgenommene bzw. berichtete Sachverhalte, Handlungen und Vorgänge im Kriegsgeschehen des Zweiten Weltkriegs. Gegenüber dieser Beschreibung von Kriegshandlungen, die insbesondere in Berichten, aber auch in Feldpostbriefen vorkommen, steht der Gebrauch der Ausdrucksformen von Kampf und kämpfen

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als alltagsbezogene oder politische Abstrakta. Hinsichtlich ihrer Funktion als ideologiebildendes nationalsozialistisches Leitkonzept durch den NS-Apparat ist die abstraktive Verwendung von Kampf als Kontroverse und Kampf als Bemühung als relevanter zu erachten. Im Folgenden soll daher auf Kampf als vornehmlich deontisch gebrauchtes Abstraktum eingegangen werden. 2.1.2 Kampf gegen: Konstruktion von Antagonisten Einer der frequentesten Kookkurrenten von Kampf ist gegen. Die Clusteranalyse von 4-Grammen mit der Wortverbindung Kampf gegen (vgl. Tab. 3) macht ersichtlich, gegen wen oder was sich der propagierte Kampf richtet. Mit großem Abstand sind dabei vor allem Bolschewismus und Marxismus als Antagonisten benannt. Kampf wird hierbei dazu verwendet, ein Feindbild zu erschaffen und die mit der Präposition gegen relationierten Ausdrücke als Stigmawörter zu etablieren. 4-Gramme mit *k?mpf* kampf gegen den bolschewismus (38), kampf gegen den gegen marxismus (37), kampf gegen den young [plan] (11), kampf (Frequenz ≥10 in gegen das deutschtum (10), kampf gegen das judentum (10) Klammern) Tab. 3: 4-Gramme mit kampf gegen

Inwieweit die diskursive Verdichtung in der Phrase Kampf gegen den Bolschewismus prägend für die NS-Außenpolitik war, wird in folgenden Belegen gewahr: Gerade für den Kampf gegen den Bolschewismus kommt daher meines Erachtens eine deutsch-französische Militärkonvention am wenigsten in Frage (AH 1930a: 73). Außerordentlich erfreulich ist auch die Tatsache, daß unser Kampf gegen den Bolschewismus endlich doch die europäischen Völker in Bewegung gebracht hat (JG 1941: 36).

Im ersten Beleg erörtert Hitler eine außenpolitische Allianz zwischen Deutschland und Frankreich und spricht dieser die Eignung für den propagierten Kampf ab. Hier wird der Kampf gegen den Bolschewismus als außenpolitisches Leitmotiv gesetzt, dem Bewertungen internationalen Zusammenwirkens und zwischenstaatlicher Vereinbarungen (Militärkonvention) folgen. Dem Kampf gegen den Bolschewismus kommt somit ein staatsbestimmendes deontisches Moment zu. Kampf steht hier für eine langfristige außenpolitische Agenda, die die Sowjetunion, als Heimat der qua Kollektivsingular Bolschewismus adressierten Bolschewiki, als Feind identifiziert. Kampf gegen etwas bzw. jemanden stellt sich dabei ebenso als Auseinandersetzung dar, in der Dritte, die den gleichen Feind haben, sich womöglich verbünden – hier im Rahmen eines militärischen Bündnisses.

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Der zweite hier aufgeführte Beleg, ein Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom Juli 1941, illustriert das im Tagebuch zur Schau gestellte Verständnis des Kampf[es] gegen den Bolschewismus als nationalsozialistisches Projekt, dem sich mittlerweile im Zweiten Weltkrieg andere europäische[…] Völker angeschlossen haben. Das Possessivum unser verstärkt den Eindruck, dass es sich bei der in der Sprache des NS-Apparats hochfrequent gebrauchten Phrase Kampf gegen den Bolschewismus um einen Fahnenausdruck handelt, der im Kern der nationalsozialistischen (Außen-)Politik steht. Der Kampf ist inzwischen realiter in einen Kriegszustand eingetreten, was dem Ausdruck eine kriegslegitimatorische Kraft verleiht. Dass Kampf hier Dritte in Bewegung gebracht habe, verdeutlicht sowohl grammatisch als auch semantisch dessen agentives Potential. Kampf kommt hier als beharrendes Element zum Ausdruck (endlich), dem demnach nicht nur durch dessen Verheißung, mit seinem Abschluss zu einem positiven, erwünschten Ergebnis zu gelangen, sondern dem ebenso eine motivationale, partizipative Anziehung zugeschrieben wird. Im Jahre 1918 durfte niemand mehr erwarten, daß unser politisches Bürgertum Kraft und Mut aufbringen würde, überhaupt noch einmal den Kampf gegen den Marxismus bis zur letzten Konsequenz auf sich zu nehmen (AH 1929: 326).

Der Gebrauch der Wortverbindung Kampf gegen den Marxismus wurde ab ca. Anfang der 1930er Jahre weitgehend von der Verwendung von Kampf gegen den Bolschewismus, die während des Zweiten Weltkriegs am ausgeprägtesten war, abgelöst. In diesem Beleg aus dem Jahr 1929 dient Kampf als Identifizierungsmerkmal für diejenigen, die im Gegensatz zum politische[n] Bürgertum, dem diese Fähigkeiten hier abgesprochen werden, die Kraft und den Mut aufbrachten, ihn überhaupt noch einmal aufzunehmen. Die Zuschreibung dieser positiven Eigenschaften hat identitätsstiftende Funktion, die durch die politisch-soziale Kategorisierung politisches Bürgertum, als oppositionell abgegrenztes Negativexempel, noch verstärkt wird. Die Retrospektive auf eine als hoffnungslos dargestellte politische Situation nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg würdigt die Adressierten, indem sie implizit deren Kampfbereitschaft hervorhebt. Hierbei verdeutlicht der Ausdruck bis zur letzten Konsequenz, dass Kampf als (langwieriger) Prozess zu begreifen sei, mit dem eine hohe Opferbereitschaft einhergehe. Diese Darstellung steht im Übrigen im Einklang mit der von Kampf und Krieg als Lebenserfüllung, die Hitler bereits in Mein Kampf entwirft (vgl. Glaser 2015: 28). Der Kampf gegen den Young Plan, ein Abkommen über die Reparationszahlungen auf Grundlage des Versailler Vertrags, wird in vereinzelten Beiträgen thematisiert. Damit wird ein Antagonist hervorgebracht, der sich – als dokumentiertes politisches Faktum – weniger abstrakt darstellt als Bolschewismus oder Marxismus:

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Taktische Erwägungen haben uns dazu bewogen, den Kampf gegen den Young-Plan mit einer Reihe anderer Verbände gemeinsam zu führen. […] Es gelang auch, eine Anzahl von Verbänden bündischer und parlamentarischer Art an diesem Kampfe zu interessieren, und der endgültige Erfolg war sicherlich kein schlechter. Wir glaubten damals, durch diese Taktik dem deutschen Volke mehr nützen zu können, als wenn wir isoliert allein diesen Kampf gegen den Young-Plan geführt hätten (AH 1930b: 156).

Auch hier steht Kampf als bündnislegitimierendes Element, wobei vor allem Aspekte strategischen Kalküls betont werden. Kampf wird hier gezeichnet als etwas, an dem andere Interesse haben. Dieses gemeinsame Interesse führe zum Zusammenschluss und zum Erfolg, der ohne dieses strategisch motivierte Bündnis nicht möglich gewesen wäre. Letztlich wird Kampf hier legitimierend als zielorientierter Prozess dargestellt, dessen Erfolgsperspektiven sich durch zweckorientierte Zusammenschlüsse wesentlich zu verbessern scheinen. 2.1.3 Kampf um: Legitimation durch Kampf 10 häufigste 4-Gramme mit kampf um die macht (39), kampf um die freiheit (18), »kampf um« (Frequenz in kampf um sein oder [nichtsein] (18), kampf um die Klammern) deutsche [Gleichberechtigung/Zukunft/Freiheit/Ehre/…] (17), kampf um das leben (15), kampf um die innere [Macht/Erhebung/Neugestaltung] (11), kampf um das tägliche [Brot] (10), kampf um die erhaltung [des Daseins/ Volkes/Deutschtums/…] (10), kampf um die seele (10), kampf um das dasein (8) Tab. 4: 4-Gramme mit kampf um

Die Referenzobjekte der Wortverbindung Kampf um sind entweder zu erlangende oder zu bewahrende Entitäten. Neben dem politischen Kampf um die Macht und um die Freiheit geht es im Sprachgebrauch des NS-Apparats vor allem um Existenzielles: Leben, Sein, Brot usw. Auffällig ist hierbei die konstruierte Verbindung staatlicher mit individuellen Motiven für politische wie existenzielle Kämpfe, die folgender Beleg illustriert: Denn der Staat stellt nichts anderes dar als die Organisation der einzelnen zum gemeinsamen Kampf der Gesamtheit um das Leben, der seinen Ausdruck findet in der Politik. […] Bismarck sagt: Politik ist die Kunst des Möglichen, d. h. es gibt keinen bestimmt vorgeschriebenen Weg; dieser Lebenskampf wird geführt mit allen Möglichkeiten, die versprechen, daß der Kampf zu einem siegreichen Ende führt. […] Zusammenfassend können wir sagen, daß Politik ein Kampf ist, und zwar der Kampf eines staatlich zusammengefaßten Volkes um das Leben und für das Leben, ganz gleich mit welchen Mitteln sie durchgeführt wird (AH 1928: 723).

In dem Ausschnitt der mit Tageskampf oder Schicksalskampf überschriebenen Rede begründet Hitler Staatlichkeit explizit damit, einen gemeinschaftlichen Zusammenschluss für einen politischen Kampf zu bilden. Dieser leite sich aus

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einem individuellen Lebenskampf ab. Lebenskampf birgt hier mehrere Lesarten: Er ist an eine Person gebunden, bezieht sich auf die individuelle Ebene; er ist eine ›Aufgabe für das Leben‹, was eine überdauernde biografische Komponente enthält; und er ist existenziell, insofern mit dem Ausdruck der Kampf um das Leben – diese Verbindung wird hier durch Rekurrenz verstärkt – beschrieben ist. Hitler konkludiert, dass Politik ein Kampf sei, wobei Politik sich begründe durch den völkischen Zusammenschluss individueller Kämpfe um die eigene Existenz. Der Topos des existenziellen Kampfs legitimiert sodann auch die eingesetzten Mittel, denn das Kämpfen stellt Hitler mit Rekurs auf Bismarck als unbegrenzt in seinen Möglichkeiten dar, sofern es dem Erlangen des Ziels – dem siegreichen Ende – diene. Aus der Formulierung siegreiche[s] Ende lässt sich indes dreierlei inferieren: Erstens wird Kampf erneut als Prozess dargestellt – hier in leichtem Widerspruch zu Lebenskampf –, der auch ein vorhersehbares Ende hat. Zweitens hat das Ende als Sieg einen deontischen und gleichsam legitimatorischen Charakter; es gilt den Kampf so lange und mit allen möglichen Mitteln zu führen, bis er siegreich ist. Und drittens dient das skizzierte Ende des Kampfprozesses der ›Verheißung‹ (versprechen), nämlich der Belohnung, die auf die entbehrungsreiche Zeit des Kämpfens folgt – was geradezu spirituell anmutet. Diesen Beleg zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Kampf hier, im Gegensatz zu seiner alltagssprachlichen Bedeutung, als Hochwertwort entworfen wird, das als Begründungszusammenhang die nationalsozialistische Politik mit unbegrenzten Mitteln legitimiert, einen völkischen Zusammenschluss zur Bewahrung individueller Existenz durchzusetzen. Durch die kollokative Verknüpfung von Kampf um mit einem existenzausdrückenden Referenzobjekt wird diese – historisch betrachtet: kriegsvorbereitende und -legitimierende – Programmatik begründet. 2.1.4 Kämpfen und arbeiten: Das Alltägliche im Krieg Die Koordination kämpfen und arbeiten und kollokative Verknüpfungen wie zu arbeiten und zu kämpfen kommen im Korpus vergleichsweise frequent vor. Dabei tritt diese Kollokation vor allem in Verbindung mit dem Krieg auf und ist im Korpus in den 1940er Jahren entsprechend frequenter als in den 30ern. Aber wir werden so oder so kämpfen und arbeiten bis zum Sieg (JG 1939: 92).

Mit einem Zukunftstempus skizziert Goebbels kurz nach Beginn des Krieges Kampf und Arbeit als alternativlosen Prozess bis zum präsupponierten Erfolg am Ende dieses Prozesses. Erneut wird hier der Verheißungstopos bemüht. Wir wollen arbeiten und kämpfen, als gelte es täglich das Leben. Dann sind wir gegen jede Gefahr gefeit und werden das Leben gewinnen (JG 1943a: 227).

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Wenn an dem glücklichen Tage des Sieges, den wir nicht nur alle herbeisehnen, für den wir vielmehr mit jeder Kraft kämpfen und arbeiten, über dem Reich die Glocken ihre ehernen Münder öffnen, dann werden auch auf den Brandruinen dieser zerstörten Straßen und Häuser die Fahnen unseres Reiches hochgehen (JG 1943b: 329); Es ist daher meine einzige Sorge, mich abzumühen, um das deutsche Volk durch diese Zeit der Not hindurchzuführen und ihm damit das Tor in jene Zukunft zu öffnen, an die wir alle glauben, für die wir kämpfen und arbeiten (AH 1945).

Im Kriegsverlauf gewinnt die semantische Verschmelzung von kämpfen und arbeiten an Bedeutung, wie die drei vorstehenden Belege zeigen.11 Im ersten Beleg drückt Wir wollen eine gemeinschaftliche Absicht aus, die mit Nachdruck adressateninkludierend gelesen werden kann. Das konsequenzanzeigende Dann verstärkt gemeinsam mit dem folgenden Versprechen die unterstellte Absicht noch. Der zweite der Belege exemplifiziert erneut den Topos der Verheißung, deren Zukunftsentwurf hier überaus explizit gemacht wird: am glücklichen Tage des Sieges – eherne Münder – Fahnen unseres Reiches hochgehen. Wiederholt adressateninkludierend fungiert hier herbeisehnen, das als Emotionsausdruck Identifikationspotential eröffnet. Die aus der Entbehrung herrührende Sehnsucht wird durch die hier deutlich ausbuchstabierte, antizipatorische Verheißung gestillt und die entbehrungsreiche Zeit des Kämpfens und Arbeitens somit letztlich belohnt. Der dritte Beleg aus einer Rede Hitlers im Januar 1945, also kurz vor der endgültigen Kriegsniederlage der Deutschen, thematisiert das Versprechen, das am Ende des Kampfs steht. Dabei wird der spirituelle Charakter des Verheißungstopos in Hitlers Versprechen, das Tor in jene Zukunft zu öffnen, an die wir alle glauben mit dem Zusatz für die wir kämpfen und arbeiten verbunden. Mit der Prophezeiung wird also direkt der Weg beschrieben, der zu ihrer Erfüllung führt – eine Selbstreferentialität, die hier geradezu göttliche Züge annimmt und wohingegen kämpfen und arbeiten äußerst bodenständig anmutet. Arbeiten und kämpfen werden in beiden Belegen durch die Koordination semantisch nicht weiter voneinander differenziert. Vielmehr entsteht hier eine Paarformel, deren Elemente semantisch einerseits zusammenschmelzen und die andererseits zwei noch voneinander unterscheidbare Bedeutungsaspekte in einer aber zusammen geschlossenen Handlungsphase aufwirft. Steht bei Kampf die entbehrungsreiche Auseinandersetzung im Vordergrund, bringt Arbeiten eine Alltagskomponente ein, die auch in Zeiten ohne politische und militärische Auseinandersetzungen lebensstrukturierend und -erfüllend ist. Diese Paarfor-

11 s. den Beitrag ›Arbeit‹ in Teil 2.

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mel fügt sich somit in den nationalsozialistischen deontischen Entwurf von Kampf als alltägliche Lebensaufgabe. 2.1.5 Gemeinsamer Kampf Das Konzept Kampf wird im politischen Kontext als ›soziales Bindemittel‹ angeführt, indem eine Einigung im Kampf gegen einen gemeinsamen Gegner propagiert wird. In einer Rede auf einer NSDAP-Versammlung vom 17. 10. 1932 bezieht sich Hitler auf »bürgerliche[] Politiker«: Sie wissen nicht, wie das gemeinsame Kämpfen und die gemeinsamen Opfer, das gemeinsame Leid, die gemeinsame Verfolgung und das gemeinsame Gefängnis – wie das die Menschen aneinanderkettet (AH 1932a: 73).

Auffällig ist hier die Rekurrenz der Attribuierung gemeinsam mit den semantischen Verknüpfungen mit dem Konzept Kampf durch die Ausdrücke Opfer, Verfolgung, Gefängnis. Herausgestellt wird hierbei vor allem eine geteilte körperliche wie seelische Erfahrung, die denjenigen gegenübergestellt wird, die diese Erfahrung nicht gemacht haben. Mit Sie wird anaphorisch auf die politischen Gegner referiert, die zuvor konkretisiert werden: Es gibt in Deutschland bürgerliche Politiker, die voller Hoffnung sind, daß wir Nationalsozialisten wieder klein werden und die bürgerlichen Parteien wieder zunehmen (AH 1932a: 72).

Diesen Politikern wird Wissen, qua persönlich erlangter biografischer Erfahrung, abgesprochen. Hitler bezieht sich offenbar auf die sogenannte Kampfzeit: Wir haben nicht 13 Jahre lang gekämpft, damit wir die Gegenwart wieder früheren Irrungen preisgeben (AH 1932a: 73).

Der angesprochene Zeitraum der Weimarer Republik wird durch Ausdrücke, die eine negative Fremdbestimmung bedeuten – Opfer, Verfolgung, Gefängnis –, als überaus entbehrungsreich gezeichnet. Im Zentrum steht hier die bindende soziale Kraft einer mit starken Einbußen belasteten Phase, als gemeinsamer Lebensabschnitt. Hier wird also zuvorderst eine sozialitätsstabilisierende, inkludierende Bedeutungskomponente von Kampf angesprochen, die im mündlichen Vortrag durch die attributiven Wiederholungen verstärkt wird. Auch das zentrale Konzept der ›Volksgemeinschaft‹ ist durch Kampf in besonderem Maße mitbestimmt.12 Anlässlich einer Hilfsaktion des Winterhilfswerks entwarf Hitler im Kontrast zur internationalen marxistischen Solidarität einen Begriff der Nationalistischen Solidarität, die er rassisch (blutmäßig ewig)

12 s. den Beitrag ›Gemeinschaft‹ in Teil 1.

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begründet sah. In seiner Rede zur Eröffnung einer Hilfsaktion thematisierte er erneut Entbehrungen: Wenn das ganze Volk richtig erfaßt hat, daß diese Maßnahmen für jeden ein Opfer bedeuten müssen, dann wird aus diesen Maßnahmen heraus nicht nur eine Milderung der materiellen Not eintreten, sondern es wird noch etwas viel Gewaltigeres herauskommen, es wird daraus die Überzeugung wachsen, daß diese Volksgemeinschaft nicht ein leerer Begriff, sondern daß sie wirklich etwas Lebendiges ist. Wir benötigen in dem schweren Kampf der Nation diese Gemeinschaft mehr denn je (AH 1933: 300).

Im Gegensatz zum obigen Zitat findet hier eine Hierarchisierung von Opferbereitschaft und Kampf statt. So ist hier der Kampf der Nation angesprochen, der mit individuellen, persönlichen Opfern einhergehe. Kampf ist demnach dem persönlichen Tun übergeordnet. Nicht einzelne Personen fechten diesen Kampf aus, sondern die Entität der Nation, die auf eine (›Volks-‹)Gemeinschaft angewiesen ist, die sich ihrerseits durch Opferbereitschaft ausbildet. Somit ist hier nicht die Handlung des Kampfes als bindend angesprochen, sondern vielmehr die Kategorie der Opfer- und Entbehrungsbereitschaft, die überhaupt erst zur Möglichkeit des nationalen Kampfes hinreicht. Insofern steht das Konzept der Volksgemeinschaft hier im Dienst von Nation und Kampf. Soziale Bindung wird als Möglichkeitsbedingung für nationales, kämpferisches Handeln konstituiert, womit Kampf konzeptuell auf einer weiteren Ebene angesiedelt wird. Die soziale Bindekraft von Kampf wird durch Hitler in seiner Darstellung von Vergemeinschaftung durch Kampf propagiert. Die Kampfzeit13 stellt Hitler in der Retrospektive gegen Ende 1932 als Entwicklung hin zur ›Volksgemeinschaft‹ dar,

13 Schmitz-Berning (2007) zufolge datiert die Kampfzeit auf die »Zeit des Aufstiegs der NSDAP von 1918 bis 1933«. Sie widmet ihr einen Eintrag in ihrem »Vokabular des Nationalsozialismus« (S. 347f.). Die Kampfzeit der NSDAP in der Weimarer Republik war vor allem durch ihren eigenen Kampf gegen das politische System geprägt aus einer Position der NichtEtablierten. Kampfzeit wurde als Retrospektive bereits während der NS-Zeit als heldenerzählende »Epochenbezeichnung« (ebd.) etabliert, die den entbehrungs- und letztlich erfolgreichen NSDAP-Aufstieg umfasst. Hieraus entfaltet sich musterhaft ein Narrativ der sukzessiven Progression durch einen verlustreichen Kampf. Beispielhaft für das argumentative Potenzial der eigenen Beteiligung als systemopponenter alte[r] Kämpfer an der Kampfzeit und somit der Legitimation von Bevorteilungen in der systemopportunen Zeit des Nationalsozialismus sei folgender Beleg aus einem Bittgesuch eines Bürgers, Emil G., um bessere berufliche Stellung an das Badische Kreisschulamt: Ich glaube nicht, dass es im Sinne des Herrn Ministers liegt, einen alten Kämpfer heute wirtschaftlich schlechter gestellt zu werden als im alten Staat. Durch meinen restlosen Einsatz in der Kampfzeit kam meine Familie wirtschaftlich und seelisch in große Not. Es ist eine feststehende Tatsache, dass ich der meistverfolgte Volksschullehrer im alten Staat war (EG 1934 [für diesen Beleg danke ich Stefan Scholl, MDA]).

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die ihren Anfang ihm zufolge 1919 nahm.14 In einer Rede auf dem Gautag des Gaues Essen der NSDAP in Essen vom 30. 10. 1932 rekapituliert Hitler: Ich habe nun damals zu arbeiten begonnen in der Überzeugung, daß man erst eine kleine Gruppe von Menschen bilden muß, und daß man diese Gruppe dann erweitern muß, vielleicht zu einem kleinen Klub, dann zu einem Verein, endlich zu einer Partei und dann zu einer Bewegung. Und daß es zuerst 500, endlich tausend sein müssen, und zu den tausend müssen dann Hunderttausend hinzukommen und endlich Millionen. Und daß man im Laufe dieses Kampfes die Menschen aneinander gewöhnt, daß diese Menschen sich gegenseitig wieder schätzen, achten und verstehen lernen, daß sie im Kampf eine lebendige Gemeinschaft bilden, daß aus der Gemeinschaft eine lebendige Organisation wird und daß diese Organisation allmählich in das Volk hineinwächst als ein Faktor, der immer weitere Kreise zieht, und daß endlich aus dieser Bewegung wieder ein Volk wird, eine Volksgemeinschaft, und daß darauf dann ein Staat gestützt wird, der unter sich wieder ein sicheres Fundament hat (AH 1932b: 130f.).

Hitler skizziert hier die Entwicklung des Nationalsozialismus und die Zunahme seiner Anhängerschaft als Phase, die vor allem durch Kampf geprägt ist. Die Darstellung, dass die Beteiligten im Kampf eine lebendige Gemeinschaft bilden, greift den Topos der Vergemeinschaftung durch Kampf auf. Über die nominalen Verkettungen von kleine Gruppe von Menschen – kleiner Verein – Partei – Bewegung und Menschen – Gemeinschaft – Organisation – Bewegung – Volk – Volksgemeinschaft stellt er den sukzessiven Zuwachs plastisch und als graduellen Prozess dar. Kampf, so scheint es, ist in diesem Verlauf eine Konstante, die ihr Ende mit einem sichere[n] Fundament für einen Staat findet. Somit ist ebenso die Zeitlichkeit von Kampf angesprochen als ein endlicher Prozess mit dem Ziel, einen anderen politischen Zustand herbeizuführen. Kampf wird dergestalt wiederholt als Mittel zum Erreichen eines politischen Ziels legitimiert.

14 In dem Rekurs auf eine zeitlich distinkte Phase als durch Kampf geprägte politische Phase, zeigt sich ein durch Serialität gekennzeichnetes diskursives Muster: So lautet etwa der ursprüngliche Arbeitstitel von Mein Kampf: 4½ Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit /Eine Abrechnung (Plöckinger 2011: 88), wobei sich 4½ Jahre biografisch-rekursiv auf die Zeit des Ersten Weltkriegs als Kampfzeit bezieht. »Die »4½ Jahre Kampf« galten dabei als Chiffre für den Weltkrieg, die vor und nach 1924 immer wieder verwendet wurde« (Plöckinger 2011: 87), so etwa auch vom Völkischen Beobachter (»besonders gehäuft in der Sondernummer 72a vom April 1926«, Plöckinger 2011: Fn. 321).

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430 2.2

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Integrierte Gesellschaft

2.2.1 Kampf als ›soziales Bindemittel‹ Auch in integrierten Gruppen, die nicht dem NS-Apparat zuzurechnen sind, wird Kampf als Konzept angeführt, das dem Nationalsozialismus gegenüber Treuebekundungen begründet. Vertreter des Verbands (ehemaliger) tschechischer Frontsoldaten in Prag (vgl. Eberle: 380) richteten sich kurz vor dem Überfall Deutschlands auf Polen in einem Schreiben vom 25. 8. 1939 an Adolf Hitler: Wir tschechischen Frontsoldaten haben mit den deutschen Frontkameraden an allen Fronten ehrlich gekämpft. Wir haben gemeinsam unser Blut vergossen und gemeinsam gesiegt. Wir erklären heute feierlich, dass wir im Falle eines Krieges ebenso wie vor 25 Jahren Schulter an Schulter mit den deutschen Frontkameraden bis zum endgültigen Siege kämpfen wollen (JD/GC 1939: 381).

Anhand des Schreibens wird deutlich, wie mit dem Konzept Kampf sowohl die Vergangenheit umschrieben, als auch die Zukunft antizipatorisch zugerichtet wird. Die Verfasser identifizieren sich zunächst als Mitglieder des Verbunds tschechischer Frontsoldaten und inszenieren sich, durch die gewählte Form des Briefs an Seine Exzellenz Adolf Hitler (vgl. Eberle 2007: 381), als Repräsentanten dieser Gruppe. Durch die Wiederholungen der Attribuierung gemeinsam und des Ausdrucks Front wird die soziale Verbindung mit den deutschen Frontkameraden betont. Anhand der Betonung gemeinsamer (Kampf-)Handlungen im geteilten Handlungskontext und -ort Front erfolgt hier eine Anpassung der Eigenund Fremdpositionen tschechischer und deutscher Soldaten. Kampf dient hierbei demnach als historischer Handlungshintergrund einer einander alignierenden Positionierung. Referiert wird auf den Ersten Weltkrieg als Kampf vor 25 Jahren. In der Darstellung wird sowohl auf Verlust (Blut vergossen) als auch auf Erfolg (gesiegt) Bezug genommen. Somit werden unterschiedliche Bedeutungskomponenten von Kampf betont, aus denen jeweils Identifikationspotential abzuleiten ist. Unabhängig von seinem Ausgang – ob Sieg oder Niederlage – fungiert Kampf hier also als Konzept einer geteilten Handlungserfahrung mit sozialer Bindekraft. Zeitlich betrachtet sind die Phasen des Kampfes klar abgegrenzt: retrospektiv auf die Zeit des Ersten Weltkriegs und prospektiv auf einen möglicherweise bevorstehenden Krieg bis hin zum endgültigen Sieg. Die (Performanz-)Zeit des Schreibens wird demnach nicht als Phase des Kampfes gefasst. Kampf wird hierbei also dargestellt als geschlossene Kriegszeit, die idealiter mit dem Erfolg im Kampf, dem Sieg, endet. Damit ist nicht nur eine zeitliche Begrenzung, sondern auch ein klares Ziel eines gemeinsamen Kampfes benannt, das ebenso bindende Funktion hat.

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Kampf

2.2.2 Kampf gegen Die Wortverbindung Kampf gegen den Bolschewismus ist auch im Korpus der integrierten Gesellschaft hochfrequent, wird aber durch NS-affine und -dissidente Akteure unterschiedlich aufgegriffen. Durch ihr häufiges Auftreten erweist sich die Wortverbindung auch in der integrierten Gesellschaft als verfestigt (vgl. auch Steyer 2013). Im Korpus ist sie zudem als diachron vorgängig belegt, womit die Interpretation naheliegt, dass es sich in den Ego-Dokumenten wie Tagebüchern und Feldpostbriefen um Übernahmen von, aber auch Referenzen auf den NS-Sprachgebrauch durch die integrierte Gesellschaft handelt. Die Belege zu Kampf gegen den Bolschewismus sind heterogen und zur Veranschaulichung sollen hier drei Belegarten prototypisch herausgegriffen werden: Das ist insoweit nicht ganz von der Hand zu weisen, als diejenigen in der Partei, die 20 Jahre lang an einen Kampf gegen den Bolschewismus ehrlich geglaubt haben, einfach durch den neuen Pro-Rußland-Kurs an allem irre geworden sein mögen (FK 1939: 47).

Die Wortverbindung Kampf gegen den Bolschewismus ist hier in eine Retrospektive eingebunden, die der Sozialdemokrat Friedrich Kellner in seinen Tagebüchern verfasste. Kellner stellt zuvor das Attentatsnarrativ des Reichstagsbrands in Frage, worauf sich das satzeinleitende Das anaphorisch bezieht. Kampf gegen den Bolschewismus erscheint hier stellvertretend für die opponente politische Haltung des NS-Apparats gegenüber der Sowjetunion, die hier als festes und dauerhaftes ideologisches Element (geglaubt) dargestellt wird. Dass nun ein vermeintlicher Kurswechsel dazu führe, dass die Befürworter des bisherigen Kurses irre würden, nachdem sie 20 Jahre lang daran ehrlich geglaubt hatten, verdeutlicht die Zuschreibung einer tief sitzenden Überzeugung, die sich in der Wortverbindung transportiere. Eine explizite Distanzierung oder Zuordnung bezüglich des Sprachgebrauchs der Wortverbindung Kampf gegen den Bolschewismus findet hier nicht statt. Der Kampf gegen den Bolschewismus ist wert, das Leben einzusetzen. (WH 1941)

Inwieweit sich die Wortverbindung ideologisch unter den NS-affinen integrierten Gesellschaftsmitgliedern festsetzt, zeigt dieser Beleg aus einem Feldpostbrief. Hier bestätigt sich die ideologische Erhöhungspraktik, Kampf gegen den Bolschewismus als allem anderen, sogar dem eigenen Leben, übergeordnet darzustellen. Die propagandistische Einbettung und der Versuch, Kampf auch als gesellschaftliche Handlungsmaxime zu etablieren, scheint zumindest hier vollständig gelungen, wie die Rezitation zeigt. Der Sozialdemokrat Kellner hingegen urteilt: Der »Kampf gegen den Bolschewismus« ist ja nur eine dumme Phrase, wie alles, was der Nationalsozialismus verzapft (FK 1942: 226).

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Die Wortverbindung Kampf gegen den Bolschewismus ist hier metapragmatisch auf dreifache Weise markiert (vgl. Spitzmüller 2013). Die Anführungszeichen deuten nicht nur auf die metapragmatische Verwendung hin, sondern zeigen ebenso die Distanzierung von der Wortverbindung an. Die metasprachliche Kategorisierung dumme Phrase ordnet den Sprachgebrauch vor dem Hintergrund der Positionierung des Tagebuchverfassers, Friedrich Kellner, ein. Auch die Urheberschaft wird mit was der Nationalsozialismus verzapft expliziert. Der komparative Ausdruck wie alles zeigt zudem an, dass die kritisierte Wortverbindung Teil einer grundsätzlich kritisierbaren sprachlichen Praktik sei. 2.2.3 Kampf um Auch in den Briefen und Tagebüchern der integrierten Gesellschaft ist Kampf um die Macht die meistgebrauchte Wortverbindung mit Kampf um. Im folgenden Tagebuchausschnitt lässt sich sehr komprimiert nachvollziehen, wie unterschiedliche Bedeutungsaspekte des Kampfkonzepts in einem Ego-Dokument eines NS-affinen Mitglieds der integrierten Gesellschaft hervorgebracht werden, die jenen des NS-Apparats deutlich ähneln. Wenn ich dies alles schreibe, dann tue ich das nicht, um persönlich in den Vordergrund zu treten, sondern nur um den schweren Kampf um die Macht wieder wach zu rufen. Gleichzeitig musste ich im Stillen manchmal, den Mut und die Ausdauer meiner Frau bewundern, welche ohne zu murren und zu klagen den Kampf mit mir führte. Zu Hause war ich in den Jahren des Kampfes nur höchstens zum Essen und vielleicht einmal zum Schlafen. Im Jahre 1932 konnte ich mit meiner Familie ganze 4 mal Sonntags spazieren gehen. Aber desto stolzer ist das Bewusstsein, auch ich habe das äusserste hingegeben für die Eroberung des dritten Reiches (FH 1934: 3).

In diesem Ausschnitt aus einem Lebenslauf bezieht sich der NS-affine Autor retrospektiv auf die Jahre[] des Kampfes und markiert damit einen Zeitabschnitt. Dieser ist kategorisiert als schwere[r] Kampf um die Macht, wodurch die zuvor erfolgte biografische Erzählung sinnstiftend gerahmt wird. Das Attribut schwer führt dabei die Bedeutungsaspekte der Mühen, Entbehrungen, Widerstände und Opferbereitschaft mit und bezieht sich auf den Prozess des Kampfes im hier charakterisierten Zeitabschnitt. Macht hingegen nimmt Bezug auf das Ziel, das am Ende des erfolgreichen Kampfes steht: die politische Macht, die demnach einen überindividuellen Zweck darstellt, der zum schweren Kampf in einem legitimatorischen Verhältnis steht. Auch Geschlechterstereotype15 werden mit dem Ausdruck Kampf verwoben, indem die zugeschriebenen Eigenschaften der Ehefrau des Autoren, mutig und ausdauernd zu sein, ohne sich darüber zu beschweren, positiv hervorgehoben, ja mit Bewunderung quittiert werden. Der 15 s. den Beitrag › Geschlechter- und Generationenbilder‹ in Teil 1.

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gemeinsame Kampf (mit mir) wird hier als beziehungsstabilisierend dargestellt. Im Anschluss wird mit Jahren des Kampfes, nun mit ungefährer Längenangabe, erneut Kampf als Lebensphase umschrieben. Darauf erfolgt eine Aufzählung von Entbehrungen, die mit dem Kampf an der heimatentfernten Front einhergehen.

2.3

Ausgeschlossene

Im Ausgeschlossenen-Teilkorpus werden Ausdrücke mit dem Morphem kampf bzw. kämpf als Manifestationen des Kampfkonzepts vergleichsweise wenig gebraucht (vgl. Tab. 1). In den Ego-Dokumenten des Teilkorpus finden sich vor allem Belege, die den eigenen persönlichen Kampf thematisieren. So rezitiert die jüdische Ärztin Helga Nathorff in einem Tagebucheintrag vom 30. 8. 1933 ein von ihr zuvor notiertes Gedicht: Im Zug von daheim nach Heidelberg habe ich geschrieben: »Von deutschen Eltern ward ich deutsch erzogen Und deutsch zu denken und zu fühlen hat man mich gelehrt. Die deutsche Heimat ward mir heilig Und alles Deutsche lieb und wert. Und alles das will man mir nehmen Ich sei nur ungebetener Gast. Kaum gönnt man mir im Vaterlande Noch Haus und Brot, noch Heim und Rast. Dieses Leid gibt Kraft. In jeder Stunde Ring ich um Heimat, Ehr und Licht. Ich hab ein Recht am deutschen Lande -Ich kämpfe drum und weiche nicht!« Ich kämpfe drum, aber vielleicht ist es ein Kampf am falschen Platz, ein Kampf ohne ebenbürtige Waffen. Ich bin ja schon zur Passivität verdammt und werde wohl eines Tages unterliegen, aber ich kämpfe um meine Ehre, nicht um mein täglich Brot, und dieser Kampf muß bis zum letzten durchgefochten werden, so verzweifelt er auch werden mag (HN 1933: 51).

Nathorff thematisiert hier ihre identitäre Zerrissenheit als deutsche Jüdin im Jahr 1933. Sie schließt ihr Gedicht mit der Beanspruchung des deutschen Lande, um das sie kämpfe[n] und nicht weiche[n] wolle. In der Retrospektive auf ihre Zeilen, die sie an die Rezitation anschließt, bezieht sich Nathorff vor allem auf den von ihr angesprochenen Kampf. Sie zieht den Sinn des Kämpfens insbesondere aufgrund der Asymmetrie zwischen Ausgeschlossenen und Ausschließenden in Zweifel. Ihren Kampf, so prophezeit sie, möge sie zwar zukünftig verlieren, jedoch betont sie, dass sie nicht einen Kampf um das materiell Existenzielle kämpfe, sondern um ihre Ehre. Dieses moralische Schlagwort legt sie als Zweck ihres Kampfs einer Selbstvergewisserung zugrunde, die die Pflicht zum Kämpfen (muß) über etwaige persönliche Entbehrungen (verzweifelt) stellt. Um die Ehre in einer Situation der Unterlegenheit zu kämpfen, impliziert in Nathorffs Fall die Durchsetzung ihres persönlichen Rechts.

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Knapp zehn Jahre später befindet sich Nathorff im amerikanischen Exil und blickt auf ihre Ankunft in den USA zurück, in die sie nach einem Aufenthalt in London, mit ihrem Mann emigrierte. Heute vor zwei Jahren sind wir hier angekommen. Trotz alles Schweren, allen Kämpfens um Existenz und Lebensraum ist der Rückblick »erfreulich«. Es geht aufwärts und wir haben uns (HN 1942: 195).

Das Kämpfen bezieht sich hier biografisch auf die mittlerweile eingetretene existenzielle Not der Familie, deren Vermögen in Deutschland nach der Flucht beschlagnahmt wurde. Vor allem der Gebrauch des nationalsozialistisch geprägten Schlagworts Lebensraum ist zudem auffällig. Kampf ist hier dargestellt als persönlicher, existenzieller Kampf, der durch die Bedrohung in Deutschland und die Flucht notwendig wurde. Obwohl hier vor allem der Kampf um das Existenzielle fokussiert ist, zieht Nathorff an dieser Stelle ihrer Fluchtbiografie ein positives Zwischenfazit. Dieses fällt gerade deshalb positiv aus, weil die Existenz ihrer Familie gewahrt werden konnte: wir haben uns. Insofern war ihr existenzieller Kampf erfolgreich, wenn auch unter größten Verlusten.16 Der jüdische Anwalt Kurt Fritz Rosenberg hielt in seinem Tagebuch fest: Nur eines ist konstant geblieben: der Kampf gegen die Juden. Er wird mit rücksichtsloser Grausamkeit bis ins Letzte weitergeführt – und weit über die gesetzgeberischen Maßnahmen hinaus (KFR 1933: 97).

Nach der Rückkehr aus einem vierwöchigen Urlaub in Tschechien fasst Rosenberg in diesem Tagebucheintrag vom 7. 8. 1933 seinen Eindruck der politischen Lage, der von Streitigkeiten nationalsozialistischer Akteure geprägt ist, zusammen. Der Kampf gegen die Juden wird von ihm dabei als Konstante begriffen. Die ausführenden Akteure des Kampfes sind hier also die Nationalsozialisten, deren Kampf sich gegen die Juden, die ihrerseits nicht als aktive Akteure des Kampfes dargestellt werden, richte. Aus der jüdischen Perspektive ist hier Kampf etwas Erfahrenes, das durch die Handelnden mit rücksichtsloser Grausamkeit bis ins Letzte […] über die gesetzgeberischen Maßnahmen hinaus geführt werde. Kampf hat hierbei nicht mehr den Status einer Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Parteien, sondern beschreibt vielmehr die einseitige Relation einer Regimepolitik, die sich gegen eine aus der Gesellschaft ausgeschlossene Gruppe richtet. Dass den Machthabenden Kampf auch seitens Ausgeschlossener als konstante Leitlinie ihrer Politik zugeschrieben wird, unterstreicht die Zentralität dieses Konzepts.

16 Nathorff konnte etwa nach der fluchtbedingten Emigration nie wieder ihren Beruf als Ärztin ausüben (vgl. Benz 1989).

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Kampf

2.4

Widerstand

2.4.1 Kampf gegen In der Akteursgruppe Widerstand wird nach dem NS-Apparat am zweithäufigsten das Konzept Kampf durch morphemgebundene Ausdrücke hervorgebracht (vgl. Tab. 1). In den Texten des Widerstands wird mit Kampf zuvorderst der eigene Kampf gegen den Nationalsozialismus dargestellt (vgl. Wilk 2022). Auch in dieser Akteursgruppe ist gegen der meistgebrauchte Kookkurrent von Kampf. Hierbei wiederum ist Kampf gegen den Faschismus, gemeinsam mit dem attributiven Gebrauch Kampf gegen die faschistische Ideologie Diktatur das frequenteste Cluster mit Kampf gegen bzw. kämpfen gegen. Auch Kampf gegen den Nationalsozialismus/gegen die nationalsozialistische Diktatur wird im Vergleich oft gebraucht. Interessanterweise kommen im Widerstandskorpus auch Nennungen der Formulierung Kampf gegen den Bolschewismus vor. Deutlich wird, dass damit ein Ausdruck, der durch den NS-Apparat geradezu formelhaft verwendet wird, auch in den Sprachgebrauch der politischen Gegner einfließt. Dabei ist jedoch die Wortverbindung Kampf gegen den Bolschewismus oftmals in Anführungszeichen gesetzt, wodurch Wiedergaben (des NS-Apparats), aber auch Distanzierung gekennzeichnet werden. Weitere Wortverbindungen mit Kampf gegen dienen hingegen primär zur Identifizierung der gemeinsamen Gegnerschaft. So werden neben distanzierend gebrauchtem Bolschewismus solche Kookkurrenten genutzt, die ein gemeinsames Feindbild festigen: Diktatur, Faschismus, Nationalsozialismus, Hitlerdiktatur, Regime, Kapitalismus oder Hitlerbande. Im folgenden Beleg aus einer KPD-Schrift finden sich kondensiert unterschiedliche Gebrauchsaspekte des Konzepts Kampf durch den Widerstand. Wir machen allen Hitlergegnern Vorschläge zum gemeinsamen Kampf für Forderungen, in denen sich alle antihitlerischen Organisationen und Gruppen einig sein können. Unsere Vorschläge bekunden vor dem deutschen Volke, daß es ein gemeinsames positives Kampfprogramm für alle Hitlergegner gibt. Solange Hitlers Tyrannei das deutsche Volk knechtet, kann es für einen wahren Freund des Volkes keine höhere Aufgabe geben, als den Sturz Hitlers […] Wir Kommunisten kämpfen gegen das barbarische Unterdrückungssystem Hitlers von der ersten Stunde seiner Existenz an. Wir sind Todfeinde des Naziregimes (KPD 1935: 57).

Die Abhandlung adressiert alle Hitlergegner[…] und möchte Vorschläge zum gemeinsamen Kampf vorlegen. Das Attribut gemeinsam ist hier zentral und wiederholt sich auch im folgenden Satz. Ganz deutlich ist der Text konsensorientiert. Es geht hier nicht um die Etablierung einer singulären Position, sondern um die Bildung einer Allianz, in der sich alle antihitlerischen Organisationen und Gruppen einig sein können. Der erklärte Kommunikationszweck ist es, ein

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Bündnis mit einem gemeinsame[n] positive[n] Kampfprogramm aller Hitlergegner zu vereinen. Kampf soll somit – eingeschrieben in ein politisches Programm – quasi-institutionalisiert werden und das Ziel besteht darin, Hitler zu stürzen. Dass hierzu ein Programm geschrieben wird, das Kampf in aller Deutlichkeit in das Zentrum dieses kleinsten gemeinsamen Nenners eines möglichen Anti-Hitler-Bündnisses stellt, unterstreicht die soziale Bindungsfunktion von Kampf. Hierbei steht die Begründung Hitlers Tyrannei, zumal mit dem Verb knechten, in starkem Kontrast zum mit wahren Freund des Volkes und keine höhere Aufgabe positiv deontischen Legitimationszusammenhang des avisierten Sturzes Hitlers. Kampf als Erfahrung begründet im Weiteren das Anspruchsrecht der aufrufenden Partei, der KPD. Diese kämpfe schließlich von der ersten Stunde an gegen das Hitler zugeschriebene barbarische Unterdrückungssystem. Zudem, so der Wortlaut, seien sie Todfeinde des Naziregimes. Der implizite Führungsanspruch im Widerstand legitimiert sich demzufolge zum einen durch die zeitlich abgrenzbare Phase des Kampfes, in der die Akteure Kampferfahrung sammeln konnten. Zum anderen hat die Kampferfahrung eine besonders ausgeprägte Opponenz etabliert, die hier zum Zwecke des Aufrufs der Beteiligung an einem risikohaften politischen Kampf aufgeführt wird. Inwieweit Kampf zum essentiellen Diskursmuster für den Widerstand geltend gemacht wird, wird auch in folgendem Beleg aus einer widerständischen Programmschrift gewahr: Es gibt keine Freiheit und keine fortschrittliche Entwicklung in Deutschland, wenn die Arbeiterschaft sie nicht erkämpft! […] Jeder, der im Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur steht, weiß, daß eine ehrliche Kampfgemeinschaft aller antifaschistischen Elemente der arbeitenden Bevölkerung erforderlich ist (NB 1936: 100).

Die politischen Ziele werden hier durch die Hochwertausdrücke Freiheit und fortschrittliche Entwicklung bestimmt und sind an die Bedingung des Kampfs durch die Arbeiterschaft17 gebunden. Dass das Kollektivum Arbeiterschaft, hier erneut konsensorientiert, gebraucht wird, erklärt sich durch die Notwendigkeit zu einem einheitlichen Vorgehen seitens des Widerstands, die im Weiteren zum Ausdruck kommt. Dass eine ehrliche Kampfgemeinschaft aller antifaschistischen Elemente der arbeitenden Bevölkerung erforderlich sei, impliziert eine Heterogenität unterschiedlicher Gruppen, die durch den Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur in Verbindung stehen. Was also die hier die angesprochene Arbeiterschaft primär zusammenbindet, ist der gemeinsame Kampf gegen den gemeinsamen Feind, den Nationalsozialismus. Im folgenden Beleg wird eine spezifischere Adressierung vorgenommen: 17 Arbeiterschaft kann hier als Fahnenwort für den sozialistischen und kommunistischen Widerstand gelten, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Nationalsozialisten in Abgrenzung dazu den Ausdruck Arbeitertum prägten (vgl. Schmitz-Berning 2007: 41–43).

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Kampf

Jungsozialisten und Jungkommunisten ! Schmiedet die Einheit der Tat! Nehmt den Kampf um die Lebensinteressen der jungen Generation auf. Kämpft gegen den drohenden Krieg, gegen die faschistische Kriegsregierung, für Frieden und Freiheit, als Voraussetzung einer sozialistischen Zukunft! (JV 1938: 269).

Seit der Machtübernahme 1933 erhob das nationalsozialistische Regime den Anspruch, »der Hitler-Jugend eine Monopolstellung in der Jugenderziehung außerhalb von Schule und Elternhaus zu verschaffen« (Klönne 1991: 59). Dies wurde durch die Abschaffung anderer Jugendverbände erreicht, die sich folglich im Widerstand organisierten. In der ersten Zeit nach 1933 wurde dieser durch den Nationalsozialismus derart unterdrückt (vgl. ebd.), dass die kommunistischen und sozialistischen Jugendverbände letztlich aus dem Exil agierten. Der aufgeführte Aufruf von Funktionären deutscher Jugendverbände im Exil erfolgte im Januar 1938 anlässlich der nunmehr fünfjährigen NS-Herrschaft. Aufgerufen werden Jungsozialisten und Jungkommunisten dazu, um ihre eigenen Lebensinteressen zu kämpfen. Kampf wird hier also in den Begründungszusammenhang der eigenen biografischen Perspektive gestellt. Angesichts des sich abzeichnenden Kriegs wird dieser als dystopisches Szenario dargestellt und die NS-Regierung als faschistische Kriegsregierung bezeichnet. Hier unterscheidet sich der Kampfbegriff des Widerstands deutlich von einem nationalsozialistischen Kampfbegriff, der ja oftmals Kampf und Krieg in eine Einheit stellt, deren Elemente kaum mehr voneinander zu unterscheiden sind. Die Widerstandsjugendbewegung hingegen skizziert hier Kampf als notwendiges Mittel, um Krieg zu verhindern. Verstärkt wird dieser profilmarkierende Bedeutungsunterschied durch den Gebrauch der Hochwertwörter Freiheit und Frieden als deontische Bezugsobjekte des Kampfs und Voraussetzung einer sozialistischen Zukunft. Somit geraten neben den antagonistischen Referenzobjekten, auf die sich die Kollokation Kampf gegen bezieht, auch die affirmativen Elemente in den Blick, für die gekämpft wird bzw. werden sollen. 2.4.2 Kampf für In den Ausprägungen der Kollokation Kampf für wird deutlich, wie unterschiedlich die Ziele durch Widerstandsgruppen formuliert wurden. Auffälligerweise wird für als Kookkurrent weitaus häufiger gebraucht als um. Möglicherweise markiert für im Vergleich sowohl eine größere Differenz zu den Zielen anderer politischer Gruppen als auch eine größere Distanz hinsichtlich der Erreichbarkeit der Ziele im Vergleich mit anderen Akteursgruppen. Ein Muster lässt sich in der Kookkurrenz von Kampf/kämpfen mit dem Pronomen wir erkennen. Das Konzept Kampf dient hierbei als identifikationsstiftendes Element. Indem sie in diesem Zusammenhang gemeinsame Ziele formulierten,

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eröffneten die Widerstandsgruppen den Adressierten identifikatorisches Potenzial. Kämpfen steht hier als gemeinsame politische Praxis, die angesichts des repressiv agierenden opponierenden Nationalsozialismus notwendig schien, die sich aber ebenso an ideologischen Zielen, anhand derer sich Wege aus dem Nationalsozialismus aufzeigten, zu orientieren hatte. Nicht zuletzt in seiner Tradition aus der Arbeiterbewegung ist Kampf für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus ein zentrales Diskurskonzept. In einer Rede auf der sogenannten ›Brüsseler Konferenz‹18 der KPD aus dem Jahr 1935 benutzt Wilhelm Florin, ein ehemaliges Reichstagsmitglied der KPD, die Inklusionsformel Wir kämpfen für, um die politischen Ziele adressierendinklusiv zu formulieren: Wir kämpfen für eine freigewählte Vertretung des ganzen Volkes! Wir fordern die Selbstverwaltung der Kommunen. Wir kämpfen für eine Regierung des Volkes. Wir kämpfen für den Sturz der Hitlerdiktatur, für die Volksherrschaft (WF 1935: 55).

Die Ergänzung des in der Rede rekurrent und formelhaft gebrauchten Ausdrucks Wir kämpfen (für) pointiert die politischen Forderungen des Redners und seiner inkludierten Adressatenschaft. An zweiter Stelle steht hier Wir fordern synonym zu wir kämpfen für, was impliziert, dass im repressiven Regime Forderungen ohne Kampf nicht durchsetzbar sind. Das Prinzip der Volksvertretung wird hier in unterschiedlichen Wendungen angesprochen (Vertretung des ganzen Volkes, Regierung des Volkes, Volksherrschaft), verbunden mit dem Recht auf Wahlen (freigewählt) und Selbstverwaltung. Durch den Zusatz Sturz der wird das ohnehin schon stigmatisierend verwendete Hitlerdiktatur hier als antagonistisches Element ausgemacht, was sich ansonsten im Ausdruck Kampf gegen wiederfindet. Konkretisiert wird dadurch der zur Zielerreichung notwendige Prozess, ein politischer Umsturz, womit das politische Ziel Volksherrschaft mit dem hinreichenden Ziel Sturz verknüpft wird. Die Bezugnahme durch die Verbindung von wir und kämpfen unterscheidet sich davon in folgendem Beleg deutlich. In der Flugschrift Tausend Tage Drittes Reich der monarchistisch orientierten Harnier-Gruppe werden neben der Arbeiterschaft auch NSDAP-Mitglieder adressiert (Nun zu Euch Ihr Männer der N.S.D.A.P.): Wir kämpfen für des Volkes Zukunft und des Reiches Einigkeit. Wir sind deutscher [!] Arbeiter, Angestellte, Beamte, Bauern, Handelsmänner, Gewerbetreibende und Industrielle. Wir sind das erwachte Deutsche Volk! (HG 1936: 21)

18 Die Konferenz wurde konspirativ veranstaltet und offiziell als ›Brüsseler Konferenz‹ bezeichnet. Sie fand indes bei Moskau statt (vgl. Christier 1975: 108).

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Die Widerstandsgruppe benennt die Ziele des Kampfes Volkes Zukunft und des Reiches Einigkeit, womit sie versucht, inhaltliche Anschlusspunkte für Anhänger*innen der NSDAP zu schaffen. Die Explikation des inklusiven Wir umfasst die Gruppen der integrierten Gesellschaft: Arbeiter, Angestellte, Beamte, Bauern, Handelsmänner, Gewerbetreibende und Industrielle. Das erwachte deutsche Volk, so die Flugschrift, stellten die Widerständler dar. Die Ansprache steht im Kontext eines mit der bisherigen Politik der NSDAP abrechnenden Abhandlung anlässlich von tausend Tagen Regierungszeit (Nun kommen die Tage der Abrechnung). Kampf als Mittel, um übergeordnete und der kritisierten politischen Praxis entgegenstehende politische Ziele zu erreichen hat insofern inkludierende Qualität und bietet auch konservativ orientierte Anschlüsse für bisherige Anhänger der NSDAP.

3

Fazit

Die Zeit des Nationalsozialismus war auf unterschiedlichen Ebenen vom Konzept Kampf geprägt. Mit Kampfzeit wird die Phase des Aufstiegs der NSDAP in der Weimarer Republik bezeichnet, wobei es sich weniger um eine zeitgenössische Darstellung handelte als um eine Retrospektive in der NS-Zeit. Ohnehin kam es in der Zeit nach der Machtübernahme 1933 zur diskursiven Veralltäglichung des Konzepts Kampf, sowohl durch den NS-Apparat als auch durch den Widerstand, der durch zunehmende Unterdrückung auf Kampf als Diskurselement angewiesen war. Während des Zweiten Weltkriegs mündete die metaphorische Vorbereitung von Kampf in den militärischen Kampf, den Krieg. Dabei wurden die heterogenen Konzepte von Kampf mittels unterschiedlicher Zeitbezüge bearbeitet. Die Kampfzeit diente etwa als retrospektiver, früh historisierter Legitimationsmythos des regierenden Nationalsozialismus, der seine Alten Kämpfer zum Teil mit Privilegien ausstattete oder jenen, die sich der Kampfzeit zugehörig verstanden sehen wollten zur Begründung individueller Bevorteilungen. Mit ›Kampf als Verheißung‹ wird hingegen eine Zukunftsvision entworfen, die den gegenwärtigen Kampf mit all seinen Entbehrungen rechtfertigt. Quer dazu liegt die nationalsozialistische Konzeptualisierung eines stetig andauernden Lebenskampfs, der sich schicksalhaft an die Zugehörigkeit zu einer ›Volksgemeinschaft‹ knüpft. Unterdessen erscheint in den Ego-Dokumenten der Ausgeschlossenen Kampf vor allem als mitunter überlebensnotwendige Auseinandersetzung mit der eigens erfahrenen gesellschaftlichen Exklusion, die im aktiven Widerstand ihren Widerhall in organisierter Form findet. Kampf ist ein vielfältig in Anschlag gebrachtes Konzept in einer durch Opponenz geprägten Zeit extremer Machtasymmetrie mit divergierenden Interessen. Die Analyse der diskursiven Aushandlungen des daraus resultierenden wie

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darin begründeten Gebrauchspluralismus von Kampf erstreckt sich daher über verschiedene Akteursgruppen, die jeweils mehr oder weniger homogene Ziele verfolgen. Hinsichtlich des Wortgebrauchs von Kampf/kämpfen ist ihnen gemeinsam, dass sie vor allem die Kollokationen Kampf für und Kampf gegen gebrauchen, um die Grundkonstanten, dass a) bestimmte Ziele und Ideale verfolgt werden und es b) (gemeinsame) Antagonist*innen, Feinde und Gegenspieler*innen gibt, sprachlich zu bearbeiten. Die spezifischen Komplettierungen der Nominalphrasen durch die jeweiligen Mitglieder der Akteursgruppen markieren, über die Grundkonstanten hinaus, die epochenspezifischen Anwendungsbereiche des Konzepts Kampf in der Zeit des Nationalsozialismus. Das Konzept Kampf dient dabei vor allem der Legitimierung. Der darwinistischen Gebrauchstradition folgend werden mit Kampf oftmals existenzielle Sorgen und Nöte angesprochen, die vor allem in Zeiten der Krise entstehen. Kampf wird insofern mit einer fundamentalen Notwendigkeit des Überlebens verknüpft, wodurch vermeintlich auch äußerste Mittel legitimiert werden. Hinzu kommt die diskursive Etablierung einer Konkurrenz- bzw. Oppositionsrelation mithin zur schärfsten Ausprägung als Feindverhältnis, das sowohl Voraussetzung als auch Grundkonstellation während des Kampfprozesses ist. Ziel des Kampfes ist es, diese Konkurrenz feindlicher Antipoden zu transzendieren bzw. zu zerschlagen, indem der Feind entweder vernichtend geschlagen wird oder man sich durch Kampf aus dem asymmetrischen Verhältnis befreit und das eigene Überleben sichert. Im Nationalsozialismus waren die Ebenen des persönlichen und des gesellschaftlichen Kampfs auf Engste miteinander verknüpft, indem etwa Kampf in den zahlreichen Reden und Verlautbarungen des NSApparats als nationalsozialistisches Leitkonzept der ›Volksgemeinschaft‹ diskursiv omnipräsent war. Die Deutung von Kampf durch den NS-Apparat reihte sich somit in die positiven Bestimmungen des Kampfbegriffs als Entwicklungskonzept des späten 19. Jahrhunderts. Eine Intensivierung erfährt Kampf durch den Gebrauch des NS-Apparats, indem der Ausdruck als Schlüsselwort das repulsive Grundmoment der NS-Ideologie bezeichnet. Zeitlich nahm Kampf dabei unterschiedliche Reichweiten der Bezugnahme ein. So bedeutete die Rede vom Lebenskampf ein Einschreiben in den nationalsozialistischen Alltag. Der Ausnahmezustand, der die Notwendigkeit des Kampfes vermeintlich erst erforderte, verstetigte sich somit zu einer Veralltäglichung des Kampfes – die letztlich auch den Krieg diskursiv vorbereitete. Kampf wurde zu einer biografischen Angelegenheit, die einerseits permanente Entbehrungen, Opfer und Verluste bedeutete, anderseits Auszeichnungen, Trophäen und Ehren bereithielt. Ambivalent erscheint zudem, dass sich Kampf dennoch im nationalsozialistischen Narrativ als abgeschlossene Lebensphase präsentierte, etwa in der Kampfzeit der NSDAP auf ihrem Weg zur politischen Macht zwischen 1918 und 1933 und den damit verbundenen Alten Kämpfern (vgl.

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auch den Eintrag zu Alte Garde in Schmitz-Berning 2007: 24), die diese Phase erfolgreich bestritten. Neben die veralltäglichende Verstetigung von Kampf als Zustand tritt dann auch die Abgeschlossenheit von Kampf als Prozess mit einem Beginn und Ende. Verbunden damit ist die Verheißung durch Kampf, der ja gerade deshalb erstrebenswert ist, weil auf den erfolgreichen Kampf die Erreichung eines persönlichen oder politischen Ziels folgt. Kampf als Verheißung stellt dem gegenwärtigen Entbehren ein zukünftiges Erlangen in Aussicht. Gemeinsame Ziele und gemeinsame Feinde stehen dabei im Kern der diskursiven Funktion von Kampf als sozialem Bindemittel, die über die Akteursgruppen hinweg zur Geltung kommt. Sei es der Kampf um persönliche Existenz oder der Kampf um gesellschaftliche Zustände, das deontische Konzept Kampf diente im Nationalsozialismus vor allem der diskursiven Etablierung von guten Gründen für Entbehrung und sozialen Zusammenhalt.

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[AH 1932b] Hitler, Adolf (30. 10. 1932): Rede auf Gautag des Gaues Essen der NSDAP in Essen, in: Lankheit, Klaus A./Hartmann, Christian/Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1998): Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933. Bd. V: Von der Reichspräsidentenwahl bis zur Machtergreifung. April 1932–Januar 1933. Teil II: Oktober 1932–Januar 1933, München: Saur, S. 125–133. [AH 1933] Hitler, Adolf (13. 9. 1933): Rede zur Eröffnung der 1. Winterhilfsaktion gegen Hunger und Kälte, in: Domarus, Max (Hg.) (1988): Hitler, Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Teil I: Triumph. Bd. 1: 1932–1934. 4. Aufl. Leonberg: Pamminger und Partner. [AH 1943 [1925]] Hitler, Adolf (1943 [1925]): Mein Kampf. 851.–855. Aufl. München: Franz Eher Nachf. [AH 1945] Hitler, Adolf (1. 1. 1945): Rede: »Deutsches Volk! Nationalsozialisten! Nationalsozialistinnen! Meine Volksgenossen!«, in: Domarus, Max (Hg.) (1988). Hitler, Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Teil II: Untergang. Bd. 2: 1941–1945. 4. Aufl. Leonberg: Pamminger und Partner. [ANN 1925] Augsburger Neueste Nachrichten, 64 (290), 15. 12. 1925, zit. n. Plöckinger 2011, S. 227. [DWB] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, [www.woerter buchnetz.de/DWB; Zugriff 5. 4. 2022]. [EG 1934] G., Emil (21. 6. 1934): Brief von Emil G. an das Badische Kreisschulamt, in: Generallandesarchiv Karlsruhe, 465d, Nr. 1560. [FH 1934] Hunn, Fritz (6. 8. 1934), Theodore Fred Abel papers, #200, Record number 50000.01.0200, Hoover Institution Library & Archives [digitalcollections.hoover.org/ob jects/58426/fritz-hunn; Zugriff 5. 4. 2022], S. 1–3. [FK 1939] Kellner, Friedrich (10. 11. 1939), in: Kellner, Friedrich (2011[1945]): »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939–1945, hrsg. von Sascha Feuchert, Göttingen: Wallstein, S. 46–47. [FK 1942] Kellner, Friedrich (9. 1. 1942), in: Kellner, Friedrich (2011[1945]): »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939–1945, hrsg. von Sascha Feuchert, Göttingen: Wallstein, S. 225–226. [GF 1935 [1927]] Feder, Gottfried (1935 [1927]): Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken. 166.–169. Aufl. München: Franz Eher Nachf. [HG 1936] Harnier Gruppe (1936): Tausend Tage Drittes Reich, in: Aretin, Karl Otmar von/ van Roon, Ger /Mommsen, Hans (Hg.) (1994): Opposition gegen Hitler: Bilder, Texte, Dokumente, [Sammlung Siedler], Berlin: Siedler-Verlag, S. 121. [HN 1933] Nathorff, Hertha (30. 8. 1933): Tagebucheintrag, in: Benz, Wolfgang (Hg.) (1989): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945, Frankfurt a. M.: Fischer, S. 49–51. [HN 1942] Nathorff, Hertha (22. 2. 1942): Tagebucheintrag, in: Benz, Wolfgang (Hg.) (1989): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945, Frankfurt a. M.: Fischer, S. 195–196. [JD/GC 1939] Dolecek, Jan/Cetkovsky, Gottfried (25. 8. 1939): Brief von Jan Dolecek und Gottfried Cetkovsky an Adolf Hitler, in: Eberle, Henrik (Hg.) (2007): Briefe an Hitler. Ein Volk schreibt seinem Führer; unbekannte Dokumente aus Moskauer Archiven – zum ersten Mal veröffentlicht, Bergisch Gladbach: Lübbe, S. 380–381.

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Freiheit

1 Historisch-diskursive Hinführung 2 Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung 3 Akteursspezifische Gebrauchsdarstellung 3.1 NS-Apparat 3.1.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.1.2 Akteursspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.1.3 Diskurssemantisches Netz 3.2 Akteure der integrierten Gesellschaft 3.2.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.2.2 Akteursspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.2.3 Diskurssemantisches Netz 3.3 Widerstand 3.3.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.3.2 Akteursspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.3.3 Diskurssemantisches Netz 4 Fazit Quellen Freiheitskampf, Freiheit unseres Volkes, wieder frei, endlich frei, Freiheitsstrafe, Freiheit und Zukunft, freies Volk, Freiheit und Unabhängigkeit, persönliche Freiheit, Freiheit und Recht, Freiheitspartei, ganz frei, möglichst frei, Freiheit der Nation, Freiheitsbewegung, Freiheitskrieg, Frieden und Freiheit, politische Freiheit, demokratische Freiheit, freies Deutschland, innere Freiheit, Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, geistige Freiheit, Freiheit der Presse, Freiheit und Brot, Freiheit und Sicherheit, Freiheit und Gleichheit, Wiederherstellung von Freiheit, freiheitsliebend, Freiheit erkämpft, Handlungsfreiheit, Pressefreiheit, Organisations- und Versammlungsfreiheit

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Historisch-diskursive Hinführung

Das Lexem Freiheit gilt als »politischer Schlüsselbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts« und gehört »zugleich zu den zentralen historiographischen Kategorien dieses Zeitalters« (Willoweit 1995: 301). Pragmatisch besehen hat Freiheit in unterschiedliche politische Handlungsmuster Eingang gefunden: Mit Freiheitszielen wurden Kriege gerechtfertigt, Wahlrecht gefordert, Gesetze verabschiedet, Menschen vertrieben oder ein Machtzuwachs legitimiert (vgl. Richter/Siebold/ Weeber 2016: 11). Freiheit zählt (zusammen mit Frieden, Gerechtigkeit oder Demokratie) zu den wichtigsten Hochwertwörtern des politischen Diskurses (vgl. Niehr 2014: 73/Girnth 2015: 63). Politische Freiheit hat sich dabei als »begriffliche Erweiterung der physischen Freiheit« (Mauthner 1980 [1910/11]: 346) im Rahmen der Aufklärung ausgebildet: Als Konzept der »vernünftigen Freiheit« (Habermas 2019: 13, Hervorhebung im Original) ist sie zum »bis heute maßgebenden Grundbegriffe der praktischen Philosophie geworden« (Habermas 2019: 15). Dabei hat sich das, »was als Freiheit verstanden wurde, […] in der Geschichte der Neuzeit immer wieder [gewandelt]« (Richter/Siebold/Weeber 2016: 11). Freiheit ist ein historisch wandelbares, politisch umkämpftes Konzept, das »immer in einem Verhältnis zu der jeweils bestehenden Ordnung diskutiert [wurde]. Diese sollte legitimiert, delegitimiert oder reformiert werden« (Richter/Siebold/Weeber 2016: 252). Mit dem Aufkommen einer subjektbezogenen Philosophie sowie der Konstitution der Bedeutung des selbsttätig denkenden und handelnden Individuums während der Aufklärung wird die »Subjektheit des Menschen […] als Freiheit begriffen« (Luhmann 1997: 1032). Diese Form der »individuellen Freiheit« (Richter/Siebold/Weeber 2016: 19) ist als relational zu anderen Individuen sowie der sozialen Sphäre zu verstehen, so dass sich ein Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Anpassung ausbildet. Dieser Zusammenhang wird kanonisch von Thomas Hobbes (1651: 99) in seinem Hauptwerk Leviathan bestimmt: Dort definiert er Freiheit »nach der eigentlichen Bedeutung des Wortes« als »Abwesenheit äußerer Hindernisse« bzw. als »genau genommen das Fehlen von Widerstand, wobei ich unter Widerstand äußere Bewegungshindernisse verstehe« (Hobbes 1651: 163). Ausgehend von dieser Bestimmung physischer Freiheit im Naturzustand beschreibt er die Notwendigkeit des Abgebens von Teilen der persönlichen Freiheit auf Grundlage eines Staats- bzw. Gesellschaftsvertrages, der dem Einzelnen dafür Sicherheiten gibt. Diese »Freiheit der Untertanen« (Hobbes 1651: 165, Hervorhebungen im Original) ist der Beginn der bürgerlichen (d. h. gesellschaftlich-sozial sowie staatlich verankerten) Freiheit. An dieser Stelle präfiguriert sich eine Verbindung aus individueller, bürgerlicher und politischer Freiheit, die im Aufklärungsdenken des 18. und dann im 19. Jahrhundert kanonisiert wird. »Die Freyheit des Ein-

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Freiheit

zelnen im Staat ist politische Freyheit« (Genz 1793: 118). Das Konzept politischer Freiheit differenziert sich dann aber noch weiter aus in eine nicht nur bürgerliche, sondern damit verbundene ökonomische, rechtliche etc. (Handlungs-)Freiheit (vgl. Richter/Siebold/Weeber 2016: 35–37). Definiert werden kann »bürgerliche Freiheit« dabei »als natürliche Freyheit nach Abzug desjenigen Theils derselben ohne dessen Aufopferung eine gesellschaftliche Verbindung nicht bestehen kann« (Genz 1793: 117). Kant als zentraler Vertreter der (Spät-)Aufklärung bindet Freiheit an sein Konzept von Vernunft und schafft so eine wirkungsmächtige »Deutungshoheit des Verständnisses von politischer Freiheit« (Richter/Siebold/Weeber 2016: 72). In Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? nimmt er zunächst eine Definition von Freiheit vor als Fähigkeit wie Möglichkeit, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen« (Kant 1997 [1784]: 55). Dass auch Kant zunächst eine Definition gibt, indiziert, dass das Freiheitskonzept in seiner Ausgestaltung mannigfaltigen Schwankungen, Weiterentwicklungen und Ausdifferenzierungen unterlag, die sich an solchen diskursiven »Festigungsbewegungen« ablesen lassen. »Politische Freiheit« als »vernunftgesteuerte Freiheit« ist – darauf wird später auch Hannah Arendt hinweisen – noch zu erreichendes Ziel einer beginnenden Befreiungsgeschichte (vgl. Arendt 2018 [1967]: 18). So ist auch für Kant Freiheit im Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht gegeben und er fordert insbesondere dazu auf, »in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen« (Kant 1997 [1784]: 59–60). Dieser Geist der Freiheit (Kant 1997 [1784]: 60) wird für Kant zur zentralen Bedingung des Aufgeklärt-Seins. In der Kritik der praktischen Vernunft positioniert er den Freiheitsbegriff als »Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft« (Kant 1974 [1788]: 107) und bestimmt ihn als zentral für seine Philosophie der Vernunft, dem sich »alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche, als bloße Ideen, in dieser ohne Haltung bleiben, […] nun an ihn an[schließen], und […] mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität [bekommen], d.i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist« (Kant 1974 [1788]: 107–108). Damit wird Freiheit zum Grundbegriff der kantischen Ethik bzw. Sittenlehre (vgl. auch Kant 1974 [1785]: 11) und über die Kanonisierung seiner Philosophie zu einem Kernbestand des aufklärungsphilosophischen Vokabulars. Ist Freiheit während der Etablierung im Rahmen des Aufklärungsdenkens ein nahezu ungetrübtes Konzept bürgerlicher Selbstbestimmung und geistiger Entfaltung kommt es bald zu erheblichen Ausdifferenzierungsprozessen und kritischen Diskussionen. Insbesondere im Rahmen der Nachwehen der französischen Revolution wird deren Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit problematisiert und Freiheit differenziert sich aus: »von ›richtiger‹ oder ›falscher‹

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Freiheit, zu ›dienlicher‹ oder ›zerstörerischer‹ Freiheit für das Gemeinwesen« (Richter/Siebold/Weeber 2016: 89). Diese Entwicklungen führen zu Fragen der »Beschränkungen von Freiheit« (Richter/Siebold/Weeber 2016: 89). Dabei wird das Konzept absoluter Freiheit als nur im Stande der Natur anzutreffen (Genz 1793: 116) zurückgewiesen und auch das der politischen Freiheit als kein absolutes, sondern ein relatives Gut (Genz 1793: 119) bestimmt. Im Zusammenhang mit diesen Diskussionen wird auch eine nationale Komponente in den Diskurs eingespeist, der im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung sein wird: Schon Ende des 18. Jahrhunderts wird darauf verwiesen, dass politische Freiheit nicht in jeder Staatsverfassung dieselbe seyn kann (Genz 1793: 125). Im 19. Jahrhundert ist der politische Freiheitsbegriff vom ›Nationalmythos‹ der Hermannsschlacht geprägt. Hierzu trug vor allem von Huttens Schrift Arminius bei, in der er den Sieger über Varus’ Legionen zu einem »Vorkämpfer der deutschen Freiheit« stilisiert (vgl. Kösters 2012: 222). Die Ursprungsszene der siegreichen Schlacht im Teutoburgerwald, die auch als germanischer Freiheitskrieg verklärt wurde, erwies sich als flexibel auf alle möglichen politischen Situationen übertragbar, so dass der »deutsche Freiheitsheld […] zur Allzweckwaffe [wird], die man immer dann mobilisieren kann, wenn Deutschland in der Krise steckt, eine Art Nothelfer in deutscher Bedrängnis« (Kösters 2012: 222). Neben dieser beginnenden Nationalisierung (vgl. Richter/Siebold/Weeber 2016: 131) dient das Konzept auch der Emanzipation marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, z. B. der Frauenrechtsbewegung (vgl. Richter/Siebold/Weeber 2016: 139) und findet Eingang in den pädagogischen Diskurs der freiheitlichen Erziehung von SchülerInnen (vgl. Luhmann 1997: 977), wobei dort Freiheit [als] das Vermögen des Menschen zur Selbstbestimmung (Eysert 1889: 4) verstanden wird. In diesem Sinne gebraucht zeigt sich sowohl im Erziehungssystem als auch anhand der verschiedenen emanzipatorischen Bewegungen die Tendenz der Universalisierung von Freiheit, die als anthropologische Grundkonstante des Menschen im Sinne von Freiheit zur Mündigkeit und Selbstständigkeit sowie individueller und selbstständiger Lebensgestaltung zu verstehen ist. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehen verschiedene Konzeptualisierungen von Freiheit nebeneinander: vom Konzept der emanzipatorischen Freiheit bis zu einer zunehmenden ideologisierten Freiheit. »Unter den Begriffen des Kapitalismus, des Kommunismus, des Sozialismus, des Nationalismus oder des Anarchismus verfestigten sich […] die Deutungen von Freiheit in Weltanschauungen, welche durch die Kanonisierung, Ideologisierung und die Institutionalisierung dieser Weltdeutungen in feste definierte Bahnen gelenkt wurden« (Richter/Siebold/Weeber 2016: 153). So wird z. B. für Karl Marx Freiheit durch die »Überwindung der Klassengegensätze verwirklicht« (Richter/Siebold/ Weeber 2016: 157). Dies wird für die sozialistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Bezugspunkt ihrer Konzeptionen von und Anfor-

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Freiheit

derungen an politische als bürgerliche Freiheit, ebenso wie sich das nationalsozialistische Regime und seine Ideologie-Ausgestalter dem nationalistischen Freiheitsbegriff des 19. Jahrhunderts zuwenden, und in diesem Sinne individuelle zu völkisch-kollektiver Freiheit (vgl. Richter/Siebold/Weeber 2016: 171–176) umdeuten. Der historische Überblick über sich ausbildende und tradierende diskursive Prägungen von Freiheit hat die komplexe Ausgestaltung des Konzeptes deutlich werden lassen. Vier zentrale Aspekte lassen sich daraus ableiten: a) Freiheit ist ein relationales Konzept, eingelassen in einen Nexus verwandter Konzepte wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie oder Unabhängigkeit (vgl. Richter/Siebold/Weeber 2016: 254). Freiheit ist aber auch relational im Sinne der umkämpften Ausgestaltung zwischen den Polen Individuum und Gesellschaft/ Recht/Staat. b) Freiheit kommt damit ein unmittelbares Exklusions- und Inklusionspotenzial zu, das von den Vertreter*innen eines Freiheitsbegriffes neu konstituiert und verschoben werden kann, um die eigenen Bestimmungen gegenüber oppositionellen abzugrenzen. c) Freiheit ist an sich historisch wandelnde Voraussetzungen geknüpft. Diese Voraussetzungen sind selbst wiederum gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen unterworfen. d) Schließlich ist Freiheit als historisch gewachsenes Konzept zu verstehen, dessen Historizität zur Bestätigung oder Abgrenzung eigener Konzepte verwendet werden kann. Freiheit wird so zu einem umkämpften Konzept, über das umfassende Bezüge zur eigenen Weltanschauung hergestellt werden können. Während der diskursiven Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur wird es sowohl für die NS-Akteursgruppen als auch den deutschen Widerstand zu einem zentralen Bezugspunkt ihres politischen Denkens und Handelns.

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Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung

Auch in der Zeit des Nationalsozialismus sind die Verwendungsweisen von Freiheit und frei in die Trias von Individuum – Gesellschaft – Staat eingelassen. Dabei verorten die AkteurInnen des NS-Apparates, der integrierten Gesellschaft und des Widerstandes ihre Freiheitskonzepte in ganz unterschiedlichen zeitlichen, epistemischen und wirtschaftlichen Dimensionen, d. h. in der zukünftigen Freiheit, der wahren Freiheit, der Freiheit als sozioökonomischer Gleichheit u. a. Vor diesem Hintergrund einer enormen Diversität des Freiheitskonzepts geht das Konzept zwischen 1933 und 1945 in vier Handlungs- und Wissensfelder ein: Erstens wird der Ausdruck Freiheit im Bereich des Politischen für Exklusionshandlungen sowohl nach innen (als rassistischer Ausschluss) als auch nach außen (als euphemistische Legitimation für Krieg und Verfolgung) eingesetzt (= politische Exklusionshandlungen). Damit ist zweitens das Versprechen einer

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nationalistischen Eingliederung des einzelnen unter den völkischen Freiheitsgedanken (Inklusion) verbunden (= gesellschaftliche Inklusionshandlungen). Von der Gegenseite werden Ausdrucksformen von Freiheit drittens zur Forderung und Begründung einer demokratischen Gesellschaftsordnung herangezogen. Hierbei entsteht eine Einbindung in einen freiheitlich fundierten Rechtsund Gesellschaftsbegriff, bei dem die mit vielfältigem Rechtsvokabular bezeichnete politisch-rechtliche Freiheit als Möglichkeit der freien Meinungsäußerung ins Zentrum rückt (= demokratische Forderungen). Viertens dient die anthropogische Fundierung des Subjekts der Begründung und Rechtfertigung aller auf das Individuum bezogenen Anliegen zur freien Gestaltung des Lebens (= Forderungen des Individuums). Alle Akteursgruppen beziehen sich auf die politische Komponente von Freiheit, insbesondere hinsichtlich deutscher Freiheit oder der Freiheit Deutschlands, differenzieren aber den Lexemhaushalt unterschiedlich aus: So rekurrieren Mitglieder des NS-Apparates stärker auf staatliche Zusammenhänge und sprechen neben der deutschen von der italienischen, amerikanischen oder britischen, während Widerständler politische Komponenten stärker machen und auf demokratische, sozialistische und antifaschistische Freiheit rekurrieren. Während Vertreter des NS-Regimes von der Freiheit des Reiches sprechen, verwenden AkteurInnen des bürgerlichen Widerstands das weniger ideologisierte Lexem Staat (zum ideologischen Potenzial von Reich vgl. Schlosser 2013: 279–285). In Verbindung mit dem ebenfalls »ideologisierten« Führer-Lexem1 findet sich Freiheit vornehmlich bei Mitgliedern der NS-Gruppe und denen der integrierten Gesellschaft. Auch im Zusammenhang von Freiheit als gesellschaftlichem Phänomen bestehen Übereinstimmungen, wenn von sowohl NS- als auch widerständigen AkteurInnen von der Freiheit des Volkes gesprochen wird. Diese akteursübergreifende Verwendungskontinuität zeigt sich ebenso im Handlungsbzw. Wissensfeld Krieg: Beide Akteursgruppen sprechen von Kampf und Krieg im Kontext von Freiheit, widerständige AkteurInnen auch von revolutionär. Freiheit als anthropologische Eigenschaft wird durch die Kollokation von Freiheit und Mensch angezeigt, die sich in Texten aus der NS-Gruppe und dem Widerstand finden, ebenso in Tagebüchern der integrierten Gesellschaft. Es deutet sich also eine historische Kontinuität zu Freiheit als politischem Konzept an, das im Rahmen der NS-Propaganda, im philosophischen Kontext der Rechtfertigung individueller Freiheiten sowie in den zentralen Forderungen und Entwürfen des Widerstands herangezogen wird. Dass Freiheit ein umkämpftes Konzept ist, zeigt sich in der akteursübergreifenden Attribuierung des Ausdrucks zu wahrer, wirklicher und persönlicher Freiheit. Zuletzt finden sich

1 s. den Beitrag ›Führer‹ in Teil 2.

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Freiheit

auch universelle Konzeptaspekte, innerhalb derer Freiheit als anthropologische Konstante aufgerufen wird.

3

Akteursspezifische Gebrauchsdarstellung

3.1

NS-Apparat

3.1.1 Funktional-abstrahierende Einordnung Geprägt sind die Bezüge auf Freiheit durch Mitglieder des NS-Apparates vor allem durch die Strategien der Umdeutung und Abgrenzung: So finden sich Bestrebungen der ideologischen Überformungen, die sich anhand »nationalistische[r] und exkludierende[r] Vereinnahmungen« (Richter/Siebold/Weeber 2016: 171) nachweisen lassen, die den Freiheits-Begriff aus seiner subjektiv-individualistischen Umklammerung lösen und zu einem national(istisch)en Kollektivbegriff der Freiheit unseres Volks werden lassen. Diese Nationalisierung von Freiheit »baut auf bereits bestehende Freiheitsdeutungen auf, die sich im 19. Jahrhundert mit dem Begriff der Nation verknüpft hatten« (Richter/Siebold/ Weeber 2016: 171) und grenzt an kolonialdiskursive Zusammenhänge an, die »den Freiheitsbegriff gesellschaftlich hierarchisierte[n]« (Richter/Siebold/Weeber 2016: 173). Die damit verbundenen Abgrenzungsbewegungen erweisen sich aufgrund der ähnlichen nominalen und attributiven Verwendungen aller Akteursgruppen als notwendig. Hierbei ist vor allem auf unterschiedliche Sprachhandlungsmuster zu verweisen, die durch das Hinzuziehen des Kotexts alternative Verwendungsarten offenlegen. 3.1.2 Akteursspezifische Sprachgebrauchsmuster Es zeigt sich, dass nominale Verwendungen, vor allem Komposita mit Freiheit (Freiheitskampf, Freiheitsstrafe, Freiheitspartei, Freiheitsbewegung oder Freiheitskrieg ebenso wie Bewegungsfreiheit, Pressefreiheit oder Handlungsfreiheit) im Korpus des NS-Apparats mit hoher Frequenz zu finden sind. Zudem finden sich auf der Ebene der Sprachgebrauchsmuster auf den ersten Blick überraschende Adjektivmodifikatoren, die typischerweise dem Widerstand zuzurechnen sind, darunter persönliche Freiheit, demokratische Freiheit oder wahre Freiheit.

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Freiheit als strittiges Konzept Deutlich werden die Strategien der Abgrenzung von oppositionellen FreiheitsKonzepten im Rahmen des Bezuges auf das Handlungs- bzw. Wissensfeld der Politik: So grenzt sich z. B. Adolf Hitler in einer Rede vor dem Reichstag (30. 1. 1939) von der sogenannte[n] demokratische[n] Freiheit des Auslebens der Meinungen und der Instinkte (Hitler 1939: 1050) ab. Dem werden eigene Konzeptionen von wahrer oder wirklicher Freiheit gegenübergestellt. Dabei nimmt die NS-Propaganda zum Teil eine historische Perspektive ein, aus der heraus der Verlust wahrer Freiheit beklagt wird – Aus der Freiheit des Bürgertums von ehedem war der Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts geworden! Und dieser Liberalismus hatte den seelischen Kompaß der wahren Freiheit verloren (Eggers 1941: 2) oder Die germanische Freiheit, als innere Seelenfreiheit verstanden, wurde zur Ichsucht, zur zügellosen und schrankenlosen Freiheit des einzelnen ohne Bindung zur Gemeinschaft (Personal-Amt des Heeres 1944: 17) –, die durch die nationalsozialistische Bewegung (in einem kollektivierenden Sinne) wiederhergestellt werden soll. Wahre Freiheit ist dabei – so erneut in einer Rede Hitlers auf einer Kulturtagung (7. September1937) – nicht ein Ergebnis poetischer Betrachtungen, sondern das Resultat schwerer politischer Kämpfe [ist], deren Elemente daher auch nicht Aufsätze oder Leitartikel sind, sondern geschichtlich feststehende Ereignisse und damit Leistungen (Hitler 1937: 718). Nationale Freiheit Der Hinweis auf das kämpferische Geworden-Sein bzw. Werden wahrer politischer Freiheit erweist sich als frequent für diese Akteurskategorie. Diese Erkenntnis ist uns geworden in einem langen Kampf um die politische Freiheit unseres Volkes (Mousse 1933: 330). Mit den Verwendungen des hochfrequenten Kompositums Freiheitskampf sind Handlungsmuster der Durchsetzung von Herrschaft sowie der Rechtfertigung von Krieg und Eroberung verbunden. Waren die Befreiungskriege unter napoleonischer Fremdherrschaft primär ein Zurwehrsetzen nationalistisch Gesinnter gegen die feindliche französische Besatzungsmacht, so folgt der als Freiheitskampf umgedeutete Angriffskrieg der deutschen Wehrmacht primär einer Propagandastrategie. Mit ihr lässt der NSApparat den brutalen Eroberungskrieg als unerwartetes Ereignis erscheinen und legitimiert zugleich seine Fortsetzung (vgl. Buddrus 2003: 28). Bereits vor 1938 ist Hitlers Freiheitskonzept von Kriegsmetaphorik umgeben. In seiner Rede auf dem Wiener Heldenplatz anlässlich der Heimführung Österreichs bezeichnet er unter Jubelrufen die Ostmark als eiserne(n) Garant der Sicherheit und Freiheit des Deutschen Reiches (zitiert nach Reisigl 2003: 395) angesichts der militärischen Bedrohungen, die er zu Stürme(n) des Ostens naturalisiert (vgl. Reisigl 2003: 405). Die Euphemisierung von möglichen oder faktischen Kriegshandlungen geschieht ausdrucksseitig sowohl durch Freiheitskomposita, allen voran dem als Kampf-

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Freiheit

formel eingesetzten (grossdeutschen) Freiheitskampf; daneben Freiheitsheld, Freiheitskrieg, Freiheitspartei etc. Sie wird außerdem mit dem Derivat Befreiung vollzogen, insbesondere in Verbindung mit Kollektivpossessivphrasen wie Befreiung unseres Volkes oder Freiheitskampf der deutschen Nation. Im Sinne der Kriegsrüstung werden kämpferische Freiheitskonzepte auch auf dem siebten Reichsparteitag der NSDAP propagandistisch eingesetzt, der den Beinamen »Parteitag der Freiheit« trägt. Die NS-typische Inszenierung dieses Parteitags, der vom 10. bis zum 16. September 1935 in Nürnberg stattfand, wurde von Leni Riefenstahl in ihrem NS-Propagandafilm »Tag der Freiheit! – Unsere Wehrmacht« dokumentiert. In diesen nationalistischen Verwendungen präsupponieren die morphologischen Verbindungen mit frei für Deutschland eine Opferrolle, da Befreiung Gefangenschaft voraussetzt, die in den einzelnen Verwendungskontexten mehr oder weniger offen mit den »Fesseln« des Versailler Vertrags begründet wird. Somit erhebt sich mit den Verwendungen von Freiheit und Befreiung auch ein Vorwurf gegen die Siegermächte des ersten Weltkriegs, die die Einschränkungen zu verantworten haben. Auch Europas Befreiung entwirft Hitler in seiner Rede »Des Führers Kampf um den Weltfrieden« als Befreiung vom Versailler Vertrag: Indem der unselige Friedensvertrag von Versailles die geschichtlich geradezu einzige Verewigung eines Kriegsausganges nach der moralischen Seite hin festlegen wollte, hat er jene deutsche Frage geschaffen, die ungelöst eine kritische Belastung Europas und gelöst eine Befreiung Europas darstellt (Hitler 1936: o. S.). Die exkludierende Wirkung des Freiheitsvokabulars richtet sich allerdings nicht nur gegen die äußeren Feinde. Es ist im Zuge einer rassistischen Lesart auch gegen die Feinde im Innern des Reiches gerichtet, d. h. gegen die Verräter, Bolschewisten und nicht zuletzt die Juden. Zu der rassistischen Forderung, die Städte judenfrei zu machen, gehören typischerweise ortbezogene Aufschriften wie Unser Hotel ist judenfrei (vgl. Bajohr 2003). Die kaschierten Exklusionshandlungen mit Freiheit und Befreiung gehen mit dem Versprechen sozialer Inklusion einher, die quasi ihre soziopragmatische Kehrseite darstellt. Dabei entwickeln sich eigene Kontexte, in denen mit Possessiva (unsere) oder Possessivattributen (der deutschen Seele, des Vaterlandes) dieser vergemeinschaftende Aspekt performativ hergestellt wird. Auch die oben genannte Hitlerrede auf dem Wiener Heldenplatz wird in dieser gemeinschaftsstiftenden Funktion offiziell als Befreiungskundgebung deklariert. In dieser Lesart von Freiheit ist das Versprechen einer »völkischen« Affektansteckung enthalten. Denn die seelische quasireligiöse Ergriffenheit ist Bedingung und Möglichkeit für die Aufnahme in die »Glaubensgemeinschaft« der NSDAP. In dieselbe Richtung geht die emotionalisierende Kampagne der »Deutschen Front« im Vorfeld der Saarabstimmung 1935, bei der die Saarländer gemäß dem Versailler Abkommen zwischen einer französischen, deutschen Zugehörigkeit oder der Beibehaltung des Status-quo entscheiden konnten. Die »Deutsche

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Front« setzt ganz auf das Gefühl Deutschland (vgl. Paul 1985: 13). Das Versprechen der politischen Freiheit unter ihrer Losung Deutsch ist die Saar, immerdar knüpft die Befreiung unmittelbar an den nationalen Gedanken. Die Freiheit der Nation wird im Versprechen der Gemeinschaftserfahrung für den einzelnen eingelöst. Was ihm die Gemeinschaft abverlangt, mutet eher wie harte Entsagung an und verfolgt mithilfe von Konzepten wie z. B. deutschem Fleiß der Idee eines befreiten Europas. Der pseudoreligiöse Anstrich dieser Nationenfreiheit liegt in der inhärenten Analogie zur Freiheit Gottes. Diese wird von Luther als höchste und einzige Freiheit aufgefasst, die dem Menschen versprochen ist. Diese Hoffnung auf Freiheit wird im Vaterunser durch die Beschwörungsformel Dein Reich komme aktualisiert. In dieser (politischen) Utopie, an die Luther glaubte, sind alle Menschen gerecht und frei (vgl. Lobenstein-Reichmann 1998: 565). Luthers aus alten Traditionen übernommenes und gerade nicht an den Bauernkriegen seiner Zeit ausgerichtetes Freiheitsverständnis gilt als unpolitisch, weshalb sich die Bauern mit ihrer Forderung nach Freiheit nicht auf ihn berufen konnten oder es teilweise sogar irrtümlicherweise taten. Doch für Luther hatte Freiheit nichts mit den Interessen einzelner oder bestimmter Gruppen im politischen Sinn zu tun (vgl. Lobenstein-Reichmann 1998: 330). Im NS-Kontext zeigen sich auch Sprachgebrauchsmuster mit dem Lexem Befreiung im Zusammenhang mit der Forderung der Befreiung des deutschen Volkes: Wir sind nicht dazu da, heute für das neue Europa zu arbeiten und zu kämpfen. Vorerst handelt es sich um die Befreiung des deutschen Volkes (Goebbels 1942: 216).

Zusätzlich finden sich Bezüge zur Befreiung der Welt von einer Verschwörung in einem abgrenzenden Sinne: Die niederträchtigste Verschwörung und blutigste Tyrannei gegen die Freiheit der Menschen aller Zeiten versucht, sich zu erheben und eine jahrtausendelange europäische Kulturentwicklung zu beenden (Hitler 1945: 2203) und mit Rekurs auf antisemitische Ideologieelemente, z. B. dass sich das am meisten verjudete Deutschland unter Adolf Hitlers Führung aufraffte und sich durch Blutgesetze und Bodenrechte von den jüdischen Peinigern befreite (Esser 1939: 242). Während hier eine Exklusionswirkung nach innen entsteht, ist die Exklusionswirkung nach außen eher in Bezug auf das Handlungs- und Wissensfeld des Krieges auszumachen: So kämpfen wir heute darüber hinaus nicht um unsere eigene Existenz, sondern um die Befreiung der Welt von einer Verschwörung, die in skrupelloser Weise das Glück der Völker und Menschen ihrem gemeinen Egoismus unterordnet (Hitler 1941: 1708). Befreiung wird schließlich an die Symbolfigur des Führers gebunden, der durch die befreiten Städte und Dörfer [fuhr] (Dickmann 1940: o.S.) und die nationalsozialistische Bewegung zum Freiheitskampf des deutschen Volkes (Berndt/Wedel 1942: 85) anleitet. Hitler wird dabei nicht nur die Befreiung des deutschen Volkes zuge-

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Freiheit

rechnet, er entscheidet auch über persönliche Freiheit(en); der Führer [will] ihm die Möglichkeit und Freiheit […] geben (Goebbels 1936: 67). Das für Soldaten gültige Wechselspiel aus Zwang und Freiheit weitet sich auf den Deutschen aus, der wie ein Soldat sein Opfer freudig der Nation zu bringen hat. In einer typischen Ausklammerungsfigur hebt Hitler zum Tag der Wehrmacht das Opfer an Freiheit hervor, das aus Pflichtbewusstsein hervorgeht: Jeder von euch muss bringen ein Opfer an persönlicher Freiheit, er muss bringen Gehorsam, Unterordnung, aber auch Härte, Ausdauer und über allem höchstes Pflichtbewusstsein (Hitler 1935: 539). Abgrenzungen und damit verbundene Versuche der Erlangung von Deutungshoheiten finden sich zuletzt ebenso im Rahmen des Handlungs- und Wissensfeldes von Freiheit als anthropopologische Konstante, wenn z. B. Goebbels (1931: 119) in einem Tagebucheintrag Schluß mit der persönlichen Freiheit fordert und so die Entindividualisierung und Kollektivierung des nationalsozialistischen Freiheitskonzeptes ein weiteres Mal explizit macht. Auch in einer Propaganda-Schrift von Wanderscheck wird die Einbettung persönlicher Freiheit in ein kollektivierendes Konzept deutscher Freiheit im Sinne eines freien Volkes deutlich: Der einzelne hat einen Bereich persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit in seiner Beziehung zum Staat (Wanderscheck 1936: 88). 3.1.3 Diskurssemantisches Netz Freiheit wird in ihrer Verwendung durch die nationalsozialistische Akteursgruppe in den verschiedenen Handlungs- und Wissensfeldern der Politik, Gesellschaft und des Krieges mit zwei Strategien verwendet: Freiheit wird umwertend dem nationalsozialistischen Ideologie-Vokabular einverleibt und dort als zurückgewonnene wahre oder wirkliche Freiheit des deutschen Volkes konzeptualisiert. Damit verbunden findet eine Fokussierung auf die Befreiung von »niederträchtigster Verschwörung und Tyrannei« statt, die zum Teil mit antisemitischen Konzeptionen im Sinne einer jüdischen Weltverschwörung eng verknüpft ist und als Kampf um Freiheit konzeptualisiert wird. Freiheit im Sinne von Loslösung und Abgrenzung von anderen Nationen ist damit ebenso gemeint, wie die Aufgabe persönlicher Freiheiten, die in einem kollektivistischen Freiheitskonzept aufgehen. Damit gehen Abgrenzungen von (auch historischen) abgewerteten Freiheiten unmittelbar einher und führen zu Zugehörigkeits(solange man Teil des durch die Nationalsozialisten befreiten deutschen Reiches ist) und Ausschlussbewegungen.

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Akteure der integrierten Gesellschaft

3.2.1 Funktional-abstrahierende Einordnung Während nominale Verwendungen im Korpus der NS- und der WiderstandsakteurInnen vorherrschen, lassen sich Adjektivverwendungen mit frei in den Korpora (Tagebücher, Briefe, Belletristik sowie Sachbücher) der integrierten Gesellschaft am häufigsten antreffen. Insgesamt zeigen sich in den Texten dieser Akteurskategorie ebenso Bezüge zum politischen Handlungs- und Wissensfeld (nationale oder nationalsozialistische Befreiung sowie politische oder nationale Freiheit), deutlicher werden aber Rekurse auf allgemein-anthropologische Konstanten von Freiheit (als freier Wille, freie Entscheidung oder persönliche Freiheit). Auch finden sich Hinweise auf Einschränkungen oder Unterdrückungen der persönlichen Freiheit, ebenso wie verzeitlichte Reflexionen, in denen nach Freiheit und Zukunft gefragt wird. 3.2.2 Akteursspezifische Sprachgebrauchsmuster Das Handlungs- und Wissensfeld der Politik ist in den Korpora der integrierten Gesellschaft deutlich reduzierter. Politische Rekurse werden vor allem mit Blick auf das eigene Volk realisiert, im Sinne der Freiheit der Nation, die befreit wird, erneut auch in Verbindung mit dem Kriegskontext, so etwa im Kampf um die Freiheit, den schon die Ahnen geführt haben, wovon etwa die Märchen Kunde tun (Soerensen 1937: 11). Kellner spricht in seinem Tagebuch davon, unser Volk endgültig aus jenem schweren Schicksal befreien [zu] können, das es bisher tragen mußte und auch heute trägt (Kellner Mai 1943: 413). Diese Befreiung wird unmittelbar an das NS-Regime geknüpft, dementsprechend etwa von der Freiheitsbewegung Hitlers (Horstmann 1934: 295) gesprochen. Auch die jüngere Generation, wie Keller in der Einleitung zum Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin notiert, fühlt sich »befreit von den Moralvorstellungen der älteren Generationen« (Keller 2015: 20). Dabei kommen auch antisemitische Konnotationen im Sinne der Befreiung von einer jüdischen Verschwörung zum Tragen. Wir Deutsche des Dritten Reiches aber sind gewiß, daß nach der nationalsozialistischen Befreiung Deutschlands von der jüdischen Gefahr unser Volk und Vaterland einer besseren, glücklicheren Zukunft entgegen geht (Herrmann 1936: 24). Ebenfalls wird auf Hitler als Befreier Bezug genommen: Restlos hinweg wird er die Juden spülen. So dass für ew’ge Zeiten weit und breit Deutschland wird sein von dieser »Pest« befreit (Ritter 1942: 322). Durchaus finden sich auch Bestätigungen der nationalsozialistischen Umdeutung des Freiheitsbegriffes in einem kollektivistischen Sinne. So verweist ein Tagebuch-Schreibender darauf, dass er im übrigen, entsprechend dem Vorbild tausender Kameraden […] ebenfalls

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Freiheit

meine Freiheit für den Führer opferte (Merkelbach 1934: 273). Auch in Sachbüchern zeigen sich diese Bezüge, z. B. dass der preußische Stil […] ein Entsagen aus freiem Entschluß [ist], das Sichbeugen eines starken Ichs vor einer großen Pflicht und Aufgabe, ein Akt der Selbstbeherrschung und insofern das Höchste an Individualismus, was der Gegenwart möglich ist (Spengler 1933: 109). Gleichzeitig finden sich stärkere Bezüge auf Freiheit als anthropologisches Konzept: In einem individualisierten Sinne wird auf den freien Willen, die freie Entscheidung oder den freien Entschluss Bezug genommen. Es hat schließlich jeder Mensch seinen freien Willen (Guicking 1939: o.S.). Dass diese FreiheitsKonzeptualisierung an die engen Grenzen der Hitler-Diktatur stößt, wird ebenso deutlich gemacht: Nur einmal wieder eine innere Befreiung, das Recht zu freier Meinungsäußerung und Willensbildung. Aber das Individuum geht unter (Rosenberg 1933: 126). Diese Bezüge haben auch eine teilweise temporale Komponente, die sich durch einen Wunsch zukünftiger Verbesserung auszeichnet: In Zukunft muß es Freiheit der religiösen Anschauung geben (Kellner Januar 1943: 377) oder Und was auch unsre Zukunft sei – Wir wollen trotzdem »ja« zum Leben sagen, Denn einmal kommt der Tag – Dann sind wir frei! (Buchenwaldlied: 309). In diesem Sinne werden abweichende oder dissidente Meinungen kommuniziert, in denen ein Mangel oder Fehlen von Freiheit angesprochen wird: Die deutschen Zeitungen sind wertlos, die Nationalsozialisten beherrschen u. controllieren die Zeitungen und Alles in Deutschland, kein freier Luftzug. Auf die Dauer ist ein solches Regiment unmöglich (Berenberg-Goßler 1933: 120). Diese Atemmetapher fügt sich in die erweiterte Vorstellung eines sich frei bewegenden Körpersubjekts, denn in unerhörter Weise ist die körperliche Freiheit des Deutschen bedroht, beklagt Erich Ludendorff in einem Beschwerdeschreiben an Hindenburg vom 18. 11. 1933 angesichts der gewaltsamen Hausdurchsuchungen von SS-Soldaten, die sich dabei an einem deutschgottgläubigen Mann vergriffen haben sollen (Ludendorff 1933: 190). Dabei sind ähnlich wie im Widerstand zivilisatorischer Rückschritt und Rechtsbruch Zielpunkte der Kritik. Kollokationen wie frei atmen, auf freiem Fuß, sich/den Körper frei aufrichten stützen diese körperlich fundierte Lesart. Es bahnt sich schließlich so auch ein oppositionelles Potenzial an, das im Widerstand auf unterschiedliche Weise realisiert wird und dabei über bloße Negation hinausgeht und alternative Konzeptionen von Freiheit andeutet und ausgestaltet. 3.2.3 Diskurssemantisches Netz Freiheit wird in der integrierten Gesellschaft in einem bestätigenden und abweichenden Sinne zur nationalsozialistischen Konzeptualisierung thematisiert. Einerseits finden sich, insbesondere im Handlungs- und Wissensfeld der Politik, Bezüge zu Hitler als Befreier des deutschen Volkes sowie der nationalsozialisti-

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schen Freiheitsbewegung, die Übernahmen der Lesarten des NS-Apparates nahelegen. Dass das nationalsozialistische Freiheitskonzept zulasten des Individuums geht und Freiheit in eine völkisch-nationale Kollektivierung überführt, wird zum Teil wissentlich in Kauf genommen. Andererseits zeigen sich stärkere Bezüge zu einem individualisierten Freiheitsbegriff, der als universelle anthropologische Konstante beschrieben wird. Dabei wird auch der momentane Mangel an Freiheit unter der nationalsozialistischen Herrschaft beklagt und ein in die Zukunft gerichteter Blick gewagt, in der die freie Meinungs- und Willensbildung wieder möglich sein wird. An dieser Stelle zeigt sich das alltägliche Dissidenzpotenzial der integrierten Gesellschaft, das sich im Widerstand umfänglicher realisiert.

3.3

Widerstand

3.3.1 Funktional-abstrahierende Einordnung Widerstand bedeutete in der Zeit des Nationalsozialismus insbesondere aus der Perspektive der Freiheitsforderungen ›Fundamentalopposition zum herrschenden Diskurs‹. Diese zeigt sich jedoch nicht auf lexikalischer Ebene; bezogen auf die Wortbildungen mit frei, Freiheit und Befreiung sind die Verwendungen der verschiedenen WiderstandsakteurInnen denen der NS-Propaganda weitgehend ähnlich. Insbesondere die Attribuierungen zu Freiheit zeigen weitreichende Übereinstimmungen mit denen des NS-Apparates. Erst die Einbettung in den Satzrahmen, die unterschiedlichen Bezugsnomen zu Possessivattributen (Erringung von Freiheit) und die Prädikationen (Freiheit als höchstes oder kostbarstes Gut) indizieren eine spezifische Widerstandshaltung. Während die Mitglieder des NS-Apparates sich zunehmend abgrenzend zu bestimmten Formen politischer Freiheit positionieren und einer individualisierten Freiheit (der Entscheidung, des Willens etc.) kollektivistische Auslegungen entgegensetzen, werden die Bezüge zur Freiheit des Innerlichen (Freiheit des Denkens, des Geistes, des Gedankens, der Meinung(säußerung), der Religion) durch die verschiedenen Akteursgruppen des Widerstandes reaktualisiert und hervorgehoben. Aus der Losung Es lebe die Freiheit! (vgl. Studienkreis Deutscher Widerstand 2013) oder dem roten Kampfruf Die Freiheit lebt!, der noch 1933 als Aufmacher des Zeitungstitelblatts der Sozialistischen Aktion hervorsticht (vgl. Dierks 2010: 15), entwickelt sich gegenüber diesen revolutionär-affektiven Freiheitsverständnissen, die auf Umsturz zielen, ein zunehmend in einer demokratischen Rechtsordnung verankerter Freiheitsbegriff. Gleichzeitig werden die fehlenden Freiheiten in Nazideutschland aufgedeckt und kritisch kommentiert. Im Widerstandskorpus findet sich dabei bei allen Wortarten der höchste Anteil an

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Freiheit

Wortverbindungen mit frei. Als Teil einer Adjektivphrase dient frei der Skizzierung von Freiheitsgedanken und Freiheitsforderungen. Hier liegen die größten Unterschiede zum NS-Apparat. Prädikationen mit frei wie Mensch, Gewerkschaft oder Selbstbestimmung finden sich kaum in den Texten des NS-Apparates und die verbalen und adjektivischen Phrasen schließen eher an die individualisierenden Perspektivierungen von Freiheit im Korpus der integrierten Gesellschaft an. Adjektivphrasen wie frei von (Krieg, Streitigkeiten, Gehässigkeit) und Verbalphrasen wie frei sein und frei werden, oft mit in die Zukunft gerichtetem zu-Infinitiv, sind Teil einer anthropologisch ausgestalteten Selbstvergewisserung. Dabei werden Freiheitsvisionen entworfen, bei denen das Privatleben des Menschen in Deutschland frei ist (Schwarzschild 1936: 37) oder Menschen sich wieder frei ins Auge sehen können (Goerdeler 1938: 747). Schließlich finden sich exklusive Freiheitskomposita wie Koalitionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Redefreiheit, Vereinigungsfreiheit oder Organisationsfreiheit. Auch Reihungen von Freiheitskomposita finden sich musterhaft lediglich im Widerstandskorpus und sind als typisch für diese Akteursgruppe zu beschreiben. 3.3.2 Akteursspezifische Sprachgebrauchsmuster In ihrer Abgrenzung vom herrschenden nationalsozialistischen Diskurs rekurrieren WiderstandsakteurInnen unmittelbar auf das Handlungs- und Wissensfeld des Krieges, verweisen auf Freiheit als umkämpftes Gut, auf den Freiheitskampf unseres Volkes (NKFD 1943: 2) bzw. den Freiheitskampf des werktätigen deutschen Volkes (KPD 1935: 145) und inszenieren sich als Kämpfer für Freiheit: Wir kämpfen für die Freiheit (Neu Beginnen 1936: 95). Insbesondere kommunistische und sozialistische Gruppierungen verschreiben sich ausdrücklich diesem Kampf: Die deutsche Arbeiterbewegung wird ihre ganze Kraft aufbieten, um alle vom Hitlerfaschismus unterdrückten fremden Völker in ihrem nationalen Freiheitskampf zu unterstützen (Artikel Arbeiter 1939: 115) oder wir haben alle einen Feind: den Kriegsbrandstifter Hitler. Kämpfen wir zusammen in der Einheits- und mit allen Werktätigen in der Volksfront für Völkerfrieden und Freiheit (KPD 1936: 161). Dementsprechend wird der Verlust von Freiheit unter der NSHerrschaft deutlich gemacht, sowohl hinsichtlich der Meinungsfreiheit: Das deutsche Volk hat nicht dazu Stellung genommen; es kann nicht frei seinen Willen erklären (Aktionsausschuss 1936: 221), gesellschaftlicher Freiheit: Freiheit des deutschen Volkes????? Nein!! Sondern einzig und allein für die grössenwahnsinnigen Weltbeherrschungspläne unserer plutokratischen Führerkilcke (sic)! (Stoßtrupp undatiert: 1) aber auch persönlicher Freiheit: Er sagt Ja zu der Aufhebung aller persönlichen Freiheit (Günther 1940: 713). Als ein großes Bekenntnis zur Freiheit ist der vielzitierte letzte Satz von Hans Scholl Es lebe die Freiheit in die Geschichte des deutschen Widerstands eingegangen. Situationsbezogen erinnert

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diese Losung an die Aussage des Demokraten Robert Blum, der am 9. November 1848 kurz vor seiner Erschießung durch Anhänger der Gegenrevolution bekannt haben soll Ich sterbe für die Freiheit (vgl. Schwed 1849: 43). Der Ausruf Scholls findet sich ebenso in Flugschriften der Weimarer und der NS-Zeit als Appell für ein liberal-emanzipatorisches Freiheitsverständnis. Die Wurzeln seines nationalistischen Sinngehalts reichen bis in die Renaissance zurück: So ist er etwa auch in Ulrich von Huttens Abhandlung Um Deutschlands Freiheit zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu finden und richtet sich dort ebenso wie im Nationalsozialismus eher prospektiv auf die befreite Nation der Zukunft. Im Freiheitsverständnis des NS-Apparats tritt diese Formel auch vereinzelt im NS-Apparat auf, beispielsweise als pathetischer Abschluss einer Rede von Robert Ley, dem Leiter der DAF (Ley 1940: 00:54–55). Im Unterschied dazu ist die Formel im Widerstandskontext von Elementen der Abgrenzung und Entgegensetzung flankiert, z. B. durch einen Kontrast zur Diktatur: Nieder mit der Diktatur – Es lebe die Freiheit (Brill 1938: 87) oder durch Kontextualisierungen mit dem Schlüsselwort Frieden: Es lebe der Friede – Es lebe die Freiheit!! (NKFD 1944: 439). Damit einher gehen explizite Forderungen einer zukünftigen freiheitlichen Gesellschaft, die kämpfend zu erringen ist: Es ist darum unser unerschütterlicher Wille, mit allen Gegnern Hitlers zur Kampfgemeinschaft für die Erringung der demokratischen Freiheit zu erlangen! (KPD Katholiken 1938: 94). Gefordert werden Koalitionsfreiheit und Pressefreiheit (Neu Beginnen 1936: 95) bzw. Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit (Goerdeler 1938: 696). Insbesondere Versammlungs- und Redefreiheit werden als zentral verstanden: Freies Wahlrecht bei freiem Versammlungsrecht und gesicherte Presse- und Redefreiheit (Mann/ Münzenberg/Spiecker 1938: 213, Hervorhebung im Original) und schließlich Freiheit der Person! Freiheit dem Volk! (ebd., Hervorhebung im Original); allerdings zeigen sich auch Unterschiede der verschiedenen Widerstandsgruppen, wenn etwa Helmut James Graf von Moltke in einer Denkschrift von 1941 einschränkend festlegen will, dass es Vereins- und Versammlungsfreiheit […] außerhalb der Betätigung in den kleinen Gemeinschaften zunächst nicht geben [soll] (Moltke 1941: 514). Vorgenommene historische Bezüge machen zudem die Kontinuität deutlich, in die sich die Widerstandskämpfer stellen und durch die sich eine diametral zum NS-Apparat stehende Perspektivierung der Entwicklung des historischen Freiheitsgedankens ausdrückt: Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Rechte des Einzelnen fortentwickelt, bis sie im 18. Jahrhundert ihre genaue Formulierung erhielten. Jedem Bürger werden garantiert: persönliche Freiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Presse- und Meinungsfreiheit, Gewerbefreiheit (Mann/Münzenberg/Spiecker 1938: 217). Am Ende ihres Manifests berufen sich Mann, Münzenberg und Spiecker (1938: 217, Hervorhebung im Original) direkt auf Kant: Lasst eure Rechte nicht ungeahndet mit Füssen treten ruft Kant den Menschen zu. Auch an dieser Stelle zeigt sich der Rückschritt des

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nationalsozialistischen Regimes, das eben nicht als Freiheitsbewegung, sondern als unfreies Unrechtsregime beschrieben wird. In diesem Sinne ist die Überwindung der Nazidiktatur, als Befreiung von der faschistischen Barbarei (Artikel Hitler 1938: 7) oder Befreiung von der Hitlerbarbarei (Florin 1936: 29) zentrales Ziel. Insbesondere in den infiniten Verwendungen mit Befreiung/Freiheit und besonders kondensiert in dem Ausruf Freiheit! erheben die WiderstandsakteurInnen Forderungen. Diese sind programmatisch in die Bezeichnungen zahlreicher Widerstandsorganisationen und -organe eingeschrieben (z. B. die Gruppierungen Nationalkomitee freies Deutschland und Bewegung freies Deutschland oder die Zeitschrift Freiheit). Das Lexem wird in einen konträren Zusammenhang zu seiner Verwendung in den Korpora des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft gebracht: Und trotz alledem glüht in den Massen der Wille zur Befreiung (Artikel 1. Mai 1939: 271). Erkennbar werden allerdings auch hier Vereinnahmungen des Freiheitskonzeptes durch die ebenfalls ideologisch geprägten Widerstandsgruppen, wenn z. B. darauf Bezug genommen wird, daß es eine wirkliche nationale Freiheit des deutschen Volkes ohne soziale Befreiung nicht geben kann (ZK der KPD 1934: 6). Im Rahmen dieser kämpferischen Rückgewinnungs- oder Etablierungsforderungen der verschiedenen Formen politischer wie gesellschaftlicher Freiheit finden sich zudem explizite Bezüge auf ein individualisiertes Freiheitskonzept persönlicher Entfaltung, das den kollektivistischen Ausprägungen des NS-Apparates entgegensteht: Gegen Hitler stimmen, das heist (sic) stimmen für persönliche und politische Freiheit (KPD Parole 1938: 211). Diese Formen persönlicher Freiheit werden ebenfalls nicht national(istisch), sondern in einem universellen Sinne als anthropologische Konstante verstanden: Jeder Mensch hat das natürliche Recht auf persönliche Freiheit (Bischöfe 1945: 16) oder auch aus der dialektischen Verkopplung mit sozialer Zugehörigkeit abgeleitet. Die gehäuft auftretenden »Ergänzungsbindestrich-Freiheiten« verdichten den Freiheitsbegriff zu einem intersubjektiven Projekt am Angelpunkt der freien Meinungsäußerung: Gefordert werden Rede-, Presse-, Rundfunkfreiheit oder Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, beklagt wird der Verlust von Vereins- und Versammlungsfreiheit, aber auch Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Freiheiten werden außerdem explizit performativ eingefordert, so z. B. in einem Flugblatt der Hamburger Weissen Rose von 1943: Im Namen des ganzen deutschen Volkes fordern wir vom Staat Adolf Hitler die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat (Kucharski/Rothe 1943: 48). Die Universalisierungsstrategie wird auch dazu genutzt, mögliche Konsequenzen der Niederlage Nazideutschlands aufzuzeigen und evtl. Bedenken potenzieller Adressaten zu zerstreuen: Die Amerikaner sind, wie auch die Engländer, gute Demokraten […]. So, wie sie im eigenen Land die persönliche Freiheit als das höchste Gut des Menschen achten und schützen,

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werden sie auch als Sieger – das haben sie immer wieder in der Geschichte bewiesen – das unterlegene Volk weder politisch noch wirtschaftlich »versklaven« (Anonyme Tarnschrift 1944: 2). Freiheit wird schließlich zu anderen politischen Hochwertwörtern wie Demokratie, Frieden – HIER IST DIE STIMME DES FRIEDENS!! STIMME DER FREIHEIT!! (NKFD 1944: 437, Hervorhebung im Original) – oder Gleichheit – für die Glaubens- und Gewissensfreiheit, für die Gleichheit aller Staatsangehörigen (KPD Manifest 1935: 23) – in Beziehung gesetzt und so ein Nexus politischer Wertvokabeln geschaffen, durch das sich die widerständischen AkteurInnen vom nationalsozialistischen Regime abgrenzen. 3.3.3 Diskurssemantisches Netz Die Konzeptualisierung von Freiheit als (politisch) umkämpftem Gut wird in der Kontrastierung von NS-Apparat und Widerstand deutlich. Trotz Ähnlichkeiten hinsichtlich des gebrauchten Lexembestandes zeigen sich die oppositionellen Positionierungen unmittelbar. Enthüllt wird, dass Hitler entgegen aller propagandistischen Täuschungen keine Freiheit im Sinne einer Freiheit für den einzelnen, sich zu äußern und sich frei mit anderen zusammenzuschließen, bringt. In dieser Möglichkeit der Freiheit liegen Anschlüsse an die Kant’schen Freiheitskonzeptionen. Das inhaltlich Eingeforderte wird in seiner Konsequenz der Übernahme moralischer Verantwortung gegenüber den eigenen freien Äußerungen vollzogen. Auch wenn die WiderstandsakteurInnen ihren Widerstand in ganz unterschiedlichen Gattungen vollziehen, treten sie doch in Form von Zukunftsentwürfen (Denkschriften), Appellen (Flugschriften) oder Aufklärungen (Presseartikel) gegen einen propagandistisch überformen Freiheitsbegriff an und decken insbes. auf, dass das NS-Regime nicht befreit, sondern (andere) be- und ausgrenzt. Deutlich werden die Einschränkungen z. B. politischer sowie persönlicher Freiheit benannt und daraus abgeleitete Forderungen an eine Überwindung der NS-Diktatur gestellt, nach der es zu einer (Re-)Etablierung von Freiheitsrechten kommen soll, wobei insbesondere die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit hervorgehoben werden. Abseits kollektivistischer Vereinnahmungen ist das grundlegende natürliche Recht auf persönliche Freiheit relevant gesetzt, durch das sich andere Nationen auszeichnen. Der Durchsetzung dieser Forderungen hat sich der Widerstand explizit verschrieben. In diesem Sinne rufen die unterschiedlichen Akteursgruppen zum Freiheitskampf gegen das nationalsozialistische Regime auf. Dabei zeigt sich, dass Freiheit Teil eines Hochwertwortschatzes ist, durch den sich der deutsche Widerstand hinsichtlich alternativer Einstellungen und Werte auszeichnet bzw. definiert.

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Fazit

Freiheit, Befreiung und frei sind als Zentralvokabeln des Nationalsozialismus in vielfältige akteurstypische Sprachhandlungsmuster eingebunden. Diese reichen von euphemistischen Maskierungen der Eroberungsabsichten (Befreiungskampf) im Rahmen der NS-Propaganda über die anthropologisch-subjektivistischen Konzepte, an denen die Angehörigen der integrierten Gesellschaft festhalten (Freiheit des Willens) bis hin zu den Freiheitsentwürfen des Widerstands, in denen sich die Vorstellung einer demokratischen Gesellschaftsordnung auf die Freiheit bezieht, sich zu äußern und zu versammeln. Es offenbaren sich divergierende historisch abgeleitete Konzepte politischer wie gesellschaftlicher Freiheit, ebenso wie verschiedene Bewertungen von persönlicher Freiheit vorgenommen werden. Dass es sich bei Freiheit um ein umkämpftes Gut handelt, wird von allen Akteursgruppen explizit bestätigt. Die NS-Akteursgruppenmitglieder rekurrieren vornehmlich auf die Befreiung durch die nationalsozialistische Freiheitsbewegung sowie den messianischen Führer als Befreier des deutschen Volkes. Abgrenzungen werden vor allem gegenüber historischen Formen »falscher« Freiheit vorgenommen, ebenso wie das Konzept persönlicher Freiheit abgewertet wird. Diese abgrenzenden und kollektivierenden Perspektivierungen werden zum Teil von den AkteurInnen der integrierten Gesellschaft übernommen. Dies macht die »Veralltäglichung« der nationalsozialistischen Ideologie unmittelbar deutlich.2 Es zeigen sich aber auch Dissidenz- oder Resistenzpotenziale, die an den Verlust persönlicher Freiheit geknüpft sind. Im Widerstand wird dieser Verlust offen benannt. Sich in eine historische Kontinuität (und damit alternative historisierende Wirklichkeitskonstruktion konstituierend) stellend werden aus den Verlustbeschreibungen politischer oder persönlicher Freiheit Forderungen nach einer Etablierung oder Restituierung abgeleitet. Dass diese Forderungen unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft kämpferisch umgesetzt werden müssen, wird durch das akteursübergreifend verwendete Kompositum Freiheitskampf deutlich. Freiheit wird auch in Verbindung zu anderen politischen Hochwertwörtern gebraucht (Demokratie, Frieden sowie Gleichheit) und bildet so ein Netzwerk wertebasierter Lexeme, das der diskursiven Positionierung und Identifizierung dient. Freiheit ist dahingehend als Schlüsselkonzept des Verständnisses der diskursiven Bedingungen zwischen 1933 und 1945 zu verstehen und wird nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, z. B. im Zusammenhang mit den Opferdiskursen der frühen Nachkriegszeit (vgl. Kämper 2005: 117) zu einer zentralen politischen und erinnerungskulturellen Kategorie.

2 s. den Beitrag ›Tagebuch‹ in Teil 2.

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(Florin 1936) Florin, Wilhelm (1936): Wie stürzen wir Hitler? Der Weg zur Einheitsfront und zur antifaschistischen Volksfront in Deutschland. Rede und Schlußwort auf der Brüsseler Konferenz der Kommunistischen Partei Deutschlands (Oktober 1935) [Tarnschrift 0304, Kopftitel: Laufen und Gehen. Gemeinschaft mit dem Reichssportführer herausgegeben vom Propaganda-Ausschuß f.d. Olympischen Spiele Berlin 1936], in: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945, Online-Datenbank (27. 11. 2017), de Gruyter, S. 4–81. (db.saur.de/DGO/login.jsf, Stand: 24. 12. 2021). (Goebbels 1931) Goebbels, Joseph (1931): Tagebucheintrag vom 8. Oktober 1931, in: Fröhlich, Elke (Hg.) (1996): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941. München: K.G. Saur, S. 118–119. (Goebbels 1936) Goebbels, Joseph (1936): Tagebucheintrag vom 23. April 1936, in: Fröhlich, Elke (Hg.) (1996): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923– 1941, München: K.G. Saur, S. 67. (Goebbels 1942) Goebbels, Joseph (1942): Tagebucheintrag vom 1. November 1942, in: Fröhlich, Elke (Hg.) (1996): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil II: Diktate 1941– 1945, München: K.G. Saur, S. 215–220. (Goerdeler 1938) Goerdeler, Carl Friedrich (1938): Denkschrift zur Innenpolitik, in: Gillmann, Sabine/Mommsen, Hans (Hg.) (2003): Politische Schriften und Briefe Carl Goerdelers. Bd. 1. München: K.G. Saur, S. 696–762. (Günther 1940) Günther, Hanno (1940): Das freie Wort. Folge 3, September 1940, Berlin: Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Quelle: Bundesarchiv, R 3018/NJ 1705, Bd. 5. (w ww.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publikationen/begleitmaterialien/Faksimiles_PDF s_deutsch/FS_13.2_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf, Stand: 11. 2. 2022). (Guicking 1939) Guicking, Anna (1939): Brief vom 10. 12. 1939, in: Kleindienst, Jürgen (Hg.) (2001): Sei tausendmal gegrüßt. Briefwechsel Irene und Ernst Guicking 1937–45, Berlin: Zeitgut Verlag. (Herrmann 1936) Herrmann, Curt (1936): Der Jude und der deutsche Mensch, Breslau: Heinrich Handel. (Hitler 1935) Hitler, Adolf (1935): Rede an die Soldaten der Wehrmacht vom 16. September 1937, in: Domarus, Max (Hg.) (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Bd. I: Triumph. 2. Halbband: 1935– 1938, Wiesbaden: R. Löwit, S. 539–541. (Hitler 1936) Hitler, Adolf (1936): Des Führers Kampf um den Weltfrieden, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Freiburg, W 307 Nr. 932. Sammlung Karl Fritz, München: Franz Eher Verlag. (Hitler 1937) Hitler, Adolf (1937): Rede auf Kulturtagung vom 7. September 1937, in: Domarus, Max (Hg.) (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Bd. I: Triumph. 2. Halbband: 1935–1938, Wiesbaden: R. Löwit, S. 718–719. (Hitler 1939) Hitler, Adolf (1939): Rede vor dem Reichstag, in: Domarus, Max (Hg.) (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Bd. II: Untergang. 1. Halbband: 1939–1940, Wiesbaden: R. Löwit, S. 1047– 1067. (Hitler 1941) Hitler, Adolf (1941): Rede vor dem Reichstag am 4. Mai 1941, in: Domarus, Max (Hg.) (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von

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einem deutschen Zeitgenossen. Bd. II: Untergang. 2. Halbband: 1941–1945, Wiesbaden: R. Löwit, S. 1697–1709. (Hitler 1945) Hitler, Adolf (1945): Proklamation zum Parteigründungstag am 24. Februar 1945, in: Domarus, Max (Hg.) (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Bd. II: Untergang. 2. Halbband: 1941– 1945, Wiesbaden: R. Löwit, S. 2203–2207. (Hobbes 1651) Hobbes, Thomas (1966): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. (Horstmann 1934) Horstmann, Bernhard (1934): Lebenslauf, in: Giebel, Wieland (Hg.) (2018): »Warum ich Nazi wurde«. Biogramme früher Nationalsozialisten – Die einzigartige Sammlung des Theodore Abel, Berlin: Story Verlag, S. 290–296. (Kellner Mai 1943) Kellner, Friedrich (1943): Tagebucheintrag vom 10. 05. 1943, in: Feuchert, Sascha/Kellner, Martin Scott (Hg.) (2011): »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939–1945, Göttingen: Wallstein, S. 413–415. (Kellner Januar 1943) Kellner, Friedrich (1943): Tagebucheintrag vom 14. 01. 1943, in: Feuchert, Sascha/Kellner, Martin Scott (Hg.) (2011): »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939–1945, Göttingen: Wallstein, S. 376–377. (KPD 1935) KPD (1935): Manifest der Brüsseler Parteikonferenz der KPD, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 144–145. (KPD 1936) KPD (1936): Klebezettel zur sogenannten Volksabstimmung am 29. 03. 1936, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, Berlin: Dietz, S. 161. (KPD Katholiken 1938) KPD (1938): An die Katholiken Westdeutschlands, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 94. (KPD Manifest 1935) KPD (1935): Manifest der Brüsseler Parteikonferenz der KP Deutschland. An das werktätige deutsche Volk! [Tarnschrift 0308, Kopftitel: Wie unsere Kakteen richtig gepflegt werden müssen. Laß Blumen sprechen! Kakteen nicht vergessen!], in: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945, OnlineDatenbank (27. 11. 2017): de Gruyter, S. 23–29. (db.saur.de/DGO/login.jsf, Stand: 24. 12. 2021). (KPD Parole 1938) KPD (1938): Deutsches Volk! Nein ist die wahre deutsche Parole, in: Pikarski, Magret/Uebel, Günter (Hg.) (1978): Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933 bis 1945, Berlin: Dietz, S. 211. (Kucharski/Rothe 1943) Kucharski, Heinz/Rothe, Margaretha (1943): Ein deutsches Flugblatt, in: Diercks, Herbert (Hg.) (2010): »Die Freiheit lebt!«. Widerstand und Verfolgung in Hamburg 1933–1945, Hamburg: KZ Gedenkstätte Neuengamme, S. 48. (Ley 1940) Ley, Robert (1940): 1940–08–22 – Robert Ley – Rede zur Auslandsorganisation der NSDAP in Amsterdam – Ausschnitt 4 (1 m, 01 s). (archive.org/details/19400822R obertLeyRedeZurAuslandsorganisationDerNSDAPInAmsterdamAusschnitt41m01s, Stand: 11. 2. 2022). (Ludendorff 1933) Ludendorff, Erich (1933): Beschwerdeschreiben an Hindenburg aufgrund von SS-Gewalt vom 18. 11. 1933, in: Eberle, Henrik (Hg.) (2007): Briefe an Hitler. Ein Volk schreib seinem Führer. Unbekannte Dokumente aus Moskauer Archiven – zum ersten Mal veröffentlicht, Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, S. 189–190.

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Freiheit

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

Teil 1 Vorwort und Danksagung Mark Dang-Anh / Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz / Stefan Scholl / Britt-Marie Schuster / Nicole M. Wilk Einleitung 1 Sprachliche Sozialgeschichte: Akteur*in – Diskurs – Position 1.1 Akteur*in im Diskurs 1.2 Akteur*in als Verstehensvoraussetzung 1.3 Akteur*in und Wissen 1.4 Akteur*in und Positionen 2 Perspektiven auf Sprachgebrauch 1933 bis 1945 2.1 Inklusion – Exklusion 2.2 Sprachliches Handeln 2.3 In Texten kommunizieren 2.4 Konzeptprägungen 3 Kulturlinguistik – das Selbstverständnis 4 Das Korpus 5 Fortschreibung

1 Menschen inkludieren, exkludieren, typisieren Heidrun Kämper / Nicole M. Wilk Gemeinschaft/Volksgemeinschaft 1 Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen 2 Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung 2.1 NS-Apparat und NS-affine integrierte Gesellschaft 2.1.1 Gegenwart: Der rassistische Generalbass 2.1.2 Vergangenheit: Gemeinschaft als gewesener Sehnsuchtsort 2.1.3 Zukunft: Volksgemeinschaft

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

2.1.4 Synonymik am Beispiel: Volk 2.2 Dissidenten und Ausgeschlossene: Ironisierung und Generalisierung 2.3 Widerstand 2.3.1 Vergangenheitsorientierung für die Zukunft 2.3.2 Imagination als Distanzierung von der Gegenwart 2.3.3 Zugehörigkeitsmarkierung jenseits von Rechtsbruch und Täuschung 3 Fazit Quellen NS-Apparat und NS-affine integrierte Gesellschaft Dissidenten und Ausgeschlossene Widerstand

Heidrun Kämper Geschlechter- und Generationenbilder 1 Einleitung 2 Mann, Frau, Jugend: Leitbilder und Konzepte 2.1 NS-Apparat und NS-affine integrierte Gesellschaft: Die Prinzipien der Abstammung und der Repulsion 2.1.1 Nationalsozialistische Idealtypen Die ›rassereine‹ Frau Die gehorsame Jugend 2.1.2 Das bellizistische Prinzip Die Frau als Kameradin Soldatische Jugend 2.1.3 Geschlechter-Komplementarität 2.1.4 Angepasste Geschlechterkonzepte 2.1.5 Gegenkonzepte 2.1.6 Organisation 2.2 Integrierte Gesellschaft: Entzauberung und Entlarvung 2.3 Ausgeschlossene und Widerstand: Tradition und Emanzipation 3 Fazit Quellen

Stefan Scholl An den Rändern der Zugehörigkeit verorten: Meckerer und Märzgefallene als Grenzfiguren der ›Volksgemeinschaft‹ 1 Einleitung 2 Meckerer, Miesmacher, Nörgler und Kritikaster 2.1 Kontext: Grassierende Unzufriedenheit und Forderung nach widerspruchsloser Einordnung 2.2 Die propagandistische Konstruktion des Meckerers: Die ›Aktion gegen Miesmacher und Kritikaster‹ im Mai und Juni 1934 2.2.1 Vielfältige Fremdbezeichnungen 2.2.2 Metaphernfelder

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

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2.2.3 Warnen und Drohen 2.2.4 Handeln und Charakter der Meckerer: Attribuierungen 2.3 Fortschreibung, Ausstrahlung und Aneignung 2.3.1 Propagandistische Fortschreibung 2.3.2 Gesellschaftliche Ausstrahlung und Ko-Konstitution 3 Märzgefallene, Konjunkturritter, 110-Prozentige und Auch-Nationalsozialisten 3.1 Märzgefallene 3.2 Konjunkturritter, 110-Prozentige und Auch-Nationalsozialisten 4 Schlussbetrachtung Quellen

Heidrun Kämper Exklusion und ihre Erfahrung. Identität herstellen als sprachliche Praktik 1 Vorbemerkung 2 Exklusion und Identität 2.1 Ausschluss normieren: Gesetze und Erlasse 2.2 Judenhass popularisieren 2.2.1 Hetzschriften 2.2.2 Öffentliche Schrift 2.3 Identitätsnorm abwehren – Selbstidentität behaupten 2.3.1 National-kulturelle Identität 2.3.2 Beruflich-soziale Identität 2.3.3 Religiös-kulturelle Identität 2.3.4 Der Stern 3 Fazit Quellen

2 In Situationen agieren und interagieren Heidrun Kämper Gefühle äußern. Ein Beitrag zu einer sprachlichen Emotionsgeschichte 1933 bis 1945 1 Einleitung 2 Emotionen 2.1 Expression im politischen Kontext 2.2 Emotion und Deontik 2.3 Vertextungsmuster Narration 3 Fühlen, Bewerten und ihr sprachlicher Ausdruck: Eine Lebensform 3.1 Das Inventar: Expressive und deontische Emotionsbezeichnungen 3.2 Emotionschronologie: Motiv – Konsequenz – Evaluierung 4 Fazit Quellen

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

Stefan Scholl Sich beschweren – Kommunikation von Unzufriedenheit in Eingaben an Staatsund Parteiinstanzen 1 Einleitung 2 Beispielschreiben 3 Identitäten konstituieren: Das Selbst und die Anderen 4 Offen reden / die Wahrheit aussprechen 5 Unverständnis äußern / Unrecht beklagen / sich empören 6 Widersprüche aufdecken 7 (Auf-)Fordern / Konsequenzen aufzeigen 8 Treue und Vertrauen bekunden 9 Fazit Quellen

Nicole M. Wilk Verhör-, Geständnis- und Verteidigungspraktiken in den Hochverratsprozessen zum 20. Juli 1944 vor dem Volksgerichtshof 1 Einleitung 2 Der Volksgerichtshof und die Schauprozesse zum Attentat am 20. Juli 1944 3 Die Rezeptionsgeschichte des Filmmaterials 4 Multimodale Konversationsanalyse 5 Verhörpraktiken 6 Geständnis- und Verteidigungspraktiken 7 Praktiken der Selbstbehauptung 8 Fazit für die Widerstandsforschung und die historische Gesprächsanalyse Quellen

Mark Dang-Anh Die Gefangenenakten des US-Verhörlagers Fort Hunt (1942–1945): Protokolle des Verhörens, Einordnens und Belauschens 1 Einleitung 2 Fort Hunt 3 Die Dokumente 4 Basic Personnel Record 5 Das Arrangement 6 Verhören: Interrogation 7 Einordnen: Report of Interrogation 8 Belauschen: Room Conversation 9 Fazit Quellen

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

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Friedrich Markewitz Wahr-Sagen im Widerstand 1 Hinführung 2 Wahr-Sagen als diskurstheoretisches Konzept der Widerstandskommunikation 3 Wahr-Sagen im Widerstand: Exemplarische Analysen und Befunde 4 Schlussbemerkungen Quellen

Heidrun Kämper Die Olympischen Sommerspiele 1936 – Diskurspraktiken im Nationalsozialismus am Beispiel 1 Die Olympischen Sommerspiele 1936: Ein raumzeitliches Kommunikationsereignis 2 Dimensionen der Ereigniskonstituierung 2.1 Chronotopie: Die Vermessung der Räume 2.1.1 Fackel und Fackellauf 2.1.2 Stadion und Stadt 2.2 Chronometrie: Die Verzeitlichung der Spiele 3 Fazit: Täuschung ohne Getäuschte Quellen

Bibliographie

Teil 2 Vorwort und Danksagung Mark Dang-Anh / Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz / Stefan Scholl / Britt-Marie Schuster / Nicole M. Wilk Einleitung 1 Sprachliche Sozialgeschichte: Akteur*in – Diskurs – Position 1.1 Akteur*in im Diskurs 1.2 Akteur*in als Verstehensvoraussetzung 1.3 Akteur*in und Wissen 1.4 Akteur*in und Positionen 2 Perspektiven auf Sprachgebrauch 1933 bis 1945 2.1 Inklusion – Exklusion 2.2 Sprachliches Handeln 2.3 In Texten kommunizieren 2.4 Konzeptprägungen 3 Kulturlinguistik – das Selbstverständnis

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

4 Das Korpus 5 Fortschreibung

1 Textmuster tradieren und modifizieren Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz Tagebuch 1 Vorbemerkung 2 Einführung: Textsorte Tagebuch 3 Tagebuchstruktur 3.1 Positionierung 3.2 Vertextungsmuster 3.2.1 Narration und Deskription 3.2.2 Explikation 3.3 Schreibanlass – Diaristik als Authentifizierungspraxis 3.3.1 Ereignis- und erlebnisbetonter Schreibanlass 3.3.2 Überlieferungsbetonter Schreibanlass 3.3.3 Selbstdarstellungsbetonter Schreibanlass 4 Tagebuchstil 5 Tagebuch-Spezifika 1933 bis 1945 5.1 Ausgeschlossene: Leiden dokumentieren 5.2 Dissidenten: Werte perpetuieren 5.3 NS-Affine: Haltung anpassen 5.4 Widerstand: Handeln reflektieren 6 Fazit Quellen

Mark Dang-Anh / Stefan Scholl / Britt-Marie Schuster Brief 1 Einleitung 1.1 Kennzeichen der Kommunikationsform »Brief« und typische Ausformungen 1.2 Briefkommunikation im Nationalsozialismus: Analyseperspektiven 2 Eingaben an Parteiinstanzen und Behörden 2.1 Einleitung 2.2 Zur Geschichte der Textsorte 2.3 Akteure 2.4 Typische Sprachhandlungsmuster anhand ausgewählter Beispiele 2.4.1 Bittschreiben 2.4.1.1 Integrierte Gesellschaft 2.4.1.1.1 Identitäten und Beziehungen konstituieren 2.4.1.1.2 Argumentieren 2.4.1.1.3 Bitten 2.4.1.2 Ausgeschlossene 2.4.1.2.1 De-Identifizieren als Argumentieren

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

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2.4.2 Huldigungsschreiben 2.4.2.1 Gefühle äußern 2.4.2.2 Aneignen 2.4.3 Denunziationsschreiben 2.4.3.1 Anzeigen 2.4.3.2 Sich selbst ausweisen und andere diskreditieren 2.5 Fazit 3 Feldpostbriefkommunikation im Zweiten Weltkrieg 3.1 Linguistische Forschung zu Feldpostbriefen 3.2 Feldpost: Akteure und Praktik 3.2.1 Akteure: Soldaten und ihre Angehörigen 3.2.2 Adressieren: Eine standardisierte Fundamentalpraktik der Briefkommunikation 3.3 Praktiken der Feldpostbriefkommunikation eines Ehepaares 3.3.1 Feldpostbriefkommunikation metapragmatisch organisieren 3.3.2 Kleine gemeinsame Geschichte(n): Die Praktik des Erzählens 3.3.3 Zur großen Erzählung: Positionieren 3.3.4 Briefe auf Adressat*innen zuschneiden 3.4 Fazit 4 Haftbriefe aus dem Widerstand 4.1 Akteure 4.2 »Interimsbriefe« aus der Haft: Bedingungen und Voraussetzungen 4.3 Beziehungskommunikation in der Haft: Typische Sprachhandlungen 4.3.1 Anreden und Verabschieden 4.3.2 Sorgen artikulieren, Mut zusprechen und danken 4.3.3 Charakterisieren und Schildern 4.3.4 Zum sprachlichen Umgang mit Angst, Trauer und Reue 4.4 Sich selbst zum Nationalsozialismus positionieren (Helmuth James von Moltke) 4.5 Fazit 5 Briefkommunikation im Nationalsozialismus: Ein Gesamtfazit Quellen

Katrin Schubert Postkarte 1 Hinführung 2 Elise und Otto Hampel 3 Zum situativen Kontext 3.1 Produktionskontext 3.2 Identitätskonstitution und Adressierung 4 Textgestaltungsmittel 4.1 Materialität, Textanordnung und Typografie 4.2 Vertextung 5 Charakteristische Sprachhandlungen 5.1 Bewerten: es ist zu grauenhaft 5.2 Entlarven: Tricks und Bluffs in der gefälschten Hitler Propaganda 6 Fazit

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

7 Quellen 7.1 Primärquellen 7.2 Internetquellen

Britt-Marie Schuster Flugblatt – Flugschrift 1 Einleitung 1.1 Die Kommunikationsmedien »Flugblatt« und »Flugschrift« und ihre typischen Ausformungen 1.2 Flugblattkommunikation im Widerstand: Analyseperspektiven 2 Flugblatt und Flugschrift als Widerstandsmedien 2.1 Vergiss, woher ich kam und wohin ich gehe: Kommunikative Rahmenbedingungen 2.2 Wie lange wollt ihr diese Schmach noch erdulden? Die Beziehung zum Adressatenkreis gestalten 2.3 Nicht wahr, Herr Goebbels? Sich zum Gegner positionieren 2.4 Es fällt nicht leicht das alles hier niederzuschreiben: Die nationalsozialistische Wirklichkeit beschreiben 2.5 All ihre ideologischen Verkrampfungen: Nationalsozialistische Deutungsmuster hinterfragen 2.6 In zwölfter Stunde: Warnen und Prophezeien 3 Das Spektrum der Nutzung von Flugblättern im Widerstand 3.1 Das Flugblatt Tausend Tage Drittes Reich von Adolf Freiherr von Harnier (1936) 3.2 Das Flugblatt Der Nazi-Reichsmarschall von Helmuth Hübener (1941) 4 Fazit Quellen

Friedrich Markewitz / Britt-Marie Schuster Denkschrift 1 Einleitung 2 Denkschriften des NS-Apparates und der integrierten Gesellschaft 2.1 Mein Führer: Selbstauszeichnungen und Adressierungen 2.2 Wird Deutschland verloren sein: Konstruierte Krisen 2.3 Ich tue das hiermit und bitte den Führer: Selbsterklären und Bitten 2.4 Unsere politische Lage: ›Volksgemeinschaft‹ als Kollektiv 2.5 Mit eiserner Hand durchgreifen: Fachmännische und ideologische Inszenierungsstrategien 3 Denkschriften der Ausgeschlossenen 3.1 Ehe wir auf die derzeitige Lage der deutschen Judenheit eingehen: Selbstverortungsund -positionierungsreflexionen 3.2 Uns allen die Wahrheit zu sagen liegt in Ihrem und im Interesse des ganzen deutschen Volkes: Abgrenzung durch Aufforderung 4 Denkschriften des Widerstands 4.1 Lautere, sachkundige Männer: Selbstautorisierungen

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

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4.2 Mit diesen Menschen ist direkt wenig anzufangen: Formen der Partei- und Distanznahme 4.3 In Wirklichkeit: Faktizitätsherstellung aus der Defensive 4.4 Die Nürnberger Gesetze sind bekannt: Tatsachen feststellen und Fragen stellen 4.5 Die erste Aufgabe der neuen Regierung wird sein: Die Lage beurteilen und Handlungsverpflichtungen übernehmen 5 Fazit Quellen

Heidrun Kämper / Friedrich Markewitz Rede 1 Hinführung 2 Reden des Widerstands 2.1 Zum situativen Kontext widerständischer Reden 2.1.1 Erste Phase: Kommunistisch-sozialistischer (Massen-)Widerstand 2.1.2 Zweite Phase: Partielle Resistenz und ›Volksopposition‹ 2.1.3 Dritte Phase: Fundamentalopposition 2.2 Zu strukturierenden Textgestaltungsmitteln widerständischer Reden 2.3 Zu stilistischen Gestaltungsmitteln widerständischer Reden 3 Reden des NS-Apparats 3.1 Situative Varianz in den Reden des NS-Apparats 3.1.1 Hitler-Reden 3.1.1.1 Raum Reichstag: Parlamentarische Debattenrede 3.1.1.2 Adressat Roosevelt: Inszenierte Dialogizität 3.1.1.3 Öffentlichkeit Rundfunk: Behauptete Normalität 3.1.2 Goebbels-Reden: Zeit interpretieren 3.2 Standardelemente in Hitler- und Goebbels-Reden 3.2.1 Selbstsicht bestimmen 3.2.2 Logik simulieren 3.2.3 Begebenheiten analogisieren 3.2.4 Zielerreichung behaupten 4 Fazit: Rede als kommunikativer Akt im ›Dritten Reich‹ Quellen Widerstandsreden NS-Reden

2 Diskurse verdichten Stefan Scholl Führer 1 Einleitung 2 Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen 3 Akteursspezifische Gebrauchsdarstellung 3.1 NS-Apparat

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

3.2 Integrierte Gesellschaft 3.2.1 Das Führerprinzip: Führen und Folgen 3.2.2 Führer als Integrations- und Inklusionskonzept 3.2.3 Affektive Positionierungen – dem Führer, zum Führer, für den Führer 3.2.4 Im Sinne des Führers als Argumentationselement 3.3 Ausgeschlossene und Dissidenten 3.4 Widerstand 4 Fazit Quellen

Britt-Marie Schuster / Nicole M. Wilk Blut 1 Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen 2 Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung 3 Akteursspezifizierte Gebrauchsdarstellung 3.1 NS-Apparat 3.1.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.1.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.1.3 Diskurssemantisches Netz 3.2 Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft 3.2.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.2.2 Aktersgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.2.3 Diskurssemantisches Netz 3.3 Widerstand 3.3.1 Akteusgruppenspezifische generalisierende Befunde 3.3.2 Akteusgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.3.3 Diskurssemantisches Netz 4 Fazit Quellen

Nicole M. Wilk Arbeit 1 Geschichte semantisch-diskursiver Prägungen 2 Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung 3 Akteursspezifizierte Gebrauchsdarstellung 3.1 NS-Apparat 3.1.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.1.2 Diskurssemantisches Netz 3.2 Akteursgruppen der integrierten Gesellschaft 3.2.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.2.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.2.3 Diskurssemantisches Netz 3.3 Widerstand 3.3.1 Akteursgruppenspezifische generalisierende Befunde

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

3.3.2 Akteursgruppenspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.3.3 Diskurssemantisches Netz 4 Fazit Quellen

Mark Dang-Anh Kampf 1 Semantisch-diskursive Prägungen 2 Akteursbezogene Gebrauchsdarstellung 2.1 NS-Apparat 2.1.1 Kampf und kämpfen im Teilkorpus NS-Apparat 2.1.2 Kampf gegen: Konstruktion von Antagonisten 2.1.3 Kampf um: Legitimation durch Kampf 2.1.4 Kämpfen und arbeiten: Das Alltägliche im Krieg 2.1.5 Gemeinsamer Kampf 2.2 Integrierte Gesellschaft 2.2.1 Kampf als ›soziales Bindemittel‹ 2.2.2 Kampf gegen 2.2.3 Kampf um 2.3 Ausgeschlossene 2.4 Widerstand 2.4.1 Kampf gegen 2.4.2 Kampf für 3 Fazit Quellen

Friedrich Markewitz / Nicole M. Wilk Freiheit 1 Historisch-diskursive Hinführung 2 Zeitgeschichtlich-akteursorientierte Einordnung 3 Akteursspezifische Gebrauchsdarstellung 3.1 NS-Apparat 3.1.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.1.2 Akteursspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.1.3 Diskurssemantisches Netz 3.2 Akteure der integrierten Gesellschaft 3.2.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.2.2 Akteursspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.2.3 Diskurssemantisches Netz 3.3 Widerstand 3.3.1 Funktional-abstrahierende Einordnung 3.3.2 Akteursspezifische Sprachgebrauchsmuster 3.3.3 Diskurssemantisches Netz

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Inhaltsübersicht (Teil 1 und Teil 2)

4 Fazit Quellen

Bibliographie

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Sachregister

Abgrenzung 11, 27, 77, 80, 120, 179, 223, 244f., 279, 281–283, 286, 320, 323, 330, 346, 376, 385, 436, 449, 451f., 455, 459f., 463 Abstammung 97–99, 254 abstreiten 99 Abwertung 141, 215f., 281, 306, 370, 392, siehe auch Aufwertung Adjektiv 144, 164, 170, 189, 191, 195f., 213, 265, 372, 375–377, 391, 393–395, 397 – Adjektivkomposition 391 Adressierung 103, 112f., 117, 132, 157, 163, 190f., 217f., 223, 228–230, 240, 244f., 283, 320, 436 – Mehrfachadressierung 309 Agens 328, siehe auch Patiens agentiv 423 Ähnlichkeitsbeziehung 324, siehe auch Analogie All-Aussage 41 Alltag 51, 55, 68, 72, 101, 103, 107, 119, 126, 130, 154, 163, 165, 174, 192, 217, 279, 338, 419, 440 – Alltagskommunikation 107, 180 – Veralltäglichung 68, 79, 243, 314, 439f., 463 Analogie 323–325, 454 – Analogiebeziehung 323f. – analogisieren 181, 277, 317, 323, 325 Anapher 200, 213, 296 Anklage 369f., 375, 397 – Anklagefunktion 376 – Anklagehandlungen 372 – Mordanklage 379

Anrede 55, 82, 84, 86, 96, 132–134, 152, 154, 164, 179f., 193f., 213, 218, 230, 280, 306f., 319f., 343, 348 – nominale Anrede 194, 215 – pronominale Anrede 180, 194 Antagonisten 413f., 422 – antagonistisch 328, 437f. Antike 89f., 224, 278 Antisemitismus 58, 60, 259 – antisemitisch 15, 56, 58, 95, 98–100, 109, 125f., 206, 259, 325, 369, 386, 392, 404, 454–456 Antizipation 56 – antizipieren 37 Antonymrelation 391, 395 Appell 96, 174, 213, 298, 306, 308, 316, 326, 378, 399, 405, 460, 462, siehe auch Aufforderung Arbeit 103, 115f., 118f., 121f., 124, 126, 320, 383–411, 416–427 Archiv 34, 48, 55 Argumentation 96, 174, 204, 206f., 255, 286, 288f., 294, 321, 323, 329f., 346, 374, 404 – Argumentationsgang 98, 100 – Argumentationsindikatoren 288 – Argumentationsmarker 322 – Argumentationsmuster 67, 154, 306, 312, 318, 321, 329, 406 – Argumentationsschema 288f. – Argumentationstopoi 86, 181, 207 – Argumentationsweise 88

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Sachregister

– argumentativ 92, 96, 167f., 174, 179, 183, 185, 204, 233f., 236, 286, 288–291, 321, 325, 346, 367f., 428 – scheinargumentativ 322, 330 – argumentieren 38, 81, 96, 98, 107, 171, 238, 288, 292, 321, 330 Arier 60, 371, 392 – Nicht-Arier 386 – arisch 56, 97–99, 236, 261 Asymmetrie 433 – asymmetrisch 9, 230, 416, 419, 440 – asymmetrische face-to-face-Situation 302 Attribuierung 195, 340, 350, 399, 402, 420f., 427, 430, 450, 458 audience adressed 302 Aufforderung 178, 192f., 208, 212, 223, 225, 230, 232, 236, 238f., 245, 283, 285, 399, siehe auch Appell – Aufforderungshandlungen 234, 236, 282, 291 Aufgabe 51, 84, 86, 227, 263–268, 270, 325, 352, 402 Aufklärungsdenken 446f. Aufwertung 287, 306, 370, 385, siehe auch Abwertung Ausdruck 21, 79, 135f., 141–143, 211, 264, 338, 390, 406, 416 Ausgrenzung 15f., 79, 198, 243, 386, 396 Ausklammerung 140, 181, 201, 213 Ausnahmezustand 440 Ausschluss 9, 15f., 19, 56, 243, 393, 449, siehe auch Einschluss, siehe auch Exklusion, siehe auch Inklusion – ausgeschlossen/Ausgeschlossene/-r 7, 9f., 13, 15, 17, 27, 34, 38, 40, 44, 46f., 52f., 55, 57–61, 65, 67, 76, 78, 91f., 97, 100, 155, 225–228, 243–245, 253f., 272f., 287, 338, 354–356, 358, 361, 384, 386, 392, 397, 407, 415, 417f., 433f., 439 Authentifizierung 46, 132 – Authentifizierungsakt 41f., 48f. – Authentifizierungsinstanz 45 Authentizität 41f., 83 – Authentizitätseffekt 47 autoreferieren 250

Autoritarismus

318

Bedeutung 21, 23, 25, 52, 54, 66, 257, 357, 375, 384, 392, 414f., 420, 425, 446 – Bedeutungsaspekt 23, 384, 387, 390, 415, 419, 426, 432 – Bedeutungsdimension 387, 389, 393 – Bedeutungsebene 338 – Bedeutungseinheit 21 – Bedeutungsentwicklung 384 – Bedeutungserweiterung 414 – Bedeutungsfacette 368, 369, 377 – Bedeutungsfeld 406 – Bedeutungsinstanz 24 – Bedeutungskomplex 22 – Bedeutungskomponente 427, 430 – Bedeutungskonkurrenz 66 – bedeutungskonkurrierend 295 – Bedeutungskonstitution 22 – bedeutungskonstitutiv 229 – Bedeutungskontext 393 – Bedeutungskonzept 375 – Bedeutungsmerkmal 384 – Bedeutungspotenzial 178 – Bedeutungsprofil 372 – Bedeutungsrelation 22 – Bedeutungsspektrum 105 – Bedeutungsunterschied 437 – bedeutungsverschoben 373 – Bedeutungswissen 13 – Äußerungsbedeutung 251 – Hauptbedeutung 338 – Teilbedeutung 22 Bedrohung 70, 122, 231, 233, 316, 400, 434, 452 – Bedrohungsszenario 163, 232f. Befreiungsgeschichte 447 Befreiungskriege 452 Begegnung 60, 68 Begeisterung 40f., 48, 60f., 69, 123, 307, 345, 347, 350 – begeistert 64, 301, 307 – Begeisterungsbereitschaft 303 Begründungsfigur 405 Behauptung 37, 41, 61, 64, 106, 241, 248, 312, 322, 324

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Sachregister

Behördeneingabe 224 bellizistisch 386 bereuen 147f. Bericht 16, 25, 40f., 51, 58, 60, 90, 119, 151, 162, 178, 259, 347, 388, 399, 417 – Berichterstattung 121, 259 – berichten 17, 61, 203, 259, 262, 385, 393, 399, 406, 417, 421 beurteilen 263 bewerten 150, 168, 170f. – Bewertung 22, 39, 62f., 70, 72, 76, 123, 170, 174, 191, 199, 225, 269, 369, 374, 463 – Bewertungsattribution 120 – Sachverhaltsbewertung 120 Beziehung 42, 83f., 87, 95, 107f., 110, 112, 115, 117, 124, 126, 129, 134f., 139, 141, 154, 180, 183, 194, 324f. – Beziehungsarbeit 139, 272 – Beziehungsaspekt 131 – Beziehungsdimension 132 – Beziehungsebene 338, 344, 349 – Beziehungsgeschichte 86, 139 – Beziehungskommunikation 82, 84f., 129, 132, 140, 153 – beziehungskonstituierend 83 – Beziehungskonzeption 84, 143 – Beziehungsnetzwerk 129f., 148 – Beziehungspartner 137, 143 – Beziehungsqualität 85 – Beziehungsritual 140 – Beziehungsrolle 140 – Beziehungswirklichkeit 140 Bezugnahme 13, 35, 42, 45, 78, 111, 117f., 152, 192, 204f., 212, 304, 308f., 327, 352, 376, 415, 438, 440, siehe auch Referenz binär 16, 57, 320 Bitte 81, 86f., 89f., 93–98, 100, 105–107, 130, 136f., 139, 145f., 169, 187, 198, 223f., 230, 232f., 236, 238, 285, 348, 389 bürgerlich 10, 26, 34, 72–74, 77f., 141f., 182, 192, 207, 217, 227, 279, 284f., 287, 291f., 294f., 299, 307, 329, 370, 377f., 384f., 391, 394, 402, 406, 427, 446f., 449f. – bürgerlich-konservative Eliten 280 charismatisch

317

Chronoferenz

315f., 326

Darstellung 51, 58, 121–124, 200, 217, 225, 236, 254, 259, 271, 347, 423, 428–430, 439 – Faktizitätsdarstellung 268, 272 – Sachverhaltsdarstellung 38, 79, 120, 121, 417 – Selbstdarstellung 37, 90, 139, 234 – selbstdarstellungsbetont 41, 47, 50, 78 Darwinismus 415 Dehumanisierung 218 Deklaration 204 – deklarativ 308 delegitimieren 250 – Delegitimierung 305 Demokratie 65, 253, 269, 294, 304, 340, 369, 391, 398, 417, 446, 449, 462f. – demokratisch 28, 58, 249, 252f., 263– 266, 269, 278, 309, 339f., 397, 399, 418, 445, 450–452, 458, 460, 463 Denkkollektiv 248 Deontik 74, 196 – deontisch 78, 102f., 137, 144, 164, 193, 266, 270, 295, 345f., 420, 422, 425, 427, 437, 441 – positiv deontisch 436 Deskription 33, 38, 202 Deutsch(-er)/deutsch 163–165, 213, 244– 245, 252f., 254f., 284, 319, 450 – deutsche Juden 58 Deutung 25, 96, 178, 206, 258, 326, 328, 373f., 440, 448 – Deutungsmuster 23, 143, 177, 204f., 217, 256, 295, 330 – Deutungsrahmen 250 Differenzqualität 330 Differenzschema 321 Diktatur 9, 13, 17, 24, 28, 33–35, 61, 66, 73, 78, 80, 160, 192, 196, 200, 205, 209, 212, 250f., 281, 304, 357f., 397, 435f., 449, 457, 460, 462 Diskriminierung 100, 320, 385 Diskurs 7, 9–13, 15f., 18–23, 29, 34, 38, 61, 65f., 74, 77–80, 87f., 90, 96, 98–100, 103, 106, 108, 129, 144, 183, 189, 204, 215, 218,

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Sachregister

228, 240, 243, 259, 278, 284, 286, 294f., 311, 330, 335, 339, 345f., 354, 359f., 370, 375f., 392, 397, 414, 417, 419, 446, 448, 458f. – Diskursangebot 126 – Diskursbedingung 9, 111, 126 – Diskurselement 10, 22, 100, 439 – Diskursgebundenheit 87 – Diskursposition 386 – Diskursraum 88, 284, 353 – diskurssemantisch 341, 367, 383, 445, 455, 457, 462 – Diskursverdichtung 11, 21–23 – Alternativdiskurs 92 – Gegendiskurs 88, 100, 358 – Legitimationsdiskurs 122f. – Moraldiskurs 122, 346 – Parteidiskurs 340 – diskursiv 10, 12–14, 16, 18f., 21–23, 36, 40, 55, 67, 74, 77–79, 108, 112, 225, 243, 273, 278f., 286, 328f., 337f., 367, 373, 383, 397, 413–416, 422, 429, 439–441, 445–447, 449, 463 Disposition 179, 189, 303 Dissidenz 27, 62, 463 – Dissident 10, 13, 15, 17, 26, 33f., 38, 40, 45, 55, 61f., 65–67, 72, 76, 78f., 337f., 354–356, 358, 361, 431, 457 – dissident 10, 13, 15, 17, 26, 33f., 38, 40, 45, 55, 61f., 65–67, 72, 76, 78f., 337f., 354–356, 358, 361, 431, 457 – Dissidenzpotenzial 458 Distanzmarker 294 Disziplin 396 Dokument 28, 33, 48–50, 71, 76, 79, 88, 101, 108, 129, 163, 215f., 228, 311, 343, 376, 387, 400, 431–433, 439 Dolchstoß 312f. Durchherrschung 279 Echo 206 Ehre 74, 78, 206, 251, 295f., 345f., 359, 370, 372, 385f., 389–391, 393, 396, 403, 405f., 433

Einschluss 15f., siehe auch Ausschluss, siehe auch Exklusion, siehe auch Inklusion Einstellungspotenzial, geteiltes 303 Ekel 59, 77, 95, 101f., 125, 136, 171 emanzipatorisch 448, 460 Emittent 37, 278, 282, 285, 287, 290f., 293– 296, 298f., 329 Emotion 25, 58, 60, 68, 70, 142, 171, 179, 304 – Emotionsausdruck 120, 426 – Emotionsforschung 59 – Emotionsgeschichte 60 – sprachliche Emotionsgeschichte 58, 65 – Emotionskultur 69 – Emotionsregel 69 – emotional 25, 42, 48, 58, 60, 68, 132, 164, 171, 298, 328, 343, 347, 373 – emotionale Bindung 60 – emotionalisiert 51, 68f., 321 – Emotionalisierung 16, 48, 298, 301, 321 – Emotionalität 42, 171 Entbehrung 389, 397, 415, 420, 426, 428, 432f., 439–441 entgegensetzen 258, 458 Entkörperlichungseffekt 372 Entlarvung 61–63, 401 – entlarven 61f., 79, 157, 163, 170, 172, 204f., 215, 217 – Entlarvungsakt 17, 65 – Entlarvungsarbeit 64 – Entlarvungshandlung 61, 64f. Epistemik 257, 260, siehe auch Wissen Ereignis 28, 39, 41f., 44f., 48, 50f., 68, 70, 118, 120, 178, 204, 217, 257, 259, 326f. – ereignisbetont 42, 44 – Ereignisbezeichnung 375 – Sprachereignis 300–302 erklären 234–237, 239, 240, 263f., 273 – selbsterklärend 235f., 239f. Erlebnis 42, 50f., 55, 60, 68, 123 – erlebnisbetont 41f., 50, 78 – Erlebnisgemeinschaft 319 – Führererlebnis 346 Erlöser 100, 102, 374

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Sachregister

Ermächtigungsgesetz 281, 289, 303f., 398 Erwerbstätigkeit 386, 407 Erzählung 37, 114f., 118–121, 126, 140, 151, siehe auch Narration – Alltagserzählung 84, 108, 154 – Tagebucherzählung 38 Erziehung 42, 142, 206, 232, 241, 389, 448 Euphemisierung 19, 452 – euphemistisch 368, 401, 449, 463 Evidentialitätsmarkierung 257 Evidenzformel 260 Exil 282, 284–286, 295, 370, 377, 379, 385, 398, 400, 406, 434, 437 Existenz 189, 303, 309, 324 – existenzausdrückend 425 – Existenzaussage 321, 323–325 – Koexistenz 11f. – Existenzbehauptung 318, 322f. – existenziell 17, 143, 375, 415f., 424f., 433f., 440 Exklusion 9, 15f., 25, 58, 100, 199, 255, 272, 281, 325, 370, 372, 386, 439, 449, siehe auch Ausschluss, siehe auch Einschluss, siehe auch Inklusion – Exklusionsakt 58, 313 – Exklusionshandlung 66, 449, 453 – Exklusionsmaßnahme 46, 262 – Exklusionsphase 58 – Exklusionspraktik 255, 260 – exkludieren 199, 515 Explikation 33, 39f., 117, 439 explizit performativ 461 expressiv 85, 180, 194 Fachwortgebrauch 241 Fachwortschatz 242 Fahnenausdruck 423 Fahnenformulierung 312 Fahnenwort 173, 205, 300, 369, 418, 436 Fährfunktion 375 Faktizität 233 – Faktizitätsdarstellung 268, 272 – Faktizitätsherstellung 223, 256, 263f., 269 Feldpost 81f., 86, 107–110, 113f., 116, 121, 126, 153

festlegen 265f. festsetzen 224f. feststellen 202, 224f., 259f., 271f. Flugblatt 11, 21, 159, 169, 177–179, 181f., 184–189, 197f., 209, 212, 214–216, 218, 256, 358f., 461 fordern 193, 267, 403, 438 Fort Hunt 28 Frau 135, 137f., 206 Freiheit 11, 23, 66, 182, 188, 205, 294–296, 345, 376, 387f., 390, 402, 418, 424, 436f., 445–463 fremd 25, siehe auch Selbst – Fremdaufwertung 321 – Fremdbestimmung 427 – Fremdbild 16 – Fremdentwurf 91 – Fremdgruppe 370 – Fremdidentität 108, 126 – Fremdkategorisierung 84 – Fremdkonstitution 16, 28, 95 – Fremdpositionierung 37, 100, 123, 141f. – Fremdverständnis 86, 132, 154 – Fremdzuschreibung 109, 404 Frieden 294, 310, 321, 376, 437, 446, 460, 462f. Führer 11, 23, 68, 72, 101, 158, 229, 230f., 237, 241, 244, 256, 265, 300f., 317, 319f., 325, 328, 337–361, 450, 454, 463 – mein(-em, -en) Führer 229, 319, 348 – unser(-en, -em) Führer 96, 341, 348, 349 – Führerkonzept 338–342, 344, 346–348, 352–355, 357, 359–361 – Führerkult 85, 91, 100f. – Führerprinzip 206, 242, 318, 337, 342, 345f., 351, 387, 401, 406f. Fundamentalopposition 73, 78, 277, 280, 282, 284f., 458 Funktionalstil 242, 262 Gebrauch 10, 16, 18, 19, 21, 29, 59, 70, 74, 83, 164, 167, 171, 267, 293f., 342f., 370, 414, 423, 437, siehe auch Verwendung

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Sachregister

– Sprachgebrauch, -smuster 7, 9, 11, 15– 18, 24, 28, 67, 72, 88, 92, 129, 174, 181, 183, 257, 300, 302, 338, 343, 354, 372, 375, 397, 418, 424, 431f., 435 – Wortgebrauch 440 Gefolgschaft 303, 315, 319f., 328, 339, 344– 346, 350, 352, 369, 387, 401 Gefühl 36, 56, 59, 60f., 79, 102, 104, 147, 301 – Gefühlsausdruck 60, 303 – Gefühlsgeschichte 58f. – Gefühlskonzept 347 – Gefühlspotenzial 58 Gegenkonzept 17, 373 Gegenwart 178, 183, 191, 198, 203–205, 217, 239, 313–316, 325–328, siehe auch Vergangenheit, siehe auch Zeit, siehe auch Zukunft – gegenwartsbezogen 327 Gegenwelt 36, 38, 61f., 65, 79 Gemeinschaft 8, 15, 62, 106, 310, 352, 389, 427–429, 454, siehe auch Volksgemeinschaft – Gemeinschaftserfahrung 388, 454 – Gemeinschaftsfremder 10, 14, 15 – Gemeinschaftskonzept 319 – verschworene Gemeinschaft 62f. Gerechtigkeit 66, 70, 164, 294–296, 310, 402, 446, 449 Gesetz 25, 289, 367f. Geständnis 11, 17, 150 Geste 90, 102, 134, 301 Gewalt 59, 61, 65f., 162, 198, 200, 213, 217, 256 – Gewalträume 200, 202, 256 Glaube 102, 144, 254, 283, 318, 352, 356, 453 Grenzziehung 109 Grundrecht 65, 266 Gruß 83, 96, 121, 313 Handlung 83f., 86f., 100, 110, 134, 138, 153, 164, 170, 180f., 183, 189–191, 195, 198, 224, 227, 234, 245, 257, 259, 263, 265, 267, 272f., 278, 287, 330, 370

– Handlungsmuster 38, 62, 83, 86f., 112, 155, 163, 168, 179, 200, 233f., 258f., 263, 272, 452 – Handlungs- und Wissensfeld 449, 454– 457, 459 – Exklusionshandlung 66, 449, 453 – Sprachhandlung 78, 104–107, 137f., 152, 169, 174, 180, 183, 194f., 224, 235– 237, 244–246, 259–261, 265, 267, 283, 286–288, 291f., 329 – Sprachhandlungsmuster 93, 95f., 102, 245, 369, 451, 463 Hass/Haß 59, 60f., 303 – Judenhass 374 Heterogenität 35, 286, 300, 436 Hitler 54, 68, 72, 100, 102, 168, 170–173, 194f., 230f., 236, 240–242, 244, 251, 300– 303, 340–345, 347f., 348, 355–358, 420, 422–430, 435f., 452, 454–457, 462 Hochwertwort 124, 294f., 386, 419f., 425 – Hochwertwortschatz 462 Horst-Wessel-Lied 69 Identität 16, 24, 37f., 61, 68, 73, 81, 84, 95, 98f., 107, 115, 126, 323f., 326 – Identitätsarbeit 38, 50, 111, 115 – Identitätsherstellung 126 – Identitätskonstituierung 78 – Identitätskonstitution 38, 99, 114, 157, 163 – identitätskonstitutiv 115 – Identitätsnorm 517 – identitätsstiftend 244, 423 – Identitätszuschreibung 16 – jüdische Identität 244, 246, 378 – kulturelle Identität 517 – Langzeitidentität 124 – nationale Identität 66, 164, 244 – soziale Identität 73, 189, 218 – Paaridentität 137 – Identifikationspotential 426, 430 Ideologie 11, 16f., 22f., 72, 79, 158, 173, 204, 233, 240–242, 282, 294, 297, 346, 368, 392, 419, 435, 440, 449, 455, 463 – Ideologem 23, 63, 69, 255

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– Ideologievokabular 173, 242, 244, 282, 293f., 297 Idiomatizität 373 Imagepflege 107, 298 indexikalisch 150 informieren 130, 168, 233, 263 Inklusion 9, 15f., 272, 286, 370, 372, 450, 453, 515, 519, siehe auch Ausschluss, siehe auch Einschluss, siehe auch Exklusion – Inklusionshandlung 283, 285, 450 – inkludieren 286 Institution 18, 28, 84, 153f., 188, 195, 228, 265, 304, 307, 377, 392, 403, 407 – institutionell 82–87, 109f., 150, 153f., 283, 393 Inszenierung 91, 107, 111, 163, 179f., 223, 225, 233, 235, 240, 271f., 311, 453 – Inszenierungsmerkmal 230 – Selbstinszenierung 234, 239, 296 – inszeniert 53, 85, 94–96, 216, 232f., 241f., 257, 272, 303, 308, 329 – inszenierte Dialogizität 277, 307f. Interaktion 18, 36f., 83, 108, 126, 142 – kommunikative Interaktion 20 intertextuell 29, 63, 182, 204, 255, 261, 308 – intertextuelle Verknüpfung 377 Intimität 320 Intonation 311 Ironie 62, 145, 147, 180, 216, 298, 308, 359 – ironisierend 17, 62f. Jude/Jüdin 10, 15, 66, 79, 92, 106, 125, 242, 294, 349, 368, 385f., 391f., 404, 433f. Jugend 190, 344, 378, 399 – Hitlerjugend 158, 301, 372 Kampf 11, 23, 103, 193, 297, 375, 389, 413– 441, 459 – Kampfgemeinschaft 436, 460 – Kampfmetaphorik 281, 295, 307 – Kämpfer 99, 459 – alter Kämpfer 63, 91, 319, 330 kantische Ethik 447 Karte 115, 117, 160f., 163, 165–167, 169, siehe auch Postkarte

Kollektivierung 368, 455, 458 – kollektivierend 452, 455, 463 Kollokation 197, 296, 344, 352, 372, 375, 378, 393f., 396f., 405, 407, 420, 425, 437, 440, 450, 457 – Kollokator 56, 258, 372, 377, 399 Kommunikation 8, 10, 15, 17f., 20f., 25, 56, 60, 83–86, 88f., 106, 109–112, 114, 117, 132, 137, 142, 150, 153f., 159, 169, 171, 174, 178f., 183, 189, 216f., 227–229, 256, 258, 279, 298, 302, 306, 317, 319 – Kommunikationsbedingung 20, 282, 304 – Kommunikationsdomäne 19, 85 – Kommunikationsform 20, 37, 81–83, 86f., 132, 279, 301 – Kommunikationsgemeinschaft 85 – Kommunikationsgeschichte 19f., 29, 83f., 126, 218 – kommunikationsgeschichtlich 17, 20, 34, 55f., 178 – Kommunikationskonstellation 62, 302 – Kommunikationsordnung 137 – Kommunikationspartner 85, 142 – Kommunikationspraktik 11, 27 – Kommunikationspraxis 78, 85 – Kommunikationsraum 14, 100, 360 – Kommunikationssituation 10, 18, 24, 41, 88, 106, 302 – Kommunikationsweg 87, 92 – Alltagskommunikation 107, 180 – Beziehungskommunikation 82, 84f., 129, 132, 140, 153 – Briefkommunikation 81–83, 85–87, 109–112, 114, 117, 124, 127, 132, 135f., 142, 148, 153, 394 – Feldpostbriefkommunikation 81, 86, 107f., 112, 114f., 126, 129 – Haftkommunikation 137 – Metakommunikation 117 – Nähekommunikation 84, 140, 152, 180 – Paarkommunikation 83f., 139 – Textkommunikation 27, 38, 82, 180, 236, 271, 273, 293, 298 – politische Kommunikation 88, 184, 191

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534

Sachregister

– kommunikativ 9–11, 13–15, 17, 22, 34– 37, 42, 56, 61, 79, 83–87, 90f., 104, 110, 112, 124, 135, 158, 177, 181, 183f., 188, 201f., 224f., 277f., 282, 301f., 304, 316, 318f., 328, 330, 373, 378, 386, 393f. – kommunikative Handlung 278, 330 – kommunikative Inszenierung 245, 302 – kommunikative Praktik 9–11, 16, 18, 24, 34, 60f., 79, 106, 108, 110, 112, 126, 179, 277, 288, 325 – kommunizieren 9, 13, 18f., 84, 107 Komplement 60, 75 – komplementär 59, 61 Konklusion 288f., 306, 323, siehe auch Schlussfolgerung Konkurrenz 158, 415, 419, 440 konstituieren 13, 24, 36, 81, 95, 107, 115, 120, 134, 189, 272 – Konstitution 13, 15f., 18, 83, 98, 102, 135, 144, 218, 278f., 285, 369, 419, 446 – Fremdkonstitution 16, 28, 95 – Identitätskonstitution 38, 99, 114, 157, 163 – Sachverhaltskonstitution 41, 120, 183, 264 – Selbstkonstitution 16, 28, 95, 183, 218, 286 – Sozialitätskonstitution 112 Konstrukt 383 – Konstruktion 20, 57, 65, 79, 103, 135, 139, 148, 168, 193, 196, 233, 239f., 257f., 270, 284, 309, 321–323, 351, 391, 395, 413, 422 Kontextualisierung 23, 204, 460 kontrastieren 252 – Kontrastierung 62, 376, 379, 419, 462 Konzept 18, 22–24, 33, 37, 74, 76f., 109f., 116, 119, 121, 124, 126, 164, 206, 242, 244, 271, 337, 339, 341, 344–347, 351, 353, 360, 369, 378, 390, 392, 414–420, 427f., 430, 434f., 437, 439–441, 446–450, 452, 454f., 457, 463 – umkämpftes Konzept 446, 450 – Konzeptmetapher 256 – Bedeutungskonzept 375

– Führerkonzept 338–342, 344, 346–348, 352–355, 357, 359–361 – Gefühlskonzept 347 – Gegenkonzept 17, 373 – Gemeinschaftskonzept 319 – Hochwertkonzept 121, 346 – Integrationskonzept 347, 360 – Leitkonzept 92, 96, 103, 106, 338, 344f., 352, 354, 359f., 418, 422, 440 – Schlüsselkonzept 339, 463 – Selbstkonzept 305, 319, 320, 328 – konzeptuell 8, 11f., 22, 323, 341, 352, 355, 428 Kookkurrenz 420, 437 Koordination 389, 396, 398, 425f. Krieg 45, 57, 70–72, 110–112, 117f., 122, 153f., 207f., 300, 307, 372, 375, 387, 389, 425, 437, 450, 454f., 459 – Kriegsende 66, 68, 72, 265, 378 – Kriegsgefangenschaft 284, 290 – Kriegsmetaphorik 452 – Kriegspropaganda 159, 215, 373 Krise 40, 45, 223, 229, 231–233, 245, 252, 266, 272, 283, 292, 315f., 325, 400, 440, 448 – Krisenmodus 231 – Krisenmoment 232f. – Krisensituation 245, 273 – Krisenstimmung 231, 233 kritisieren 168, 237, 246, 273 Kulturlinguistik 9, 24, 84 – kulturlinguistisch 24f. Lautsprecher 302, 311, 358 Lebensraum 172f., 368, 404, 434 Legitimation 121, 123, 185, 204, 304, 313, 323, 325, 352, 370, 413, 424, 428, 449, siehe auch Rechtfertigung – Legitimationsdruck 325 – legitimieren 86, 88, 95, 106, 154, 238, 290, 372 – legitimiert 41, 122, 249, 325, 347, 391, 416, 425, 429, 436, 440, 446, 452 – delegitimiert 446 Leistung 71, 390, 392f. – Leistungsgemeinschaft 388

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Sachregister

– Leistungsorientierung 386, 390, 396, 407 Leitkonzept 92, 96, 103, 106, 338, 344f., 352, 354, 359f., 418, 422, 440 Linguistic landscape 25 Logik 103, 321, 322, 378, 392 Lüge 172f., 197f., 207, 217f., 256f. Macht 22, 147, 148, 226, 230, 232, 281, 287, 313, 318, 328, 339, 370, 374, 407, 421, 424, 432, 440 – Machtasymmetrie 90f., 106, 439 – Machtergreifung 168, 205, 246, 272, 310, 326, 342, 418 – Machtübergabe 44, 48, 318, 325, 327 – Machtübernahme 73, 160f., 279, 329, 391, 419, 437 – Machtzentrum 226, 238f., 272 Manipulation 64, 303 Mann 135, 138, 164, 320, 385 Marxismus 287, 400, 413, 415, 418, 420– 423 Maßnahmenstaat 56 Massen 48, 172f., 192, 277, 280, 291, 301f., 311, 357, 399, 406, 461 – Massenrede 300f., 303, 311, 318 Medium 65, 74, 80, 112, 157–160, 169, 174, 178, 182, 218, 301, 311 – Agitationsmedium 159 – Kurzkommunikationsmedium 157 – Propagandamedium 159 Memorandum 225 Mentalität 12, 251, 295, 374 Metapher 21, 138, 143, 180, 196, 199, 256, 296, 368f., 372f., 416 – Konzeptmetapher 256 – Metaphorik 143, 196, 199, 242, 300, 379, 386 – Blut-Metaphorik 370 – Kampfmetaphorik 281, 295, 307 – Kriegsmetaphorik 452 – metaphorisch 44, 151, 192, 196, 298, 307, 368, 370, 372, 375, 379, 414f., 439 – tiermetaphorisch 297 metasprachlich 432 – metasprachliche Verschiebung 377

Metonymie 199, 369, 373 – metonymisch 195, 368, 370, 372, 414 – Entmetonymisierung 378 Modalpartikel 154, 180, 215, 260, 389 Modifizierung 12, 88 Moral 66, 74, 78, 242, 270, 374 multimedial 11, 311 multimodal 29 mündlich 37, 83, 118, 180, 277f., 298, 300, 427 – Mündlichkeit 171, 311 Muster 10, 16, 19f., 27, 40, 108, 306f., 319f., 322, 325, 330, 397, 429, 437 – Argumentationsmuster 67, 154, 306, 312, 318, 321, 329, 406 – Deutungsmuster 23, 143, 177, 204f., 217, 256, 295, 330 – Formulierungsmuster 139 – Handlungsmuster 38, 62, 83, 86f., 112, 155, 163, 168, 179, 200, 233f., 258f., 263, 272, 452 – Sprachgebrauchsmuster 29, 88, 134, 180, 193, 196, 199, 215, 225, 257, 367, 369–371, 373, 375f., 378f., 383, 394, 397f., 404, 445, 451, 454, 456, 459 – Sprachhandlungsmuster 93, 95f., 102, 245, 369, 451, 463 – Textmuster 12, 19, 31, 84–86, 153f., 169, 174 – Vertextungsmuster 33, 38, 78, 107, 167, 233f., 291 – musterhaft 20, 33, 83f., 107, 121, 257f., 305, 308, 326, 330, 372, 375, 390, 394, 396, 428, 459 Narration 36, 39, 51, 290, 330, 394, siehe auch Erzählung – Narrativ 84, 103, 115, 119, 126, 290, 305, 313, 325, 428, 440 – Attentatsnarrativ 431 – Standardnarrativ 309f. – narrativ 37f., 49, 51, 78, 123, 141, 287, 290–292, 310, 329, 375 Netz 29, 341, 368 – netzartig 22 – Netzstruktur 22

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Sachregister

– Netzwerk 149, 196, 249, 463 – Netzwerkanalyse 29, 311 – Beziehungsnetzwerk 129f., 148 – Widerstandsnetzwerk 127, 188, 246 Nicht-Arier 386 Nomination 62 Norm 65, 178 – Normtext 25 – normativ 288f. öffentlich 21, 65, 68, 111, 141, 143, 162, 179, 185, 189, 200, 228, 257, 259, 278f., 282, 286, 301–303, 318, 329f., 355, 385, 397 – Öffentlichkeit 18f., 47, 76, 146, 178, 185, 224, 277, 279, 282, 300, 311, 329f. – Öffentlichkeitsgrad 301, 303, 311 opponieren 225 – Opponent 431 – Opposition 28, 65, 148, 227, 243, 253, 260, 283f., 306, 313, 320 – oppositionell 36, 40, 88, 133, 160, 184, 212, 253, 306, 423, 449, 452, 457, 462 Organisation 115, 117, 125, 161f., 196, 244, 266, 292, 342f., 400, 407, 416, 424, 429, 435, 445 Paarbeziehung 126, 134 Parallelismus 21, 200, 213, 296 partiell 304, 326 – partielle Resistenz 277, 280, 283 Patiens 328, siehe auch Agens Performanz 300, 303, 430 – performativ 29, 36, 60, 87, 91, 186, 192f., 308, 395, 453, siehe auch explizit perlokutionär 61 Personenbezeichnung 189, 371, 399, 404, 406 Persuasion 178, 278, 301, 304, 321, 329, siehe auch Überredung, siehe auch Überzeugung – Persuasionsrhetorik 286f. Pflicht 59, 74–78, 103, 164, 295f., 345, 393, 433 Phrasem 147, 197, 202, 205, 251, 373, 395, 397, 405

Position 7, 9–11, 13f., 36, 40, 45, 55, 62, 69, 71, 73, 88, 92, 123, 189, 199, 216, 225f., 236–238, 240, 243, 248, 263, 287, 304, 317, 326, 329, 340, 353, 378, 422, 428, 435 – Akteursposition 40 – Diskursposition 386 – positionieren 14f., 17, 34, 37, 51, 55, 78, 81f., 86, 122, 148, 173, 177, 183, 194, 258, 279, 286, 458 – Positionierung 19, 33, 36f., 71, 74, 77f., 80, 84, 86, 102, 105, 108, 111, 114f., 122– 124, 134, 149, 154, 189, 216, 225f., 238, 243, 245–247, 256, 272f., 280f., 294, 299, 330, 337, 350–352, 379, 430, 432, 462f. – Fremdpositionierung 37, 100, 123, 141f. – Neupositionierung 71, 79 – Positionierungsakt 14, 272, 293 – Positionierungsangebot 88, 100 – Positionierungsdruck 14 – Positionierungspraktik 107 – Selbstpositionierung 21, 37f., 47, 71, 73f., 77, 85, 104, 123, 132, 141, 148, 243, 250, 272, 281f., 284f., 294, 313, 320, 330 – Positionsmarker 69 Possessivpronomen 319f. Postkarte 11, 19, 21, 24, 109, 114, 157–160, 162–165, 167, 169, 173f., 187 – Feldpostkarte 159, 163 – Fotopostkarte 158 – Propagandapostkarte 158f. – Werbepostkarte 158 Praktik 7, 9, 14–16, 18f., 22f., 36, 38, 56, 64, 69, 78, 81, 85, 108, 110, 112, 114–118, 126, 183f., 193, 218, 314, 317, 326, 432 – kommunikative Praktik 9–11, 16, 18, 24, 34, 60f., 79, 106, 108, 110, 112, 126, 179, 277, 288, 325 – performative Praktik 35 – Entlarvungspraktik 63 – Exklusionspraktik 255, 260 Praxis 13, 36f., 47, 49f., 79, 84, 89, 109, 112, 162, 171, 416, 438f. – Authentifizierungspraxis 33, 41 – kommunikative Praxis 36, 73, 80, 110

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Sachregister

– Kulturpraxis 33 Predigt 27, 179, 214, 279, 283, 286, 291, 295, 329, 354f., 378 – Predigtstil 255 problematisieren 233, 259 prognostizieren 265 Programmschrift 12, 26, 182, 225, 358f., 436 Propaganda 45, 62–64, 99, 103, 157, 165, 172f., 178, 185, 188, 204, 237, 256, 300, 303, 337, 347, 355f., 370f., 373, 388, 393, 398, 401, 403f., 407, 450, 452, 455, 458, 463 – Propagandaaktivist 338 – Propagandaarbeit 280, 341, 392 – Propagandaroman 349 Prophezeiung 212, 426 Prosodie 311 Protokoll 161, 193 Radio 64, 69, 72, 140, 158, 302, 311, 395 Rasse 226, 241f., 250, 254, 367, 370f., 373f., 392 – rassistisch 10, 14f., 18f., 79, 91f., 98, 109, 122, 124f., 226, 367–369, 371, 373f., 385f., 391–393, 396–398, 403f., 407, 449, 453 Raum 24f., 45, 50, 90, 123, 143, 157f., 172f., 185, 239, 270, 277f., 282, 300f., 303f., 326, 329f., 374, 420f., siehe auch Verräumlichung – raumzeitlich 39, 290, 308 – Diskursraum 88, 284, 353 – Handlungsraum 82 – Kommunikationsraum 14, 100, 360 – Lebensraum 172f., 310, 368, 404, 434 Rechtfertigung 288f., 368, 450, 452, siehe auch Legitimation Recipient design 302 Rede 11, 19, 21, 24, 64, 103, 172, 188, 193, 227, 256, 259, 277–330, 342–344, 349, 358, 389, 391, 398, 420, 424, 426, 440, siehe auch Rhetorik – Große Rede 282 – Redeeffekt 293 – Redeerfolg 301

– – – – – – – –

Redegegenstand 293, 324 Redepublikum 293 Redesituation 280, 285, 293, 296, 301 Redetyp 279f. Beratungsrede 278 Geheimrede 310 Parteitagsrede 301 politische Rede 256, 278–282, 286–288, 290–293, 296, 299–302, 304, 306, 314, 317f., 321, 328–330 – Protestrede 280, 283f. – Verteidigungsrede 279, 285 – Redner 21, 172, 238, 282, 293–296, 299, 301, 304, 310f., 317, 319, 329, 438 – Redner-Ich 285, 296, 299 Referenz 12, 117, 321, 323, 326, 377, 431, siehe auch Bezugnahme Reflexion 34–37, 43f., 55, 63, 73, 80, 129, 231, 243, 313, 456 Registerwechsel 298 Rekontextualisierung 376–378, 407 relevant 12f., 42, 55, 66, 73, 86, 107, 114, 130, 189, 231, 279, 294, 303, 316, 319, 399, 414f., 419, 422, 462 – Relevantsetzung 66 Religion 76, 250, 319, 356, 370, 375, 458 – religionssprachlich 70 – religiös 10, 25, 27, 45, 59, 66, 69f., 72f., 79, 102, 129, 142–144, 151, 153, 178f., 224, 242, 279, 291, 295, 348, 370f., 374, 376–378, 386, 403, 406, 457 Repetition 306 Replik 137, 304, 308 Reproduktionsmarkierung 306 Resonanzeffekt 303 responsiv 304 Ressource 264, 415 Restriktion 55, 58, 61, 325 retrospektiv 34, 65, 117, 132, 139, 141, 150, 312, 326f., 423, 428, 430–433, 439 Revolution 178, 192, 205, 236, 242, 244f., 291, 295, 306, 317, 369, 390, 400 – Revolutionsmetapher 297 Rhetorik 64, 217, 278, 302, 304, 307, 311, 317, 321f., 326, 387, siehe auch Rede

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Sachregister

– politische Rhetorik 251, 278, 281, 286f., 304 – rhetorisch 140, 179, 181f., 192, 288f., 293, 296, 298–300, 302f., 305–309, 314, 317, 320, 323f., 326, 328–330 – rhetorische Frage 192, 261–263, 298f., 322 – rhetorische Tradition 181, 299 Rolle 13, 19, 36, 49, 74, 84, 103, 137f., 148, 172, 178, 189, 198, 225f., 229, 238, 240f., 243, 246, 249, 261, 272, 337, 340, 360, 387, 398, 403, 405 – soziale Rolle 84, 137, 240f., 272 – Rollengestaltung 298 – Rollenkonstellation 280 – Rollenverständnis 87, 247 – Akteursrolle 34, 41, 50, 55 – Beteiligtenrolle 252 – Beteiligungsrolle 82, 85 – Beziehungsrolle 140 SA 26, 40, 104f., 197, 203, 299, 307, 341f., 395f., 400 Sachverhalt 14, 21, 35, 42, 52, 58, 61, 76, 118, 120f., 174, 216, 231, 234, 243, 256, 259f., 262, 264, 278, 304, 315, 321, 323f., 326, 350, 369, 414, 421 – Sachverhaltsfeststellung 260 – Sachverhaltsherstellung 257 – Sachverhaltskonstitution 41, 120, 183, 264 sakralisieren – Sakralsprache 255 sarkastisch 181, 395 Schlacht 197, 297, 375, 379, 448 Schlagwort 214f., 433f. Schlüsselkonzept 339, 463 Schlüsselwort 295, 310, 384, 393, 440, 460 Schlussfolgerung 203, 207, 257, 260f., 270, 401, siehe auch Konklusion Schreibanlass 33, 41f., 44f., 78, 92 Schuld 66, 73, 80, 149, 255, 262, 295, 388 – Mitschuld 137, 192, 208, 255 – Schulddiskurs 254 Selbst 102, 115, 122, 144, 151, 183, 246 – Selbstaufwertung 321, 394

– Selbstäußerung 84, 140 – Selbstauszeichnung 223, 228 – Selbstautorisierung 164, 223, 246, 256, 272 – Selbstbeschreibung 99 – Selbstbestimmung 37, 244, 298, 447f., 459 – Selbstbezeichnung 133, 134, 228, 229, 244, 387, 403 – Selbstbewusst(sein) 240, 245, 246, 385, 390, 396 – Selbstbild 16, 147 – Selbstcharakterisierung 138 – Selbstdarstellung 49, 50, 90, 139, 234 – selbstdarstellungsbetont 41, 47, 50, 78 – Selbstentwurf 91 – Selbsterklärung 235, 240, 244, 248, 273 – Selbstexplikation 78 – Selbstidentifikation 52 – Selbstidentität 108, 126 – Selbstinszenierung 234, 239, 296 – Selbstkategorisierung 84, 149, 247 – Selbstkonstituierung 330 – Selbstkonstitution 16, 28, 95, 183, 218, 286 – Selbstkonzept(ion) 305, 319, 320, 328 – Selbstkritik 291f., 329f. – Selbstlegitimierung 248 – Selbstpositionierung 21, 36, 37, 38, 47, 71, 73, 74, 77, 85, 104, 123, 132, 141, 148, 243, 250, 272, 281, 282, 284, 285, 294, 313, 320, 330 – Selbstreferenz 48, 318, 330 – selbstreferenziell 306, 320 – Selbstreflexion 37 – selbstreflexiv 37, 103 – Selbstsicht 37, 46, 317, 330 – Selbstüberhöhung 318 – Selbstvergewisserung 73, 124, 433, 459 – Selbstverortung 77, 78, 80, 238, 243, 282, 286 – Selbstverpflichtung 144, 248 – Selbstverständnis 17, 19, 86, 87, 132, 137, 138, 153, 154, 229, 230, 240, 241, 248, 250, 254, 256, 271, 291, 292, 304, 314, 384, 385

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539

Sachregister

– Selbstwahrnehmung 327 – Selbstzuschreibung 62, 109, 137, 144, 306 semantisch 8, 10–12, 17, 19, 21–24, 29, 56, 74, 78, 198, 254, 295, 337f., 341, 367, 370f., 376f., 379, 383f., 386, 390, 393f., 397, 402, 413f., 423, 426f. – semantische Prosodie 390 – semantische Reduktion 374 – semantisches Feld 197 Sequenz 136, 206, 312f., 323, 328 Signalfunktion 63 Sinn 10, 11, 13, 17, 19, 25, 28, 86, 135, 150, 191, 218, 239, 240, 244, 257, 272, 288, 294, 298f., 302, 304, 328, 338f., 353, 370, 372, 378, 395, 406, 415, 449, 452, 455f., 457 – Sinngebung 22, 24, 104 – Sinngebungsakt 23, 45, 48 – Sinnzusammenhang 327 Situation 16f., 19, 22, 27, 38, 40f., 49, 86, 90, 112, 115, 130, 137, 142f., 225, 234f., 238, 282, 285, 289f., 316f., 320, 325–327, 389, 391, 397f., 406, 423, 433, 448 – Situationsanalyse 232f. – Ausnahmesituation 130 – Kommunikationssituation 10, 18, 24, 41, 88, 106, 302 – situativ 8, 11f., 15–17, 19, 21, 29, 33, 40, 43, 52f., 55f., 58, 78, 83, 120, 157, 162, 232, 236, 241, 277, 279–281, 286, 300f., 326 – situativ-pragmatische Anpassung 300 Sollensanforderung 345 sozial 7, 10–12, 15f., 19, 23, 28, 35, 38, 69, 73, 83f., 86f., 89, 98, 100, 106, 108–110, 112, 117, 124, 126, 132, 135, 137, 154, 157, 179, 181, 189–191, 194, 196, 199, 206, 212f., 216, 218, 225, 228, 240f., 243, 252, 257, 271f., 301, 303, 329, 372, 374, 386, 388–391, 393, 402f., 416, 423, 427f., 430, 436, 441, 446, 453, 461 – soziale Bindekraft 428, 430 – soziale Rolle 84, 137, 240f., 272 – soziales Bindemittel 413, 427, 430 – Sozialität 108

– Sozialtyp 15 soziopragmatisch 7, 19, 21–24, 82, 453 Spott 180f., 215, 374 Sprache 7, 11, 13, 18, 21, 24f., 47, 67, 92, 132, 173, 180, 182, 315, 342, 369, 423 – Sprachgebrauch 7, 9, 11, 15–18, 24, 28, 67, 72, 88, 92, 129, 174, 181, 183, 257, 300, 302, 338, 343, 354, 372, 375, 397, 418, 424, 431f., 435 – Sprachgebrauchsmuster 29, 88, 134, 180, 193, 196, 199, 215, 225, 257, 367, 369–371, 373, 375f., 378f., 383, 394, 397f., 404, 445, 451, 454, 456, 459 – sprachgeprägt 25 – Sprachkritik 401 SS 26, 66, 75f., 168, 192, 197, 203, 265, 299, 341f., 400, 457 Stadt 39, 93f., 125, 161, 168, 296, 328, 360, 391, siehe auch Berlin Standardnarrativ 309f. Steighöhe 309, 318 Stereotyp 97, 99, 108, 122, 181, 206, 317, 321, 385, 404f. – Stereotypisierung 16, 242 steuern 167, 233 Stigma 195 – Stigmawort 418, 422 – stigmatisieren 97, 98, 100, 106, 189, 438 – Stigmatisierung 208 Stil 43, 50–53, 60, 83, 105, 121, 138, 174, 238–240, 293, 302, 373, 457 – Predigtstil 255 – stilistisch 14, 44, 50f., 55, 87, 90, 152, 167, 217, 250, 258, 277, 292f., 296, 298f., 329, 399 – stilistische Textgestaltung 53 – makrostilistisch 50 – mikrostilistisch 53 – typographisch-stilistisch 53 Stimme 301, 302, 303, 311 – Stimmlage 311 Stolz/stolz 102, 328, 368, 395f., 405 Strategie 16, 38, 55, 61, 65, 76f., 140, 148, 151, 164, 171, 194, 204, 215, 223, 231, 290–292, 294, 303, 305f., 309, 311, 314,

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540

Sachregister

317, 320, 323, 325, 360, 389, 400, 451f., 455 – strategisch 73, 100, 165, 173, 206, 226, 239, 301, 330, 374, 376, 404, 424 – Abgrenzungsstrategie 329 – Exklusionsstrategie 16 – Formulierungsstrategie 268, 302 – Inklusionsstrategie 16 – Inszenierungsstrategie 231, 301 – Legitimationsstrategie 330 – Positionierungsstrategie 78 – Rechtfertigungsstrategie 419 – Sprachhandlungsstrategie 107 – Verbalisierungsstrategie 217 – Versprachlichungsstrategie 180 – Vertextungsstrategie 169, 292, 330 – Widerspruchsstrategie 376 Struktur 22f., 65, 180, 233, 288, 324, 399 – Strukturhinweise 233, 287 – Strukturierungsgestus 234 Superlativ 68f., 203, 296, 299f., 372 – superlativisch 96, 297, 390, 393 Symbol 150, 307, 324 Tag von Potsdam 51, 326 Tarnschrift 26, 282, 359, 379, 399–401, 462 Täuschung 61, 462 – Getäuschte 61 – täuschen 197 – Täuschungsobjekt 61 teleologisch 325–328, 330 Text 9–12, 15, 19–21, 24–27, 29, 38, 42, 54, 63, 67, 76, 79, 111, 114, 134, 159, 162–170, 174, 178, 180, 183, 185f., 190, 223–244, 249–251, 256, 259, 263, 266f., 272, 278, 293–296, 299, 307f., 330, 350, 352f., 355, 357f., 360, 373, 375, 378, 393–395, 397, 417, 420, 435, 450, 456, 459 – Textgestaltungsmittel 50, 157, 160, 165, 277, 286, 293 – Textkommunikation 27, 38, 82, 180, 236, 271, 273, 293, 298 – Textmuster 12, 19, 31, 84–86, 153f., 169, 174 – Textsorte 14, 20, 25–27, 33–35, 41, 46, 50, 61, 73, 79–81, 87–90, 93, 95, 106f.,

179, 214, 223–226, 229, 233f., 236, 244f., 256, 271, 273, 278f., 300, 304, 347, 352, 361 – Textsortenkompetenz 35, 44 – Textsortenmerkmal 33, 246 – Textsortenroutine 50, 73 – Textsortentradition 227 – Textsortenwelt 229 – Textsortenwissen 20, 169, 227, 229 – Textstruktur 178, 233, 271, 286, 323 Thema-Rhema 323f. tiermetaphorisch 297, siehe auch metaphorisch Topos 71, 97, 385, 393, 418, 425f., 429 total 64f., 142, 194, 226, 235, 252, 339 – totalitär 266, 271 – Totalitarismus 238, 318 Tradition 20, 82f., 100, 130, 152, 154, 177, 182, 189, 197, 205, 216–218, 246, 261, 324, 387, 400, 406, 438, 454 – biblische Tradition 370, 374 – kulturelle Tradition 369 Transformation 29, 273, 329, 347 Treue 53, 71, 98f., 104, 232, 234, 295, 346f., 351f., 354, 359f., 375, 387 – Treueschwur 69 Überhöhung 72, 316, 345 Überredung 278, siehe auch Persuasion Überzeugung 70, 72, 104f., 147, 162, 165, 178, 253, 278, 289, 306, 313, 326, 330, 338, 428f., 431, siehe auch Persuasion Umdeutung 451, 456 umgangssprachlich 83, 142, 298, 322 Umperspektivierung 376f., 379 Umsturzversuch 280 Universalisierungsstrategie 461 Usualisierung 314 verändern 20, 44, 135, 224f., 271 Verfolgung 61, 79, 184, 254, 266, 281, 289f., 305, 355, 368, 370, 372, 407, 427, 449 Vergangenheit 20, 84, 101f., 106, 120, 134, 148f., 154, 301, 314–316, 324–327, 357, 430, siehe auch Gegenwart, siehe auch Zeit, siehe auch Zukunft

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541

Sachregister

– vergangenheitsbezogen 314, 327 Vergegenwärtigung 25, 34, 45, 68, 74 Vergemeinschaftung 392, 428f. Verheißung 423, 425f., 439, 441 Verhör 11, 17, 77, 150 – Verhörlager 28 Verpflichtung 76, 137, 206, 254, 326, 346, 371 – Verpflichtungsgestus 235, 244 Versagensformel 305 Versailler Vertrag 69, 100, 423, 453 Verstehensvoraussetzung 8f., 12, 23, 302 Verteidigungsrede 279, 285 Vertextung 52f., 85, 157, 167, 233f., 237, 271, 286f. – Vertextungsmuster 33, 38, 78, 107, 167, 233f., 291 Verwendung 29, 49, 88, 90, 96f., 106, 133f., 150, 154, 164, 169, 173f., 178, 181, 196, 198, 203, 205, 237f., 241f., 244, 257, 260, 265f., 269, 281, 295f., 298, 311, 322, 329f., 339, 342f., 347, 349f., 357, 360f., 370, 372, 374, 376, 391, 397, 403, 415, 417, 419–423, 432, 451–453, 455f., 458, 461, siehe auch Gebrauch – Verwendungsweisen 29, 338, 341, 350, 375, 384, 415, 420, 449 Volk 62, 103, 165, 172, 190, 212, 246, 247, 250–252, 255, 338, 344–346, 354, 359f., 368, 418, 429, 438f., 456 – Volksgemeinschaft 10, 14–17, 37, 66, 91f., 97f., 102, 109–111, 153f., 158, 189, 200, 226, 231, 233, 241, 243, 245, 252, 272, 282, 295, 320, 351, 360f., 369, 371, 384, 389, 391, 401, 407, 427–429, 439f. – Volksgenosse 311, 320, 407 – Volksgerichtshof 17, 53, 150, 285 – Volkskörper 368, 370, 372, 379 – Volksopposition 277, 280, 283 – völkisch 87, 164, 234, 340, 344, 346, 369, 374, 385f., 391f., 394f., 425, 429, 449f., 453, 458 – völkisch-rassistisch 103, 164 wahr 61, 95, 150, 191, 294, 401, 436, 449– 452, 455

– Wahr-Sagen 61, 63 – Wahrheit 41, 70, 251, 258 – Wahrheitsanspruch 64 – Wahrheitsfindung 288 – Wahrheitswert 63f. warnen 177, 183, 190, 193, 207, 231, 234, 237, 250, 392 Weimarer Republik 89, 98, 158, 182, 191, 199, 249, 269, 304, 339–341, 369, 427f., 439 Wert 151, 164, 178, 192, 208, 213, 227, 375, 393, 406, 462 – Werte-Diskurs 65f. Widerlegung 306 Widerrede 307 widersprechen 79, 183, 204, 375 – Widerspruch 34, 148, 254, 262, 272, 281f., 286, 355, 385, 415, 425 Widerstand 9, 17, 21, 26, 28, 34, 38, 53, 55, 72–74, 76–78, 80, 86, 129, 132, 144, 148, 153, 159–162, 164, 168, 174, 182, 184f., 189–191, 200, 203, 208f., 216–218, 224f., 227f., 243, 246, 254, 272, 279–281, 283– 287, 290–292, 296, 310, 328–330, 338, 357f., 360f., 367, 369f., 375–379, 385, 387, 392, 397–404, 406f., 417f., 435–439, 446, 450, 451, 457–459, 462f. – Widerstandsgruppen 73, 183–185, 217, 225, 286, 293, 295, 329, 376, 406, 437f., 460f. – Widerstandskommunikation 27f., 184, 189, 193, 212, 218, 226 Wiederholung 99, 105, 300f., 317, 405, 427, 430 Wirklichkeit 7, 16f., 38, 51, 62f., 72, 120, 146f., 165, 172, 177, 183, 200, 203, 205, 207, 223, 256–258, 260, 264, 272, 294f., 311, 324, 346, 356 – Wirklichkeitskonstruktion 463 Wirkung 19, 29, 47, 58, 172, 226, 241, 257, 269, 301, 308, 317, 321, 389, 394, 419, 453 Wissen 12f., 19f., 22–25, 65, 121, 132, 150, 195, 234, 247, 293, 315, 319, 427, siehe auch Epistemik – Wissensfeld 370, 386, 406, 449f., 452, 454–457, 459

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Sachregister

– Textsortenwissen 20, 169, 227, 229 Wollen 12, 38, 40, 44, 47, 55, 62, 65, 98, 101, 104f., 144, 179, 202, 224f., 249, 271, 278, 287, 294, 303, 306, 316, 321, 325, 347f., 403f., 419, 425f., 430, 457 Zeit 17, 24f., 84, 103, 121, 31f., siehe auch Gegenwart, siehe auch Vergangenheit, siehe auch Zukunft – Zeitdeixis 325 – Zeitkonstruktion 25 zerdehnt 13, 84, 296, 301f., 308 Zugehörigkeit 19, 97f., 101, 106, 109, 191, 213, 254, 319, 368, 372, 386, 388, 439, 461 Zukunft 84, 110, 134, 185, 239, 248, 315f., 406, 430, 456, 458–460, siehe auch Gegenwart, siehe auch Vergangenheit, siehe auch Zeit

– zukunftsbezogen 265 Zuschreibung 16, 41, 69, 84, 92, 99, 102, 105f., 121, 123, 189, 218, 230, 371, 397, 402, 423, 431 – Eigenschaftszuschreibung 372 – Eigenzuschreibung 122 – Fremdzuschreibung 109, 404 – Identitätszuschreibung 16 – Selbstzuschreibung 62, 109, 137, 144, 306 Zustimmung 27, 48, 68, 137, 143, 152, 154, 164, 227, 251, 258, 281, 289, 304, 317, 320, 325, 329, 337 – Zustimmungsbereitschaft 302f. – Zustimmungsformel 71 – Zustimmungsinteraktion 302 – Zustimmungsregime 14

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